Google
This is a digital copy of a book that was prcscrvod for gcncrations on library shclvcs bcforc it was carcfully scannod by Google as pari of a projcct
to make the world's books discoverablc online.
It has survived long enough for the Copyright to expire and the book to enter the public domain. A public domain book is one that was never subject
to Copyright or whose legal Copyright term has expired. Whether a book is in the public domain may vary country to country. Public domain books
are our gateways to the past, representing a wealth of history, cultuie and knowledge that's often difficult to discover.
Marks, notations and other maiginalia present in the original volume will appear in this flle - a reminder of this book's long journcy from the
publisher to a library and finally to you.
Usage guidelines
Google is proud to partner with libraries to digitize public domain materials and make them widely accessible. Public domain books belong to the
public and we are merely their custodians. Nevertheless, this work is expensive, so in order to keep providing this resource, we have taken Steps to
prcvcnt abuse by commcrcial parties, including placing technical restrictions on automatcd qucrying.
We also ask that you:
+ Make non-commercial use ofthefiles We designed Google Book Search for use by individuals, and we request that you use these files for
personal, non-commercial purposes.
+ Refrain from automated querying Do not send aulomated queries of any sort to Google's System: If you are conducting research on machinc
translation, optical character recognition or other areas where access to a laige amount of text is helpful, please contact us. We encouragc the
use of public domain materials for these purposes and may be able to help.
+ Maintain attributionTht GoogX'S "watermark" you see on each flle is essential for informingpcoplcabout this projcct andhclping them lind
additional materials through Google Book Search. Please do not remove it.
+ Keep it legal Whatever your use, remember that you are lesponsible for ensuring that what you are doing is legal. Do not assume that just
because we believe a book is in the public domain for users in the United States, that the work is also in the public domain for users in other
countries. Whether a book is still in Copyright varies from country to country, and we can'l offer guidance on whether any speciflc use of
any speciflc book is allowed. Please do not assume that a book's appearance in Google Book Search mcans it can bc used in any manner
anywhere in the world. Copyright infringement liabili^ can be quite severe.
Äbout Google Book Search
Google's mission is to organizc the world's Information and to make it univcrsally accessible and uscful. Google Book Search hclps rcadcrs
discover the world's books while hclping authors and publishers reach new audiences. You can search through the füll icxi of ihis book on the web
at|http : //books . google . com/|
Google
IJber dieses Buch
Dies ist ein digitales Exemplar eines Buches, das seit Generationen in den Realen der Bibliotheken aufbewahrt wurde, bevor es von Google im
Rahmen eines Projekts, mit dem die Bücher dieser Welt online verfugbar gemacht werden sollen, sorgfältig gescannt wurde.
Das Buch hat das Urheberrecht überdauert und kann nun öffentlich zugänglich gemacht werden. Ein öffentlich zugängliches Buch ist ein Buch,
das niemals Urheberrechten unterlag oder bei dem die Schutzfrist des Urheberrechts abgelaufen ist. Ob ein Buch öffentlich zugänglich ist, kann
von Land zu Land unterschiedlich sein. Öffentlich zugängliche Bücher sind unser Tor zur Vergangenheit und stellen ein geschichtliches, kulturelles
und wissenschaftliches Vermögen dar, das häufig nur schwierig zu entdecken ist.
Gebrauchsspuren, Anmerkungen und andere Randbemerkungen, die im Originalband enthalten sind, finden sich auch in dieser Datei - eine Erin-
nerung an die lange Reise, die das Buch vom Verleger zu einer Bibliothek und weiter zu Ihnen hinter sich gebracht hat.
Nu tzungsrichtlinien
Google ist stolz, mit Bibliotheken in partnerschaftlicher Zusammenarbeit öffentlich zugängliches Material zu digitalisieren und einer breiten Masse
zugänglich zu machen. Öffentlich zugängliche Bücher gehören der Öffentlichkeit, und wir sind nur ihre Hüter. Nie htsdesto trotz ist diese
Arbeit kostspielig. Um diese Ressource weiterhin zur Verfügung stellen zu können, haben wir Schritte unternommen, um den Missbrauch durch
kommerzielle Parteien zu veihindem. Dazu gehören technische Einschränkungen für automatisierte Abfragen.
Wir bitten Sie um Einhaltung folgender Richtlinien:
+ Nutzung der Dateien zu nichtkommerziellen Zwecken Wir haben Google Buchsuche für Endanwender konzipiert und möchten, dass Sie diese
Dateien nur für persönliche, nichtkommerzielle Zwecke verwenden.
+ Keine automatisierten Abfragen Senden Sie keine automatisierten Abfragen irgendwelcher Art an das Google-System. Wenn Sie Recherchen
über maschinelle Übersetzung, optische Zeichenerkennung oder andere Bereiche durchführen, in denen der Zugang zu Text in großen Mengen
nützlich ist, wenden Sie sich bitte an uns. Wir fördern die Nutzung des öffentlich zugänglichen Materials für diese Zwecke und können Ihnen
unter Umständen helfen.
+ Beibehaltung von Google-MarkenelementenDas "Wasserzeichen" von Google, das Sie in jeder Datei finden, ist wichtig zur Information über
dieses Projekt und hilft den Anwendern weiteres Material über Google Buchsuche zu finden. Bitte entfernen Sie das Wasserzeichen nicht.
+ Bewegen Sie sich innerhalb der Legalität Unabhängig von Ihrem Verwendungszweck müssen Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst sein,
sicherzustellen, dass Ihre Nutzung legal ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass ein Buch, das nach unserem Dafürhalten für Nutzer in den USA
öffentlich zugänglich ist, auch fiir Nutzer in anderen Ländern öffentlich zugänglich ist. Ob ein Buch noch dem Urheberrecht unterliegt, ist
von Land zu Land verschieden. Wir können keine Beratung leisten, ob eine bestimmte Nutzung eines bestimmten Buches gesetzlich zulässig
ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass das Erscheinen eines Buchs in Google Buchsuche bedeutet, dass es in jeder Form und überall auf der
Welt verwendet werden kann. Eine Urheberrechtsverletzung kann schwerwiegende Folgen haben.
Über Google Buchsuche
Das Ziel von Google besteht darin, die weltweiten Informationen zu organisieren und allgemein nutzbar und zugänglich zu machen. Google
Buchsuche hilft Lesern dabei, die Bücher dieser Welt zu entdecken, und unterstützt Autoren und Verleger dabei, neue Zielgruppcn zu erreichen.
Den gesamten Buchtext können Sie im Internet unter|http: //books . google .corül durchsuchen.
I
/r/
• N'/f
/Tt^ ^a-
HEDE
BEIDELBEßHEB JAHHBtlGHER
HERAUSGEGEBEN
VOM
HISTORISCH-PHILOSOPHISCHEN VEREINE
zu
HEIDELBERG
JAHRGANG XI
■ • •
->i^«^)K-
HBIDEL.BBRQ
VKRLAG VON G. KOESTER
1902
..•:
• «
r
• •
Inhalt der erschienenen Bände.
'• Seite
Programm S
Chrom'k des Vereins 5
M. Cantor, A. Dürer als Schrifisteller 17
R. Schröder, t)ie Landeshoheit über die Trave 32
K« Hartfeldi^r, Das Katharinenfest der Heidelberger Artistenfakultät 52
A. Uaasratb, Arnold von Brescia 72
F. ▼• Bahn, Heinrich Schliemann 145
0* KarloHtty Die Rangklassen des Ordo salatarionis sporuilarumque provinciae
Numidiae, insbesondere die coronati 1G5
A. T« DomaszewskI, Beiträge zur Geschichte der Perserkriege .181
— * Die Kntwickiung der Provinz Moesia . . .190
J. V* Pflugk-Hartinng, Keltische Bauwerke .201
A« T* Ootsehmid f , Die Heidelberger Handschrift der Paradoxographen (Pal.
Gr. 398) 227
A» €• Clark, Die Handschriften des Graevius 238
A* T. Oechelliftnsery Philipp Hainhofers Bericht Über die ätuttgnrter Kindtaufe
im Jahre 1616 254
CT. Hejer, Die Verhandlungen des preussischen Abgeordnetenhiuses über den
Erlass von Stempelsteuern für Fideikommisse 336
B. Erdmannsdörfl'erJ Zur Geschichte der Heidelberger Bibliotheca Palatina 349-
A. Hansrath, Festrede gehalten bei der P^nthüllung des Scheffel-Denkmals zu
Heidelberg am 11. Juli 1891 352
If.
K* Zangelneister, Zur Geographie des römischen Galliens und Germaniens
nach den Tironischen Noteu 1
F« SehÖHy Bisse und Brüche in der Urhandschrift Plautinischer Komödien . 37
F. T. Bahn, Die^enutzung der Alpenpässe im Altertum 55
K. *8eharaaeher, Über den Stand und die Aufgaben der prähistor. Forschung
am Oberrhein und besonders in Baden 93
0* Karlowa, Zur Inschrift von Skaptoparene . 141
J. Haller, Die Verhandlungen von Mouzon (1119). Zur Vorgeschichte des
Wormser Konkordats 147
B« Sebröder, Arno, Erzbischof von Salzburg und das Urkundenwesen seiner
Zeit 165
Hy Bassermann, Johann Amos Comenius. Pestrede, gehalten bei der Comenius-
Feier in Heidelberg 172
M« Cantor, Zeit und Zeitrechnung 190
L» Lemme, Shaksperes König Lear 212
J« y. Pflugk-Harttnng, Die Druiden Irlands 265
H. Buhl, Hugo Donellus in Heidelberg (1573—1579) . 280
111.
K. Zangemeister, Zur Geschichte der NeckarlSnder in römischer Zeit . . 1
Frledr« v« Weech, Ein Projekt zur Reform der Rcichsjustiz ans dem 16. Jahr-
hundert 17
J. T. Pflugk-Harttnng, Die Schriften S. Patricks 71
Fr« T. Bnhn,.,Eine Bronze der früheren Sammlung Ancona 88
Ed. Heyck, Über die Entstehung des germanischen Verfassungslebens .106
0. Jellinek, Adam in der Staatslehre 135
A.v. Oechelhänser, Zur Entstehung der Mancsse-Handschrift . .152
A. Y« Böniaszewski, Das deutsche Wort Braut in lateinischen Inschriften . 19:!
R. Heinze, Magister Conrad Scliades Streithändel mit der Stadt Heidelberg . 199
Ferd, Gerhard, Vom Hussenkriege 224
£d..]|eyek$ Zur Entstehungsgeschichte des germanischen Verfassungslebens . 231
Herrn« Wunderlich, Zur 'Sprache des neuesten deutschen Schauspiels . . 251
Max Freiherr von Waldberg, Das Jaufner Liederbuch 200
INHALT.
Seite
Biehard Oraf Da Moalin Eekart, Zum Gedächtnis Bernhard Erdmanns-
dörffers 1
Alfred Bassenuann, Veltro, Gross-Ghan und Eaisersage 28
Th. Leber, Willy EQhne 76
Karl Yossler, Dante und die Renaissance 85
J. Wille, Pfalzgräfin Elisabeth, Äbtissin von Herford 108
J. Wille, Karl Zangemeister (geb. 28. November 1837, gest. 8. Juni 1902 . 143
F. Ed. 9elineegaiiis Maistre Fran^ois Yillon 153
Alexander Cartellieri, Beiträge zur Geschichte Albrechts von Hohenberg aus
dem Vatikanischen Archiv 173
Alexander Cartellieri, Reiseeindrücke vom Grossen St. Bernhard aus dem
Jahre 1188 177
Belnhold Steig, Zeugnisse zur Pflege der deutschen Litteratnr in den Hei-
delberger Jahrbüchern 180
Zum Gedächtnis Bernhard Erdmannsdörifers.
Von
RichRrd Graf Dn Monlln Eekart.
Die schönste Stätte, die man im deutschen Lande den Toten geweiht,
ist der Heidelberger Friedhof. Sonnig und ernst, mild und erhebend
sind die Abhänge des friedevollen Hügels, von dessen Höhe das Auge
hinausschweifb in das duftumwobene weite Thal des Rheines, dessen silbernes
Band sich in den Fernen sanft verliert. Dort hat die Buperto-Carola
schon eine Reihe ihrer besten Söhne geborgen: die langen, schattigen
Gänge des wipfelum rauschten Hains sind eine Ehrenhalle der lieben,
alten Hochschule geworden. Und dort haben wir am 3. März dieses
Jahres auch Bernhard Erdmannsdörffer am lichten Abhang des , Bühels^
zur letzten Rast gebettet, einen «pMerin et voyageur* im schönsten Sinne
des Wortes. Nicht wandermüde hat er Pilgerhut und Wanderstab bei
Seite gelegt, den Lebensfrohen nahm ein schöner sanfter Tod mit sich
fort, ein schönes Leben hat schön geendet. Sein Tod war wie ein Ge-
schenk der ^ayat^Tj TO'/yf'y an die er sein Leben lang frohen Sinnes
geglaubt.
Nicht als ob das Leben ihm still und friedlich und sonder Sorgen
dahin geflossen wäre. Auch er hat des Leids sein wohl gemessenes
Teil zu tragen gehabt und sein Werdegang war innerlich und äusserlich
kein leichter. Aber er besass jene starke Seele, jenen frischen Willen,
der nach der Höhe weist und führt.
Er wurde am 24. Januar 1833 zu Altenburg geboren. Es ist ein
eigenartiger Zufall, dass sein Geburtstag mit dem Jahrestage der Geburt
des grossen Friedrich zusammenfiel. Es hat ihm die Stimmung des
Festes oft gehoben. Er konnte sich freuen, wenn man davon sprach.
Die Jugend im Yaterhause war ihm still und gleichmässig dahingeflossen.
Zahlreiche Geschwister wuchsen mit ihm empor. Die Familie soll, wie
er wohl selbstjdes öfteren erzählte, aus dem bayrischen Franken in
NRUE HEIDRLB. JAHRBUECHER XI. 1
2 Richard Graf Du Moulin Eckart
das Altenburgische eiDgewandert seiu. Auf seinen Beisen nach Nürnberg
ging er wohl selbst in seiner freundlichen, humorvollen Weise den Spuren
ihrer Herkunft nach. Zeit seines Lebens hat er denn auch einen wahren,
treuen Familiensinn bewahrt. Durch die Mutter war er mit dem Histo-
riker Zinkeisen verwandt.
Nach Vollendung der Gymnasialstudien bezog er Ostern 1845 die
Universität Jena. Die Wahl dieser Hochschule mag ihm nicht leicht
geworden sein. War doch dort auf der Lobedaburg sein älterer Bruder
als Fürstenkellerianer auf der Mensur gefallen und der Schatten dieses
in jugendlicher Kraft so jäh geendeten Lebens konnte sich zwischen ihn
und die Freuden des Studentenlebens wohl stellen. Er hat selten, ja
fast nie von dem tragischen Ereignisse gesprochen. Aber es zeigte von
seiner Energie, dass er, freilich nach langem Schwanken, in die Burschen-
schaft Teutonia eintrat, der er Zeit seines Lebens ein treuer, warmblütiger
Anhänger geblieben ist. Das Schwanken hatte seine Ursache in den Familien-
verhältnissen, in „seiner Armut", wie er selbst sagt, „die ihn ernst daran
mahnte, seine Zeit ernst zu benutzen, da er ohnehin ein weites Feld zu
durchlaufen hatte''. Aber die Poesie des Burschenlebens zog ihn unwider-
stehlich an. Mit jungen Augen erkannte er den Renaissancezug, der
durch dasselbe geht und allen, die es genossen, ein treuer, lieber Be-
gleiter bleibt. So schrieb er denn damals in sein Tagebuch ein: .Die
Poesie des Studentenlebens will ich in vollen Zügen aus dem Born des
jugendlich elastischen, frischen Lebens des Burschen schöpfen.** Aber
seine Freude blieb auch jetzt mehr innerlich ; er hat den Hieber ritter-
lich geschwungen, doch ein Führer im Streit ist er nie gewesen. Und
dennoch fand er an dem teutonischen Treiben in Jena warmes Gefallen
und gerne hat er davon in späteren Jahren geplaudert. Sonst sah er
ernst ins Leben und die Wissenschaft zog ihn von Anfang mächtig an.
Sie beschäftigte ihn sichtlich mehr als die engeren und weiteren Sorgen
der Burschenschaft, der er sich ihrer »republikanischen Gesinnung"
wegen angeschlossen. Er hatte sich der klassischen Philologie zugewen-
det: dabei war aber damals eine eingehendere Beschäftigung mit Ge-
schichte und Philosophie notwendig verbunden. Das ward sein Schicksal.
Sofort vertiefte er sich in die griechische Geschichte und fand den Lehrer,
der ihm bald das gesamte, vaste Gebiet derselben eröffnen sollte, um
ihn dann auf die deutschen und insbesondere auf die brandenburgischen
Dinge hinzulenken. Fast gleichmässig wandte er auch der Philosophie
seine Neigung zu. Es hat denn in der That wenig Historiker gegeben,
die über eine so tiefe und gründliche philosophische Bildung verfügten
Zum Gedächtnis Bernhard ErdmaimsdÖrffers 3
wie Bernhard Erdmannsdörffer. Da vor wenigen Jahren jener Kampf
gegen Karl Lamprecht und seine Methode losbrach, hat er trotz seiner
ablehnenden Haltung gegenüber derselben dessen philosophische Grund-
lage stets rähmlich hervorgehoben.
Am Ende des dreijährigen Studiums konnte er mit einer Disser-
tation ,De prytaniis atticis^ promovieren. Die Arbeit stand völlig unter
dem Einflüsse Gustav Droysens, dem er im Laufe des Studiums sich
immer enger angeschlossen hatte. Die Burschentage aber gingen zu
Ende. Die Wirklichkeit trat ernst an den jungen Gelehrten heran. Aber
die Versuchung, sich durch den Eintritt in die Lehrerlauf bahn den Unter-
halt zu sichern, überwand er rasch. Er besass die Kraft, das Leben
mit festem Schenkelschlusse souverän zu traktieren. Sein ganzes Streben
ging nach höheren Zielen und ihnen opferte er die sicheren Aussichten.
Zunächst nahm er eine Hauslehrerstelle an. Sie führte ihn in die Familie
Moltke. Das Gut derselben in Ostpreussen war freilich öde und einsam,
aber der Geist des Hauses ein schöner und anregender. Er that ihm
nach dem teutonischen Treiben der Burschenjahre in doppeltem Sinne
gut und die Frau des Hauses ist ihm eine warme mütterliche Freundin
gewesen. So bedeutete die Zeit des „Hausmeiertums'' für ihn keinen
Stillstand, sondern war reich an neuen Anregungen. Noch in den letzten
Tagen seines Lebens hat ihn ein Brief eines seiner Zöglinge erfreut, der
ihm von den tiefen Eindrücken, welche die „Deutsche Geschichte'' auf
ihn gemacht, sprach. Damals aber drängte es Erdmannsdörffer nach
dem Süden und er löste seine Beziehungen, um andere einzugehen und
eine Stelle in Venedig anzunehmen. Er hatte den Weg über Triest
gewählt. Im Stellwagen legte er die lange und Öde Heise über den
Karst zurück. Er hat mir selbst einmal den tiefen und bleibenden Ein-
druck geschildert, den das Meer auf ihn geübt, da er plötzlich auf der
Höhe die von der Morgensonne bestrahlte Adria weitgedehnt vor sich
in der Tiefe liegen sah. In tiefster Weise regte ihn dann der sonst wenig
erfreuliche und erspriessliche Aufenthalt in Venedig an. Der Zauber der
Lagunenstadt, der ihm wie einst Platen entgegenwinkte, musste ihm
manche öde Stunde des leidigen Hauslehreramtes in einer deutschen
Kaufmannsfamilie ersetzen. Indessen fand er doch Zeit, in den trau-
lichen Bäumen der Bibliothek von San Marco zu arbeiten und den mittel-
alterlichen Beziehungen der Bepublik mit Deutschland forschend nach-
zugehen. So entstand gleichsam als Gelegenheitsschrifb eine Abhandlung
,De commercio quod inter Venetos et Germaniae civitates aero medio
intercessit". Er hat selbst die Entstehungsweise charakterisiert: ,Da
1*
4 Richard Graf Du Moulia Eckart
es mir jüngst yergönnt war, einige Monate in Venedig zu weilen, schien
mir nichts lieber, als die zahlreichen und in höchstem Grade wert-
vollen Gescbichts- und Litteraturdenkmäler, die in der Bibliothek von
San Marco und in dem alten venezianischen Archiv verwahrt werden,
wenigstens teilweise kennen lernen zu dürfen. . . . Und da es nun zu
geschehen pflegt, dass Beisende all das, was sie in der Fremde geschaut
oder vernommen oder gefunden und das auf das Vaterland Bezügliche
nach Hause bringen, so habe denn auch ich mein Augenmerk vorzüg-
lich darauf gerichtet, die Spuren der« vaterländischen Geschichte in
jenen zahlreichen Denkmälern zu verfolgen." Es war ein Griff ins
Volle und er hat späteren Forschern mit seinen Besultaten den Weg
gewiesen. Die kleine Arbeit machte Aufsehen und wurde als ein neuer
und gelungener Versuch begrüsst, in diese Zeit und in diese Verhältnisse
lichtvolle Ordnung zu bringen. Wenn ich nicht irre, war es einer der
Herausgeber des „Drkundenbuchs zur Staats- und Handelsgeschichte
Venedigs in seinen Beziehungen zu Byzanz und der Levante^, Thomas,
der im Hinweis auf Erdmannsdörffers Schrift ein gleiches Werk für die
Beziehungen Venedigs und Deutschlands anregte. . Der Verfasser dieser
Schrift^, meinte er, «würde zu jenen Männern zählen, welche hiefür Ge-
schick und Sinn mitbrächten^ ^).
In der That haben während seines Aufenthalts in Venedig Verhand-
lungen geschwebt, ihn für ein ähnliches Unternehmen zu gewinnen. Aber
er lehnte ab, da er es mit seinen patriotischen Grundsätzen nicht ver-
einbaren konnte'). Auch in der Gelzerschen Zeitschrift hat er von Ve-
nedig aus einen Aufsatz veröffentlicht. So war es ihm nicht beschieden,
auf diesem Arbeitsgebiete weiter zu schaffen. Indessen hat er es nie
völlig aus dem Auge verloren. Noch im Jahre 1888 hat er über den
Fondaco dei Tedeschi in Heidelberg einen Vortrag gehalten. Und
er hatte die Freude, als Vorstand der badischen historischen Kommission
das epochemachende Werk Schultes unter seiner Ägide abgeschlossen zu
sehen, das im Jahre 1890 sein Vorgänger in diesem Amte, Eduard Winkel-
mann, angeregt hatte.
Inzwischen war Erdmannsdörffer nach Deutschland heimgekehrt und
hatte sich mit dieser Arbeit noch im Jahre 1858 in Jena habilitiert.
So sehen wir ihn zum zweiten Male an der kleinen thüringischen Uni-
versität, der er jedoch bereits im Herbste 1859 für immer Lebewohl
sagte, um Hilfsarbeiter der Münchener historischen Kommission zu
1) S. Sybel, Ilist. Zeitschrift, 3. Hd. 191 f.
2) Ich verdanke diese Mitteihmg ITerrn Archivrat Dr. Karl Obser in Karlsruhe.
Zum Gedächtnis Bernhard Erdmauiisdöi-ffers 5
werden. Seine Aufgabe, die Edition der Beichstagsakten vorzubereiten,
führte ihn nach seinem Italien. Er hat dieser arbeitsreichen Zeit stets
mit dankbarer Freude gedacht. Und als er vor wenig Jahren Mitglied
der historischen Kommission geworden, da sagte er wohl, dass er nun
in seinen alten Tagen dahin zurückgekehrt sei, wo er als junger Historiker
seine Laufbahn begonnen. Zunächst wandte er sich ins Toskanische und
hat längere Zeit am florentinischen Archiv gearbeitet. Er hat sich mit
seiner ganzen Warmblütigkeit in die italienischen Verhältnisse eingelebt :
er war bald mit Land und Volk verwachsen. Vergangenheit und Gegen-
wart wirkten in gleicher Weise auf ihn ein und so ist ihm der Geist
der Benaissance in einer Weise aufgegangen wie wenigen Deutschen.
In ihm schlummerte ein tiefes, künstlerisches Empfinden. Das ist dort
in schönster Weise geweckt worden. Es war kein doktrinäres Geniessen,
dem er sich hingab. Unmittelbar wie sein ganzes Empfinden, wirkten
Natur und Kunst in gleicher Weise auf ihn ein. Dann sah er Bom.
Er gewann das päpstliche Bom mit all seinen Schäden wahrhaft lieb
und er hat späterhin wohl manchmal die Wandlung beklagt, welche die
,Boma sempre viva'' seit 1870 erlitten. Die Stadt war ihm zu modern
geworden, er vermisste den «aerugo nobilis* der früheren Tage. Nicht
als ob er dem Einigungsdrange des italienischen Volkes nicht mit
wärmster Sympathie gefolgt wäre. Wie konnte er warm werden, wenn
er von Cavour erzählte, von dem Jubel, mit dem das Volk dem Manne
seines Vertrauens zujauchzte, von dem Eindrucke, den er auf ihn selbst
gemacht. In Bom und Turin hatte er Gelegenheit genug, das Werden
und Drängen des neuen Italien zu beobachten. Er hatte Gelegenheit,
mit einer Beihe der bedeutendsten Persönlichkeiten Italiens bekannt zu
werden. Und doch lebte er bei all dem weit mehr der Vergangenheit
als der Gegenwart. Eine andere Welt war ihm aufgegangen, der Geist
der Benaissance erfüllte ihn mit seiner ganzen Kraft. Aber die Beception
von That und Werk, von Geist und Form war doch keine einseitige,
war frei von jedem doktrinären Zuge. Im Gegenteil. Sie schlug all die
Saiten an, die in Erdmannsdörffers Geist und Seele längst vorhanden
gewesen und hat sie lediglich harmonisch gestimmt. So ward der Klang
zum vollen Akkord, der Leben und Schaffen durchdrang. Indem ihm
nun gerade durch diese Wechselwirkung die Geschichte in ihrer vollen
Bedeutung erschien und das grosse Geheimnis von der Macht der Per-
sönlichkeit aufging, gewannen all die Gestalten der Periode Leben.
Man muss es beklagen, dass er denselben nicht nachgegangen, dass
der wissenschaftliche Niederschlag ein äusserlich geringer gewesen ist.
6 Richard Graf Du Moulin Eckart
Freilich wer sein kleines Eolleg über die Renaissance gehört, der hat
aus demselben den tiefsten Eindruck mit ins Leben genommen. Und
auch der Vortrag, den er im Jahre 1896 vor den allerhöchsten badischen
Herrschaften im Karlsruher Schlosse gehalten, hat deutlich bewiesen,
wie tief er in den Oeist der Epoche eingedrungen. Aber darin liegt
nicht die Bedeutung dieser einzigartigen Lehrzeit: alles was Erdmanns-
dörffer geschaffen, trägt den Stempel dieser engen geistigen Verbindung.
Die abgeklärte Kraft seiner historischen Kunst ist daraus unmittelbar
hervorgegangen. Als er von seiner wissenschaftlichen Wallfahrt heim-
kehrte, war er fertig, hatte er die Lehrjahre abgeschlossen. Vielleicht,
wenn er in der Stille der Thüringer Universität Zeit und Stimmung ge-
funden hätte, würde er sich dieser Periode mit seiner ganzen Kraft ge-
widmet haben.
Zunächst hatte er auch von dieser italienischen Reise, neben der
reichen Ausbeute für die historische Kommission, eine eigene Arbeit
mitgebracht, die wie die kleine Abhandlung aus Venedig das Zeichen
des „Oenius loci' an der Stirne trug und doch die Beziehung zur vater-
ländischen Geschichte festhielt. Die Grundlage zu derselben hatte ihm
ein Fund im Turiner Staatsarchive gegeben. So erschien denn im Jahre
1862 dieser „Beitrag zur Vorgeschichte des dreissigjährigen Krieges" —
eine Episode, welche die Stellung des Herzogs Karl Emanuel L von
Savoyen zur deutschen Kaiser wähl von 1619 behandelte. Das Buch
zeigt bereits die Vorzüge seiner Schreibart in schönem Lichte. In kurzen,
prägnanten Strichen wird der Hintergrund gezeichnet, die allgemeine
Situation gegeben, der Leser in medias res geführt. Dann aber holt er
weiter aus. Stets unter dem angegebenen Gesichtspunkte wird nun ein
Stück der Geschichte Savoyens vorübergefährt. Wie lebendig ist das
Alles. Wie klar sind die Situationen gezeichnet, aus denen fest und
deutlich die Charaktere sich herausheben. Kein Zweifel, er schrieb unter
den grossen Zeiteindrücken ; hatte er doch den Boden Italiens unter den
Schritten der Weltgeschichte dröhnen hören. Es war bezeichnend, wenn
er über die Ereignisse des Jahres 1615 sagte: «Aus dem gänzlichen
Verfall, worin alle nationalen Kräfte des übrigen Italiens schon seit ge-
raumer Zeit lagen, ragte dieser kurze Feldzug um Asti wie eine grosse
patriotische Heldenthat hervor; man fühlte für einen Augenblick den
drückenden Alp des spanischen Übergewichts von sich abgewälzt, man
wies auf Karl Emanuel als den künftigen Befreier Italiens, als das leben-
dige Zeugnis hin für das noch immer geltende Wort Petrarca's:
Che Tantico valore
Neir italici cor non e ancor morto!
Zum Gedächtnis Benihard Krdmannsdörifers 7
Es war das erste Mal, dass das Haus Savoyen, wenn ein neuerer
Ausdruck erlaubt ist, in Italien moralische Eroberungen machte.^
Die historische Analogie ist überhaupt eine der wirksamsten Charak-
terisierungsmittel Erdmannsdörffers gewesen. Aber nur in diesem Sinne
zur farbenreichen Charakteristik hat er sie verwendet, nicht etwa, um
daran irgend welche Folgerungen allgemeinerer Art zu knüpfen. «Die
Natur jener Dinge sowohl^, so sagt er selbst am Schlüsse seines Buches,
«wie die selbständige Lebendigkeit der neben der überlieferten Formel
frei sich bewegenden geschichtlichen Entwickelung widersetzt sich dem^.
Im unmittelbaren Zusammenhang mit obigem Werke nenne ich eine
weitere Arbeit Erdmannsdörffers, obwohl sie erst einige Jahre später
entstanden ist: ,Zur Geschichte und Geschichtsschreibung des dreissig-
jährigen Krieges.^ Die Veranlassung boten ihm die Werke Fr. von
Hurters und M. Kochs über den zweiten und den dritten Ferdinand.
Es ist interessant, wie er Koch gleich bei dem ersten Bande das
Yisir abreisst und ihm ohne Gnade den verdienten Todesstoss ver-
setzt. Nicht minder wichtig ist zu seiner eigenen Beurteilung, wie
er Droysen und Häusser gegen die gehässigen Angriffe Kochs in Schutz
nimmt, und die Droysen'sche Methode klar und eingehend würdigt:
„Gerade bei der Schilderung der genannten Keichsversammlungen hat
Droysen das grosse Verdienst, zum ersten Male auf den Kern der Sache
eindringend, in wirklicher politischer Verständlichkeit die Natur jener
Verhandlungen dargelegt zu haben. Man kann bei dem von ihm ein-
geschlagenen Verfahren wohl leicht an eine Grenze kommen, wo die
Sicherheit der Interpretation schwankt, wo die Kombination der wahr-
haft wirksamen Zusammenhänge sich der exakten Beweisführung entzieht
und eine allerdings nur subjektive ist; an diesem Punkte ist eine Mei-
nungsverschiedenheit berechtigt.*' Um so schärfer aber fertigt er die
Eampfweise Kochs ab, wie dessen «moralisierende^ Methode: «Die Dar-
stellung wird zum Plaidoyer, und indem auf der einen Seite alles oder
möglichst vieles geheiligt oder wenigstens entschuldigt wird, auf der
andern Handlungen und Motive überall in das Licht tiefster moralischer
Verwerflichkeit gestellt werden, so drückt man damit den grossen Gang
der Geschichte herunter zu einem armseligen Kampfspiel zwischen hosen
Buben und zwischen verkannten und misshandelten Ehrenmännern; ein
Spiel, um das es sich, wenn es nichts weiter wäre, nicht sonderlich
lohnen würde, sich viel zu kümmern." Doch dabei bleibt er nicht
stehen. Vielmehr giebt er in einer glänzenden Einleitung ein vortreff-
liches Resume über die bisherige historiographische Behandlung der
8 Hichard Graf Du Moiüin Eckart
grossen Eriegszeit und weist zu gleicher Zeit den Weg, wie man zu
^einer gemeinsamen und wissenschaftlich zu begründenden Basis für
die Beurteilung der Ereignisse und Personen gelangen könnte^. Denn,
meinte er, ,es liesse sich wohl eine Geschichte des dreissigjährigen
Krieges denken, die weit entfernt von der kühlen Gleichgiltigkeit, die
man einer solchen Betrachtungsweise etwa vorwerfen möchte, vielmehr
voll des teilnehmendsten Interesses für die Erscheinung als geschicht-
liches ganzes, ebenso weit entfernt wäre von dem feindseligen Dualismus,
welcher jetzt die Anschauungen trennt.^ »Sie würde, das grosse Ganze
der Erscheinung fest im Auge behaltend, von selbst auf die Analogie
verwandter Beihen von Ereignissen gelenkt werden, und aus ihrer Rich-
tung des Urteils über Zustände und Personen, über notwendige Zu-
sammenhänge und persönliche Verantwortlichkeit ergeben, welche uns
weit hinwegführen würde von der falschen Feindseligkeit, womit wir
die eine Partei darstellen, ebenso wie von der vorzugsweise in jener be-
gründeten sympathisierenden Parteinahme für die andere/ „Denn eben
in der Verneinung jener falschen Identifizierung würde sie beruhen ; aber
vielleicht wäre auf diesem oder einem ähnlichen Wege dahin zu ge-
langen, dass über diese so wichtige Periode die historische Wahrheit
nicht mehr, wie bisher, eine andere diesseits und eine andere jenseits
des Erzgebirges und des Mains wäre.* Bedeutungsvolle Worte, wie denn
das kleine Expose bleibenden Wert hat und auch noch für künftige Gene-
rationen gewissermassen als Wegweiser dienen kann. Aber für Erdmanns-
dörffer bedeutet es eine innere Wandlung. Indem er den Speer schützend
über den angegrifTenen Lehrer hält, ist er bereits über ihn hinausge-
schritten, hat er sich den Standpunkt der ruhigen Betrachtung bereits
gewonnen. Unmerklich, pfadsuchend hatte er sich Ranke mehr und mehr
genähert, den er vor allen anderen Historikern zuerst erkannt hat in
seiner innersten und tiefsten Bedeutung. Doch davon später. Die Grund-
sätze, die er für Behandlung des dreissigjährigen Krieges aufgestellt,
er hatte sie sich für seine gesamte Geschichtsauffassung und Geschichts-
schreibung zu eigen gemacht. War doch auch in seinem äusseren Leben
eine starke Wandlung vor sich gegangen. Da er von seiner Südlands-
fahrt nach Jena heimgekehrt, fand er seinen Lehrer Droysen dort nicht
mehr vor. Schon im Jahre 1858 hatte dieser einen Ruf nach Berlin
erhalten und dorthin rief er alsbald den Schüler, um ihm einen Teil der
Arbeiten zur Geschichte des grossen Kurfürsten zu übertragen. So kam
Erdmannsdörffer aufs Neue mit Droysen, aber auch mit Max Duncker in
Berühning, dem er gleichfalls Zeit seines Lebens ein warmes und getreues
Zum Gedächtnis Bernhard Erdmannsdörffcrs 9
Gedenken bewahrt hat. Doch versäumte er es nicht, den «akademischen
Zusammenhang" zu wahren und so bot ihm sein »Karl Emanuel' eine
willkommene Habilitationsschrift für die dortige Universität. Die Publi-
kationsthätigkeit für den politischen Teil der Urkunden und Aktenstücke
zur Geschichte des grossen Kurfürsten nahm ihn nun Jahre lang in An-
spruch. Der erste Band ist bereits im Jahre 1864 erschienen und Hess
deutlich die Selbständigkeit seines Systems erkennen. Art und Weise
der Gruppierung, die Auswahl des Wichtigen aus der Unmasse des
Materials zeigen das sichere und klare Auge des Forschers, das stets
auf das Ganze gerichtet ist, aber auch die Bedeutung des Details er-
fasst. Die Einleitungen zu den einzelnen Abschnitten beweisen, wie sehr
er den Stoff beherrschte, wie sich bei der trockenen Editionsarbeit Stein
auf Stein fügte zu einem selbständigen Bau, wie sich ihm Ereignisse
und Charaktere in voller Klarheit zeigten. Er hat ein gutes Stück
seiner Lebenskraft dem Werke geweiht. Doch fand er glücklicherweise
auch noch Zeit zu anderer Thätigkeit. Seit 1864 hatte er die Geschichts-
vorträge an der Kriegsakademie übernommen, wo er einen dankbaren
und anhänglichen Kreis von Zuhörern fand. Noch in seinen Heidelberger
Zeiten hatten ihn seine alten Schüler von der Kriegsakademie aufge-
sucht und bei ihm gehört.
Zu gleicher Zeit scheint er eifrig journalistisch thätig gewesen zu
sein und in den Feuilletons der Berliner Zeitungen ist so mancher kleine
Aufsatz vor Allem litterärgeschichtlicher Natur verborgen. Viel An-
regung gewährte ihm der Verkehr mit jüngeren Kollegen, mit denen er
sich in dem .Selbstmörderklub" zusammengefunden hatte. Er hat in
den letzten Zeilen, die er geschrieben, in dem Nachruf auf Alfred Boretius
in seiner reizvollen, liebenswürdigen Art von diesem Kreise geplaudert.
Kam er doch gerne auf diese Jahre des Wartens und der Arbeit zu
sprechen, wo er mit den Genossen froher und trüber Stunden gewisser-
massen eine Gegenfakultät gegründet hatte. Nicht blos Julian Schmidt,
welcher der intellektuelle Urheber des Namens dieser akademischen
«Camorra' war, auch andere sahen mit Interesse und selbst mit Neid
auf diesen angeregten und anregenden Kreis junger Gelehrter. Vor Allem
gab ja die Konfliktszeit Anlass genug zu heftigen Diskussionen. Erd-
mannsdörffer hat stets mit innerster Befriedigung betont, dass er schon
damals, trotz seiner Beziehungen zu dem „verfehmten^ Max Duncker,
der Bismarck geradezu hasste, die hohe Bedeutung des angefeindeten
Mannes richtig erkannt habe. Die tiefe Verehrung für den Giganten,
das Empfinden und Erkennen seiner Grösse ist ein Grundzug von Erd-
10 Richard Graf Du Moulin Eckart
mannsdörffers Wesen geworden. Gerade in jenen Jahren hat er an
seinem Waldeck gearbeitet, in welchem er im Gegensatz zu Pufendorf
und der ganzen preussischen Geschichtstradition das Verdienst des einstigen
brandenburgischen Staatsmanns klar und mutig dargestellt hat. Unwill-
kürlich drängt sich der Vergleich auf zwischen den Tagen des grossen
Kurfürsten und dem Sturze des gewaltigen und so verdienstvollen Staats-
mannes, zwischen E. Werk und der Stimmung, die ihn im Jahre 1892
als Führer und Sprecher der badischen Wallfahrer nach Friedrichsruh
geführt hat. Freilich hier die gewaltige Erregung des echten, deutschen
Mannes, dem kein Laster schlimmer schien als der Undank, damals der
kühl und kühn besonnene Historiker, der, wie Gothein so schön sagt,
von der Überzeugung durchdrungen war, dass man seine Sache und
seinen Helden nie besser lobt, als wenn man auch den Gegnern volle Ge-
rechtigkeit widerfahren lässt.
Noch im Jahre 1864 erschien in den preussischen Jahrbüchern eine
Studie ^zur Gründungsgeschichte der preussischen Akademie der Wissen-
schaften^. Eine Kritik über den Leibnitz-Jablontzky 'sehen Entwurf einer
Instruktion für die Mitglieder der zu gründenden Societät hatte ihm die
Veranlassung dazu gegeben. Wenn, wie er selbst im Nachruf für Bo-
retius erzählt, bei den „Selbstmördern" die „Knauserigkeit*^ der Begie-
rung mehrfach besprochen worden ist, so hat der kleine Aufsatz ge-
wissermassen einen humorvollen Hintergrund. Denn er zeigt, wie sehr
nach dem Sturze Danckelmanns die missmutigen Beamten allen Neue-
rungen gegenüberstanden, wie gefährlich, bedenklich und überflüssig in
ihren Augen die Historie war. Und so bringt Erdmannsdörffer den
klassischen Ausspruch des Gutachtens : „Von der reformatione religionis
ist so viel schon geschrieben, dass nichts mehr nötig*^, in klaren und
höchst wahrscheinlichen Zusammenhang mit der bureaukratischen Ant-
wort, die im Jahre 1709 ein Mitglied der Akademie, das sich über die
üble Lage der Wissenschaften beklagt, erhalten hat: „Le Roy ne vous
paye point pour faire des livres". Der Aufsatz aber ist ein wahres
Kabinetsstück historischer Betrachtung und seiner eigenartigen Publi-
kationsweise. So zeigt er ein einzelnes Aktenstück ^in dem Zusammen-
hang einer ganzen Partei und Zeitrichtung, in dem Zusammenhang eines
der wesentlichsten Elemente des preussischen Staatslebens* , das „auf
anderen Gebieten fördernd und belebend* , hier „in seinem retardierenden
Charakter' auftritt, „beschränkend und beschränkt*'.
Droysens Publikation ^das Testament des grossen Kurfürsten'' gab
ihm Gelegenheit, zu dieser interessanten Frage gleichfalls das Wort zu
Zum Gedächtnis Bernhard Erdmannsdörffers 11
ergreifen. Er verbindet damit ein interessantes Expose über die preus-
sische Memoirenlitteratur, die sich zu Anfang des siebzehnten Jahrhun-
derts aus der , Atmosphäre*^ des Berliner Hofes entwickelt. Dieser war
ein Mittelpunkt geworden, , nicht wo die grossen Interessen der Zeit
entschieden werden, aber wo sie alle nachklingen und kämpfend sich
kreuzen, und die Entscheidungen, die hier im engern Kreis fallen, sind
nicht ohne Wichtigkeit für das Ganze". Ihn interessiert dieses Treiben :
aber wenn er ihm nachgeht, so ist's um anderer Zwecke willen, und
mit Freuden konstatiert er von dem grossen Kurfürsten und seinem
Testament, dass ^dieses grosse Andenken jetzt wieder in lauterer Klar-
heit vor uns stehf. Es sind die Ereignisse des grossen Sommers 1866,
die in dem Schluss werte nachklingen: „Ein anderes farwahr, als was
jene Tradition trübsten Ursprungs ihm andichtete, ist das Vermächtnis,
welches der grosse Kurfürst seinem Hause, dem preussischen Staate,
und der deutschen Nation hinterlassen hat, und wir heutigen preisen
uns glücklich, dass wir jetzt so recht mitten in der Testamentsvoll-
streckung stehen.*
Wahrlich nicht weniger freudig, aber noch weit klarer, erkannte
er die Zeichen, die verkündeten, dass sich die Zeiten erfüllten. Dabei
schritt die Bearbeitung der Urkunden und Aktenstücke stetig vorwärts.
Bereits im folgenden Jahre (1867) konnte der zweite Band der poli-
tischen Verhandlungen erscheinen, der eine Fülle neuer Kenntnisse
brachte: hartes Ringen des Kurfürsten in den Cleveschen Angelegen-
heiten, politische Enttäuschungen in dem Verhältnis zu Holland, das
erst durch Karl Gustav von Schweden zur Allianz mit Brandenburg
gedrängt wurde. Dazu die leidigen Friedensverhandlungen zu Münster
und Osnabrück. Mit aller Zähigkeit hielt Friedrich Wilhelm an
dem ungeteilten Besitze von Pommern fest. Er war nahe daran, mit
dem Kaiser und sogar den evangelischen Fürsten zu zerfallen. Dazu
kam das Projekt Oxenstiernas, ihn mit Christine zu vermählen, und
durch die Hoffnung auf ihre Hand zur unbedingten Abtretung zu ge-
winnen. Alles vergeblich. Die Umstände waren stärker, er musste nach-
geben. Aber auch sein Streben, durch eine bewaffnete evangelische
Mittelpartei den Frieden zu erzwingen, scheiterte.
Indessen war Erdmannsdörffer die Publikation bis zu einem gewissen
Grade nur Mittel zum Zweck. Während kleinere Talente an solchem, an
und für sich schon dankenswertem Werke volles Genügen finden und
ihre ganze Kraft dafür einsetzen, hat er vor allem daraus produktive
Anregungen empfangen. Eine ganze Reihe von grösseren, zweifellos
12 Richard Graf Du MouUn Eckart
bahnbrechenden Arbeiten scheint er beim Durcharbeiten der staubigen
Akten konzipiert zu haben. So wollte er den Rheinbund behandeln und
den Schleier, der über dem Verhältnis Cromwells zu Deutschland lag,
lüften. Zunächst aber bewegte er sich im engeren Kreise, um sich
ge Wissermassen mit der bisherigen preussischen Historiographie und
ihren Maximen auseinanderzusetzen.
Im Sommer 1869 erschien sein Buch „Graf Georg Friedrich von
Waldeck. Ein preussischer Staatsmann im siebzehnten Jahrhundert*^
Man erwartete eine Biographie, welche die Idealgestalt des grossen Kur-
fürsten in gesteigertem, ja vielleicht forciertem Glänze zeigen sollte.
Nichts von alledem. Erdmannsdörifer vollzog vielmehr mit kühnem Schritt
den Bruch mit der alten Tradition. Der junge Gelehrte war über seinen
Lehrer und Leiter mächtig emporgewachsen. Er erwies sich gewisser-
massen als einer der grössten Methodiker der Geschichtsschreibung. Es
war an und für sich eine That, eine Gestalt zum Leben zu erwecken,
die man gewissermassen in das Fundament des Denkmals des grossen Kur-
fürsten eingemauert hatte : obschon seine Tbätigkeit auf die höchsten Ziele
gerichtet war, ^obschon dieser westfälische Reichsgraf einer der fähigsten
und energischsten politischen Köpfe, welche die zweite Hälfte des sieb-
zehnten Jahrhunderts in Deutschland aufweist^ ; ,|Obschon derselbe über
hundert Jahre vor dem Fürstenbunde Friedrichs des Grossen im wesent-
lichen die gleichen Ideen gehegt und an ihrer Verwirklichung gearbeitet
hat*'. Nicht genug. Erdmannsdörifer konnte feststellen, dass dieser Graf
von Waldeck vielleicht der Erste gewesen, welcher den allgemeinen Beruf
des preussischen Staates erkannt und ein System politischer Bestrebungen
auf den Glauben an die Zukunft desselben gebaut hat, auf den Glauben
an diesen Staat, „von dessen Erhaltung und Vergrösserung ich das Ziel
meines Vaterlandes abhängig erkenne". Dies zu zeigen, war Erdmanns-
dörffers Intention, die er völlig und mit Glück ausgeführt hat. Aber
er hat doch noch unendlich mehr gethan. Ich sage nicht zu viel, wenn
ich behaupte, dass dieses Buch einen Markstein in der Entwickelung der
deutschen Historiographie bedeutet. Polybius sagt einmal: «Uns, die
wir Geschichte schreiben, ziemt es, die vorwaltenden politischen Gedanken,
wodurch die EntSchliessungen bestimmt werden, dem jedesmaligen Staats-
oberhaupte zuzuschreiben ; es ist die Sache der Leser, sich selbst hinein-
zudenken, in wie weit es wahrscheinlicher sein mag, dass diese Gedanken
und Erwägungen das Eigentum derer sind, die dem Fürsten zur Seite
stehen." Erdmannsdörffer fand nun, dass man dieser Maxime, die ge-
wiss jeder seiner Kollegen perhorrescierte, in der Praxis nicht allzufeme
Zum Gedächtnis ßernhard Erdmannsddrffers 13
stand. Nicht blos Pufendorf hatte .in der feierlich monumentalen Weise
seiner Geschichtsschreibung und mit der sicheren stilvollen Grossartig-
keit, die ihm eigen, den grossen Kurfürsten als eigentliches und einziges
Subjekt des Staates in die Mitte gestellt, alles auf ihn bezogen, alles
ihm beigelegt, alles von ihm ausgehen lassen, so dass neben ihm alle
anderen wirkenden Kräfte nur als Werkzeuge des allein handelnden Staats-
subjekts erschienen/
Nicht blos bei Pufendorf war diese seltsame Maxime wahrzu-
nehmen. Auch die späteren Generationen blieben gleichsam daran
haften und übten im Geiste des Polybius diesen «Übertragungsprozess^.
Dies war um so auffallender, als die originalen Quellen in ihrer Be-
schaffenheit nichts hatten, was zu jener Übertragung in allen Fällen
gezwungen hätte. Bis hieher durchgedrungen, konnte seine Kritik vor
dem Lehrer und Freund nicht stehen bleiben. So sprach er es denn
offen aus: .Ich habe hiebei vornehmlich die jüngste Darstellung dieser
Dinge in Droysens Geschichte der preussischen Politik im Auge, die so
bedeutendes für die Kenntnis jener Zeit geleistet hat, der ich aber ge-
rade in der Auffassung dieses Grundverhältnisses nicht beizupflichten ver-
mag/ Kein Zweifel, der Abbau der reichen Schätze preussischer Ge-
schichte war von einer falschen Seite aus geschehen. Die ganzen Lager
waren dadurch gefährdet. So wies denn Erdmannsdörffer, indem er den
ersten Schlag in das Geäder that, die richtige Stelle, wo der neue, sichere
Schacht gegraben werden musste. Der Gang in die Tiefen der Forschung
aber war ihm eine Aufgabe der Decentralisierung ; es kam ihm darauf
ao, Jenen far die gesamte deutsche Geschichte so entscheidenden Ent-
stehungs- oder wenn man will, Schöpfungsprozess auseinanderzulegen in
seine einzelnen Akte und in die Wirkungssphären der einzelnen daran
mitarbeitenden Kräfte. Der leidenschaftliche Verehrer fiismarcks sah die
Grundlage der vollen Erkenntnis in der Geschichte des preussischen Be-
amtentums. Ist diese Arbeit gethan, dann, meinte er, „wird ein Blick
sich aufthun, über ein mannichfaltiges und bewegtes Leben hin ; die Beib-
nngen der Persönlichkeiten, der allgemeinen Ansichten, der auf sie ge-
gründeten Parteien wider einander würden sich wahrnehmen lassen ; vieles,
was sich uns jetzt als unvermittelte Inspiration eines einzelnen giebt,
wird dann vielleicht als das sehr vermittelte Besultat mannichfaltigster
Zusammenwirkungen erscheinen, — aber das Gesamtbild der Vorgänger
wird ein innerlich möglicheres sein, als es irgend eine Erklärung auf dem
W^e einer alles durchdringenden, alles überschauenden, alles gleichsam
mechanisch am Faden lenkenden absoluten Staatsgenialität zu geben ver-
mag^. Aber gerade durch die Darlegung des wahren Verhältnisses der
14 Richard Graf Du Moulin Eckart
treibenden Kräfte, würde „auch dem Bilde des Kurfürsten Friedrich
Wilhelm, der in Mitten ihrer aller steht, sein rechtes Licht zu Teil
werden*.
Kein Zweifel: es war eine That von hoher Bedeutung, die Erd-
mannsdörSer hier vollbracht. Es ist, als ob er den Geist des Konsti-
tutionalismus von jedem Parteigewande entkleidet, in seiner ganzen Rein-
heit in die Geschichtswissenschaft als neues, leitendes Moment eingeführt
hätte. Was die Völker begehrt, in heissem Kampfe sich errungen, es
war längst vorhanden in jener grossen Arbeitsteilung der Männer, die doch
nur die ,salus publica* als .ultima ratio' im Auge hatten. Mit diesem
Schritte war er in die Reihen der führenden Geister der deutschen Ge-
schichtsschreibung getreten. Seine Arbeit an den Urkunden und Akten-
stücken hatte somit neben der reichen Ausbeute aus den Archiven, der
Wissenschaft als solcher einen hohen Fortschritt gebracht. Durch Werk
und That hat er nicht blos befreiend gewirkt, die Fesseln der Tradition
abgestreift, sondern auch die Unklarheit, die nebelhafte Verschwommen-
heit, die damals noch auf einzelnen Gebieten der deutschen historischen
Forschung lag, wenigstens teilweise verscheucht. Er selbst fand sich
auf dem richtigen Wege, und zwar auf dem Wege zu Ranke und wir
dürfen sagen, mit Ranke, — den gerade die zünftigen Schüler des
Meisters nicht zu finden vermochten.
Aber noch andere Momente seines Sinnens und Schauens sollten
in dieser Periode reifen. Er hatte einen vollen berauschenden Blick in
das Zauberland der Renaissance, einen vollen Trunk aus ihrem] ver-
jüngenden Quell gethan. Das wirkte sein ganzes Leben lang nach : aber
er war zu sehr der Jünger Göthescher Weltanschauung, als dass er sich
nicht auch mit diesem .Geiste' auseinandergesetzt hätte.
Noch im selben Jahre wie der „Waldeck* erschien in den „Preussi-
schen Jahrbüchern* eine Abhandlung von seltener Eigenart: .Das Zeit-
alter der Novelle in Zellas*. Der Titel, so berechtigt er ist, lässt den
weitumspannenden Inhalt dieser in hohem Grade interessanten Studie
kaum ahnen. Und doch steht sie mit den beim Waldeck gewonnenen An-
schauungen für die Geschichtsschreibung in gewissem Zusammenhang.
Er geht hier noch einen Schritt weiter. Er nennt seine Arbeit „einen
kleinen Ausschnitt aus der grossen Aufgabe der vergleichenden Erkenntnis
der geschichtlichen Erscheinungen". Zweck war ihm, .zu erweisen, wie
auf dem Grunde analoger kulturgeschichtlicher Voraussetzungen — hier
im Altertum, ^^^ ™ Mittelalter — eine Anschauung von Welt und
Leben ersteht, zu deren eigenstem Wesen, neben vielen anderen gleich
Zum Gedächtnis BerDhard Erdroannsdörffers 15
charakteristischen, gleich notwendigen Ztigen, es gehört, jenes leichte
Genre fast unbewusster Dichtung — der Novelle — hervorzubringen."
In glänzender Parallelstellung der Strömungen der Ereuzzüge und der
Periode der „sieben Weisen^ versteht er es auf breit gezeichnetem histo-
rischem Hintergrunde eine litterarische Bewegung mit wenigen Hilfsmitteln
zu rekonstruieren, die ihm gewissermassen unter den Händen wachsen, so
dass Stein auf Stein passt. Dies geschieht aber im engsten Zusammenhang
mit der geschichtlichen Entwickelung. Hat er im Waldeck die Schäden einer
falschen historischen Tradition enthüllt, so zeigt er hier mit einer gewissen
Freude das Ineinanderfliessen von „Wahrheit und Dichtung', diese Weise
des poetischen Schaffens, die dann, ,,heimisch geworden in dem Geiste
der Nation*^ von hier an weiter bildet und weiter dichtet in allen Zeiten,
so dass sie auch m den Epochen gesicherterer historischer Überlieferung
immer neben dieser herschreitet, gleichwie ein liederreicher geschmückter
Sänger neben einem würdigernsten Festzuge*.
Die Studie vereinigt alle Vorzüge Erdmannsdörffer*schen Schaffens :
vor Allem aber bietet sie eine Fülle methodischer Winke. Von wenigen
Werken können wir mit gleichem Rechte wie von dieser reizvollen Studie
sagen: ,,Das ist Kulturgeschichte."
Inzwischen war er „spät genug'' zum ausserordentlichen Professor in
Berlin ernannt worden. Aber die grosse Zeit fand ihn am richtigen Platze.
Da die deutschen Kolonnen über den Rhein zogen, litt es ihn nicht da-
heim in den leeren Hörsälen, er stellte sich gleich anderen Gelehrten zur
Verfügung der Armeeleitung und trat als Führer einer freiwilligen Ver-
pflegungskolonne den Marsch nach Frankreich an. Da man hinter dem
Sarge des Verblichenen das Kissen mit den Ordenszeichen trug, da ist
es manchem wohl aufgefallen, dass kein preussischer Orden dasselbe zierte,
ausser dem eisernen kreuze, das er sich in jenen grossen Tagen erworben
hatte. Es war Erdmannsdörffers Art, dass er im politischen und natio-
nalen Leben nur dann aus der Stille seiner Objektivität hervortrat, wenn
es galt, Farbe zu bekennen, wenn es der ,Mühe wert war*. Er sprach
gern von jener Campagne in Frankreich, nicht von sich und seinen Aven-
türen, sondern von den grossen und gewaltigen Eindrücken, die er dort
gewonnen.
Das Friedensjahr brachte auch ihm den ersehnten Ruf. So kam er
an Noordens Stelle nach Greifswald, das ihm den ganzen Segen einer
kleineren und eigentlichen „universitas litterarum'' bot, „die frei von den
zerstreuenden, trennenden Einflüssen der Hauptstadt in festem Zusammen-
halt und wahrer Kollegialität einen ausgesprochenen Charakter hat und
16 Bichard Graf Du Moulin Eckart
verbreitet." Vor allem mit Immanuel Bekker, der gleich ihm den Weg
nach Heidelberg gefunden, verband ihn eine Freundschaft fär's Leben.
Dazu kamen andere, vor Allem der leider zu früh verstorbene Rudolph
Scholl, der im April 1872 nach Greifswald berufen worden war. Ein
anregender Kreis! Aber auch Fäden, fein wie Spinneweben, die schon
in Berlin geknüpft worden waren, spannen sich weiter. Freilich konnte
er die Geliebte erst nach Heidelberg heimführen.
Seine Lehrthätigkeit befriedigte ihn im hohen Masse. Jetzt konnte
er eigentlich erst mit seiner ganzen Erfahrung richtig hervortreten. Aber
dieses Hervortreten war wie das Erscheinen seiner Bücher ein Ereignis.
Denn was er seinen Schülern bot, — zu diesen gehörte sein künftiger
Schwager, Max Lenz, — das war die voUerfasste, vollbegriffene, voU-
geklärte Banke'sche Methode. Bis dahin war noch keiner in die eigent-
lichen Tiefen derselben vorgedrungen. Erdmannsdörffer war auf seine
eigene Weise zu derselben gelangt und konnte, der ohne sie gereift und
geworden, sie mit voller Wahrheit und Durchsichtigkeit bieten. Wir
dürfen sagen, er war der erste der sogenannten Jung-Ilankianer. Ich
überlasse einer berufeneren Feder, dieses näher zu erörtern und auszu-
führen. Aber Erdmannsdörffers Bild wäre unvollständig, würde man nicht
gerade diesen Grundzug seiner akademischen Lehrthätigkeit stark betonen.
Der fünfundsiebzigste Geburtstag Kaiser Wilhelms I. gab ihm am
22. März 1872 Gelegenheit bei der akademischen Festfeier über «Be-
standene Versuchungen in der preussischen Geschichte** zu sprechen. Es
war gleichsam eine historische Revue, die er von dem neugewonnenen
politischen Standpunkte aus mit Genugtbuung bethätigen konnte. „Das
Spiel des Lebens sieht sich heiter an, wenn man den sichern Schatz im
Busen trägt.^ So pries er es, „einen Erfolg, wenigstens als eine heil volle
Wendung, dass Friedrich Wilhelm IV. seiner Zeit die Kaiserkrone ab-
gelehnt und so das Kaisertum nicht mit hineingezogen worden in die
Trübsal der politischen Niederlagen Preussens von 1850 an, und dass es
unversehrt blieb von dem Missgeschick und von der Schuld jener Jahre.^
Aber, — sagt er, „ein gescheitertes Streben um den höchsten Preis ruht
als schwer niederdrückende Last auf dem Leben des Einzelnen, aber un-
endlich schwerer auf dem Leben eines Staates, und der Spruch: „dass
in grossen Dingen auch schon das Wollen genug sei^ ist nicht für das
politische Leben geschrieben". — In Greifswald hatte er durch Zufall jene
Handschrift des Kleist'schen „Prinz von Homburg* gefunden, die ihm
Gelegenheit zu einer reizvollen litterar-historischen Studie in den „Preus-
sischen Jahrbüchern" gegeben.
Zum Gedächtnis Bernhard ErdmannsdÖrffers 17
Doch hier war seines Bleibens nicht l&nger. Schon das folgende
Jahr führte ihn nach Breslau, wo er in Richard Röpell einen liebens-
würdigen und kongenialen Kollegen fand.
Aber auch in der schlesischen Hauptstadt sollte er kurze Zeit wirken.
Kaum hatte er seine Vorlesungen begonnen, als sich ihm eine nach jeder
Richtung hin angenehme Aussicht nach Heidelberg eröffnete. — Treitschke
hatte dem Rufe an die Berliner Universität Folge geleistet und war nun
selbst eifrig bemüht, den Nachfolger zu finden. Das war unter den da-
maligen wenig erquicklichen Verhältnissen keine leichte Aufgabe. Aber
der gleichfalls erst vor Kurzem nach Heidelberg berufene Eduard Winkel-
mann arbeitete Treitschke dabei ehrlich in die Hände. Wiederholt riet
er Erdmannsdörffer, der mit Maurenbrecher und Noorden an erster Stelle
vorgeschlagen wurde, anzunehmen. Er hoffte in ihm eine kräftige Unter-
stützung zu finden, ^den Sinn für ernstere Thätigkeit zu beleben*. Die
preussische Regierung Hess es an ernsten Bemühungen, Erdmannsdörffer
zu halten, nicht fehlen. Aber dieser hatte Gründe genug, dem Rufe nach
Heidelberg dennoch Folge zu leisten und so gab er denn sein Jawort.
Am 25. Januar erhielt er seine Ernennungsurkunde für Heidelberg.
Treitschke orientierte ihn in seiner warmblütigen Weise über die dortigen
Verhältnisse. Er war hoch erfreut über die so glückliche Wendung
der Dinge: .Natürlich*, schrieb er, «ist es mir eine Freude gewesen,
Ihnen zu zeigen, wie sehr ich Sie schätze, obgleich es dessen unter
uns Mädchen kaum bedurfte*. „So glaube ich Ihnen sicher eine schöne
Thätigkeit versprechen zu können, und wie wichtig ist es doch, dass die
Nene Geschichte auf der ersten süddeutschen Universität, die zudem
einen halb internationalen Charakter hat, in guten Händen liege ! Dazu
das herrliche Land; ich werde das Heimweh nach dem Westen nie los
werden.* .Aber'', schliesst er das Schreiben, »ich hielt es für meine
Pflicht, einem solchen Rufe aus Preussen mich nicht zu versagen ''. Doch
auch die Schwierigkeiten verhehlte er ihm nicht. Da waren vor Allem
die wenig erquicklichen kollegialen Verhältnisse, auf die hier nicht näher
eingegangen werden soll. Aber auch als Dozent, so meinte Treitschke,
würde er keinen leichten Stand finden. .Die Studenten sind überaus
verwöhnt in ihren Ansprüchen an die Form des Vortrages.* Aber .unsere
Studenten sind besser als ihr Ruf, fleissige Kollegienbesucher und naiv
empftnglich*.
Nun lag freilich nichts näher als der Vergleich des neuen Histo-
rikers mit seinen Vorgängern, mit Schlosser und Gervinus, mit Häusser und
Treitschke. Erdmannsdörffer schreckte nicht davor zurück, ihn selbst an-
KEUE HSEDELB. JAmiBUECHER XI. '2
18 Hichard Graf Du Moulln Eckart
zustellen. In seiner Antrittsvorlesung gab er, wie Gothein erzählt, eine
geistreiche Skizze derselben. Er huldigte ihnen und brach kurzweg mit
ihrem System. Dazu gehörte Mut und Entschlossenheit. Man muss Heidel-
berg kennen, Studenten und Bürgerschaft, wie sie mit grenzenloser Ver-
ehrung an Häusser und Treitschke gehangen, wie hier noch das Bild
Schlossers und Gervinus in der Tradition fortlebt, nachdem ihre Bücher
längst tot sind. Aber Schüler im wahren Sinne des Wortes hatte doch
keiner dieser grossen Vier erzogen, auch Häusser und Treitschke nicht,
und so war gerade durch Erdmannsdörffer der Lehrstuhl ernsterer, wenn
auch nicht minder anregender Lehrthätigkeit wieder gewonnen worden.
Seine Antrittsrede wirkte freilich etwas abkühlend. Aber gerade das ge-
reichte dem Fache selbst zum Segen. Die Zeit hatte an Häusser und
Treitschke ihre Forderungen gestellt, vor Allem letzterer musste der
Herold sein der grossen politischen Gedanken. Jetzt galt es vielmehr,
die Gemüter zu beruhigen und zu neuer ernster Arbeit heranzuziehen.
Und bald erkannte man die Eigenart des neuen Lehrers, der eine Reife
und Klarheit zur Schau trug, wie keiner der Vorgänger sie besessen hatte.
Nicht mehr so viele lauschten auf ihn, diese aber sahen in ihm nicht
blos den glänzenden Bedner, der er trotz allen gewesen, sondern den
Meister — der wie die anderen nicht blos blendende, leuchtende Farben
hatte, sondern auch scharfe, künstlerisch vollendete Linien zu ziehen wusste.
Und doch ist keiner seinen Vorgängern mehr gerecht geworden als ge-
rade Erdmannsdörffer. Die Feier des hundertsten Geburtstages Friedrich
Christoph Schlossers am 17. November 1876 gab ihm Gelegenheit, das
Bild des hervorragenden Gelehrten in vollem, wir dürfen hinzusetzen, in
völlig richtigem Lichte zu zeigen: „Erst fünfzehn Jahre sind verflossen,*'
sagte er, „seitdem die Bürger dieser Universität und die Bürger dieser
Stadt an dem Grabe Schlossers standen; weithin in allen Kreisen des
Vaterlandes leben und wirken noch zahlreiche Männer, die einst zu seinen
Füssen gesessen und manchem heutigen und früheren Bewohner Heidel-
bergs steht noch das Bild der markigen, imposanten Greisengestalt vor
der Seele, mit den scharfgeschnittenen Zügen, mit dem glänzenden, streng
blickenden einem Auge, das ihm geblieben, wie sie, in den letzten Zeiten
schwankend aber ungebeugt durch die Strassen der Stadt und auf den
einsameren Spaziergängen der Umgegend einherschritt. Dennoch lässt
sich nicht verkennen, dass unser heutiges Denken in historiscb-wissen-
scbafblicher, unser heutiges Empfinden in nationaler und politischer Be-
ziehung, unsere heutige Beurteilungsweise der Welt und dem Leben gegen-
über der Art Schlossers doch schon gänzlich ferne gerückt ist^. Aber
Zum Gedächtnis Bernhard Erdmannsdörffers 10
wie plastisch zeichnet er dann den Werdegang des eigenartigen Mannes,
die .zürnende Dantegestalt, ^ die man dahinschreiten sah durch das In-
ferno der Fürstenhöfe des achtzehnten Jahrhunderts, deren Einfiuss st&rker
gewesen ,auf den Mut und die Gesinnung des Kampfes und der Vernich-
tung des Alten, als auf die Ideen der Wiedergeburt und der Neubegrün-
dung^. „So,*" schloss er, ^steht Schlosser da als einer der wirkungs-
reichsten historisch-politischen Lehrmeister unseres deutschen Bürgertums
in einer entscheidungsvoUen Periode seines Kampfes um sein Recht. Diese
Periode können wir heute als abgeschlossen, diesen Kampf als siegreich
beendet betrachten. Es werden Zeiten kommen, wo die Leistungen des
Mannes für die wissenschaftliche Erforschung und Darstellung der Ge-
schichte vielleicht noch weniger als zum Teil schon jetzt den fortge-
schrittenen Ansprüchen der historischen Methode und Technik genügen
werden. Aber dieses Verdienst darf und wird ihm nicht vergessen wer-
den und vornehmlich auch in diesem Sinne lassen Sie an dem heutigen
Tage der Erinnerung in der Huldigung uns einigen:
Ehre seinem Gedächtnis !**
Treitschke ist er bis zu seinem Tode menschlich und wissen-
schaftlich in trautester Weise nahe geblieben. Er hatte seine helle
Freude an dem starkmutigen Manne, er liebte ihn mit seinen starken
Seiten wie mit seinen Schwächen, die ja bis zu einem gewissen Grade
natumotwendig mit ersteren verknüpft waren. Er sollte jedoch bald ge-
nug Gelegenheit finden, seine Anschauungen öffentlich mit der ganzen,
ihm eigenen Bitterlichkeit zu bekunden. Der im Jahre 1882 erschienene
zweite Band der deutschen Geschichte hatte einer Beihe von mehr oder
minder berufenen Kritikern Gelegenheit gegeben, über das Buch herzu-
fallen. Yor allem Baumgarten hatte vierzehn Tage nach dem Erscheinen
des Werkes jene nach jeder Bichtung unqualifizierbare Kritik über das-
selbe in der „Allgemeinen Zeitung'^ veröffentlicht. Mit Becht trat nun
Erdmannsdörffer für den aufs Tiefste verletzten Freund und Kollegen ein.
Er betonte in einem glänzenden Aufsatze in den „Grenzboten' mit Becht,
dass weder in Frankreich noch in England ein hervorragendes nationales
Werk einen solchen Empfang erfahren könnte. „Diesem Manne, ** schrieb
er, „und diesem Buche ist öffentlich Unbill geschehen und da kein anderer
es that, habe ich mich veranlasst gesehen, dies hier auszusprechen und
zu begründen.*^ Und indem er ihn rechtfertigte gegenüber den Vorwürfen,
die man wegen seiner ungenügenden Methode und wegen seines ^preus-
sischen Partikularismus '^ gegen ihn erhoben, hat er zugleich mit wenigen
Strichen eine glänzende Charakteristik Treitschke's gegeben, die von
9*
20 Richard Graf Du Moulin Eckart
bleibendem Werte ist, aber auch nicht minder bedeutungsvoll ffir Erd-
mannsdörffers Auffassung von Mann und Werk. ^Nun ja/ sagt er,
„es wird niemand in Treitschke einen Historiker erkennen wollen von der
Strenge und Kühle Ranke*scher Objektivität, welche ich für meinen Teil
allerdings als das Höchste und Reinste verehre, was die deutsche Wissen-
schaft auf dem Oebiete historischer Leistung zur Anschauung gebracht
hat, deren Anwendbarkeit auf alle Objekte aber wenigstens nicht er-
wiesen ist. Es ist wahr, neben vielen anderen beneidenswerten Gaben
haben die Götter diesem Manne etwas heisseres Blut verliehen als in den
Adern der meisten anderen fliesst. Es ist ein leidenschaftlicher Zug in
seinem Wesen, nicht allein in seinem Darstellen und Urteilen, sondern
schon in seinem Sehen und Erkennen. Leidenschaft kann den Blick trüben,
sie kann ihn auch schärfen zu höher gesteigerter Erkenntniskraft, und in
leidenschaftlichen Naturen wird sie bald in der einen, bald in der anderen
Richtung wirken. Es liegt mir fern, zu leugnen, dass nicht auch bei
Treitschke die ungünstige Wirkung erkennbar sei ; er ist stark und heftig
in seinem Für und in seinem Wider, er kann auch ungerecht sein und
ist es vielleicht bisweilen*. ffAber," fährt er nach Aufzählung einiger
Beispiele hiefür fort, „man wolle doch solche Fündchen nicht masslos auf-
bauschen. Und entspringt nicht andrerseits aus jener leidenschaftlichen
Bewegtheit des Naturells gerade auch das Beste, was uns an dieser Ge-
schichtsschreibung erfreut, die warme und erwärmende Lebhaftigkeit der
Darstellung, die stets präsente Fülle konkreter anschaulicher Lebensbilder,
die sprechende Natürlichkeit der Charakterschilderungen, das hinreissende
Pathos bei der Entwickelung der grossen, allgemeinen, idealen Gesichts-
punkte? Das mag dem einen wertvoller erscheinen als dem anderen,
aber man muss es doch stehen lassen, und wir sollten uns freuen, dass
in der Reihe unserer zahlreichen lebenden deutschen Historiker — nach
Antlitz und Artung trotz aller Schuleinheit eine recht bunte Reihe —
dieser Mann steht als eine bedeutende und eigenartige Erscheinung, welche
die Liebe der Jugend besitzt und die Achtung des Alters verdient, und
sollten uns damit zufrieden geben, dass nicht allen Bäumen eine Rinde
wächst." So standen sie in guten und bösen Tagen zu einander. Als
Treitschke im Jahre 1891 zu erblinden drohte und in Heidelberg Heilung
suchte und fand, war ihm das Erdmannsdörffer^sche Haus eine Stätte
des Trostes und der Ermunterung in Zeiten grenzenloser Qual und Span-
nung, die dann freilich nachliess, so dass er noch die Kraft fand zu
seinem fünften Bande. Auch diesen hat Erdmannsdörffer in glänzender
Weise gewürdigt. Er schloss die Besprechung mit den Worten: «Den
Zum Gedächtnis Bernhard ErdmannsdÖrffers 21
wahrhaft tragischen Teil der Aufgabe hat Treitschke noch vor sich. Er
wird in dem folgenden Bande die Geschichte der Revolution von 1848
schreiben, die noch ungeschrieben ist. Keinem litterarischen Ereignis der
nächsten Jahre auf dem Gebiete der deutschen Geschichtsschreibung
blicken wir mit grösserer Spannung entgegen; man möchte alle guten
Geister beschwören, dass sie dem Verfasser helfend und schützend zur
Seite stehen." Nun sind sie beide dahin. Aber diese Besprechung
hat auch für ErdmannsdÖrffers theoretische Entwickelung eine ganz be-
besondere Bedeutung. Mit Becht hatte er auf die Meisterschaft
Treitschkes in der psychologischen Charaktermalerei hingewiesen. Vor
allem die Darstellung Friedrich Wilhelms IV. schien ihm in diesem
Sinne «ein Kunstwerk der erlesensten Art^. Nun stand er damals, da
er (He Besprechung schrieb, noch völlig unter dem freudigen und be-
friedigenden Eindruck, den die Abhandlung Dilthey's „Ideen über eine
beschreibende und zergliedernde Psychologie'' auf ihn gemacht hatte.
Sein Briefwechsel mit dem befreundeten Philosophen, den demnächst der
Berufenste zu solcher Aufgabe, Max Lenz mit den kleinen Schriften ver-
öffentlichen wird, kann uns interessante Aufklärung darüber geben, in
wie weit die Beiden über die wichtige Frage vorher ihre Gedanken ausge-
tauscht haben. Jedenfalls stand Erdmannsdörffer nicht an, die bedeuten-
den Ausführungen, die darauf hinweisen, «dass auf einem gewissen Teil
ihres Urteils historische und psychologische Forschung sich aufs Nächste
berühren und sich gegenseitig die Hand reichen sollten'' für seine Wissen-
schaft dankend zu acceptieren. Glaubte doch auch er ,an die Möglichkeit
und die Notwendigkeit einer Methode'^, «welche feste Kegeln für Men-
schenbeobachtung und für ästhetische oder historische Menschendarstel-
lung enthielte''. Etwas Neues war ihm der Wink nicht, konnte er dem
Schöpfer der «deutschen Geschichte seit 1648" nicht sein. Aber so deut-
lich ausgesprochen war er bisher noch nicht und mitten in dem theo-
retischen Streite jener Tage war ihm dieser Weckruf von einem anderen,
wenn auch innerlich tief verwandten Arbeitsfelde herüber doppelt erfreu-
lich. So sagte er denn: „Man bemüht sich heutzutage vielfältig, der
Historie neue oder vermeintlich neue Aufgaben und Ziele zuzuweisen,
erweitertes Arbeitsgebiet und entsprechend veränderte Methoden von ihr
zu fordern. Ich zweifle nicht, dass diese Bemühungen noch viele wert-
volle Resultate zu Tage fördern werden und zum Teil schon gefördert
haben ; die Wissenschaft wird, wie ich überzeugt bin, reichlichen Gewinn
von jenen kulturhistorischen und wirtschaftsgeschichtlichen Anregungen
davontragen, wenngleich ich mich nicht zu dem Glauben bekennen kann.
22 Richard Grat Du Moulin Eckart
dass sie eine völlige Verschiebung des Schwerpunktes und eine wesent-
liche Umgestaltung der Aufgabestellung in der Geschichtswissenschaft
im Oanzen zur Folge haben werden. Aber wenn man darauf ausgeht,
Lücken und Mängel in dem Betrieb der Historie zu konstatieren, so lässt
sich wohl auch noch auf andere hinweisen, und ich habe dabei nament-
lich die Dürftigkeit der psychologischen Fundamentierung im Auge/ Es
war die Hand des Meisters, welche nun mild und sicher den Finger an
eine wunde Stelle legte und die Heilung nur „von der Hilfe einer psycho-
logischen Beweisführung* erwartete. Diese Betrachtungen haben ihn dann
in der Folge noch weitergeführt und bei den Arbeiten für seinen ,Mira-
beau* tauchte ihm selbst der Gedanke auf, eine „Psychologie des Pla-
giats'' zu schreiben.
Doch wir sind weit den Zeitläuften vorangeeilt. Wichtiges, Tief-
bewegendes im Leben Erdmannsdörffers gilt es nachzutragen. Da er den
Ruf nach Heidelberg annahm, hatte er vor Allem auch die Möglichkeit
im Auge, endlich die Geliebte heimführen zu können. So hat er sich
denn im Jahre 1875 mit Anna Lenz, der Schwester seines Schülers ver-
mählt. Mit ihr zog ein lichter Geist, eine sonnige Natur in sein Haus
ein und bis in seine letzten Tage zitterte und flimmerte die Erinnerung
an die Zufrühgeschiedene in Geist und Seele nach. Wohl Mancher ist
vor dem schlichten Grabstein auf dem Heidelberger Friedhof gestanden
und hat den Sinn der drei Buchstaben : DNM nicht zu enträtseln vermocht.
Es waren die Worte des italienischen Dichters, die sie einst zusammen-
gelesen und die auf die Gattin tiefen Eindruck gemacht:
„Dolce nella memoria^^
Im Sinne dieser Worte hat er später gelebt, da er mit Lorbeer-
zweigen, die er in der Vaucluse Petrarcas gepflückt, das Bild der Teuren
bekränzte. Und in diesem Geiste hat auch die zweite Gattin, eine nahe
Verwandte des Lenzischen Hauses, die Kinder erzogen, die jene ihm ge-
gegeben.
Inzwischen hatte Erdmannsdörffer dem grossen Unternehmen, dem
er so lange Zeit seine besten Kräfte geweiht, den letzten Tribut bezahlt
und die weiteren Bände der „Urkunden und Aktenstücke' veröffentlicht.
Aber damit war sein Interesse an der grossen Persönlichkeit Friedrich
Wilhelms nicht erloschen. Auch den weiteren Veröffentlichungen seiner
Mitarbeiter und Nachfolger folgte er mit Aufmerksamkeit und Sympathie.
Die Besprechungen, die er den weiteren von Th. Hirsch herausgegebenen
Bänden gewidmet, zeugen davon. Aber er selbst hat noch eine Reihe
von Aufsätzen zur Geschichte dieses Zeitraums geliefert. So erschien
Zum Gedächtnis Bernhard Erdmannsdörffers 23
im Jahre 1878 in der Zeitschrift für preussische Geschichte die Ab-
handlung aber , Louise Henriette von Orleans*. Ein lebenswahres, scharf
gezeichnetes Bild der Gattin des grossen Kurfürsten, ein „achter Erd-
mannsdörfifer^. Freilich er zeigte sie „in einem anderen Lichte, als in
dem sie gewöhnlich gesehen zu werden pflegte. Die weiteren Zuge, die
man in dem Bilde an dieser Stelle sonst gern erblickte^ mussten „ver-
schwinden.* Es blieb an der Brautfahrt nach dem Haag nichts übrig
von der Romantik sehnsuchtsvoller Jugendliebe. ,Es ist bei diesem
Werben um die Braut schwierig und hart hergegangen, wie überall
sonst in dem Leben und Wirken des grossen Fürsten. Aber^, so schloss er
die Studie, „die Verklärung der späteren glücklichen Jahre liegt über dem
rauhen Anfang*. Inzwischen hatte er 1878 in dem „Neuen Plutarch* eine
scharfe und pointierte Biographie des „Grossen Kurfürsten^ gegeben, nach-
dem er schon früher in den preussischen Jahrbüchern eine wertvolle, klä-
rende Abhandlung über die Schlacht von „Fehrbellin* veröffentlicht hatte.
Aber schon beschäftigten ihn wieder zwei neue grosse Aufgaben:
seine „Deutsche Geschichte vom westfälischen Frieden bis zum Begierungs-
antritt Friedrichs des Grossen 1648—1740, und die , politische Korre-
spondenz Karl Friedrichs von Baden.*^ Die „Deutsche Geschichte* ist
der volle Niederschlag seines Könnens und seiner Kraft. Mag immerhin
dem zweiten Bande das stete Drängen des Verlegers einigen Abbruch
gethan haben — das ganze ist ein grosses historisches Kunstwerk, reif
und schön, geschlossen und von krystallischer Klarheit. Wie herrlich
der Eingang: man hört die Friedensglocken läuten, man lauscht dem
Jauchzen des müden Geschlechts über das Ende der namenlosen Qual,
und doch durch den klaftertiefen Brandschutt sieht man die Keime neuen
Lebens spriessen. Und wie geht er inmitten dieser zersplitterten Periode
den nach oben strebenden Zügen nach. Nichts ist verzeichnet, Licht
und Schatten mit staunenswerter Sicherheit und Klarheit aufgesetzt.
Dazu die Meisterschaft der Charakteristik, der Gruppierung, die zu-
gleich alles, selbst scheinbar Geringfügiges in die richtige Beleuch-
tung setzt. Er hatte eben die ganze Periode bis ins tiefste durchdrungen,
durchschaut und durchdacht : oben auf der heiteren Höhe seines Gartens
in dem rebenumwölbten Gang, seinem „Philosophenweg^ hat er auf- und
abwandelnd einen grossen Teil des Werkes entworfen, die einzelnen Ge-
stalten geschaffen. In der That — das Ganze ist wie aus Stein ge-
hauen und dennoch durchdrungen von echtem, historischem Leben. Streng
abgegrenzt ohne Rückblick und Ausblick, gleichsam aus sich heraus sich
entwickelnd und dennoch getragen von voller dramatischer Folgerichtig-
24 Richard Graf Du Moulin £ckart
keit wirkte es mit uoruittelbarer Kraft. Und doch wie weist der Schluss
in die ZukuDft, auf Preussen, «den gliederlosen, stammeD, regungslosen
Riesen '^ hin: «Wenn das Wort gesprochen wird, das ihn belebt! Wenn
der Funke springt, der ihm die Qlieder löst!
Ein neues Zeitalter bricht an. Sein stolzestes Denkmal ist die po-
litische Korrespondenz Friedrichs des Grossen. Wir lesen die ersten
Blätter, und es ist uns, als hörten wir das Bauschen eines emporsteigenden
Vorhangs, und vor unseren Augen eröffnet sich der Ausblick auf eine
unermessliche Bühne, voll sich drängender Gestalten — von weltweiter
Perspektive. "
Mit Recht war dem Werke im Jahre 1894 der Verdunpreis zuer-
kannt worden. Diese Entscheidung, die Sybels Werk aber die Begrün-
dung des deutschen Reichs trotz des Vorschlags der Kommission unbe-
rücksichtigt liess, erregte ja im ersten Augenblick Befremden und Er-
staunen. Aber bald sah man ein, dass sie durchaus berechtigt war, dass
Erdmannsdörffers Werk des Preises völlig wert war. Die Nachricht
hievon traf ihn bereits auf einer Erholungsreise nach Italien, die er bis
nach Sizilien ausdehnte. Es war ein lang gehegter Wunsch, den er sich
jetzt erfüllte. Freilich hat er den Plan einer Orientreise nie völlig auf-
gegeben, aber der Aufenthalt auf der wunderbaren Insel hat ihm doch
eine tiefe, innere Befriedigung bereitet.
Inzwischen waren auch die beiden ersten Bände der ^Politischen
Korrespondenz*^ Karl Friedrichs von Baden erschienen. Mit wachsendem
Interesse hatte er sich dieser von der badischen historischen Kommission
im Jahre 1883 gestellten Aufgabe hingegeben. Die Anregung war keines-
wegs von ihm ausgegangen, sondern von Eduard Winkelmann. Aber er
unternahm selbst einen Teil der Archivreisen nach Wien und nach Paris,
von deren Erfolgen er gerne erzählte. Vor Allem Paris machte auf ihn
tiefen Eindruck. Er hat späterhin vielen seiner Schüler geraten, die
französische Hauptstadt zu besuchen und hier ihren historischen Ge-
sichtskreis zu erweitern. Das Werk war im gewissen Sinne eine That.
Wenn er auch die Bearbeitung der späteren Bände in die erprobten
Hände seines Schülers und Freundes Obser niederlegte, da ihm die Be-
handlung der rheinbündlerischen Periode widerstrebte, so hat doch gerade
er schon durch die beiden ersten Bände die Notwendigkeit jener Ent-
Wickelung nachgewiesen und jener sittlichen Entrüstung, mit der man
deutscherseits diesen Zeitabschnitt zu behandeln pflegte, die Basis ent-
zogen. Die Vorarbeiten zu der umfassenden Publikation hatten ihm die
Anregung zu seiner Rektoratsrede „Aus den Zeiten des deutschen Fürsten-
Zum Gedächtnis Bernhard Erdmannsdörffers 25
bundes*^ gegeben, in welcher er ninit freudigem Stolze' darauf hinwies,
ndass an jenen denkwürdigen letzten Versuchen, das alte, deutsche Reich
und seine Verfassung noch einmal zu regenerieren in Anknüpfung an
die Kontinuität seiner Geschichte und an die vielleicht noch lebensfähigen
Elemente in ihr, der badische Staat und sein Fürstenhaus einen auf-
richtig gemeinten, von wahrem Patriotismus beseelten ehrenvollen An-
teil gehabt haben.*^ ^
Im übrigen hat er der grossen Publikation bis zum Schlüsse sein
Interesse bewahrt. So veröffentlichte er als Neujahrsblatt für 1893 die
„Reiseberichte eines österreichischen Kameralisten über das badische Ober-
land im Jahre 1785^ und noch in seinem letzten Jahre hat er noch ein-
mal «seinem Reitzenstein^ sich zugewendet und für die Anfänge von
dessen Wirksamkeit einen interessanten Beitrag geliefert. So hat er
seiner neuen badischen Heimat und dem Genius loci treulichst den Tribut
geleistet. In diesem Zusammenhange dürfen wir auch seine kleinen Bei-
träge zur Goethe-Biographie betrachten, die er in den „Neuen Heidel-
berger Jahrbüchern* veröffentlicht hat. Die beiden kleinen Kabinets-
stücke bilden eigentlich einen Torso. Er hatte noch einige weitere Stu-
dien gleicher Art im Auge. Vor Allem hatte ihn der Argwohn interes-
siert, mit dem man in der Hofburg zu Wien Goethes Rei^e nach Italien
betrachtete und dieser Sängerfahrt unbedingt politische Bedeutung hei-
lten zu müssen glaubte. Nicht minder fein ist das Bild, das er von
dem italienischen Zeitgenossen Goethes, dem Vittorio Alfieri, dem Schöpfer
der neuen italienischen Tragödie gegeben hat. Auch die geistvolle Ver-
quickung der Persönlichkeit mit der historischen Entwickelung des Volkes
kommt vortrefflich heraus. So zeigt er ihn als „eine starke vollmänn-
liche Natur in einem verkommenen schwächlichen Zeitalter*^, als «einen
Propheten der Freiheit, deren Namen ausgelöscht und vergessen war,^ als
den „hochgesinnten Patrioten, dessen dämmernde Ideen einer nationalen
Wiedergeburt Italiens den Ausgangspunkt bilden für die neuere Geschichte
dieses Landes und seines Volkes*.
In dem .Zeitalter der Novelle in Hellas" hatte Erdmannsdörffer es
als eine Sache von nicht geringem Interesse bezeichnet, die Biographie
der «Novelle von den drei Ringen* zu erzählen. Er ist selbst auf den
Gedanken zurückgekommen und hat diese Biographie in einem feinen
und weitsichtigen Vortrage niedergelegt, der im Jahre 1897 gehalten,
freilich noch der Drucklegung harrt.
Im Jahre 1894 hatte sein Schwager Max Lenz jene bedeutsame Ab-
handlung über , Marie Antoinette im Kampfe mit der französischen Re-
26 Richard Graf Du Moulin Eckail
volution^ veröfifentlicht. Er war mit den Resultaten nicht völlig einver-
standen, so sehr ihn die Gedankengänge des ihm geistig und persönlich
in so trauter Weise nahestehenden Historikers interessierten. Er hegte
wohl eine Zeitlang die Absicht, seine eigene Auffassung der anderen «all-
zuscharfen' gegenüberzustellen. Daraus hat sich dann der Plan ent-
wickelt, den .Mirabeau* für die „Monographieen der Weltgeschichte^ zu
schreiben, der ihn mehr und mehr fesselte. Aber es lag in seiner Ver-
anlagung, dass er hiebei mehr anderen Spuren in Mirabeaus Charakter
nachging und so ist es denn zu jener nach mehr als einer Seite interes-
santen Auseinandersetzung nicht gekommen. Denn an dem Funkte, wo
er zu der Frage Stellung nehmen musste, bricht er ab. Die Frage blieb
ungelöst. Vielleicht ist dies der Einheit des Buches zu Oute gekommen.
Denn in der That, auch dieser Mirabeau ist ein Kunstwerk von seltener
Eigenart. Aber auch hier noch ein methodisches Weitergehen, eine
methodische Betrachtung von höchstem Interesse, die er zu einer „Psycho-
logie des Plagiats*' verarbeiten wollte. Die Grundzüge hiezu hat er in dem
kleinen Vortrag niedergelegt, den er bei der Historikerversammlung im
Haag (1898) über „Mirabeau und Mauvillon^ gehalten hat.
Inzwischen war er nach dem Heimgange Eduard Winkelmanns, dem
er eine warme und von feiner Charakteristik zeugende Gedenkrede ge-
halten, Präsident der badischen historischen Kommission, und bald da-
rauf Mitglied der Berliner und Münchener Akademie, sowie der Münchener
historischen Kommission geworden. Besonders die letztere Ernennung
hat ihn ipnig erfreut und er hat ihren Arbeiten das wärmste Interesse
gezollt. Alljährlich kam er nun in den Pfingsttagen zu den Sitzungen
derselben nach München. Hier hatte ihn Liliencron bewogen, für die
„Allgemeine deutsche Biographie^ den Artikel „Beust" zu übernehmen.
So knüpfte er denn nach dem Schlüsse des Hauptwerks die alten Be-
ziehungen zu demselben wieder an, für das er in früheren Jahren eine
Reihe der wertvollsten Artikel über die Zeitgenossen des Grossen Kur-
fürsten geliefert hatte. Auch in der Biographie des so Hartgescholtenen
hat er mit der ganzen Feinheit seiner Arbeitsweise ein Bild geschaffen,
das über dem Für und Wider der Parteien diesseits und jenseits des
Mains, diesseits und jenseits des Erzgebirges steht. Er sandte es mir
mit einem herzlichen Briefe, in welchem er schrieb: „So hilft man sich
von einer kleinen Arbeit zur anderen weiter, zu Grösserem fehlt mir der
Mut.«
Die Beschäftigung mit der neuesten Zeit hatte nun doch eine stark
politische Veranlassung: den Sturz des Fürsten Bismarck. Er, der die
Zum Gedächtnis Bernhard Erdinaunsdorffers 27
Gänge der Geschichte mit so heiterer Buhe betrachtete, der das „sine
ira et studio'' sein Leben lang, so weit einem Menschen von Fleisch
und Blut dies überhaupt möglich ist, durchgeführt, er fühlte, wie in
jenen traurigen Tagen seine politische Leidenschaft geweckt wurde durch
den jähen Zorn über die namenlose Undankbarkeit, mit der man dem ge-
waltigen Schöpfer der deutschen Einheit sein gigantisches Werk vergolten
hatte. Es war ein echter, ehrlicher, hellauflodernder ,furor teutonicus^,
der ihn nun erfasste und veranlasste, in die politische Arena herabzu-
steigen. Kühn und unerschrocken hat er nun den Kreuzzug gepredigt
und es gehörte zu den stolzesten Momenten seines Lebens, da er mit
den Tausenden des badischen Landes jene Wallfahrt nach Kissingen an-
trat und in Zeiten, da andere furchtsam schwiegen und in armseliger
Scheu sich zurückhielten, dem Kanzler in feurigen, begeisterten Worten
das Gelöbnis der Treue und unauslöschlicher Dankbarkeit darbrachte.
Seine Rede in Kissingen, an dem heissen Nachmittag des 24. Juli
1892 war in der That eine bedeutsame, gewaltige Kundgebung, die
nicht blos in den Herzen der Teilnehmer fortleben wird. Nicht minder
stolze und trutzige Worte hat er an jenem 1. April 1897 in Heidelberg
gesprochen, da wir das Denkmal Bismarcks enthüllt. Bei diesen Gelegen-
heiten ist die tiefe, innere Verwandtschaft mit Treitschke, dieses heisse
Feuer politischer Leidenschaft in hellen reinigenden Flammen mächtig
zu Tage getreten.
Nun ist es auch bei ihm erloschen. Bismarcks Tod hatte ihm
Schweninger mit den Worten telegraphiert: „Gönnen wir dem Einzigen
die Buhe!«« Auch von Bernhard ErdmannsdörflFer dürfen wir sagen:
«Gönnen wir dem Einzigen die Kühe!'' Alle aber, die ihn kannten und
ihm nahe gestanden, werden hinzufügen:
„Dolce nella memoria!'
Veltro, Gross-Chan und Kaisersage.
Von
Alfred BasBermanih
Unter den vielen Rätseln, die uns Dante in seiner Gommedia zu
raten aufgibt, bat die gebeimnisvoUe Gestalt des grossen Retters, der
da kommen soll, immer in erster Reihe das Interesse der Ausleger in
Anspruch genommen. Und mit Recht. Denn diese mystische Hoffqung,
die aus dem Jammer und der Verderbnis der Gegenwart zu einer ge-
läuterten glücklichen Zukunft emporstrebt, die Hoffnung auf den V e 1 1 r o,
den Windhund, der die nimmersatte Wölfin in die Hölle zurückjagen
wird'), auf den Gottgesandten, den apokalyptischen DXV, den Dux,
]) Inf. 1 V. 49. E cFuna lupa, che di tutte brame
Sembiava carca tieUa sua magrezza^
K molte genti f^ giä viver^grame.
V. 94. Che questa bestia, per la quäl tu gride,
Non lascia altrui pasaar per la sua via,
Ma tanto lo impedisce che Vuccide,
Ed ha natura st malvagia e ria
Che mai non empie la bramoM voglia,
E dopo ü pasto 1ha piü fatne ehe pria.
MoUi 8<m gli animdli a cui s^ammoglia
E piü aaranno ancora, infin che ü Veltro
Verra, che la farä morir di doglia.
Questi non ciberä terra ne peltro,
Ma sapienza e amore e virtute,
E sua nazion sarä tra ftltro e feltro,
Di queU^ umik Italia fia saJute,
Per cui inort la vergine CammtUa,
Eurialo e Turno e Niso di ferute,
Questi la caccerä per ogni vUla,
Fin che Vavrä rimessa neW infemo^
La onde invidia prima dipartiUa,
Alfred Bassermann: Veltro, Gross-Chan iind Kaisersage. 29
der die Hure — die entartete Kirche — und den Riesen — den
französischen König — tödten wird ^), gehört zu den mächtigsten Grund-
tönen des Gedichts. Aber bis jetzt hat keiner der vielen Versuche zur
Aufhellung des Dunkels, worein der Dichter seine Weissagung gehüllt
hat, eine allgemeinere Anerkennung zu erringen vermocht*). Mein
eigener Erklärungsversuch, den ich in meiner Übersetzung des Inferno ^
unternahm, hatte keinen besseren Erfolg; ja er fand ganz besonders
wenig Anklang. Die Kritiker beachteten ihn kaum oder lehnten ihn
jedenfalls ab, und Kraus nannte ihn geradezu , einen zwar sehr alten,
aber darum nicht weniger verfelilten Einfall ** ^). Gleichwohl blieb ich
TOD der Triftigkeit meiner Ansicht fiberzeugt, und jetzt, fast zur gleichen
Zeit, wo mich Pochhammer in seiner Übersetzung der Divina Com-
media ^) mit der unerwarteten Zustimmung erfreut hat, er halte „dies
sechshundertjährige Dante-Rätsel^ durch meine Deutung für gelöst, bin
ich auf ein neues Beweisstuck aufmerksam geworden, das mir geeignet
scheint, nicht nur meine Deutung des Veltro zu stützen, sondern die
ganze Vorstellungsgruppe, aus der der Veltro hervorgewachsen ist, in
helleres Lichs treten zu lassen.
Puig. 20. V. 10. MaUdetta sie tu, antica lupa.
Che piü dt tutte Vcdtre bentie hat preda,
Per la tua fame senza fine cupa!
0 cid, nel cui girar par che si creda
Le condizion di quaggiii irMtnutarai,
Quando verra per cui queata disceda?
1) Prg. 33 V. S7. Non aarä tutio iempo senza reda
Vaquüa che lasciö le penne cU carro,
Per che divenne mostro e poscia preda;
Ch*io veggio eertamente, e perö il narro,
A darne iempo giä steUe propinque,
Sicure d^ogni intoppo e d*ogni sbarro,
Nel quäle un Cinquecento diece e cinque,
Messo di Bio, anc^derä la fuja
Con quel gigante che con lei delinque.
2) cf. Scartazzini, Leipziger Commentar zu den Stellen Inf. 1 V. 100 und
Prg. 33 V. 48. — Derselbe, Enciclopedia Dantesca, Milano 1896—99 zu den Ar-
tikeln «Cinquecento diece e cinque* und „Veltro". — Kraus, Dante, Berlin 1897
p. 468 ff. und p. 734 ff.
3) Dante'B Hölle, Heidelberg 1892 p. 20—24.
4) Lit.-Blatt für german. u. rom. Philologie 1893 p. 257.
5) Pochharomer, Dante's göttliche Komödie in deutschen Stanzen frei be-
arbeitet, Leipzig 1901 p. XLY.
30 Alfred ßassermami
In meiner Inferno-Übersetzung war ich auf Grund der bekannten
Ausführungen Dantes in seiner Schrift De Monarchia ^) zunächst zu der
Auffassung gelangt, dass Dante mit dem Veltro nur seinen idealen
Weltkaiser gemeint haben könne, dem er dort die Aufgabe zu-
gewiesen hat, als allmächtiger und darum wunschloser Herr der Erde
Friede, Gerechtigkeit und Freiheit aufrecht zu erhalten und dadurch
das Menschengeschlecht in den Hafen der zeitlichen Glückseligkeit zu
lenken. Dieser erste Schritt wird von vielen anderen Erklärern in
gleicher Weise gethan. Dann wirkt aber meist der Nachsatz der Veltro-
Beschreibung verwirrend „« sua nazion sarä tra fdtro e feltro,'* das von
Vielen als geographische Bestimmung, von Anderen noch willkürlicher
gedeutet zu den manchfachsten Auslegungen verleitete'). Mich ver-
anlasste eine Stelle bei Villani zu einer anderen Deutung. Dieser
schreibt, wo er von dem ersten Auftreten der Tartaren berichtet, V.
cp. 29: „Ällora si congregarano insietne e fecero per divina visione
loro Imperadore e signore uno fabbro di pavero stato, che avea nome
Cangius, il quäle in su uno povero felfro fu levato Imperadore;
e come egli fu fatto signore, fu soprannomato Cane, doh in loro lin-
guaggio Imperadore,** Das Zusammentreffen der Wortgruppen
feltro, Cane (= Hund) und Imperadore bei Villani und feltro,
Veltro (= Hund) und der Weltkaiser bei Dante, schien mir zu
auffallend, um zufallig sein zu können, und da sich mir in Marco
Polo 's Schilderungen vom Reich der Tartaren und ihrem Gross-Chan
das Bild eines Weltherrschers von ebenso staunenswerter Machtfülle als
Weisheit und Regententugend bot, so kam ich zu der Vermutung, dass
diese Vorstellung vom Gran Cane der Tartaren, der auf
schlichtem Filz zum Kaiser erhoben wurde, auch in
Dantes Bild vom Veltro Eingang gefunden h a b e , wobei ich
aber ausdrücklich hervorhob, dass Dante natürlich nicht den wirklichen
Dschingischan der Geschichte vor Augen hatte, sondern nur eben jenen
gewaltigen, weisen und gerechten Weltherrscher, wie ihn die Kunde aus
dem fernen Asien schilderte^).
1) cf. meine Inferno- Übersetzung p. 16 ff.
2) cf. die S. 29 Anm. 2 angeführten Stellen bei Scartazzini und Kraus.
3) Die Spur einer Ähnlichen, wenn auch in Einzelheiten abweichenden Auf-
fassung findet sich schon in dem Commentar Boccaccio's, der sie aber auch nicht
versteht und kopfschüttelnd bei Seite schiebt (Comento ed. Milanesi, Florenz 186J
I. p. 194): Alcuni aJtri accostandosi in ogni cosa aüa predetta oppenione, danno
del tra feUro e fdtro una esposiiione assai peUegrina, dicendo sh estimare la di-
mostrazione di questa mutazione, ciot dd pertniUarsi % costumi degli uomini, e gU
Veltro, 6ro88-Chan und Kaisersage 31
Noch ausfuhrlicher als bei Villani findet sich die Erzählung von
der Filzdecke bei der tartariscben Kaiser- Wahl in derHistoriaorientalis
des armenischen Prinzen und späteren Prämonstratenser-Mönches Hai-
thonus^), die Villani selbst als Quelle anführt. Die Stelle, die in
mehrfacher Beziehung wichtig ist und uns noch weiterhin beschäftigen
wird, lautet (cp. 16):
Quufnque istae septem Tartarorum nationes starent sub obedientia
mcinot'um, ut superius est expressunty accidit, quod quidam homo senex,
paupeTf faber ferrarius '), visionem vidit in somnOy militem videlicet totum
aWum, armatum et super albo equo sedententy qui ipsunt nomine proprio
appellavit et dixit: Changie, voluntas Dei immortalis esty qtwd tu Tar-
tarorum sis Rectory et Dominus super istas ncUiones Moglorsiy et quod
per te a Servitute vicinorumy in qua steterunt diutius, liberentur: Et
appetUi da avarizia in liberälüä, doversi comineiare in Tartariay awero neue
imperio di meezo, laddove estimano easere adunaie le maggiori riccheeze e rndti-
tudini di iesori, ehe oggi in dlcuna aUra parte sopra la terra si aappiano, E la
rtigione con la quäle la loro oppenione fortificano, h, che dieono essere antico costume
degV imperadori de^ Tartari (U magnificenze d^ quali e le riccliezze appo noi sono
incredibÜi) morendo, essere da cUeuno de* loro servidori portato sopra un* asta,
per la eontrdda, dove muore, una pezza di feltrOy e colui che la porta andar gri-
dando: eeco cid che ü cotale imperadore che morto hy ne porta di tutti i suoi tesori:
e poichk questa grida h andata, in questo feltro inviluppano il morto corpo di
qwUo imperadore; e cosi senza alcun ältro ornamento ü sepeüiscono, E per questo
dieon eosi: questo veUro, eioi edlui ehe prima dee dimostrare gli effetti di questa
eostdlasioney nascerä in Tartaria tra feUro e feUro, cioh regnante alcuno di questi
imperadori, ü quäle regna tra fdtro adoperato nella morte del suo predecessorcy
e queüo che si dee in lui nella sua morte adoperare, — Ich vermute, dass noch ein
Zweiter aus der Reihe der alten Commentatoren diese Deutung auf den Gross-Chan
gekannt hat, wenn er sie auch ebenso ablehnte wie Boccaccio. In Vemons Ausgabe
des Benvennto Rambaldi I. p. 58 steht bei der ErkUrung des Veltro zu lesen:
Nee minus ridieulum videtur quod alii dicunt, quod autor hie loquitur de magno
anno. «Anno"* giebt keinen Sinn und scheint mir verschrieben oder verlesen für „cano"
oder «cane**. — Die von Boccaccio erwähnte Lanze mit dem Filz kehrt auch im Reise-
bericht des Johannes de Piano Carpini (1246) bei der Schilderung der tarta-
riscben Toteübräuche wieder (Recueil de voyages et de m^moires, publik par la
soci^ de g^ographie. Paris 1838. Bd. IV p. 282): Quando aliquis eorum infirmatur
ad mortem, ponitur in statione ejus una hasta, et circa ülam filtrum circumvoi-
vitur nigrum,
l)Haithoni Armeni Historia Orientalis, quae eadem et de Tartaris in-
scribitnr. 1671, herausgegeben von Andr. Müller.
2) Dieser mehrfach überlieferte Zug, Dachingis-Chan oder Temudschin sei ein
Sehmied gewesen, wird von d'Ohsson, Histoire des Mongols, Amsterdam 1852
Bd. I. p. 36 Anm. 2 wie folgt erklärt: Le nom de Temoutschin^ qui significj en mongol^
le meiUeur fer a it^ confondu acec celui de Temourdjiy qui veut dire,
en turCy forgeron, ce qui a, sans doute, fait croire que Tschinguiz-Khan avait
txerei ce mHier.
32 • Alfred Bassermann
dominabuntur vicinis eorum, et vectigalia^ quae praestare cansueverant,
redpient ab eisdetn. Changius fuit mcigna jocunditate repletuSj audiens
verbum Dei: Et narravit visionemj quam viderat^ univerm. Sed Dtices
et majores istorum noluerunt credere tnsioni: imo senem quodammodo
deridebant. Nocte vero sequenti praedicti duces viderunt militem album
et visionemf sicut senex Changius omnibus reseraverat: et praeceptum fuit
eis ex parte Dei immortalis, quod obedirent Ckangio et sua mandata
facerent ab omnibus observari. Undt praedicti Duces et majores Septem
nationum Tartarorum congregatis populis fecerunt fieri obedientiam et
reverentiam Ckangio superius nominato tanquam eorum Domino naturali.
Post haec vero sedem suam statuerunt in medio ipsorum,
et extendentes quoddam filtrum nigerrimum super terram
desuper sedere fecerunt Changium^ et Septem Duces ma-
jores elevantes illum posuerunt in sedem cum magno tripu-
dio et clamorCf et vocaverunt eum Cham primum Impera-
torem, solennem reverentiam cum genuflexionibus eidem
tanquam imperatori et domino facientes. De tali vero
solennitate ; quam Tartari fecerunt, qui eorum primum
iniperatorem et Dominum posuerunt, et de filtro nemo
debeat admirari, quoniam forte pulchriorem pannum,
super quo ipsum ponerent, non habebant: Aut erant for-
sitan ita rüdes, quod melius vel pulckrius facere ignora-
bant. Sed de hoc an non posset aliquis admirari, quod
cum praedicti Tartari acquisiverunt multa regna et
divitias infinitas (quoniam dominium Asiae tenent et
opes, et usque ad confines Hungariae dominantur) nee
propter hoc voluerunt antiquam consuetudinen relin-
quere, sive modum: imo oportet, quod confirmatione im-
peratoris Tartarorum ille modus totaliter teneatur,
quem eorum veteres ab initio tenuerunt. Et ego in confir-
matione imperatoris Tartarorum bis personaliter in-
te rfuL
Die Verwendung der Filzdecke hat man sich hiernach also in der
Weise zu denken, dass der designierte Chan sich darauf setzte und die
sieben Wahlfürsten dann am Rand anfassten und den Chan i n der Filz-
decke auf den Thronsessel hoben. Beachtenswert ist auch, welches
Gewicht Haithon darauf legt, dass der schlichte alte Brauch auch in
den späteren Zeiten des Glanzes beibehalten worden sei, ein Zug, der sich
besonders gut dem Bild des Veltro einfügt : der Weltkaiser, den Dante
Veltro, Gross-Chan und Kaisersage 33
erwartet, bat Dicht wirklich arm zu sein, sondern gerade die schranken-
lose Fülle seiner Macht und seines Besitzes soll es ja sein, die ihn
wunschlos macht, sodass er
nan ciberä terra ni peltrOf
Ma sapienza e amore e virtute.
Das sind die Dokumente, auf die sich bisher meine Deutung des
Teltro gestützt hatte. Neuerdings bin ich nun auf ein weiteres Beweis-
stück gestossen, durch das meine Auffassung eine überraschende Be-
stätigung und Ausgestaltung erfährt. Es ist die Schrift des Johannes
von Hildesheim de gestis ac trina beatissimorum trium regum
translatione '). Die Legende, die schon Goethes Interesse erregte*),
ist zwischen 1364 und 1375 verfasst und berichtet von den heiligen drei
Königen, von ihrem Leben und Sterben und von den Schicksalen ihrer
Gebeine mit vielen anmutigen und merkwürdigen Abschweifungen bis
zur Ankunft der heiligen Reliquien in Köln. Als Hauptqnelle will der
Verfasser chaldäische und hebräische Bücher, die in Accon in's Fran-
zösische übersetzt worden seien, benutzt haben; Anderes habe er aus
sonstigen Schriften, aus eigener Wahrnehmung und aus mündlichen
Berichten geschöpft. Für eine Reihe von Stellen ist die Benutzung des
Haithonus unzweifelhaft^); für andere hat Zarncke auf den Zu-
sammenhang mit den Erzählungen vom Priester Johannes hingewiesen^);
die mündlichen Berichte mag der Verfasser in Avignon und Rom ver-
nommen haben, wo er sich nachgewiesenermassen aufgehalten hat und
wo die weitausgreifenden Beziehungen der Curie auch das Morgenland
dem Blicke näher rückten.
Im 44. Kapitel nun kommt Johannes von Hildesheim, nachdem er
die Nestorianer und ihre Ketzerei erwähnt hat, folgendermassen auf die
Tartaren zu sprechen^):
1) Erwähnt bei Grimm, Deutsche Mythologie, 4. Au8g. II. p. 800 Anm. Mir
lag sie in der Ausgabe von Köpke vor (Mitteilungen aus den Handschriften der
Ritter-Akademie zu Brandenburg a. H. 1878. Progr. Nr. 55), wo sich auch ausfQhr-
liche Angaben Ober das Werk und seinen Verfasser finden.
2) Sftmtl. Werke, Stuttgart 1895 Bd. 36 p. 192 ff.
3) So die Arche Nohae auf dem Berggipfel Hai th on cp. 9. — Joh. v. Hilde sh.
cp. 41, das Land der Finsternis Hamsem Haithon cp. 10. — Joh. v. Hilde sh.
1. c, wo nur der Name Heysensis, Henyssen, Henysseni lautet, sowie die hier noch
naher ea besprechende Stelle.
4) Abhandlungen der philol.-hist. Klasse der sächs. Gesellschaft der Wissen-
acbaften VIII. (1883) p. 117 f.
5) Ich gebe den Text, wie ihn Köpke nach Yergleichung der Brandenburger
Handschrift mit zwei alten Drucken hergestellt hat.
NEUE HEIDELB. JAHRBUECHER XI. 3
34 Alfred Bassermatiii
Unde anno domini M^CC^LXVlII^deus homines rüdes et vües,
qui in istorum Nestorinorum terris pastores (erant), contra hos Nesto-
rinos incitant [wohl incitat], qui se Tartaros vocaverunt et sibi fahr um
in capitaneum elegerunt^ qui tunc potenter eruperunt et omnes terras et
regna Nestorinorum destruxerunt et ipsos juvenes et senes absque aliqua
misericordia interfecerunt et deleverunt, et omnes eorum civüates et vilUis
et castray terras et regna ceperuntj in quibus nunc Tartari habitant et
regnant. Et ceperunt Cambalech et in XXX (diebus) oppugnant Bai-
dachf in qua fuit Sarracenorum calipha successor Machotnefi in eorum
lege, sicut papa successor sancti Petri et ita per omnia ei obediverunt.
Et ^sum caüpham fame occiderunt et postmodum Sarraceni calipham
non habuerunt nee habent usque in praesentem diem. Et etiam oppug-
naverunt Thauris et (hae) tres civitates sunt meliores et ditiores quam
totum regnum Soldani. Nam de fortitudine et pulchritudine civitatis
Cambalech^) et divitiis nuUus plene potest enarrare; et Baldach est
civit4Mf quae ab antiquo Babylonia (magna vocabatur, in qua fuit turris
Babel, Sed est a loco, quo quondam Babylonia) stetit propter paltides,
bestias et vermes periculosas ad dimidium miliariae translata. Et civitas
Thauris*) ab antiquo Susis vocabatur in qua regnabat Ahasverus rex,
et in ipsa civitate in templo Tartarorum est arbor arida,
de qua plurima narrantur in universo mundo, quae ultra
modum cum stipetidiariis et armigeris custoditur et aliis diversis seris,
foTis et muris est quam multipliciter serata et inclusa, nam ab antiquo
in Omnibus partibus orientis fuit consuetudinis et est^
quod si quis rex vel dominus vel populus tam potens
efficitur, quod scutum vel clipeum suum potenter in
illam arborem pendet, tunc Uli regi vel domino in Omni-
bus et per omnia obediunt et intendunt; sed si aliquis rex ml
dominus vel populus illam civitatem bene caperet et oppugnaret et in
illam arborem scutum vel clipeum pendere non posset, tunc ipsis non
obedirent. Et ipsam civitatem (omnes) ibidem maxime defendunt quo-
usque violenter ab ipsa depellantur. Nam ad obtinendam totam terram
aliqua civitatis nim Thauris non quaeritur circumvallare ; et nunc
dominus Tartarorum in Ulis partibus magnus canis im-
perator Cathagiae vocatur, et nunc non est potentior
maior et ditior dominus in toto mundo, Nam deus sibi brevibus
1) Peking cf. Le livre de Marco Polo ed. Pauthier, Paris 1865 J. p. 265.
2) oder Tavris, heute Taebris, wichtiger Stapelplatz der Tom schwarzen Meer
nach Persien fahrenden Karawanenstrasse, cf. Pauthier I. p. 59.
Veltro, Gross-Chan nnd Ralsersage 35
femporibus terras^ provinciaSj gentes et regna, quibus natus (iratus) fuit
dominus, tradidit et stdjecit prapter peccata earum, Nam ipse idem
imperator «w6 se habet et regnat in omnibus regnis, proviniciis et terris,
in quibus Nabuchodonosor, Darius, Arphaxat, Ahasverus et Romani in
Oriente ab antiquo regnabant. Et ipse imperator Tartarorum
multum favet in terris et regnis suis Christianis et fides
Christiana, quae in omnibus praedictis terris per infedeles et haereticos
et Nestorinos fuit abolita et oblita, nunc per fratres minores et Augusti-
nenses et praedieatores et alios doctores de novo incipit reflorere.
Die Stelle geht von der Tradition aus, die wir schon kennen, der
erste Kaiser der Tartaren sei ein Schmied gewesen ; auch weiterhin
finden sich wieder Anklänge an Haithonus; bei dem Hungertod des
Ehalifen kehren sogar fast die gleichen Worte wieder ') ; an Marco Polos
Auffassung erinnert die Gestalt des allmächtigen christenfreundlichen
Gross-Chans. Dazwischen aber treffen wir auf ein überraschendes neues
Element: den dürren Baum als Grund der Weltherrschaft
des Gross-Chans'). Dieser dürre Baum, an dem der Schild des
Herrschers aufgehängt wird, ist ein hervorstechender Zug der mittel-
alterlichen Eaisersage, und es leuchtet ein, dass seine Erwähnung
im Zusammenhang mit dem Tartaren-Eaiser für meine Deutung des
Veltro aufs Schwerste ins Gewicht fallen muss. Aber uni die ganze
Tragweite zu ermessen, ist es erforderlich auf das Wesen dieser Über-
lieferung näher einzugehen.
Die Eaisersage hat eine lange vielverschlungene Geschichte, die
aber durch eine Reihe eingehender Arbeiten — namentlich seitdem das
neue Eaiserreich erstanden, wendete sich das Interesse dieser Frage
wieder zu — im Grossen und Ganzen jetzt klar vor uns liegt').
1) Haithon cp. 26, nee unquam üaliphus postea exstetit in Baldach.
2) Dass der dQrre Baum in Thauris steht, ist der Descriptio Orientalium par-
tinm des FraDiiskaDerbniders Odoricns de Foro Julii (f 1331) eDtnommen, der
fast mit den gleichen Worten erzählt: De ista contrata recedens me transtuU Thau-
ris, eivitatem magnam et regalem que Susis antiquitus dicebatur. In ista ut dicitur
est Arbor Sicca, in una moschäa et [= id est] in una ecclesia Sarracenorum.
(Yiile, Cathay and tbe way thither, London 1866. Appendix I. p. II.) Doch ist
Ton den sagenhaften Zflgen dort nichts erwähnt
3) Ans der reichen Litteratur cf. insbesondere Wächter, Friedriche, Ersch
nnd Grober Encyk). 1849. XLIX p. 273 ff. — Mass mann, Eaiserchronik, Qaedlin-
bnrg und Leipzig 1854. III. p. lltSff. — Voigt, die deutsche Kaisersage, Sybels
hlBtor. Zeitschr. 1871. XXYI, p. 131 ff. — Zezschwitz, der Kaisertraam des Mittel-
alters, Leipzig 1877; Vom römischen Kaisertum deutscher Nation, Leipzig 1877. —
V Alter, die Secte von Schwfthisch-Hall und der Ursprung der deutschen Kaiseisage,
3*
36 Alfred Bassermann
Ihre ersten Keime reichen zurück in die christlichen Weis-
sagungen vom Ende aller Dinge, in die Weissagung des
zweiten Thessalonicher Briefs (cp. 2 V. 3 ff.) vom Kommen des Anti-
christ und in die der Apokalypse (cp. 11, 13 u. 17) vom Tier des Ab-
grunds. Als letztes der vier Weltreiche Daniels (cp. 7) vor dem
Kommen des Menschensohns galt das römische. Es musste also zum
Schluss ein letzter grosser römischer Kaiser und der Anti-
christ zusammentreffen. Zunächst als Gegensätze gedacht, verschmolzen
sie in der mächtigen Gestalt des Nero in eine einzige geheimnisvolle
Vorstellung. Wie sich das Volk von Rom nach ihm als dem letzten
rechten Kaiser aus dem Julischen Hause zurücksehnte, sein Grab noch
lange mit Blumen schmückte und seine Auferstehung erhoffte, so war er
für die Christen, die unter ihm gelitten hatten, das Tier, das gewesen
ist und nicht ist und wiederkommen wird aus dem Abgrund^). Seit
Constantins Bekehrung trat dann der letzte Kaiser als Herr der
Christenheit dem Antichrist wieder feindlich gegenüber, und urie der Sitz
des Kaisertums von Rom nach Byzanz verlegt war, so suchte man auch
den Antichrist unter den Heiden und Juden des Ostens, und den ganzen
Schauplatz des letzten Dramas dachte man sich im Morgenland. Als
weiteres Element kam die Vorstellung vom Kreuz Christi hinzu, das
namentlich seit seiner Auffindung durch die Kaiserin Helena in Ostrom
eine besondere Verehrung genoss, und in H e r a k 1 i u s , der durch glänzende
Siege Jerusalem von der Herrschaft der Perser befreite und das geraubte
Kreuz dorthin als demütiger Pilger zurückführte, verwirklichte sich noch
einmal das Ideal des mächtigen christlichen Kaisers '). Darnach gestaltete
sich die Urvorstellung der Kaisersage folgendermassen : W e n n
das Ende der Dinge herannaht, führt ein letzter (byzan-
tinischer) Kaiser das Reich noch einmal auf die Höhe
der Macht, besiegt die Heiden und befreit Jerusalem.
Dann aber legt er auf Golgatha Scepter und Krone
am Fuss des Kreuzes nieder, das mit diesen Reichs-
Zeitschr. für KirchengeBch. 1880. IV. p. 360. — Haflssner, die deutsche Kaiser-
sage, Progr. Bruchsal 1883. — Fulda, die Kiifh&usersage, Sangershausen und Leip-
zig 1889. — Grauert, zur deutschen Kaisersage, hist. Jahrb. 1892 p. 100 ff. —
Schröder, die deutsche Kaisersage, Heidelberg 1893. — Kampers, Kaiser-
prophetieen n. Kaisersagen, hist. Abhdig. herausg. von Heigel und Grauert 1895 VIIL
1) Sueton, Nero cp. 57. — Augustia, de civitate Dei XX. cp. 19. — Voigt
I.e. p. 143. — Döllinger, Christentum und Kirche, Regensburg 1868 p. 285 ff.,
425 ff.
2) Zezschwitz, Kaisertum p. 57 f.
Veltro, Gross-Ghan und Kaisersage 37 1
insignien in den Himmel entrückt wird. Hierauf brechen
Gog uud Magog los, der Antichrist kommt und herrscht
seine Zeit, bis er gestürzt wird, Christus in den Wolken
erscheint, und der jüngste Tag beginnt.
Diese Vorstellung, die uns in den Methodius-Weissagungen
(zwischen 676 und 678) überliefert ist'), hat dann im Abendland, den
veränderten Verhältnissen entsprechend, zunächst insofern eine Umbildung
erfahren, dass an Stelle des byzantinischen Kaisers ein Frankenkönig
tritt, der das zerrüttete römische Reich noch einmal zusammenfasst als
maximu8 omnium regum et tUtimus und dann, postquam regnum suum
fideUter gubemaveritj ad ultimum Hierosolymam veniet et in monte Oliveti
sceptrum et coronam suam deponet. So in der für die Königin Oerberga,
die Gemahlin des Karolingers Ludwig IV (d*Outremer) vor 954 ver-
fassten Schrift des späteren Abtes Adso von Moutier-en-Der*).
Und wieder zweihundert Jahre später spiegelt sich abermals der
politische Umschwung in der Sage wieder, und der deutsche Kaiser
rückt ein in die Vertretung der christlichen Welt beim Ende der Dinge.
Ihm ist diese Rolle in dem merkwürdigen Ludus de Antichristo^)
übertragen, und zwar lässt das überraschend sicher geführte und von
einem frischen Patriotismus durchwehte Drama deutlich erkennen, dass
der Kaiser, der den Frankenkönig mit dem Schwert demütigt, von den
Königen Griechenlands und Jerusalems sich huldigen lässt und den
König Babylons von Jerusalem zurückschlägt, kein anderer ist als F r i e d-
rich Barbarossa in der Fülle seiner Herrschermacht.
Mit der Spaltung, die der Kampf der Staufer mit den Päpsten im
dreizehnten Jahrhundert in die politischen Anschauungen brachte, kam
ein eigentümliches Schwanken auch in die Vorstellungen der Kaisersage,
während sich gleichzeitig die politische und persönliche Rich-
tung immer schärfer herausarbeitete. Die dämonische Gestalt Fried-
richs II. war wie keine andere angethan, in gleicher Weise bei den
Anhängern des Kaisertums wie bei denen des Papsttums die äussersten
Erwartungen zu erwecken und zu verkörpern, und als er nun aus der
Fülle seiner Macht und Thätigkeit heraus wider alles Voraussehen durch
1) Döllinger, der Weissagungsglaube und das Prophetentiim, Riehls hist.
Taschenbuch 1871 p. 304. - Gutschmid, Sybels histor. Zeitschr. 1879 XLI p. 149 ff.
— HaflBsner J. c. p. 21 f. — Schröder 1. c. p. 8.
2) Migne, Patr. lat. Gl. p. 1295. — Meyer, der Ludus de Antichristo, Sitz-
nngsberichte der pbilos.-philolog.-hist. Klasse der bayr. Akademie der Wissenschaften
1882 I. p. 4f. — Schröder I.e. p.9f.
3) cf. die citierten Abhandlungen von Zezschwitz und Meyer.
38 Alfred Bassermaim
einen jähen, zudem von seiner Umgebung noch einige Zeit verheimlichten
Tod dahingerafft wurde, so war es ganz natürlich, dass die Welt an
diese Thatsachen nicht glanhen mochte. Wie einst von Nero so hiess
es auch von Friedrich, er sei nicht gestorben, sondern halte sich nur
verborgen und werde einstens wiederkommen, und dieser Gedanke war
so lebendig, dass wiederholt falsche Friedriche auftreten und in
weiteren Kreisen Glauben finden konnten '). Und ganz von selbst ver-
wuchs diese Vorstellung mit der eschatologischen Kaisersage. Aber sie
bekam dabei zweierlei Gestalt. Die Hoffnung der Kaiserpartei lieh
Friedrichs Züge dem letzten Kaiser, der vor dem Ende der Welt des
Beiches Herrlichkeit noch einmal aufrichten sollte; der Hass und die
Furcht der Päpstlichen sah ihn als Antichrist wiederkommen und das
Mass seiner Frevel, mit denen er bei seinen Lebzeiten die Kirche heim-
gesucht hatte, voll machen *). Dabei wurde aber die Thätigkeit Friedrichs
von beiden Auffassungen doch in gewisser Beziehung ähnlich gedacht:
beide erwarteten von ihm ein scharfes Vorgehen gegen Kirche
und Geistlichkeit; nur war dies eben in den Augen der Kaiser-
lichen ein höchlich gebotenes heilsames Beformwerk, in den Augen der
Päpstlichen eine teuflische frevelhafte Verfolgung des heiligen christlichen
Glaubens. Die päpstliche Seite dieser Auffassung wurde hauptsächlich
ausgebildet und verbreitet durch die Lehren und Weissagungen der
Joachiten, der franziskanischen Anhänger des Abtes Joachim von
Floris (t 1202), der kaiserliche Gedanke fand seinen scharfen Ausdruck
in der Secte der Ketzer von Schwäbisch-Hall').
1) Jan Enenkels Weltchronik, Vers 895 if. Zeitschr. fQr deutsches Alter-
tum V. p. 292. — Johannis Vitodurani Cbrooicon, ed. von Wyss, Archiv für
Schweizer Geschichte XI. p. 10. — Chronik des Salimbene (Monum. hist. ad. prov.
Pannensem et Placentinam pertinentia III) p. 57f., 107, 166, 307 f. — Jamsilla,
Muratori Scr. VIII. p. 589. — Schröder I. c. p. Uff. — Brosch, die Friedrichsage
in Italien, Sybels hist. Zeitschr. XXXV. p. 17 ff. bezweifelt zwar das Vorhandensein
einer wirklichen Volkssage in Italien, aber Salimbene und Jamsilla weisen mindestens
die Elemente und Vorbedingungen auf, aus denen die Sage sich gebildet hat
2) Dieser Umstand kann zur Erklärung der sonst so seltsamen Mitteilung in
dem Dante-Comnientar des Petrus Allegheiii (Florenz 1846 p. 41) dienen, von Einigen
werde der Veltro auf den Antichrist gedeutet. Es ist eben die kirchliche Kehrseite
zu der kaisertreuen Auffassung der Staufer-Er Wartung.
3) Schröder I. c. p. 17 ff. — Fnr die Wirkung von Friedrichs II Tod in
Italien cf. besonders die angeführten Stellen des Salimbene. — Fra Dolcinos
Lehren haben eine gewisse Ähnlichkeit mit den oben erwähnten Ghibellinischen Er-
wartungen, kommen aber um deswillen hier nicht in Betracht, da er nicht auf die
Wiederkehr Friedrichs II., sondern auf den lebendigen Friedrich von Aragonien seine
Kaiserhoffnungen setzt; cf. Muratori Scr. IX p. 485. u. 453.
Yeltro, OroBS-Cfaan und Kaisersage 39
Dieser kirchlich-politische Zwiespalt machte sich auch noch in
anderer Weise in der WeiterbilduDg der Kaisersage geltend. Adsos
Weissagung, die den letzten Kaiser in einem karolingischen Franken-
könig erwartet hatte, war auch später, als bei diesem Geschlecht nicht
mehr die Kaiserwürde war, nie ganz in Vergessenheit geraten. Im
Entechrist (yom Ende des zwölften oder Anfang des dreizehnten Jahr-
hunderts^) ist es auch noch der Vranchin chunic einer^ der kommen
soll, und bei Jordanus von Osnabrück (1280)^) finden wir wieder eine
in Deutschland verbreitete Weissagung erwähnt, „es werde aus den Karl-
ingen, das heisst aus dem Stamm des Königs Karl und dem Haus des
Königs von Frankenland ein Kaiser erweckt werden mit Namen Karl,
der Fürst und Herrscher von ganz Europa sein und Kirche und Beich
reformieren werde, aber nach ihm werde es keinen anderen Kaiser mehr
geben.** In diesem letzten Bericht ist zugleich jener anderen Weis-
sagung gedacht von „dem sündigen Spross aus dem Samen des Friedrich
mit Namen Friedrich, der die Geistlichkeit in Deutschland und selbst
die römische Kirche tief erniedrigen und heftig bedrängen werde". Aber
beachtenswert ist es, dass doch auch von Karl eine Beformation der
Kirche erwartet wird, die eben damals selbst von den päpstlich Gesinnten
als wünschenswert anerkannt wurde. Nachdem sich nun das Papsttum
im Kampf mit den Staufern mehr und mehr gewöhnt hatte, sich auf
den französischen König als seinen berufenen Yertheidiger gegen die
Ansprüche des Kaisers zu stützen, bis es schliesslich in das vollkommene
Schutz- und Abhängigkeitsverhältnis der Avignonesischen Zeit hinüber-
g^litten war, so knüpfte die französisch-päpstliche Bicht-
u n g an diese Karls-Sage an und übertrug, mit ausgesprochen nationaler
Tendenz einem König von Frankreich mit Namen Karl die
Bolle des letzten Kaisers, während ihm ein deutscher Fried-
rich aus F riedrichs II. Geschlecht als Antichrist gegenüber
gestellt wurde. Dieser Friedrich werde zuerst Alles verwüsten, die Welt
im Bunde mit drei falschen Päpsten in Verwirrung bringen und selbst
den König Karl gefangen setzen; dann aber werde dieser von Gott
wunderbar befreit, von dem „sancto Angelico pastore" mit Uebergehung
der deutschen Kurfürsten zum Kaiser gekrönt, gemeinsam mit dem
Papst die Kirche reformieren und das gelobte Land wiedergewinnen,
worauf die Bekehrung der Juden, Griechen und anderen Ungläubigen
1) Schröder I.e. p. 11. — Hoffmann Yon Fallersleben, Fundgruben
II, 110.
2) Schröder I.e. 35 f.
40 Alfred Bassennann
beginnt. Diese französische Deutung der Eaisersage, die schon in einer
Weissagung des Franziskaners J e a n de la Bochetaillade von 1356
anklingt^) und in der Schrift des Bruders Telesphorus^) von
Cosenza zu Ende des vierzehnten Jahrhunderts die vorstehende scharfe
Prägung erhalten hat, rief in Deutschland eine entschiedene Beaktion
hervor, die Vision des Gamaleon^), deren Inhalt uns in einer Predigt
des Johann Wünschelburg von Amberg zu Anfang des fünfzehnten
Jahrhunderts überliefert ist. Diese Prophezeiung bildet das volle Wider-
spiel der französischen. Die Bollen der beiden Kaiser sind geradezu
vertauscht. Der Kaiser „de campo lilii*'^ also der französische, in rotem
Qewand, mit blutigem Schwert, wird besiegt und getödet von dem deut-
schen „de Alamania alta, id est Bheno*', nachdem der Patriarch von
Mainz zum deutschen Papst gekrönt worden ist; Born und der päpst-
liche Stuhl geraten in Missachtung; die geistlichen Güter werden ein-
gezogen und die Priester totgeschlagen. Es ist, wie Zezschwitz^) treffend
sagt, ein Weissagungskrieg zwischen der Friedrichs- und Karls-Sage,
und wenn die beiden uns vorliegenden Fassungen auch beträchtlich
später sind als Dante, so haben sie für uns doch um deswillen besondere
Bedeutung, weil sie die Elemente der päpstlich-französischen Gegner-
schaft des Kaisers klar entwickelt zeigen, die im Keim schon in den
früheren Stadien vorhanden sind und die wir auch bei Dante wiederfinden
werden.
Während in der Wirklichkeit der Partei des Karl der Sieg ver-
blieb, behauptete auf dem Gebiet der Sage die Gestalt Friedrichs den
Vorrang, vielleicht gerade darum, weil sich in ihr eine unerfüllte Sehn-
sucht des Volkes verkörperte, und die mittelalterliche Phantasie, die
sich mit Vorliebe in mystische Träume versenkte und ihr Sehnen und
Hoffen in das Gewand von Prophetenweisheit kleidete, wurde nicht müde,
den Mythus immer reicher auszugestalten.
In der zum Jahr 1348 von Johannes von Winterthur*)
berichteten Fassung der Sage findet nicht nur der Hass gegen die
Pfaffen einen hochgesteigerten Ausdruck : die Geistlichen wird der Kaiser
so grausam verfolgen, dass sie ihre Tonsuren, wenn sie sonst nichts
1) V. Bezold, zur deutschen Kaisersage, Sitzungsb. der philos.-philol.-hist.
Kl. d. bayr. Akad. d. Wisseosch. 1884 p. 564 f. — Kampers, bist. Jabrb. 1894 p. 796.
2) Y. Mosheim, Ketzergescbicbte, p. 347fF. — v. Bezold I.e. p. 565 ff. —
Kampers, Kaiserprophetieen p. 167 f. u. 235 f.
3) V. Bezold, I.e. p. 570f. und 604 f. — Schröder I.e. p. 37f.
4) Kaisertraum p. 25.
5) Johannis Vitodurani Chronieon, 1. c. p. 249 f. — Sehröder I. e. p. 20f.
Veltro, Gross-Chaii und Kaisersage 41
zum Bedecken haben, mit Kuhmist zustreichen, damit man die Glatze
nicht sieht; sondern daneben klingen auch soziale Reform-Ideen an:
arme Mädchen und Frauen verheiratet er mit reichen Männern und
umgekehrt; Nonnen und Beguinen lässt er Ehemänner nehmen, Mönche
Ehefrauen; Unmündigen, Waisen und Witwen verschafft er wieder, all
was ihnen genommen worden, und Jedermann lässt er sein volles Recht
werden. In dem Schlussakte aber, dem Zug nach dem heiligen Land,
finden wir zum ersten Mal neben dem Oelberg den dürren Baum ge-
nannt: nachdem Friedrich die Eaisergewalt wieder übernommen und
gerechter und ruhmreicher geführt als ehedem, wird er mit grosser
Heeresmacht über See gehen und auf dem Oelberg oder am dürren
Baum dem Reich entsagen.
Der dürre Baum') ist seitdem ein ständiger Zug in der Kaiser-
sage, wobei sich nur insofern eine Schwankung zeigt, dass er bald
lediglich als Stätte genannt wird, wo der Kaiser dem Reich
entsagt und die Insignien niederlegt, wie bei Johannes von Winter-
thur, bald auch als Symbol der Weltherrschaft erscheint, an
dem die siegreiche letzte Heerfahrt ihr Ziel findet und an dem in der
Regel der Kaiser zum Zeichen seines vollkommenen Sieges seinen Schild
aufhängt, worauf der Baum neu ergrünt. In dieser Auffassung finden
wir den Baum besonders entschieden betont in einem ebenfalls um die
Mitte des vierzehnten Jahrhunderts entstandenen Meisterlied*),
welches weissagt, dass in der Zeit der höchsten Verderbnis und Zwie-
tracht der Kaiser Friedrich kommt,
der her und auch der tnilt;
Er vert dort her durch Ootes willen;
An einen dürren pawm so henkt er seinen schilt.
Nach der Fahrt über Meer wiederholt es dann nochmals:
Er vert dort hin zum dürren patvtn an alles underhap ;
Dar an henkt er seinen schilt, er grünet unde pirt.
So wirt gewun daz heilig grabp,
Daz nymmer swert darumb getzogen unrt;
worauf die letzte Strophe noch das sieg- und segensreiche Walten des
1) Wächter I.e. p. 279. — Fulda I.e. p. lYflf. — Haüssncr 1. c. p. 2>f.
— ZezBchwitz, Kaisertum, p. 163 fr.
2) Äretln, Beiträge zur Geschichte und Litteratur, IX (1807) p. 1134. —
Schröder I.e. p. 31 ff.
42 Alfred Bassermann
Kaisers nach aussen und innen, namentlich auch gegenüber Pfaffen und
Klöstern schildert und mit der Verheissung schliesst:
Wann daz geschihtj so kumen uns gute Jar.
Ehe wir der Kaisersage weiter folgen, haben wir die Herkunft dieses
dürren Baumes näher zu betrachten.
In der ersten Version, als Stätte, wo der Kaiser dem Reich ent-
sagt, ist der dürre Baum offenbar lediglich an Stelle des Kreuzes ge-
treten, an dem nach der früheren Überlieferung der letzte Kaiser Scepter
und Krone niederlegt, und diese Vertauschung findet ihre einfache Er-
klärung durch die Legende, die das Kreuzesholz mit dem
Paradiesesbaum verknüpft^). Darnach ist von dem Baum der
Erkenntnis ein Spross oder ein Samen aus dem Paradiesesgarten heraus
auf die Erde gelangt und da zu einem Baum erwachsen. Gewöhnlich
lautet die Sage so, dass S e t h , der Sohn Adams, zum Paradies zurück-
kehrt, um dort einen Tropfen Oel der Barmherzigkeit für seinen Vater
zu erbitten und dass ihm der Erzengel an der Pforte diesen zwar ver-
sagt, ihm statt dessen aber den Spross gibt mit dem Bedeuten, dass
wenn der neue Baum Frucht trage, die Schuld gesühnt werde, die durch
die Frucht des Paradieses-Baums in die Welt gekommen sei. Das
Reis wird auf das Grab Adams gepflanzt, und der Baum, der daraus
erspriesst, bleibt fruchtlos, bis sein Holz zu dem Kreuz verwendet wird,
das den Erlöser zu tragen hat, und dieser ist die verheissene Frucht
der Versöhnung.
Dieser symbolische Kreuzesbaum fliesst dann aber zusammen mit
einem wirklichen Baum, der einstmals im Thal Mambre bei Hebron
gestanden hat^. Er war offenbar ein uraltes Heiligtum, dessen Ver-
ehrung sich lange erhalten hat. Constantin hat ihn in seinem Glaubens-
eifer umhauen lassen, aber der unverwüstliche Stamm schlug aus der
Wurzel wieder aus. Flavius Josephus scheint von zwei verschie-
denen Bäumen bei Hebron zu sprechen. Einmal (Antiqu. I. 10, 4) nennt
er die ogygische Eiche, bei .der Abraham gewohnt habe, nicht
1) MuBsafia, Sulla leggenda del legno della Croce, Sitzungsberichte der
philos.-hist Klasse der k. Akademie der Wissenschaften, Wien 1870 LXIII, Jahr-
gang 1869 p. 165 if. — W.Meyer, die Geschichte des Kreuzholzes vor Christus,
Abhandlungen der philos.-philol. Klasse der bayr. Akademie der Wissenschaften.
Manchen 1882 XVI. p. 101.
2) Sepp, Jerusalem und das heilige Land, Schaff hausen 1863. I. p. 502 ff. —
Bovenschen, Johann von Mandeville und die Quellen seiner Reisebeschreibung,
Zeitschr. der Gesellsch. für Erdkunde, Berlin 1888, XXIII. p. 238 f.
Yeltro, GrosB-Chan und Kaisersage 43
weit von der Stadt Hebron, und dann wieder (bell. IV. 9, 7) eine sehr
grosse Terebinthe, die der Sage nach von Erschaffung der Welt
Bestand gehabt habe, sechs Stadien von Hebron entfernt. Die spätere
Überlieferung dagegen kennt daselbst nur einen Baum, eben den, unter
welchem Abraham gewohnt hatte, .im Hain Mamre, der zu Hebron ist ').
Über seine Bezeichnung schwanken die Berichte; gewöhnlich wird er
eine Eiche genannt. Arculf (um 690) schildert ihn als einen Stumpf
von zwei Mannshöhen und ringsum angehauen von den Pilgern, die sich
Spähne des heiligen Holzes mitnahmen'). Zugleich aber verehrte man
in Hebron die Begräbnisstätte von Adam, Abraham, Isaac
und Jacob'), und da auf dem Grab Adams, wie wir gesehen haben,
das Reis des Paradiesesbaumes gepflanzt worden ist, so verband sich
eben der aus diesem erwachsene Baum mit der ogygischen Eiche zu
Mambre zu ein und derselben Vorstellung, die wir dann in der Kaiser-
sage wiederfinden. Sehr merkwürdig ist in dieser Beziehung eine
Stelle in der Beisebeschreibung des Johann vonMandeville(l 356),
der noch weiterhin für uns wichtig werden wird. Seinen Bericht über
das Thal Mambre und den dürren Baum stellt er, wie dies auch sonst
seine Gepflogenheit ist, aus anderen Schriftstellern zusammen; ausser-
dem fügt er aber unverkennbare Züge der Eaisersage bei, die er aus
den in seiner Zeit lebendigen Prophezeiungen geschöpft haben mag^).
Wo er auf Hebron und Mambre zu sprechen kommt, erwähnt er zu-
nächst unter anderen biblischen Keminiscenzen, dass Adam und die
Erzväter dort begraben seien, und fährt dann fort^):
Und als da vorgesagt ist^ wie in dem thale Mamhre ein herg
lyt der auch Manibre heisset, IJff demselben herg stet der dürre ei-
lende bäum den sie heyssen Trip ^, aber ivir heissen inn seges bäum ^),
1) Moses I, q). 13, 18 a. cp. 18, Iff. — Bovenschen 1. c.
2) Migne, Patrol. lat. 88 p. 798.
3) Petras Comestor, Migne, Patrol. lat. 198 p. 1093. — Sepp, 1. c. p. 4d9.
4) Bovenschen 1. c. p. 240.
5) Von der erfarang des strengen Ritters Johannes von monta-
ville. Strassburg 1507. Buch I. cp. 30. Ich eitlere schon hier nach der deutschen
Uhersetzung des Otto von Diemeringen, da ich im weiteren Verlauf der Unter-
suchung genötigt bin, mich gerade an diese zu halten.
6) Andere lesen Dirpe, Petrus Comestor 1. c. B&ffi Dirpsi, Odoricus de
Foro Julii ed. Laurent, Leipzig 1864. cp. XLVI: Sarraceni dicunt eam dirp. In
Simrocks Ausgabe des Mandeville (Volksbücher XIII) p. 41 Sirpe. cf. dazu eine
Bemerkung bei Sepp 1. c. p. 506, wonach Sirpu das persisch-tQrkische Stammwort
Serw, die Cypresse.
7) Segetbaum, wofOr bei Simrock 1. c. Siegesbaum steht, ist wohl auf arbre
see zorQcksnfQhren.
44 Alfred Bassermann
unnd ist einn eichbaum, TJnnd mann meint er sy gestandenn votm
angand der welt^ unnd der tcaa vor gottes martcr grün utid gepletert.
Aber da Gott an dem Krütz gestarb do dorret er, unnd auch ander
bäum me durch alle weit, und füllt inenn das hertz inwendig und
fielen in die ryndeu abe. Unnd also ist der selb bäum noch dürre
und on alles laube, Man findet in wissagung geschriben, es solle ein
Fürst kotnen uss niderland mit' vil christenn der soll die selben land
gewinnen der sol lassen mess singenn under dem selbenn dürren bäum,
unnd so sol er wider giüne pleiter überkommen unn frucJUber werden,
unnd umm des tounders willen sollefit alle jüden und heyden Christen
werden, darttmb erbuttet man im gross er umid hüttct sin gar wole.
Auch hat derselbe bäum grosse Krafft und tugent und ist gut für deti
fallenden siechthum, unnd audi iver sin ein wenig by im trcit des
pferd mügenn nit zu rehe werden.
Die Verbindung des dürren Baumes mit der Kreuzessage ist aber
keineswegs eine vollkommene. Wir finden vielmehr, dass die Vorstellung
des darren Baumes ein selbständiges Leben hat. Einerseits erscheint
er uns losgelöst vom Christentum. Denn anch die Sage der Araber
kennt einen dürren Baum, von dem sie berichtet, dass er wieder erblüht
sei, als der Prophet an ihm geruht habe^). Andererseits losgelöst von
Mambre und Adams Grab. Gerade unser Johannes von Hildesheim
verlegt ihn nach Thauris, und bei ihm ist auch besonders scharf der
Zug hervorgehoben, dass der Besitz dieses Baumes die Weltherrschaft
verleiht: quod si quis rex vel dominus vel populus tam potens efficitur,
quod scutum vel clipeum suum potenter in illam arborem pendet^ tunc
Uli regi vel domino in omnibus et per ofnnia obediunt et intendunt.
Mir scheint hier eine Stelle bei ifarco Polo den Weg zu weisen.
Als er auf seiner Reise zum Gross-Chan in das östliche Persien kommt,
berichtet er*): Et y a un grandisme piain ou est VArbre Solque,
que nous appelons VArbre See, et vous dirai comment il est fait. 11
est grans et gros, et Vescorche est d'une part vert et d'autre blanche et
fait ricy si eomme les chastiaus; mais il est vuit dedens. II est jaunes
comme bois et moult fort; et n'a ntd arbrepres, ä plus de cent mille; mais
que d'une part il a arbres bien ä dix milles. Et illec se dient, ceux
1) Ockley, Geschichte der Saracenen, deutsch von Arnold, Leipzig u. Altona
1745. I. p. 354f. — Zezschwitz, Kaisertum p. 48 u. 166.
2) Le livre de Marco Polo, ed. Pauthier, Paris 1865. I. p. 95 f.
Veltro, Gross-Chan und Kaisereage 45
de Celle contr^^^ fu la bataille d' Alixandre contre le roy
Daire^).
Statt arbre solque, was Pautbier aus dem Arabischen als „hoch-
stämmig, breitästig und langdauernd' erklären will, geben Andere an
dieser Stelle Varhre seul, arbor Bola^ wieder Andere Valbero del sole,
arbar soliSj wohinter sich wohl die richtige Lesart arbre sol verbirgt^).
An zwei andern Stellen, wo Pautbier selbst nicht mehr solque liest, wird
der Baum erwähnt um die Lage von Oertlichkeiten zu bestimmen, bei
Aufzählung der persischen Provinzen (royaumes) L p. 66 : Tous ces roy-
aumes sant vers midiy fors un seulement: c'est Tunocaifiy qui est pres
de V arbre seul; und gegen Ende des Buchs, beim Bericht über den
Krieg zwischen Abaga von Persien und Gaidu von Turkestan, II. p. 730 f.
Abaga, le seigneur du Levant, tenoit maintes provinces et ferres quijoig-
noient au roy Catdu, Et c'estoit vers VArbre seul, que le livre
Alixandre appelle Arbre sec, duquel je vous ai conti ci arrieres.
M Abaga y envoia son filz Argon pour ce qu'il ne receust domage de
ses homines et grant quantitS de gern ä cheval de l' Arbre sec jusques
au flun de Jon (= Gihon, Oxus). Und wieder an zwei anderen
Stellen (IL p. 748 und 749), wo der Baum einfach arbre seche genannt
ist, finden wir in seiner Nähe das Standquartier Qhazems, der von seinem
Vater Argon mit dem Schutz der Grenze — also wohl der Pässe —
betraut ist.
Wo der dürre Baum des Marco Polo, der offenbar wirklich existiert
hat und der Beschreibung nach eine Kiesen-PIatane gewesen zu sein
scheint, zu suchen sei, ist zweifelhaft. Pauthier möchte ihn im Thal
des Oxus annehmen. Doch scheint dem die dritte der oben angeführten
Stellen (II. p. 730 f.) zu widersprechen, wo der Arbre sec als Grenzpunkt
eines Gebiets dem Oxus gerade entgegengesetzt ist. Von Marsden und
Ynle wird er aus einleuchtenderen Gründen im Süden des Easpischen
1) Za bemerken ist, dass Odoricus nach einem italienischen Text (wieder-
gegeben bei Ynle, Cathay App. II. cp. 2) bei Erwähnung der Stadt Thauris, wo ja der
dürre Baum nach der einen Lesart stehen soU (cf. oben S. 34 Anm. 2 u. S. 85 Anm. 2)
schreibt: Poi veni in Persia neUa citade ch* h detta Taurisio, e*n qudla via, passai
Ü fiume Rosso (nach Yule I.e. p. 301 vermutlich der Araxes, Aras), ove Ales-
sandro isconfisae il Be d^Asia Dario, also die gleiche Beziehung auf
Alexander und Darius, wie bei Marco Polo, wenn auch der von diesem gemeinte
Banm nicht bei Thauris gesucht werden kann.
2) Über die ganze Frage des Arbre Sec cf. Marsden, The travels of Marco
Polo, London 1818 p. 109 ff. — Yule, The book of Ser Marco Polo, London 1871
I. p. CXXXVII f., 119 if., II. p. 397 f. und Cathay I. p. 47 f.
46 Alfred Basäennann
Meeres gesucht, zwischen Damghan und Bostam, an jener Stätte westlich
des alten Hekatompylos, wo zwar keine hataiüe d'Alixandre contre
le roy Daire stattfand, wo aber Alexander auf die Leiche des
ermordeten Darius stiess und die Erbschaft seines
Reiches antrat^). Auch sonst fand Marco Polo die Erinnerung an
den grossen Welteroberer im Orient noch lebendig, so an der Porte-
de-fer, dem Passe bei Der beut, dessen Befestigung von der Tradition
Alexander zugeschrieben und mit der Sage von Gog und Magog in Ver-
bindung gebracht wurde'), in Balkh, dem alten Baktra, wo von der
Hochzeit Alexanders mit einer Tochter des Darius erzählt wurde, wohl
in Verwechslung mit der thatsächlich dort gefeierten Vermählung
Alexanders mit Roxane, der Tochter des Baktrer-Fürsten Oxyartes'),
in Badachschan, der Qebirgslandschaft zwischen Oxus und Paro-
pamisus, wo Alexander als der Stammvater des einheimischen Fürsten-
geschlechts der Zulcarniain galt, der „ Zweigehörnten ", wie sie sich
wohl nach dem mit den Widderhörnern des Ammon geschmückten
Alexanderbild der griechischen Münzen nannten^).
1) Droysen, Geschichte Alexanders des Grossen, Gotha 1898 p. 2541
2) Pauthier 1. c. I. p. 40f. — Yule, Marco Polo, I. p. 50ff., wo erwähnt
ist, dass die von Derbent ausgehende Kaukasische Mauer auch Sadd-l-Iskandar,
Alexanders Wall heisst.
3) Pauthier 1. c. I. p. 1. 109 ff. — Droysen 1. c. p. 321.
4) Ein Held Zülearnain oder Dulkamein findet sich auch von arabischen und
persischen Schriftstellern genannt und selbst der Koran (Sur. XVill. Vers 82 — 98)
thut seiner eingehend Erwähnung. Zwischen neueren Gelehrten ist lebhaft gestritten
worden, ob unter diesem Kamen überhaupt Alexander zu verstehen sei oder ein
anderer Held des Morgenlandes (Graf, Ueber den »Zweigehörnten* des Koran,
Zeitschr. der deut morgenl. Ges. YlII. p. 442 ff. — Protokoll der Gen.- Vers. 1. c. IX.
p. 290. — Redslob 1. c. p. 214 ff. — Beer 1. c. p. 785 ff. — Flttgel, 1. c. p. 794 ff.
— Roth 1. c. 797 ff. — Heinemann Vogelstein, Adnotattones quaedam ex lit-
teris orientalibus petitae ad fabulas, quae de Älexandro Magno circumferuntur. In-
auguraldissertation, Breslau 1865 p. 27 ff.). Doch scheinen mir die aufgeworfenen
Zweifel nicht erheblich gegenüber der ebenso ungezwungenen wie altverbreiteten
Deutung des Dulkamein auf Alexander, die Marco Polo jedenfalls lebendig gefunden
hat. Wenn aber Beer 1. c. p. 791 ff. erklärt, dass Dulkamein nach der jüdischen
Tradition zur Zeit Muhammeds als ein kriegerischer Messias vom Stamme Josephs
aufzufassen sei, als der Vorläufer des wahren, friedlichen Messias aus dem Stamme
Davids, als der „Kriegsgesalbte**, «der durch mancherlei abenteuerliche Züge und
Grossthaten sich auszeichnen, die Völker — insbesondere zaletzt den ,Gog und
Magog' — bezwingen, aber auch mit hoher sittlicher Kraft und Würde begabt sein
werde, so dass der jüngste Tag und das ewige Gericht mit ihm in Verbindung ge-
dacht wurden"", so haben wir darin nicht einen Gegensatz zu Alexander zu erblicken,
sondern vielmehr schon die beginnende Verschmelzung der Gestalt des hellenischen
Welteroberers mit der des letzten Kaisers der Kaisersage, der sich ja gerade als
weltlicher Messias, « Kriegsgesalbter " darstellt.
Veltro, 6ro88-Chan und Kaisersage 47
Der dürre Baum zeigt sich also bei Marco Polo mit fest einge-
wurzelten Erinnerungen an Alexander im Zusammenhang, und zwar wird
unter den Baum die Walstatt verlegt, auf der die Ent-
scheidung über die Herrschaft des Orients gefallen
ist"*"). Schon Zezschwitz^) hat darauf hingewiesen, dass Alexander
durch die mittelalterliche Vorstellung mit dem eschatologischen Welt-
kaiser in eine gewisse Verbindung gebracht worden ist, dass er sich
nach Gottfried von Viterbo') bei dem Zug nach Jerusalem vor
dem wahren Qotte ähnlich wie der letzte Kaiser zu einer Art Reichs-
übergabe demütigt. Doch das ist ein hebräisches Element in der
Alexandergeschichte'), wie es sowohl beiFlavius Josephus (Antiqu.
XI. 8) als auch im Pseudocallisthenes (11.24 und 43) bei der
Schildenmg von Alexanders Begegnung mit dem Hohen Priester der
Juden zu Tage tritt, und vom dürren Baum ist in diesem Zusammen-
hang nirgends eine Spur zu finden. Wohl aber finden wir eine solche
ao einer ganz anderen Stelle, ohne Beziehung auf Palästina und den
«wahren Gott', in dem ebengenannten spätgriechischen Alexanderroman
des Pseudocallisthenes und dessen Bearbeitungen, nämlich die
Vorstellung eines zauberstarken Baumpaares am östlichen Ende der Welt,
bedeutsam hervorgehoben und mit der Frage der Weltherrschaft aufs
Engste verknüpft. Ausführlich finden wir diese Episode in dem Brief
Alexanders an Aristoteles, der in die Gruppe der phantastischen
Berichte gehört, die aus jenem Roman hervorgegangen sind^). Dort
erzählt Alexander, wie er nach Besiegung des Perus durch diesen
ad Hercfdis TJberique irophaea, in arientis ultimis oris geführt worden
sei. Dann zieht er weiter bis zum Meer in der Absicht, wenn möglich
den Ocean, der den Erdkreis umfliesst, zu befahren, und erregt dadurch
die Bewunderung der Eingeborenen, weil es ihm vergönnt sei, die ge-
heiligten Male des Hercules und des Liber zu überschreiten. Fernerhin
*) Die Schrift von Kampera, Alexander der Grosse und die Idee des Welt-
imperiuma in Propbetie und Sage (2. und 3. Heft der „Stadien und Darstellungen
ans dem Gebiete der Geschichte**, Herder'scher Verlag, Freiburg i. Br.), die erst er-
schien, während ich meine Arbeit druckfertig machte, konnte fflr dieselbe nicht mehr
benutzt werden.
1) Kdsertum, p. 61 u, 177 ff.
2) Pistor-Struve, S. S. Rer. Germ. 11. p. 162, 164.
3) cf. Weismann, Alexander vom Pfaffen Lamprecht, Frankfurt 1850, 11.
p. 493 ff. sowie das am Schlüsse der Anm. 4 8. 46 Gesagte.
4) Juli Valeri Alexandri Polemi Res Gestae Alexandri Macedonis etc. ed.
Kahler, Leipzig 1888 p. 204 ff. — cf. auch Zacher, Pseudocallisthenes, Forschungen
zur Kritik und Geschichte der Ältesten Alexandersage, Halle 1867 p. 106 f.
48 Alfred Bassennann
(p. 205) gelangt or ad Silvas Indarum ultimaSy und auf dem wei-
teren Zug besteht er — was hier nebenbei bemerkt sein mag — den
nächtlichen Sturm mit dem Schneefall und den feurigen Wolken, auf
den Dante beim Feuerregen seines Inferno (14. 31) anspielt. Dabei wird
wieder des Hercules und des Liber gedacht, die vielleicht dem Menschen
zürnen möchten, der sich vermessen, ihre Male zu überschreiten (p. 208).
Bei der Höhle des Liber sodann fleht er die Gottheit an, ihn als König des
ganzen Erdkreises mit den höchsten Siegeszeichen nach Macedonien zu-
rückkehren zu lassen, bleibt aber unerhört. Auf dem Weitermarsch
endlich begegnen ihm zwei Greise, die ihm von den Bäumen der
Sonne und des Mondes erzählen (p. 209): Videbis, rex, inquiunty
quicunque es, duas arbores Solis et Lunae Indice et Graece
loquenteSf quarum unum virile robur est SoliSy alterutn femininum Lunaty
et ab hiSy quae tibi instent bona ant malay nosse poteris. Darauf sucht
er mit einer auserlesenen Schaar die Bäume auf und findet sie in einem
behüteten Hain von duftenden Balsambäumen, von deren Harz sie
sammeln (p. 212), ebenso wie späterhin (p. 215) bemerkt wird, dass die
fast dreihundertjährigen Priester des Haines nur von Balsamharz und
Weihrauch sich nähren. Die Wunderbäume werden wie folgt geschildert
(p. 212): In media antem lud sacratae illae arbores eranty similes cy-
pressis generibus frondium, Hae pedum aUae centum erant arboreSy
quas bebrioras Indi appellant. Und als er staunend äussert, dieselben
müssten vom vielen Regen so hoch gewachsen sein, so versichert der
Priester, nunquam in his locis pluviam neque feram aut ullam
avem aut ullurn adire serpentetn; terminos vero antiquiius ab In-
dorum maioribus consecratos Soli et Lunae adßrmabat, idem quod
in eclipsi solis et lunae veluti uherrimis lacrimis sacrae arbores
commoveantur de deorum suorum statu timetUes. Nunmehr befragt
er die Bäume, denen es zu sprechen gegeben ist, wann jeweils der
Schein ihres Gestirnes ihren Wipfel bestrahlt. Abends antwortet ihm
der Sonnenbaum (p. 213): Invicte bellis Alexander, ut consuluisti,
unus eris dominus orbis terrarum, sed vivus amplius in patriam
non revevterisy quoniam fata tua ita de capite tuo stafuerunt ; Nachts
verkündet ihm der Mondbaum, dass er im kommenden Jahre in Babylon
durch Verrat sterben werde, und bei Tagesanbruch wiederholt noch
einmal der Sonnenbaum seine Verheissung: Tu enim etsi breve superest
tempuSy dominus tarnen orbis terrarum eris. Am Schluss des Briefes
aber erwähnt Alexander noch, dass er in ultima India ultra Liberi
et Herculis trophaea seine eigenen habe errichten lassen et in eis
Veltro, GrosM-Cban und Kaisersage 49
Victorias atque itinera nostra describere .... quaeque miraculo
fxUura sunt . . . posteris saeculia^),
lo den späteren Bearbeitungen der Alexander - Sage sehen wir
diese Episode dann wiederholt, wie denn der Pseudo-Eallisthenes be-
ziehungsweise dessen lateinische Versionen die Hanptquelle der mittel-
alterlichen Alexander-Erzählungen gebildet haben, und die Hauptzüge
sind so treu bewahrt, dass wir unsere Betrachtung auf diese ursprüng-
liche Vorlage beschränken können').
Zwei Elemente in dieser Erzählung scheinen mir für unsere Unter-
suchung wichtig zu sein. Wir haben auf der einen Seite am äussersten
Band des Erdkreises das Tropaion, das Bacchus und Hercules zum
Zeichen der letzten Vollendung ihrer Welteroberung aufgestellt haben,
und das Alexander mit dem seinen noch überbietet. Und auf der an-
deren Seite haben wir das schicksalverkündende Baumpaar der Sonne
und des Mondes, das dem Alexander die Herrschaft der Welt bestätigt.
Wenn wir demgegenüber uns vergegenwärtigen, welche Rolle die Eaiser-
sage dem Arbre sec zuweist, so finden wir darin eben diese beiden Ele-
mente wieder: das Tropaion des Bacchus und des Hercules
ist darin mit dem herrschaftverheissenden Baumpaar
zu einer Vorstellung zusammengewachsen, und der
Kaiser, der seinen Schild am dürren Baum im Morgen-
lande aufhängt, errichtet sich nur auch wieder ein
1) Weniger ausfahrlich findet sich die Episode der Bflume auch in Jalius
Yalerius in. cp. 24; doch ist zu erwähnen, dass dort der Hain, entsprechend dem
griechischen Original des Pseudocallisthenes (ed. MoUer, Paris 1846) Lib. III.
17), ausdrücklich als Paradies bezeichnet ist (Ko ergo cum venissemus, ducor in
quendam loeum arboribus consitum vd amoenissimis. Hunc Uli paradisum voci-
tavere)j womit allerdings zunächst nur ein Baumgarten gemeint sein mag. Eine
andere Variante bietet Pfiendocallisthenes II. cp. 44, wonach der Schauplatz geradezu
in das Gebiet und die Stadt des Helios verlegt ist und ihm die Bäume geheiligt
sind, aus denen Alexander das unsichtbare todverkflndende Orakel vernimmt.
2) Li Romans d'Alixandre par Lambert li Tors et Alexandre de Bernay ed.
Michelant, Stuttgart 1846 p. IX, über die Säulen des Hercules u. Liber. p. 312, 316,
317; über die sprechenden Bäume p. 351-356 (besonders p. 354 V. 18: sires sera
de V mont et de venin moros), — Meyer, Alexandre le Grand dans la litt^rature
fran^aise, Paris 1886 II. p. Iflf., 171 f., 185 f., 215 f. — cf. auch Yule 1. c. — Für
die Säulen des Hercules ist noch beachtenswert eine Stelle aus der Beschreibung
Asiens in Brünette Latinis Tr6sor (ed. Chabaille, Paris 1863) p. 158 Outre^les
Bautriens est Fände, une vik des Sogdianiens, oü Alixandres fist la tieree Älixandre,
por demostrer la fin de ses cdeures, Ce est li leus, oii premierement Liber et puis
HereuUs et puis Semiramis et puis Cyre firent autel por eigne que ü avoient la
terre eonquise jusqua lä, et que plus avant n^avoit point de gent, Par enqui se
iome la mer de Seite et cele de Caspe en Oceane,
NEUE HEIDELB. JAHRBUECHEK XI. 4
50 Alfred ßassermann
äusserstes Siegeszeichen am Rande des Erdkreises, und
dass diese Beziehung, die sich als Hypothese uns aufdrängt, auch that-
sächlich vorhanden ist, dafür spricht eben Marco Polo, bei dem ein
wirklicher im fernen Osten (nicht in Palästina) stehender Arbre sec, der
zudem höchst wahrscheinlich als arbor solis bezeichnet ist, zweimal aus-
drücklich mit Alexander in Verbindung gebracht wird. Es wäre dies
sonach ein rein weltlicher oder wenigstens ein unchristlicher Bestandteil
der Sage, der dann erst nachträglich mit der christlichen Überlieferung
vom Baum des Seth und dem Ereuzesstamm, an dem der letzte Kaiser
seine Insignien niederlegt, verschmolzen wird. ^)
Diese Verschmelzung können wir sehr deutlich in einer Er-
zählung beobachten, die den Arbre sec im fernen Indien mit dem Baum
des Seth ausdrücklich identifiziert, aber gerade durch ihre auflAllige
Absichtlichkeit verrät, dass hier zwei ursprünglich verschiedene Dinge
gewaltsam — vielleicht gerade im Interesse des christlichen Glaubens
— vereinigt werden sollten. Die in einer Handschrift des vierzehnten
Jahrhunderts erhaltene Erzählung ') berichtet von einem Ritter, der, mit
anderen Christen aus der Gefangenschaft der Saracenen entkommen, nach
langer Reise nach Indien gelangt, wo sie von dem christlichen Herrscher,
dem Presbyter Johannes, der uns weiterhin noch begegnen wird,
freundlich aufgenommen und bewirtet werden. Dann heisst es weiter:
Tandem rogaverunt cum, ut arborem sie com, de qua multum
saepe loqui audieranf , liceret videre. Quibus dicebat: ,,Non est
appellata arbor sicca recto nomine, sed arbor Seth, quoniam Seth,
filius Adae, primi patris nostri, eam plantavit". Et ad arborem
Seth fecit eos ducere, prohibens eos, ne arborem transmearent, sed
f si ?J ad patriam suam redire desiderarent. Et cum appropinquassent,
de pulcritudine arboris mirati sunt; erat enim magnae immensitatis
et miri decoris. Omnium enim colorum varietas inerat arbori, con-
densifas folioriim etfructuum diversorum; diversitas avium omnium,
quae sub coelo sunt, Folia vero invicem se repercutieniia dulcissi-
mae melodiae modulamine resonahant, et aves amoenos cantus ultra
quam credi potest promebant ; et odor suavissimus profudit eos, ita
quod paradisi amoenitate fuisse [Hier und im Folgenden muss der
Text verderbt sein]. Et cum admirantes tantam pulcriludinem as-
1) cf. auch Kam per 8, Kaiserpropbetieen p. 105.
2) Mitgeteilt in Zarncke's zweiter Abhandlung Ober den Priester Johannes
(Abhdlg. d. Sachs. Ges. d. Wiss. philol.-histor. Kl. VIII. 1883), p. 127.
Veltro, Gro88-Ghan und Kaisersage 51
picerent, unus sociorum aliquo eorum maior aetate^ cogitans [cogitavit]
intra se^ quod senior esset ety si inde rediret, cito aliquo casu mori
passet. Et cum haec secum cogitasset, coepit arborem transire et,
cum transissetj advocans socios, jussit eos post se ad locum amoe-
nissimum, quem ante se videbat plenum deliciis sibi paratum/estinare,
At Uli retogressi sunt ad regem, scilicet presbiterum Johannem. Quos
donis amplis ditavit, et qui cum eo morari voluerunt libenter et
hanorifice detinuit. Alii vero ad patriam reversi sunt.
Diese Erzählung enthält noch einen anderen Zug, der für uns von
Wichtigkeit ist und das Band zwischen dem Paradiesesbaum Alexanders
und zwischen der Kaisersage noch fester schlingt, den Zug, wie der Alte
sich unerwartet von seinen Genossen trennt und geheimnisvoll bei dem
Baume zurückbleibt. In der Kaisersage hat sich aus jenen ersten apo-
kalyptischen Motiven heraus als ein Hauptzug die Vorstellung entwickelt,
dass der Kaiser, geheimnisvoll entrückt, eine Zeit lang
im Verborgenen warte, um dann gewaltig wiederzu-
kehren und seine Aufgabe zu vollenden. Ursprünglich ist es
der böse Kaiser, der Antichrist, Nero und Friedrich II. in der päpst-
lichen Beleuchtung der joachitischen Weissagungen, dann aber auch der
gute Kaiser, der Retter, von dem die Heilung und das Heil der Welt
erwartet wurde. Namentlich bei Friedrich II. acceptierte auch die
kaisertreue Fassung der Sage diesen Zug und bildete ihn liebevoll aus,
wobei offenbar auch Bilder aus dem germanischen Oöttermythus, die
noch in der Tiefe der Volksseele schlummerten, leise aber machtvoll
aufdämmernd sich darein verwebten. Ehe aber diese Entrücknng am
Kyffhäuser, am üntersberg und anderen dem Wodan geweihten Stätten ')
festgelegt wurde, tritt sie zunächst in der Weise auf, dass der Kaiser
nur überhaupt in geheimnisvoller Weise verschwindet, „verloren geht''
und sich verborgen hält, bis seine Zeit gekommen ist, und dieses Ver-
schwinden und Verlorengehen des Kaisers Friedrich finden wir in merk-
würdigen Zusammenhang gebracht mit dem Priester Johannes, in
dessen Beich die Sage auch den Paradiesesbaum verlegt. Dieser fabel-
hafte Priesterkönig im fernen Morgenland, mit dem die Phantasie des
Mittelalters nicht müde wurde sich zu beschäftigen und den sie in einem
ihm zugeschriebenen und in einer Beihe von Varianten und Verarbeitungen
auf uns gekommenen Briefe, der vielfach an die Alexandersage anklingt,
mit den überschwänglichsten Zügen von Macht und Reichtum aus-
1) cf. Fulda I.e. p. 29 ff.
52 Alfred BassermDim
stattete^), schickt nach einer ümdichtiing, die von Oswald dem
Schreiber zu Königsberg in Ungarn zwischen 1350 und 1400 verfasst
ist '), an Kaiser Friedrich ein Beihe wunderkräftiger Geschenke : ein un-
verbrennbares Salamanderkleid, eine Flasche Wassers vom Jungbrunnen,
der das Leben um dreihundert Jahre verlängert und einen Ring mit
drei Edelsteinen, von denen der erste die Fähigkeit gibt unter dem
Wasser zu leben, der zweite unverwundbar macht, der dritte unsichtbar.
Und wie nun Friedrich von dem Papst in Bann gethan wird und überall,
wo er sich aufhält, den Gottesdienst unterbrochen sieht, so entschliesst
er sich gegen die Osterzeit diesem Ärgernis ein Ende zn machen. Er
nimmt die Zauberkleinodien zu sich, reitet auf die Jagd und verschwindet
plötzlich den Augen seines Gefolges:
Der Keiser bereit sich
mit 9inem jaged ioeidlich.
Niemant wüst under yn
sinen mut noch ainen sinn,
1310 Die eäd wat die legt er an,
dye man yme sand von Indian,
und die fleschen er älaam
mit dem prun darunder tiam,
der do schmackhaft was:
1315 uff ein gut ros er do sas,
mit yme ritten etlich herren.
Do er kam in den waU verren,
sin vingerlin nam er yn die hant:
an dem geiaid er verschwant,
1320 das man den edelen keiser her
sind gesaeh nyemer mer.
Also ward der hochgeporn
Keiser Friderich do verlorn.
Wo er darnach ye hin kam
1325 Oder ob er den end da nam,
das kund nyemand gesagen mir;
oder ob yne die wilden tir
vressen haben oder zerissen,
es kan die warheit nyemand wissen;
1330 oder ob er noch lebentig sy,
der gewissen sin wir fry
und der rechten warheit.
yedoeh ist uns geseit
von pawren solh mer^
1) cf. Zarncke, der Priester Johannes, AbhandluDgen der s&chs. GesellBchafi
der WiBseoBchafteD, philol.-histor. Klasse YII (1879) p. 827 u. VIII (1876) p. 1.
2) Heidelberger Handschrift Pal Germ. 844 fol 150a ff. — Zarncke 1. c. I.
p. 1004.
Veltro, Grofis-Chan und Kaisersage 53
1335 das tr dla ein waler
sich oft by yne hob lassen sehen,
und hob yne offenlich verjehen,
er siäl noch gewaltig werden
aUer Eomscken erden^
1340 er süU noch die paffen stören
und er wol noch nicht uf hören,
noch mit nichten lassen abe,
nur er pring das heüge grabe
und darzu das heüig lant
1345 wieder in der cristen hant,
und wol sines schiltes last
hahen an den dorren ast.
Das ich das für ein warheit
sag, das die paaren haben geseit,
1350 das nym ich mich nicht an,
wan ich sin nicht gesehen han.
Ich han ys auch zu kein stunden
noch nyndert geschriben funden,
Wan das ichs gehört han
1355 von den alten pauren an wan.
Aber das der hochgeborn
Keiser Fridrich ward verlorn
(usus und auch cUda,
das sagt die Bomsch cronica.
Der Dichter hebt also selbst einen gewissen Gegensatz seiner
Quellen hervor. Man ist versucht, in der Komischen Cronica eine
Aufzeichnung der joachitischen, antikaiserlichen Weissagungen zu ver-
muten'), während die mündliche Überlieferung der pauren die ghi-
bellinische Gestalt der Sage wiedergiebt und zugleich in dem geheim-
nisvollen Waller ein Anklang an den Wanderer Wodan wohl nicht
abzuweisen ist*).
Für unsere Untersuchung ist ausserdem aus dem Gedicht Oswalds
des Schreibers hervorzuheben, dass es, ebenfalls im Anschluss an den
Presbyter-Brief), im Palast des Priesters Johannes auch einen wunder-
baren Baum beschreibt, aus dem beständig ein mit seltsamen Kräften
begabtes Harz traüft, eine unverkennbare Beminiscenz an die Sonnen-
1) Zu beachten ist auch die ÜbereinstimmuDg mit Jan Enenkel, der bei
dem Gerücht Ober Friedrichs Fortleben gleichfalls auf Welschland verweist, und
andererseits der Umstand, dass auch die Novelle antiche (ed. Biagi, Florenz 1880
p. 4} den Kaiser Friedrich mit dem Brief des Priesters Johannes und den drei Edel-
steinen, deren einer unsichtbar macht, in Verbindung bringen, was beides gegen
Broschs Ansicht ins Gewicht fällt (cf. oben p. 38 Änm. 1.).
2) cf. Schröder 1. & p. 48.
3) Zarncke I. p. 922, 1023.
54 Alfred Bassennann
und Mond-Bäume, bedeutsam für uos, wenn auch nur erst in sehr loser
Verbindung mit Kaiser Friedrich.
Während hier nun der Kaiser, der geheimnisvoll verschwindet, um
dereinst als Sieger und Retter wiederzukehren, noch in einer ziemlich
entfernten Beziehung zu dem Herrscher des Ostens und dessen wunder-
kräftigen Schätzen sich darstellt, tritt in einem anderen Beispiel das
Motiv der Entrückung in Verbindung mit dem Morgenlande und der
Alexandersage ungleich schärfer zu Tage. Dasselbe ist bisher für die
hier zu erörternden Fragen wenig nutzbar gemacht worden, scheint mir
aber eine eingehende Betrachtung zu verdienen.
Die Sage von dem entrückten Helden, der nach langer Abwesen-
heit in der Zeit der höchsten Not als Better wiedererscheint, hat sich
auch an einen Paladin Karls des Grossen geheftet, an Ogier oder
Holger, den Dänen, dessen rätselhafte Oestalt eine der anziehend-
sten in jenem ganzen Sagenkreise ist und dichterisch auch die manch-
fachste Weiterbildung erfahren hat^).
In den früheren Epen, die ihn besingen, bildet das Reich Karls des
Grossen den Schauplatz seiner Thaten, und zwar ist bezeichnend für
ihn, dass er nicht nur als ein gewaltiger Streiter gegen die Ungläub-
igen erscheint, sondern auch als der leidenschaftliche Widersacher des
Königs Karl. Verursacht wird diese Feindschaft dadurch, dass Ogiers
Sohn Bauduinet durch Karlot, den Sohn Karls beim Schachspiel er-
sehlagen wird. Ogier geht als Rebell zu Dosier (Desiderius) nach
Italien und wirft sich nach der Niederlage der Longobarden in das
Schloss Gastelfort. Dort verteidigt er sich sieben Jahre lang auf das
Hartnäckigste unter den manchfachsten Wechselfällen, und als er allein
noch von den Verteidigern übrig und durch die Not auf's Äusserste
gebracht ist, giebt er das Schloss auf, bricht durch und entkommt seinen
Verfolgern. Dann wird er von Turpin schlafend getroffen und gefangen
genommen, von Karl zum langsamen Hungertod verurteilt, aber von
Turpin heimlich am Leben erhalten. Der Heidenkönig B r e h i e r nutzt
1) Grimm 1. c. II. p. 803. — von der Hagen, Museum far altdeutsche Lite-
ratur und Kunst, Berlin 1809. I. p. 269 ff. — Lorentz in Ersch und Grubers Allg.
Encyclopftdie der Wissenschaften und KQnste, III. Section, II. Teil p. 299 f. —
Grässe, Sagenkreise p. 340 ff. — Dunlop, Geschichte der Frosadichtungen, deutsch
von Liebrecht, Berlin 1851 p. 139 ff. — G. Paris, Histoire poStiqne de Charlemagne,
Paris 1865, 137 f., 249 f., 305 ff., 330 ff. — L. Gautier, Les ^popees fran^aises,
Paris 1878—92. IL p. 300, 450, 553; III. p. 52 ff., 240ff. — Voretzsch, Über die
Sage von Ogier dem Dänen, Halle 1891. — Renier, Ricerche sulla leggenda dl
Uggeri 11 Danese in Francia, Turin 1891.
Veltro, GroBB-Chan und Kaisersage 55
das Verschwinden Ogiers, macht einen Einfall in Frankreich und bringt
Karl in die äusserste Not. Trotzdem es bei Todesstrafe verboten ist,
Ogiers Namen zu nennen, ruft die Ritterschaft Karls laut nach ihm,
als ihrem Retter; Karl lässt den Todtgeglaubten aus dem Kerker holen,
und nachdem Ogier seiner Rache auf den Einspruch des heiligen Michael
entsagt und sich mit Karl versöhnt hat, unternimmt er den Kampf,
tödet Brehier und erringt einen vollkommenen Sieg über die Heiden.
Wir finden hier schon fast alle Hauptmomente der Kaisersage bei-
sammen: wir haben nicht nur den Retter, der im Augenblick der
höchsten Not erscheint und die Christenheit zum entscheidenden Sieg
fuhrt, wir haben auch das Leben im Verborgenen, das diesem letzten
siegreichen Auftreten vorhergeht, das Gerücht von seinem Tod und zu-
gleich den allgemeinen Glauben, dass er der berufene Retter sei ; ausser-
dem aber haben wir auch den scharfen Gegensatz zu König Karl, wie
er aus bereits vorhandenen Keimen sich entwickelnd in dem ,Weis-
sagungskrieg^ der naehstaufischen Zeit so ausgeprägt hervortritt. Aber
die dichtende Sage arbeitet weiter. .Es ist, als ob ihr das Motiv der
Entrückung und Wiederkehr des Helden in der alten Fassung nicht
mehr deutlich genug gewesen wäre; sie spinnt das Leben Ogiers
weiter und wiederholt jene Motive mit stärker herausgearbeiteten
Kontrasten.
Nachdem Ogier den Einbruch der Saracenen von der Christenheit
abgewehrt und die von ihm befreite englische Königstochter zur Gattin
genommen hat, findet er doch keine Rast zu Hause. Er fasst den
Entschluss, selbst in's Morgenland zu ziehen und dort die Heiden zu
bekämpfen und zu bekehren. Mit seinen Vettern und einer Heerschaar
macht er sich auf die Fahrt und durchzieht als Sieger den ganzen
Osten. Reich um Reich wird zur Huldigung gezwungen; aber in
keinem nimmt er selbst die Krone ; er setzt seine Begleiter einen nach
dem anderen als Herrscher ein über die getauften Völker; er selbst ist
der Gotteskämpfer, den es nicht nach weltlicher Macht gelüstet,
sondern der nur das eine Ziel verfolgt, die Heidenschaft fär das Christen-
tum zu gewinnen. So zieht er weiter und weiter durch die abenteuer-
lichsten Länder, die erfüllt sind von Wundern aller Art. Schliesslich,
nachdem der ganze Osten siegreich durchzogen und seine Aufgabe damit
erfüllt ist, kommt er nach Avalen, in das Reich der Fee Morgan e,
die ihn schon längst in Liebe erwartet. Er lebt bei ihr, zusammen mit
König Artus, ihrem Bruder, in ewiger Jugend, ohne der Heimat
zu gedenken und den Lauf der Zeit zu gewahren. Nach zweihundert
56 Alired Bassermann
(bei Anderen dreihundert) Jahren kommt die Christenheit wieder in Not.
Sanct Michael wird zu Morgane geschickt, wie Hermes zu Ealypso, mit
Gottes Befehl, ihren Liebling nach Frankreich zu entlassen. Er zieht
hin und vollbringt sein Retteramt, angestaunt als Fremder in einer
fremden Zeit. Dann aber verrät er, dem Verbot Morganens zuwider, wo
er gewesen, und trennt sich treulos von dem Ring der ewigen Jugend,
den ihm die Fee geschenkt. Plötzlich gealtert und der Hoffnung auf
Rückkehr nach Avalen beraubt, legt er sich hin um zu sterben. Aber
im letzten Augenblick erscheint Morgane und entführt ihn heim nach
Gastel Plaisant auf Avalen. Sie muss ihn aufbewahren, bis die Christen-
heit, die er sechsmal gerettet, wieder seiner bedürfe. Wenn er zum
siebten Mal seines Amtes gewaltet, wird Gott ihn noch drei Jahre auf
Erden lassen und dann in das Paradies aufnehmen ^).
Diese Züge aus der Feenwelt des König Artus zeigen sich
der Ogier-Sage in der Alexandriner- Version des vierzehnten Jahrhunderts
beigemengt, aus der sie dann auch in den Prosaroman übergehen*).
Nicht unerwähnt darf bleiben, dass in dem Alexander-Roman von
Lambert li Tors die Säulen des Hercules, hornes Arcus, einmal
auch hornes Ar tu geschrieben werden'), dass also unter dem König
Artus, den Ogier in der seligen Insel am Rand der Erde trifft, auch
Hercules verborgen sein mag, dessen Säulen in der Nähe des irdischen
Paradieses stehen.
Für uns ist von hervorragender Wichtigkeit die Darstellung dieses
zweiten Teils der Ogier-Sage, wie sie in die Reisebeschreibung des
Johannes von Montevilla oder John Mandeville, den wir
oben beim Baum im Thale Mambre schon zu erwähnen hatten, ver-
arbeitet ist. Das Buch ist allerdings erst um die Mitte des vierzehnten
1) In Dänemark finden wir Ogier als den Nationalhelden Holger in die Tiefe
entrückt, in einem Berg, einer Höhle, dem Schlosskeller von Kronborg schlafend, bis
sein Land einen Retter braucht, so wie ihn Andersens Märchen noch schildern. In
welchem Verhältnis die dänische Sage zu der Karolingischen steht, ist noch nicht
genftgend aufgehellt Doch ist Ogiers Beiname »der Däne"" wohl nicht nur als »eine
blosse dichterische Erfindung** (Voretzsch 1. c. p. 119) zu erklären. Jedenfalls zeigt
dieser Zug der dänischen Sage die gleiche Weiterbildung des ursprOnglichen Ge-
dankens, wie die EntrQckung in Kyffhäuser und Untersberg bei der Kaisersage, ein
Stadium, das aber schon jenseits unserer Untersuchungen liegt Grimm I. c. —
G. Paris, Revue critique d'histoire et de litterature, V. p. 103 ff. — Das dänische
Hauptwerk, Pio, sagnet om Holger danske, Kopenhagen 1869 war mir nicht zu-
gänglich.
2) Renier, I.e. p. 44ff.
3) Meyer, Alexandre le Grand II. p. 171 ff., 216 f.
Veltro, Gross-Cban iind Kaisersage 57
Jahrhunderts geschrieben, es ist aber, von wenigen Partien abgesehen,
die auf eigenen Reiseerlebnissen des Verfassers in Ägypten zu beruhen
scheinen, nichts weiter als eine grosse Compilation aus schon vor-
handenen Werken Anderer'). Es ist dem Verfasser des Mandeville
Jean de Bourgoigne schwer verübelt worden, dass er sein ausser-
ordentlich vielseitiges Wissen so schmählich missbraucht hat, sich
gänzlich zu Unrecht den Ruhm eines grossen Reisenden zu verschaffen
und die Welt auf Jahrhunderte hinaus zu mystificieren '). Aber wir
müssen ihm doch auch Dank wissen für sein ungeheuerliches Plagiat,
das uns gerade durch die grosse Belesenheit des Mannes ein umfassen-
des Bild davon giebt, wie sich das Wunderland des Orients in den ge-
bildeten Köpfen des vierzehnten Jahrhunderts spiegelte, und dadurch
als eine wahre Fundgrube für den Dante-Commentator sich erweist.
Mehr Schwierigkeiten scheint auf den ersten Blick der Umstand zu
bieten, dass in dem französischen und englischen Text der Reisebeschreib-
ung, wie er uns heute vorliegt, diese Anklänge an Ogier vollkommen
fehlen und nur in der lateinischen Fassung sowie in der deutschen
Übersetzung des Otto von Diemeringen sich finden'). Gleich-
wohl scheint es mir nicht angängig, deshalb die Ogier-Elemente ein-
fach als spätere, dem Original fremde Zusätze auszuscheiden. Wir
finden nämlich — was meines Wissens noch nicht beachtet worden ist
— , dass alle diese Ogier-Stellen Mandevilles unverkennbar und grossen-
teils wörtlich übereinstimmen mit den Berichten über Ogier, welche die
Chronik des Jean des Preis, dit d*Outremeuse, genannt „Ly
myreur des hisiors*)^ anfüllen. Dieser Jean des Preis aber, ein bischöf-
licher Notar zu Lüttich, war eng befreundet mit jenem gelehrten Arzt
Jean de Bourgoigne, dit ä la Barbe, der die Rolle des fahren-
den Ritters Johann von Mandeville, Grafen von Montfort bis auf sein
Todbett so täuschend durchführte, und wurde von ihm sogar zum
Testamentsvollstrecker ernannt (Jean de Bourgoigne starb in Lüttich
1372, Jean des Preis 1400^). Unstreitig wirft diese persönliche Be-
1) cf. Bovenschen, Johann von Maadeville und die Quellen seiner Reise-
beschreibuog, Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde, Berlin 1888 XXIII p. 177 ff.
2) Boven sehen 1. c. passim.
3) Zarncke, Priester Johannes II. p. 128 ff.
4) Herausgegeben von Borgnet und Bormans in der Collection de chroni-
ques Beiges inedites, Brüssel 1864—1887.
5) cf. Bormans, Introdaction zum Myreur p. CXXXIII. — Bovenschen
L c p. 197 ff.
58
Alfred Bassermann
Ziehung der beiden Schriftsteller ein besonderes Licht auf die Über-
einstimmungen in ihren Werken und lässt sie uns doppelt auffällig er-
scheinen.
Wir geben zunächst zwei solche übereinstimmende Stellen, die wir
aus dem tiefsten Orient, aus ^dem Land, wo der Pfeffer wächst'',
herausgreifen.
Mandeville II. cp. 8*).
Item von jndia der grossen stai zu
der zückt man von Cana und kompt zu
der stat gen Sarque, die eine edle gutt
8t(U ist, und darin sint vü Christen lüte
und auch vil kirchen^ die Oggier
hat Jossen buwen, do er das selbige
Land gewan. Von Sarque zücht man
durch das mere, und damoeh so kom-
ment mann durch Lorwe, das ist das
lande do der pfeffer wachsset
und do man in buwet und ist zu wissen,
das niergen in der gantzen wdt kein
pfeffer wcichsset dann (Ulein do. Er
wachsset wöl achtzehen tagreise
lang und im gewUd und strut do er
wachsset do buwet derselbe Oggier
zwo grosse stet do er diegewan und
heisset eyne noch Flandrie, wan
er gab ir den namen einer anen
zu eren, die was sines vatters Gotfrids
mutterj und hiess Flandrimia und was
des Dorichus von Mentz tochter gewesen.
Die ander etat heisset Floranse
nach syner mutter dije hyess
Florentina, und hyess ir mutter
Vicrisa, und was syn ane oder gross-
frawe des känigs Bdleprons von un-
gern eeliches wybe und was florentina
Sampsonis dochter, ßen man nennet der
Uwe, und wm berchten Schwester die
künig Karolus gebare.
Die Zusammengehörigkeit der beiden Stellen ist unverkennbar,
wenn auch bei Mandeville Ogiers Stammbaum etwas anders angegeben
ist als bei Des Preis. Übrigens finden sich an anderen Stellen des
Myreur (II. p. 434, IIL p. 2 f.) die meisten der von Mandeville auf-
geführten Verwandten Ogiers gleichfalls genannt. Ausserdem lässt diese
Jean des Preis III. p. 57.
Apres vinrent en Viele que ons ap-
pelle üanal. Apres vinrent ä Sarc-
que qui syet en la moyene Indre, oü
Us Sarazins se sont rendus ä Ogier et
pris baptesme. Et furent lä main-
tes eglises ediffiees, oii ü mist des
moynes et des rdigieux christiens, et y
sont encors, et les nome-ons encore les
eglises Danois. Apres sont ventui ä
Lombe unc grand pays, oti il at
grandz forestz et plusseurs, et
tient ehis paiis X Vllljoumies de Umgs,
et n'y avoit vilhes, eiteis ne castelz. Et
vint ä Combar sur la nviere d^Argins,
oü Ogier fondat II eiteis, et
nommat Vune Flandrine et Flo-
rentine Vautre; et les nommat
ensy apres ses deux grandames:
la mere de son pere et la mere de sa
mere, et encore y sont les dictes eiteis.
Et y croist ly poivre tout ensy que
des roisins aux troicques; che semble
vigne saulvaige.
1) Über die Quellen zu dieser Stelle cf. Bovenschen 1. c. p. 286.
Veltro, Gross-Chan und Kaisersage 59
Stelle auch erkenoen, dass die deutsche Fassung dem- Französischeu ent-
nommen ist; denn der ungewöhnliche Ausdruck Crrossfrawe für «Abne^
ist nichts weiter als eine Übersetzung der bei Des Preis gebrauchten
Bezeichnung grandames. Die gleiche Übereinstimmung findet sich fast
allenthalben, wo in den beiden Bachern von Ogier und seinen Orient-
fahrten die Bede ist, sodass kein Zweifel darüber entstehen kann, dass
ein mehr als zufälliges Zusammentreffen vorliegt^). Dass dasselbe
wirklich bis auf die beiden Freunde, den Verfasser des Myreur und den
des Mandeville zurückgeht, scheint mir noch dadurch bestärkt zu werden,
dass nicht nur bezüglich der Ogiersage, sondern auch an Stellen, die
ebenso im französischen und englischen Mandeville enthalten sind, sich
Übereinstimmungen mit Jean des Preis erkennen lassen '). Wie dieser
Zusammenhang des Näheren zu denken ist, ob beide Schriftsteller die
gleiche Quelle benutzt haben, ob einer dem anderen entlehnt hat, ob
beide sich gegenseitig ausgeholfen haben, ist schwer zu sagen. Ich
möchte vermuten, dass das Letztere der Fall ist, dass die eigentliche
Geschichtserzählung von Jean des Preis herrührt, während die Aus-
schmückung mit geographischen Einzelheiten von Jean de bourgoigne
aus dem Schatze seiner Belesenheit beigesteuert sein mag. Vielleicht
liesse sich die Sache auch so erklären, dass Jean des Preis, der als
Testamentsvollstrecker in Besitz des Nachlasses seines Freundes kam,
die von ihm gesammelten Stücke der Ogier-Sage nachträglich in den
Mandeville verarbeitet und seinerseits die phantastischen Schilderungen
. 58
»
II
. 7
. 58
»
n
, 8
,58
n
m
, 8
. 58,59
1*
«
. 9
1) Es seien hier nur einige der auffälligsten Beispiele noch namhaft gemacht:
Herkunft des Priesters Johannes Myreur III. p. 52 Mandeville IV cp. 4
Mäuse so gross wie Hunde „ «
Jungbrunnen „ „
Witiren?erbrennung, Weintrinken der Frauen „ „
Grab des heiligen Thomas in Mabaron «
Die Bäume, die Mehl, Wein, Honig und Gift
tragen „ . « 62 „ „ * 12
und viele andere. Die Fassung bei Jean des Preis scheint der Mandevilles gegen-
über manchmal etwas abgekürzt, ein Umstand, der aber für die Frage der Priorität
nicht in Betracht kommt, sondern darin seine Erkiftrung findet, dass gerade für den
Teil der Chronik, der diese Stellen enthält, bei der Publikation nur eip Manuskript
in abgekürzter Fassung zur Verfügung stand, cf. III. p. 1 und Band der Introduction
von Bormans p. V.
2) Schon Bovenschen I.e. p. 213 Anmerkung hat dies bezüglich der vita
Adae und der Legende vom Kreuzesholz (Myreur I. p. 317—324, Mandeville cp. 2
bczw. I. cp. 3) bemeikt und auf eine mögliche Wechselbeziehung hingewiesen, wäh-
rend er die Ogier-Steilen, da sie im französischen und englischen Texte fehlen, nicht
beachtet bat.
60 Alfred Bassermann
des Orients aus dem Mandeville in seine eigene Chronik einge-
flochten bat.
Sicher scheint mir dagegen, dass, wie wir im Mandeville eine
Mosaikarbeit von Lesefrüchten vor uns haben, ebenso auch Jean des
Preis in seiner Chronik nur Entlehntes zusammengearbeitet hat, aller-
dings mit dem Unterschied, dass er kein Hehl daraus macht, sondern
stolz darauf ist, Gewährsmänner zu haben. Bei aller Leichtgläubigkeit
und Kritiklosigkeit zeigt er sich überall vom besten Willen beseelt, die
zuverlässigsten Quellen aufzusuchen und sie gewissenhaft wiederzugeben,
sodass sein Herausgeber Bormans (Introd. CLXV) mit Becht von ihm
sagen kann : Pour le fond Jean d/Outremeuse^ malgr^ les fahles^
tnalgre les absurditis accumulees dans son Myreur^ n'y a rien mis
du sien. Tont ce qu'il rapporte, il Va trouve ailleurs, et c*est en
toute sincerite quHl peut dire: chu que je n'ay troveis, si m'eti
tairay *).
Was Jean des Preis über Ogier berichtet, scheint er der Haupt-
sache nach aus der für uns verlorenen Chronik des lütticher Bischofs
Hugues de Pierrepont (um 1214), Ul chronique des Vavassours,
geschöpft zu haben, für die er immer eine besondere Wertschätzung
bekundet, die er für Ogier aber geradezu als klassisches Dokument be-
trachtet, da der Bischof den zurückgekehrten Ogier im Jahre 1214 selbst
gesehen und nach Ogiers eigener Erzählung seine Geschichte aufge-
zeichnet habe^). Ein merkwürdiges Zusummentreffen darf hier nicht
unerwähnt bleiben, dass nämlich fast um die gleiche Zeit, da Bischof
Hugues den wiedergekehrten Ogier gesprochen haben will, im Jahre
1210 auch die Weltchronik des Alberich von Trois-Fontaines
von dem Auftreten eines greisenhaften Bitters, der sich für Ogier aus-
gab, berichtet^). Damit ein solcher falscher Ogier auftreten konnte,
1) Gautier giebt keine Gründe für seine entgegengesetzte Meinung (Epop. III,
p. 553 Anm.): „11 reste k oerire une etude decisive sur les sources de Jean d'Outre-
meuse: l'une des principales k coup sür a ete son imagination.
2) Bormans, [Introd. p. XVI, XCV ff., CLVI; Myreur I. p. 2, V. p. 123,
131 f., 161. — Als mit diesem Bericht des Bischofs von Lüttich übereinstimmend
nennt Jean des Preis noch die Aufzeichnungen des Ahtes Enguerrand von St.
Denis und des Abtes S|eguin von Meaux en Brie, die auch an der Chronique des
Yavassouis mitgearbeitet zu haben scheinen. Y. p. 136.
3) Pertz SS. XXIII. p. 891. A partibus Hispaniarum venit hoc tempore quidam
valde senio confectus miles grandevus, qni se dicebat esse Ogerom de Dacia, de quo
legitur in historia Karoli Magni, et quod mater eins fueric fiUa Theodorici de Ar-
denna. Hie itaque obiit hoc anno, ut dicitur in dyocesi Nivernensi, villa que ad
sanctum Patricium dicitur, prout illic tarn clerici quam layci qui viderunt retulerunt.
Veltro, Gross-Chan irnd Kaisersage 61
musste jeden Falls schon eine Sage vorhanden sein, die den Gedanken
der wunderbaren Wiederkehr des Helden nach langem Fernsein dem
Volke vertraut gemacht hatte.
Ausserdem finden sich im Myreur, worauf schon Bormans (Introd.
p. XVIII) aufmerksam macht, an einer ganzen Reihe von Stellen, die
sich auf Ogier beziehen, die unverkennbaren Spuren von Versen*).
Ob darin Bruchstücke der (verlorenen) Geste cT Ogier, zu der sich der
gleiche Verfasser bekennt, zu erblicken sind, wie Bormans annimmt,
möchte ich bezweifeln, da die meisten dieser Stellen, so die leicht
humoristische Episode, wo sich der hungerige Ogier bei den Pilgern durch
einen Imbiss zum Kampfe stärkt und deren Bewunderung ebenso durch
seinen Appetit wie durch seine Taperkeit erweckt, oder etwas weiter,
wo er sich auf seinem Ross Broiefort über den Fluss gerettet hat und
nun Karl höhnt, weil er nicht folgen kann (III p. 252), oder* die stim-
mungsvolle Schilderung seiner heimlichen Ausfahrt (IV. p. 41), oder der
mächtige Schluss (V. p. 137) von einer volkstümlichen Frische und
dichterischen Kraft sind, die auffallend abstechen gegen die sonstige
Vortragsweise des Jean des Preis, wie sie sowohl in seiner Chronik als
auch in seiner Geste de Lüge hervortritt.
Eine in der Chronik versteckte Reimspur ist für uns noch von
einem besonderen Interesse. Als Ogier sich heimlich auf seine letzte
Fahrt gemacht hat und von seinem Sohn Beuve vergeblich gesucht
worden ist, heisst es : et li novelle se vat espadant que Ogier est perdus,
ans fie seit qu'il est devenus. Die Stelle erinnert überraschend an die
Verse Oswalds des Schreibers:
Also ward der hochgeporn
Keiser Friderich do verlorn,
ebenso wie überhaupt die Gestalt Ogiers mit dem sagenhaften Kaiser
Friedrich mehr und mehr ähnlich geworden ist. Dass aber die Ogier-
Sage diese Entwickelung genommen hat, ist nicht die zufällige Laune
eines einzelnen Schriftstellers gewesen, sondern das Gesetz ihres Orga-
nismus, der eben diese Keime in sich barg, das Gesetz, nach dem eine
jede Sage wächst und wird,
Wenn Jahre lang durch Länder und Geschlechter
Der Mund der Dichter sie vermehrend wälzt.
1) über die Versspuren in den Prosa-Romanen cf. Gautier, Epopees II
p. 442 ff.
62 Alfred Bassermann
Es scheint mir hiernach als sicher angenommen werden zu können,
dass die Ogier-EIeraente in dem deutschen Mandeville nicht willkürliche
Zuthaten des Uebersetzers Otto von Diemeringen sind'), sondern auf
ältere über das Original des Mandeville hinaufreichende Quellen zurück-
gehen, und wenn wir auch nicht behaupten können, dass sie gerade in
diesem Ori^nal enthalten gewesen seien, wie es aus der Hand des Jean
de Bourgoigne hervorgegangen ist, so haben wir doch zum Mindesten
das Recht ~ und das ist das Wichtige für uns — sie als Zeugnis für
die Anschauung der älteren, Dante*schen Zeit in Anspruch zu nehmen.
Die Anspielungen auf Ogier finden sich allenthalben eingeflochten,
wie die fingierte Beise von Land zu Land fortscheitet. Aber einmal
benutzt der Schreiber die Gelegenheit, die ganze Ogier-Sage, in einem
kurzen Auszug zwar, aber im Wesentlichen nach Jean des Preis, uns
vorzuführen. Die Stelle ist in ein Kapitel') eingefügt, das von Java
handelt und dessen sonstiger Inhalt wieder dem Odoricus') entnommen
ist. Sie lautet:
Der Künig von Jana (= Java) hat gar ein köstlichen palast
darin er tvonet. Dann alle staffelen dar uff man in den palast geet,
sint eflich guldin ctlich silberin^ und die esterich sint gefierteilt von
gold und von silber gegen einander sind die muren inwendig alle über-
zogen mit guldin und silberin blettem. In denselben blettern sint auch
vil ritterlicher tluii gewirkt und geschrieben. In dtm obersten sah
steet Oggiers leben und sine stryt gar werckliclien gebildet und er-
graben, wie er auss Frankrich in dasselbe Land kommen ist und wie
er alle land gewan von Rom untz gen Indien*), ivie ihn die Göttin
frow Jana (== Morgana) also verzaubert^ das er nit st^erben möcht,
und das er noch ob zweyhundert joren uss hidien gen Franckrich käme,
und dan er nitt änderst wisste dann das er nitt mee dann eyn jor uss
gewesen wer, und du er gen Franckrich kam, da verwundert er sich
das sich die letd also gar verändert hetten in eim jor wan er sach
niemande do de7i er kante. Auch ston an den muren vil grosse stryt
die etwen geschehen sind von dem grossen Fürsten Hector Alexander
1) Von der Hagen, 1. c. p. 270. — Simrock, Volksbücher XIII. p. XIII.
2) Bach II cp. 11.
3) cp. 21. cf. Yule, Cathay App. I. p. XVII.
4) Auch dieser Zug bat sein Vorbild im Myreur, wo IV. p. 52 ff. erz&hlt wird,
wie im Gaste! Plaisant die Wände des Saales mit den Geschichten der Helden aus-
gemalt sind und bei der Ankunft Ogiers auf einen Wink Morganens mit dessen
Thaten sich schmücken.
Veltro, 6ro88-Cfaan and Kaisersage 63
Hercules Keyser Karoten und von vil anderen slrytbar Fürsten, das
doch unglich üt den Dingen die Oggier gethon haty tcan wer zu
synen eytten nitt Christen was den betewang er von
nffgang der sunnen biss eum nidergang der sunnen.
und noch hüt des tages haben die herren indien inne
die von Oggiers linien harkomen sint. Auch sind in dem
landt Jana vil mee Christen stet dann in allen anderen Künigrichen
sint, die wir bys har genennet haben. Man liset auch in detnselben
sal, wie Oggier lang^ Künig Karlen gefangener was, und lag zn Ileche^)
in der stai Alabien, und tvie er ledig ward. Do Künig Josore inn
Franchrich zog, do Hess in Küttig Kardus ledig, darumb das er den
Künig Josore bestreute, und do half im Oggier und ertötet den Künig
Josore vor der statt Laon*). Und do er ledig wart do zoch er wider
die Iheiden wan er het in der gefencknuss gelobt und unserm hetren
got verheissen, umrd er ledig, er u?6lte alle uncristen lüte durchwehten,
und do Oggier anfing zu ziehen wyder die heyden und tvider die un-
Christen lüte do kam er in Künig Josores vatters lafid, den er ertötet
het, Derselhe Josores votier hiess Künig Bereiher. Und da der
horte das Oggier in syn Tjand was kamen da legt er an mit den
münchen die da templer heissen, das sy im dem Oggier verrieten und
gefangefi geben. Aber das geschähe nit und Oggier gewann das land
und damoch alU ander land die nit Christen waren. Und nannte
sich selber gottes kempffer. Wann er stryt nit umb lüt
noch umb land oder herschafft zu gewinnen. Denn
allein darumb das er möcht die menschen zu Christen-
glauben bringen. Etliche in denselben landen meinen,
Oggier lebe noch und sy an enden, do götliche lüt wonen
und solle noch herwiderkomen alle lande zu rechter or-
denunge setzen.
Das Charakteristische an dieser Qestalt des Ogier ist, dass er, wie
schon Von der Hagen treffend sagt, sich uns als ein christlicher
Alexander darstellt. Sein Zog durch das Morgenland ist ein Alexander-
zug mit der ganzen Ausstattung, die ihm das Mittelalter verliehen hat.
■ 9
1) Mekka, so auch Myrenr V. p. 122 Meck. Es scheint hier eine Vermengung
der beiden Ton Jean des Preis erw&hnten Gefangennahmen Tonsuliegen, III. p. 267 ff.
dorch Torpin und III. p. 340 durch Isoreit mit Hilfe der Templer.
2) Der Heidenkönig, der bei Laon von Ogier beeiegt wird, ist im Myrenr (III.
p. 280 ff.) nicht Josore, sondern Brehier, entsprechend der ChoTalerie Ogier, während
Brehiera Sohn Isoreit erst bei der zweiten Gefangennahme Ogiers auftritt.
64 Alfred Bassermann
Ogier durchzieht alle jene phantastischen Länder und erfährt und besteht
die Wunder und Gefahren der Wüste, der Wildnis und des Meeres, deren
Schilderung seit Pseudo-Callisthenes und Julius Valerius wie ein üppiger
Tropenwald die Siegesbahn des hellenischen Götterjünglings dichter und
dichter umwuchert. Unter diesen Abenteuern nun ist für uns von her-
vorragender Wichtigkeit, dass Ogier, wie Alexander, zu den Bäumen
der Sonne und des Mondes kommt und dass Mandeville mit diesem
Besuch die Sage von Ogiers Wiederkunft in Zusammenhang bringt. Die
Stelle lautet, IV. cp. 1 1 :
Und gen syt ist ein wüste aool XV tagreisen vom wasser. Do
stundf ein boum ^) ihr heisset der siinnen und des mones bäum als
man mir saget. Darzu mag nieman hörnen. Den thuf priester Johan
mit pf äffen verhütten, die werden hy -fier oder fünffliundert joren alt,
wan des Baumes krafft gibt lang leben , und treit baisam , und
wachsset auch in aller Welt kein baisam dann do und zu Babüonia ....
Man saget auch in den selben landen das Oggier by
den selben boumen were und sich spyset mit dem baisam
und do von lebte er so lang, und meinen er lebe noch
und solle har wider zu inen komen.
Das irdische Paradies, zu dem der Myreur (III. p. 67) Ogier gleich-
falls gelangen lässt, finden wir bei Mandeville (IV. cp. 13) nur mit
Alexander in Verbindung gebracht. Dafür bietet Mandeville hier eine
bemerkenswerte Angabe über die Säule des Alexander:
Und man meinet auch das, das der grosse Alexander also nahe
zu dem paradise kommen sey, das er die muren gar wol gesehen habe,
aber er kerne nicht in das paradise. Doch so satzt er syn zeychen
dahyn als fer er kommen was, Geleiche als Hercules thet uff dem
hyspanier möre gegen der sunneti undergang. Das zeichen das Ale-
xander sats gegen der sunnen uffgang by dem paradise das heisset
Alexanders gades, und das andere heisset hercules gades*). Und das
sint grosse steine si'den die stöndt uff höhen bergeti zu einer eivigen
1) Die von Zarncke (II. p. 153) wiedergegebene Handschrift hat hier rich-
tiger den Plural entsprechend dem Aristotelesbrief, ebenso Jean des Preis (III.
p. 67), der sagt: Et puia sont venua atix deux arbres que ons dist de la lune et
de 8oUal, qui parlont ä Alixandre de Machidoine; de leur fruiet mangnat Ogier
(useis et del saincte balme aussy.
2) Hier sind also die Säulen des Herkules, die die Alexandersage im fernsten
Osten annimmt, zwar an ihre klassische SteUe versetzt, erscheinen aber doch noch
im Zusammenhang mit den Säulen Alexanders.
Veltro, Gross-Chan und Kaisersag)? g5
hezeichnung oder hedeutunge das niemant füre dieselben siilm hyn
amskommen sol.
Dies gleiche Verbot haben wir aber oben in jener Legende, die den
Baum des Seth mit der arbor sicca identisch erklärt, mit diesem Banm
verbunden gesehen (prohibens eos ne arborem transmearent), was
wieder auf eine Verschmelzung des Baumes mit der Säule in der
späteren Vorstellung hinweist. Und andererseits finden wir auch die
Bäume der Sonne und des Mondes, zu denen Ogier kommt, ebenso in
dem Gebiet des Priesters Johannes wie die arbor sicca der Legende,
während der aus Alexanders Brief an Aristoteles herstammende Zug, dass
die Bäume gehütet werden, auch bei dem dürren Baum der Kaisersage
wiederkehrt *).
Auf diesem Alexander-Zug, der bis an den äussersten Grenzpfahl
der Erde führt, sehen wir nun Ogier in dem Mass, wie er ein Reich
nach dem anderen erobert, jeweils aus der Zahl seiner Begleiter neue
Könige einsetzen, sodass zum Schluss in allen Ländern, die er durch-
zogen hat, neue christliche Dynastien von Ogiers Gnaden herrschen. Die
wichtigsten unter diesen und für uns von besonderer Bedeutung sind der
Priester Johannes und der Gross-Ghan. Beide Gestalten spielen
auch sonst in der Vorstellung des mittelalterlichen Abendlandes eine
grosse Rolle und zwar der Art, dass sie nicht nur die Phantasie der
Dichter und Geschichten-Erzähler beschäftigten, sondern auch in die
Erwägungen der Politiker als beträchtliche Faktoren Eingang fanden *).
Über das Wesen der Beiden herrschte die grösste Unklarheit und
Schwankung in der mittelalterlichen Auffassung. Bald werden die beiden
Namen als die von bestimmten einzelnen Personen aufgefasst, bald als
typische Bezeichnungen, als Herrschertitel. Bald erscheinen beide un-
abhängig von einander, Priester Johannes als der Herr von Indien, der
Chan als derjenige der nördlicher gelegenen Länder von China bis
Vorder-Asien. Bald treten sie in Gegensatz zu einander: der Chan
überwindet den Priester Jobannes und tritt Kraft des Rechts der Er-
oberung an seine Stelle; oder aber der Priester Johannes erscheint als
1) S im rock, Yolksbacher, Kaiser Friedrich, genannt Barbarossa, II. p. 239.
, welebes Baumes aMe Sultane noch fleissig hüten lassen. Das ist wahr,
dass des Baums gehütet wird, und sind Hüter dazu gestiftet; welcher Kaiser aber
seinen Schild daran hängen soll, das weiss Gott.
2) Ausser Zarncke I.e. cf. auch d'Avezac, Vorrede zu Johannes de Piano
Carpini in Recueil de Voyages et de M^moires IV. p. 547 if. — d'Ohsson, Histoire
des Mongols I. p. 62 Anin. 1. — Pauthicr, Marco Polo 1. p. 176. — Yule, Cathay
p.CXXlI, 146 f., 174 ff.
NKUE HKIDRLB. JAHRRIIRCHKK XI. ^
66 Alfred I3as9eiinann
der Vorfahre des Chan, \mä dieser übernimmt als Erbe zugleich die
Macht und den Titel des Priesters Johannes. Immer aber sieht das
Abendland in den beiden Gestalten machtvolle Bundesgenossen, die von
Osten gegen die Sarazenen heranziehend den Kreuzbeeren im Kampf
um das heilige Land Luft machen. Dabei werden sie entweder geradezu
für Christen gehalten oder doch als Freunde des Christentums betrachtet,
deren Bekehrung zum rechten Olauben zu erwarten stehe.
Im deutschen Mandeville wird nun diese Mischung noch bunter
und die Beziehung zum Abendland zugleich noch enger, indem aus dem
Myreur^) der Zug herübergenommen wird, dass der Priester Johannes
und der Gross-Chan ursprünglich auch zwei von Ogier zu Königen ein-
gesetzte Genossen seiner Fahrt sind, die zwei mächtige Dynastien
gründen.
Buch IV. cp. 4 wird darüber folgendermassen berichtet:
Und da man zalt von goties gehurt achtlmndcrt und sechzehn
jarCf da soch Oggier von Denmarken in dieselben latide und gewan
Kalhaia und Indien und die landt mit einander' an derselben gegne, und
was er getran das gab ei' synen f runden und denen die im gehx>rsame
dienste iheten. Und' alle die haben sythar das la^idt ingeh<hU Also
isl der adel und die hefTsrhaft ye von einem an den andern kommen.
Bier ist zu merJcen, wie der nnm Priester Johan uffkomcn ist
des ei'sten. Oggier der h>et ein frnnd der hicss Künig Godebueh von
Friessland, der het einen sün der hiess Johannes. Derselbe Johannes
der lag alle ,zf/t in der kirchen und bettet vil und was gar andechtig
und fhet auch viel gutter priesterliche werck. Und darumh das er
also geistlich und als vil in der Mrchen was, da was er ander letitcn
ein spot^ und da gäbe man ihm den namen prieste)* Johan. Nun fugt
es sich das dei*selbe Johannes gar ein manlich that begi^mge dai'umb
im syn vetter Oggier hold und geneigt ward und im die land, die er
gewonnen hette, befalch und schied Oggier von den landen und behielt
* priester Johan die selben land und beliebe im auch der namc den
auch alle syne nachkommen noch heut d^s tages haut und also ward
der spot zu einem ei-nst Das hab ich gelesen in den selben landefi in
den a'önicken die da ligoit in derselben stat Nyse in unser frairen
münster, und ich glaub nit änderst dan das der name daselbst har
sy kotnmefi. Aber etliche sagen e^ were eins malcs vor zyten ein fru-
mer Kimig von indien dem fiel in den syn er wolle die Christenheit
1) III. p. 52, r>3, HG.
Vehro, Gross-Chan und Kaiser^a^e 67
besdien etc., wobei er dann durch den Anblick christlichen Oottesdienstes
bestimmt wird, Christ zu werden und den Namen Priester Johannes
anzunehmen. Doch glaub ich das erste bas trau ich hab es in den
hüchern gelesen *).
Dass der Gross-Ghan von Ogier sein Geschlecht herleitet, wfkrd bei
Schilderung seines Hofhaltes erwähnt (III. cp. 2) :
Und alles volck das m tisch dienet das redet nitt ee das der Can
viit im redet on allein die farenden leut die gedieht machen oder niitre
mere bringen oder nütce spijl machen und was sy von got oder von
heyliger Int wunder und alten historien, von Oggiers strytten sagen,
das hört er gern, Wan er meint er sy von Oggiers gcschlrcht
kommen, und alle land seyn von Oggier an in rüren.
Im Übrigen sind Priester Johannes sowohl wie der Chan bei Mande-
ville mit den gleichen Eigenschaften ausgestattet, die ihnen auch sonst
im Mittelalter beigelegt wurden. Priester Johannes ist der vollkommen
christliche Priester-Ffirst , begabt mit Frömmigkeit und Herrscher-
tugenden, voll Macht und Majestät, in der schimmernden Pracht seiner
fabelhaften Schätze, so wie er in jenem überladenen Pbantasiestück seines
Briefes an Kaiser Emanuel den kindlichen Gemütern des Mittelalters ge^
schildert wurde und den unersättlichen Hörern in immer neuen Bearbei-
tungen und Ausschmückungen wiederholt werden konnte : Si potes dinu-
merare Stellas caeli et harenam maris, dinumera et dominium nostrum
et potestatem nostram *). Der Gross-Chan weist die Züge auf, mit denen
auch Marco Polo, Haithon, Johannes de Piano Carpini und Andere ihn
schildern. Er ist der mächtige Herrscher eines unermesslichen Beiches,
ein Freund der Christen, wenn auch selbst ein Heide und in allen
Stücken ein weiser und glücklicher Regent. Es ist ^as Bild, wie ich
es bereits in dem Excurs zu meiner Inferno-Übersetzung entworfen habe.
Doch treten einzelne Züge noch schärfer hervor.
Im II. Buch cp. 11 heisst es am Schluss:
Item der Künig von Jana i*it also mechtig das er dick hat gc'
kriegt mit dem herren der do heisset der grosse hundt, den man
gewonlich nennet Can^ also wil ich in auch nennest hie nodi in dysem
buch durch kürtzung willen. Der Can ist der öberst und der mech-
1) Die erat« Nameoserkl&rung schUesst sich eng an den Myrear III. p. 52 n. 6G
an. Über die Abweichung des englischen und franzJVsischen Textes, der nur die
zweite Erklftning enthält, cf. Zarncke 11. p. 132 ff.
2) Schluss des Briefes, cf. Zarncke I. p. 924.
b*
68 ' Alfred Bassermann
tif/est Keiser den die sunne vbersclmnd. Er meynet auch es »y kein
ander herre dan er, und got sy heisre im hytiiel und er uff der erden.
Doch hat in der Kimiy von Jana etwan übt^^unden.
Die Stelle beweist ausser der Schätzung der Macht des Chan, dass
die in dem Namen liegende Nebenbedeutung Hund dem Mittelalter
wohl bewusst war.
Auch der Verwendung des Filzes bei dem Volk des Chan wird
wieder Erwähnung gethan (III. cp. 5) :
An vil etulen desselbcfi lands hat das folck kein andr^' hüser dan
die vmi ^viltzen yemacIU sint die riclUeM ay uff^ uff sfangen und
wotient darundep' und- fiirent sy mit in an die ende da man ir not-
türfftig ist zu reisen oder zu anderen Sachen, yelieh als man hie thnt
mit dem yezelten^). Und tviewol das der grosse Can synen
ersten ursprunck gehebt hat von dem Jand und auch da
von geborn ist, so ist er doch selten da, mm e^ ist ein bössrs
land, tjr wonet gewoiUichen in Kathay da.s ist ein gut land.
Bemerkenswert ist ferner die Wendung, mit der Mandeville auf
den Gebrauch des Papier- und Ledergeldes beim Gross-Ghan zu sprechen
kommt (III. cp. 7) :
Die Can achten nit vil uff goldt silber oder edel
g est ein. Ks sy dan das sy es in ander landt senden oder frenibdm
gesten scJ^nckeu tvöllcn, Buw und palast zieren iröllen oder ir soldner
damit atissrichtsn, oder umb knuffmanschafz venvechselen, Darumh ist
kein mimtz in iren landen von gold oder silber. Aber sy hand ein
zeicJmi mit ir geschrifft, das seldechi man uff leder. So aber leder
fheUr ist so schlecht man es uff bappyr als hie uff gold oder silber.
Und in der bestimmtesten Weise wird dem Gross-Chan die Be-
deutung eines Weltherrschers zuerkannt, wenn im Anschluss an die Be-
nifung des Cangius zum Kaiser über die sieben Tartarenstämme, die
mit dem Traumgesicht des weissen Reiters getreu nach Haithon erzählt
ist, seine Eroberungen mit den Worten charakterisiert werden (III. cp. 4) :
Also hub er an zu stritten und die land an sich ziehen als vor
zytten der gross Alexander, die Römer und Oggier.
1) cf. Johannes de Piano Carpini cp. II § IV (Recuell de Voyages et de
memoires IV. p. 616) : StatUmes hahent rotundas in modum tentorii praepareUas,
de virgia et baculis subtüibus factas, Supra vero in media rotundam habent fe-
nestram unde lumen ingreditur, et ut passit fumus exirei quia »emper in media
ignem faeiunt Parietes aulem et tecta filtro sunt coaperta: astia etiam de filtro
sunt facta et quocunque vadunt, sive ad bellum sive alias, semper
iüas deferunt secum.
Veltro, Gross-Chan iind Kaisersage 69
Immer wieder finden wir eine Mischung der verschiedenartigsten
Elemente. Aber gerade die Art, wie sie darcbeinandergähren, fährt uns
recht vor Augen, wie phantastisch und nebelhaft und doch zugleich be-
ruckend und gewaltig das Bild war, das die abendländische Christenheit
von jenem Herrscher des Ostens sich geschaffen hatte.
Wenn wir nun Halt machen und den langen Weg zurückblicken
nach der Stelle des Johannes von Hildesheim, von der wir ausgegangen
sind, so glaube ich, dass der innerste Zusammenhang jener Sage, der
Gross-Chan der Tartaren habe seinen Schild an dem
dürren Baum im Tempel 2uThauris aufgehängt und sich
damit der Weltherrschaft versichert, nun deutlich vor uns
liegt. Dieser Gross-Chan ist nicht der Schrecken des Abendlandes, wie
er sich dem späteren Blicke darstellt, sondern der mit allem Zauber des
Geheimnisvollen umwobene Herrscher des Ostens, von dem die Christen-
heit die entscheidende Hülfe im Kampf gegen die Ungläubigen erhofft,
der für die träumende Phantasie geradezu zu dem für das Ende der
Tage prophezeiten mystischen Weltherrscher emporwächst. Denn als
dieser bekundet er' sich durch die symbolische Handlung, dass er seinen
Schild am dürren Baum aufhängt. Die Brücke aber zwischen dem
Gross-Chan und dem letzten Kaiser schlägt die Alexander-Sage und die
Ogier-Sage. Die Alexander-Sage enthüllt uns, dass die tiefsten Gedanken
der Kaisersage weit über diese hinaufreichen und verweist das Haupt>
motiv, dass die Si^eslaufbahn des Welteroberers an den Wunderbäumen
ihre tragisch gestimmte Vollendung und Besiegelung findet, in den
fernsten Osten des Erdkreises. Die Bäume weissagen dem Alexander
die Weltherrschaft und einen frühen Tod und legen damit in uns schon
den verborgenen Keim des Gedankens, dass der Held, der sein Leben
nicht ausgelebt habe, auch nicht unwiederbringlich gestorben sein könne.
In der Ogier-Sage sodann vereinigen sich alle wesentlichen Elemente
der christlichen Kaisersage und der Alexandersage. Auf der einen Seite
ist Ogier vollkommen der Kaiser der Kaisersage, der Gotteskämpter —
messo di DiOj ist man versucht zu sagen —, in dessen Hand das Heil
der Christenheit liegt, der eine Zeit im Verborgenen lebt, um, wenn die
Not am höchsten gestiegen ist, als Ketter zurückzukehren. Auch seine
erbitterte Fehde mit König Karl entspricht ganz dem scharfen Gegen-
satz, in dem Kaiser Friedrich zum Lilienkaiser sich zeigt. Auf der
anderen Seite wird auch bei ihm, ebenso wie bei Alexander, das Schwer-
70 Alfred Bassermann
gewicht der ganzen Sage nach dem Osten verlegt; die gleichen Er-
oberungszüge führen zu dem gleichen Ziele, den Wünderbäumen ; er ist
ein christlicher Alexander, nur einer, der nicht stirbt, der im fernen Osten
geheimnisvoll weiterlebt und dereinstens sieghaft wiederkommen wir^.
Mit Ogier wird dann die Qestalt des Gross-Chans in Verbindung ge-
bracht, der sein Geschlecht und seine Herrschaft von ihm herleiten soll
und mit dem christlichen Priesterkönig Johannes, dem Lehnsmann
Ogiers, zu einer Person verschmilzt, und diesen Gross-Chan sehen wir
schliesslich, siegreich von Osten nach Westen gewendet, seinen Schild
gleich dem Kaiser der Kaisersage an dem dürren Baum zum Zeichen
der Weltherrschaft aufhängen.
Wenn wir aber diese Ideen zu Dantes Zeit lebendig, sehen — und
wenn Johannes von Hildesheim und Jean des Preis und Jean de Bour-
goigne auch erst fünfzig Jahre nach Dantes Tod geschrieben haben, so
schöpfen sie doch alle ans schon vorhandenen Quellen und liefern gerade
das Zeugnis dafür, dass diese Ideen schon früher bestanden haben — ,
so scheint es mir unabweisbar, aus ihnen heraus, im Zusammenhang
mit den in meinem früheren Deutungsversuch beigebrachten Gründen,
in jenem geheimnisvollen allmächtigen Herrscher, der sich den «gro ssen
Hund* nannte, der auf einem Teppich von Filz zum Kaiser erhoben
wurde, der in einem Lande mit Hütten von Filz „seinen Ursprung
Unite und geboren wnrde'^ — e i<ua nazion sarä tru feltro e
feltro, — der Gold, Silber und Edelgestein ^^nit viel achtet
— questi non ciberä terra nk peltro — und der durch das Auf-
hängen des Schildes dem Kaiser der Kaisersage gleichgestellt
wird, das Vorbild des Dante'schen Windhunds zu erblicken,
auf den diese Schilderung zum Teil fast wörtlich passt, dem der Dichter
die gleiche geheimnisvolle Erwartung voraufgehen lässt und dem er die
gleichen Aufgaben zuweist, wie seine Zeit jenem Weltkaiser.
Während so unsere Stelle aus Johannes von Hildesheim die Deutung
des Veltro auf den Gross-Chan bestätigt, trägt sie andererseits auch
dazu bei, den Zusammenhang des von Dante erwarteten Retters mit
dem Kaiser der Kaisersage schärfer ins Licht zu rücken *). Der Veltro
kann nicht anders als auf den Weltkaiser gedeutet werden, und ausser-
dem erweist er sich mit dem Dux des irdischen < Paradieses un-
trennbar verbunden. Beide, Veltro und Dux, geben nur verschiedene
1) Auch Kraus, Dante p. 475 u. 735 weist auf den Zusammenhang der Eaiser-
sage mit der Veltro-Idee hin, kann sieb aber nicht entschliessen, daraus die volle
Konsequenz zu ziehen. Entschiedener Qrauert, bist. Jahrb. 1896 p. 815 ff.
Veltro, Gross-Chan und Kaisersage 71
Bilder der gleichen , Gestalt, Beide betonen nur verschiedene Eigenschaften,
verschiedene Aufgaben, die insgesammt dem einen letzten Kaiser zuge-
wiesen wurden. Die Stelle vom Veltro kehrt mehr die allgemein
menschliche Seite des Betters hervor: er soll die WOlfin der Habgier
in die Hölle zurückjagen, er soll, aus schlichten Verhältnissen hervor-
gegangen, nicht nach irdischem Besitz trachten und in Weisheit, Liebe
und Tugend seines Amtes walten. Es sind dies die sozialen, wirtschaft-
lichen Ansprüche, deren Erfüllung die Kaisersage von ihrem Kaiser
erwartet, wenn sie von ihm weissagt, er werde die gute Zeit, gute jar
wieder heraufführen, in dem Gewand der Armut auftreten und der
Helfer der Witwen und Waisen und des kleinen Mannes sein. Die
Prophezeihung von Dnx hat dagegen mehr die politischen Aufgaben des
Ketters zum Gegenstand : anciderä la fuja Con quel gigante che con
lei delinque. La fuja ist anerkanntermassen die Kirche in ihrer Ver-
derbtheit und der Biese der König von Frankreich, der mit ihr im
Bunde steht. Wir haben aber gesehen, dass die Züchtigung der frevel-
haften Pfaffen und die Niederwerfung des französischen Königs die zwei
heissesten Hoffnungen sind, denen das Ghibellinentum in der Kaisersage
Worte leiht. Veltro und Dux sind also nicht zwei ver-
schiedene Gestalten der Dante'schen Apokalypse, son-
dern eine einzige, der alleinige Träger seiner Hoff-
nungen und zwar der gleiche Better, den die Volksphan-
tasie in dem*Kaiser der Kaisersage ersehnte.
Diese Erkenntnis führt uns aber noch einen Schritt weiter und zeigt
uns unweigerlich, dass noch ein anderes Element der Kaisersage in
Dantes Vision Eingang gefunden hat: der albero mistico ist
seiner Herkunft nach offenbar nichts anderes als der
dürre Baum der Kaisersage^).
Als Beatrice mit dem Triumphzug der Kirche zu dem Baum in-
mitten des Paradieseswaldes gekommen ist, heisst es (Prg. 32, 37):
Jo sentit mormorare a tutti: „Adatno!^^
Pol cemhiaro una inanta dispogliata
Di fiori e d'altra fronda in ciascun ramo.
La coma sua^ che tanto si dilata
Piü quanto piii i su, fora dagVIndi
Nei boschi lor per altezza ammirata,
1) Mussafia hat am Schluss seines Aufsatses Sulla leggenda del legno della
Croce (Sitzungsberichte der k. Akademie der Wissenscbafteo, philos.-histor. Klasse,
Wien 1869, Bd. 63 p. 196) den Gedanken gestreift, ebenso Yule, Marco Polo I. p. 125.
72 Alfred Bassermaan
Bei der Deutung des Baumes hat es immer Schwierigkeiteo ge-
macht, dass er in erster Linie offenbar der alte Baum der Erkenntnis
ist, wahrend sich im weiteren Verlauf die zwingende Notwendigkeit
ergiebt, ihn als das Symbol des römischen Reiches und des Kaisertums
aufzufassen^). Wie Dante zu diesem Doppelsinn kommen konnte, wird
verständlich, wenn wir uns erinnern, dass schon in der Sage, die ihm
das Motiv des Baumes gab, die beiden Elemente gemischt sind. Soweit
der albero mistico sich als Erkenntnisbaum darstellt, kehrt er eben
die Bestandteile hervor, die er vom Baum des Seth und von der Legende
des Kreuzesholzes überkommen hat ^. Als Symbol des römischen Reichs
und des Kaisertums geht er dagegen auf die Sonnen- und Mondbäume
„in den fernsten Wäldern der Inder^') zurück, die dem Alexander die
Weltherrschaft verheissen. Doch während in der ausgebildeten Kaiser-
sage das religiöse Element durch das politische in den Hintergrund
gedrängt wird und der Kaiser nicht mehr — vor einem Höheren zurück-
tretend — die Reichsinsignien an dem Kreuzesstamm niederlegt, sondern
seinen Schild als Siegeszeichen an dem Stamm aufhängt, dessen Besitz
die Herrschaft der Welt bedeutet, hält Dante an dem doppelten Cha-
rakter des Baumes fest, und während derselbe im ganzen Verlauf der
Vision das römische Reich zu vertreten hat, so tritt doch entschieden
die Idee des Erkenntnisbaumes in den Vordergrund, wenn das Neu-
erblühen des Baumes nicht durch das Aufhängen des Kaiserschildes
bewirkt wird, sondern dadurch, dass der Greif (= ChrisUis) das Deichsel-
holz des Kirchenwagens (= das Kreuz) wieder an den Baum fügt
(Prg. 32, 49) :
E volto al tefno cWegli avea tiratOj
Trasselo al pie della vedova frasca;
E quel di lei a lei lasciö legato^
ein Symbol, hinter dem dann allerdings der weitere Sinn sich birgt, dass
der päpstliche römische Stuhl (= die Deichsel) durch Christus an das
1) Scartazzini, com. Lips. II. p. 730ff. bes. p. 732. — Philalethes II.
p. 321. — Döllinger, Akad. VortrSge, NOrdlingen 1888 I. p. 88.
2) So erzählt Francesco da Buti (Pisa 1858—62) II. p. 785 bei ihm aus-
führlich die Geschichte von Seth und dem Öi der Barmherzigkeit.
3) Man wird deshalb auch in Dante's Hinweis auf die Wälder der Inder iu
der oben angeführten Stelle nicht sowohl einen Anklang anVirgils Georg. II, 122 fr.,
worauf gewöhnlich verwiesen wird, als vielmehr an den Aristotelesbrief (1. c. p. 205 ff.)
zu erblicken haben. Eine auffallende Ähnlichkeit besteht auch zwischen der Schilde-
rung der divina foresta (Prg. 28, 1—21) und dem Paradies des Priesters Johannes
mit dem Baum des Seth (cf. oben p. 50).
Veltro, Gross-Chan und Kusersage 73
römische Kaiäertam gebunden wird und diesem dadurch Segen bringt.
Dante hat eben mit dieser Sage auch den Absichten seiner Dichtung
entsprechend frei geschaltet, wie wir ihn es mit vielen anderen über-
kommenen Vorstellungen seiner Zeit ebenfalls thun sehen. Aber die
Wurzel zu seinem Paradiesesbaum liegt unstreitig in der Kaisersage.
Schliesslich haben wir noch des spezifisch 'germanischen Ele-
ments in der Kaisersage zu gedenken, an das auch eine Anzahl
von Zügen der Dante'schen Vision seltsam anklingen. Die Entscheidungs-
schlacht, die der Kaiser am Ende der Tage auf der Walstatt am dürren
Baum zu bestehen hat, ist bekanntlich, und mit guten Gründen, mit
der nordischen Götterdämmerung in Verbindung gebracht worden^).
Der entrückte und wiederkehrende Kaiser ist der Wanderer Wodan,
der dürre Baum, der nach dem Sieg neu ergrünt, die Weltesche
Yggdrasil, die, vom Brand der Götterdämmerung verdorrt, bei der
Wiedergeburt der Welt von Neuem ausschlägt. Auf dieser Weltesche
horstet aber nun nach dem germanischen Mythus ein Adler, und unter
ihren Wurzeln lagert der Lindwurm Nidhöggr') und das Gleiche
finden wir bei Dantes Paradiesesbaum, wenn der Adler zweimal aus
seiner Krone niederfährt und wenn sich am Fuss des Baumes die Erde
öffnet und der Drache heraufsteigt (Prg. 32, 112, 124 und 130) ').
Ebenso erinnert es an germanische Vorstellungen, wenn der Hauptfeind,
den der Veltro zu bekämpfen hat, unter dem Bild der Wölfin er-
scheint (Inf. ly 101 und Prg. 20, 15), gleichwie der Fenrirwolf bei
der Götterdämmerung der Gegner Wodans ist^).
Durch die Persönlichkeit wie durch die Dichtung Dantes geht ein
starker germanischer Zug, der uns gemahnt, dass die Sonne Italiens zu
seiner Zeit aus dem Blut der Aldigherii noch nicht ausgetilgt hatte,
was deren Ahnherr, der wohl als deutscher Gefolgsmann eines Kaisers
über die Alpen gezogen war, von nordischem Wesen mitgebracht hatte ^).
Mag sein, dass die Frau, die in Dantes Erinnerung steht, wie sie
.... iraendo alla rocca la chioma
Favoleggiava con la sua famiglia
Dei Troiani, di Fiesole e di Homa, (Par. 15, 124)
1) Grimml. c. II p. 798ff. — Fulda I.e. p. 20, 28 f., 38 f.— Schröder I.e.
p. 45 if.
2) Grimm 1. c. II, p. 664 f., III. p. 237 f.
3) Bei dem Fuchs, der zusammen mit Adler und Drachen am Fuss des Baumes
genannt wird, Hesse sich auch an das Eichhorn Ratatösker denken, das Zwietracht
stiftend zwischen Adler und Schlange der Weltesche hin und her läuft (Grimm 1. c).
4) Grimm 1. c. II. p. 608.
5) Kraus l c. p. 25. — Carducci, Topera di Dante, Bologna 1888 p. 46f.
74 Alfred Bassermann
auch ooch Märchen zu erzählen wusste, die in dem Lande der Weltescbe
und der Götterdämmerung ihre Heimat hatten.
Die Parallele zwischen der Kaisersage und dem nordischen Mythus
drängt sich unwillkürlich auf, und sie wird noch zwingender durch den
Zug der Bergentrückung, den wir namentlich in späteren Fassungen der
Sage finden und der sie an einzelnen Orten wenigstens an unzweifelhafte
Wodansberge anknüpft^). Dem ist aber dann der gewichtige Einwand
entgegengehalten worden, dass die ersten Spuren des dürren
Baumes unfraglich nach dem Morgenlande weisen'), und
unsere Untersuchungen haben uns ja über Palästina und Marnbre hinaus
noch viel weiter nach Osten geführt, bis in das fernste Indien, bis zu
den Trophäen des Liber und des Hercules und bis zu den Bäumen der
Sonne und des Mondes. Könnte nicht aber vielleicht dort auch die
Lösung des Widerspruchs zu finden sein, könnten wir nicht dort in der
Wiege der Menschheit auch die Wiege dieser Sage haben? Im tiefsten
Grund gefasst ist es ja doch eine Ursage, der Kampf des Lichts
mit der Finsternis, die zeitweilige Verdrängung, Überwältigung des
Lichts durch die bösen Gewalten, die Ahnung von seiner geheimnis-
vollen Fortdauer und seine siegreiche lebenerneuende Wiederkunft.
Schon der Name der Sonnen- und Mondbäume deutet auf den kos-
mischen Charakter der Sage, noch mehr, wenn von ihnen er-
zählt wird, qtiod in eclipsi solis et lunae veluti tiberrimis lacrimis
sacrae arbores cmnmoveantur de deorum suorum statu timenf-es
(Aristot. Brief p. 212). Auch die Trophäen des Liber und des Her-
cules weisen denselben Weg: der Gott wie der Halbgott sind Personi-
fikationen der stets ringenden und immer wieder siegenden Sonnenkraft.
Und Alexander ist ahnungsvoll in die gleichen Fussstapfen getreten, als
er sich zum Sohn des Sonnengottes Ammon erklären liess. Auf die
gleiche GriAididee geht der nordische Mythus zurück, und Kampf,
siegreicher Kampf des Lichtes mit der Finsternis ist auch der innerste
Kern des christlichen jüngsten Gerichtes. So mag denn auch der Baum,
der als dem Licht geweiht in den drei Mythen wiederkehrt, auf die
gemeinsame Quelle zurückgehen, aus der die drei geflossen sind').
Vielfach werden in der Volksseele die grossen Gedankengänge sich
wiederholen. Sie kann von den gleichen Schauern der Nacht und
1) Grimm 1. c. IL p. 795 flF. — Fulda 1. c. p. 25 ff.
2) Haussner, Progr. p. 23 u. 41.
3) cf. Grimm 1. c. II. p. 667, wo auch eine Verwandtschaft der Weltesche mit
den Säulen des Hercules vermutet wird.
Veltro, Gross-Chan und Kaisersage 75
der 'Sehnsucht nach dem Licht erfasst werden, wenn sie Sommer und
Winter, Entstehen und Vergehen in der Natur erlebt; wenn sie Ver-
suchung und Sünde und Busse und Erlösung in sich selbst durchmacht;
wenn sie eine Heldengestalt, in der sie sich selbst verkörpert, mit den
feindlichen Mächten kämpfen und ihnen erliegen sieht und die Sehnsucht
nach der Glückseligkeit im Herzen behält, die jener Heros angestrebt
hat. Das Gleichartige aber zieht sich an, und wenn nach tausend
Jahren die Menschheit diesen gewaltigen W^iderstreit wieder einmal er-
lebt, so wird dieses neue Erlebnis mit der Erinnerung des früheren —
sei es nun ein ureigenes oder fremd überkommenes — zu einem einzigen
Gebilde von Vorstellungen zusammenschmelzen. Und so kann sich über
die alte Sonnensage des Ostens die nordische Götterdämmerung legen
und das Weltende der Christen, und den Seligkeit und Gesittung spen-
denden Triumphzug des Gottes, um dessen Mund doch immer die Trauer
wohnt, kann das Volk wiederfinden in den Thaten des göttergleichen
Heldenjünglings, dem die Herrschaft der Welt beschieden war und eine
kurze Spanne Daseins. Die Erinnerung kann noch einmal aufleben,
wenn ein glänzender Herrscher des Reiches Herrlichkeit gegen die feind-
lichen Gewalten in grandiosem Kampfe hochhält und sie jählings mit
sich hinab nimmt in sein frühes Grab. Und all die Glücks-Sehn-
sucht kann sich schliesslich zusammenfassen in der Erwartung eines ge-
waltigen Helden, der von Osten heraufziehen soll, sieghaft und segen-
spendend wie das Urbild der ganzen Sage, die Sonne. So hat sich Schichte
auf Schichte gelegt, und sie alle sind zusammengewachsen zu dem einen
gewaltigen Gebilde der Kaisersage, der geheimnisvollsten und vieldeu-
tigsten Sage des Mittelalters. Was Wunder, dass wir sie als einen
Hauptfaktor wiederfinden in dem Gedicht, das so vieldeutig ist wie kein
zweites, und zwar als Kern seines berühmtesten Geheimnisses, des Rätsels
vom Veltro.
Willy Ktihne.
Von
Th. Leter.**)
Hochgeehrte Versammlung!
Sechzehn Monate sind dahingegangen, seit uns Willy Kühne durch
den Tod entrissen wurde, seit wir den Verlust des bahnbrechenden
Forschers und hochverdienten akademischen Lehrers zu beklagen haben,
der eine der ersten Zierden unserer Hochschule gewesen ist.
Sein Name wird in der Wissenschaft fortleben und sein Gedächt-
nis in zahllosen dankbaren Herzen lebendig bleiben. Darum hat auch
der Gedanke, dem teuren Entschlafenen ein seiner würdiges Denkmal
zu setzen, in den weitesten Kreisen freudigen Anklang gefunden. Freunde,
Anhänger und Schüler, nicht nur in Deutschland, sondern auch im Aus-
lande, haben sich in grosser Zahl zur Ausführung dieses Gedankens ver-
einigt. Ein hervorragender Künstler hat es übernommen, Kühne's Bild-
nis in Erz zu formen; er hat ein Kunstwerk geschaffen, welches die
geliebten Züge in edler Auffassung wiedergibt und der Nachwelt über-
liefern wird.
Heute sind wir nun hier an der Stätte zusammengekommen, wo
Kühne so viele Jahre hindurch gelebt und gewirkt hat, um dieses Denk-
mal zu enthüllen, welches der Dankbarkeit und Verehrung für ihn einen
bleibenden Ausdruck geben soll. Auch die zahlreiche Beteiligung,
welche unsere heutige Feier gefunden hat, spricht laut fai: das hohe
Ansehen, in welchem Kühne's Leistungen stehen, und für die treue An-
hänglichkeit, die ihm über das Grab hinaus bewahrt worden ist.
Mir, als einem seiner ältesten Freunde, ist die ehrenvolle Auf-
gabe geworden, die Gedanken und Empfindungen, welche die Stifter
dieses Denkmals beseelen, heute bei dessen Enthüllung in Worte zu
fassen. So gerne ich mich dieser Aufgabe unterzogen habe, die mir
Gelegenheit gibt, auch meinerseits zu bezeugen, wie viel ich dem ge-
*) Qedäcbtnisrede, gehalten bei der EnthQllnng seines Denkmals im physio-
logischen Institat zu Heidelberg, am 20. Oktober 1901.
Th. Leber: Willy Ktüine 77
liebten Freunde verdanke, der mir schon früh auf dem Weg der Forsch-
ung ein Vorbild nnd ein Führer war und der mir seine Freundschaft
in allen Wechseln des Lebens stets unverändert bewahrt hat, so sehr
muss ich um Nachsicht bitten, wenn es mir nicht gelingen sollte, dieser
Aufgabe, so wie ich es wünsche, gerecht zn werden. Die berufensten
Fachgenossen haben schon Kühne's Lebenswerk in warm empfundenen
Nachrufen gewürdigt und uns auch seine Persönlichkeit in lebendigem
und fein nuanciertem Bilde geschildert, so dass ich fürchten muss, in
Form und Inhalt dahinter zurückzubleiben. — Es würde nicht im Sinne
des Entschlafenen sein, wenn ich seine wissenschaftlichen Leistungen in
längerer Bede und in allen Einzelheiten darlegen wollte. Ich will mich
darauf beschränken, indem ich seinem Entwickelungsgange zu folgen
versuche, aus der reichen Fülle seiner Arbeiten das Wichtigste hervor-
zuheben, um auch Denjenigen von Ihnen, welche seinem Fache femer
stehen, von seiner Stellung in der Wissenschaft und von der Bedeu-
tung seiner Entdeckungen eine Vorstellung zu geben. — Seine edle
nnd liebenswürdige Persönlichkeit steht Ihnen Allen noch so lebhaft
vor der Seele, dass es einer eingehenden Charakterisierung derselben
wahrlich nicht bedarf. Auch empfinde ich lebhaft, wie sehr die künst-
lerische Begabung zu solcher Schilderung mir abgeht. Von dem Ver-
luste des zu früh dahingeschiedenen Freundes schmerzlich bewegt, ver-
mag ich dem Bilde, welches von ihm in meinem Herzen fortlebt, nur
in kurzen, schlichten Worten Ausdruck zu verleihen.
Es war von vornherein sicher, verehrte Anwesende, dass Kühne's
Denkmal nur hier in Heidelberg, an dieser Stätte seines langjährigen
Wirkens und Schaffens, aufgestellt werden könnte. Hat doch Eöhne
anserer Universität seit 1871, also fast dreissig Jahre hindurch, an-
gehört und ihr somit nicht viel weniger als die Hälfte seines ganzen
arbeitsreichen Lebens gewidmet. In Hamburg 1887 geboren und nach
seinen Neigungen und Anlagen zum Grossstädter wie geschaffen, auch
als Jüngling lange und gern in grossen Städten verkehrend, hat er sich
doch in unserer idyllischen Musenstadt rasch eingelebt und hat hier
volle Befriedigung gefunden. Hier lernte er das Glück kennen, unge-
stört durch Zerstreuungen und zeitraubende Geschäfte sich in wissen-
schaftliche Arbeit zu vertiefen und dem Ziel seines Denkens und Stre-
bens, der Erforschung der Lebensvorgänge, voll und ganz sich hinzu-
geben. Diese Befriedigung würde aber nicht so vollkommen gewesen
sein ohne das überaus glückliche und harmonische Familienleben, welches
ihm hier erblühte und das ein so stetiges und ungetrübtes war, wie es
78 'fh. I^^>er
wenigen Menschen bescbieden ist. Die Zufriedenheit mit dieser arbeits-
reichen, schaffensfreudigen Forscherthätigkeit hat ihn auch später nie-
mals verlassen, und so ist er unserer Universität trotz verlockender An-
erbietungen bis an sein Lebensende treu geblieben. Eine schwere Krank-
heit, deren Anfänge viele Jahre ^zurücklagen, hat seine Kräfte allzufrüh
gebrochen und nachdem er die Schwelle der Sechziger nur wenige Jahre
überschritten hatte, seinem Leben vor der Zeit ein Ziel gesetzt.
Kühne war ein Mann von glänzenden Geistesanlagen, die schon in
früher Jugendzeit hervortraten. Eine glückliche Unabhängigkeit seiner
äusseren Verhältnisse gestattete ihm, seiner Neigung zu naturwissen-
schaftlichen Studien ungehindert nachzugehen und sich unter der Leitung
der bedeutendsten Naturforscher und Biologen seiner Zeit für seine Lebens-
aufgabe vorzubereiten. Als 17jähriger bezog er 1854 die Universität
Göttingen, wo besonders Wöhler den tiefsten und nachhaltigsten Ein-
fluss auf ihn ausübte. In der Schule dieses hervorragenden Chemikers,
welchem zuerst die künstliche Darstellung einer von dem Tierkörper
gebildeten komplizierten organischen Verbindung, des Harnstoffs, ge-
lungen ist, begründete sich in ihm das Streben, tiefer in die chemischen
Vorgänge des Lebens einzudringen, und den Stoffwechsel des Körpers
mit exakten chemischen Methoden zu erforschen. Dem weiteren Aus-
bau einer anderen Entdeckung Wöhler's auf verwandtem Gebiete ist
schon 1857 eine Arbeit von ihm und Hallwachs gewidmet. Dieser
Arbeitsrichtung ist Kühne sein ganzes Leben hindurch treu geblieben
und ihr hat er wohl den grössten Teil seiner Erfolge verdankt.
Mit 19 Jahren, auf Grund einer Dissertation über künstlich erzeug-
ten Diabetes bei Fröschen, zum Doktor promoviert, setzte er seine
Studien zunächst in Jena fort, dann in Berlin unter Du Bois Eeymond,
welcher kurz zuvor durch bahnbrechende Arbeiten in der Nerven- und
Muskelphysiologie seinen Ruf begründet hatte. Hierauf begab er sich
zu einem mehrjährigen Aufenthalt nach Paris, wohin ihn besonders die
grossen Entdeckungen Claude Bernard*s zogen. Bei diesem vorzüglichen
Experimentator, der, wie unter anderem sein Zuckerstich, die künstliche
Erzeugung von Diabetes durch Verletzung eines ganz bestimmten Gehirn-
teils, zeigt, auch in die chemischen Vorgänge des Lebens tiefe Blicke
zu thun verstand, bat Kühne einen grossen Teil seiner Virtuosität in
der experimentellen Physiologie erworben, wie er denn auch dieses seines
Lehrers stets mit dankbarer Anhänglichkeit gedacht hat.
Schon früh bekundete Kühne seine Meisterschaft in der mikro-
skopischen Forschung. Eine glänzende Probe davon geben seine, schon
Willy Kahne 79
mit 22 Jahren begonnenen und dann eifrig fortgefuhi-ten Arbeiten über
die Endigungsweise der Nerven in den quergestreiften Muskeln. Zwar
hatten schon lange Zeit vor ihm verschiedene Beobachter für niedere
Tiere mit Bestimmtheit angegeben, dass das Ende der motorischen
Nervenfaser mit der Muskelfaser in direkte Berührung trete; diese An-
gaben konnten sich aber keinen Eingang verschaffen, weil der gleiche
Nachweis für höhere Tiere nicht gelingen wollte und weil gerade bei
Wirbeltieren die Untersuchungen zu durchaus abweichenden Annahmen
über die Endigungsweise der Muskelnerven führten. Da gelang Kühne
zuerst bei Insekten, und dann auch bei Wirbeltieren der sichere Nach-
weis, dass die Nervenfaser in das Innere des Muskelschlauches eindringt,
und einige Jahre später, in denen dieser Gegenstand inzwischen auch
von zahlreichen anderen Forschern aufgenommen und gefördert worden
war, konnte er auch die erste genauere Schilderung der Art und Weise
dieser Nervenendigung, in der sogenannten Nervenendplatte, folgen
lassen. Hierdurch war erst für die experimentell gefundene Thatsache,
dass der Reizungsvorgang von der Nervenfaser auf die Muskelfaser über-
tragen wird, ein Verständnis gewonnen.
Bald nachher hat er durch seine berühmt gewordene Beobachtung
der freien Bewegung eines mikroskopisch kleinen Würmchens, einer
Nematode, im Inneren einer Muskelfaser den Nachweis zu liefern
vermocht, dass der Inhalt des Muskelfaserschlauches eine flüssige Be-
schaffenheit besitzt, was für die noch immer ungelöste Frage vom Zu-
standekommen der Muskelkontraktion von fundamentaler Bedeutung ist.
Wohl mit durch Du Bois Reymond angeregt, aber in Fragestellung
und Ausführung durchaus selbständig und eigenartig sind Kühne's
experimentelle Untersuchungen auf dem Gebiete der Muskelphysiologie,
durch welche er die Frage, ob die Muskelfaser eine eigene, von der
Übertragung durch den Nerven unabhängige Irritabilität besitzt, welche
so lange ein Gegenstand des Streites gewesen war, in positivem Sinne
entschieden hat.
In Wien, wo er nach der Pariser Zeit einen kürzeren Aufenthalt
nahm, ist er von den dortigen hervorragenden Physiologen, Ernst Brücke
und Karl Ludwig, besonders zu dem ersteren in nähere Beziehungen
getreten.
Im Jahre 1860 hatte ihm Virchow eine Assistentenstelle am patho-
logischen Institut in Berlin übertragen, an welchem er die Leitung der
chemischen Abteilung übernahm ; hierdurch eröffnete sich ihm ein selb-
ständiger Wirkungskreis, in welchem er bald auch eine fruchtbringende
80 Th. Leber
Lehrthätigkeit entwickelte. Die nahen Beziehungen zu dem Begründer
der Cellularpathologie mussten ihn auf Probleme aus dem Gebiete der
Zellenlehre hinlenken, in deren Wahl und Bearbeitung' er aber wieder
völlig original und bahnbrechend dasteht. Man hatte durch Schieiden
und Schwann in der Zelle den Elementarorganismus des pflanzlichen
und tierischen Körpers kennen gelernt, und Virchow hatte den gros-
sen Schritt gethan, diese Erkenntnis auf die Pathologie zu über-
tragen nnd dafür fruchtbar zu machen. Kühne nahm jetzt die an
diesen Elementarorganismen sich abspielenden Lebensvorg&nge zum
Qegenstand seiner Untersuchung. Die Frucht dieser Studien ist sein
Buch über das Protoplasma und die Kontraktilität , das mit einer
staunenswerten Fülle von Beobachtungsmaterial die Kontraktilit&ts-
erscheinungen im Tier- und Pflanzenreich behandelt und die Beding-
ungen ihres Auftretens zu ergründen sucht. Charakteristischer Weise
bildet einen der wichtigsten Abschnitte desselben eine chemische
Untersuchung, der Nachweis einer spontan gerinnenden Substanz in
den Muskeln, welche auch die Ursache der Totenstarre abgibt, des von
ihm sogenannten Myosin's, eine Untersuchung, durch welche er eine
Hypothese Brücke's über die Entstehung der Totenstarre bestätigt hat.
Seine Vorlesungen über physiologische Chemie wurden von Kühne
1868 zu einem ausgezeichneten Lehrbuch ausgearbeitet, welches den
Stoif ganz von der physiologischen Seite aus auffasst und durch die
Klarheit der Darstellung und die Menge der darin niedergelegten
Beobachtungen noch heute von Wert ist.
Auf dem Gebiete der Pathologie ist Kühne trotz der durch seine
Berliner Stellung gegebenen Anregung nur ausnahmsweise als Forscher
thätig gewesen. Zu erwähnen ist hier seine Arbeit über die chemische
Natur der durch die sogenannte amyloide Degeneration der Körper-
organe entstehenden Substanz, bei deren Isolierung er sich mit Er-
folg der von ihm erfundenen Verdauungsmethode bediente. Er wusste
sich weise zu beschränken, auch liess ihm Virchow in seinen Arbei-
ten völlig freie Hand. Kühne hat Virchow die grosse Liberalität
nie vergessen, mit welcher ihm dieser die Mittel des Institutes zu seinen
besonderen Forschungen zur Verfügung stellte. So gestaltete sich seine
Abteilung mehr zu einem kleinen physiologischen Institute, in welchem
unter seiner Leitung alle möglichen, mikroskopischen, chemischen und
experimentellen Arbeiten, aber vorzugsweise nicht-pathologischen Inhaltes,
ausgeführt wurden. Mit herzgewinnender Freundlichkeit hat damals
Willy Knhne 81
Kähne auch mich als jungen Anfänger in sein Laboratorium aufgenom-
men und in seinen persönlichen Verkehr hineingezogen.
In dieser Berliner Zeit wurde Kühne der Mittelpunkt eines Kreises
jugendlicher Fachgenossen , welche in zwanglosem geselligem Vor-
kehr ihre wissenschaftlichen Ansichten und Ergebnisse austauschten
und an fremder Arbeit oft scharfe Kritik übten. Die abendlichen
Zusammenkünfte waren durch sprühenden Humor gewürzt und eine
gewisse Exklusivität hielt die Gesellschaft bei aller Formloßigkeit eng
zusammen. Viele aus diesem Kreise haben später an Universitäten
gewirkt, nicht wenige als hervorragende Forscher und Gelehrte; gar
manche weilen aber nicht mehr unter den Lebenden. Von den Heim-
gegangenen nenne ich aus Kühne's Zeit: Lücke, Radxiejewski, K. Hüter,
F. Boll, J. Cohnheim, K. Westphal, W. Preyer.
Kühne folgte schon 1868 einem Ruf an die Universität Am-
sterdam, wo er aber in den gänzlich geänderten Lebensverhältnissen
nicht heimisch wurde. Um so mehr musste er 1871 die Berufung
nach Heidelberg, als Nachfolger von Helmholtz, an die Universität,
wo damals noch Bunsen und Kirchhoff wirkten, als ein Glück em-
pfinden. Das ganz nach seinen Angaben eingerichtete physiologische
Institut wurde bald eine Stätte regster wissenschaftlicher Arbeit, zu
welcher er zahlreiche jüngere Kräfte anzuregen wüsste.
In der Heidelberger Zeit wurden zunächst die schon in Berlin be-
gonnenen Untersuchungen über die Pankreasverdauung wieder aufge-
nommen, welche ihn zur Reindarstellung des Fermentes der Bauch-
speicheldrüse, von ihm Trypsin genannt, führten und über dessen
Wirkung auf die Eiweisskörper näheren Aufschluss gaben. Für die
nngeformten Fermente wählte er den neuen Namen Enzyme, um
auch durch die Bezeichnung die fermentativ wirkenden chemischen
Substanzen von den in gleicher Weise wirksamen niederen Organismen
scharf zu trennen.
Bald mussten aber diese Untersuchungen eine Weile zurücktreten,
da die Entdeckung BolPs, dass die Netzhaut des Auges eine durch
Licht ausbleichbare rote Färbung besitzt, welche im Leben fortwäh-
rend zersetzt und wieder erneuert wird. Kühne zu einer vier Jahre
hindurch fortgesetzten Reihe bewunderungswürdiger Untersuchungen
Anlass gab, welche so recht seine Meisterschaft in der experimen-
tellen Forschung und seine Beherrschung der chemischen und physi-
kalischen Hilfsmittel darthun. Er fand, dass die rote Färbung
NEUE HEIDELB. JAHRBUECHER XI. 6
82 Th. Leber
nicht, wie Boll anfangs annahm, eine Lebenseigenschaft der Netzhaut
ist, sondern bei Abscbliiss des Lichtes nach dem Tode ebenso wie im
Leben erhalten bleibt. Er wies nach, dass sie nicht auf einem Inter-
ferenzvorgang beruht, sondern von einem roten Farbstoff, dem Seh-
purpur herrührt , dessen schwierige Trennung von den damit durch-
tränkten Gewebselementen, den Stäbchen der Netzhaut, ihm gelungen
ist; er zeigte, dass durch die Einwirkung des Lichtes auf den Seh-
purpur den Pbotographieen vergleichbare Bilder äusserer Gegenstände
auf der Netzhaut zu Stande kommen , die trotz ihrer Vergänglichkeit
sich objektiv demonstrieren lassen, die sogenannten Optogramme. Er
hat damit für die photocheroische Theorie der Lichtempfindung eine
feste Basis geschaffen. Seine Hypothese, dass die Zersetzungsprodukte
des Sehpurpurs chemisch reizend auf die Endorgane des Sehnerven in
der Netzhaut einwirken, macht es verständlich, wie das Licht eine Er-
regung des Sehnerven bewirken kann, obwohl dieser Nerv gegen die
direkte Einwirkung des Lichtes vollkommen unempfindlich ist Frei-
lich stehen der Annahme dieser Hypothese noch gewisse Bedenken ent-
gegen, weshalb Kähne selbst sie nicht als sicher erwiesen betrachtet hat.
Nach Abschluss dieser Arbeiten wendete sich Kühne wieder der
Untersuchung der durch das Trypsin erzeugten Spaltungsprodukte der
Eiweisskörper zu. Die dabei erlangten Besultate sind, abgesehen von
ihrer Wichtigkeit für die Lehre von der Verdauung, von besonderer
Bedeutung fär die schwierige Aufgabe der Zukunft, die Erforschung
der chemischen Konstitution der Eiweisskörper, welche jetzt schon
ernstlich ins Auge gefasst werden darf.
In der letzten Zeit seines arbeitsreichen Lebens hat sich Kühne
wieder mit der Kontraktilität des Protoplasmas beschäftigt und na-
mentlich deren Abhängigkeit von der Gegenwart von Sauerstoff in ein-
gehendster Weise studiert. So sehliesst sich das Ende seiner wissen-
schaftlichen Laufbahn harmonisch den fundamentalen Untersuchungen
seiner Jugendzeit an.
Zahlreiche Fragen hat Kühne zur Entscheidung .gebracht, in an-
deren einen Fortschritt angebahnt, der auf lange Zeit hinaus für wei-
tere Forschungen bestimmend sein wird. Erstaunlich ist die Menge
einzelner Thatsachen und Erfahnmgen, die er in seinen Arbeiten ange-
häuft hat, und die als sicherer Besitzstand in die Wissenschaft über-
gegangen sind. Die Zuverlässigkeit seiner Beobachtungen und die Ge-
wissenhaftigkeit seiner Untersuchung auch in nebensächlichen Einzeln-
Wfliy KOkm g3
beiten waren so gross, dass ihm Irrtumer in seiner langen wissenschaft-
lichen Laufbahn kaum vorgekommen sind. Seine Wahrheitsliebe war
auch das Motiv, das ihn an Oegnern scharfe, zuweilen vernichtende
Kritik üben liess, wenn er sie auf unrichtigen Wegen fand oder wenn
sie berechtigten Ansprüchen zu nahe traten.
Kühne war eine künstlerisch angelegte Natur; diese Anlage
hat ihn aber nie dazu verführt, gewagten Spekulationen Raum zu
geben, oder aus den gefundenen Tbatsachen mehr ableiten zu wollen,
als wozu sie berechtigten. Seine künstlerische Ader war für ihn die
Quelle, ans der sein Oeist immer neue und unerschöpfliche Hilfsmittel
herzuleiten vermochte zur Bewältigung der Aufgaben, welche er sich
gesetzt hatte. Darum wird seinen Arbeiten ihr Wert verbleiben, auch
wenn die Wissenschaft vielleicht über manche heute geltenden Ansichten
und Theorieen hinweggeschritten sein wird.
Als Lehrer verstand es Kühne, seine Zuhörer durch lebhaften
und inhaltreichen Vortrag zu fesseln und zu wissenschaftlichem Denken
anzuregen. Er sprach schnell und brachte eine Menge von Tbatsachen,
so dass der Anfanger zuweilen Mühe hatte zu folgen, um, so mehr
wurde derjenige, welchem es um die Sache ernst war, für seine Auf-
merksamkeit durch den Inhalt der sorgfältig ausgearbeiteten und von
zahlreichen Versuchen erläuterten Vorlesungen belohnt. Im Labora-
torium war Kühne unermüdlich, denen, die tiefer in seine Wissenschaft
eindringen wollten, die Wege dazu zu zeigen und zu ebnen.
Wer aber das Glück gehabt hat, ihm näher zu treten und in
freundschaftlichem Umgang die Fülle seines Geisteslebens und den
herzgewinnenden Zauber seines Wesens kennen zu lernen, dem wird die
Erinnerung an diese gottbegnadete Persönlichkeit voll heiterer Lebens-
lust und voll warmer Begeisterung für alles Schöne und Grosse zeit-
lebens im Herzen lebendig bleiben. Seine Freude am geselligen Ver-
kehr, sein Drang, sich auszugeben und mitzuteilen, seine geistvolle, von
feinen Bemerkungen übersprudelnde Unterhaltung, sein sicheres Urteil
in Sachen der Wissenschaft, sein Interesse und Verständniss für alle her-
vorragenden Erscheinungen in Litteratur und Kunst, seine Freundlich-
keit und Herzensgüte, seine Bereitwilligkeit zu raten und zu helfen,
wo er es mit den reichen Schätzen seiner Erfahrung nur immer ver-
mochte, werden allen, die ihm nahe standen, stets unvergesslich sein.
Ein Freundschaftsverhältnis von seltener Innigkeit, das er noch
in späteren Jahren geschlossen hat, zu einem Manne von ähnlichen
Anlagen und gleicher Bedeutung wurde jäh durch den Tod unter-
C*
84 Th. Leber: Willy Kühne
brochen. Ich weiss aus seinem eigenen Munde, wie hoch er den Ver-
kehr mit Victor Meyer geschätzt nnd wie schwer ihn der Verlust dieses
Freundes betroffen hat, den er nur wenige Jahre überleben sollte.
Ein hervorragender Biologe, ein glänzender, an Erfolgen reicher
akademischer Lehrer, ein für alles Schöne und Oute begeisterter Mensch,
ein warmherziger Freund, so lebt Kühne in unserer Erinnerung und in
unseren Herzen fort. Sein Lebenswerk aber wird weiter wirken, so lange
es eine physiologische Wissenschaft geben wird. Sein Andenken soll
unter uns in Ehren bleiben.
Wenn wir nun die Hülle von diesem Denkmal fallen lassen, so
bleibt mir nur noch übrig, dasselbe im Namen der Stifter dem Nach-
folger Kühne's, dem jetzigen Direktor des physiologischen Institutes,
Herrn Professor Kossei, als Eigentum des Instituts zu übergeben. Wie
derselbe in der Wissenschaft die Tfaditionen Kühne's hochhält und
weiterführt, so wird er auch, dessen sind wir sicher, sein Denkmal gern
in seinen Schutz nehmen und in Ehren halten.
Dante und die Benaissance.
Von
Karl ToBsler.
Da» Werk Dantes steht an der Qrenze, wo sich Mittelalter und
Renaissance berühren, es ist darum zu erwarten, dass sich Anschau-
ungen und Elemente aus der vorhergehenden sowohl wie aus der fol-
genden Kulturepoche darin aufweisen lassen.
Welches sind nun die Keime einer neuen Zeit bei Dante, wo liegen
sie verborgen, was ist schon renaissancemässig in seinem Werk und
was ist noch mittelalterlich daran? Dies die Frage, die wir uns vor-
legen.
Es wäre vielleicht das Nächstliegende, zuerst die Begriffe Mittel-
alter und Renaissance genau gegen einander abzugrenzen und den all-
gemein gewonnenen Massstab auf den besonderen Fall Dante zu über-
tragen ; aber ich hoffe, der umgekehrte, i n duktive Weg soll uns besser
zum Ziele führen, mit dem Vorbehalte jedoch, dass wir ihn zuweilen
verlassen dürfen. Sämtliche Strömungen jener Übergangszeit vereinigen
sich in der allseitigen Schöpfung Dantes, und wenn wir ihnen Stuck für
Stück nachgehen, so müssen uns die einen nach vorwärts drängen und
die anderen werden zurückfluten ins Mittelalter.
Die politische Stellung Dantes — um von dieser zuerst
zu sprechen — lässt sich bereits nicht mehr kennzeichnen mit den
Scblagworten der Zeit: Quelf und Ohibelline. In gueltiscber Familie
und Bürgerschaft ist der junge Dichter aufgewachsen, denn mit den
Ghibellinen war es in Florenz zu Ende seit dem Untergang des Staufen-
bauses (1268) und unter guelfischem Banner ist er zu Kampfe geritten
bei Campaldino und Caprona (1289). Nach der Spalbmg seiner Partei
in schwarze und weisse Guelfen bat er sich den letzteren zugesellt und
als weisser Guelfe musste er im Jahre 1302 in die Verbannung ziehen.
Der heisse Wunsch, in die Vaterstadt zurückzukehren, die moralische
86 Karl VoBsler
Unbedenklichkeit, mit der die schwarze Partei ihre Wege zur Herr-
schaft wählte, ein angeborener aristokratischer Instinkt, ein glähender
ethischer Hass gegen das Gemeine, und schliesslich wohl auch Er-
wägungen philosophischer Ali; haben den verbannten Dichter immer
mehr und mehr zu gbibellinischen Idealen hinübergedrängt.
Es kann nun keinem Zweifel unterliegen, dass für die Entwicke-
lung der italienischen Städte das Guelfentum den Fortschritt bedeutet.
Man darf in ihm nicht etwa eine päpstliche oder klerikale Partei im
heutigen Sinn des Wortes vermuten. Die Qnelfen erstreben zunächst
nur die Autonomie ihrer Stadt; dabei steht ihnen die feudale Kaiser-
herrschaft im Wege und so pflegen sie sich vorzugsweise den Papst als
den natürlichen Feind des Kaisers zum Bundesgenossen zu nehmen. Es
sind antikaiserliche Partikularisten, die keinen fremden, keinen germa-
nischen Herren wollen, und ohne ihren Sieg ist die italienische Städte-
kultur und die Benaissance nicht denkbar.
Ebenso müssen die schwai'zen Quelfen wieder den weissen gegen-
über als die Träger des Fortschrittes bezeichnet werden. Ihnen, den
Schwarzen, gehört die revolutionäre Kraft der sogenannten arti minori
(niederen Zünfte), ihnen der bessere politische Instinkt, ihnen jene kühne
Entschlossenheit, die keine moralischen Bedenken kennt und grausam
genug ist, ihre Siege auszunützen. Sie sind die ersten Vollstrecker
jenes machiavellistischen Geistes der Renaissance. Man höre ihren
Spottvers auf die edelgesinnte, aber unpraktische aristokratische Partei
der unterlegenen Weissen:
Color di cener fatti sou li Biauclii
K vauuo scguitando la natiu-a
Degli aiiimati che si noniau grauchi,
Clie pur di uotte preiidou lor pastura.
Di gioriio staiiuo ascoBi c iion soii fraiichi
K seniprc della inortc haimo piiura
DcUo leoii per tema uoii li abliRuulii
Che uou perdauo omai hi forfattura:
Che furon Guelti ed or soii Giiibelliui,
Da ora luiianti siau detti ribeili,
Ncmici del Comuii conic gli Uberti ....
Auf Dante Alighieri passen diese Verse nicht. Ihm ist die „asch-
farbene^ Furcht etwas Fremdes. Dennoch gehört er zur geschmähten
Partei der Unterlegenen, denen die Geschichte Unrecht gegeben hat.
In zwei hervorragenden Individuen verkörpern sich die Extreme beider
Dante und die Renaissance 87
Parteien: der unbeugsame Qhibelline Farinata degli Uberti auf der
Rechten : ein adelsstolzer Bitter, wie ihn Dante gezeichnet hat, und ein
gesinnungstüchtiger Patriot, dem seine Stadt doch immer höber steht
als das Parteiinteresse; und der ruhelose,* ehrgeizige Aufwiegler Gorso
Donati auf der äussersten Linken, wie ihn Dino Gompagui beschreibt:
„Uno cavaliere della somiglianza di Catellina romano, ma piu crudele
di Jui, gentile di sangue, hello del corpo, piacevole parlatore, adorno
di belli costumi, sottile dingegno, con Tanimo sempre intento a
malfare .... molto avere guadagnö, e in grahde alteza sali. Costui
ftt messer Corso Donati, che per sua superbia fu chiamato il Barone;
che quando passava per la terra, molti gridavano: «Viva il Barone^;
e parea la terra sua. La vanagloria il guidava, e molti servigi facea.'
Dieser Donati ist schon der Benaissancemensch mit vorwiegend ästhe-
tischer Bildung, der aber keine Ideale mehr in der Politik vertritt,
sondern nur den eigenen Vorteil.
Eben der Abscheu vor solchem Mangel an Idealität, vor so mate-
riellem und räcksichtslosem Eigennutz ist es, der Dante zurückgetrieben
bat von der fortschrittlichen Partei, in die er hineingeboren wai-, zurück
zu den mittelalterlichen Träumen des Kaisertums. In der Politik ist
er retrospektiv.
Am Tage, da er Florenz als Verbannter verlässt, tritt er aus den
Schranken der heimatlichen Stadtpolitik heraus und wird Weltbürger.
9N0S autem cui mundus est patria, velut piscibus acquor.'^ Und nun —
wahrscheinlich in den letzten Jahren seines Lebens — fühit er das
grosse Gebäude der Weltmonarchie auf und beweist in den drei Büchern
seines „De Monarchia' der Reihe nach
1. die moralische, soziale und politische Notwendigkeit der Uni-
versalmonarchie,
2. das göttlifche, natürliche und historische Anrecht des römischen
Volkes auf die Weltherrschaft,
3. die durch den Dualismus in der menschlichen Natur und im
ganzen Weltsystem begründete strenge Scheidung der weltlichen Herr-
schaft von der geistlichen, und die direkte göttliche Herkunft der kai-
serlichen sowohl als der päpstlichen Gewalt.
Die Grundgedanken: feudale Weltmonarchie, Kontinuität zwischen
römischem und germanischem Kaisertum und Von-Gottes-Gnadentum
erweisen sich ohne weiteres als mittelalterlich. Das wichtigste mo-
derne Element pflegt man darin zu sehen, dass die weltliche Herr-
schaft von der päpstlichen emanzipiert wird. Dennoch glaube ich nicht.
88 Karl Vossler
dass man das ,De Monarchia^ etwa io Eine Entwickluugsreihe setzen
darf mit jener historisch - kritischen Schrift des Humanisten Lorenzo
Valla gegen die Donatio Constantini. Es ist sehr zu beachten, dass die
Emanzipation bei Dante einb unvollständige ist. Der Schlusssatz des
Buches beweist es aufs Beste. Nachdem Dante die Unabhängigkeit
des Kaisers (Caesar) vom Papst (Petrus) erwiesen hat, fügt er hinzu:
«Quae quidem veritas . . . non sie stricte recipienda est, ut romanus
princeps in aliquo romano pontifici non subjaceat: cum mortalis ista
felicitas quodammodo ad immortalem felicitatem ordinetur. lila igitur
reverentia Caesar utatur ad Petrum, qua primogenitus filius debet uti
ad patrem, ut luce paternae gratiae illustratus, virtuosius orbem terrae
irradiet. Cui ab illo solo praefectus est, qui est omnium spiritualium
et temporalium gubernator.* Damit bleibt nun doch dieCivitas terrena
der Civitas Dei untergeordnet. Der Kaiser ist der von Gott eingesetzte
und beauftragte und vom Stellvertreter Christi väterlich bestrahlte Hirte,
der seine Schäfchen der ewigen Weide entgegen zu treiben hat. Im
Grunde steht Dante auf demselben Boden wie Thomas von Aquino.
Aber der A n s a t z zur Befreiung des weltlichen Standes ist gemacht,
die historische Priorität des Kaisertums vor dem Papsttum wird sehr
scharf betont, und dem Staat werden seine eigenen Zwecke, seine
eigenen Aufgaben gesetzt: Herstellung einer friedlichen politischen
und sozialen Ordnung, materielle Gluckseligkeit (I, 5): „Patet, quod
genns humanum in quiete sive tranquillitate pacis ad proprium suum
opus, quod fere divinum est liberrime atque facillime se habet. Unde
manifestum est, quod pax universalis est Optimum eorum, quae ad
nostram beatitudinem ordinantur.* Dieser Friede, diese Glückseligkeit
ist nötig, damit das Menschengeschlecht seiner grossen gemeinsamen
Arbeit der Kultur, der „Civilitas humani generis*^ obliegen könne.
Mag diese Kultur auch schliesslich in transzendentalen Zielen
gipfeln, das Woii ist ausgesprochen: Aufgabe des Staates ist die För-
derung der Kulturarbeit.
Die Stützen einer solchen KuUurmonarchie, fuhrt Dante weiter
aus, sind ethischer Natur: Gerechtigkeit, Freiheit und Liebe, Prinzi-
pien, denen zuvörderst der Monarch sich zu unterwerfen hat: „Non onim
cives propter consules, nee gens propter regem; sed e converso con-
sules propter cives , rex propter gentem .... quamvis consul sive rex
respectu viae sint domini aliorum, respectu autem termini aliorum
ministri sunf Die Maxime könnte ebensogut von Friedrich dem
Grossen stammen.
Dante und die Renaissance 89
So erhebt sieb Dantes Geist vom Gedanken des mittelalterlichen
Gottesstaates ym den modernsten Ideen vom Kulturstaat. Sind diese
Gedanken aber etwa renaissancemässig ? Finden wir sie etwa bei Ma-
chiavelli oder Guicciardini fortgesetzt? Keineswegs! Ganz abgesehen
davon, dass die Staatslehre der Renaissance auf empirischer, nicht wie
diejenige Dantes auf deduktiver Grundlage ruht, besteht meines Wis-
sens ihr eigentlichstes Kennzeichen in einer scharfen, grausamen Schei-
dung von Politik und Moral. Die Politik der Renaissance ist die Kunst
des Herrschens und hat Selbstzweck; die kulturelle Aufgabe' des Staats
wird vernachlässigt, die Regierung will nicht beglücken, sondern sich
behaupten, sich verstärken, sich ausdehnen. Militär und Diplomatie
vielmehr als Bärgerglück und Bürgerfleiss sind ihre festesten Grund-
lagen. — Ein Vorläufer der Renaissance ist Dante also in seiner poli-
tischen Theorie so wenig wie in seiner Praxis.
Wie steht es in Theologie und Religion? Kein ernstlicher
Danteforscher, mag er auf katholischer oder protestantischer Seite stehen,
wird mehr an der strikten Orthodoxie des Dichters zweifeln wollen. In
der philosophischen Theologie sogar noch viel strenger als im Stiaats-
recht hält sich Dante innerhalb der Thomistischen Lehre. Wohl hat
man versucht, in seiner geistigen Entwicklung eine vorübergehende Pe-
riode des Zweifels nachzuweisen auf Grund einiger Stellen im .Gast-
mahl* und in den letzten Gesängen des .Purgatorio*, aber der Versuch
muss als misslungen bezeichnet werden. Im Gegenteil, gerade diejenige
Zeit, in der das „Gastmahl* entstanden ist und in der man einen An-
fall von Skepsis zu erkennen glaubte, erweist sich, je mehr man der
Sache auf den Grund geht, als der mittelalterlichste Moment im Leben
des Dichters. Gerade damals hat ihn die Scholastik vollständig ge-
fangen genommen, gerade damals hat er sich am heissesten bemüht,
den Mysterien des Glaubens auf vernunftmässigem Wege beizukommeu.
Ein leidenschaftlicherer Thomist als damals ist er nie wieder gewesen.
Sogar den Unsterblichkeitsbeweis der Seele will er noch auf philo-
sophischem Wege antreten.
Aber zu einer Trennung von Wissenschaft und Glauben, wie sie um
jene Zeit durch den Skotismus erreicht wird, ist Dante auch später
niemals gekommen. Die Stelle in Purgatorio XXXIII, 82—90, lässt
sich in diesem Sinne nicht interpretieren. Der Dichter fragt seine geist-
liche Führerin : „Aber warum fliegt Euer liebes Wort so hoch über
meine Sehkraft, dass ich, je mehr ich mich anstrenge, um so mehr es
verliere?" „Weil du, sagte sie mir, nur jene Schule kennst, der du
90 Karl Vossler
gefolgt bist, und nun siehst du, wie wenig ihre Lehre meinem Worte
folgen kann, und wie Euer Weg von dem göttlichen Weg eben soweit
entfernt ist, als die Erde abliegt von jenem Himmel, der am raschesten
kreist'. Mit «jener Schule '^j glaubeich, kann doch wohl nur die Scho-
lastik gemeint sein, und es soll hier ein Gradunterschied, aber kein
Wesensunterschied zwischen Vernunft und Offenbarung bezeichnet werden.
Etwas ganz anderes aber als einen Anflug von Zweifel kann uns
diese Stelle im Verein mit einigen anderen aus den letzten Teilen der
, göttlichen Komödie* lehren (besonders Par. XXIX, 85 ff), nämlich dass
der Dichter sich mehr und mehr einer mystischen Erfassung der Religion
zuzuneigen begann. An Stelle des Baisonnements tritt mehr und mehr
die Offenbarung, ohne dass jedoch der Boden der «filosofici argomenti*
und des ,intelletto umano* (Par. XXVI, 25 u. 46) je vollständig ver-
lassen würde. Eine erste Ankündigung dieses Gesinnungswechsels haben
wir wohl schon in dem Sonette XXIV: „Parole mie che per lo mondo
siete** zu erkennen.
Thomas von Aquino, der Scholastiker, und Franz von Assisi, der
Mystiker, das sind die Pole, zwischen denen Dantes religiöse Welt sich
bewegt. Im Mannesalter nähert er sich mehr dem Ersteren, am Abend
seines Lebens sucht er Frieden bei dem Letzteren. Es würde uns viel
zu weit führen, den Eintluss der franziskanischen Mystik auf Dantes
Werk in ihrem ganzen Umfang zu studieren.
So viel ist sicher, dass er einen Jeden der beiden , Kirchen fürsten^
(Principi) in seiner Eigenart erkannt und den Keim des Gegensatzes,
der in ihnen lag, geahnt hat.
Phi*. XI, 37. 1/un fü tutto scratico iu iirdore,
Kaltro per sapieiiza in terra fuo
Di chcrubica luce uuo splcndorc.
Aber es ist auch eben so sicher, dass er den Gegensatz, der sich
notwendigerweise immer stärker herausbilden musste, zwischen diesen
beiden Kichtungen bedauert, dass er ihn verwischt und ausgesöhnt
wissen möchte. Es gehört nicht zu Dantes Art, denselben Gedanken
zu wiederholen, hier jedoch kann er sich nicht genug thun in der Ver-
sicherung, dass beide, Dominikaner und Franziskaner, im Grunde doch
nur ein und demselben Ziele zustreben:
Par. XI, 40. Dell' un dirö, pero che cVambedue
Si dice l^un pregiando, quäl chHiom prende,
Perch6 ad un line für l^operc suc.
Dante und die Renaissauce 91
und im Däcbsten Gesänge Vers 34 wieder:
Deguo e ehe dov' ü l*un I'altro siudiic«.
Si che com' elli ad una militaro,
Cosi la gloria loro insieme luca.
Um die Einigkeit der Beiden recht eindringlich darzutbun, wird
das Lob des hl. Franz dem Dominikaner Thomas von Aquino, und das
Lob des hl. Dominikus dem Franziskaner S. Bonaventura in den Mund
gel^t.
Aber eine unerbittliche Logik fahrte die beiden immer weiter aus-
einander, so dass Dantes Stellungnahme zur Entwicklung der Dinge
auch hier wieder eine konservative und retrospektive genannt werden
muss. Und auch hier wieder, wie im politischen Getriebe, ist es vor-
wiegend ein moralischer Affekt, ein ethischer Hass, der Abscheu vor
der Entartung beider Mönchsorden, der ihn zurückdrängt zu vergangenen
Idealen.
Wie tief Dantes Theologie und Beligion noch im Mittelalter
wurzeln, zeigt ein rascher Vorblick auf Petrarca. Ffir diesen hat das
Dogma überhaupt keine Bedeutung mehr. Seine ganze Religion ist nur
Mystik und Ethik, wird von einem tiefen asketischen Bedürfnis getragen
und findet ihren besten geistlichen Katgeber in dem hl. Augustin. Neben
dieser subjektiven und persönlichen Religion nimmt sich Dantes Be-
kenntnis doch noch recht scholastisch und im schlechten Sinne
, katholisch* aus.
Man kann nun darüber streiten, ob die mystische Verinnerlichung
der Religion überhaupt schon als Renaissance zu bezeichnen sei.
Die Frage ist im Grunde nur ein Zank um Worte. Dass die franzis-
kanische Mystik eine Vorbereitung zu neuen Zeiten bedeutet, wird kein
ernsthafter Historiker in Abrede steRen. Mit dem Worte Renais-
sance aber bezeichnen wir doch wohl nur die ästhetische und anti-
christliche Seite jener Bewegung, die aus der Zersetzung der mittel-
alterlichen Geselischaftsbande und des Gottesstaates zur Freiheit des
Individuums führt. Die Mystik kann daher nur dann als Benaissance-
element bezeichnet werden, wenn sie das Individuum vom Priester be-
freit, sobald sie aber zur Weltverneinung zurückführt, wirkt sie doch
nur als mittelalterliche und hemmende Kraft.
Und nun zeigt sich das Wunderbare, dass der Zukunftsmensch
Petrarca in einem Punkte wieder viel mittelalterlicher fühlt, als
Dante. Der Sänger Lauras hat sich ein Einsiedlerleben zuweilen künst-
lich geschaffen, er liebäugelt mit dem Gedanken ins Kloster zu gehen,
92 Karl Vossler
er quält sein krankes eitles Herz mit grausamer Selbstanalyse, und der
Schmerz ist ihm Wollust. — Dass Dante je die Absicht gehabt habe,
hinter Klostermauern zu fliehen, ist wohl behauptet worden, aber lässt
sich doch nicht erweisen. Und wenn er in seinen letzten Jahren, wie
es nicht unwahrscheinlich ist, unter die Tertiarier des Franziskaner-
ordens gegangen ist, so darf man daraus erst recht nicht auf eine weit-
flQchtige Gesinnung schliessen. Askese liegt seinem ungebrochenen
Gefühlsleben fern.
Trotzdem feiert er mit aufrichtiger Bewunderung die freiwillige
Armut der Franziskaner als die wahre Nachahmung Christi. Wir
kommen damit zu seinem moralischen System. — So wie er es in
der 9 Divina Commedia* dargestellt hat, ist es sicherlich kein streng ein-
heitliches. Aber wir müssten zu sehr ins Weite gehen, wenn wir
in jedem einzelnen Fall die massgebenden Grundanschauungen er-
weisen wollten, die den Dichter zu seinen jeweiligen Anordnungen
der Laster und Tugenden geführt haben. Hier dürfte sich der Kürze
halber ein deduktiver Weg empfehlen. Wir bezeichnen also a priori als
mittelalterliche Moral diejenige mit theokratischer Grundlage, in der
der Mensch sich seinem Gotte opfert; als Benaissance-Moral, sofern es
überhaupt eine solche giebt, die rein menschliche und individualistische,
die ihren Richter nur im eigenen Gewissen findet, als moderne Moral
die soziale, in der der Mensch sich seinem Nächsten opfert.
Indem nun Dante in aller politischen und sozialen Ordnung einen
göttlichen Willen erblickt, so miiss sich seine Moral in manchen Punkten
mit unserer modernen Sittenlehre berühren, ohne dass sie nötig hätte,
dabei ih^en mittelalterlich theokratischen Boden zu verlassen. Wenn
also z. B. der Dichter die Mörder Cäsars zu unterst in die Hölle steckt«
so werden wir Modernen ihm verhältnismässig gerner unsere Zu-
stimmung geben als die Renaissance, die ja thatsächlich gerade dieses
Urteil wiederholt gerügt hat.
Ähnlich verhält es sich nun auch mit der Askese der Mönche und
Eremiten. Ihr kontemplatives Leben wird zwar höher geschätzt, als das
gemeinnützige Wirken gerechter und gütiger Fürsten — und darin ist
Dante mittelalterlich — aber hinter der ganzen Lobpreisung solcher
Askese steckt ein kirchenpolitischer und modern sozialer Gedanke:
Chb, (luautiuiquc la Cliiesa giiarda, tiitto
£ deUa gente che per Dio domanda,
Nou di parenti, uc d'altro piü brutto,
SO predigt der Stifter von Montecassino.
Dante und die Benaissanco 03
Die neuesten Forschungen von Fr. X. Kraus haben es sehr wahr-
scheinlich gemacht, dass Dante eine fieform der Christenheit gerade
von dieser, von asketischer Seite erwartete, und dass er in recht enger
Fühlung mit der strengen franziskanischen Richtung des Ubertino
da Casale stand. Er befürwortet also die Askese in der Hauptsache
nur als Mittel zu dem hohen sozialen Zweck einer reinen, von Welt-
raachtsgedanken unverfälschten katholischen Kirche. Es ist durchaus
kein Zufall, dass die schlimmsten Invektiven gegen die verweltlichte
Geistlichkeit jener Zeit immer den kontemplativen und asketischen
Geistern dee Paradieses in den Mund gelegt werden. — So vermengen
sich hier aufs Eigentümlichste die mittelalterlichen Anschauungen mit
den allermodernsten Bestrebungen eines idealen Katholizismus.
Mittelalterlich ist freilich der ganze Untergrund dieser Moral mit
ihrer ewigen Verdammnis und ihrer grundsätzlichen Ausschliessung des
gesamten Heidentums vom Wege des Heils. Man darf die wenigen
sporadischen Durchbrechungen dieses Systemes nach der Richtung der
Renaissance hin, nicht sehr hoch anschlagen. Wenn der Selbstmörder
Cato nicht in der Hölle büsst und die persönliche Sympathie des
Dichters in vollstem Masse für sich hat, so bleibt ihm trotzdem der
Weg zur Reinigung, verschlossen und er verdankt die Ausnahmestellung
nur dem politischen Glaubensbekenntnis seines Sängers. Trajan verdankt
seinen Platz im Himmelreich einer viel verbreiteten mittelalterlichen
Volkssage, und der Trojaner Ripheus verdankt ihn wohl einem allego-
risch ausgelegten Virgil-Yers. Solche Ausnahmen hätte auch ein we-
niger kühner Geist des Mittelalters sich erlauben dürfen.
Viel bedeutungsvoller weist ein anderes Element auf die Renais-
sance hin: die Na turmoral bei Dante (Par. VIII, 142):
E 86 il mondo laggiü ponesse mente ~
AI fondamento che natura pone,
Segiiendo hii, avria buona la gente.
„Und wenn nur immer unten eure Welt
Den Grund, den die Natur gelegt hat, ehrte,
So wtV es mit dem Menschen wohl bestellt.^
•
Die Heimat dieser Naturmoral liegt in dem irdischen Paradies, im
goldenen Zeitalter, von dem die Alten sangen. Etwas Neues ist die
„lex naturalis^ aber doch nicht, denn schon die Scholastik hat sie auf-
genommen und mit der theokratischen Moral in Einklang zu bringen
versucht. So durfte denn auch Dante ein grünendes irdisches Paradies
getrost auf den Gipfel seines theologischen Berges der Läuterung
pflanzen. Aber er ahnte nicht, dass diese glückliche Erde, die er mit
94 Karl Vossler
Lethe getränkt und für seine mittelalterlichen Triamphzfige von Staat
lind Kirche zubereitet hatte, dass dieses verlassene Eden über ein Kurzes
wieder von einem tollen und lachenden Haufen lebendiger Menschen
erobert werden sollte. — Er steht eben auch hier wieder unserer neuen
und ernsten sozialen Moral viel näher als dem naturlichen Sittenkodex
eines Rabelais.
Wir kommen zum dritten und wichtigsten Punkte: Dantes
Stellung in der Litteratur.
Boccaccio erzählt uns, dass Dante ursprünglich im Sinn gehabt
habe, sein göttliches Gedicht in lateinischer Sprache abzufassen. Wir
werden diesem Zeugnis nicht ohne weiteres Glauben schenken, aber:
,,se non e vero, h ben trovato^, denn so wie die Verhältnisse damals
lagen, musste ein Dichter, der so hohe philosophisch-theologische Prob-
leme im Busen wälzte, sein geeignetstes Ansdrucksmittel Und sein
würdigstes Publikum in der grossen, internationalen lateinischen Litte-
ratur suchen. Und wenn nun dieser Dichter gar einem Volke angehörte,
das, wie die Italiener, noch kaum seit hundert Jahren eine eigene
Litteratur aufzuweisen hatte, und zwar eine Litteratur, die in jeder
Landschaft der Halbinsel wieder ein anderes Gesicht zeigte, eine andere
Mundart redete, andere Ziele verfolgte und doch dabei ihre Abhängig-
keit von französischen Mustern fast nirgends verleugnen konnte. Wohl
hatte das leuchtende Vorbild des Bosenromanes da und dort einem
Toskaner den Mut gegeben, die philosophische Dichtung auch mit italie-
nischer Zunge reden zu lassen, aber Werke, wie der ^Tesoretto^, des
Brünette Latini oder die nlntelligenza^ des fraglichen Dino Compagni,
waren wenig geeignet, zur Nachfolge aufzumuntern. In der That war
diese Vorarbeit zunächst für Dante verloren, und er musste sich den
kühnen Glauben in seine Muttersprache erst selbst durch langjähriges
Bemühen von neuem erwerben, bevor er ihn bethätigen konnte in einem
Werke, das der kaum erstandenen italienischen Dichtung mit einem
Schlage den ersten Platz eroberte in der ganzen Litteratur des Abend-
landes - die lateinische mitgerechnet.
Das stille Bingen unseres Dichters gegen die mittelalterlichen
Vorrechte des Lateins lässt sich stufenweise verfolgen. In seinem Jugend-
werk, der «Vita nuova*^, vertritt er noch den Standpunkt, dass die vul-
gäre Litteratur sich auf den Gegenstand der Liebe zu beschränken habe,
denn, sagt er, diese junge Kunst sei nur durch die Liebe ins Leben
gerufen, indem der Sänger seiner Herrin, die nicht Lateinisch konnte,
sich verständlich machen wollte. An dem ersten Zwecke, der das Lied
r>ante und die Henaiasanco 95
geboren hatte, sollt' es auch fernerhin gefesselt bleiben. Aber in gleichem
Masse wie die Liebe mit dem Dichter des „dolce stil nuovo^ zu philo-
sophischen Höhen hinaufwächst, so strebt auch die Sprache aus ihrer
Beschränkung empor und breitet ihre guten Rechte über neue Stoff-
gebiete.
Die zweite Geliebte des Dichters nach dem Tode seiner irdischen
Beatrice wird jetzt die Philosophie, und auch sie besingt er in italie-
nischen Ganzonen, aber ,,weil das Lied keiner einzigen Yulgärsprache
würdig wäre, in offenen Worten von meiner neuen Herrin zu singen, und
weil die Leser nicht reif gewesen zum unmittelbaren Eintritt und zum
Glauben in^ die nackte Wahrheit' (Convivio III, 3), deshalb, sagt der
Dichter, habe er sich des allegorischen Schleiers bedient. So warm und
30 leidenschaftlich er im , Convivio* seine Muttersprache verteidigt, zur
philosophischen Dichtung wird ihr doch erst bedingimgsweise und auf
dem Umweg über die Allegorie der Zugang erschlossen. Während aber
noch andere Zeitgenossen, wie Francesco da Barberino, ihren Kommen-
tar zur allegorischen Dichtung in lateinische Prosa verhüllten, will
Dante nun aus drei Gründen sich der Vulgärsprache bedienen: 1) weil
die zu erklärenden Lieder, denen der Kommentar doch nur zu dienen
hat, ebenfalls italienisch geschrieben sind, 2) weil all seinen Lands-
leuten der Schatz des Wissens gehören soll und 3) weil er sie liebt,.
diese wunderbare Sprache seiner teuren Heimat. Wie aus einem brennen-
den Hause die Flammen durch die Fenster schlagen und hell den'
inneren Brand verkünden (Conv. I, 12), so wollte Er seine leuchtende
Liebe zum heimatlichen Laut bekennen.
Und nun, in einem dritten Werke, macht er sich daran, die ge-
schmähte Sprache des „si'^ zu läutern und vor Entartung zu bewahren.
Es scheint mir ausser Zweifel zu stehen, dass das ganze „De vulgari
eloquentia*^ von einer sprachreformatorischen Tendenz getragen ist. Wäre
das geniale Buch nicht nur ein Bruchstück, so müsste die Absicht
seines Verfassers noch klarer zu Tage treten. Schon als er den ersten
Teil des ^^Gastmahls** schrieb, trug sich Dante mit dem Plan des „De
vulgari eloquentia^, und schon damals steht ihm der Grundgedanke be-
stimmt vor Augen, nämlich : Die Vulgärsprache ist einer fortwährenden
Veränderung und Verderbnis ausgesetzt; es ist, wie er später ausführt,
der göttliche Fluch, der seit dem Turmbau zu Babel ewig fortwirkt
und alle lebendigen Idiome in tausend Äste auseinanderjagt und sie in
einem unaufhaltsamen Fäulnisprozesse zersetzt. Dem Unheil zu steuern,
haben die Gelehrten etwas Dauerhaftes künstlich geschaffen: die un-
96 Karl Vossicr
verwüslliche Orammatica, das ewig gleiche Latein, ein Yolapük des
Mittelalters. Und nun scheint mir, möchte Dante etwas Ähnliches mit
der italienischen Sprache vornehmen : ihren litterarischen Idealtypus für
die ganze Halbinsel fixieren, sie vor der Zersplitterung und Verderbnis
der Dialekte erretten und hoch über alle landschaftlichen Schranken zu
einer gemeinitalienischen National- und Kunstsprache erheben. So sehen
wir mit Staunen, wie er ein Programm verficht, das erst zweihundert
Jahre nachher in der Hochrenaissance des Klassicismus wieder auf-
tauchen und seine Verwirklichung im Cinquecento finden sollte: das
«Vulgare illustre, cardinale, aulicum et Curiale, quod omnis Latiae civi-
tatis est, et nullius esse videtur, et quo ronnicipia vulgaria omnia
Latinorum mensurantur, ponderantur et comparantur.' Mittelalterlich ist
die Grundanschauung von der er ausgeht, wenn er glaubt, dass dieser
Idealtypus eine aprioristische Existenz, erhaben über alle Mundart führe,
und dass man nur rückwärts den Strom der unheilvollen Sprachent-
wicklung hinanzusteigen habe, um zu ihm zu gelangen. Aber das Ziel
selber ist modern, es ist dasjenige des Klassizismus.
Durchaus im Einklang mit dieser Sprachreform steht auch das
grosse ästhetische Vorbild, das hier zum ersten Male der vulgären Kunst
gewiesen wird: die Antike. „Bisher**, heisst es in jener benihmten
stelle des De vulgari eloquentia, „verdienten die vulgären Dichter aller-
dings wohl den Namen Poeta, von den grossen Poeten aber, d. h. den
klassischen (hoc est regularibus), unterscheiden sie sich doch, denn
diese haben in erhabener Sprache und nach regelrechter Kunst ge-
schaffen ... die Modernen aber nach dem Zufall; je näher wir darum
die Alten nachahmen, desto regelrechter werden wir dichten*^. Das
klingt den Worten nach, schon fast wie hohler Formalismus der Spät-
renaissance, aber wir müssen uns hüten, das unangenehme Oefühl, das
uns aus langjähriger Übersättigung an antikisierenden Machwerken er-
wachsen ist, auf diesen ersten Sehnsuchtsruf nach einer neuen, harmo-
nischeren Kunst zu übertragen.
Der also geläuterten Sprache wird nun auch ein weiteres Stoff-
gebiet erschlossen. Bisher war die Liebe und ihre philosophische Ver-
klärung unter dem Schleier der Allegorie der einzige sangbare Gegen-
stand für Dante gewesen. Nun setzt er aber das ganze Stoffgebiet des
vulgären Dichters mit den drei Funktionen der . menschlichen Seele in
Verbindung, sodass der anima vegetalis das Gebiet des utile entspricht,
der anima animalis das delectabile und der anima rationalis das hone-
I)ante und die Renaissance 97
stnm. Die höchsten Oegenst&nde dieser drei Oebiete sind : Waffenrahm,
Liebe nnd Tagend. (De vnlg. eloq. II, 2.)
Die theologischen Stoffe bleiben also auch zur Zeit des ,De vulgari
eloquentia' noch immer ausgeschlossen. Es ist darum gar nicht so un-
wahrscheinlich, dass Dante sich eine 2teit lang mit dem Gedanken ge-
tragen habe, die „göttliche Komödie'^ in lateinischer Sprache zu ver-
fassen. Aber gerade so, wie im „Gastmahl* das italienische Lied des
Dichters auf dem Weg der Frauenhuldigung sich zur Philosophie er-
heben konnte, so darf nun schliesslich auch die italienische Terzine sich
dem höchsten Gotte nähern durch die gnädige Fürsprache einer an-
gebeteten Frau. Und damit ist das Italienische in all seine Bechte ein-
gesetzt. Auf den theoretischen Kampf folgt der grosse praktische Sieg.
Die „Divina Commedia'' ist das erste Denkmal der modernen italienischen
Nationallitteratur, und alles was dahinter liegt, ist noch provinzial.
Kaum aber hatte sich Dante aus dem mittelalterlichen Easten-
vorurteil des Lateins herausgerungen, und noch arbeitete er an den
letzten Gesängen seines grossen Gedichts, da sollte ihm eine ganz neue,
fremdartige Anschauung in den Weg treten. Ein junger Gelehrter,
Giovanni del Yirgilio, der aus Padua, der Wiege des Humanismus
stammte, ging mit dem Dichter eine poetische Korrespondenz ein. Er
fordert ihn auf, in lateinischer Sprache zu singen und ein Heldenepos
politisch-historischen Charakters zum Gegenstand zu nehmen, anstatt
dem unverständigen Volk in seiner minderwertigen Sprache so schwer-
verständliche, theologische Dinge preiszugeben. Denn mit Latein nur
sei der wahre Weltruhm zu gewinnen:
Si te ÜEuna juvat, parvo te limite septtun
Non contentus eris, nee Yulgo judice tolli.
Dieser vorwitzige junge Mann ist aber nicht etwa ein Nachzügler
des Mittelalters, nein, er spricht von Weltruhm, von Foetenkrönung,
von dem berühmten Albertino Mussato und er bedient sich der klass-
ischen Form virgilischer Eklogen. Er ist ein begeisterter Humanist, dem
die ganze „Divina Gommedia^ schon etwas zopfig vorkommt. Man hat
nun freilich gezweifelt, ob diese Korrespondenz auch wirklich noch zu
Lebzeiten des Dichters verfiasst sei, oder ob sie nicht etwa ein blosses
demonstratives Scheingefecht bedeute, das erst einige Jahre nach Ali-
ghieris Tod von humanistischer Seite gegen das stärkste Bollwerk der
vulgären Dichtung unternommen wurde. Für unsere Zwecke ist eine
Entscheidung dieser Frage nicht nötig, denn soviel steht fest, dass es
NEUE HEIDELR. JAHRBUECHER XI. 7
d8 Karl Vossler
schon im 2. und 3. Jahrzehnt des Trecento humanistisch gesinnte
Männer gab, die sich stolz von der kaum erstandenen Vnlgärsprache
abwandten und den besten Teil ihrer Geisteskraft auf klassische Studien
und lateinischen Stil warfen, und zu diesen gehören sogar die hellsten
Köpfe des Jahrhunderts: Mussato, Petrarca, Salutati, Niccoli, Bruni
und wie sie alle heissen. Sie hatten den Standpunkt des ersten Ver-
teidigers der Vulgärsprache auf ihre Weise schon wieder überholt —
freilich ohne zu ahnen, dass ihre Enkel nach langem Suchen wieder
ein allermodemstes Programm in dem vergessenen ,De vulgari eloquentia^
finden würden.
So hat Dante mit einem genialen Schwung frisch aus dem Mittel-
alter heraus die ganze Generation der Humanisten überholt und stellt
sich den sprachlichen ünitariern des 16. Jahrhunderts an die Seite.
Mit der Befreiung der Sprache geht natürlich die Befreiung des
vulgären Dichters Hand in Hand. Im Mittelalter ist der „Bimatore*'
oder „Dicitore per rima^ in seinen Stoffen, seinen Formen und seinem
Hörerkreise kastenmässig beschränkt, seis nun, dass er als ritterlicher
Troubadour in der Canzone, oder als volksmässiger Spielmann im Epos,
oder, wie der Franziskaner Mönch als „Spielmann Gottes^ (giuUare
del Signore) in der Laude, oder als Kleriker im Lehrgedicht und in der
Chronik sich bewegte. Den ersten Schritt zur Befreiung hat Guido
Guinizelli schon vor Dante gethan, indem er die sinnliche Liebe des
affektierten Kitters zur geistigen, transzendentalen Liebe des ernsten
philosophisch gebildeten Bürgers erhob. Eine Kunst für Alle ist aber
auch diese neue Lyrik des „dolce stil nuovo* noch nicht. Trotz ihrem
tiefen und allgemein menschlichen Gehalte, der sie uns noch heute sym-
pathisch macht, bleibt sie noch immer gelehrt, exklusiv und stark kon-
ventionell. In dieser halb modernen, halb mittelalterlichen Strömung
bewegt sich der grösste Teil von Dantes Dichtung während seiner ganzen
Jugendzeit; bis er endlich in der „Divina Gommedia*^ ein Werk schafft,
das den Interessen und Ansprüchen aller Gesellschaftsklassen Genüge
thut, in dem, um ein berühmtes mittelalterliches Wort zu gebrauchen,
das Lämmeben waten und auch der tiefgründigste Elephant noch schwim-
men kann ; also nicht bloss das erste Kunstwerk italienischer National-
litteratur, sondern auch das erste von allgemein menschlicher Bedeu-
tung. Die Kluft zwischen Laie und Kleriker ist überbrückt und mit
der neuen Kunst zugleich entsteht ein neues Publikum.
Wenn nun aber die unmittelbar folgende Epoche sofort eine zweite
Scheidewand zwischen Vulgus und Humanist aufrichtete, so musste die
t)ante und die Kenaissanc« 9d
Hochrenaissance doch wieder darauf bedacht sein, eine Ausgleichung des
geistigen Niveaus herzustellen, wie sie eben schon Dante bewerkstelligt
hatte. Also auch hier wieder steht sein Qenie einerseits dem Mittel-
alter und andererseits den entlegeneren modernen Jahrhunderten viel
näher als der unmittelbar folgenden Zeit. So erklärt es sich, dass er
gerade bei den gebildetsten Männern des ausgehenden 14. und angehen-
den 15. Jahrhunderts in einige Missachtung geriet, während er seine
ungeteilten und wärmsten Bewunderer in niederen Kreisen suchen musste,
bei dem jungen Boccaccio, dem biederen Sacchetti, dem bildungsdurs-
tigen Giovanni Gherardi da Prato, dem fröhlichen Antonio Pucci und
schliesslich bei dem niederen Klerus, den Minoritenpredigem.
Das grosse künstlerische Mittel, dessen sich Dante bedient, um
zwischen Laie und Klerus die Brücke zu schlagen, um das Übersinn-
liche begreiflich, das „Unbegreifliche* zum „Ereignis*^ zu machen, das
grosse Mittel ist die Allegorie. Also doch ein vorwiegend mittelalter-
liches Yerfiihren, das seine eigentliche Wurzel in jenen philosophischen
Lehren des Mittelalters hat, die man als „Bealismus^ und «Konzep-
tualismus* bezeichnet. Wie Thomas von Aquino, so ist auch Dante
Konzeptualist, die Universalia sind für ihn Vorstellungen, Conceptus
von realer Existenz, also auch künstlerisch darstellbar. So hat z. B.
Giotto in der ünterkirche S. Francesco zu Assisi die Verbindung der
Armut mit dem heiligen Franz allegorisch dargestellt, und so hat Dante
denselben Gegenstand gesungen in den Versen: Paradies XI, 55 ff.
Non era ancor molto lontan dall' orto,
Ch' ei cominciö a far senür ia teira,
Della siia gran virtate alctin conforto;
Chö per tal donna giovinetto in guerra
Del padre corse, a cui, com' alla morte,
La porta del piacer nessun dissera;
Ed innanzi aUa soa spirital corte,
Et coram patre le si fece unito;
Poscia di di in dl Famo piti forte.
Questa, privata del primo marito,
Mille Cent' anni e piü dispetta e scura
Fino a costoi si stette senza invifo.
Die malerische Darstellung ist gelungen, weil eben die Armut
sinnlich verkörpert wurde in einem zerlumpten Weib mit strengem,
hohläugigem Blick ; die Verse Dantes dagegen — gestehen wir es offen
— sind herzlich unpoetisch. Vielleicht der einzige gelungene Zug in
der ganzen Erzählung ist das Anschauliche: «dispetta e scura si stette
senza invito.* Im Übrigen ist die Armut bei Dante eine Frau, die seit
7*
• 4 •
100 Karl Vossler
Christus unverheiratet bleiben musste, weil ihr eben niemand gerne die
Thore des Vergnügens öffnet — und dam-it basta. Fast an sämtlichen
Stellen der „Divina Commedia*, die künstlerisch misslungen sind — und
es giebt deren vielleicht mehr als unsere moderne Danteschwärmerei
sich zugestehen möchte — ist es immer wieder die leidige Allegorie,
die nicht gehörig verkörpert und individualisiert werden konnte. Die
lebendigsten allegorischen Figuren aber, wie Virgil, Gharon, Gato und
Dante selber hören eben auf reine Allegorien zu sein in demselben Augen-
blick, wo ihr künstlerisches Leben beginnt. Es sind lebendige Indi-
viduen, die so zu sagen erst nachträglich ihren symbolischen Wert be-
kommen, so dass, streng genommen, das Persönliche an ihnen ihre
abstrakte allegorische Bedeutung trübt. Ein logischer und wissenschaft-
licher Kopf des Mittelalters, wie es Gecco d*Ascoli war, hat diesen
Widerspruch erkannt und von seinem Standpunkte aus auch mit Becht
getadelt: die allerlebendigsten Gestalten der bildnerischen Phantasie
sind für ihn, den Vertreter der unverfälschten Didaxis, Allotria.
Qui non se canta al modo delle rane,
Qui non se canta al modo del poeta,
Che finge immaginando cose vane; . . .
Non vego U conte che per ira et asto
Ten forte l'arcevescovo Rugero
Prendendo del so ceffo fero pasto;
Non vego qui squadrare a Dio le fiche;
Lasso ]e zanze e tomo su nel vero:
Le favole me fo sempre nimiche.
Für den Künstler freilich liegt der Hauptwert des Gedichtes
gerade in diesen Allotria.
Dante befindet sich in einem höchst gefährlichen Dualismus zwi-
schen schafTender Phantasie und abstrahierender Beflexion. Nur ein
Oenie von so elementarer Kraft wie er konnte siegreich daraus hervor-
gehen. Diese Leistung, die künstlerische Überwindung der Allegorie,
wird man aber nicht als renaissancemässig oder modern bezeichnen
dürfen. Sie ist allerpersönlichstes Verdienst, ein Ausfluss von Dantes
leidenschaftlicher Phantasie, die auch im Jenseits ihre irdischen Er>
innerungen und ihr ungefüges Qefahlsleben nicht los werden will. Es
ist das allgemein Menschliche und allgemein Künstlerische in dem Ge-
dicht und das hat ihm durch alle Jahrhunderte hindurch ein ewiges
Leben gesichert. Benaissancemässig wäre vielmehr die Vermeidung
die Abschaffung, aber nicht die Überwindung der Allegorie gewesen.
Denn in der Renaissance verwendet man die Allegorie höchstens noch
4 •
; • • • •
, • • • •
Dante und die Renaissance 101
als nachtragliche Interpretationsmethode, wie Cristoforo Landino, oder
als ornamentales Beiwerk, wie Polizian getban hat, aber nicht mehr als
Grundprinzip des künstlerischen Schaffens.
Eine andere Seite in der ästhetischen Wirkung der göttlichen Ko-
mödie muss jedoch als spezifisch mittelalterlich bezeichnet werden : die
logisch genaue, festgefügte Ebenmässigkeit des kolossalen Gebäudes der
drei Reiche, die Monumentalität, die sichere hierarchische Ordnung, die
bis ins letzte durchgeführt, nach unseren Begriffen wohl leicht ins Pein-
liche, Kleinliche und Kindische ausarten müsste, wenn nicht der tiefe
Ernst mittelalterlicher Überzeugung eine göttliche Bedeutung auch im
Geringfügigsten noch gewahren liesse. Sogar die äussere Form der
3 mal 33 Gesänge, plus einem „Proemio*^, um das Hundert voll zu
machen und die Terza rima selbst, ist jedenfalls nichts anderes als die
logische Schöpfung Überzeugungstreuester Zahlensymbolik. Sobald man
sich mit der Scholastik bekannt gemacht hat, wird man auch die Gross-
artigkeit dieses Systemes wieder geniessend empfinden.
Das Traumhafte der ganzen Vision des Jenseits ist also logisch
ausgebaut und bekommt den Wert einer Thatsache. Ohne die Beihülfe
des Glaubens aber wäre auch die kräftigste Phantasie der Welt nicht
im Stande gewesen, eine so greifbar schauerliche Hölle zu schaffen.
Wie kläglich ist z. B. die Illusion der Petrarkischen Triumphzüge an
der inneren Skepsis ihres Verfassers gescheitert. Petrarca fühlte zu
sehr, dass seine Triumphe nur ein unmassgebliches Traumgesicht seien
und darum hat er sich nicht die Mühe genommen, sie den logischen
und physischen Gesetzen der Einbildungskraft zu unterwerfen. Weil
der Glaube fehlte, fehlt auch die Evidenz. Ist nun aber der grösste
Dichter der Benaissance, Ario st, nicht auch ein Skeptiker gewesen und
hat er nicht trotzdem die märchenhafte Welt, an die er selbst nicht
glaubte, zur klarsten Evidenz gestaltet? Gewiss, aber nur dadurch hat
er es vermocht, dass er jeglichen Ernst der Überzeugung bei Seite
lässt, und das künstlerische Schaffen als ein ergötzliches Spiel betreibt.
Wenn Dante sich leidenschaftlich mit den Schatten seiner Hölle zankt,
so steht Herr Lodovico lächelnd über den Kindern seiner Phantasie und
hat die unartigen gerade so lieb wie die artigen. Der blutige Ernst
Alighieris musste dem ebenmässigen Formenkünstler der italienischen
Benaissance manchmal wie etwas Fremdartiges, Unheimliches, Groteskes,
Barbarisches, Pedantisches und Lächerliches erscheinen. Erst nachdem der
letzte Mensch des guten Geschmacks begraben, und das liebliche Pro-
gramm arkadischer Ergötzung zu Ende gespielt war, konnte die Donner-
102 Karl Voasler
stimme Alighieris wieder einem lebendigen Echo in der erschütterungs-
und rührungsbedürftigen Brnst des modernen Pablikums begegnen.
Hat nun aber nicht doch; mass man fragen, das von Dante selber
proklamierte Ideal der antiken Kunst eine Spur renaissancemässigen
Schönheitsgeföhls in seinen Werken hinterlassen? Müsste man nicht
blind sein, um seine Begeisterung für. Virgil zu verkennen ? Beweisen
es nicht zahlreiche Stellen, dass er sogar die stilistische Formvollendung
virgilianischer Ausdrucksweise empfand? Und haben nicht die neuesten
Untersuchungen von Edward Moore eine Kenntnis der antiken Litte-
ratur bei Dante erwiesen, die far jene Zeit schon sehr beträchtlich ist?
— Gewiss, und all diese Elemente sind unbedingt als Zeichen des nahen-
den Humanismus zu deuten.
Dennoch wäre es ein grosser Irrtum, die klassische Bildung Dantes
als etwas bisher nie Dagewesenes zu preisen. Es gab vor ihm und
neben ihm in Italien und besonders in Frankreich eine Reihe von Män-
nern, die ihm an klassischer Gelehrtheit zum Wenigsten gleich standen,
wenn nicht gar überlegen waren. Und man täusche sich nicht, gerade
das, worauf es ankommt : die Auffassung und Beurteilung des Altertums
überhaupt ist bei ihm noch eine durchaus mittelalterliche. Die ganze
unendliche Kulturarb,eit der Römer hat in seinen Augen noch keinen
eigenen Wert und ist nur eine Vorbereitung auf die Kunft Christi ; im
Kaisertum, nicht in der Republik erreicht sie ihren Höhepunkt und in
der Person des Papstes erst ihre Existenzberechtigung. Dieser Gedanke
ist mit unzweideutiger Prägnanz ausgedrückt in den Versen : Inferno II,
16 ff. Der Dichter spricht hier von Aeneas, dem Stammvater Roms,
der zum ersten Mal eine Fahrt in die Unterwelt gethan habe, ähnlich
wie sie nun Dante, von Virgil geleitet, unternehmen soll, und sagt:
Per6, 86 PawerBario d'ogni male
Cortese i fii, pensando l'alto effetto
Che uscir dovea di lui, e il chi e U quale,
Non pare indegno ad uomo dintelletto:
Ch' ei fu deir alma Roma e di suo impero
Neil' empireo del per padre eletto;
La quäle e il quäle — a voler dir lo vero —
Für stabiliü per lo loco santo
ü' siede il successor del maggior Piero
Per questa andata, onde gli däi tu vanto,
Intese cose che furon cagione
Di 8ua vittoria e del papale ammanto.
Der Sinn ist: «Wenn darum Qott, der Feind alles Bösen, dem
Aeneas die Fahrt nach der Hölle gnädig gestattete, und wenn wir die
Dante und die Renaissance 103
hohen Folgen, die von Aeneas ausgehen sollten (nämlich das kaiserliche
und päpstliche Rom), bedenken, so scheint das dem verständigen Men-
schen eine wohlberecbtigte und würdige Sache. Denn Aeneas wurde in
dem empireischen Himmel zum Vater der grossen Roma und ihrer Herr-
Schaft auserwählt. Beide, Rom und die Weltherrschaft, wurden in
Wahrheit bestimmt zu dem heiligen Sitze, wo der Nachfolger Petri
thront. Und durch diese Unterweltsfahrt, die du, Virgil, dem Aeneas
nachrühmst, erfuhr er Dinge, die zur Ursache seines Sieges und des
Papsttums geworden sind.**
Also noch immer die grosse mittelalterliche Zweckskette, die von
Aeneas bis zum Papste herauffährt. Ein ähnliches Gewichtsverhältnis
zwischen Antike und Christentum drückt sich in der von Edward Moore
ermittelten Statistik aus. Der englische Gelehrte zählt in sämtlichen Werken
Dantes etwa 200 Bezugnahmen auf Virgil, 100 auf Ovid, je 50 auf Cicero
und Lukan, je 10 bis 20 auf Horaz und Livius — die alle zusammen reich-
lich überwogen werden durch 500 Bezugnahmen auf die Bibel allein ')
— von der mittelalterlichen Eirchenlitteratur gar nicht zu reden.
Nicht einmal das durchgehende Nebeneinander biblischer und antiker
Darstellungen in den allegorischen Gruppen und auf den Reliefs im Pur-
gatorium darf als Renaissanceelement aufgeführt werden. Es ist lange
erwiesen, dass dieser Parallelismus die ganze bildende Kunst des Mittel-
alters beherrscht und in der allegorisch-symbolischen Auffassung des
Altertums seine Wurzel hat.
Wenn aber auch die Grundanschauung eine mittelalterliche bleibt,
so erhebt sich doch die künstlerische Ausführung oft genug zu echt
modernem Klassizismus. Mit anderen Worten: Dante hat den eigenen
Wert der Antike theoretisch nicht erkannt, aber die eigene
Physiognomie der Antike hat er künstlerisch gefühlt und wie-
dergegeben.
Das zeigt sich zunächst negativ in seinem ablehnenden Verhalten
gegen den Ritterroman.
Das zeigt sich positiv in seinem Stil, in der festen Struktur des
gegliederten Ausdrucks, in dem kunstreich gehandhabten Enjambe-
ment, in der freieren Rhythmisierung der Phrase.
Es zeigt sich in der Wiedergabe antiken Wesens und Gebahrens,
z. B. in jener berühmten Schilderung des Limbns der berühmten Männer.
Hier hat der Held und Denker des Altertums die mittelalterliche Ver-
kleidung, die ihm Benott de Salute More und andere Franzosen ange-
1) £. Moore, Studies in Dante. First Series, Oicford 1896.
104 Karl VosBler
legt hatten, beiseit geworfen und steht, wies ihm gebährt, in rein ver-
klärter Menschlichkeit vor uns.
Genti v' eran con occhi tardi e gravi
Di grande autoritä ne' lor sembiaati; «
Parlavan rado con voci soavi ....
Vidi i] maestro di color che sanno
Seder tra filosofica famiglia.
Tutti lo miran, tutti onor gli fanno.
Unwillkürlich streift der Oedanke zu Baphaels Parnass und Schule
von Athen. Es ist derselbe Qeist der Benaissance, der über jenen Bil-
dern schwebt.
und dasselbe zeigt sich in der flammenden Kede des ülixes, der
Haus und Familie vergisst und seine Leute zum „tollen Fluge" hinaus-
jagt, den fremden Ocean zu erforschen.
Considerate la vostra semenza:
Fatti non foste a viver come bniti,
Ma per seguir virtate e conoscenza! (Inf. XXVI, 118.)
„Bedenket, dass ihr Mensch-geboren seid,
Und nicht geschaffen, wie das Vieh zu leben,
Erkenntnis suchen sollt und Tüchtigkeit!**
Das ist die grosse Maxime der ßenaissance, die Wiederentdeckung
des Menschen — und wieder dringt unser Geist nach vorwärts: zu
Cristoforo Colombo. Diese Ideenassoziationen sind so naheliegend, dass
sie sich wiederholt den Litterarhistorikern aufgedrängt haben.
Die Spur antiker Kunst zeigt sich endlich in der Art wie die
Naturschilderung verwertet wird. Dantes Naturgefahl ist kein modern
sentimentales, wie es sich bald schon bei Petrarca findet. Die Land-
schaft, sofern sie sich bei Dante nicht mit der Vaterlandsliebe verbindet
— und auch dieser Zug dürfte antik sein — wirkt vorzugsweise auf
seine Phantasie, nicht auf sein Qemüt. Er verwendet sie zur Voran*
schaulichung seiner Höllenräume und seines Läuterungsberges und sieht
mit einem klareren topographischen Auge als der moderne Dichter, dem
die bewegte Seele den .Blick fars Gegenständliche verschleiert. Hierin
steht er der Antike und besonders dem Homer, den er nicht gekannt
hat, am nächsten.
Selten nur, besonders in der prachtvollen Steincanzone ^lo son ve-
nuto al punto della rota*^ (Canzoniere XI), bricht doch schon ein mo-
dernes Naturgefuhl heraus. Die winterlich erstarrte Aussenwelt wird
hier durch fünf Strophen hindurch in Gegensatz gebracht zur glühen-
den Liebesqual in der Brust des Dichters, und dennoch werden die bei-
Dante iind itie Renaissance 105
den Kontrastempfiadungen auf einen gemeinsamen Grandakkord der
Melancholie gestimmt. Das Motiv ist dem mittelalterlichen Minnesang
entnommen, aber kein Troubadour und selbst kein Walther von der
Vogelweide hat es mit solcher Kunst erfasst, mit solchem Gefühle ver-
tieft. Derartige Kundgebungen eines modernen Empfindens sind jedoch
vereinzelt und oft noch kaum erkennbar.
Alles zusammengenommen ist Dante der Erste, der in künstlerischer
Weise antike Elemente in die Yulgärlitteratur eingeschmolzen hat. Seinen
unmittelbarsten Nachfolger fand er dabei in Boccaccio — mit dem
Unterschiede jedoch, dass dieser nur zu oft ins Mittelalterliche zurück-
fallt, indem er es bei einem unorganischen Nebeneinander mittelalter-
licher und humanistischer Formen bewenden lässt; nur in dem quanti-
tativen Verhältnis der Mischung ist ein Fortschritt zu Gunsten der
Antike bei Boccaccio eingetreten, im qualitativen aber ein Bückschritt
zu verzeichnen. Der echte und rechtmässige Fortsetzer Dantes sollte
erst viel später in Ariost erstehen. — Immer wieder steht unser Dichter
dem Mittelalter und der Hochrenaissance viel näher als der dazwischen
liegenden Zeit des Humanismus.
Werfen wir noch einen kurzen Blick auf Dantes Verhältnis
zur bildenden Kunst, das besonders in Deutschland so oft zum
Gegenstand der Untersuchung gemacht wurde. Seine Kunst lehre ist
mittelalterlich und geht in keiner Weise über die Anschauungen des
Albertus Magnus und des Thomas von Aquino hinaus, wie Janit^chek
gezeigt hat.^) Wenn man nun aber die Entsündigung des Schönen in
der Welt als ein Benaissanceelement bezeichnet hat, das wir den Fran-
ziskanern und Dante verdanken, so ist Franz Xaver Kraus wohl mit
Hecht dieser Auffassung entgegengetreten. „Ich fürchte*, sagt er, „dass
hier ein Missverständnis vorliegt, wie es häufig bei solchen gefunden
wird, welche mit dem Gedanken der theologischen Kreise nicht völlig
vertraut sind. Eine prinzipielle Verdammung der Schönheit war auch
dem Christentum vor dem 13. Jahrhundert fremd; es war wesentlich
die Schönheit des menschlichen Leibes, von deren Betrachtung und
Genuss die aszetische Lebensauffassung in Anbetracht der Sündhaftig-
keit und Schwäche unserer Natur abzuziehen suchte. Das hat wahr-
haftig auch Francesco d'Assisi wie irgend einer seiner Vorgänger ge-
than. Wenn er aber die Herrlichkeiten in Gottes freier Natur mehr
als andere bewunderte und liebte, so lag darin kein Gegensatz gegen
1) Die Kunstlehre Dantes und Giottos Kunst, Leipzig 1892.
106 Karl Vossler
die prinzipielle Auffassung der übrigen Christenheit, sondern es war nur
ein Ausfluss seiner poetisch angelegten Stimmung. Die grosse Evolu-
tion und Revolution, welche für die Kunstgeschichte mit der Entdeckung
der Schönheit des menschlichen Körpers beginnt, fällt nicht ins 13.,
sondern ins 15. Jahrhundert, und Francesco d*Assisi ist daran gar nicht,
Dante nur von ferne beteiligt* *)
Es wiederholt sich immer dasselbe Schauspiel: neben den mittel-
alterlichen Grundanschauungen kann man einen modernen Sinn für dar-
stellende Kunst bei Dante einesteils in vereinzelten Äusserungen finden,
wie in dem berühmten Worte : „Poi chi pinge figura, se non puö esser
lei, non la puö porre ; onde nullo dipintore potrebbe porre alcuna figura,
se intenzionalmente non si facesse prima tale, quäle la figura esser dee^
(Conviv. IV, 10), d. h. in moderne Sprache übersetzt: Das Bild muss
erlebt sein. Andererseits offenbart sich ein moderner Sinn für Kunst
nur noch in einem Iroponderabile, in dem unbewusst Genialen seiner
plastisch sinnlichen Schaffensweise, das sich aufs innigste mit dem
Genius Michelangelos berührt.
Die bedeutungsvollste Spur einer künstlerischen Gesinnung, einer
ästhetisch empfindenden Seele aber verrät sich in jenem unbewussten
Gegensatz, in den der Dichter jeden Augenblick zum Moralisten tritt.
Die Verse, die er einer Francesca, einem Farinata, einem Gapaneus und
Ulixes widmet, bezeugen es laut genug, dass er eine unbändige und
schlecht verhehlte Freude hat am Kraftmenschen, am ausserordentlichen
Individuum, an der Kühnheit, an der Schönheit, an der Liebe und am
Ruhm. Der grosse Verbrecher aus ganzem Holze steht seinem in-
nersten Instinkt wohl näher als manch zahmer Gast im Himmelreich.
Diese Wertschätzung der Kraft entspricht aber ebenso sehr der ger-
manisch ritterlichen als der antiken Denkungsart ; und in der That ver-
mählt sich in Dantes Brust die Seele des alten Hellenen mit der des
alten Germanen; er hat etwas von dem germanisch gesinnten Ghibel-
linen Farinata und von dem rühm- und wissensdurstigen Hellenen ülixes
in seinem Blute leben; das Innerste in ihm, das Individuuni ist ganz
modern und menschlich im besten Sinne des Wortes.
So sahen wir also: vom Mittelalter ist das ganze Denken und
Glauben Alighieris beherrscht; seine Überzeugung, seine Gesinnung ist
eher eine retrospektive als eine fortschrittliche; seine volle Sympathie
gehört den grossen Idealen der Vergangenheit, und die ei*sten Ansätze
1) Dante, sein Leben und sein Werk, Berlin 1897. S. 549 f.
Dante und die Renaissauce 107
ZU einer neueD Gestaltung des politischen, sozialen, religiösen und litte-
rariscben Lebens, in der Art, wie sie sich zu seinen Tagen geltend
machen, erscheinen ihm meist als Verfall und Verderbnis. Wo er aber
je selbst im Sinne des Fortschrittes thätig ist, da schreitet er gleich
jahrhunderteweit über die näheren Ziele der Frührenaissance hinaus, und
seine Leistungen müssen darum zunächst noch ohne Fortsetzung liegen
bleiben. Er steht also in keiqem unmittelbaren Eontinui-
tätsverhältnis zur Eulturentwicklung seines Zeitalters,
und es ist durchaus falsch, ihn einen „Bahnbrecher der
Renaissance" zu nennen im eigentlichen Sinn des Wortes,
wie es etwa auf Petrarca passt. Dieser, Petrarca, hat die verborgen
angesponnenen Fäden der Renaissance behutsam aufgenommen und un-
ermüdlich weitergezogen und hat für die nächste Entwicklung in viel
augenfälligerem, intensiverem Masse fördernd gewirkt als Dante, der
mit dem Anachronismus des Genies in hochgewölbtem Bogen eine Brücke
vom Mittelalter zur Neuzeit herübergeschlagen hat. Er ist der Erste
und der Letzte zugleich, der den ganzen Gehalt des Mittelalters mit
der Seele eines modernen Menschen erfasst hat; nur so ist es zu er-
klären, dass er es vermochte, die feudale Monarchie zu verteidigen uud
den Eulturstaat zu predigen, ein gläubiger Eatholik zu bleiben und
über die Eirche seiner Zeit den Stab zu brechen, die theokratische
Moral zu verinnerlichen, die abstrakteste Scholastik noch dichterisch zu
beleben, die Allegorie künstlerisch zu überwinden, das theologische
Wissen zu popularisieren, das Latein zu verehren und trotzdem eine
vulgäre Eunstsprache zu schaffen, die Welt der Antike zu verkennen
und doch ahnend zu erfassen; kurz das ganze Gebäude der mittelalter-
lichen Weltanschauung auf einen Augenblick noch einmal poetisch zu
durchglühen. — Man könnte vermuten, dass diese zauberische Durch-
leuchtung mit dem Prometheusfeuer der Dante*schen Seele dem ehr-
würdigen Gebäude einen heimlichen Schaden angethan habe, denn kaum
hatte der Dichter sein Feuerwerk abgebrannt, da fing auch schon der
alte Bau zu wanken an und stürzte.
Pfalzgräfin Elisabeth
Äbtissin von Herford«
Ein Vortrag 0
von
J. Wille.
Die «Frauenfrage^, wie sie heutzutage in allen Formen des sozialen
Lebens so leidenschaftlich das zarte Geschlecht bewegt, ist wenig-
stens nach der Seite der höheren Bildung hin, schon längst akademisch
behandelt worden. Ein gelehrter Kandidat mit dem gerade nicht sehr
schönen und vielleicht auch dem damaligen Frauengeschlechte gar nicht
begehrenswerten Namen Johannes Sauerbrei hat schon Ende des sieben-
zehnten Jahrhunderts mit einer stattlichen Beihe von Thesen „über die
Gelehrsamkeit der Frauen^ in der Leipziger Universität öffentlich dis-
putiert.') In zwei lateinischen Abhandlungen, die nach Form und In-
halt und nach dem heutigen Geschmacke, dem Familiennamen des Ver-
fassers alle Ehre machen, hat er dem Frauengeschlechte seine Aner-
kennung nicht versagt. Er hat zugegeben, dass es nicht gegen die
Vernunft sei, wenn Frauen, die Vermögen, dazu freie Zeit von häus-
lichen Geschäften besitzen und beseelt sind von Lust und Liebe zu den
Studien, ihre Zeit lieber den Wissenschaften als andern nichtssagenden
Dingen zuwenden. Ein ganzer Katalog «gelehrter Frauen^ von dem
1) gehalten zum Besten des Badischen Fraaen Vereins in der Anla der Uni-
versität am 14. Dezember 1900. — Nur in diesem eng begrenzten Rahmen und nur
als Skizze bitte ich meine Darstellung zu beurteilen. Mein Versuch auf Grund der
im k. Staatsarchiv zu Münster i. W. befindlichen Akten des ehemaligen Keichsstifts
Herford und dort vermuteter Briefschaften seiner berOhmtesten Äbtissin, den psycho-
logischen Inhalt dieser bedeutenden Frauengestalt tiefer zu ergründen, ist mir leider
nicht geglückt. Ich benütze die Gelegenheit, der mir vom Vorstände und den Be-
amten des gen. Archives zu Teil gewordenen Unterstützung meinen herzlichen Dank
an dieser Stelle auszusprechen.
2) Johannes Sauerbrei, De foeminarum eruditione Diatr. II. Lips. 1676. (Diatr. I
war auch in der Leipziger Universitätsbibliothek nicht zu finden.)
J. Wille: Pfalzgräfin Elisabeth 109
frühesten Altertum bis in des gelehrten Verfassers Tage soll uns be-
weisen, in wie reichem Maasse auch die Frauenwelt an der gelehrten
Bildung aller Zeiten Teil genommen hat, dass also nach dem Schöpfangs-
plane die Frauen auch geistig dem Manne nicht untergeordnet seien.
Das war ein grosser Fortschritt in der freien Auffassung sozialer Ver--
hältnisse jener Tage gegenüber dem dogmatisch getrübten Urteile eines
reformierten Theologen des sechszehnten Jahrhunderts, der aus seinem
frommen Zweifel keinen Hehl machte, dass die Frau nach dem Ebenbilde
Gottes geschaffen sein könne, weil das göttliche Ebenbild eine Herrschaft
über die Natur bedeute.
Von solchem paradiesischen Selbstbewusstsein scheinen mir auch in
unsern Tagen noch viele befangen zu sein, weil sie sich um die Lehren
der Geschichte nicht kümmern und vieles im Streben der Frau selbst
nach gelehrter Bildung neu und unerhört finden, was im geistig reg-
samsten Jahrhundert der neueren Geschichte auch dem Frauengeschlechte
die höchste Menschenwürde verlieh. Denn glänzender als die Renais-
sance Italiens^) hat wohl keine andere reiche Kultur den Frauen ein
Zeugnis ihrer hohen Begabung ausgestellt. Sie hat uns gezeigt, dass
auch die Frauen fähig waren, im Mittelpunkte eines veredelnden Geistes-
lebens zu stehen, die läuternde Kraft ernster und tiefer Bildung in sich
wirken zu lassen, in der Freiheit des Wissens und Erkennens niemals
des Zwanges ächter Weiblichkeit zu vergessen und im Streite der
schrankenlosen Gewalten mit den Gesetzen feinster Sitte jener Tage
auch den Mann zu adeln. So reich an hochbegabten Frauengestalten
ist die Kultur diesseits der Alpen niemals gewesen. Figuren, wie sie
das geistige Leben der italienischen Fürstenhöfe beherrschten, wie sie
in der Villa des Antonio Alberti zu Florenz aus- und eingingen, jene
feinsinnigen, reichbegabten Frauen vermissen wir, die gerne gesehen
und bewundert, mit den Gebildetsten des andern Geschlechts über alle
•
Fragen des höheren menschlichen Daseins disputierten. Auf ganz
anderm Boden, in andern Formen und Äusserungen bewegt sich im Nor-
den der geistige Verkehr. Die neue Bildung ist in die Gelehrtenstube
eingezogen, erst in der Gelehrtenstube hat sie fruchtbringend gewirkt.
Diese Bildung bei den Deutschen ist nicht mehr so frei, nicht so dilet-
tantisch, so glänzend und weite Kreise umfassend, sie ist aber ernst
und tief, in einem Zeitalter, das in den Fragen des Seelenheils sich ab-
1) Janitschek, Die Gesellschaft der Renaissance in Italien und die Kanst.
Stuttgart 1879. Kap. 3.
110 J. Wille
müht, die Glaubensartikel als ein Heiligtum wahrt, für sie kämpft
und blutet, oder in vorraussetzungslosem Zweifel an allem, nur nicht
am eigenen Denken und Sein, neue Wege der Erkenntnis Ofifnet Nicht
so vorherrschend wie die Frau der italienischen Gesellschaft, sondern
bescheiden und zurückhaltend, aber mit tiefem Ernst am wissenschaft-
lichen Leben teilnehmend, von unermüdlichem Streben nach Erkennt-
nis; oft staunenswerter umfassender Gelehrsamkeit, von den geistigen
Führern der Zeit geachtet, bewundert und gefeiert — so stehen die
gelehrten Frauen der deutschen Renaissance vor uns.
An dem Ruhme aber, der ihnen gebührt, hat keine so grossen An-
teil als die pfälzische Prinzessin Elisabeth,^) Äbtissin von Herford.
Landläufige Geschichtsbücher wissen von ihr nichts zu erzählen, kaum
dem Namen nach ist sie vielleicht so vielen bekannt, die als Führer
mitten im Kampfe um die Fragen moderner Frauenbildnng stehen. Und
doch war diese Prinzessin die Unserige, ein Kind unserer Stadt, auf
dem Schlosse zu Heidelberg geboren, von den dreizehn Kindern, die
Elisabeth Stuart dem Kurfürsten Friedrich V., dem Winterkönig, ge-
schenkt hat, das dritte, von den hochbegabten Mädchen dieses schick-
salsvollen Familienkreises die älteste. Der Glücksstern der englischen
Heirat leuchtete noch einmal auf, um bald darnach dauernd zu ver-
löschen. In lebhafter Erinnerung waren noch den Pf&lzern jene fest-
lichen Tage, die unserm Schlosse den letzten Palastbau angefägt, der
jetzt halbgebrochen von grünender Höhe in das liebliche Thal herab-
schaut, mit all den hängenden Gärten und rauschenden Wassern in
kunstreichen Formen aus dem Boden geschaffen, einen nie dagewesenen
Glanz höfischen Lebens bei einem so fröhlichen und doch einfachen
Geschlecht. Diese glänzende Heimat blieb der Prinzessin eine fremde
Welt. Am 26. Dezember 1618 ist sie geboren und schon Ende Oktober
des kommenden Jahres war Kurfürst Friedrich, als guter Calvinist der
Stimme Gottes folgend, ausgezogen, um das zweifelhafte Geschenk der
böhmischen Königskrone in Empfang zu nehmen. Der Gang der Ge-
schichte ist bekannt: Der böhmische Krieg, die Schlacht am weissen
1) Gahraaer, EÜsabeth, Pfalsgräfin bei Rhein, Äbtissin von Herford (Raamer's
Histor. Taschenbach 3. Folge Jahrg. 1 S. 1—137, 2 S. 417—554), was ihre aosaem
Lebensverh<nisse betrifft, eine Arbeit von grundlegender Bedeutung, die uns zum
ersten mal ein zusammenhängendes Lebensbild der Prinzessin gibt. (Davon ab-
hängig und ohne selbständigen Wert: Blaze de Bury, Memoirs of the princess of
Bohemia. London 1853.) — HOlscher, Pfalsgräfin Elisabeth (Allgem. Deutsche Bio-
graphie 6, 19—28).
Pfalzgräfin Elisabeth Hl
Berge, die Eroberung der Pfalz und ihrer Residenz, die Flacht der
kurfürstlichen Familie — und das Elend eines dreissigjährigen Krieges.
Die kleine Prinzessin war ihrer Orossmutter, der geist- und gemät-
voUen Kurfürstin Louise Juliane,') der Tochter des grossen Oraniers,
auf der Flucht nach der Mark Brandenburg gefolgt. Die protestantische
Politik hatte mit dem brandenburgischen Hofe, wo damals Georg Wil-
helm regierte, verwandtschaftliche Beziehungen geschaffen. Mit dem
Kurfürsten war Julianens Tochter, die Schwester Friedrichs V., Elisabeth
Charlotte verheiratet. Sie ward die Mutter des grossen Kurfürsten und
Friedrich Wilhelm war also der Vetter der Pfalzgräfin Elisabeth. Eine
Verwandtschaft, die für ihren Lebensweg von entscheidender Bedeutung
werden sollte. Wahrscheinlich bis zum Jahre 1626 blieb Elisabeth zu
Crossen unter der Obhut ihrer sorgsamen Grossmutter. Inzwischen hat
sich die kurfürstliche Familie, deren Flüchtlingsleben wenigstens mit
einer Schar von Kindern gesegnet war, im Haag versammelt, im Ge-
nüsse der Gastfreundschaft der niederländischen Staaten, unter dem
Schutze der oranischen Verwandtschaft. Elisabeth war Eltern und
Geschwistern gefolgt. Dort hoffte man auf eine glückliche Wendung
der politischen Verhältnisse, doch vergeblich. Die Zuverlässigkeit der
englischen Politik versagte mit samt der Schutzherrlicdkeit Jakobs I.,
auf welche die protestantische Welt all ihre Hoffnungen gebaut hatte.
Auch nach dem Tode des vom Schicksal gebeugten Kurfürsten (29. No-
vember 1632) blieb die Hofhaltung der böhmischen Königin ein Exil.
Aber vom Elend jener Tage merkte der Fremde, der kam, sehr wenig.
Alle sind entzückt von dem äussern Glänze dieses Lebens, in dessen
Mittelpunkt die schöne Königin Böhmens den ganzen Zauber ihrer Per-
sönlichkeit entfaltete. ') Es war ein Wanderleben fröhlichster Art, denn
im Haag sass man niemals fest. Zu Bhenen hatte sich Friedrich V.
ein stattliches Schloss gebaut, das in seinem Äussern nicht gerade glanz-
voll und von reichen Formen, doch in seinem Innern den behaglichen
1) Fr. SpaDheim, Memoires Bur la vie et la mort de la sereniBBime PrinceBBe
Loyse Juliane, Electrise Palatino etc. Leyden 1645. — F. E. Bunnett, LooiBe Juliane,
ElectresB Palatino and her times. LoDdon 1862.
2) J. 0. Opel, Elisabeth Staart, EurfOrBtin der Pfalz, Königin von B hmen.
(HiBtor. Zeitschrift 23, 289—329.) „The pearl of Britain" Blaze de Bury S. 87. —
Über das Leben im Haag: G. D. J. Schotel, De Winterkoning en zijn gezin. Tiel
1859. hoofst. 9. — K. Th. Wenzelburger, Geschichte der Niederlande II, 988 ff. —
P. J. Block, Geschiedenis van het nederlandsche Volk IV, 322 ff. — C. Neiimann,
Rembrandt 1902. S. 72 ff.
112 .T.Wille
und eleganten Reichtum einer Besidenz zur Schau trug. ^) Grund und
Boden war von den Staaten von Utrecht geschenkt. Gerne versammelte
sich zur Sommerszeit die königliche Familie in dem einst zur Abtei
Egmond gehörigen Hondslaarsdijk, das von^ Johann Heinrich, dem Statt-
halter, zu einem glänzenden Schlosse umgebaut mit zahlreichen Kunst-
schätzen angefüllt war. Auch auf den Schlössern der Adeligen am Rhein
und an der Yecht suchte man Gastfreundschaft und genoss fröhliche Tage.
Zwar lebte dieser Hof der flüchtigen Königsfamilie vom Gnadenbrote
der Generalstaaten, von den milden Gaben, die von England herüber-
kamen, aber rauschende Feste und Jagden, Fahrten zu Wasser und zu
Land, Hessen die Knappheit der Mittel nicht merken, die zeitweise in
diesem Kreise herrschte, und nichts von den Schulden, die auf diesem
frohen Dasein lasteten. *) „Wir hatten oft reicheres Mahl als Kleopatra,
erzählt uns einmal die jüngste Tochter Sophie, wir lebten von Perlen
und Diamanten.*
Es fehlte nicht an Stimmen, die sich gegen dieses üppige Leben,
gegen die Freuden des Theaters und der Ballette erhoben, während die
pfälzischen getreuen Unterthanen zu Hause unter den Schrecken des
Krieges seufzten.')
Um die geistvolle Königin aber versammelte sich an dem wandernden
Hofe neben Kavalieren und Diplomaten die ganze geistig vornehme Ge-
sellschaft jener Tage. Auch die Prinzen und Prinzessinnen sollten Teil
nehmen an der hohen Bildung, in deren reichem Besitze die nieder-
ländischen Staaten an der Spitze des geistigen Lebens^) in Europa
standen. Nicht unfruchtbar auch für diese höheren Zwecke blieb der
gewaltige Reichtum, welcher diesem rührigen kleinen Volke im Kampfe
gegen die spanische Weltmonarchie eine unentbehrliche Macht verliehen.
Man wetteifert um den Besitz von hohen Schulen. An sechs Universitäten
und Akademien des kleinen Landes lehrten die gefeiertsten Vertreter
1) Schotel S. 77. — Job. Kretschmar, Das kurpfälzische Schloss za Rhenen,
eine Arbeit, die roir Herr Staatsarcbivar Kretschmar in Hannover für diese 2^it-
schrift zur Verfügung stellte, die jedoch einen passenderen Platz demnächst in den
„Mittheilungen zur Geschichte des Heidelberger Schlosses** finden wird.
2) Aitzema, Saken van Staet en Oorlogh III, 324. 916.
3) Wenzelburger II S. 989.
4) Vgl. de Sorbiöre, Lettres et discours sur diverses maticres cnrieuses. Paris
1660 8^ Neugedruckt in: Bijdragen en mededeelingen van het bist, genootschap gev.
te Utrecht 22, 1 ff. bes. Lettre IV. Über die allgemeinen Kulturverhältnisse auch
C. Nenmann, Rembrandt Kap. 1.
!>fa1zgrftfin Elisabeth 113
der Wissenschaft. Neben dem Erbteil niederländischer Gelehrsamkeit,
der Philologie und Altertumskunde, blähen mathematische and natur-
wissenschaftliche Stadien. Dabei bewegen die tiefen Fragen des Glau-
bens Staat und Kirche. Die Scholastik der calvinischen Theologie,
durch die Dortrechter Synode geheiligt, im Kampfe mit dem Rationalis-
mus, gibt den politischen Parteien ihre F&rbung. ^) Eine Unduldsamkeit
ohne gleichen beherrscht die theologischen Schulen. Bigorose Calvinisten
überwachen jeden freien Zug metaphysischer Betrachtung, der in das
Heiligtum des Dogmas einzudringen sucht. Auch der gute Rat des Hei-
delberger Theologen Pareus, die Geheimnisse Gottes mit Zartheit zu
behandeln, war vergessen, als die neue Philosophie, die Gott als den
Urquell aller Erkenntnis, vom Zwange des Dogmas befreite, neue und
erbitterte Kämpfe in die HOrsäle zu Leiden und Utrecht hineintrug.
Im Jahre 1629 war Rene Descartes nach den Niederlanden ge-
kommen.
Ehe die hochbegabten Kinder des Winterkönigs all die Eindrücke
der regen geistigen Umgebung in sich aufnehmen konnten, hatten sie
im nahen Leiden mit seiner berühmten Universität eine tüchtige Er-
ziehung genossen. Die stolze Königin enthob sich mitten im geräusch-
vollen höfischen Leben gerne dieser ersten Sorgen. In Leiden ward ein
eigener Hofstaat eingerichtet. Unter Professoren und Gouvernanten
wuchsen Prinzen und Prinzessinnen heran, in der freien Luft wissen-
schaftlichen und künstlerischen Lebens, wie im Zwange calvinischer
Dogmatik und höfischer Etikette, deren Freuden und Leiden uns die
jüngste der Töchter, Sophie, so köstlich geschildert hat.') Erst als im
Haag wieder alle um die Mutter versammelt waren, trat auch Elisabeth
in diesen Kreis. *) Eine jugendliche schöne Gesellschaft an diesem
Hofe!^) Wer kennt sie nicht aus den Bildern van Dycks, die statt-
lichen Jünglingsfiguren mit ihrem schlanken Wüchse, den feinen lang-
1) WeDzelburger II, 875. — K. Fischer, Geschichte d. neueren Philosophie I,
1. Descartes S. 189 ff. — A. Tholuck, Vorgeschichte des Rationalismus. I. Das aka-
demische Leben des 17. Jahrhunderts 2, 204 ff.
2) Memoiren der Herzogin Sophie, nachmals Kurfürstin von Hannover herg.
von Adolf Köcher (Publikationen aus den preuss. Staatsarchiven IV) S. 34 ff.
S) Nach Miss. Benger, Memoirs of Elisabeth Stuart, queen of Bohemia II,
436, deren sonst unzuverlässigen Mitteilungen Guhrauer I S. 8 folgt, im J. 1626.
4) A. Dove/ Die Kinder des Winterkönigs. Beilage zur AUg. Zeitung 1891
n. 82 — 84 u. Ausgew&hlte Schriften vornehmlich historischen Inhalts. Leipzig 1898
S. 62 ff. Schotel Kap. 13 und 14. Auch Memoiren der Sophie S. 38 ff.
NRI:R lIRf DKLB. JAHRHITRCHRR XI. 8
114 J. Wille
gestreckten Händen, ihren weichen Zügen und den schwärmerischen
sinnigen Augen, die sie vom Vater ererbt und der Hoheit ihrer Erschei-
nung als Erbteil der stolzen Mutter: die Prinzen Karl Ludwig und
Ruprecht. Und wie die Söhne, so machten die Töchter von sich reden.
„Dev Hof der Königin, so berichtet Sorbiäre, schien den Grazien zu ge-
hören, zu denen sich die schöne Welt im Haag alle Tage begab, um
dem Geist, der Tugend und der Schönheit der Prinzessinnen ihre Hul-
digungen darzubringen/ ^) Da war Louise, die Holländerin, die künst^
lerisch hochbegabte Schülerin Honthorsts, von lebhaftem Geiste, stets
ausgelassen und sans fa^on, lässig in der Kleidung bis in ihr hohes
Alter, da sie als Äbtissin von Maubuisson hoch aufgeschürzt im Kloster-
garten sich zu schaffen macht. Daneben ein Mädchengesicht von feinen
klassischen Zügen, voller Entzücken, Prinzessin Sophie mit dem kleinen
Munde, der so scharf und geistreich reden konnte, damals schon als
die vollendetste Lady Europas weithin in hohen Kreisen so berühmt, wie
späterhin als Freundin von Leibniz, sie die Stammmutter der englischen
und preussischen Könige! Wie ganz anders wieder die ernste gelehrte
Elisabeth.
Neidlos hat Sophie, die jüngste, das Bild dieser ältesten Schwester
als Schönheit uns überliefert.') Es ist aus jungen Jahren dies Bild
mit dem feinen lebhaften Teint, der allen Geschwistern eigen war, den
braunen glänzenden Augen, dem dunkelschwarzen Haar, das ihre wohl-
gebaute hohe Stirne umsäumte. Das Ebenmass ihres geistvollen Kopfes
erhöht der kleine Mund, kaum beeinträchtigt durch die bescheiden hervor-
ragende stark gebogene Nase : „Un sujet k rougir^ ! sagt einmal scher-
zend Sophie. Und das machte auch der Prinzessin Kummer, wenn zeit-
weise ein rosiger Schimmer diese hervortretende Partie ihres Mädchen-
gesichtchens allzustark in lebhafte Farben versetzte. Sonst war von
Eitelkeit nichts an ihr. Sie war eine ernste Natur, deren Gedanken-
welt abseits von dem Getriebe des kleinen Hofes lag, den, ihres könig-
lichen Stammes niemals vergessend, die Mutter regierte. Wenn einmal
Sophie von Hannover uns erzählt, dass die Königin sich um ihre Hunde
und Papageien mehr gekümmert habe, als um ihre Kinder, so scheint
es, dass Prinzessin Elisabeth am wenigsten Anteil an der seltenen Gunst
der Mutter gehabt hat und beide Naturen sich wenig verstanden. Es
hätte dem ernsten, geistvollen und schönen Mädchen nicht gefehlt, der-
einst einen Fürsten thron zu zieren. Aber treu den Traditionen ihres
1) Sorbiere bei [Baillet] La vie de Mons. Descartes. Paris 1691 II, 232 ff.
2) Memoiren S. 38.
Pfalzgrä^n Elisal)eth 115
Hauses hat sie, die flfichtige und heimatlose, das Glück der Ehe an der
Seite des freidenkenden polnischen Königs Ladislaus IV. um den Preis
eines Glaubeoswechsels nicht erkaufen wollen, *) was doch die anderen
thaten, die es leichter nahmen mit dem unsichtbaren Gute religiöser
Überzeugung: ihr Bruder Eduard und ihre Schwester Luise, beide die
ersten Konvertiten der calvinischen Pfälzer. Nicht anders dachte auch
Kurfürst Karl Ludwig, der nicht ohne das heuchlerische Trugspiel
eines diplomatischen Handels seine Tochter Liselotte, die kerndeutsche
PAIzerin, einer ihr so fremden Welt zugeführt hat.
Prinzessin Elisabeth war hochbegabt, von lebhaftem Geiste. Schon
in den Mädchenjahren, da andere mühsam die Elemente der Gram-
matik oft mit Widerwillen in sich aufnehmen, war sie mit mehreren
Sprachen vertraut. *) Abgekehrt von der Welt suchte ihr jugendlicher
Geist nach den grossen Problemen der Erkenntnis. Dabei war sie auch
in den schönen Wissenschaften wohl zu Hause, ohne die Einseitigkeit
gelehrten Wissens, von feinster Bildung, wie sie das höfische Leben
lehrte und verlangte, mehr französisch als deutsch.') Denn auch des
Vaters Bildung entstammte fremdländischem Boden. Und doch empfing
von Gelehrsamkeit und Wissenschaft ihr Leben seinen besten Teil.
An leuchtenden Vorbildern ihres Geschlechtes fehlte es ihr nicht.
Sie schloss Freundschaft mit einem andern Wunderkinde jener Tage,
Anna Maria van Schurmann.^) Man hat sie den Stern von Utrecht, die
holländische Minerva genannt. Was selbst grosse Gelehrte niemals er-
fasst haben, das lernte sie als Kind. In jungen Jahren war sie schon
mit den klassischen Sprachen vertraut, sie las Homer, Virgil und
Seneca, sie sprach Latein so geläufig wie französisch, flämisch war ihre
Muttersprache, deutsch aber verstand sie so gut wie spanisch, italienisch
so gut wie englisch. Neben philosophischen Studien und der Arbeit
ihres regen Geistes in theologischen Problemen besass sie auch in
Mathematik und Naturwissenschaften staunenswerte Kenntnisse. Um
die göttliche Offenbarung im Urtext der h. Schrift kennen zu lernen,
studierte sie mit Eifer die semitischen Sprachen, vor allem Hebräisch,
aber auch das Syrische, Ghaldäische, Äthiopische und Arabische waren
1) Ausfahrlich bei Guhrauer I S. 17 ff.
2) [Baillet] Vie de Mons. Descartes II, 231.
3) «une ^ucation aussi poll*" Baillet H, 232. — Biaze de Bury 115.
4) 6. D. J. Schotel, Anoa Maria van Schurman. Hertogenbosch 1853. —
P. Tschakert, Anna Maria von SchOrmann, der Stern von Utrecbt, die Jflngerin
Ijabadics. Gotha 1876.
8*
116 J. Wille
ihr keine fremden Laute. Dabei war sie eine gottbegnadete Efinstlerin.
Ihre Porträts erregten die Bewunderung der Zeitgenossen, in Bildhauer-
kunst, Holzschnitt und Kupferstich hat sie sich versucht, musikalisch
war sie hoch begabt und in weiblicher Handarbeit schuf sie Stickereien
von kfinstlerischer Vollendung. Eine solche Vertreterin des weiblichen
Geschlechts war wohl dazu berufen, eine lateinische Abhandlung zur
Verteidigung der Frauenbildung zu schreiben.
So fanden sich zwei gelehrte Damen in Freundschaift zusammen.
Aus dem Briefwechsel der Prinzessin mit der Schurmann sind uns
leider nur zwei Briefe erhalten aus den Jahren 1639 und 1647. In
dieser Zwischenzeit ist aber ein Umschwung in dem geistigen Leben
der Beiden vor sich gegangen. Beide haben in der Oelehrsamkeit der
Bücher ihr Suchen nach Erkenntnis nicht befriedigen, die Buhe ihrer
Seele nicht finden können — aber sie glaubten in diese unsichtbare
Welt auf verschiedenen Wegen zu gelangen. Anna Maria van Schur*
mann, eine tiefe, bis zur Schwärmerei angelegte Natur, suchte die Er-
klärung der Welt in der göttlichen Offenbarung der h. Schrift, sie
lernte Gisbert Voetius kennen, sie war ihm nach Utrecht gefolgt, diesem
Vertreter der strengsten Inspirationslehre, der keinen Eingriff kritisch-
sprachlicher Versuche in die h. Schrift duldete, dem jedes Trennungs-
zeichen vom h. Geiste eingegeben erschien. Im akademischen Hörsaal
sass sie, die glaubensseelige Jungfrau zu den Füssen des Theologen, jedoch,
— was heutzutage nicht mehr nötig ist, — durch einen Vorhang ver-
deckt. Den Disputationen wohnte sie bei.
Auch Elisabeth suchte Gott, doch nicht in der Erleuchtung durch
den h. Geist, sondern auf dem Wege des Denkens, den Descartes ihr
gewiesen. Mit den Traditionen der Philosophie und Theologie hatte
dieser Denker gebrochen, er begann sein System ganz von neuem aufzu-
bauen. Vom Zweifel an allem ausgehend, kennt er nur die eine Wahr-
heit, das eigene Denken, das einzige Prinzip der Gewissheit, die aus
dem Wesen Gottes fliesst, als der unendlichen in sich selbst begrün-
deten Substanz. Aus der wahren Gottesidee, mit Ausschluss aller
Wunder, erklärte er die Welt. Nur durch logisches Denken, durch
Anwendung mathematischer Methoden auf den menschlichen Geist suchte
er diese Welt zu begreifen. So stehen sich in diesen beiden Frauen
Inspiration und Denken, Scholastik und Rationalismus, Mystizismus und
Kartesianismus einander gegenüber.
Im Jahre 1637 waren die ersten Schriften des Descartes, die Essais
philosophiques, erschienen, unter ihnen die Methode des Denkens. Des-
Pfalzgräfin Elisabeth 117
cartes bekennt, dass er unbefriedigt sei von allen Wissenschaften, die
Mathematik ausgenommen ; sie allein gibt ihm die Methode, über den
Zweifel zur Oewissheit zu gelangen. Diese Schrift hat die neunzehn-
jährige Prinzessin gelesen und verstanden. Eine andere neue geistige Welt
thut sich ihr auf. Sie bekennt, aus diesen Schriften in einer Stunde
mehr zu lernen, um ihren Verstand zu bilden, als wenn sie ihr ganzes
Leben auf die Lektüre anderer Bücher verwenden würde. Im Jahre 1640
hat sie den Philosophen selbst kennen gelernt, der im Jahre 1629 — 49
nach manchen Wanderungen, als erfahrener Weltmann d{e Niederlande
aufgesucht. Um ungestört zu sein vor der Neugierde der Menschen, um
Ruhe zum Denken zu finden, hat er mehrfach seinen Wohnsitz gewech-
selt. Doch blieb er Weltmann und Kavalier, kein Einsiedler in seiner
«Einsiedelei*^. Unter dem freisinnigen Begimente des Prinzen von Ora-
nien, Johann Heinrich, in einem Lande, das wie kein anderes im da-
maligen Europa einem jeden Fremdling Freiheit der Qedanken gewährte,
fand er Schutz vor den Angriffen streitsüchtiger Theologen, die ihn als
Atheisten verlästerten, worunter der streitbarste, Qisbert Voetius. Auch
Anna Maria van Schurmann hat den Denker gemieden.
Am Hofe der Königin aber fand er eine Stätte, da man ihn ver-
stand. Hier sammelt sich um ihn ein kleiner Kreis begeisterter An-
hänger, unter ihnen der treueste Diener des oranischen Hauses, Kon-
stantin Huygens, des Statthalters Sekretär, von vielseitiger feinster Bil-
dung, ein Humanist vom besten Schlage der alten Italiener. Wahr-
scheinlich schon von Leiden aus hat Descartes die Pfalzgräfin Elisabeth
unterrichtet. Sie gewann ihn zum Lehrer und Freunde fürs Leben. Es
bildet sich ein geistig reger Verkehr zwischen der Prinzessin und Des-
cartes,^) der in dem bei Leiden gelegenen Schlosse Endegeest Wohnung
genommen hat. Eine merkwürdige Fügung, dass sie einem Manne näher
tritt, der in jungen Jahren in der Schlacht am weissen Berge gegen
ihren Vater gefochten hat.
Wohl niemals hat man in der Geschichte des geistigen Lebens
solch ein von den höchsten Interessen erfülltes Freundschaftsverhältnis
gesehen, wie hier zwischen dem Philosophen, dessen Lehren eine ganze
geistige Welt erschüttern, und der zweiundzwanzigjährigen Prinzessin,
I) [Baillet] Yie de Moos. Descartes. — Kuno Fischer, Geschichte der neueren
Philosophie I. 1 (Descartes). 4. Auflage. Heidelberg 1897 S. 191 ff. — Quhrauer I
S. 47 ff. — A. Foncher de Careil, Descartes, la princesse Elisabeth et la reine
Qiristioe d'apr^ des letties in^dites. Paris 1879. — Max Heioze, Pfabsgräfin Eli-
sabeth und Descartes. (Histor. Taschenbuch VI. Folge Jahrg. 5 S. 257 ff.)
118 J.Wille
die vom tiefsten Drange nach Erkenntnis erfallt, die Weisheit des Leh-
rers in sich aufnimmt. In unermüdlichem Fleisse, die Nächte hindurch
arbeitend, dringt sie in alle Wissenschaften ein, die ihr ein Verständ-
nis der Lehre des Descartes ermöglichen. In anregendem Verkehr mit der
Schülerin ist sein Hauptwerk, die Prinzipien der Philosophie, in den
Jahren 1641 — 1643 vorbereitet worden, jene Philosophie, die uns die
Erklärung der Welt auf mechanische Gesetze zurückzuführen sucht.
Darum hat sich das lernbegierige Mädchen bei Zeiten in das Studium
der Mathematik und Physik vertieft. Harveys Entdeckung über den
Kreislauf des Blutes lässt sie der Anatomie und Physiologie nähertreten.
Man sagt, sie habe am Seziertisch stehend die neuen Errungenschaften
biologischer Forschung geprüft.
So kam es, dass Pfalzgräfin Elisabeth im eigenen Kreise und bei
Fremden als ein Wunderkind angestaunt ward. Bei ihren Geschwistern
hat sie zeitlebens nur den Namen «die Griechin^ geführt. ^) Und diesen
Namen einer Weisen, den ihre Schwester Sophie so gerne im Scherze
ihr gab, durfte sie im Ernste mit Ehren tragen. Dass man sich über
ihre Zerstreutheit lustig machte, that der Ehrfurcht vor ihrem Wissen
keinen Abtrag. «Man erzählt Wunderdinge, — so berichtet uns Sorbi^re^)
nach einem Besuche im Haag, — von dieser seltenen Person, dass sie mit
der Kenntnis der Sprachen die Wissenschaften verbinde, dass sie sich
nicht mit den Possen der Schulphilosophie abgebe, sondern die Dinge
klar erkennen wolle, dass sie einen scharfen Geist und ein gründliches
Urteil habe. Ihres Alters schien sie zwanzig Jahre zu sein, ihre Schön-
heit und ihre Gestalt waren in der That die einer Heroine!^ Gelehrte
und Dichter der Zeit, darunter Namen von gutem Klang, stritten sich
um die Ehre, der gelehrten Prinzessin Prosa und Dichtung zu wid-
men. ')
Die hochbegabte Pfalzgräfin aber, die wie Descartes bekannte, seine
Lehre von der Begründung des Seins auf dem Denken, die Schwierig-
keiten seiner analytischen Methode, wie wenige klar begriff, trug den
Adel wahrer Bildung in ihrer tiefen Bescheidenheit. Keine Spur von
Überspanntheit, auch kein Gelehrtendünkel, die schlimmste Frucht der
Selbsttäuschung, haftet diesem erkenntnissnchenden Leben an. Diese
1) ^La Grece'', auch «La Signora antica**, Sophie an Karl Ludwig 2. Juni
1 666. Briefwechsel der Herzogin Sophie von Hannover mit ihrem Bnider dem Kur-
fürsten Karl Ludwig von der Pfalz (Publikationen aus den k. preussischen Staats-
archiven 26) S. 104.
2) Sorberiana, ou Bons mots etc. Paris 1694 S. 85—86. Guhrauer I S. 60.
3) Schotel, De Winterkoning S. 137.
Pfalzgräfin Ellsabet}i 119
Bescheidenheit blieb unberührt selbst von der grössten Huldigung, als
Descaftes ihr, der Fünfundzwanzigjährigen, seine ina Jahre 1644 er-
schienenen Prinzipien der Philosophie gewidmet hat. Als Zeuge ihrer
hohen und seltenen Eigenschaften will er der Nachwelt einen Dienst
erweisen, wenn er dieses Vorbild ihr zeigt, in dem sich ein fester Wille
mit Klarheit des Verstandes und ernster Arbeit der Bildung vereinigt,
nich habe niemand gefunden, schreibt Descartes^) unter anderem in
' dieser Widmung, der meine Schriften so umfassend und so gut ver-
standen ; selbst unter den besten und gelehrtesten Köpfen gibt es viele,
die sie sehr dunkel finden ; ich habe fast durchgängig bemerken müssen,
dass die einen die mathematischen Wahrheiten leicht fassen, aber den
metaphysischen verschlossen sind, während es sich bei anderen gerade
umgekehrt verhält. Der einzige Geist, so weit meine Erfahrung reicht,
dem beides gleich leicht wird, ist der Ihrige. Darum muss ich diesen
Geist unvergleichlich hoch schätzen. Aber was meine Bewunderung
steigert: Es ist nicht ein bejahrter Mann, der viele Jahre auf seine
Belehrung verwendet bat, bei dem sich eine solche umfassende wissen-
schaftliche Bildung findet, sondern eine noch jugendliche Fürstin, die
in ihrer Anmut eher den Grazien, wie die Poeten sie beschreiben, als
den Musen oder der weisen Minerva gleicht.* Wie bescheiden in ihrer
Selbsterkenntnis dankt die Prinzessin: , Freilich, schreibt sie, werden
die Pedanten wohl meinen, dass sie gezwungen sind, für mich eine neue
Moral aufzustellen, damit ich mich des Lobes wert machen könne.
Aber ich nehme dasselbe nur als eine Kegel meines Lebens, indem ich
wohl weiss, dass ich auf der untersten Stufe stehe und Sie nur mein
Bestreben, mich zu unterrichten und das von mir erkannte Gute zu er-
langen, billigen.''
Bei alledem aber war Elisabeth keine blinde Anhängerin der
Philosophen. Sie bewahrt sich die Freiheit ihres Denkens, äussert ihre
Zweifel mit einem Scharfsinn, der die Bewunderung Descartes erregt.
Sie ist nicht allein eine lernende, sondern auch eine durch Widerspruch
anregende Schülerin. Descartes selbst gefördert zu haben, ist nicht ihr
alleiniger Verdienst, denn einige Arbeiten des Descartes wären ohne den
Einfluss der Prinzessin überhaupt nicht entstanden. Seine Schrift übet den
Menschen bat er umgearbeitet, nur um sie der Schülerin vorzulegen.
Die im Jahre 1646 erschienene Abhandlung über die Leidenschaften
der Seele ist für die Prinzessin geschrieben, far sie ein Führer auf dem
1) Wörtlich nach K. Fischers Übersetzung. Descartes S, 196 ff.
120 J. Wme
Wege zur Glückseligkeit. Die Bchriften von Descartes aber würden, von
ihren Beziehungen zu Elisabeth durch jene ehrenvolle Widmung* abge-
sehen, zur Erkenntnis des Innern Lebens der Pfalzgräfin nur wenig bei-
tragen, wenn uns nicht das geistige Band zwischen Lehrer und Schülerin
in den Briefen ^) erhalten wäre. Bis vor wenig Jahren musste man sich
darauf beschränken, nur aus den Briefen des Descartes, die nur Antworten
sind auf die an ihn gerichteten Fragen, sein Verhältnis zu Elisabeth
kennen zu lernen. Seit aber durch den französischen Akademiker
Foucher de Careil') auch eine Reihe von Briefen der Pfalzgräfin be-
kannt geworden sind, gewinnt dieses Bild an Tiefe der Farben. Freilich
diese Briefe sind nicht leicht verständlich. Die geistige Arbeit der
Prinzessin ringt mit der Sprache und der Form, sie kann die meta-
physischen Fragen nicht so leichtplaudernd abmachen, wie ihre in geist-
vollem Spötteln gewandte Schwester Sophie. Aber ein reger ruheloser
Geist spricht aus ihnen, lebendig in immer neuen Zweifeln, neuen
Fragen und Widersprüchen. Sie sind Zeugnisse eines grübelnden
Geistes, der sich mit den höchsten Problemen menschlicher Erkenntnis
beschäftigt, Bekenntnisse eines tiefen Seelenlebens, das vom Schicksal
gequält sich abmüht, nach den Stürmen des Lebens die Wege zu fin-
den, die zur Buhe des Gemüts fahren. Nicht allein Metaphysisches,
auch die grossen Fragen der Ethik werden dem Philosophen vorgelegt.
Und so verdanken wir es der Prinzessin Elisabeth, dass durch sie ver-
anlasst und gedrängt Descartes sich über Fragen ausspricht, die sonst in
seinen grossen Systemen keinen Platz gefunden ha1)en.') Dem Welt-
manne, der nach freiwilligen Wanderungen nun den sichern, von Stür-
men freien Hafen gefunden hat, der in abgeklärter Ruhe des Denkens
allen Unebenheiten des Lebens vorsichtig aus dem Wege geht, steht die
Tochter eines fürstlichen Hauses gegenüber, das vom Schicksal ver-
folgt, nur die harten Seiten des Lebens kennen gelernt hat. Diese
Schicksalsschläge lasten auf ihrem Gemüt.
Was hat sie nicht alles erleben müssen! „Ich muss Ihnen be-
kennen, schreibt sie an Descartes, dass ich mich unglücklich fühle, so
lange ich mein Haus nicht wieder eingesetzt sehe in seine Rechte und
meine Familie noch im Elend weiss. ^ Diese Hoffnung sah sie nach
1) Oeuvres de Descartes par Victor Cousia. Tome VII— X.
2) Foucher de Caref], Descartes, la princesse l^lisabeth et la reine Christine.
Paris 1879. — Schon 1862 erschien vom gleichen Verfasser: Descartes et la prin*
cesse Palatine, ou de Tinfluence du cart^ianisme sur las femmes au XVII« siecle.
Paris 1882.
3) M. Heinze, Die Sittenlehre des Descartes. Leipzig 1872.
Pfalzgnlfiii Klisal)ßth 121
dem Tode des Schwedenkönigs vernichtet, sie sah den Väter als Flächt-
ling dem Schicksal erliegen. Der hoffnungsvollste ihrer Bruder, ein
Wunderkind in allen seinen Anlagen, war im Zuidersee ertrunken. Mo-
ritz, der nach dem Zusammenbruch des stuartischen Königtums seinem
heldenmütigen Bruder auf die See gefolgt, verschwindet in den west-
indischen Gewässern! Der Uebertritt ihres Bruders Eduard zur römi-
schen Kirche, der mit der Hand der ehrgeizigen klugen Anna Oonzaga
auch seinen Glauben ohne die Wandlung innerer Überzeugung vertauscht
hat (1648), geht der Schwester tief zu Herzen. Seine Seele ist nach
dem Glauben der Calvinistin für immer verloren ! ') Es ist ein Zeichen
vertrauensvoller Freundschaft, dass sie in dieser so subtilen, ihre Stim-
mung beherrschenden Frage, den seinem Glauben treu gebliebenen Sohn
der römischen Kirche zum Berater nimmt. „Wenn ich nicht wüsste,
schreibt sie, dass Sie mehr mitleidig als strenggläubig sind, müsste
meine Klage eine ungebührliche sein.*^ Im Haag selbst findet die Prin-
zessin keine Heimat, der eigenen stolzen Mutter bleibt sie die ernste
Denkerin, unverständlich und fremd. Ein tragisches Ereignis entfrem-
det beide noch mehr:
Es ist eine heute noch dunkle Geschichte. *) Ein französischer
Edelmann, Marquis d'Epinay, von zweifelhaftem Rufe und etwas un-
klarer Vergangenheit, doch in seinem Auftreten nicht ohne den Beiz
einer Persönlichkeit, die Frauenherzen leicht gewinnt, soll in der be-
sonderen Gunst der Königin Elisabeth gestanden haben. Man hat beiden
ein zartes Verhältnis nachgesagt. Dieses Verhältnis muss derart ge-
wesen sein, dass die Familie sich genötigt sah, Stellung dazu zu nehmen.
Der Marquis ward am Hofe verhasst. Der ihn am meisten hasste war
Pfalzgraf Philipp. Nach einem vorhergegangenen Wortwechsel hat er
des Nachts auf offener Strasse den Edelmann überfallen und erstochen.
Vom Mutterfiuche verfolgt, flieht der Prinz vom Hofe, tritt in spanische
Dienste und endet in den Kämpfen bei Bethel (1650) sein junges
Leben. Auch Elisabeth hat bald nach diesen Ereignissen den Hof ver-
lassen (1646) und bei ihren Verwandten in Berlin Aufnahme gefunden.
Es ist möglich, dass dieser Urlaub ein unfreiwilliger war und auf
Zwistigkeiten innerhalb der Familie beruht, die von jenem Verhältnis
nicht unberührt waren. Zu den vielen Täuschungen aber, die Pfalzgräfin
Elisabeth erfahren, kam noch die eine, da^s ihr Freund und Berater,
1) „que j'en saurois avoir abandonnee au mepris du monde et k la perte de
son ame (selon ma CToyance)". Foucher de Gareil S. 20.
2) Aasfilhrlich Guhrauer I S. 85.
122 i J.Wille
der inzwischen zu der geistvollen und gelehrten jugendlichen Königin
Christine von Schweden in Beziehung getreten war, dieses Verhältnis
nicht zu Gunsten der pfälzischen Familie, und nicht ohne Demütigung
der Prinzessin hat ausnützen können (1649).^) Denn Versuche, durch
Übersendung seines mit der Prinzessin geführten Briefwechsels ein per-
sönliches Verhältnis der beiden durch ihre wissenschaftlichen Neigungen
verwandten Fürstinnen zu erreichen, konnte zu keiner Zeit so unge-
schickt ausgedacht werden, als gerade jetzt, da in der schwedischen
Politik der pfälzischen Frage gegenüber eine kühlere Haltung sich gel-
tend machte. Vorsichtig ist der einflussreiche Diplomat am Hofe
Ghristinens — der französische Resident Peter Chanut — allen An-
deutungen des Philosophen aus dem Wege gegangen. Mehr aber als
die politische Lage musste bei aller geistigen Verwandtschaft der beiden
Frauen die Grundverschiedenheit ihres Wesens ein derartiges freund-
schaftliches Verhältnis vereiteln. Christine^) war Königin in vollem Be-
sitze einer damals in den Geschicken Europas gebietenden Macht, mit
in den Händen ihrer Diplomaten ruhte zu Münster und Osnabrück auch
das Schicksal des pfälzischen Hauses. Die junge, geistvolle, gelehrte
und wissensdurstige, aber überspannte Fürstin versammelt die Gelehrten
an ihrem glänzenden Hof, sie lässt sich belehren und auch huldigen,
neben ihrem mannhaften Sinn regieren auch ihre Launen. Elisabeth
kam zu ihr als Flüchtige, als eine Bittende, als die Tochter eines ept-
thronten Fürstenhauses. Sie hatte keine Gunst zu verteilen, die Hul-
digungen, die sie von den Gelehrten entgegennahm, konnte sie mit
äusseren Ehren nicht erwidern. Die Prinzessin müht sich ab, in ihren
Gedanken und mit ihrem Willen die Buhe der Seele, in ^er Lösung
grosser ethischer Probleme ihre Befriedigung zu finden, sie ist bei allem
Rationalismus tief religiös gestimmt, ihr Wissen ist Moral. In der Un-
ruhe der Gegensätze sieht die junge schwedische Königin des Lebens
Beiz, der Katholizismus mit seinem den Traditionen ihres eigenen Hauses
so fremdartigen Wesen zieht sie, die Tochter Gustav Adolfs, an, und
doch hat es niemals eine Konvertitin gegeben, die so wenig der römi-
schen Kirche in allen ihren Forderungen und Erwartungen Freude
machen konnte, wie diese aller Askese abgeneigte leichtlebige Fürstin.
Der Verkehr mit den Gelehrten ist ihr bei allem ernsten Wissen doch
mehr ein geistreiches amüsantes Dilettieren. Auf dem Wege zur Er-
kenntnis, den Pfalzgräfin Elisabeth, von Descartes geleitet, gesucht hat,
1) Foucher de Careil S. 91 ff.
2) E. Daniels, Christine von Schweden. (Preussische Jahrbücher 96, 385 ff.
97, 50 ff.) — Guhrauer 1, 98 ff.
Pfulzgräfin Klisabeth 123
vollziehen sich SeeleDkämpfe erschätternder Art. Dabei dürften Neid und
Eifersucht, so oft den Gelehrten eigen, auch beim Frauengeschlechte —
die Zukunft wird es uns einmal lehren — nicht fremde Erscheinungen
sein. Wir wissen aus einer guten Quelle, dass auch in späteren Jahren
ein der gelehrten Pfäherin gespendetes Lob, Christine nicht angenehm
berührt bat.
Der Eifersüchtigen steht die Gekränkte gegenüber. Mit vornehmer
Kuhle bat Königin Christine in den Briefen an Descartes ihre Neben-
buhlerin ignoriert. Ein von Elisabeth an die Königin gewagtes Schreiben
wird mit Stillschweigen beantwortet. In dieser Stimmung, mitten im
bangen Hoffen auf die Entscheidungen des westfälischen Friedenscon-
gresses, ereilt sie die Nachricht von der Hinrichtung Karl I. (1649),
der letzte tragische Abscbluss dieser stuartischen Familiengeschichte.
Alle diese Ereignisse wirken immer von neuem auf das Gemüt der
Prinzessin ein. Körperliche Leiden kommen hinzu, die ihr Seelenleben
belasten. Der Dualismus von Seele und Leib, den Descartes ihr gelehrt
hat, er muss in diesem Leben den schärfstdn Widerspruch erfahren.
Die metaphysischen Betrachtungen können hier keinen Platz mehr
finden.
Durch ihre Briefe mit Descartes geht tiefe Melancholie, der Grund-
zug ihres Denkens ist Pessimismus. „ Ich habe Mühe, schreibt sie, mich
davon zu überzeugen, dass wir mehr Gutes, wie Übles in diesem Leben
haben, da mehr dazu gehört, jenes als dieses sich zu verschaffen, da der
Mensch mehr Gelegenheit hat Unlust zu empfinden, als Lust, da es
eine unendliche Zahl von Irrtümern gibt für eine Wahrheit, so viele
Mittel sich zu verirren, als eines, den richtigen Weg zu finden. '^
Darum bilden die Fragen über Gluck und Unglück im Menschen-
leben einen Hauptgegenstand des Briefwechsels, wertvoll, weil sie Des-
cartes veranlasst haben, auch über ethische Fragen seine Gedanken mit-
zuteilen. Vergeblich hat die Prinzessin in ihren Klagen über die Wider-
wärtigkeiten des Lebens und die von ihnen erzeugte Unruhe des Geistes
and Körpers bei dem Philosophen eine befriedigende Antwort gefunden.
Das Mittel, das Descartes verrat, die Einbildungskraft von allen unan-
genehmen Ereignissen abzuwenden und nur den Verstand auf solche
Dinge zu richten, die zufrieden machten, haben bei der Prinzessin kei-
nen Einfluss gehabt gegenüber den überwältigenden Eindrücken der vielen
schmerzlichen Ereignisse in ihrem eigenen Leben. Auf Empfehlung von
Descartes studiert sie Senecas Schrift über „das höchste Gut', ohne von
seinen Sentenzen jemals befriedigt zu sein, sie sind ihr alles andere.
124 J. Wille
nur kein Weg zur Qlückseligkeit, die nach Descartes die vollkommene
Kühe und Zufriedenheit der Seele ist. Wenn es aber Sache des Ver-
standes ist, diesen Weg zu finden, so wünscht die Prinzessin vergeb-
lich die Mittel kennen zu lernen, die ihren Verstand so kräftigen sollen,
um bei allem Handeln nur das Beste zu wählen. Descartes hat ihr
entgegen zu kommen versucht, zunächst durch die Lehre von der in-
tellektuellen Liebe zu Qott als dem alleinigen Quell der Wahrheit und
der Vollkommenheit. Die Erfüllung des göttlichen Willens sehen wir
auch in unsern Missgeschicken und wir gewinnen aus dieser Erkenntnis
Befriedigung. Der Prinzessin aber ist das Wissen von der Existenz
Gottes wohl ein Trost über natürliche Unglücksfälle, doch nicht über
solche, die vom freien Willen der andern abhängen. Das Glück des
Lebens, die Ruhe der Seele nicht im Irdischen zu suchen, wie Descartes
ihr schreibt, ist für sie nur ein Grund, um so lieber und leichter den
Tod zu suchen, der uns frei macht von den Leidenschaften. Zur Er-
reichung der Qlückseligkeit gehört nach Descartes das richtige Wissen
von dem was man zu thun hat oder nicht, und der Wille das Erkannte
zu thun. Das eine. nennt er Weisheit, den Willen Tugend. Doch die
Erklärung des Verhältnisses des freien Willens zum Wissen, über das
Elisabeth Aufklärung wünscht und einen interessanten Briefwechsel mit
Descartes veranlasst, wird von letzterem nicht immer mit Eonsequenz
und zur Befriedigung der erkenntnisdurstigen Prinzessin durchgeführt.
Descartes lehrt die Freiheit und Unabhängigkeit des Willens, zu thun,
was uns das beste erscheint. Wenn aber der Wille dem richtig Er-
kannten zu folgen hat, also doch wieder vom Wissen die Richtung er-
hält, so kann er nicht frei sein, da ja das Wissen nicht in unserer
Macht steht, sondern ein Ausfluss der göttlichen Vollkommenheit ist.
Diesen Widerspruch, diese Abhängigkeit der Glückseligkeit von unserem
Willen aber hat die Prinzessin aufs entschiedenste bestritten : „ich kanif
mich von dem Zweifel nicht losmachen, schreibt sie, ob man zur Glück-
seligkeit gelangen kann, ohne alles das, was von unserem Willen nicht
abhängt, da es Krankheiten gibt, die uns das Vermögen zu denken
und damit die Möglichkeit nehmen, uns einer vernünftigen Zufriedenheit
zu erfreuen, andere die uns die Geisteskraft schwächen und hindern,
die Grundsätze zu befolgen, die uns die gesunde Vernunft ausgedacht
hat, da man sich von den Leidenschaften hinreissen lässt, denen die
Reue folgt, nach Descartes eines der grössten Hindernisse der Glück-
seligkeit.
Pfalzgräfin Elisabeth 125
Descartes hat wohl die Freiheit des Willens aus dem unmittelbaren
Geffihl desselben bewiesen, giebt aber nicht zu, dass diese Unabhängig-
keit der Abhängigkeit von Qott widerstreite. Elisabeth hat ihre „Stu-
pidität^ gegenüber dieser wichtigen Frage vom Verhältnis der Freiheit
zum göttlichen Willen zugeben müssen, aber Gott kann nach ihrer
Meinung nicht die unveränderliche Ursache von Allem sein, was nicht
von der menschlichen Willkür abhängt und nicht* auch zugleich von
dem, was der Mensch thut. Wenn Gottes Macht eine absolute ist, so
kann er uns nicht den freien Willen gegeben haben. Da wir aber das
Bewusstsein der Freiheit haben, so widerstrebt es dem gesunden Menschen-
verstand, uns abhängig anzunehmen. Die Unabhängigkeit des freien
Willens widerstreitet der Vorstellung, die wir von Gott haben, die Ab-
hängigkeit des Menschen aber seiner Freiheit. ,Es ist mir unmöglich,
schreibt sie, zusammen zu reimen, dass der menschliche Wille zur
selben Zeit frei, und doch die göttliche Macht in gleicher Weise un-
endlich wie begrenzt sein solle.* Sie hat Descartes in Verlegenheit ver-
setzt. Seine versuchte Konstruktion eines absoluten und relativen Wil-
lens war nicht der Weg, den Widerspruch von Freiheit und Notwendig-
keit, den Zweifeln seiner Schülerin gegenüber, zu beseitigen.
Auch einen Eardinalpunkt der Philosophie Descartes hat die Prin-
zessin angegriffen, das Verhältnis von Seele und Leib, Geist und Körper,
der beiden Substanzen, der denkenden und der körperlichen. Beide sind
von einander verschieden, haben nichts mit einander gemein. Das
Wesen der Materie ist die Ausdehnung, das Wesen des Geistes Denken.
Diese Attribute, Sein und Wirken, schliessen sich aus, es ist ein Gegen-
satz von psychischem und physischem Leben. Beide können sich nicht
gegenseitig durchdringen, sondern nur an einem Punkte berühren. Es
war Aufgabe der späteren Philosophie, diesen schroffen Dualismus zu
überwinden. Doch war es schon Prinzessin Elisabeth, die ihre Be-
denken einer solchen schroffen Scheidung von Geist und Materie ent-
gegenhielt. Das Verständnis dieser Fragen hat Descartes der sinn-
lichen Vorstellung seiner Schülerin überlassen und ihr den Bat ge-
geben, sich nicht allzusehr mit metaphysischen Problemen abzuquälen.
Aber der Prinzessin ist es zu danken, dass Descartes noch einmal diese
Frage berührte, als er auf Wunsch der Elisabeth sein Buch über die
Leidenschaften der Seele schrieb (1647) und hier den schroffen Dualis-
mus mit der Erklärung abschwächte, dass die Leidenschaften, die Affekte
aus der Einwirkung des Körpers hervorgehen, dass es Zustände giebt,
in denen unter dem Einflnss des Körpers die Seele leidet, dass die
-•:
126 «J. Wille
Leidenschaften Gemütsbewegungen sind, aus zwei Naturen gemischt,
der körperlichen und der geistigen. Diese Schrift, sagt Descartes, sei
nicht für viele geschrieben, „um so mehr, als ich sie nur verfasst habe,
um von einer Prinzessin gelesen zu werden, deren Geist dergestalt über
das Gewöhnliche erhaben ist, dass sie ohne einige Muhe das versteht,
was unsern Doktoren das schwerste zu sein scheint".
Nur kleine Bruchstücke aus dem Briefwechsel der Pfalzgräfin mit
dem Philosophen sind hier mitgeteilt. Sie genügen zum Beweise, wie
selbständig sich ihr geistiges Leben in diesem anregenden Verkehre be-
wegte. Descartes ist bekanntlich (Ende Dezember 1649) einem Rufe
der schwedischen Königin nach Stockholm gefolgt und bald darnach
am 11. Februar 1650 gestorben.
Um diese Zeit ist Prinzessin Elisabeth nach einem längern Auf-
enthalte in Berlin und Crossen, der indessen auch im Besuche des
Haag eine Abwechselung gefunden hat, ihrem Bruder Karl Ludwig
nach Heidelberg gefolgt. Der westfälische Friede hatte ihm seine Lande
zurückgegeben. Eine neue, auf allen Gebieten des staatlichen und kul-
turellen Lebens segensreiche Zeit begann unter diesem Wiederhersteller
der Pfalz. Auch die Universität Heidelberg erhebt sich noch einmal
zu nie dagewesenem Glänze. In diesem Kreise findet die gelehrte Pfalz-
gräfin reiche geistige Anregung, hier findet sie einen Anbänger Des-
cartes'scher Philosophie, den grossen Philologen Johann Freinsheim, der
von der hohen Schule zu Upsala und dem Hofe der schwedischen Kö-
nigin, aus einer glänzenden gefeierten Stellung zu uns gekommen war.
Gerne erinnert er sich späterhin noch des vertraulichen Verkehrs mit
dem pfälzischen Hofe, des guten Bacharacher, den ihm der Kurfürst
frisch aus dem Keller gespendet und vor allem der geistvollen Unter-
haltung mit der Prinzessin.^) Seine gesammelten Beden, einst vor den
Gelehrten von Upsala und der Königin in elegantem Latein gehalten,
hat er der Pfälzerin gewidmet. Dass in den Heidelberger Kreisen auch
die Lehren Descartes die Geister bewegten, lassen dürftige Mitteilungen
uns erkennen.') Wie gerne wüssten wir mehr!
Auch ihre gelehrten sprachlichen Studien nimmt die Prinzessin
wieder auf. Sie schliesst eine warme und dauernde Freundschaft mit
einem Mann, dessen Ruhm als Exeget, Orientalist und Archäologe da-
1) Johannis Freinshemii Orationes cum qaibusdam dedamatioaibas. FrAnco-
fiirti 1662. S^.
2) G. E. Guhrauer, Joachim Jungius und sein Zeitalter. Stuttgart und Tft-
; : hingen 1850 S. 317 und Beil. 92.
• •• - •
• • • • •
Pfalzgräfin Elisabeth 127
mals weithin leuchtete, mit Johann Heinrich Hottinger^) aus Zürich.
Neben Freinsheim glänzt auch sein Name unter den Ehrentafeln dieses
festlichen Baumes. Nur vorübergehend hat ihn seine Vaterstadt, die,
alter Beziehungen zur Pfalz gedenkend, bei der Taufe des Kurprinzen
Karl Gevatter gestanden,') nach Heidelberg ziehen lassen. nD^mit die
Academie etlicher massen wieder in vorigen stand gebracht werden
möge* hat ihn Karl Ludwig nur für ein paar Jahre erbeten.^) Von
1655 — 1661 wirkte er hier zu Buhm und Ehren der hohen Schule. In
tiefer Ehrfurcht vor der Wissenschaft, in Verehrung für diesen grossen
Gelehrten hat die Prinzessin seine Werke gesammelt. Sie ist begierig,
alle die Sprachen kennen zu lernen, die in Hottingers „Orientalischer
Bibliothek*' vertreten sind. Seine Abhandlung über die hebräischen
Grabdenkmäler, seine orientalische Numismatik liest sie mit regem Inter-
esse, über jedes neue Werk aus seiner Feder ist sie hocherfreut.^)
„Diese angenehme Jahrszeit,^ schreibt sie dem Gelehrten späterhin von
Heidelberg entfernt, ^) „bringet unserm Theil der Welt nicht mehr lieb-
liche Blumen und wohlschmeckende Früchten, als Euere fruchtbare
Feder uns järlich nützliche und ergötzliche Baritäten zukommen lasset.^
Als Zeichen seiner Verehrung für die gelehrte Freundin hat ihr Hot-
tinger den fünften Band seiner Kirchengeschichte gewidmet. Des Zür-
cher Gelehrten Töchterlein Elisabeth aber sollte sich der hohen Pathen-
schaft der philosophischen Prinzessin erfreuen.
Wahrscheinlich durch Hottinger war sie auch mit dem Züricher
Landvogt Bahn bekannt geworden, der in seiner Vorrede zur ^Deutschen
Algebra" der Prinzessin ehrenvoll gedenkt. Wie bescheiden fasst sie
auch diese Huldigung wieder auf. j^lEr gedenket meiner darinnen mit
einem Titel, schreibt sie, den ich nicht verdiene, insonderheit in dieser
subtilen Kunst, die den ganzen Menschen erfordert. Was ich dem
Landvogt davon gesagt, kam nicht aus eignem Witz, sondern von
meinem berühmten Lehrmeister, dem sei. Mens. Des Cartes her. Ich
sollte billig jetzt hierfür danken, weil ich aber nur Ungelegenheit mit
meim Handschreiben machen würde, so bitte ich, Ihr wollet solches
in meinem Namen verrichten, mich auch ferner in Euer beider Gunst
1) H. Steiner, Der Züricher Professor Johann Heinrich Hottinger in Heidel-
berg 1655-1661. Zürich 1886.
2) Steiner, Anh. Nr. 4.
3) Steiner, Anh. Nr. 5.
4) Steiner, Anh. 27.
5) Crossen 6./10. Juli (1061), Anh. 27, 5.
128 J- Wille
erhalten, deren ich das Oute zuschreiben rniiss, das ihr von mir denket
und saget/ ^)
Aber auch in Heidelberg im Kreise der Gelehrten war für sie des
Bleibens nicht lange, weil sie auf dem Schlosse, das sie nach schick-
salsschweren Jahren wieder betrat, keine Heimat fand. Wie Karl Lud*
wig, in Sparsamkeit zäh und hart geworden, seinem aus ruhmgekrönten
Kämpfen zurückgekehrten Bruder Buprecht einen Anteil am wiederge-
wonnenen PfUzischen Stammgute verweigerte, so waren die ehelichen
Verhältnisse des Kurfürsten nicht dazu angethan, die vielgewanderte
Schwester hier die vielgesnchte Seelenruhe finden zu lassen. Ihr Bleiben
ward erschwert, sobald sie sich in der Ebescheidungsfrage des Vaters
auf die Seite der Mutter stellte.') Kurfürstin Charlotte, des harten
Daseins an der Seite ihres Gatten müde, nimmt im Jahre 1662 ihre
Zuflucht zum Landgrafen Wilhelm VI., ihrem Bruder, nach Kassel.
Auch Elisabeth folgte ihr, um niemals mehr nach Heidelberg zurück-
zukehren. Hier konnte sie ruhige Tage verleben, an diesem kleinen
Hofe, wo nach des Landgrafen Tode seine Witwe, die geistvolle hoch-
gebildete Hedwig Sophie, die Vormundschaft über ihre Söhne und die
Regentschaft über das Land mit männlicher Festigkeit führte, und
Künste und Wissenschaften eine Pflege fanden.
Doch ihr Leben sollte hier nicht abschliessen. Wir haben ihrer
Beziehungen zum brandenburgischen Hofe, ihres zeitweiligen Aufenthalts
in Crossen und Berlin gedacht. Auch mit Friedrich Wilhelm, dem
grossen Kurfürsten, verband sie alte Freundschaft. Noch befand sich
die märkische Residenz in ärmlichen Verhältnissen, auf diesem auch von
der Natur so wenig bevorzugten Boden, wo es damals noch keine Bücher
und keine Gelehrten gab, nur abergläubige Theologen disputierten, war
Elisabeth wegen ihrer Gelehrsamkeit und geistvollen Unterhaltung ge-
feiert und bewundert. Descartes hat es ihr gedankt, dass durch ihre
Vermittlung auch diese Kreise mit seinen Schriften bekannt geworden
sind. Erst Friedrich Wilhelm, der Schöpfer des künftigen Grossstaates,
begann seiner öden Residenz und seinen Landen auch geistiges Leben
zuzuführen. Die von ihm neugegründete Universität Duisburg sollte
ein Sitz Descartes'scher Lehre werden. Und. doch war dauerhafte Freund-
schaft und Wärme des Familienlebens das Beste, was die ruhelose
Prinzessin hier finden konnte. Nach jahrelangen Wanderungen ihres
1) Steiner, Anh. 27 u. 3.
2) So wenigstens Raillet II, 235.
Pfalzgr&fin Elisabeth 129
schicksalsvoUen Lebens verdankt sie dem brandenburgischen Eurftirsten
eine dauernde Zufluchtsstätte, an der sie in Ruhe ihrer inneren Welt
leben konnte.
Noch einmal hat sie ihren berflhmten Namen der Welt bekannt
gemacht, doch in anderen Formen eines tiefinnerlichen Lebens.
Am 1. Mai 1661 war die Prinzessin, durch den mächtigen Einfluss
ihres brandenburgischen Vetters gefordert, zur Eoadjutorin des freiwelt-
lichen Beichsstifts Herford gewählt worden.
Diese uralte, unter Ludwig dem Frommen zwischen Paderborn
und Munster nahe beim Zusammenflusse der Aa und Werre gegründete
Abtei lag als kleines reichsunmittelbares Gebiet der Altstadt Herford
gegenüber, nur durch eine Brücke mit ihr verbunden.
Hier in dieser , Freiheit^, wie der kleine Bezirk hiess, residierten
nun die Äbtissinnen fiber den kleinen Kreis von Unterthanen, begabt
auch mit der Givilgerichtsbarkeit in der Stadt, Hie einst freie Reichs-
stadt, im Jahre 1652 diese Stellung verlor und unter die Oberhoheit
des brandenburgischen Kurfürsten gekommen war. Auch dieser kleine
geistliche Staat der Abtei war gleich der Stadt Herford im Jahre 1523
zur Reformation übergetreten. Die Abtei aber blieb reichsunmittelbar
unter dem Schutze der brandenburgischen Kurfürsten als ein evangeli-
sches adeliges Frauenstift, dessen Äbtissinnen ebenfalls dem lutherischen
oder reformierten Bekenntnisse angehörten.
So bekam Elisabeth als Eoadjutorin Anspruch auf Nachfolge in
eine schon im Mittelalter von Angehörigen des hohen Adels sehr be-
gehrte, auch an Einkünften reiche Stellung einer Fürstin und Prälatin
des heiligen römischen Reiches, mit ihrem Lehenhof und ihrem Hof-
staate, der auch dem kleinsten politischen Gemeinwesen damals nicht
fehlen durfte. Am 28. März 1667 ist sie dann nach dem Tode ihrer
Vorgängerin, der pfalz-zweibrückischen Prinzessin Elisabeth Luise als
Äbtissin von Herford inthronisiert worden.
Man sollte nun denken, dieses adelige Frauenstift wäre eine Hoch-
burg des Gartesianismus , eine philosophische Akademie geworden, in
der eine gelehrte Äbtissin mit gleichgesinnten Schwestern fern vom
Geräusche der Welt in stillem Klosterleben metaphysische Probleme
verfolgte. Elisabeth aber nahm von ihrem Vetter, dem grossen Kur-
fürsten, diesen reichsfürstlichen Platz, um den inneren Frieden der Seele,
das höchste Gut zu suchen und die Idee Gottes in uns, die Des-
cartes gelehrt, nicht in der metaphysischen Gedankenwelt zu verfolgen,
sondern in das tiefe Innere, in das geheimnisvolle Empfinden religiösen
NEITB HEIDELB. JAIIRBinC(JHER XI. 9
130 J Wflle
Lebeos einzuf&hren. Die alte Abtei Herford ward, was sie einstens in
der alten Kirche war, nun auch in der neaen, doch in anderer Form
und anderem Geiste: der Sammelplatz der Frommen, der Bekehrten,
der im Geiste Gottes Wiedergeborenen, der Auserw&hlten Gottes. Eine
Wandlung merkwürdiger Art im Leben der Pfalzgr&fin ! Descartes hatte
seiner Schülerin den Bat gegeben, sich um metaphysische Dinge nicht
viel zu kümmern, yielleicht um ihren Fragen auszuweichen, mit denen
sie ihn so hart bedrängte.
Sie hat es gethan, nicht allein, weil sie in dem metaphysischen
Denken keine Befriedigung fand, sondern weil ihr philosophisches Denken
ein ethisches war. Aber dieses ethische Denken der Äbtissin stand
immer im Widerspruche mit den ihrem Lehrer abgerungenen Äusse-
rungen moralischen Inhalts; an dem Verhältnis des freien Willens zu
Gott als dem Urquell aller Erkenntnis hat ihr Denken halt machen
müssen. Je mehr sie sich abmüht, nach dem höchsten Gute, nach der
Glückseligkeit, nach der Buhe ihrer Seele zu gelangen, um so mehr
erweitert sich der Gegensatz zwischen dem von Descartes gelehrten
freien Willen und dem allgemeinen Kausalgesetz, das uns abhängig
macht von Gott. Sie hat zwar durch ihre Einwände den Philosophen
so weit gebracht, dass er in seinen , Passions de Pftme' diese Lehre von
der Freiheit des Willens gemildert, indem er zugegeben, dass der Mensch
die Erreichung des höchsten Gutes nicht immer in seiner Gewalt hat,
dass er sich dem Willen der allmächtigen Ursache ergeben müsse, eben
in der intellektuellen Liebe zu Gott. Diese rein erkenntnistheore-
tische Lehre befriedigte sie nicht, darum suchte sie einen andern Weg,
der im neuerwachten religiösen Leben der Zeit gegeben war.
Es ist vielleicht nicht ohne Bedeutung fKr die Prinzessin gewesen,
dass sie schon von Heidelberg aus (1660) mit den Werken des Theo-
logen Johannes Coccejus bekannt geworden ist,^) dessen religiöse, von
der Liebe zu Gott ausgehende Ideen von dem Gnadenbunde Gottes mit
den Menschen, trotz aller mystischen Anklänge doch in ihrer tiefmner-
lichen Durchbildung vielfach auch mit Descartes sich berühren. Aber
nicht der Intellekt, sondern der Glaube zeigt uns den Weg zur Eini-
gung mit Gott, der Glaube, dessen Wurzel die Liebe ist Über die
geistige Beziehung der Schülerin des Descartes zu dem gelehrten Föderal-
theologen zu Leiden sind wir im einzelnen nicht unterrichtet. Coccejus
hat ihr seinen lateinischen Kommentar zum Hohen Lied gewidmet.
1) Das Nfthere bei Gnhraner I, S. 128 ff.
Hatzgr&fin Klisabetb 131
„Nichts gibt es in der ganzen Welt, schreibt er in seiner Widmung,
was uns nicht von der Eigenliebe wieder zurückführt zu Gott, der wie
die Ursache alles Schönen und Lieblichen, der einzige Mittelpunid der
Liebe ist." In ihr soll der Dualismus zwischen Seele und Leib über-
wunden werden zum wahren Leben. ') An die Stelle der intellektuellen
Liebe, wie Descartes sie gelehrt, tritt die religiöse Liebe, die aus dem
Herzen kommt, durch welche die Seele zu einer Vereinigung mit Qott
zu kommen sucht, ganz unabhängig von den realen Forderungen der
Kirche, die nach Coccejus nur geistige Attribute kennt. Doch steht
Coccejus nur am Anfange einer kirchlich reformatorischen Bewegung,
in deren Mittelpunkt auch die Pfalzgräfin immer mehr die ethischen
Probleme praktisch in sich zu lösen glaubt.
Durch innerliches Erleben Gottes, durch die Betrachtung, die Kon-
templation soll diese Vereinigung des Menschen mit Qott zur Wahrheit
werden. Je mehr diese Liebe das menschliche Herz vereinigt, die
Selbstsucht abtötet, desto reifer wird der Mensch zur Aufnahme des
göttlichen Geistes, desto kräftiger zur Ertragung aller Leiden, in der
willenlosen Ergebung in den Willen Gottes. Das ist die kontemplative
Mystik, die nur das Gebet ohne Worte, das Sichversenken in die Unend-
lichkeit Gottes kennt. Diese Mystik, die in der katholischen Kirche
ihren fruchtbarsten Boden gefunden und uns die tiefsinnigen Lehrer
wie Meister Eckhart, Suso und Tauler gegeben hat, erfasst auch die
reformierte Kirche, je mehr sich ihre Vertreter im Sinne des Coccejus
von dem starr gewordenen religiösen Leben, von der geistlosen Er-
klärung der h. Schrift losmachen, um die Kirche Gottes im Innern
Leben aufzurichten durch die Erweckung eines frommen Lebens. Diese
Liebe zu Gott, die Descartes den vollkommensten Affekt nennt, wird
auch in der Mystik zur Leidenschaft, doch zur Leidenschaft, die ent-
gegengesetzt der Lehre des Descartes niemals Reue erzeugt, sondern
Seligkeit, freilich auch mit dem Verluste des freien Willens, die Herr-
schaft über die Vernunft erringen kann. Eine Leidenschaft, die nicht die
Macht der Sinne zu überwinden sucht, sondern den unerforschlichen
Gott sinnlich zu erkennen, mit den Augen zu sehen, mit den Ohren zu
hören, ja selbst zu schmecken sucht. Die Liebe zu sich selbst schliesst
die Welt in sich, sie ist die Wurzel alles Uebels. Darum muss man
auf den eigenen Willen und selbst auf die Vernunft verzichten.
1) «Haec est yera viu, id amabilis intueri. Ejus radii in hac palaestra carnia
et Spiritus inter se belligerantiiun veram vitam initiant/ Widmung an Rlisahcth.
Cocceins, Opera IV, 551.
9*
132 J. Wille
So lehrte der Mann, der jetzt an der Pforte der Abtei zu Herford
um Einlass und Schutz bat — Jean de Labadie, der neue Prophet der
reformierten Kirche, eine Erscheinung, in so vielem dem h. Franziskus
ähnlich, doch im Gewände Calvins.
Labadie ^) ist Franzose, in der Quyenne i. J. 1610 geboren. Er
hat seine erste Erziehung bei den Jesuiten gehabt, ist auch bei ihnen
Novize geworden. Aber die politische Tendenz des Ordens stösst ihn
ab. Er wird Weltgeistlicher. Schon früh geht ein mystischer Zug
durch sein Inneres. Während seiner Priesterweihe fahlt er, dass Chri-
stus, nicht der Bischof ihm die Hände aufs Haupt legt. Wie eine
grosse Mission lag es in diesem Gefähl. Es geht ihm wie so vielen
der alten und neuen Kirche, die vom Geist Gottes getrieben, ihn ver-
geblich suchen in der äusseren Erscheinung des kirchlichen Lebens.
Seine Gedanken sind erfüllt von einer Beform seiner Kirche, von einer
Wiederherstellung des Christentums in ihrem alten ursprünglichen Da-
sein, nach dem Muster der ersten Gemeinden zu Jerusalem.
Durch seine Thätigkeit als Prediger von gewaltigem Einfluss ge-
winnt er Anhänger und gründet eine Bruderschaft von allen denen, die
zum neuen Leben erweckt sind. Diese x Er weckung geschieht durch Ge-
bet, Betrachtung und Predigt. Mit seiner Lehre von der h. Schrift
als Regel des Glaubens nähert er sich der neuen Kirche, aber sein fie-
formwerk ist ganz mittelalterlich, franziskanisch. Durch seine Gottes-
liebe geht ein Zug vom Geiste der alten Mystiker: Nach dem Vor-
bilde Christi stirbt man in sich selbst, um Gott zu lieben. Diese Liebe
kann aber der Mensch gar nicht üben, ohne dass Gott durch Christum
sie ihm bewiesen hat in der Innern Erweckung. Diese inwendige Stimme
ist das Zeugnis Gottes in uns, der zum Herzen spricht. Labadie ist
später so weit gegangen, diese innere Stimme als Prinzip des Glaubens
über die Schrift zu stellen. Denn die Religion ist lange Zeit auch
ohne die h. Schrift gewesen. Die Offenbarung Gottes ist eine fort-
währende, dafür ist der Mensch sich selbst Zeugnis. Also eine subjek-
tive Freiheit des Denkens, die ganz dem Beweise Gottes bei Descartes
entspricht.
Die Versuche Labadies, auf dem Boden der römischen Kirche seine
Reform zu begründen, sind gescheitert, sie haben ihm Hass uud Ver-
1) M. Goebel, Geschichte des christlichen Lehens in der rheinisch-westphäli-
sehen evang. Kirche II, 181 ff. — H. Heppe, Geschichte des Pietismus und der
Mystik in der reformierten Kirche, namentlich der Niederlande S. 240 ff. —
A. Kitsch], Geschichte des Pietismus I, 194 ff.
Pfalzgrafiii Elisabeth 133
folgung gebracht. Nachdem er die * Lehre Calvins kennen gelernt, hofft
er unter dea Beformierten sein auserwähltes Volk zu finden. Er ent-
schliesst sich zum Eonfessionswechsel, wird erst Prediger im Dienste
der Genfer Kirche, dann 1666 nach Middelburg in Holland berufen.
Aber trotz des Ungeheuern Erfolges seiner Predigten — der junge
Spener hat ihn in Genf voll Bewunderung gehört — kann er sein
Lebensideal nur in einer Trennung von der kirchlichen Gemeinschaft
finden. So sammelt sich um ihn eine neue Gemeinde der geistlich
Wiedergeborenen unter Loslösung von jeder kirchlichen Verfassung, in
Verleugnung der Welt mit ihren Gfitern und Freuden um Jesu Christi
willen. Nicht die Kirche, sondern die Gemeinde ist der Mittelpunkt,
um den sich diese Auserwfthlten sammeln. Der Familienvater, nicht
der Priester leitet diese Gemeinde. In ihr wirkt nun Labadie durch
die unmittelbare Gewalt seines Wortes, durch den Effekt seiner äussern
rhetorischen Mittel, die Frophetie seiner mystischen Betrachtungsweise,
die uns die baldige Wiederkehr des Reiches Christi auf Erden verkün-
digt, wirkte er besonders auf die Gemüter der Frauen. Unter ihnen finden
wir auch Anna Maria van Schurmann wieder. Statt der einst jugend-
lich schönen und gelehrten holländischen Minerva, die, obwohl Calvi-
nistin strengster Sorte, sogar von den Jesuiten in lateinischen Versen
einst gefeiert ward, folgt eine an Jahren und in Askese gealterte reli-
giöse Schwärmerin der Schar der Labadisten. Die Glut ihrer Augen,
der letzte Glanz ihrer einstigen Schönheit, verrät die Vorgänge in der
Tiefe ihrer Seele. Sie hat alle Wissenschaft und alle Gelehrsamkeit,
allen Ruhm und alle Ehren verachten lernen im Lichte der inneren
Offenbarung. Sie hat sich mit Maria verglichen, welche das bessere
Teil erwählte. „Eukleria* betitelte sie das merkwürdige Buch, in dem sie
alle ihre Erlebnisse und inneren Wandlungen uns geschildert hat.^)
Durch sie ist die Berufung Labadies nach Middelburg veranlasst worden,
sie ist ihm dann nach Amsterdam gefolgt, auch hier war den Bekehrten
und Wiedergeborenen als Staats- und kirchenfeindlichen Separatisten ein
ruhiges Bleiben nicht vergönnt. Elisabeth hört von der Not der neuen
Gemeinde, lad sie zu sich ein und versichert sie voller Freiheit ihrer
Religionsnbung in dem kleinen Bezirke der Herforder Abtei. Ihre Einlad-
ung ist zunächst an die Schurmann erfolgt, die sich, wie sie erzählt,
von den Banden der Welt und den irdischen Dingen befreit, um die
1) EdxXrjpta geu Melioris Partis Electio 1673. — Aus dem Lateinischen über-
setzt. Dessau und Leipzig 1783.
134 J. Wille
wahre christliche Keligion mit grösster Freiheit und Reinheit in Gesell-
schaft der Frommen za üben und den letzten Abschnitt ihres Lebens
zu beschliessen. In duldsamen Geiste hat der brandenburgische Kur-
fürst den Wünschen der Äbtissin seine Genehmigung nicht versagt. So
kam denn eine Gesellschaft von etwa fünfzig Personen nach Her-
ford, um nach dem Berichte der Prinzessin eine klösterliche Ansiedlung
zu gründen. Ein buntes Gemisch von Vertretern aller Stände, die nun
in einem der Abtei nahegelegenen Hause eine gemeinsame geistliche
Haushaltung führten. Unter ihnen war die Frauenwelt vorherrschend,
die meisten aus dem hohen Adel und von hoher Bildung. Unter dem
Schutze der einstigen Schülerin des Descartes richtet sich nun die neue
Gesellschaft nach dem Vorbilde der ersten Christengemeinden ein, in den
freien Formen der Gesellschaft, ohne den Zwang kirchlicher Verfassung,
ohne liturgische Formeln bei Gottesdienst und Taufe. Denn diese wird
nur den Kindern der Wiedergeborenen zu Teil, sie kann aufgeschoben
werden, bis die Stichen der Wiedergeburt erkenntlich sind. Eine von
mystischer Schwärmerei bis zur Extase erfüllte geistliche Unterhaltung
ist Gottesdienst. Im neuen Jerusalem zu Herford wird jetzt gemeinsam
die Feier des h. Abendmahls begangen. Mystische Tänze und Gesänge
bezeichnen den Höhepunkt religiöser Schwärmerei. Gleich dem Tanze
Davids vor der Bundeslade ist Kuss und Tanz das Zeichen der allge-
meinen Wiedererweckung. In einer solchen von der Welt abgekehrten
Gesellschaft sind, nach dem Muster der ersten Gemeinden, auch die
Gläubigen nur die Haushalter über ihr Vermögen, Christus ist der
Herr alles Besitzes, ein jedes Mitglied als Glied am Leibe Christi ver-
pflichtet seinen Besitz dem Ganzen zur Verfügung zu stellen, eine Art
Gütergemeinschaft, die Anna Maria van Schurmann als die wahre Ge-
burtsstunde der Labadistengemeinde angesehen hat. Bedenklicher war
schon die Nichtachtung aller bisherigen gesellschaftlichen Formen, in der
Kasuistik, mit der die Labadisten die Ehe betrachteten, deren öffentliche
Schliessung ihnen zu weltlich dünkte, deren Unauflöslichkeit sie nach
den Worten Christi nur hypothetisch fassten, eine Ehe, die sie über-
haupt nur zwischen Wiedererweckten als giltig anerkannten und darum
nur von dem Einverständnis der Verlobten und der Kenntnisnahme der
Gemeindevorsteher abhängig machten.
Dass eine verständige Frau wie Äbtissin Elisabeth mit allen diesen
Auswüchsen exzentrischer Lehren, die gar viele der Gemeinde entfrem-
deten, nicht einverstanden war und zu Zeiten ihre Rechte und Pflichten
als Schutzherrin geltend machen musste, konnte man voraussehen. Was
Vfalzgrafin Elisabeth 135
sie aber zur Labadistengemeinde binzog, war der beilige Ernst des
tiefen inneren Lebens, was sieb hier, trotz mancber Yerirrungen, unter
dem Einflüsse einer die Gemüter überwältigenden Predigtweise Laba-
dies und seiner mit dem Geschicke eines Ordensbruders geleiteten geist-
lichen Eierzitien in der Familie zu Herford verbreitete. ,Die Prinzessin,
welche diesen Betrachtungen fast immer beiwohnte, schreibt die Schur-
mann,^) ward dadurch zu grosser Bewunderung und Liebe dieser Wahr-
heiten und Lehrart hingerissen und lernte nun auch das wahre Christen-
tum Ton seinem falschen Nachbilde unterscheiden. Mehr als einmal
pries sie sich selig, dass Gott sie gleichsam zur Beirirterin und Be-
schützerin seiner wahren, aus ächten Gläubigen gesammelten Kirche,
vor andern ausersehen hatte. Besonders aber, nachdem Labadie in
einer Krankheit ihr näher ans Herz geredet hatte, versicherte sie mich
voller Freuden mit den Worten des Samariters, sie glaube nun fort
nicht mehr um meiner und anderer Rede willen, sondern weil sie selbst
gehört und erkannt habe, dass diese Männer wahre und von Gott ge-
lehrte Diener Christi seien.* Wir zweifeln nicht an dem, was die re*
ligiöse Schwärmerin über Pfalzgräfin Elisabeth uns berichtet, obwohl
letztere das Bekenntnis ihres inneren Verhältnisses zu Labadie niemals
ausführlich niedergelegt hat. Die Idee Gottes aber in uns, die Des-
cartes aus dem abstrakten Denken beweist, bat sich bei ihr längst ver-
flüchtigt in der inneren mystischen Offenbarung, in dem Lichte der
Wiedergeburt, das so stark leuchtet, um auch das eigene „Ich* willen-
los in sich vergehen zu lassen. „Es bleibt mir, schreibt sie kurz vor
ihrem Ende an ihren Bruder Karl Ludwig, in dieser Stunde nichts
übrig, als mich darauf vorzubereiten, um meine durch das Blut meines
Erlösers gereinigte Seele Gott zii empfehlen. Ich weiss, dass sie befleckt
ist von vielen Sünden, von der einen vor allem, dass ich das Geschöpf
höher gestellt habe, als den Schöpfer und zu sehr für meinen eigenen
Ruhm gelebt habe. Das ist eine Art von Götzendienst. Weil ich weiss,
dass der Leib duldet fBr die Sünden, die er mir zu hieben befohlen
hat, darum ertrage ich fast alle Tage meine Schmerzen mit Freude.*
Es ist das Kreuz, welches zu tragen sie sich auferlegt hat, ihrer selbst
entsagend, um sich ganz dem Willen Gottes zu ergeben.')
Das neue Jerusalem zu Herford machte sich weithin einen Namen.
Von heiligem Ernst getrieben, kamen viele zu den Andachten und Pre-
1) Eaklerift. Deutsch S. 251 ff.
2) An Karl Ludwig 31. Okt 1679. «fin nnon^nt k moi-mtoie, pour me sou-
mettre enti^rement k sa volonte** Foucher de Careil Anh. 18.
136 • J' Wille
digten Labadies, viele auch aus Neugierde, um von den Sauden dieser
Welt belastet, das Verdammungsurteil des neuen Propheten in Gleich-
mut über sich ergehen zu lassen. Zu den Neugierigen kamen aber
auch die freigeistigen Spötter und sie sassen in der eigenen Familie
der frommen Äbtissin. Glückselige Naturen, die sich um die Bätsei
der Welt nicht kümmerten, sich über subtilen Fragen der Gottes-
erkenntnis ihre Lebenslust nicht verderben Hessen. Auch sie haben die
Schicksale des pftlzischen Hauses von Jugend auf erlebt, aber gleich
der unverwüstlichen Natur ihres Heimatlandes haben sie die Glück-
seligkeit immer wieder in sich selber gefunden ohne metaphysische
Fragen und mystische Betrachtungen. Um ihrer Sünden willen haben
sie kein Kreuz getragen. In religiösem Indifferentismus aufgewachsen,
kennen sie nicht den Zwang der Glaubenslehren, wollen sich aber die
Freiheit billigen Spottes nicht nehmen lassen. «Die Askese Eurer De-
votion — schreibt Karl Ludwig an die Schwester — hat Eure Be-
leibtheit nicht verhindern können.* ^) Auf ihren religiösen Eifer giebt
er nicht viel. „Ich masze mir nicht an die Batschlüsse Gottes zu
untersuchen, die unerforschlich sind und zweifle, ob wir beide so lange
leben, um der von Ihnen gewünschten Wiedergeburt teilhaftig zu werden,
noch weniger die Anzeigen einer Erneuerung unserer Herzen unterschei-
den zu können.'^')
Figuren wie Labadie sind diesem Kreise fremdartig. Auch die
geistvolle Spötterin Sophie von Hannover ist mit ihrem Urteil über den
neuen Propheten von Herford bald fertig, der nur ein Bösewicht oder
ein Unglücklicher sein kann und nur das Gute hat, mit seinem vielen
Gelde der Frau Äbtissin die Abtei neu zu bauen.* ^) Wie sie einmal
nur zum Spasse in die katholische Kirche zur Beichte geht, so ist
ihrem von der Liselotte gerühmten «lustigen Verstand* auch ein Be-
such in Herford nur ein erwünschtes Amüsement. So kommt sie eines
Tages mit ihrem Hofprediger aus Osnabrück herübergefahren (1671),
um ihn mit Labadie disputieren zu lassen. Sie trifft fröhliche Gesell-
schaft aus Heidelberg, ihren Neffen den Kurprinzen Karl mit seinem
Hofineister Professor Paul Hachenberg, auch sie wollen einmal den
Verkündiger des neuen Lebens in Gott sehen und hören. Hachenberg
1) Karl Ludwig an EKsabeth 16. M&rz 1676. Foncher de Careil Anh. Nr. 11.
2) Karl Ludwig an Elisabeth 9./17. Okt. 1676. Foucher de Careil Anh. Nr. 6.
3) Sophie an Karl Ludwig 5. Nov. 1670 (Publikationen a. d. prenss. Staats-
archiven 26) S. 153. Vgl auch die spöttischen Bemerkungen Ober die Pr&desti-
nationslehre ebend. S. 42.
Pfalzgräfin Elisabeth 187
hat uns diesen Aufenthalt geschildert.^) Man hat bei dieser Schilderung
das Gefühl, als ob die Herrn mehr zu einem Schauspiel als zu ernsten
Dingen gekommen w&ren. Gleich bei der Tafel wird es lebhaft. Die
leichtlebigen Pfälzer wissen ihren Dank für die dargebotene Gastfreund-
schaft nicht besser auszusprechen, als dass sie mit seichtem Spotte der
Äbtissin zusetzen und über Labadie recht abfällig urteilen oder sich
lustig machen. Oft muss ihr Geschwätz durch ernste Worte der Pfalz-
gräfin unterbrochen werden. Erst die Nacht beruhigt die bösen Zungen.
Den nächsten Tag ist Disputation im Hause Labadies, wo die Gesell-
schaft klösterlich beisammen wohnt. Langsamen Schrittes kommt er
seinen Gästen entgegen, abgehärmt von Innern Qualen und „von der Art
der Sterblichen, die ein besserer Geist angehaucht, der niedern Erde
entrückt und zum Umgang mit der Gottheit emporgehoben hat.* Dann
wird den Tag über von fleischlichen Begierden und Weltentsagung ge-
redet. Es ist ein Lärmen und Zanken ohne Ende. Besänftigend muss die
Äbtissin dazwischentreten. Aber die fremden Herrn müssen über ihre
Heimat schöne Dinge hören. Gott solle ihn strafen, sagte der Labadist
Schlüter, wenn er während eines zehnjährigen Aufenthaltes in der
PCEilz auch nur einen einzigen frommen Professor oder Prediger gesehen
habe, die alle voll Ehrgeiz, Habsucht und Völlerei seien. Aber das
leichtfertige höfische Volk lacht darüber hell auf. Auch die Predigt
Labadies, eigens für sie gehalten, ganz im Geiste der Wiedererweckimg,
eine Mahnung an den künftigen Regenten der Pfalz, macht auf diese
Gattung von Zuhörern keinen andern Eindruck, als dass sie Mitleid
haben mit den zu Thränen gerührten Jungfrauen, die sie hier versam-
melt haben, arme Seelen des schwachen Geschlechts, von furchtsamer
und ängstlicher Frömmigkeit verwirrt, und zu Hause angekommen,
lachen sie wieder. — Den Spott der Freigeister konnten Labadie und
seine Anhänger über sich ergehen lassen. Schwerer war es für sie, den
Anklagen und Verfolgungen der kirchlichen und städtischen Behörden
von Herford Stand zu halten, obwohl Äbtissin Elisabeth schützend und
verteidigend ihre Hand ober dieser merkwürdigen Gemeinde hielt. Als
gefährliche Separatisten im Sinne der Münsterischen Wiedertäufer sind
sie von den lutherischen Predigern in Wort und Schrift verfolgt wor-
den, von übertriebenen Gerüchten beeinflusst, klagte sie der Bat von
Herford der Gütergemeinschaft und selbst der Frauengemeinschaft an,
als Störer der öffentlichen Sitte und Ordnung, auch vor den Stein-
1) Schunnann, Eokleria. Deutsch S. 1 u. ff, (aus dem lateinischen in der Biblio-
tbeca Bremensis Class. VIII veröffentUchten Briefe).
138 J. Wille
würfen des Pöbels waren sie nicht sicl^er, der in den Handwerkern der
neuen Gemeinde die Schädiger des städtischen Gewerbes erblickte. Der
Klagschriften an das Beichskammergericht, der Mandate des Kurfürsten
gegen die Stadt, der Fragen und Antworten all der eingesetzten Kom-
missionen weltlicher und geistlicher Art ist anderwärts ausführlich ge-
dacht.^) Auch die weiteren Schicksale der Labadisten zu verfolgen,
liegt mir ferne. Die Gefahren des Krieges haben sie am 23. Juni 1672
hin weggetrieben. Das religiöse Leben der Äbtissin aber, ihr Sehnen nach
dem innern Frieden aus dem Zwiespalte der seelischen und körperlichen
Lebenskräfte, das Bingen eines starken Geistes mit der Macht des Ge-
müt;^, das Suchen Gottes, den Descartes sie begreifen, Labadie im Feuer
der inneren Ofifenbarnng sie fühlen gelehrt hatte, das Alles war nach
dem Wegzuge ihrer Schützlinge nicht zur Bube gekommen.
Der Buhm der frommen, für die Erneuerung des religiösen Lebens
so empfänglichen Äbtissin zog neue verwandte Geister an. Nun betrat
ein anderer, auch ein Mystiker, den Boden der Abtei, in der starken
Hoffnung, auch hier sein religiöses Werk zu befestigen, ein Mann, der,
wie Macaulay so treffend sagt, religiöse Freiheit zum Eckstein des
Staatswesens gemacht hat — William Penn.') Auch er gehört einer
Sekte an, deren Liebe zu Gott Leidenschaft war, eine Leidenschaft, die
Seele und Leib so mächtig durchdrang, dass George Fox, ihr Stifter,
zitterte, wenn die Kraft Gottes über ihn kam. In William Penn aber
hat diese Mystik zur Menschenliebe sich veredelt. Eine Mystik, die
nicht wie bei Labadie nur Gott in uns handeln lässt, sondern selbst
handelt, die nicht von Selbsttäuschung befangen in hochmütiger Selbst-
schätzung und Eigenmacht die Wiedergeborenen von den Ungläubigen,
als vom Schlamme der Welt besudelt, zu scheiden wagt, sondern einem
jeden in seinem eigenen Herzen einen Tempel Gottes bauen lässt, eine
Mystik, die nicht den freien Willen opfert, sondern mit starker Lebens-
kraft vom Lichte der innern Offenbarung erleuchtet, Freiheit und
Menschenglück begründen will. Labadies Versuch, im Geiste der refor-
mierten Lehre eine Klostergründung mit asketischer Strenge und der
Vernichtung des freien Willens zu erneuern, musste missglücken. Der
Name William Penns hat sich verewigt in der Freiheit religiösen Be-
kenntnisses des Weltbürgertums jenseits des Ozeans.
1) Hölscher, Die Labadisten in Herford 1864.
2) Dixon, William Penn 2. ed. London 1852. — 8. M. Janney, Tiie life of
William Penn. 2. ed. Philadelphia 1852.
Pfalzgräfiu EUsabeth 139
Der liiihm untrerer Äbtissin war auch zu den englischen Quäkern
gedrungen. Bobert Barclay hat ihr sein theologisches System zuge-
schickt,^) von ihr empfing es Karl Ludwig. Er wird sich schwerlich
in diese .vera dei cognitio* hineinvertieft haben, wenn er seiner
Schwester Sophie nur zu melden weiss, dass die fromme Äbtissin auch
einige Mahnungen wider den Zorn Gottes der Sendung beigegeben
habe.') Auch auf Sophie, die Barclay flüchtig sah, scheint der be-
rühmte Quäker mit »seinen blauen Augen^ keinen tiefen Eindruck ge-
macht zu haben. Dem ihr gespendeten Segen schreibt sie nur die eine
rasche Wirkung zu, dass sie auf der Beise mit einem ihr erwünschten
Diner ganz unerwartet regaliert worden sei.^) Wüssten wir doch statt
dieser billigen Spässe der freigeistigen Geschwister, was Pfalzgräfin
Elisabeth über Barclays Buch gedacht hat, über ein System,^) das zwar
an Stelle des intellektuellen Gottes das himmlische Feuer im Herzen
setzt, jedoch in seiner Gnadenlehre versöhnender, als Coccejus auf den
Zwiespalt im Innern der frommen Prinzessin einwirken konnte!
Mit Barclay und John Fox ist auch William Penn, ehe er sich
zu seinem grossen Werke nach dem neuen Weltteil aufmachte, zur
Äbtissin nach Herford gekommen (1677).^) Ihr Besuch, ihr Empfang
gleicht einer religiösen Versammlung; in Gebet, in Unterhaltung über
die Fragen des inneren Lebens gehen die Stunden dahin. Die Erschei-
nung William Penns, der zweimal in Herford weilte, macht auf Elisa-
beth den tiefsten Eindruck; in ihrem Sehnen nach Gott fühlt sie sich
hingezogen zu dem tiefsinnigen Yerkündiger der inneren Erleuchtung.
Ihre Beden, ihre wenigen uns erhaltenen Briefe tragen die geistigen
Spuren des von Gott erfüllten Quäkers, doch dauernden Erfolg hat
William Penn njpht gehabt, weder im Glauben der Äbtissin, noch in
1) Theoiogiae verae christianae Apologia lfi76. Einen Briefwechsel Elisabeths
mit Barclay enthält das lithographisch erschienene Werk: Reliquiae Barclaianae,
Correspondence of David Barclay and Robert Barclay of Urie and his son Robert,
inclnding Letters from Prinzess Elizabeth of the Rhino ... W. Penn, Cr. Fox and
others etc. London 1870. Dieses im British Mnsenm vorhandene Bach war mir trots
allen Suchens nicht zugänglich.
2) Karl Ludwig an Sophie 5. Mai 1677 a. a. 0. S. 295. — „C'est nne des faib-
lesses humaine qoi a ^t^ de tout temps, que les beaux esprits et savants se
▼eulent rendre renomm^ par la singularit6, principalement 6s affaires de la r6Ii-
gioD.** Kari Ludwig an Elisabeth 5. März 1677. Foucher de Careil S. 197.
3) Sophie an Kari Ludwig 24. August (1677) a. a. 0. S. 298.
4) Yergl H. Weingarten , Die Revolutionskirchen Englands. Leipzig 1868.
S. 364 ff,
5) Gnhrauer II, S. 515 ff.
140 J- Wille
geiner eigenen Sache. Auch von ihm wie von Labadie trennt sie bei
aller Zuneigung doch eine unsichtbare Welt.
Fromm und gerecht, nie müde im Suchen nach der Wahrheit, hat
sie bis an ihr Ende das Beichsstift Herford regiert, am 11. Februar
1680 im Alter von 62 Jahren ist sie gestorben.
Schwer ist es dieses Leben in seinen inneren Wandlungen und Re-
gungen zu verfolgen und zu verstehen, weil uns die historische Grund-
lage, ihre eigenen Bekenntnisse doch nur bruchstückartig bekannt
sind. Wie anders, wie lebendig steht dem gegenüber das Lebensbild
ihrer Nichte Liselotte vor uns, deren zahlreiche Briefe ^) die feinsten und
unfeinsten Regungen ihres Seelenlebens uns enthüllen !
Prinzessin Elisabeth geizte nicht nach dem Ruhme einer Schriftstel-
lerin und Philosophin oder nach einer Unsterblichkeit, die im Sinne der
Mystik Sünde bedeutet. Ihre Briefe an Descartes hat sie nach dem
Tode des Philosophen zurückverlangt, ihre Herausgabe verweigert, als
man diese wertvollen Zeugnisse ihres Geisteslebens, der ersten Gesamt-
ausgabe der Descartes'schen Werke einverleiben wollte. Nur durch einen
Zufall sind diese Briefe aus einem verborgenen Winkel wieder zum
Vorschein gekommen und vielleicht bildet auch dieser wertvolle Fund
nur einen kleinen Teil von dem, was verborgen liegt oder auf immer
verloren gegangen ist. Wir wissen, dass sie durch ihre Schwester Sophie
mit Leibnitz bekannt geworden war. Mit Malebranche, der alle Dinge
in Gott geschaut, hat sie Briefe gewechselt.') Um diese zu finden,
geben wir gerne ein gutes Teil selbst von Liselottens urwüchsigen Be-
kenntnissen zum Preise, ohne dass ihr prächtiges Bild auch nur einen
einzigen Zug einbüssen müsste.
Was uns aber auch diese verlorenen Bekenntnisse aufhellen könn-
ten, das möge uns ein Künstler sagen, der in die Tiefen deutschen
Wesens wie kein anderer hineingeschaut hat. Aus seiner grossen Zeit
heraus, in der Glauben und Wissen die Geister bewegte, hat uns Albrecht
Dürer zwei Bilder geschaffen: Den heiligen Hieronymus im Gehäuse,
den Eremiten, der ferne vom Geräusche der Welt in fromme Arbeit
versenkt ist, beschaulich und gottseelig. Freundlich und warm scheint
die Sonne durchs Fenster. Ein Bild tiefsten Friedens, innerlichster Ruhe,
1) J. Wille, Pfalzgr&fin Elisabeth Charlotte, Herzogin von Orleans 1895. S. 33 ff.
2) Mit den beiden grossen Mathematikern und Physikern Konstantin und
Christian Huygens dQrfte sie auch späterhin in brieflichem Verkehr gestanden
haben. Unter den berQhmtesten Gelehrten der Zeit, denen Christian Huygens
sein* Horologium (Hagae Com. 1658) zugeschickt hat, steht auch Elisabeths Name.
Christian Huygens, Oenvres publ. par la Societe HoUandaise des sciences II, 269.
Pfalz^äün Elisabeth 141
höchster Glückseligkeit. Und daneben die „MelaDcholie^ : Eine geflfigelte
Frauengestalt, voll düsterer Schwermut, ein Genius, der emporsteigen
möchte zu den höchsten Zielen der Erkenntnis — aber des. starken
Denkens und des freien Willens Flügelkraft ist gelähmt durch die
Gewalt eines unüberwindlichen Gesetzes, aber auch die Ruhe der Seele
ist dahin. Glauben und Wissen, Offenbarung und Vernunft im ewigen
Bingen, das sind auch die tiefen unüberwindlichen Gegensätze im Leben
der Äbtissin von Herford. Die Nome aber, die an ihrer Wiege auf
deni Schlosse zu Heidelberg gestanden, in jenem verhängnisvollen Jahre,
als die ersten Wetterzeichen den grossen Krieg verkündigten, hat ihr
mit einem starken Denken auch ein tiefes Seelenleben, einen schwer-
mütigen Zug als Erbteil mitgegeben, als eines von den vielen Loosen,
die dem schicksalsvollen Geschlechte Friedrichs Y. bestimmt waren.
Jene düstere Frau, die Dürer uns so ergreifend dargestellt hat, sass
auch an der Pforte, die zum höchsten Gute, zur Glückseligkeit fahren
sollte. Diese Melancholie hat, wie uns Liselotte in ihrer derben
Weise andeutet, ^) den erhabenen Geist dieser pfälzischen Prinzessin mit
einem leichten Schleier umgeben, noch ehe der Tod ihr den Stab einer
Äbtissin aus der Hand nahm. Von den »Devoten* allein hat sie dieses
Erbe nicht erhalten.') William Penn erklärte sie einmal: „Es ist so
schwer, die Grundsätze zu befolgen, davon man überzeugt ist, aber
ich furchte, die Kraft meines Geistes ist nicht stark genug."
Das sagte Pfalzgräfin Elisabeth, die einst in jugendlichem Gedanken-
fluge den schwierigsten Problemen Descartes'scher Philosophie gefolgt war.
1) Briefe herg. v. Holland (Publ. d. litt. Ter. Bd. 132) S. 177.
2) »Elle EYoit et^ entonroee par des genR dont la devotion mäancolique luy
avoit 6t^ un martyre et l'avoit fort ennuy6e, luy ayant empöche toute sorte de r6-
crcatioD.'' Memoiren der Sophie (1679) S. 133.
y
IV.
Seit«
'Wilfa* Erb, tJber die wachsende Nervosität unserer Zeit 1
^nil Kraepelin, tjber geistige Arbeit 31
Fr. Orimiue, Die Anordnung der grossen Heidelberger Liederhandschrift 53
Arthur Klebischniidt, Marianne, Gräfin von der Leven 91
Hermann Wunderlieh, Zur Sprache des neuesten deutschen Schauspiels II. 115
F» T* Duhii, Geschichtliches aus vorgeschichtlicher Zeit. Neue Entdeckungen
Luigi Pigonnis 143
A. T. Domaszewski^ Die Heere der Burgerkriege in den Jahren 49 bis 42
vor Christus . . - - . . 157
Otto Kariowa, Das Testament des Veteranen Gaius Longinus Castor vom
Jahre 189 n. Chr. , 189
Karl ZangemMster und Wilb. Branne, Bruchstücke der alts&chsischen
BibeldichtUDg aus d%r Bibliotheca Palatina 205
V.
Carl Kenmann, Über Kunst in Italien im 12. Jahrhundert 1
Riehard Schröder, Eine Selbstbiographie von Fritz Reuter . . 18
Richard Schröder, Ein Brief Savignys an einen früheren Schüler ... 23
Moritz Cantor, Zahlensymbolik .25
Karl Zangemeister, Zur germanischen Mythologie 46
Friedr. Ohlenschlagrer, Der Name «Pfahl** als Bezeichnung der römischen
Grenzlinie 61
Karl Zangemeister, Der obergermanisch- rätische Limes 68
A. T« Domaszewski, Zu den Heeren der Bürgerkriege 105
A. T. Domaszewski, Die Chronologie des bellum Germanicum et Sarmaticum
166-175 n.Chr . 107
Eduard Heyck. Die Staatsverfassung der Cherusker 131
Karl Schamacner, Altes im Neuen 182
J. Wille, Pfalzgränn Elisabeth Charlotte, Herzogin von Orldans .... 190
Riehard Graf Da Moniin Eckart, Zweibrücken und Versailles .... 229
VI,
Erwin Eohde, Orpheus 1
F. T« Dahn, Ueber die archäologische Durch forsch ung Italiens innerhalb der
letzten acht Jahre 19
Ch. HHlsen, Caecilia Metella . . . . ' . 50
G* 8ix^ Zu den Yotivsteinen der equites singulares 59
Beinhold Steig, Frau Auguste Pattberg 62
B« ErduiannsdÖrffer, Eduard Winkelmann f 123
Henrx Thode, £ine italienische Fürstin aus der Zeit der Renaissance .129
Alexander Biese, Der Feldzug des Caligula an den Rhein 152
A« Uaui^rath, Luthers Bekehrung 163
B. Erdttiannsdörffer, Kleine Beiträge zur Goethe- Biographie . . . . 1S7
O. Kariowa, Über die in Briefform ergangenen Erlasse römischer Kaiser . 211
E« Kraepelin, Zur Hygiene der Arbeit 222
VII.
Adolf Hansrath, Philipp Melanchthon 1
Bichard Oraf Dn Houlin Eckart, Treitschke und das Elsass . . 17
Waltber Arnsperg^er, Leasings Beschäftigung mit der Leibnizischen Philosophie 43
Fr. Ed. Sehneegans, Die Voikssage und das altfranzOsiscbe Heldengedicht . 58
Max Freiherr TOn >Valdberg, Briefe von Jacob und Wilhelm Grimm^ Karl
Lacbmann, Creuzer und Joseph von liassberg an F. J. Mone, I. . . . 68
Karl Helm, Die Legende von Krzbischof Udo von Magdeburg . . . . 9ö
F. T. Dnhn, Karl Humann 121
K» Schnmaeher, Die Besiedelung des Odenwaldes und Baulandes in vor-
römischer und römischer Zeit 188
Paul Joseph, Der Weinheimer Halbbrakteatenfund 161
Arthar Hleinschmidt, Karl Theodor, Friedrich zu Salm und V. X. von Zwackh 199
Carl Sehmldt, Die Paulusakten 217
Sax Freiherr von IValdberg, Briefe von Jacob und Wilhelm Grimm, Karl
Lachmann, Creuz^ und Joseph von Lassberg an F. J. Mone, IL 225
VIII.
H. liämmerhirt, Kosalien und Paeqoa Rosa 1
Fr. Ed. Scbneegans, Frederi Mistral 38
A. Hansrathy Luther als Dichter ... . 58
H. Bassermann, Erziehung und Gesellschaft 78
Karl Schumacher, Zur römischen Keramik u. Geschichte S(id Westdeutschlands 94
Anton Baumstark, Zur Chronologie des Bakchylides .125
Fr. £d. Schnffegans, Die Abtei Theleme in Rabelais' Gargantua . .143
K. Tossler, Giuseppe Gioachino Belli und die römische Dialektdichtung . . 160
A. Hausratli, Luthers Thesenstreit 181
Richard Schröder, Germanische Rechtssymbolik auf der Marcuss&ule . .248
Karl Schumacher, Zur ältesten Besiedelungsgeschichte Badens .... 256
Alexander Cartellierl^ Die Machtstellung Heinrichs IL von England . . 269
Paul Hensel, Englische Zustände zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts . 1
Fritz Scholl, Aus neuerworbenen Korrespondenzen der Heidelberger Universsi-
tätsbibüothek - . . 17
TTalther Arnspergrer, Einfluss der kirchlichen Unionsversucbe des 13., 14.
und 15. Jahrhunderts auf die philosophische Renaissance des Abendlandes 73
Moritz Cantor, Kiclaus Koppernikus 90
F. V. Dulin, Fundumstände und Fundort der ältesten lateinischen Steininschrift
am Forum Romanum 107
Karl YoBsler, Die Lyrik des Angelo Poliziano 121
A. y. Doma8zew8ki, Die Principia des römischen Lagers 141
Albert Krieger, Eine kaiserliche Brautwerbung in Kopenhagen 1G97 . .164
F. Ed. Schneegans, Batiste Bonnet. Ein provenzalischer Bauer u. Schriftsteller 182
Karl IVild, Leibniz als Politiker und P>zieher nach seinen Briefen an Boine-
burg .201
Moritz Cantor, Carl Friedrich Gauss 254
Karl Schumacher, Die Handels- und Kultarbeziehungen Süd Westdeutschlands
in der vorröraischen Metallzeit . , 256
Karl Uelm, Die Legende von Erzbischof Udo von Magdeburg (Nachtrag) . 273
Dietrich Schäfer, Die Schlacht bei Lutter am Barenberge 1
Karl Tossler, Pietro A retin o^s künstlerisches Bekenntnis . ^ . . . 38
Karl Boelim, Die Mathematik der Natur 66
Karl Helm, Ein Tagebuch aus Matthissous Jugend . 81
Reiuhold Steig, Joseph von Görres' Briefe an Achim von Arnim . .115
F. T, Duhn, Der Zeus des Phidias 177
Walther Amsperger, Die Entstehung von „Werthers Leiden ** .... 195
A« y. Domaszewski, Der Truppcnsold der Kaiserzeit 218
Albert Bäckström, lieber den Orosius-Codex F. v. 1 Nr. 9 in der Kaiserlichen
Oeffentlichen Bibliothek zu St. Petersburg 242
.# ♦
Briefe und Mauuskriptscndungen sind an Professor Dn Wille in Heidel-
berg (Bunsenstrasse 9), dagegen alle Sendungen den Tausch verkehr betreffend
an die Universitäts-Bibliothek in Heidelberg zu richten.
Univer»iUlt»-Biichtlriickerei von J. Hörning in Heidelberg.
i
Inhalt der erschienenen Bände.
A
'• Seite
Programm . . . *. 3
Chronik des Vereins 5
M» Cantor, A. Dürer als Schriftsteller 17
H. SehrSder, Die Landeshoheit üher die Trave 32
K. Hartfclder, Das Katharinenfest der Heidelberger Artistenfakultät 52
A. Havsrath, Arnold von Brescia 72
F. T« Diihiiy Heinrich Schlieroann 145
0* Karloiva, Die Rangklassen des Ordo salutationis sportularumqae provincfae
Numidiae, insbesondere die coronati 165
A« V* Domaszewski, Beiträge zur Geschichte der Perserkriege .181
— Die Entwicklung der Provinz Moesia . .190
J. V« Pflugk-Harttang, Keltische Bauwerke 201
A. T. Ontschmid f, Die Heidelberger Handschrift der Paradoxographen (Pal.
Gr. 398) 227
A. ۥ Clark, Die Handschriften des Graevius 238
A. r. Oeelielhänser, Philipp Hainhofers Beriebt über die Stuttgarter Kindtaufe
im Jahre 1616 254
Gm Meyer, Die Verhandlungen des preussischen Abgeordnetenhauses über den
Erlass von Stempelsteuern für Fidcikommisse 336
B« ErdiiiannsdörlTer, Zur Geschichte der Heidelberger Bibliotbeca Palatina 349
A. Haasratli, Festrede gebalten bei der Enthüllung des Scheffel-Denkmals zu
Heidelberg am 11. Juli 1891 352
II*
K. ZaBgemeister, Zur Geographie des römischen Galliens und Germanlens
nach den Tironischen Noten 1
F« Scholl, Bisse und Brüche in der Urhandschrift Plautinischer Komödien . 37
F. Y« Dahn, Die Benutzung der Alpenpässe im Altertum 55
K. Schumacher, Über den Stand und die Aufgaben der prähistor. Forschung
am Oberrhein und besonders in Baden 93
0« Kariowa, Zur Inschrift von Skaptoparene 141
J« Haller, Die Verhandlungen von Mouzon (1119). Zur Vorgeschichte de^
Worroser Konkordats 147
B« Schröder, Arno, Erzbischof von Salzburg und das Urkundenwesen seiner
Zeit 165
If« Bassermann, Johann Amos Comenius. Festrede, gehalten bei der Comenius-
Feier in Heidelberg 172
M. Gantor, Zeit und Zeitrechnung 190
L. Lemme, Shaksperes König Lear 212
J, Y« Pflagk-Harttung, Die Druiden Irlands 265
H. Buhl, Hugo Donellus in Heidelberg (1573—1579) . . . . .280
III.
K« Zangemeister, Zur Geschichte der Neckarländer in römischer Zeit . . 1
Frledr. v. Weech, Ein Projekt zur Reform der Reichsjustiz aus dem 16. Jahr-
hundert
J« V. Fflugk-Harttnng, Die Schriften S. Patricks
Fr. T. Duhh,..Eine Bronze der früheren Sammlung Ancona
£d. Hejck, Über die Entstehung des germanischen Verfassungslebens
fr« Jellinek, Adam in der Staatslehre
A« V« Oechelhänser, Zur Entstehung der Manesse-Handschrift
A. Y« Domaszewski, Das deutsche Wort Braut in lateinischen Inschriften
R. Iloinze, Magister Conrad Schades Streithändel mit der Stadt Heidelberg
Ferd. Gerhard, Vom Hussenkriege
Ed. Hey ck. Zur Entstehungsgeschichte des gormanischen Verfassungslebens
Herrn. Wunderlich, Zur Sprache des neuesten deutschen Schauspiels
Max Freiherr ton Waldberg, Das Jaufner Liederbuch ....
17
71
88
106
135
152
193
199
224'
231
251
260
Karl Zangeiiieister
(geb. 28. November 1837, gest. S.Juni 1902).*)
Von
J. Wille.
Für die Lebensdauer ist kein Gesetz. Der schwächste Lebensfaden
zieht sich in unerwartete Länge und den stärksten zerschneidet die
Scheere einer Parze, die sich in Widersprüchen zu gefallen scheint.
Die ernste Wahrheit dieser Goethe'schen Worte, diesen Widerspruch
in seiner ganzen Härte fühlen wir heute alle, die wir so zahlreich ver-
sammelt sind, um die Zeichen der Verehrung und Liebe am Sarge eines
teuern Mannes niederzulegen, der an Körper und Geist für uns das Bild
unerschütterlicher Kraft und Stärke war. Denn wenn ich das Wesen
dieses Mannes nur mit einem Worte kurz bezeichnen sollte, so kurz,
wie ers gewohnt war auf zahlreichen Leichensteinen der Vorzeit zu lesen,
die sein scharfer Geist entziffert, so schriebe ich das einfache Wort
Leben unter sein Bildnis.
Es ist mir die schwere Pflicht zuteil geworden, vor den Schatten
des Todes dieses Leben im Sonnenlichte seines Daseins zu betrachten.
Eine schwere Pflicht, weil ich mich dabei der eigensten persönlichen
Erinnerungen und schmerzlichen Empfindungen nicht erwehren kann,
denn mir selbst hat sich mit dem Tode dieses Mannes ein gutes Stück
eigener Lebensgeschichte abgeschlossen. Eine schwere Aufgabe, weil bei
Betrachtung eines solchen Lebens die Fülle bedeutender, eigenartiger
und teurer Züge so mächtig auf mich einströmt, dass sie alle in einer
kurzen Spanne Zeit zu fassen, mir ein Wagnis erscheint. Eine schwere
Aufgabe, weil, eine wichtige Seite dieses Lebens voll zu würdigen, ein
anderer aus unserer Mitte mehr berufen wäre, als ich.
Einen grossen deutschen Gelehrten, eine Zierde des Standes deut-
scher Bibliothekare und einen Mann eigenster und bester Art haben
wir verloren!
1) Gedäcbtnisrede gehalten bei der akademischen Traucrfeier am 11. Juni
1902 in der Aula der Universität zu Heidelberg.
NEUE HEfDELB. JAHRBUECHER XI. 10
144 J. Wille
Karl Zangemeister ist aus Thüringen zu uns gekommen. Am
28. November 1837 ist er im Gothaischen geboren. Die Eigenart seines
Stammes hat er nicht verleugnen können, doch vor allem zwei Lebens-
elemente nahm er aus der Heimat mit: aus dem Lande, da deutscher
Sang durch Geschichte und Sage klingt, sein fröhliches Herz und aus
dem Lande, wo seit alters die gelehrten Schulen blühen, den Ernst in
der Wissenschaft. Ernst strebend und lernend ist er aufgewachsen.
Nach vollendeter Gymnasialzeit, die ihm in dankbarer Erinnerung blieb,
hat er in Bonn und Berlin klassische Philologie studiert, zu «iner Zeit,
als das Studium der Altertumswissenschaft in höchster Blüte stand. Das
geschah noch im alten Deutschland, dessen Jugend ideale Werte noch
zu schätzen wusste und noch verstand, welch ein hoher bildender Wert,
welch eine geistige Kraft im Studium der Antike liegt. Auch Zange-
meister folgte diesem Zuge. Nicht die litterarisch-ästhetische Seite der
klassischen Studien hat ihn angezogen, er ging den harten, schweren
Weg, den ihm sein Lehrer Friedrich Wilhelm Kitschi in Bonn gewiesen,
dem grammatische Schulung die grundlegende Methode aller philolo^-
schen Kritik war, ohne die ein Erforschen des Altertums ja nicht denk-
bar ist. Denn kein Studium der Sprache ohne Grammatik. Eine Sprache
wissenschaftlich erforschen heisst aber ihren Quellen nachgehen und
diese ältesten Quellen liegen nicht in den litterarischen Denkmälern, sie
ruhen in den Inschriften. Diese sind ein wichtiges Fundament der
Sprachengeschichte. Die Forderung eines Sprachstudiums des alten
Latein auf Grund der Inschriften, das war in der Schule Ritschis ein
hervorragendes Programm. In diese Richtung hat Zangemeister sich
hineingelebt, nach Neigung und Anlage, die ihm wie wenigen andern an-
geboren war. Die Epigraphik ward seine wissenschaftliche Lebensarbeit.
Doch über die Ziele grammatischer Forschung und ausschliesslich philo-
logischer Kritik ist er weit hinausgewachsen. Wohl hat er auch hier
seine Probe bestanden, seine Mitarbeit an der Bentley'schen Horazaus-
gäbe, seine Ausgabe des Kirchenvaters Orosius, die er nach eingehenden
Forschungen besonders in den Bibliotheken Englands besorgte, zeigt
uns, was er auf diesem Gebiete, würdig seines Lehrers, gelernt hat.
Von entscheidender Bedeutung aber für ihn war, dass es Ritschl gelang,
das grosse monumentale Werk einer Sammlung aller Inschriften aus
dem weiten Bereiche altrömischer Kultur vop neuem anzuregen und
Theodor Mommsen die Macht seines genialen Schaffens für dieses ge-
waltige Unternehmen einsetzte. Karl Zangemeister trat in den Dienst
dieses von der Berliner Akademie herausgegebenen Werkes. Wie sehr
K. Zangemeister 14&
man die Tüchtigkeit des jungen Gelehrten schätzte, beweist die schwie^
rige Aufgabe, die ihm zufiel. Zunächst ging sein Weg nach Italien,
nach der versunkenen und wieder entdeckten monumentalen Fundgrube
antiken Lebens, nach Pompei. Dort hat der junge Gelehrte die ersten
glänzenden Proben seines für die Entzifferung inschriftlicher Denkmale
so scharf ausgeprägten Geistes abgelegt, in der Sammlung der pompe-
janischen Wandinschriften, die unter dem Titel «Inscriptiones parieta-
riae Pompeianae*' 1871 als ein Teil des Corpus inscriptionum erschien
und nach mehrfachen Reisen des Herausgebers im Jahre 1898 eine Er-
gänzung gefunden hat. Ein Werk, das nicht allein für die Kenntnis
des antiken Lebens in seinen alltäglichen Formen, sondern vor allem
für die Kenntnis des Schriftwesens von grundlegender Bedeutung ward.
Dann aber ist er römischer Kultur am Oberrhein gefolgt, um die auch
far unsere Gegend so wichtige Sammlung der Inschriften Obergermaniens
zu bearbeiten. Seit den Tagen, da er zu uns kam, war er mit diesem
Werke beschäftigt. Es ist fast zu Ende gekommen. Mitten im
Lesen der Bogen hat ihn die tückische Krankheit befallen, müde hat er
die Feder niedergelegt, aber sein Geist weilte noch an den Stätten seiner
einstigen Thätigkeit, schon im Erlöschen irrte er noch auf den alten,
liebgewordenen Pfaden.
Diese Bände des Corpus inscriptionum sind das wissenschaftliche
Lebenswerk Zangemeisters, sie sind ein Monument der Wissenschaft wie
seines eigenen Namens, unzerstörbar und fest, gleich manchen Resul-
taten, die wir der exakten Wissenschaft verdanken. Aber sie waren nicht
sein einziges Werk. Zangemeister war nicht ausschliesslich kritischer
Sammler, sein grosses Verdienst besteht auch in der geistigen Verwer-
tung dessen, was er gesammelt. Als ein Mann von universellem gelehr-
tem Wissen hat er in seinen Forschungen, die in unübersehbaren Einzel-
schriften des In- und Auslandes niedergelegt sind, überzeugende Schlüsse
gezogen, aus den unscheinbarsten Fragmenten uns oft Blicke in das
Leben der Völker eröffnet und vor allem auf eine ganze Reihe von
Wissenschaften fruchtbringend und umbildend eingewirkt. Die Archäo-
logie, die alte Geschichte, die alte Geographie, in erster Linie die
Wissenschaft von der historischen Entwicklung der Schrift: die Paläo-
graphie, sie werden den Namen Zangemeisters lebendig erhalten. Das
römische Recht wird historisch betrachtet in den Inschriftenwerken
reiche Früchte ernten und selbst die deutsche Philologie verdankt sei-
nem Glück im Finden und seiner Handschriftenknnde, in den Bruch-
stücken des Heliand ein unschätzbares Denkmal.
10*
146 J. Wille
Aber alle diese Studien, sie bewegen sich in stetem Eontakte mit
dem frisch pulsierenden Leben. Wie jene Gelehrten der Renaissance
Italiens, wo die Epigrapbik ihre erste Heimat hat, ist auch Zangemeister
nicht von den Büchern zu den Denkmalen, sondern zuerst in die Welt
und dann in die Studierstube gegangen. Wie jener Ciriaco von Ancona,
der weit über Länder und Meere gezogen kam, um in froher Begeiste-
rung für das neuerwachte Altertum, seine inschriftlichen Denkmale zu
sammeln, so war auch Karl Zangemeister von einem fröhlichen Wander-
triebe im Dienste seiner Wissenschaft beseelt. Nicht allein in den
Museen der Städte, sondern in Feld und Wald, wo oft verborgen und
vergraben die Denkmale der Vorzeit ruhen und draussen am römischen
Orenzwall sah man seine kraftvolle Gestalt. So kam er von den
Büchern auch zu den Menschen. Sein liebenswürdiges Wesen verschaffte
ihm zahlreiche Freunde, in diesen Kreisen wirkte er weit über die Zunft
der Gelehrten hinaus anregend und fruchtbringend, weckte er Verständ-
nis für die Erhaltung unserer Denkmale. Als der gefällige, in seinem
Wissen nie versagende Gelehrte, ward er der vielgesuchte Berater für
Alle, die Freude an den Zeugnissen uralter Kultur ihres heimatlichen
Bodens hatten. Seine Arbeitsstube konnte zeitweise einem kleinen Mu-
seum gleichen, wo neben Büchern und Papieren zahlreiche Fragmente
von Gefässen, zerbrochene Inschriftensteine, verwitterte Münzen und
viel Anderes aus dem Hausrath der Vorzeit, durcheinander lagen. Da-
rum war er die Seele jenes Unternehmens, das von einer Reichskom-
mission geleitet, den Grenzlinien römischer Kultur in deutschen Landen
folgte. Denn nur im Verkehr mit Natur und Leben konnte auch diese
Arbeit gedeihen.
Akademieen und gelehrte Gesellschaften, Museen und wissenschaft-
liche Kommissionen wählten Zangemeister zum Mitglied und Berater.
Auch unsere Universität hat ihn als ordentlichen Honorarprofessor in
ihre Mitte aufgenommen, damit er sein reiches Wissen auch im Lehren
verwerten sollte.
Doch nicht dem Lehrer gilt heute in dieser Form unsere akade-
mische Feier. Sie gilt dem Manne, der dreissig Jahre lang das wich-
tigste Institut der hohen Schule, ihre Bibliothek, geleitet hat.
Karl Zangemeister war ein ächter Gelehrter, voll Liebe und Leiden-
schaft zu den Büchern. Und weil er dies war, erfüllte er die eine wich-
tige Seite seines eigentlichen Berufes, eines Bibliothekars. Aber nicht
ein jeder, der gelehrt ist, besitzt auch die Anlage bibliothekarisch zu
K. Zangemeister 147
wirken, die oft im Laufe von Jahrhunderten gesammelten Erzeugnisse
litterarischen Lebens, für die Wissenschaft, für Bildung und Leben nutz-
bar zu machen, voll Achtung und Ehrfurcht vor dem Alten, mit freiem
Blicke auch für die Forderungen der Gegenwart. Solche Anlage aber
war diesem Gelehrten angeboren, wie dem Künstler der Sinn für die
Lebenskraft der Farben, für die Schönheit der Formen. Als Bibliothekar
an der herzoglichen Bibliothek auf dem Friedensteine bei Gotha, wohin
ihn die erste Lebensstellung geführt (1868- -1873), hat er Zeit gehabt,
diese Anlagen auszubilden. Er hatte sich bewährt, er war kein Neu-
ling mehr, als er im Jahre 1873 zur Leitung der Heidelberger Biblio-
thek berufen ward.
Nur wenige sind noch unter uns, die jene Anfange seines Wirkens
haben verfolgen können, die im Vergleiche des Einst und Jetzt so voll
und gerecht die Verdienste dieses Mannes zu würdigen wissen. Auch
entzieht sich die Arbeit eines Bibliothekars vielfach dem Urteile der
grossen Menge und ein kleiner Teil selbst der Gebildeten ist eingeweiht
in den stillen, dem Geräusche der Aussenwelt oft entrückten Gang eines
Amtes, das Verwaltung und wissenschaftliches Streben zugleich sein
soll. Diese Arbeit bewegt sich überdies in einem Innern undankbaren
Widerspruche. Sie verschliesst sich in ihren Äusserungen vielfach denfi
allgemeinen Verständnis und lässt doch wieder, an der Grenze des Men-
schenmöglichen angekommen, noch Freiheit genug für den Tadel übrig.
Denn im Grunde genommen heisst bibliothekarisch wirken : Wünsche er-
füllen. Doch das Mass der Wünsche ist bekanntlich grenzenlos. So bald
es einmal mit den Wünschen zu Ende gekommen ist, haben auch die
Bibliothekare keinen Platz mehr in der Welt.
Als Zangemeister zu uns kam, befand sich die hiesige Bibliothek
noch in den engen Grenzen, in denen sich damals noch Lehren und
Lernen der Fakultäten bewegte. Der Umfang der Sammlung entsprach
der gegen heute so bescheidenen litterarischen Thätigkeit in der ersten
Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Die Räume der Bibliothek, die
Art ihres Betriebes, die Ordnung der Bücher genügte den damaligen
kleinen Verhältnissen. Aber der neue Zug im litterarischen Leben war
schon im Gange. Der neue Bibliothekar verstand ihn, es war ihm klar,
dass Einrichtungen, deren nach heutigen Begrifien umständlichen Charakter
zu schildern mir ferne liegt, für ihre Zeit vortreiFlich, unmöglich aber
für die Zukunft genügen konnten. Denn unaufhaltsam war der Fort-
schritt litterarischen Schaffens, neue Wissenschaften lösten sich ab von
den alten, um selbst wieder neue zu befruchten. Mit gebieterischer
148 J. Wflle
Macht forderte die neue Litteratur ein Becht neben der unsterblichen
alten, die Interessen wuchsen hinaus in endlose Ferne, es mehrten sich
mit den neuen litterarischen Erscheinungen die Aufgaben der Bibliotheken.
Immer berechtigter erwiesen sich die Forderungen, alle diese litterari-
schen Schätze in Formen und unter Bedingungen zu benützen, die einem
vorwärtsstrebenden, rasch lebenden Zeitalter die bequemsten schienen.
Es ist das grosse Verdienst Karl Zangemeisters, dass er, der stolze Ver-
treter einer grossen längstvergangenen Kultur, auch sein Auge offen
hielt für das Neue, das Kommende, dass er die alte Bibliothek zunächst
einmal ßLhig machte, diesen Forderungen auch für die Zukunft zu ge-
nügen, dass er die Heidelberger Bibliothek nach allen Sichtungen hin
neu organisierte. Eine gewaltige Arbeit, die er im Laufe von wenigen
Jahren nicht nur leitend, sondern auch selbst mitarbeitend l)ewältigte.
Handelte es sich doch darum, eine damals schon 300000 Bände um-
fassende, in einzelnen Teilen nicht einmal durch genaue Kataloge zu-
gängliche Sammlung neu zu ordnen, im ganzen Verwaltungsapparate
neue Einrichtungen zu schaffen. Wer heute sich mit Hilfe der muster-
haften Kataloge in den gewaltigen Büchermassen zurecht findet, wer
heute in Benützung dieser litterarischen Schätze eine Bequemlichkeit
und vor Allem eine Freiheit geniesst, wie dieselbe anderwärts nicht zu
finden ist, der hält Vieles für selbstverständlich, was doch einstens ganz
anders war. Auf Vollkommenheit hat Zangemeister am wenigsten An-
spruch gemacht. Wer aber gerecht und billig denkt, der wird heute
anerkennen müssen, dass in dieser Verwaltung so viel Gutes, so viel
Einzigartiges und Musterhaftes geschaffen ist, und der Leiter dieser
Anstalt redlich bemüht war, auch Wünschen gerecht zu werden.
Diese neue Bibliothek aber nach eigenen Ideen ihres Vorstandes
umgeschaffen, war nichts Lebloses, sie war auch keiner Maschine gleich,
die, einmal in Bewegung gesetzt, ihre einförmige Arbeit besorgt.
Eine Bibliothek, welche die meisten Bücher hat, ist deswegen noch
nicht die Erste. Eine jede Verwaltung muss die Spuren individuellen
Lebens in sich tragen. Wer sie führt, dessen Geist soll auch in ihr
zu spüren sein. Auch Karl Zangemeister hat dieser Anstalt den Stempel
seines Geistes aufgedrückt, mit dieser Anstalt war er geistig verwachsen
bis zum letzten Aufblitzen seines starken Lebensfeuers. Er brachte
eigenes Leben in die Ordnung der Dinge durch die Freiheit der Be-
nützung, durch seine Gefälligkeit die ein jeder an ihm schätzte, durch
die Selbstlosigkeit, die sich gerne in die Neigungen eines jeden Bib-
liotheksbenutzers hineinlebte und eigene Gelehrsamkeit, umfassende bib-
K. Zangemeister 149
liographische Kenntnisse zur Verfägung stellte. Denn die Aufgabe eines
jeden Bibliothekars soll ja sein, nicht allein zu geben, was man wünscht,
sondern auch Wege zu fuhren, die man noch nicht kennt, einem jeden
mehr zu sein, als auch der beste Katalog vermag. Mit den veralteten
Figuren, die in Büchern vergraben Lufb und Licht scheuen, hatte Zange-
meister nichts gemein. Wer einmal in die Bibliotheksräume kam, der
verspürte sofort den frischen Luftzug, der ihm hier entgegen kam. Es
konnte in diesen von Büchern überfüllten Bäumen manchmal recht
faustisch aussehen, aber trockene Naturen im Stile Wagners fanden
hier keinen Platz. Neben den ernsten Arbeiten gediehen unter dieser
Verwaltung auch des Lebens heitere Seiten, Frohmut und Humor.
Zangemeister war vor Allem kein Freund vom toten Buchstaben von
Paragraphen und Instruktionen. Es gab bei ihm keine Methoden, die
wie auf ehernen Tafeln unverrückbar eingegraben waren. Er, der Ver-
treter der Wissenschaft, dem wissenschaftliches Streben und Arbeiten
als die Grundbedingungen bibliothekarischen Wirkens galten, war der
ausgesprochene Leugner einer Wissenschaft, die sich Bibliothekswissen-
schaft zu nennen pflegt. Er wollte nichts wissen von Schulen, in denen
Bibliothekare gross gezogen werden, denn ein Mann von eigenen Ideen
braucht die Autorität der Schule nicht. Und dennoch war diese Biblio-
thek eine Schule, in der wir alle, die Gelehrten und die Ungelehrten,
ohne Lehrbuch im lebendigen Verkehre mit ihm, der selbst das Leben
war, gelernt haben. Auch er selbst hat wiederum gerne von uns gelernt.
Karl Zangemeister war mit dieser Bibliothek geistig verwachsen.
Darum gab er ihr nicht nur Leben, er nahm es auch von ihr. Es war
unschwer zu beobachten, wie dieser Oberbibliothekar, der in jungen
Jahren als der Vertreter eines Faches zu uns kam, in den seinem Amte
gestellten Forderungen, in dem vielseitigen geistigen Verkehr, den es
mit sich brachte, in immer weitere Interessensphären hineinwuchs und
am allzufrühen Ende seiner Tage angekommen, als ein mit den viel-
seitigsten Regungen des Lebens und der Wissenschaft vertrauter Mann
erschien. In diesem geistigen Zusammenhang verstand er auch die grossen
Traditionen, die auf den alten Heidelberger Büchersammlungen ruhen,
er fühlte sich immer als den Nachfolger aller der Männer, deren Ge-
lehrsamkeit vor Jahrhunderten hier gewaltet. Aus diesem geistigen Zu-
sammenleben entstanden seine kleineren Arbeiten zur Geschichte der
Bibliothek, erwuchs ihm vor allem die Liebe zur Geschichte dieses
Bodens, der ihm eine zweite Heimat geworden war, zur alten Pfalz und
Heidelberg. Diese neue Heimatliebe trug ihre Früchte, sei es, dass er
150 J. Wille
die Spuren römischer Kultur in unseren Landen verfolgte oder unserem
Schlosse sein Interesse schenkte, in einer Form, die an Gründlichkeit,
auch auf diesem jungen Boden die Schule Kitschis erkennen lässt.
Und noch eine Seite seiner Verwaltung muss ich berühren. Sie
kann nicht gelernt werden, in keiner Bibliothekslehre steht sie geschrie-
ben. Ich meine das Verhältnis zu seinen Beamten. Auch im Verkehr
mit ihnen konnte er des Zwanges der Instruktionen vergessen, er hatte
nichts an sich von dem, was man im schlimmen Sinne Bureaukratis-
mus nennt. Es gab bei ihm keine Scheidung nach Stellung und Rang.
Er wusste, dass im menschlichen Organismus auch da.s Haupt nicht
ohne die Glieder leben kann, dass im Leben der Verwaltung auch ein
Diener, der mit Liebe und Verständnis seinen Dienst versah, in seiner
Art soviel wert war, wie der Leiter selbst. Er war uns nicht nur ein
wohlwollender Vorstand, er war uns ein Kollege und dieses Band konnte
sich im Laufe der Jahre auch zur Freundschaft befestifTen. Hatte er
einmal Vertrauen zu denen gefasst, die mit ihm arbeiteten, so gab er
einem jeden die Freiheit seines Wirkens. Ein jeder war in seiner Weise
sein eigener Herr und doch blieb er der Herr im Hause. Seinen Be-
amten hat er im Verbände der Universität eine bis dahin nicht vor-
handene soziale Stellung verschafft und über deren Wahrung sorgsam
gewacht. Wir alle wussten, dass er es gut mit uns meinte. Ein hartes
Wort, es kam wie der Blitz und flog wieder von dannen und was zu-
rückblieb war heller Sonnenschein. Auch ein unverdienter Tadel, er
ward hundertfach durch ein herzliches, nicht immer verdientes „Vor-
trefflich*^ aufgehoben. So haben wir viele Jahre mit ihm zusammen
gearbeitet und wir Alle bis zum jüngsten der Diener dürfen heute be-
kennen: «Wir haben einen guten Mann verloren, wir hätten keinen
bessern finden können. Die beste Anerkennung für ihn ist unsere auf-
richtige Trauer um ihn*.
Zangemeister war Leben, aber kein Leben, das wie im Takte der
Uhr in seinem Innern schlug, ein Leben erregbar, in seinen Äusserungen
so oft unter den unmittelbarsten Eindrücken des Augenblicks rasch und
feurig. Da aber Augenblicke wechseln, war es nicht einförmig, sondern
voll Stimmung, mannigfaltig, von vielgestaltender elementarer Kraft, reich
an Akkorden, die in seinem Innern auf- und niederstiegen. Oft schien
sein Wesen rauh und hart, während in seinem Innern kindliche Güte
ruhte. Die Kraft des Feuers loderte auf und die heitere Ruhe des Ge-
müts sprach wieder aus seinen Augen. Ruhelos, voll Hast und Eile,
voll Ungeduld die immer neu seiner Gedankenwelt entspringenden Ziele
E. Zangemeister 151
kaum erwartend, war er doch voll Überlegung und von starkem Willen.
Ein Gelehrter von umfassendem Wissen, seines Wertes wohl bewusst
und mit Becht bewusst, mitteilsam, wenn man sein Wissen suchte,
niemals damit prunkend und dabei wieder erfüllt von einer Bescheiden -
heit, die oft schüchtern und verlegen gespendetes Lob entgegen nahm.
Ein Mann, der Tage und Stunden der Gegenwart vergessend, im Bann-
kreise der Arbeit alle die Eigentümlichkeiten eines der Welt entrückten
Gelehrten teilen konnte und doch wieder mitten im Leben stehend Freude
am Leben hatte, dem er in allen seinen Begungen Verständnis entgegen-
brachte. Darmtf ein Mann, wie wenige zum Verkehr mit Menschen,
für die Gesellschaft geschaffen, dort gerne gesehen und gesucht, er
das lebensvollste und belebendste Element in ihr. Darum verstand er
auch in seinem eigenen Hause das gesellige Leben so geistig anregend zu
gestalten. Da sass er so oft unter uns, auch über gelehrte Fragen
leicht hinplaudernd und wusste auch im Gespräche über die alltäglichen
Dinge mit heiteren, launigen Geschichten aus alter und neuer Zeit die
Symposien zu würzen. Gerne war er fröhlich mit den Fröhlichen.
Sein Haus am Berg hinter schattigen Bäumen verborgen, das ihm und
uns die um ihn treu besorgte Frau so behaglich gestaltete, war der
Mittelpunkt edelster Geselligkeit, erfüllt von den Klängen musikalischen
Lebens. Auch in der äusseren Erscheinung war Karl Zangemeister der
kräftigste Ausdruck des Lebens, stark an Leib und Seele. Man hätte
glauben sollen, der Tod habe kein Becht an ihm. Und doch ging er
von uns, so mitten in neuen Aufgaben und Plänen, die seinen ruhelosen
Geist noch lebhaft beschäftigten, als die Hand des Todes die seinige
schon gefasst hielt und unter starkem Bingen ihn hinwegzuziehen suchte,
von dem was sein Eigenstes war — vom Leben.
Doch der Tod trennt nicht, er bindet auch, oft fester als das Leben.
Mehr als sonst im Alltagsleben, da wir nicht Zeit haben über unsere
Gefühle Bechenschaft zu geben, da unser Urteil über Menschen so oft
über dem Kleinen das Grosse, über den Schwächen die Stärke vergisst,
kommt uns heute zum Bewusstsein, was wir an ihm besessen haben.
Bei aller Trennung fühlen wir jene erhebende Kraft, die im Andenken
ruht, das uns mit unsichtbaren Fäden hinüberzieht vom Jenseits zum
Diesseits, vom Tod zum Leben, von Sterblichkeit zu Unsterblichkeit.
Gegenüber von St. Peter, dem alten Mausoleum Heidelberger Ge-
lehrten, erhebt sich jetzt, kaum den kraftvollen Fundamenten entwach-
sen, die neue Heidelberger Bibliothek, nocli unvollendet, wie so Manches
von den Lebenszielen dieses Mannes. Sein höchstes Ziel aber seit den
152 J- Wille: K. Zangemeister
Tagen, da er zu uns kam, war dies neue Haus. Der Künstler, der es
schmückt, soll den historischen Traditionen des Heidelberger Bodens
entsprechend auch der Männer gedenken, deren Namen mit der Ge-
schichte der Heidelberger Büchersammlungen alter und neuer Zeit ver-
bunden sind. In zweien ihrer Leiter kommt diese Geschichte zum Aus-
druck: in Janus Gruter, dem Epigraphiker, der die alte Palatina hin-
wegziehen sah und in Karl Zangemeister, dem Epigraphiker, der uns die
neue Bibliothek umgeschaffen hat.
Möge sein Andenken dem neuen Hause die Weihe geben.
Er aber, der selbst das Leben war, bleibe auch in uns lebendig !
Ehre seinem Gedächtnis!
Maistre Fran^ois Yillou.
Von
F. Ed. Schneegans.
Die Strahlen der italienischen Renaissance überfluteten Frankreich
am Ende des 15. Jahrhunderts mit solchem Glänze, dass die humanistisch
Gebildeten wie Rabelais aus der Nacht zum Lichte zu erwachen glaubten :
«le temps estoyt encores tenebreux et sentant Tinfelicite et calamite des
Gothz qui avoyent mis a destruction toute bonne literature/ (Pantagruel
Kap. VIII.) Immer dunkelere Schatten der Vergessenheit verhüllten den
Augen der Nachwelt die Jahrhunderte des Mittelalters, in denen doch
das Werk der Renaissance mühevoll vorbereitet worden war, und nur
wenige Schriftsteller und die Erinnerung an wenige Dichtungen des
Mittelalters lebten im Andenken der folgenden Jahrhunderte wahrhaft
lebendig fort. Während von gefeierten Dichtern des ausgehenden Mittel-
alters wie Christine de Pisan, Alain Chartier oder dem Lyriker Froissart
nicht viel mehr als der Name erhalten blieb, war das Andenken des
„povre Villen*, des „povre petit escollier" aus dem 15. Jahrhundert so
frisch und lebendig, dass selbst Boileau ihm einen Ehrenplatz in seinem
Parnass einräumt und, frtilich mit Verkennung seines Wesens, ihn als
einen Neuerer und Begründer der kunstvollen Dichtung .in jenen rauhen
Jahrhunderten* begrüsste (Art poetique I, 117 v.)^). 1533 hatte Clement
Marot die Werke Villon's auf Betreiben Franz I. herausgegeben. In
dem Vorwort ') erkennt er Villon als seinen Lehrmeister an und erklärt,
dass Villon „vor allen Dichtern seiner Zeit den Lorbeerkranz davonge-
tragen hätte*" (. . . eust empörte le chapeau de laurier devant tous les
1) Dazu bemerkt Ste. Garde, ein Gegner Boileau's und Verfasser einer ^Defense
des beaux esprits de ce temps contre un satirique*" 1675, mit Entrüstung ^Voilä
ane belle marque de jugement que de louer un voleur, tel que Villon, condamne
(encore par gräce) k ^tre banni !** (Oeuvres de Boileau ed. Berriat-Saint-Priz Bd. II.)
2) Abgedmckt in Oeuvres de Villon ed. Longnon p. CX ff.
154 F. Ed. Schneegans
poetes de son temps), wenn er an Fürstenhöfen gelebt bätte^. Seine
Werke sind so voll von „tausend scbönen Farben^, dass sie, meint
Marot, auch in Zukunft fortleben werden. Freilich sollte auch Villon
dem Übereifer der Dichter der Pleiade zum Opfer fallen. Du Bellay
erwähnt ihn nicht in seiner ^Deffense et illustration de la langue fran-
^oyse*" und verwirft die von Villon gepflegten mittelalterlichen Gattungen
als ,episseries qui corrumpent le goust de nostre langue". 1542 er-
scheint die letzte Ausgabe von Villon's Werken.
Villon hatte aber stille Verehrer unter den Altertumsforschern wie
Fauchet und den Dichtern, die unabhängig von dem klassischen Ideal
im 17. Jahrhundert die «poesie gauloise^ pflegten. So erhält sich das
Andenken Villon's bis zur Zeit der Romantiker, des Wiederauflebens
des Interesses am Mittelalter. Die Romantiker haben ihn wieder zu
Ehren gebracht. Theophile Gautier setzte ihm ein Denkmal in seinen
nGrotesques*^ (1832). Die wissenschaftliche Forschung nahm die vor
drei Jahrhunderten von Marot begonnene kritische Herausgabe und Er-
klärung der Werke Villon's wieder auf.*) Einige Gedichte, in denen
Villon die geheimsten Falten seines gequälten Herzens erschlossen, sein
körperliches und seelisches Elend mit ergreifender, oft schauerlicher
Wahrheit geschildert hat, finden einen Wiederhall bei den Lesern auch
zu einer Zeit, wo die zahlreichen Anspielungen auf Zeitgenossen und
zeitgenössische Verhältnisse, an denen seine Werke besonders reich sind,
längst nur mit Mühe verstanden werden.
Das Wenige, was wir über Villon's Leben wissen, entnehmen wir
seinen Werken, den Lais (Vermächtnisse, gewöhnlich Petit Testament
genannt), dem Testament (Grant Testament) und lyrischen Gedichten.
Manch dunkele Punkte hat erst die neuere Forschung erhellt: könig-
liche Gnadenbriefe, Gerichts- und Parlamentsakten lassen uns in die
Tiefe des Elends blicken, in dem Villon sich bewegt hat und beleuchten
unheimlich das Bekenntnis des Dichters, das wir am Anfang des Grant
Testament lesen :
En l'an de mon trentiesme aage-)
Que toutes mes hontes j'euz beues . . .
1) Beste Ausgabe der Werke Villon's: Oeuvres completes de Fran^ois Villon
par Aug. LoDgnoD. Paris, Lemerre 1892. — G. Paris, Fran^-ois Villon (Les grands
ecrivains franc^ais). Paris, Hachette 1901 (neuere Litteratur das. S. 189); ders. Vil-
loniana Roroania XXXI p. 357 ff. (sprachliche und metrische Beobachtungen. Text-
kritische Bemerkungen); G. Gröber, Grundriss der roman. Philologie. Französische
Litteratur S. 1161 f.
2) G. Paris (Romania XXX 8. 362) liest «en l'an trentiesme de mon aage**,
weil Villon sonst nie e, a in Hiat als Silbe zählt.
Maistre Fran(;ois Villon 155
Der Dichter ist 1431 in Paris geboren. Sein Vater, den er früh
verloren haben muss, hatte zwei Zunamen «des Loges^ und „Montcorbier*^,
die wir aus den Akten der «Facult^ des arts*^ der Pariser Universität
und zwei Gnadenbriefen von 1455 und 1456 kennen lernen. In der einen
Urkunde wird der Dichter als „maistre Fran9ois des Loges, autrement
dit de Villon' bezeichnet.') Der Name „de Villon ** kam ihm von einem
Oheim Guillaume de Villon, Kanonikus der Stiftskirche von St. Benoit
le Bestourne, bei dem er wohnte und dem er als seinem »plus que
pere^ ein treues Andenken bewahrt hat. Sein Vater, sein Qrossvater
Orace waren arm :
«Sar les tombeanlx de mes ancestres
Les ames desquelz Dieu embrasse,
On D'y voit co^ironnes ne ceptres." (Gr. Test. Str. XXXV.)
Seine Mutter, die 1461, als Villon sein Testament verfasste, noch
lebte, schildert er als „pauvrette et ancienne^ in einem Gebet an die
Jungfrau Maria von wunderbarer Einfalt und Innigkeit, das er ihr in
seinem Testament vermacht:
.,Feinme ie suis pourette et ancienne
Qui riens ne s^ay; oncques lettres ne leuz;
Au moustier') voy dont suis paroissienno
Paradis peint oü sont barpes et luz,
Et ung enfer oü dampnez sont boulluz :
L'ung me fait paour, l'autre ioye et liesse** . . . (Gr. T. v. 893—8.)
Villon wohnte bei seinem Oheim in unmittelbarer Nähe der Sorbonne,
deren Glocke er von seinem Zimmer aus hörte, ^) mitten im Quartier latin,
wo die verschiedenen Hörsäle und Lehranstalten der Universität zerstreut
waren. Er trat in die Faculte des arts ein, welche die Vorstufe zu den übrigen
Facultäten, besonders zur theologischen, bildete. Fran9ois de Montcorbier
wurde 1449 baccalaureus, 1452 magister. Er scheint nach einiger Zeit
ernsteren Studiums, dessen Spuren sich in seinen Werken wiederfinden, ^)
bald in eine recht lose Gesellschaft geraten zu sein. Er hat später mit
Wehmut und Beue an seine Jeunesse folle** zurückgedacht und ver-
gleicht sein selbstverschuldetes Elend mit dem beschaulichen und ge-
nussreichen Dasein mancher Studiengenossen, die als Mönche wohlver-
1) Aug. Longnon, l'.tude biograpbique sur Fr. Villon. Paris 1877 S. 12 f. u. 133.
2) Die Kirche.
3) «Ce soir, seulet, estant en bonne (in guter Stimmung) — Dictant ces laiz
et descripvant — J'oi' la clocbe de Serbonne, — Qui tousiours k neuf beures sonne
— Le Salut que l'Ange predit" . . . (Petit Test. Str. XXXV.)
4) G. Paris, Fr. Villon S. 43—47.
156 F. Ed. Schneegans
sorgt in Klöstern leben und sich's gut sein lassen, während Andere, wie
er selbst, betteln und „pain ne voient qu*aux fenestres*. Die Zeit war
zu ernsterem Studium wenig geeignet. Infolge des endlosen Krieges
mit England und innerer Zwistigkeiten herrschte furchtbare Not und
Verwilderung der Sitten im Lande, die Alain Chartier die kraftvollen,
wenn auch rhetorisch gefärbten Klagen einflösst, durch die Desesperance,
eine Figur des allegorischen Tractates ^Consolation des trois Vertus*",
den Dichter zum Selbstmord zu treiben versucht : ^La chevalerie de ton
pays est perie et morte, les estudes sont dissipees, le Clergie est dispers
et vague et opprime et la regle et moderation de honnestete ecclesiastique
est tourn^e avecques le temps en desordonnance et dissolution. Les
citoiens sont despourveuz d*esperance et descognoissans de seigneurie
pnr Toscurte de ceste trouble nuee. Ordre est tournee en confusion et
Loy en desmesuree violence. Juste seigneurie et honneur deschiet,
obeissance ennuie, patience fault, tout tombe et fond en abisme de ruine
et de desolation.' ^) In der Umgegend von Paris trieben sich wilde
Banden herum, so dass die Ile de France „estoit toutte peuplee de gens
pires qiie ne furent oncques Sarrazins* (Journal d'un Bourgeois de Paris
a. 1440). Das üniversitätsviertel war der Tummelplatz einer unruhigen,
bunt zusammengewürfelten Boheme und die «tavernes" des Quartier
latin der Versammlungsort von Studenten, Dirnen, sittenlosen Priestern,
zu denen sich Diebe und Verbrecher gesellten. Häufige Konflikte zwischen
der Universität und der Regierung, Unterbrechungen der Vorlesungen
und Predigten, durch die die Universität die weltliche Macht zur Wah-
rung ihrer Privilegien zwang, führten zu offenem Aufruhr unter den
Studenten. Gerade die Jahre 1451—53 waren besonders stürmisch, reich
an tragi-komischen Ereignissen, die wir aus Gerichtsverhandlungen vom
Jahre 1453*) in ihren Einzelheiten kennen. Wir erfahren, dass die
Studenten, die mit der Polizei in offenem Streite lagen, sich grober
Ruhestörungen schuldig machten und die Polizei wegen willkürlicher
Verhaftungen, Beleidigung des Rektors der Universität und Gewaltthätig-
keit von der Universität verklagt wurde. Die Studenten hatten sich
eines Ecksteins, der vor einem wohlhabenden Bürgershaus stand und
vom Volkswitz als Pet-au-Diable bezeichnet wurde, bemächtigt und ihn
in ihrem Quartier aufgepflanzt. Der Polizei, die den Stein in die Gite
fortgeschaflrt hatte, wurde er gewaltsam entrissen und auf dem ,Mont
1) Oeuvres de Maistre Alain Chartier par Andr^ Du Chesne. Paris 1617
S. 275 f.
2) Ausg. von LoDgoon Einleit. S. XXXV— LIII.
Maistre Fran^ois Villon 157
Saint-Hilaire*' wieder aufgestellt. Ein anderer Stein wurde auf den
Mont Sainte-Genevieve geschafTt, „a grosses bandes de fer et par plastre^
festgenaacht und allnächtlich von Tanzenden umschwärmt „a fleutes et a
bedons*'; die Voräbergehenden und besonders die «officiers du Boy*^
wurden gezwungen die Wahrung der Privilegien des Steines, der mit
dem blumenbekränzten Pet-au-Diable das Palladium der studentischen
Freiheiten geworden war, feierlich zu schwören. Als die Polizei diesem
Unfug ein Ende machen wollte, fand sie den einen Stein mit einem
Rosmarinkranz (cbapeau de rosmarin) geschmückt. Noch andere Ver-
gehen wurden den ^escoliers*' zur Last gelegt. Nicht allein zogen sie
Nachts durch die Strassen und schreckten die Bürger aus dem Schlafe
auf durch den Buf „tuez, tuez* ; sie rissen Hacken von den Fleischer-
laden und die kunstvollen Aushängeschilder und Wahrzeichen bürger-
licher Häuser, die durch ihre seltsamen Namen und Darstellungen ihre
Phantasie anregten: die „Truie qui file" wurde mit dem ^Bären*^ in
Gegenwart des „Hirschen*^ vermählt und der « Papagei* dem Paar als
Hochzeitsgeschenk verehrt. Alle diese «choses qui sont detestables*
fahrten zu Konflikten mit der Polizei. Vierzig Studenten wurden ver-
haftet, vom Bektor der Universität feierlich zurückgefordert und im
Triumph in das Universitätsviertel verbracht, wobei der Zug der aka-
demischen Würdenträger von den Polizeibeamten angegriffen und aus-
einandergetrieben wurde. Diese stürmischen Aufzüge, die zu einer neuen
Unterbrechung des akademischen Unterrichts fahrten, mussten die Phan-
tasie des Magister Villon anregen ; in seinem Testament erwähnt er einen
leider verlorenen, von ihm verfassten «Bomant du Pet au Diablo", den
sein Freund Guy Tabarie «grossa*^); ,,par cayers est soubz une table.
— Combien qu'il soit rudement fait, — La matiere est si tres notable,
— Qu*elle amende tout le mesfait.* ') Diese Ereignisse scheinen den
ohnehin zu Müssiggang hinneigenden escolier vom Studium vollends ab-
gelenkt zu haben.
Übersehen wir die Namen der „Erben'' des Dichters, unter die er
in seinen beiden Testamenten in harmlosem Scherz oder mit beissendem
Witz sein Gut verteilt, so finden wir neben hohen Gerichtsbeamten,
würdigen Domherrn, Kaufleuten, die Schar der ,,enfans perduz'', die
„gracieux gallans . . . si bien chantans, si bien parlans — Si plaisans
en faiz et an diz*, Schenkwirte^ Dirnen, Abenteuerer und Diebe, die am
1) Ins Reine schreiben.
2) Der gewichtige Inhalt wiegt die Fehler auf.
1 58 ^- ^^' Schneegans
Galgen endeten. Mag er in die vornehmeren Kreise von Paris durch
seinen Oheim, den würdigen Domherrn, eingeführt worden sein, seine
Neigungen zogen ihn zur Boheme hin, deren Dichter er wurde. Schon
am Ende des 15. Jahrhunderts wird er wegen seiner Erfindungsgabe und
Unternehmungslust in einem Gedichte „Les Repues franches* ^) gefeiert.
Der „hon maistre rran9ois Villon'^, um dessen Namen sich ein Kranz von
Legenden geschlungen hatte, findet hier Mittel und Wege, um auf Kosten
von Wirten und Händlern ohne Gold und Silber seine hungrigen Freunde
zu sättigen.
1455 trat ein Wendepunkt in Yillon's Leben ein. Aus zwei könig-
lichen Gnadenbriefen *) erfahren wir, dass er 1455 am Tage von Frohn-
leichnam von einem Priester angegriffen wurde, wie er mit einem Freunde
und einer Dirne auf einer Bank vor der seiner Wohnung nahen Kirche
St. Benoit le Bestourne sass. Im Streite wurde er verwundet, versetzte
dem Gegner einen Dolchstich und tötete ihn durch einen Steinwurf.
Dann verliess Villen Paris, trieb sich in der Umgegend umher und er-
hielt, offenbar auf Betreiben seines Oheims des Domherrn, zwei Gnaden-
briefe, die ihm erlaubten nach Paris zurückzukehren. Eine unglückliche
Liebe, deren „tres amoureuse prison'' ') er zu entfliehen suchte, wohl
eher die Hoffnung bei einem Verwandten seiner Mutter Unterstützung
zu finden, trieben ihn aus Paris nach Angers. Vorher verfasste er seine
erste grössere Dichtung die ^Lais* (Vermächtnisse, sogen. Petit Testa-
ment). Da trat eine neue Versuchung an ihn heran, der er erlag: zwei
Abenteurer der schlimmsten Art, Colin du Cayeux, und der Sohn eines
Edelmanns, Regnier de Montigny, der in den Akten einer Gerichtsver-
handlung als «pipeur, goliardus et finaliter cecidit in profundum ma-
lorum*^) bezeichnet wird, zusammen mit einqm picardischen Priester
und dem Einbrecher (magister crochetorum) Petit-Jean, bewogen Villen
mit ihnen die Gelder der theologischen Fakultät, die im College de
Navarre sich befanden, zu rauben.^) Kaum war der verbrecherische
Anschlag gelungen, als Villen einen neuen Raub vorbereitete. Er sollte
in Angers einen reichen Domherrn aufsuchen und einen Anschlag gegen
ihn ins Werk setzen. Villen gab jedoch den Plan auf, kehrte aber nicht
1 ) FrQher iHlschlich Villon zugeschrieben. S. Edit. Longnon LIII — LIX.
2) Edit. LoDgnon LIX— LXIII und Longnon, lOtude Biogr sur Kran^. Villen
S. 133—9.
3) Petit Testam. Str. II— VI, Str. X.
4) LongnoD, J^tude biogr. S. 151.
5) Edit. Longnon LXV— LXXI.
Maistre Fran^ois Villon 159
nach Paris zurück, wohl aus Furcht vor den Folgen des ersten Dieb-
stahls. 1457 finden wir ihn am Hofe des kunstliebenden Charles d'Orleans.
Seine Gegenwart im Dichterkreise des Herzogs, so befremdlich sie uns
nach den eben geschilderten Ereignissen sein mag, ist bezeugt durch
eine Ballade Villon's, die in einer Handschrift der herzoglichen Bibliothek
erhalten ist und einer Laune des Fürsten ihre Entstehung verdankt.
Karl hatte in einer Art dichterischen Turniers, an dem er sich selbst
beteiligte, seinen Hofdichtern die Abfassung von Balladen über ein vor-
geschriebenes Thema auferlegt: „ie meurs de seuf aupr^s de la fon-
taine'', so fängt diese Ballade an, in der der Dichter zusammenhanglos
Antithesen häuft, eine Wortspielerei, die das ausgehende Mittelalter von
der höfischen Lyrik früherer Zeit geerbt hatte. In ebenfalls konven-
tionellen Formen bewegen sich zwei Balladen, in denen der ^povre
escolier Fran9ois^ die Geburt der Tochter Karls, Maria von Orleans,
feiert und zugleich die Gnade des Fürsten durch die Vermittelung der
neugeborenen Prinzessin anfleht. Die geschmacklosen Huldigungen blieben
aber erfolglos. Einige Spuren von Wanderungen durch Mittelfrankreich
bis Moulins, dem Herrschersitz des Herzogs Johann von Bourbon, haben
sich in den Gedichten Villon's erhalten. ^) Von Paris bis Boussillon (in
Dauphine) giebt es ^weder Busch noch Gesträuch', an dem nicht ,,ein
Fetzen seines Kittels hängt*. (Gr. Testam. v. 200 7flF.) Auf diesen Wan-
derungen lernte Villon Mitglieder eines weitverzweigten, besonders in
Ostfrankreich «thätigen* Geheimbundes von Gaunern, Dieben, den soge-
nannten «coquillards'^ kennen. Diese wohlorganisierte Vereinigung, die
von einem Y,roi de la coquille* geleitet war, ist ims aus gerichtlichen
Verhandlungen, die 1455 in Dijon stattfanden, näher bekannt.*) Die
Enthüllungen eines Mitgliedes der Coquille sind in das Protokoll auf-
genommen worden und geben uns wertvolle Aufschlüsse über den Jargon
der coquillards, eine seltsame Geheimsprache, reich an malerischen Wen-
dungen, die in das jammervolle Dasein dieser Elenden blicken lässt, für
die die Erde „la dure*, der Tag „la torture**, die Hand „la serre*^
heissen.
Ein uns unbekanntes Vergehen, wahrscheinlich ein neuer Diebstahl,
liess Villon 1461 in Meun-sur-Loire verhaften und als Kleriker und
Gefangenen des Bischofs Thibaud d'Aussigny einschliessen. Aus dem
Dunkel des Kerkers schickt er an seine Freunde die Ballade „Aiez piti^.
1) S. G. Paria, ViUon S. 60 f.
2) S. Marcel Scbwob, le Jargon des Coquillards en 1455 (Mem. de la Soc. de
LingQist. de Paris, tome VII).
NEUE HEIDBLB. JAHRBUECHER XI. 11
160 F. Ed. Schneegaus
aiez pitie de iDoy*" mit dem wehmütigen Refrain ,le lesserez la, le
povre Villen?" (ed. Longnon S. Ulf.). Hier verfasste er ein ergreifen-
des Zwiegespräch in Balladenform zwischen seinem Leib und seinem
Herzen, das dem leichtsinnigen Dichter seine Vergangenheit vorwirft
und ängstliche Mahnungen zuruft, die er mit dem Hinweis auf seine
Jugend, das Schicksal von sich weist:
— JDont Yient ce mal? — II vient de mon maleur.
Quant Saturne me feist mon fardelet')
Ces maulx y meist, ie le croy** . . .
(Debat du euer et du corps de Villon v. 67—69, S. 115.)
Im Gefängnis zu Meun erreichte Villon unerwartet ein Gnadenerlass
Ludwigs XI., dem er in überschwenglichen Worten dankt und unter
anderm wänscht „vivre autant que Mathusale — et douze beaux enfans,
tous masles — voir . . . conceuz en ventre nupcial . . .*^ (Gr. Testam.
Str. VIII, IX).
Nach einem ersten kurzen Aufenthalt in Paris, wo er sich unsicher
fühlte, verfasste Villon sein Hauptwerk, le Testament (sogen. Grant
Testament). 1462 treffen wir ihn wieder in Paris, wo er in die Bande
seiner gefährlichen Freunde zurückfällt. Er verfasst für sie in dem
Jargon der Goquillards sieben Balladen, die in einer für uns schwer ver-
ständlichen Sprache die Genossen warnt vor „ces coffres massiz*' (Kerker)
und dem Galgen „que le grand Can ne vous face essorer^, „qu'au
mariage ne soiez sur le banc — Plus qu*un sac de plastre n'est blanc* ')
Noch einmal gerät Villon ins Gefängnis wegen eines Diebstahls, dann
infolge einer Civilklage der theologischen Fakultät, welche die Aus-
lieferung der ihr einst geraubten Summe von 120 Goldthalern verlangte.
Seinen Freunden verdankte Villon zwar die Freiheit, gleich darauf aber
wurde er nach einem nächtlichen Gelage in eine Schlägerei verwickelt
und verhaftet.') Jetzt schien er- dem Tode verfallen zu sein. In der
schauerlichen Ballade des Pendus schildert er sich bereits als am Galgen
hängend und bittet die Vorübergehenden um Mitleid. Aber das Parla-
ment nahm das Todesurteil zurück und verbannte Villon auf 10 Jahre
aus Paris.
Von da an verlieren wir die Spur Villon's. Eine Anekdote in Ba-
belais' Pantagruel lässt ihn in St. Maixent (Poitou) eine Mysterien-
1) Last, Päckchen.
2) „Dass die Sonne (grand Can, von Khan) euch nicht austrockne**. «Dass ihr
nicht beim Henker auf dem Schafott (banc) weisser seid als ein Sack voll Gips**.
3) S. G. Paris, Villon p. 68 f.
Maistre Fran^ois ViÜcra 161
aufführung leiten und an einem unglückseligen Mönch, der sich weigerte,
priesterliche Gewänder für die mitwirkenden Schauspieler zu liefern,
grausame Rache nehmen. Mit der Babelais eigenen Kaltblütigkeit und
Objektivität wird erzählt, dass Villon auf den gemächlich auf seinem
Maultier dahinreitenden Mönch die Schar der als Teufel vermummten
Schauspieler hetzte, wobei der unglückliche von dem scheu gewordenen
Tiere zu Tode geschleift wurde.
In diesem trostlosen Dasein, dessen jammervolle Einzelheiten den
Hintergrund zu Villon's Dichtung bilden und als Zeitbilder von Inter-
esse sind, ist der Dichter seelisch nicht untergegangen. Zu hohem Ge-
dankenflug ist er zwar wenig veranlagt und sein Lebenstraum ist der
eines Darbenden, unstät Umherirrenden, dem ein genussreiches Dasein,
stille Behaglichkeit, die ihm stets versagt war, als die höchsten Güter
des Lebens erscheinen. Von sinnlichen Trieben hin und hergezerrt, den
Lockungen des Lasters unterliegend, sehen wir ihn willenlos von einer
Niederlage seines besseren Ichs zur anderen fortgerissen. Mit der Be-
weglichkeit impulsiver, sinnlicher und dabei willensschwacher Naturen,
wechseln in ihm die Stimmungen. Sein Leben ist ein Bingen zwischen
dem Geist und dem Fleisch, aber freilich ein Bingen ohne tragische
Grösse. Er fühlte selbst diesen Zwiespalt seines Wesens und war sich
selbst ein Bätsei «ie congnois tout, fors que moy-mesmes^ ist der Be-
frain einer Ballade (Poesies diverses, ed. Longnon p. 136 f.). Sein Herz
ist weicheren Begungen und zarten Empfindungen zugänglich. Seines
Oheims und Beschützers, Guillaume de Villon, gedenkt er in rührenden
Worten der Dankbarkeit; er nennt ihn seinen „plus que pere — qui
este ra'a plus doulx que mere** (Gr. Test. Str. LXXVII). Für seine
»arme Mutter*^, deren kindliche Frömmigkeit er innig und schlicht zu
schildern weiss, schreibt er ein Gebet an die Jungfrau Maria, die ein-
zige Zuflucht für ihn und die Mutter, „la povre femme^
Qui pour moy ot douleur amere,
Dieu le seet, et mainte tristesse. (Gr. Test. Str. LXXIX.)
Neben den abstossenden Gestalten der «grosse Margot", der „Belle
Heaulmiere** und anderer Dirnen, durchzieht seine Werke die Erinne-
rung an eine reinere, innigere Liebe, die er nicht vergessen kann. An-
mutig schildert er das trauliche Zusammensein mit der Freundin:
,,Qnoy que ie lay voulsisse dire
EHe estoit preste d'escouter,
Sans m'acorder ne contredire;
Qui plus^), me soafTroit acoter
I) =: et qui plus est, noch dazu.
11*
162 F. E^d. Schaeegans
Joignant d'elle, pres m'acouter*)
Et ainsi m'aloit amusaDt
Et me Boufroit toat raconter,
Mais ce n'estoit qu'en m'abasaDt**.
Dieser Liebeskummer — überall nennt man ihn ^Pamant remys
et regny^" — hat ihn zu Tode verwundet und auf seinen Grabstein
lässt er die Worte schreiben:
Cy gist et dort en ce solUer')
Qu' Amours occist de son raillon
Ung povre petit escoUier
Qui fast nomine Fran^ois Villon . . . (Gr. Test. Str. CLXV.)
Den unglücklich Liebenden widmet er folgende Strophe voll zar-
testen poetischen Reizes:
Item donne aux amans enfermes^)
Sans le lay maistre Alain Chartier^)
A leur chevez, de pleurs et larmes
Trestout fin piain un benoistier
Et ang petit brin d'esglanüer
Qui soit tout vert, pour goupiUon^)
Pourveu qu*ilz diront ung psaultier
Pour l'ame du povre Villon. (Gr. Test. Str. CLV.)
Villon's Werke zerfallen in lyrische Gedichte, von denen er einen
Teil in sein Hauptwerk kunstvoll verwoben hat, und zwei grössere Dich-
tungen, ,les Lais", „le Testament.** ')
Beide Testamente sind in Strophen von je acht Achtsilbnern ver-
fasst, deren einfache, festgefügte Form den Dichter zwingt, sich kurz
zu fassen und im Allgemeinen vor den nichtssagenden Formeln und
der Weitschweifigkeit wahren, der nur wenige Dichter des Mittelalters
entgehen.
Er beginnt sein erstes Testament, die ^Lais', mit der feierlichen
einleitenden Formel, erklärt dass er Paris verlässt, um den Banden einer
unglücklichen Liebe zu entfliehen und vorher zu Weihnachten, zur Zeit
1) Mich ihr nähern, mich an sie anlehnen (Text nach G. Paris, Villon p. 41).
2) Söller, die Kapelle von St. Avoye, die Villon scherzend sich als Begräbnis-
stätte aussucht und die in einem oberen Stockwerke sich befand.
3) Oeschoss.
4) Krank.
5) Gefeierter lyrischer Dichter des XV. Jahrhunderts (c. 1385 bis c. 1430 siehe
Plaget, Romania XXX, 316-51).
6) Weihwedel.
7) Eine genauere, historisch begründete Einteilung der Werke ViUon's gibt
G. Paris, ViUoniana (Rom. XXX, S. 355 f.)
Maistre Frangois Yillon 163
„wo die Wölfe von Wind leben und man wegen der Kälte zu Hause
beim Feuer sitzt" sein Testament verfasst. Es folgen dann nach der
Anrufung der Dreieinigkeit und der Jungfrau Maria die testamentari-
schen Bestimmungen. Guillaume de Villen vermacht er seinen Ruhm
(mon bruit); seiner Geliebten ,qui si durement m'a chasse^ lässt er
sein Herz
«... mon euer enchassei)
Falle, piteux, mort et transy.* (Petit Test. Str. X.)
Es folgen harmlose Scherze, zu denen die Aushängeschilder von
Wirtshäusern und Kaufläden und die Wahrzeichen von Patrizierhäusern
reichlichen Stoff liefern: einem Metzger vermacht er ^^le Mouton", ,,le
Boeuf Couronne', „la Vache'', ein Trinker erhält „1^ Ti'ou de la Pomme
de Pin^; andern überlässt er imaginäre Güter, dem Einen hundert
Franken ,prins sur tous mes biens", einem Andern ein Schloss; „zwei
armen Klerikern, die Latein sprechen, ruhigen, friedfertigen Kindern,
die bescheiden sind und ordentlich singen beim Ghorpult^ schenkt er
die Zinsen des Hauses eines uns unbekannten Guillot Gueldry „en at-
tendant de mieulx avoir*'. In dieser Arbeit unterbricht ihn das Läuten
der Glocke der nahen Sorbonne
«qui touBJours k neuf heures sonne
Le Salut que l'Ange predit;
Si suspendis et mis cy bonne,')
Pour prier comme le euer dit. (Pet. Test. Str. XXXV.)
Wie er wieder schreiben will, ist die Tinte gefroren und die Kerze
erloschen ; er schläft ein und sein Werk bleibt ein Fragment.
1461 griff Villen dasselbe Thema wieder auf und erweiterte und
vertiefte es.
Das Testament (Grant Testament) beginnt mit einer wohlkomponier-
ten Einleitung. Der Dichter steht im dreissigsten Lebensalter, nachdem
er ^^alle seine Schande gekostet^ («que toutes mes hontes j'euz beues**
V. 2). In der Erinnerung an die eben verbüsste schwere Kerkerhaft
gedenkt er zunächst des Bischofs, dem er sein Elend verdankt. Er
wünscht ihm nichts Böses und betet für ihn ,,das siebte Verslein aus
dem Psalm Deus laude m'' und überlässt es dem Leser nachzu-
schlagen: „fiant dies ejus pauci et episcopatum ejus accipiat alter''
beisst es im Bibeltext. Nachdem er dem König für die ihm gewährte
Hülfe gedankt, erklärt er seinen Entschluss, sein Testament zu schrei-
1) «In einem Reliquien schrein."
2) = borne ehielt hier inne**.
164 F. Ed. Schneegans
ben, weil er sich schwach fühlt „mehr an Geld als an Gesundheit^,
fügt er scherzend hinzu. Er bekennt seine Sünden und hofft auf Gottes
Gnade. Hätte ihm das Glück zugelächelt wie Andern und hätte er
trotzdem gesündigt, so wäre er der Erste, sich zum Feuertod zu ver-
dammen; so aber:
«Necessite fait gens mesprendre
Et fain sailUr le loup des boia."
Seine Jugend ist verflogen
nll ne s'en est k pie alle
N'a cheval; helas! comment don?
Soudainement s'en est volle
Et ne m'a laisse quelque don.
Alle s'en est et je demeure,
Po vre de sens et de savoir,
Triste, failly, plus noir que meure,*)
Qui n'ay n'escus, rente, n*avoir.** (v. 173 — 9.)
Sein Herz möchte zerspringen, wenn er an die verlorenen Jahre
zurückdenkt, wo er die Arbeit floh „wie ein böser Junge", und er er-
innert sich der Jugendfreunde: die Einen sind arm wie er selbst, An-
dere leben wohlgenährt in Klöstern, Andere sind „tot und starr; Nichts
bleibt von ihnen zurück. Mögen sie Ruhe im Paradiese geniessen.^
Doch besser elend leben als „avoir est^ seigneur — Et pourrir soubz
riebe tombeau**. Der Todesgedanke bemächtigt sich seiner Seele. Auch
ihn wird der Tod einst erreichen, da er kein „Eogelssohn ist und keine
Sternenkrone trägt* :
.,Mon pere est mort, Dieu en ait Tarne;
Quant est du corps, il gist soubz lame') . . .
J'entens que ma mere mourra,
— Et le scet bien, la povre femme, —
Et le tilz pas ne demourra." (Gr. Test. Str. XXXVIII.)
Die Todesahnung, das „vanitas vanitatum*' flösst dem Dichter seine
ergreifendsten Verse ein. Villen steht hier unter dem Einfluss der Vor-
stellungen seiner Zeit. Das 15. Jahrhundert hat mit furchtbarer Gewalt
die Vergänglichkeit alles Fleischlichen, die finstere Macht des Todes
empfunden und ausgedrückt. Die menschliche Vernunft, die von den
Banden der Tradition und der Autorität sich zu befreien anfing, sah
mit erschreckender Deutlichkeit das Hinfällige der damaligen Gesell-
schaft, des Bittertums und der Kirche, der Stützen der mittelalterlichen
Kultur, ohne die Kraft und den Willen zu haben, den morschen
1) Brombeere.
2) Was den Leib betrifft, so liegt er unter dem Leichenstem.
Maistre Fran^ois Villon 165
Bau zu zerstören und Neues aufzubauen. Es war eine Zeit zersetzender
Kritik und Satire, die Zeit der Narrenspiele und der Totentänze, wo
die Menschen in Blindheit und Torheit dem Tode und der Verwesung
entgegenzutaumeln schienen, den Lockungen, der grausigen Aufforderung
zum Tanze des Todes folgend.
So beschreibt Villon in düstern Farben, mit schauerlicher Wahr-
heit das Werk der Zerstörung:
„Et meure Paris et Helaioe
Quiconques meurt, meurt ä douleur
Teile qu'il pert vent et alaine;
Son fiel se creve sur son caer,
Puis 8ue, Dieu scet quelle sueur!
Et n'est qui de ses raaulx Palege:
Car enfant n'a, frere De seur,
Qui lors voulsist estre son plege. i)
La mort le fait fremir, pallir,
Le nez courber, les vaines tendre,
Le col enfler, la chair mollir,
Joinctes') et nerfs croistre et estendre.
Corps femenio, qui tant est tendre,
Poly, souef, si precieux,
Te fauldra il ces maulx atteodre?
Oy, ou tout vif aller es cieulx/ (Str. XL, L.)
Dann lässt er in der köstlichen, stimmungsvollen «ballade des dames
du temps jadis^ Frauengestalten der Sage und Geschichte, halbverklun-
gene und halbverstandene Namen an uns vorüberziehen; sie Alle sind
dahingegangen ; „mais ou sont les neiges d'antan'' ist der Refrain dieser
Strophen, die wie eine ferne Melodie geheimnisvoll verklingen. Am
Schluss des Testamentes taucht der Todesgedanke noch einmal auf.
Der Anblick der Knochen und Schädel, die in offenen Hallen und Söl-
lern im Kirchhof „des Innocents*^ aufgehäuft waren, während an den
Wänden eine berühmte Darstellung des Totentanzes, der ,Danse Ma-
cabre", die Macht des Todes schilderte, regt die Phantasie des Dich-
ters an:
«Quant je considere ces testes,
Entassees en ces charniers.
Tous furent maistres des requestes.
Ou tous de la Chambre aux deniers^)
Ou tous furent portepaniers'*)
1) «Der für ihn eintreten möchte".
2) Gelenke.
3) Verwaltung der königlichen Schatullengüter.
4) Lastträger.
166 F. Ed. Schneegans
Autant puis l'ung que Tautre dire,
Car d'evesques ou lanterniers
Je n'y congnois riens a redire.
Et icelies qai s'enclinoient
Unes contre autres en leurs vies,
Desquelles les unes regnoient
Des autres craintes et servies,
La les voy toutes assouvies, *)
Ensemble en ung tas pesle mesle.
Seigneuries leur sont ravies;
Clerc ne maistre ne s'y appelle/ (Str. CXLIX, Gl.)
In den ^Regrets de la Belle Heaulmiere^^ hören wir die Klage
der Frau, die mit grausamer Ironie die Zerstörung ihrer einstigen Schön-
heit durch das Alter und die Laster an ihrem eigenen Leibe schildert :
«Ainsi le bon temps regretons
Entre nous, povres vielles sotes,
Assises bas, a crouppetons ")
Tout en ung tas comme pelotes,
A petit feu de chenevotes'')
Tost allumees, tost estaintes;
Et jadis fusmes si migtaotes/
und sie ermahnt in der folgenden Ballade die jungen Freundinnen die
Zeit der Jugend auszunutzen. Wer solche Verkommenheit sieht, fährt
der Dichter fort, sollte von der Liebe ablassen. Denn auch diese Frauen
waren einst unschuldig, bis die Liebesleidenschaft sie zur Sünde ver-
führte. Beispiele der Sage und Geschichte, die Erzählung eines persön-
lichen Erlebnisses schildern die verhängnisvolle Macht der Liebe. Feier-
lich sagt der Dichter sich von der Liebe los - .Ma vielle ay mis soubz le
banc"'^) — und schliesst die Einleitung seines Testaments mit einer Schil-
derung seines Elends und der Erklärung, seinen letzten Willen aufsetzen
zu wollen. Es folgt die übliche Anrufung Gottes und der Jungfrau
Maria und die Aufzählung der ^ Vermächtnisse*^. Seine ,arme Seele**
übergibt er der Dreieinigkeit, seinen Leib:
«A uostre grant mere la terre;
Les vers n^y trouveront grant gresse:
Trop luy a fait fain dure guerre.
1) Zur Ruhe gebracht.
2) Frau eines Waffenschmiedes. Text nach Longnon u. G. Paris, Villon S. 140.
3) hockend.
4) Ilanfsplitter.
5) ^Hab' die Leier unter die Bank gelegt*" = habe mich aus der lustigen
Gesellschaft zurückgezogen.
Maistre Frao^ois Villon 167
Or luy 8oit delivre grant erre:*)
De terre vint, en terre tourne." (Gr. Test. Str. LXXVI.)
Seinem ^plus que pere^, dem Domherrn, vermacht er seine Bibliothek
und den „Rommant du Pet au Diable**, der ,in Heften unter einem
Tische liegt* und ein Hauptbestandteil des Büchervorrats war, seiner
Mutter jenes schlichte Gebet an die Jungfrau Maria, das sie für den
verlorenen Sohn beten soll, seiner Geliebten Kose ein Liebeslied. Die
übrigen Vermächtnisse sind teils harmloser Natur, wie die des ersten
Testaments, teils verbirgt sich hinter dem ausgelasseneu Scherz eine
satirische Absicht: einem Schenkwirt verspricht er den schuldigen Wein
zu bezahlen, ,ydoch wenn er seine Wohnung findet, ist er schlauer als
ein Wahrsager^, drei armen Waisenkindern — in Wirklichkeit sind es
alte Wucherer - gibt er einen Studienplan und wünscht, dass sie gut
erzogen werden, „wenn es auch Prügel kostet* :
»Chapperons auront enfourmez')
Et les poolces snr la sainctare;
Humbles k toute cr6ature;
Disans: Han? Qaoy? II n'en est rieos!
Si diroDt gens, par aventure:
Yeci enfans de lieu de bien!" (Str. CXX.)
In dieser feingezeichneten Earrikatur erkennt man den hochmütigen,
grausamen Wucherer, der barsch die Bitte des Dichters abschlägt „Han?
quoy? il n'en est rien!*^ Eine Reihe von Vermächtnissen besteht in
Gedichten, das einzige Gut, das Villon wirklich sein Eigen nennen
konnte. Meister Jehan Cotart, ein erlauchter Trinker, erhält die glän-
zende „Ballade et Groison*', in der Vater Noas, Loth und Archetriclin,
der sagenhafte Gastgeber von Kanaan, aufgefordert werden, sich der
Seele des „hon feu maistre Jehan Cotart** anzunehmen, der ,,tousjours
crioit: Haro, la gorge m'art — Et si ne sceut oncq sa seuf estanchier*'.
Einem Parlamentsprokurator schenkt er die „Contreditz Franc Gontier*^,
eine Widerlegung der Ditz Franc Gontier des 1381 verstorbenen Philippe
de Vitry, der ein idyllisches Bild der glücklichen Armut des Bauern
Franc Gontier und seiner Frau Helaine entworfen hatte. Diesem küm-
merlichen Dasein stellt Villon das üppige Leben eines dicken Dom-
herrn entgegen, den er sieht:
»8ur mol duvet assis . . .
Lez un brasier, en chambre bien natee,^)
1) Reise, grant erre „rasch**, sogleich".
2) (Ins Gesicht) drücken s. 6. Paris, Villoniana Romania XXX, S. 366.
3) Mit Matten belegt.
168 F. Ed. Schneegans
A son coste gisant dame Sidoine
Blanche, tendre, polie et atintee*)
Boire ypocras a jour et a nuitee
Rire, jouer, mignonner et baiser.
Was ist dagegen die Idylle Franc Gontier's und seiner Helaine
unter dem Rosenstrauch, mögen auch .alle Vögel von hier bis Babylon*
dazu singen: sie essen grobes Schwarzbrod und trinken Wasser das
ganze Jahr lang. ,11 n'est tresor que de vi vre ä son aise.*" — Den
Findelkindern (Enfans Trouvez) gibt er nichts, »die verlorenen muss er
trösten*. In zwei Gedichten warnt er sie vor den Folgen des Leicht-
sinns, der seinen Freund Colin de Cayeux an den Galgen gebracht hat
und alles Geld wandern lässt ,ptout aux tavernes et aux fiUes^.') Nach-
dem er bald in harmlosem Scherz, bald mit satirischer Absicht seine
Vermächtnisse verteilt hat, bestimmt der Dichter feierlich die sechs
Testamentsvollstrecker und ihre Stellvertreter und bezeichnet als die
von ihm gewählte Begräbnisstätte scherzhaft die Kapelle von Saincte-
Avoye, die einzige in Paris, wo Niemand begraben werden konnte, weil
sie in einem ersten Stockwerke lag.
^De tombel riens; je n*en ay eure
Car il gre verölt le plancher. (Str. CLXIII.)
Die grosse Sturmglocke „qui n'est de voirre*' ') soll bei seinem
Begräbnis läuten, obgleich „Aller Herzen erbeben, wenn sie ertönt^.
Nachdem er die Totenfeier bis ins Einzelnste geordnet, nimmt er in einer
letzten Ballade Abschied vom Leben und lädt seine Freunde zu seinem
Begräbnis ein:
Icy se clost le Testament
Et finist du povre Villen.
Venez a son enterrement,
Quant vous orrez le carrillon,
Vestuz ronge com vermillon
Car en amours mourut martir ... (v. 1996—2001.)
Ein mutwilliger Scherz „wisst Ihr was er that beim Abschied: er
trank einen Schluck Rotwein, als er die Welt verlassen wollte^ ist sein
letztes Wort. Das Testament musste in den Kreisen der „escolliers*
und ^bazochiens'', die jede Anspielung auf die Personen und Zustände
der Zeit verstanden, grossen Anklang finden. Wenige Jahre später,
wahrscheinlich 1465, ahmte der geistreiche königliche Steuerrat für
1) Geputzt.
2) BaUade de Bonne Doctrine ä ceux de mauvaise vie, ed. Longnon S. 93 f.
3) Glas.
( Maistre Fran^ois Villon 169
Limoiisin, Henri Baude/) in seinem , Testament de la Mule Barbeau'
Villon's Testament nach. Das Maultier des Gerichtsdieners Barbeau
beschreibt sein körperliches Elend und vermacht die einzelnen Teile
seines Leibes, wobei wie bei Yillon satirische Ausfälle sich zu harmlosen
Scherzen gesellen. Der Beginn:
„Mon Corps premier, qui jadis fut si beaulx . . .
Veul estre mis au ventre des corbeaulx",
die Bestimmung von drei Metzgerhunden als Testamentsvollziehern,
erinnern auch in der Form an Villon. Derselbe Baude hat in einem
merkwürdigen Genrebild, den «Lamentations Bourrien, chanoine de Saint-
Germain", Villon's „Contreditz Franc Gonthier"^ nachgeahmt. Ein von
seiner Geliebten verlassener „chanoine bien gras" sucht sich im Spiel
mit dem Kinde, das ihm die Treulose zurückgelassen hat, zu trösten.
Der Anfang des Gedichtes, das den Kanonikus im Bette schildert, wie
er dem Kinde pfeift und singt und es springen macht, ist in der Form
dem Beginn von Villon*s Ballade nachgebildet. Auch sonst zeigt sich
bei Baude und Villon derselbe satirische Geist. Während aber Villon
die Fülle seiner Beobachtungen frei verarbeitet und zum Kunstwerk
umzugestalten weiss, bleibt Baude, der in Amt und Würden war, im
Banne von Standesvorurteilen und Standesinteressen befangen; seiner
Satire haftet das zeitlich Vergängliche an.
Wir begreifen, wesswegen diese Dichtungen, in denen Scherz und
Ernst, rohe Spässe und Cynismen, zartes Empfinden, fromme Herzens-
ergüsse und ausgelassene Lieder in geistvoller Weise miteinanderver-
woben sind, von dem Zahn der Zeit so wenig gelitten haben. Die ge-
feierten Dichter des ausgehenden Mittelalters gefielen sich in der Über-
windung technischer Schwierigkeiten, die Poesie wurde wie die Gotik
der Zeit kraus, bizarr und unwahr. Selbst die gemütvolle Dichterin
Christine de Pisan musste der Mode folgend, obgleich die Erinnerung
an ihren toten Gatten ihr Herz erfüllte, einen Cyklus von Liebesliedern
in dem konventionellen Stil der damaligen Lyrik dichten. Die Poesie
wurde zu einem geistreichen Spiel mit Keimen und konventionellen Ge-
danken und Bildern. Die Gefühle und Ideen hüllten sich in kunstvolle
Allegorien, die zu entzifi'ern für den scholastisch gebildeten Leser der
Zeit genussreich sein mochte; für unseren modernen, natürliches Em-
1) Les vers de Maitre Henri Baude .... publics par Quicherat, Paris 1856.
— Vergl. G. Gröber, Fraozösische Litteratuigeschichte (Grundriss der romanischen
Philologie) S. 1161 f.
170 ' F. Ed. SchneegaDB
pfinden und unmittelbare Anschauung erstrebenden Geschmack haben
die luftigen Gebäude dieser Allegorien ihren Reiz verloren. Auch in
Villon's Werken findet sich der Einfluss der zeitgenössischen Dichtung.
Die Huldigungsgedichte an Karl von Orleans, die Ballade, in der Villen
die einzelnen Teile seines Körpers auffordert, dem Parlament für die
ihm gewährte Freiheit zu danken und die Zähne lauter in Dank er-
klingen sollen „als Orgel, Trompete und Glocke*^, das Herz sich spalten
soll vor Rührung, eine Ballade, die aus Sprichwörtern besteht, eine an-
dere, die alle Fertigkeiten des Dichters aufzählt mit dem Refrain Je
congnois tout fors que moy mesmes*, eine Ballade in Antithesen, alle
diese Erzeugnisse höfischer Lyrik bilden den vergänglichen Teil der
Werke des Dichters. Seinem Wesen nach ist Villen ein Realist. Er
wirft einen scharfen, eindringlichen Blick auf die ihn umgebende Welt
und in sein Inneres. Der Kreis seiner Betrachtungen ist eng. Paris, das
Quartier Latin, damals besonders eine Welt für sich mit ihrem bunten
Getriebe, ihrer eigenartigen Bevölkerung, ist das eigentliche Feld seiner
Beobachtung. Hier kennt er jeden Stein, jede Strasse, jedes Hausschild.
Er besitzt die Gabe, die nur der wahre Künstler -hat, den charakteristi-
schen Zug an Menschen und Dingen zu erfassen und mit epigramma-
tischer Kürze zu zeichnen; er beschreibt nicht kleinlich, umständlich
und zwecklos. Jeder Zug wird durch das innere Mitempfinden des Dich-
ters belebt. Die Bilder sind bald heitere, ausdrucksvolle Skizzen, bald
abstossende, bald ergreifende Zerrbilder der Wirklichkeit. Wir sehen
die drei Wucherer „die Mütze auf dem Kopf, die Daumen im Gürtel*'
dastehen, die ^^cuidereaux d'amours transsis — chaussans sans meshaing
fauves botes'',^) die Pariserinnen, die „auf dem unteren Saum ihres
Kleides hocken in Kirchen und Klöstern'' und sich Neuigkeiten er-
zählen, die ,,povres vielles sotes**, die am Feuer gekauert sitzen und
an die schöne Zeit der Jugend zurückdenken. Ein Zug genügt, um die
Ungleichheit der Menschen im Leben der Gleichheit im Tode entgegen-
zustellen :
Et icelles qui s'encliDoient
Unes contre autres en leurs vies,
Desquelles les unes regnoient,
Des autres craintes et Beryies:
La les voy toutes assouvies
Ensemble en ung tas pesle mesle . . . (Gr. Test. Str. CI.)
In der Ballade des Pendus wird das Verletzende der Selbstironie,
die den eigenen Leib zum Gegenstand einer Darstellung von unerbitt-
1) „Sterblich verliebte Stutzer, die bequeme gelbe Stiefel tragen" (Gr. Test,
v. 1973 f.).
Maistre Fran^oia Villon 171
liebem Realismus wählt, durch die Seelenangst des Dichters und durch
die schaurige Totentanzstimmung gemildert:
La pluye nous a buez^) et lavez
Et le soleil desechiez et noircis;
Pies, corbeaulx nous ont les yeux cavez,')
Et arrachi^ la barbe et les sourcilz.
Jamals, nul temps, nous ne sommes assis^) . . .
Puls Qa puis la comme le vent varie,
A son plaisir sans cesser nous chairie,
Plus becquetez d'oiseaulx que d^z a couldre.
Ne soiez done de nostre confrairie/)
Mais priez Dieu que tous nous vueille absouldre
Envoi
Prince Jhesus, qoi sur tous a maiatrie
Garde qu'Enfer n'ait de nous seigneurie:
A luy n'ayons que faire ne que souldre.
Hommes, icy n'a point de mocquerie,
Mais priez Dieu que tous noas yueille absouldre!^
Überall dringt das Empfinden des Dichters unverfälscht hervor.
Dieser persönliche Zug seiner Werke ist es, der ihn dem modernen
Leser näher bringt. Nicht allein führt er sich handelnd in seine Werke
ein und beschreibt seine äussere Erscheinung; wir sehen ihn bei der
Arbeit, die Glocke der nahen Sorbonne unterbricht ihn beim Schreiben,
er redet mit seinem Freund Fremin, dem er im Bette liegend seinen
letzten Willen diktiert. Alles was er dichtet, bezieht sich auf ihn, seine
Erlebnisse und die seiner Freunde füllen sein Werk. Sein Individualis-
mus wird aber nie aufdringlich. Falsche Sentimentalität und romantische
Selbstvergötterung sind ihm und seiner Zeit fremd. Bescheiden, demütig
bekennt er seine Schwächen, mit zarter Zurückhaltung, aber mit Innig-
keit spricht er von seiner Mutter, seinem Oheim und Erzieher. Es ist
ein Stück leidender Menschheit, das uns in Villon^s Werken wahr und
schlicht entgegentritt.
Yillon ist kein Neuerer gewesen, kein Vorläufer der Benaissance,
obgleich seine klare Auffassung der Dinge uns modern anmutet. Er ist
im Banne der religiösen und sittlichen Ideen seiner Zeit befangen : seine
naive Frömmigkeit ist durchaus aufrichtig; sie hält ihn zwar von den
schlimmsten Verirrungen nicht zurück, in aufrichtiger Reue erhofft er
aber Kettung allein von der Gnade Gottes. Das klassische Altertum
ist für ihn nicht, wie für manche seiner Zeitgenossen, eine Quelle tie-
1) beuchen.
2) aushöhlen.
3) In Ruhe.
4) Zunft.
172 F. Ed. Schneegans: Maistre Fran^ois Villon
ferer Erkenntnis, die zur christlichen sich gesellt, aber als von ihr
wesensverschieden empfunden wird. Wir finden bei ihm nichts von der
feurigen Begeisterung, vom Heisshunger nach Erkenntnis um ihrer selbst
willen, die eine Christine de Pisan beseelt und ihr die schönen Worte
eingibt: „0 gent bien conseillie, o gent eureuse! je dy ä vous, les dis-
ciples d'estude de sapience, qui par gräce de Dieu et de bonne fortune
ou de nature estes appliques ä encerchier la haultesse de ta clere res-
joulssant estoille, c'est assavoir sapience, prenes diligemment che tresor,
buves de celle claire et saine fontaine. Car quele chose est ä homme
plus digne que science? ... Si ne vueillies resongnier nul labour ou
paine, vous Champions de Sapience; car, se vous le aves et bien en
uses, vous estes nobles, vous estes riches, vous estes tous parfais." ')
Villon ist kein „Champion de Sapience". Wissen ist für ihn der Weg,
der zu reichen Pfründen, einem sorgenfreien Leben führt. In einem
Punkte aber steht er an der Schwelle einer neuen Zeit. Der Gedanke,
sein von Kummer und Reue wundes Herz, seinen von Hunger und
Krankheit gequälten Leib, die kleinen Erlebnisse seines ruhmlosen Da-
seins zum einzigen Gegenstand seines Dichtens zu machen und die Hoff-
nung, für ein solches Werk Leser und Bewunderer zu finden, die Fähig-
keit, sich selbst zum Objekt künstlerischer Darstellung zu machen, sich
mit grausiger Selbstironie im Tode am Galgen hängend darzustellen,
das sind Züge, die nur in einer Zeit denkbar sind, die den Menschen
als Individuum von seiner Umgebung loszulösen beginnt, den Dichter
nicht mehr auffasst als den Hüter und Übermittler einer poetischen
Tradition, sondern als ein bevorzugtes Wesen, das die Fähigkeit und das
Recht hat, eigene Erlebnisse und Empfindungen in poetischer Form für
sich und Andere auszudrücken. Andere Dichter vor Villon hatten Züge
ihres Lebens in ihre Werke verwoben: Adam de la Haie hat sich und
die Seinen in seine romantische Komödie „le Jeu de la Feuillee'' als Mit-
wirkende eingeführt, aber es bandelte sich um eine Belustigung in einem
Kreise von Bekannten ; die Anspielungen auf Freunde und Zunfbgenossen
erhöhten den Reiz des Gelegenheitsstückes. Villon haben Elend und
Schmerz, Liebeslust und Liebespein erst zum Dichter gemacht. Von
ihm wie von dem wesensgleichen Paul Verlaine gelten die Worte des
letzten Biographen Villon's, G. Paris: ^ohne sein selbstverschuldetes
Elend hätte er nicht in unsere Herzen den Stachel eindringen lassen,
der das seinige zerriss.^
1 ) Christ, de Pisan, Livre de policie citiert in Kervyn de Lettenhove, Oenvres
de Froissart, Bruxelles 1870, I p. 235.
Beiträge zur Geschichte Albrechts von Hohenberg
aus dem Yatikanischen Archiv/)
Von
Alexander Cartellieri.
Im Anschluss an die von mir 1897 begonnene Verzeichnung des Kon-
stanzer Materials in den Registerbänden des Vatikanischen Archivs zu
Eom^ bearbeitete nach meiner Rückkehr in die Heimat Herr Kurt Schmidt
im Auftrage der Badischen Historischen Kommission die Jahre 1370—83.
Das Ergebnis unserer Nachforschungen findet, soweit es die Bischöfe
von Konstanz betrifft, in den i,Regesten^^) Aufnahme. Ich war nicht
wenig überrascht, aus den unter dem Namen des Papstes Klemens VII.
gehenden Bullenregistern der sogenannten avignonischen Reihe Auszüge
zu erhalten, in denen Graf Albrecht von Hohenberg, den ich seit
dem 25. April 1359 gestorben wähnte, wieder auftauchte. Nach einigen
Versuchen, den auffälligen Thatbestand anders zu erklären, lenkte ich
die Aufmerksamkeit meines Herrn Mitarbeiters auf die Möglichkeit, dass
Teile der Klemens VII. zugewiesenen Bände Klemens VI. zugehören
könnten, eben weil Albrecht am Hofe des letztgenannten Papstes weilte.
Bald wurde meine Vermutung bestätigt. Laut der mir gewordenen Aus-
kunft lässt sich schon auf Grund äusserer Merkmale (Schrift, Wasser-
zeichen) feststellen, dass die einzelnen Lagen verschiedener Päpste gleichen
Namens durch einander gebunden sind. Als ich darauf hin in dem
inhaltreichen Buche von Valois über das grosse Schisma nachschlug,
bemerkte ich, dass der Übelstand schon erkannt war. Valois schreibt^):
1) Vergl. ZeitBchr. f. d. Gesch. d. Oberrheins N.F. 14 (1899), 481: Kleine Bei^
tr&ge Kur Geschiebte Graf Albrechts von Hohenberg und Matthias von Neuenbürg.
2) Vgl. ebenda 13 (1898), 11—22 meinen Reisebericht
3) Regesten der Bischöfe von Konstanz, 2. Bd., 1.— 4. Lieferung. Innsbruck
1894 ff. Die den Text abschliessende Doppelliefernng ist im Druck fast vollendet
and reicht bis 1383.
4) N. Valois, La France et le grand Schisme d'occident t. ler, pr6f. p. XV.
174 Alexander Cartellieri
Au milieu de cahiers remplis d'actes de Clement VII sont ins^res cer-
tains cabiers contenant des bulles de Clement VI, voire de Clement V.
Er verweist zum Beispiel auf den tomus 64 Klemens VII., Blatt 533
und ff.; tomus 69, Blatt 198 und ff. Hierzu füge ich erklärend hinzu,
dass Valois die mit jedem Papste neu beginnende Bandziffer anwendet,
ich dagegen die durchlaufende der avignonischen Reihe benutze.
Es würde überflüssig erscheinen, an dieser Stelle von neuem dea
arglosen Forscher vor ebenso unangenehmen als schwer zu vermeidenden
Irrtümern zu warnen, wenn nicht die Auszüge selbst die Lebensge-
schichte Albrechts von Hohenberg um kleine Züge bereicherten. Der
schwäbische Graf hat das Schicksal gehabt, in unseren Tagen im Kreise
der Historiker hochberühmt zu werden durch eine Chronik, die er, wie
man jetzt ziemlich sicher behaupten kann, nicht verfasst hat, die Chro*
nik des Matthias von Neuenburg. Fern sei es mir, die ungemein ver-
wickelten Fragen, die sich an die Verfasserschaft knüpfen, und die zu
den scharfsinnigsten Vermutungen Anlass gegeben haben, auch nur zu
berühren. Die Litteratur ist sehr zerstreut. Einen Hinweis auf die
wichtigsten Schriften habe ich am Schluss meines kurzen Überblicks
in der Allgemeinen Deutschen Biographie Bd. 45 (1900), 731—733
gegeben. Inzwischen haben die Kegesten der Bischöfe von Eonstanz
das Jahr 1356 überschritten (Nr. 5218 ff. 5221) und man gewinnt
jetzt einen deutlicheren Einblick in die Verhältnisse, unter denen Al-
brecht zum dritten Male vergeblich den Versuch machte, das Konstanzer
Bistum zu erlangen.
Um den geschichtlichen Zusammenhang für die unten folgenden Aus-
züge herzustellen, genügt es, einige Belege zu geben. Am 1. März 1342
hatte Albrecht zum letzten Male als Kanzler des kaiserlichen Hofes ge-
urkundet^). Als Gesandter Kaiser Ludwigs IV. ging er nach Avignon,
kehrte aber nicht mit seinen Begleitern zurück ^). Er Hess sich vom Papste
Klemens VI. bewegen, die kaiserliche Sache zu verraten und in seine Dienste
zu treten. Solches geschah Ende 1342. Man hat nun geglaubt, der ehr-
geizige Streber sei während der nächsten drei Jahre in Avignon gewesen ').
1) Albertus Dei gracia comes de Hohenberg, imperialis aule cancellariuB, be-
zeugt, dass er einen Brief des Pfalzgrafen Gottfried von Tübingen für die Abtei
Bebenhausen (Actum et datum in Bebenhusen 1302, 4. non. april., ind. 15.) gesehen
hat. Datum per copiam 1342, kal. marcii, ind. 10. Kopialbuch Bebenhausen Bl. 49 b
im Staatsarchiv Stuttgart; Crusius, Annales Suevici 2, 240.
2) K. Wenck, Albrecht von Hohenberg und Matthias von Neuenburg, Neues
Archiv 9 (1884), S. 56 und die übersichtliche Tabelle S. 98.
3) Wenck S. 56.
Beitr&ge zur Geschichte Albrechts von HobeDberg aus dem Yatik. Archiv 175
Das war aber nicht der EalL Am 3. März 1344 urkundet er zusammen
mit dem Grafen Berthold von Sulz in Freiburg i. B. wegen 400 Mark
Silber, die ihnen der Landkomtur Deutschordens schuldig war^). Zur
Ergänzung dieser Urkunde dienen die vatikanischen Notizen, aus denen
hervorgeht, dass Albrecht damals, als die päpstliche Kanzlei die Schreiben
ausfertigte, in oder bei Wien (Nr. 1 und 2) und in oder bei Eonstanz (Nr. 3)
weilte. Es sei daran erinnert, dass er unter anderen sehr zahlreichen und
einträglichen Pfründen auch die St. Stephanspfarrkirche in Wien besass ').
1) 1344 Februar 12.
Clemens VI. S. Crucis et S. Marie Schotorum in Wienna Pata-
viensis diocesis monasteriorum abbatibus ac Alberto deHohenberg
canonico Constantiensi mandat, quatenus Annam natam Johannis de
Gottersprunn puellam litteratam Pataviensis diocesis in monasterio
S. Jacobi de Wienna ordinis S. Augustini in canonicam et sororem re-
cipi faciant. Datum Avinione II. id. febr., a. IP (Prudentumf virginum).
Reg. Aven. 224, 189 b.
2) 1344 Februar 12.
Clemens VI. S. Crucis et S. Marie Scothorum in Wienna Pata-
viensis diocesis monasteriorum abbatibus ac Alberto de Hohenberg
canonico Constantiensi mandat, quatenus Heinricum de Swemwert sco-
larem Pataviensis diocesis in monasterio Neunburgensi ') prope Viennam
ordinis S. Augustini in canonicum et fratrem recipi faciant.
Datum Avinione II. id. febr., a. IP (Cupientibus vitam).
Reg. Aven. 224, 237 a.
S) 1344 Juni 26.
Clemens VI. Bertholdo dicto Spuol clerico Constantiensi beneficium
ecclesie cum cura (60 lib. Turon.) vel sine cura (40 lib. Turon.) consuetum
1) GroBsh. GeneraUandesarchiv Karlsruhe (5/293): geben zu Friburg 1344 an
der nehsten mitwochen vor Oculi. Das noch hängende Siegel des Hohenbergers
ist stark beschädigt Man erkennt aber noch die beiden Hifthörner, das Ilohen-
berger Wappen. Darüber befindet sich anscheinend eine sitzende Gestalt, die ein
Buch in der Unken Hand hält Das Siegel ist demnach das eines der Kirchen-
ämter Albrechts.
2) Gerbert, Historia Silve Nigre 2, 125 zum Jahre 1342. Regg. Konstanz 2
Nr. 4763 zu 1345 Okt 19.
3) Klostemcuburg.
NEUE HEIDRLB. JAHKBUECHER XI. ^2
176 Alexander Cartellieri: Heiträge zur Geschichte Albrechts von Hohenberg etc.
ab olim clericis secularibus assignari ad collationem prepositi et capituli
ecclesie in Zovingen^) Constantiensis diocesis pertinens reservat.
Datum Avinione VI. kal. iul., a. IIP (Exigunt tue).
Reg. Aven. 227, 649 b Nr. 57.
In eundem modum episcopo Tergestinensi ') et abbati monasterii
in Cruzlingen') extra muros Constantienses ac Alberto de Hohen-
berg canonico Constantiensi capellano, sedis apostolice.
1) Zofingen bei Konstanz.
2) Triest
3) Krenzlingen.
Reiseeindrücke yom Grossen 8t. Bernhard
aus dem Jalire 1188.
Von
Alexander Gartellierl.
Es wird immer eine anziehende Aufgabe sein, in den verschiedenen
Zeiten zu verfolge», welchen Eindruck die gewaltige Älpennatur auf
den reisenden Menschen macht. Von diesem Gesichtspunkt aus erscheint
vielleicht die nachstehende kleine Mitteilung willkommen. Die Quelle,
aus der wir schöpfen, ist freilich längst gedruckt, aber niemand dürfte
anders als durch Zufall darauf aufmerksam werden. Ausserdem ist das
gleich zu nennende Buch längst nicht auf allen öffentlichen deutschen
Bibliotheken vorhanden. Als 2. Band der Ghronicles and Memorials
of the reign of Richard the First gab W. Stubbs 1865 heraus: Epi-
stolae Cantuarienses, the letters of the prior and convent of Christ
Church, Canterbury, from 1187 to 1199; London, in der Sammlung der
sog. Bolls Series. Diese in verschiedener Hinsicht, unter andern als ge-
treue Schilderung des päpstlichen Gerichtsverfahrens und der Kurie über-
haupt ^), sehr lehrreichen Briefe verdanken ihre Entstehung dem langen
1) Bruder Johann schreibt über die Sch?rierigkelten, in Rom Recht zu finden :
Nr. 209, S. 194: Romae omnes Romanos inveni, et dominus papa [Clemens III.] Ro-
roanus est, natione videlicet et genere. Nee miremur si Romani sint indigenae, quia
ex curiae qualitate etiam aliegenae Romani fiunt. — Nr. 232, S. 214: Salva sanctorum
reverentia dixerim, qui in ea (sc. curia Romana) conversantur, non est de quo sperare
possint oppressi. Es folgen Klagen über die Habsucht der Kurlalen. Bellua mul-
torum capitum est ( sc. curia, nach Horaz Epp. I, 1, 76.) Nihil unquam studiosius
agendum videtur, quam ut ab ejus faucibus, licet non sine laesione, eripi valeamus.
— Nr. 248, S. 230: Ablativus proprie, ut dicit Priscianus, Romanornm est, non
dativus. Vielleicht bietet sich mir Gelegenheit, an anderem Orte auf diese so be-
zeichnenden Urteile zurückzukommen.
12*
178 Alexander CartelUeri
und erbitterten Streite zwischen dem Erzbischofe von Canterbury und
dem Konvente der Christuskirche daselbst. Ursprünglich handelte es
sich um die von jenem geplante, von diesem bekämpfte Gründung eines
weltlichen Chorherrenstiftes in Hakington bei Canterbury. Bald aber
zog die Fehde immer weitere Kreise und spaltete die englische Geistlich-
keit in zwei Lager ^). Die zahlreichen, deswegen gewechselten Briefe sind in
der von Stubbs gedruckten und eingeleiteten Sammlung erhalten. Der Kon-
vent gab sich naturgemäss die grösste Mühe, den Papst für sich zu
gewinnen. Gleich nach dem 9. Januar 1188 sandte er vier Brüder an
Klemens III. Am 20. desselben Monats waren sie in Saint-Omer : in crastino
profecturi quantum corpora nostra pati poterunt vel jumenta. (Brief
Nr. 165, S. 140.) Unter ihnen befand sich Bruder Johann von Bremble,
der eifrigste Verfechter der Sache des Konvents, dessen Briefe nach dem
Urteil des Herausgebers (Introd. S. LXIII) die besten des Bandes und sämt-
lich sehr lesenswert sind. Von den Beschwerden des Beiseweges entwirft
Johann dem Subprior Gottfried ein Bild, dem es sicher nicht an An-
schaulichkeit mangelt. Wir glauben, den Mönch vor uns zu sehen,
wie er auf dem Grossen St. Bernhard^) mit erstarrten Fingern in die
Tasche greift und die Tinte im Hörn eingefroren findet')
Zur genaueren Zeitbestimmung des im Auszug folgenden Briefes
dient, dass Johann und seine Genossen am 27. Februar in Rom eintrafen
(Nr. 205)*).
Gaufrido subpriori frater Johannes In Monte Jovis
positus, hinc coelos montium suspiciens, hinc infera vallium abhorrens,
coelo jam vicinior et fidentior audiri, „Domine^, inquam, „restitue me
fratribus meis, ut annunciem illis, ne et ipsi veniant in locum hunc
tormentorum." ^) Loca namque tormentorum non immerito nuncupa-
verim, ubi terram saxeam glacierum marmora consternunt, ubi pedem
figere non est, immo nee sine periculo ponere, et mirum in modum cum
1) Vgl Norgate, Angevin Kings 2, 437.
2) In Nr. 204, S. 188 wird erwähnt: sacerdos quidam, nuncius praepositi Sancti
Bernardi de Monte Jovis. Vergl. im übrigen über den Pass A. Schulte, Geschichte
des mittelalterlichen Handels 1, 96 ff. und oft.
3) Zu dem hängenden Tintenfass vgl. Wattenbach, Schriftwesen, 3. Aufl., 225.
4) Zur Beurteilung der Reisegeschwindigkeit kann man die Stelle bei Gerva-
sius von Canterbury, ed. Stubbs, 1, 423 heranziehen. Dort wird erzählt, wie ein Bote
mit einer vom 17. März 1188 datierten Bulle Klemens' III. (J. — Low. 2 Nr. 16179)
am Karfreitag 15. April in Canterbury eintrifft, .in tribus septimanis et IIII diebus
a Roma veniens.**
5) Wie Stubbs bemerkt, nach Lukas 16, 28 in der Geschichte des armen
Lazarus.
Reiseeiodrücke vom Grossen St. Bernhard aas dem Jahre 1188 179
io lubrico stare dod possis, in mortem corruis si labaris. Hie manum
in peram conjeci, ut sinceritati vestrae vel syllabas unas exararem, in-
venique atramentarium a renibus dependens humore sicco repletum et
indurato. Sed nee digitos movere potui ad scribendum. Barba quo-
que gelu rigabat, et de spiritu oris concreto glacies prominebat pro-
liiior (Nr. 197, S. 18I.)0-
1) Es sei gestattet, hier eine weitere geographische Notiz anzureihen. In
Nr. 292, S. 276 erzählt Bruder Johann, wie er im Januar 1189 unter grossen Ge-
fahren von Mortara bezw. Pavia nach Rom zurückkehrte: Sumarium domini prioris
.... in Alpibus ulterioribus, in monte videlicet Bardunensi, amisi. Unde Senam
[Siena] veniens . . . Inzwischen ist eine A. Schulte gewidmete Arbeit erschienen:
Ludw. Schütte, Der Apenninenpass des Monte Bardone und die deutschen Kaiser.
Mit einer Karte. Berlin 1901 (Bist. Studien veröff. von Ehering, 27. Heft). Vgl. die
lehrreiche Besprechung von J. Jung in den Mitteil, des Österr. Inst 23 (1902), 307
bis 311. Unsere Stelle bestätigt die Ansicht Schütte's (S. 27 Anm.), dass ein Pass
der ganzen Gebirgslandschaft den Namen gab. Beim heutigen Bardone begann
ehemals der Aufstieg der Strasse, die von Parma nach Pontremoli führt, und die
heute nach der Passhöhe von La Cisa genannt wird.
Zeugnisse zur Pflege der deutschen Litteratur
in den lleidelberger Jahrbüchern.
Von
Relnhold Steig.
Der Anteil Heidelbergs an der Entwicklung der deutschen Litteratur
vor hundert Jahren ist bereits zu einem festen Kapitel der deutschen
Litteraturgeschichte geworden, das jedoch noch vieler Hände Arbeit
zum inneren Ausbau nötig hat. Ist von der Heidelberger Romantik
die Bede, so treten, wie billig, die wichtigen romantischen Werke in
den Vordergrund, die im ersten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts dort
entstanden sind, rings von litterarischen Gegenwirkungen und von jour-
nalistischen Bemühungen für oder wider sie umgeben , die in der
Badischen Wochenschrift und der Einsiedlerzeitung, sowie im Morgen-
blatt und der Jenaischen Litteratur -Zeitung sich geltend machten.
Hinzuzuthun zu diesem Bilde aber ist diejenige Pflege und Behandlung
der deutschen Litteratur, die in den Heidelberger Jahrbüchern ihrer
Zeit angestrebt und zum Teil auch mit Erfolg durchgeführt wurde.
Dieser vollbelaubte Zweig damaliger Heidelbergischer Bethätigung ist
nicht so deutlich sichtbar für unser Auge, weil er eben nur als ein
Zweig aus dem stattlichen Baume hervortreibt, der die philologisch-
historischen Gesamtbestrebungen trägt und neben dem wieder, ebenso
frisch und kräftig, andere Stämme aufwachsen, die von den Philosophen,
den Medizinern, den Juristen, den Mathematikern gepflanzt und auf-
gezogen wurden.
Dieser glückliche Aufwuchs war die belebte und wieder belebende
Folge der Neuverfassung der Heidelberger Hochschule, die allen Gliedern
und Fächern derselben frisches Blut zugeführt hatte. Die neue geistige
Kraft musste danach streben, auch nach aussen hin litterarisch, kritisch,
wissenschaftlich in die Erscheinung zu treten. Göttingen, Jena, Halle,
Zeugnisse zur Pflege der deutschen Litteratur in den Heidelb. Jahrbüchern 181
Leipzig hatten ihre Litteratur-Zeitungen, darch die das öffentliche urteil
in Deutschland mitbestimmt' wurde. Auch das Heidelberger Kuratorium
wünschte eine litterarische Anstalt dieser Art zu besitzen. Die Ver-
handlungen kamen 1807 zum Abschlüsse, und ,,im Oktober 1807*"
wurden von Heidelberg aus in die Tagesblätter (z. B. Intell.-Bl. Nr. 23 zum
Morgenblatt) und an einzelne Persönlichkeiten die Ankündigungen ver-
sandt, die das Erscheinen der ^^Heidelberger Jahrbücher^ im Verlage
von Mohr und Zimmer für das neue Jahr 1808 in Aussicht stellten.
In derartigen Anstalten nehmen die philologisch-historischen Dis-
ziplinen, und was mit ihnen zusammenhängt, naturgemäss einen breiten
Raum ein, weil in ihnen sich schliesslich doch die Gelehrten, trotz all
ihrer besonderen, weit auseinander gehenden Fachstudien, wie auf ge-
meinsam erworbenem und gemeinsam zu verteidigenden Boden wieder
zusammenfinden. So auch bei der Einrichtung und Ausgestaltung der
Heidelberger Jahrbücher. Dadurch fiel Friedrich Creuzer, als dem
offiziellen Vertreter dieser Richtung, der überwiegende Einfluss zu. Er
erzählt selbst in seinen Erinnerungen aus dem Leben eines alten Pro-
fessors, wie er seine Stellung nahm. Wichtig sind dafür auch die unge-
druckten Briefe Creuzers an Karl August Böttiger, die sich auf der
Königlichen Bibliothek in Dresden befinden. Böttiger war ein wissen-
schaftlich bedeutender, amtlich und publicistisch äusserst einflussreicher
Philolog, mit dem Creuzer, seit er ihn 1798 bei seiner Durchreise durch
Vl^eimar besucht hatte, bis an sein Lebensende in Zusammenhang blieb.
Creuzer schreibt an Böttiger immer so, dass was er mitteilt, auch
öffentlich verwertet werden könne. Böttiger brauchte solche Zuflüsse
von allen Seiten. Wir gewahren, dass von Anfang an sich in das positive
Programm der Jahrbücher eine polemische Abwehr mischte: diese war
gegen Voss und seine Partei gerichtet.
Es tauchte nämlich im Laufe des Jahres 1807 eine Reihe von
Plänen zur Beschaffung eines gelehrten Blattes auf. Ein Professor Seeger
kündigte eine politisch-literarische Zeitung an, wozu die Heidel-
berger Gelehrten Beiträge liefern würden: nach Creuzers Urteil „ein
guter Mann, aber gewiss nicht gemacht so etwas zu unternehmen ; hier
weis auch kein Professor von der Sache, und jeder augurirt eine bald
sterbende Fehlgeburt^ (an Böttiger 10. 1. 1807). Als dann der unglück-
liche preussische Krieg den Fortbestand der Universität Halle ins un-
gewisse stellte, wurde erwogen und in öffentlichen Blättern berichtet,
dass die Professoren Schütz und Ersch mit der Hallischen Allgemeinen
Litteratur-Zeitung nach Heidelberg übersiedeln würden. „Wir wissen*',
182 Reinhold Steig
schrieb aber Creuzer am 15. März 1807 an Böttiger, „officiell noch
nichts davon. Indessen würde ich mich dieser wichtigen Acquisition in
jedem Betracht freuen. Schütz kenne ich als meinen ehemaligen Lehrer
aus persönlicher Bekanntschaft und ein Literator wie Ersch wäre dem
Institut wie der Universität ein grosser Gewinn*. Dies alles blieb jedoch
ohne Folgen.
Um so ernster und gefährlicher für Creuzer aber erwies sich ein
dritter Versuch: nämlich die Jenaische Litteratur-Zeitung mit ihrem
Redakteur Eichstädt, der Voss ergeben war, nach Heidelberg zu ver-
pflanzen. Diese unverhältnismässige Verstärkung der gegnerischen und
Schwächung der eigenen Position konnte sich Creuzer nicht gefallen
lassen. Er erklärte sich bestimmt dawider, und durch die Begründung
der Heidelberger Jahrbücher wurde die Absicht der Gegenpartei zerstört.
Zwischen der Heidelberger und der Jenaer Bedaktion herrschte fortan
eine Spannung, die ab und zu üble Zeichen ihres un vertilgbaren Vor-
handenseins gab : Creuzer, Böckh und wer sonst poetisch zu Heidelberg
hielt, bekam einer nach dem andern den Unmut der Jenaer zu kosten.
Heidelberg trat ferner damals in Kivalität mit Göttingen und ge-
dachte auch die in altem Geleise fortgehenden Gelehrten Anzeigen
zu überflügeln. Böckhs noch nicht gedruckte Korrespondenz mit dem
Minister von Reizenstein, die ich gelesen, enthält so manchen Beleg
dafür. Gut stand sich Creuzer dagegen auch weiterhin mit Schütz
in Halle, und in seinen Briefen an ihn von 1808 und 1809 erneuern
sich die Versuche, die von Schütz redigierte Hallische Litteratur-
Zeitung für Heidelberg und, was nicht so schwer war, gegen Jena
einzunehmen. Nicht als ob das alles allein aus niederen persönlichen
Beweggründen geschehen sei. Im Gegenteil, ein neuer, produktiver,
das «Vaterland'' (wie Creuzer einmal sagt) erfassender Geist sollte die
Heidelberger Jahrbücher erfüllen und wurde an den übrigen Instituten
vermisst. „Das Zeitalter warnt^, heisst es schon 1807 in der An-
kündigung, „und der Genius der Wissenschaften verbietet, die Kritik
zu einem Mittel der Gewinnsucht, der litterarischen Partei- und Herrsch-
sucht herabzusetzen".
Diejenigen Männer, die die Ankündigung unterschrieben und zuerst
die Geschäfte führten, waren Ackermann, Creuzer, Daub, Heise, Langs-
dorf, Loos, Schwarz, Thibaut, Wilken. Sie bildeten das Redaktions-
kollegium. Und ihren Fakultäten entsprechend, erschienen die Heidel-
berger Jahrbücher in fünf von einander gesonderten Abteilungen : 1) für
Theologie, Philosophie und Pädagogik, 2) für Jurisprudenz und Staats-
Zeugnisse zur Pflege der deutschen Litteratur in den Heidelb. Jahrbüchern 183
wisseDschaften, 3) fär Medizin und Naturgeschichte, 4) für Mathematik,
Physik und Kameralwissenschaften, 5) für Philologie, Historie, Littera-
tur und Kunst. Nach der Ankündigung sollte mit dem ganzen Unter-
nehmen, als einem kritischen, vorerst auch eine .doktrinelle Anstalt**
yerbunden sein, und es war versprochen worden, dass den einzelnen
Heften passende Abhandlungen vorausgehen sollten : eine Idee, derzufolge
thatsächlich alle fünf Abteilungen ihr erstes Heft mit einer allgemeinen
Abhandlung einleiteten, die dann aber später aufgegeben wurde, während
wenigstens für den Umkreis der fünften Abteilung einlaufende Abhand-
lungen in Daub und Creuzers ,,Studien* übernommen werden konnten.
Ausser der Ankündigung entstand nun noch durch gemeinschaft-
liche Übereinkunft der Redaktoren ein „Plan der Heidelbergischen Jahr«
bücher der Literatur**, welcher, als Oktavdruck von vier Seiten, nur
denjenigen Gelehrten in die Hände gegeben wurde, die zur Mitarbeit
herangezogen werden sollten. Mir ist allein das unter Creuzers Briefen
an Böttiger erhaltene Exemplar bekannt. In 18 Paragraphen werden
für die Rezensenten Regeln aufgestellt, darunter eine Anzahl die sich
von selbst verstehen: manche aber eigentümlich und wichtig für den
Geist des neuen Unternehmens. Keine Rezension könne angenommen
werden, welche von der Redaktion nicht zugeteilt worden sei. Jeder
Rezensent habe sich über die Annahme der ihm vorgeschlagenen Schriften
binnen acht Tagen zu erklären, widrigenfalls die Redaktion die vorge-
schlagenen Schriften einem Anderen zuzuteilen berechtigt sei. Rezen-
sionen übernommener Bücher müssten innerhalb vier Monaten einge-
liefert werden, sonst würden die betreffenden Schriften als nicht über-
nommen betrachtet. Das rezensierte Buch aber, wenn die Redaktion
es liefert, gehört nicht dem Rezensenten, sondern wird von ihm er-
standen, wie auch alle Zusendungen auf seine Kosten geschehen. Über
jede materielle Änderung, die der Redaktion nötig scheinen möchte,
solle mit den Rezensenten Rücksprache genommen werden. Folgende
Sätze sind wissenschaftlich die entscheidenden:
,Um dem Zweck, diese Jahrbücher durch innere Güte auszuzeichnen,
vollkommen zu entsprechen, muss jeder Recensent den Standpunkt vor
Augen haben, auf welchem die Wissenschaft steht, in welche die vor-
liegende Schrift eingreift. Der Leser unserer Blätter soll die Fortschritte
der Wissenschaften leichter und bestimmter als aus irgend einem andern
Blatte kennen lernen. Unsere Leser sollen daher wenig von dem Guten
und Nützlichen, was wir in einer Schrift finden, unterhalten werden,
insoferne die Wissenschaft selbst nichts durch die Schrift gewonnen hat.
184 Reinhold Steig
Jede Becension muss freilich zugleich zu erkennen geben, ob der Ver-
fasser seinen Gegenstand gut behandelt habe. Finden wir aber darin,
bei allem guten und nützlichen, durchaus keine neue Ansichten, keine
Bereicherung für die Wissenschaft, nichts ausgezeichnetes in der Dar-
stellung, so wäre es dem Zwecke dieser Blätter zuwider, uns lange bei
einer solchen Schrift aufzuhalten."
„Vorzüglich sparsam müssen unsere Blätter im Lobe seyn. Indem
wir uns hauptsächlich mit der Untersuchung beschäftigen, ob und was
der Verfasser einer Schrift Neues producirt, ob die Wissenschaft durch
seine Bemühung gewonnen habe? legen wir uns die Pflicht auf, das
wahre Verdienst mit aller Unpartheilichkeit anzuerkennen und zu ehren.
Aber Schriften, aus welchen wir nichts auszuzeichnen vermögen, was
eigentlicher Gewinn für die Wissenschaft wäre, können auf unser Lob
keinen Anspruch machen, wenn nicht etwa ein Schriftsteller Anerkennung
des Guten neben dem Ausspruche, dass die Wissenschaft durch seine
Schrift keinen Zuwachs erhalten habe, als Lob aufnehmen will.^
„Die Urtheile müssen kräftig, männlich und, wo es die Natur der
Sache erlaubt, entscheidend seyn. Sie müssen Furchtlosigkeit verrathen.^
«Aber bei aller Strenge muss Humanität das erste Gesetz seyn,
das bei allen Urtheilen unverbrüchlich beobachtet wird. Die Redaktion
wird nichts aufnehmen, wenigstens nicht in einer Form abdrucken
lassen, die jenem Gesetze zuwider wäre.*'
Kein Becensent der Heidelberger Jahrbücher sollte dasselbe Buch
auch noch an anderer Stelle recensieren dürfen. Für gewünschte Anony-
mität wird Verschwiegenheit zugesichert. Das Honorar für den ge-
druckten Bogen beträgt drei Ducaten, oder 16 Gulden 30 Kreuzer
Rheinisch.
In den ausgehobenen Sätzen liegt eine scharfe Kritik des Wesens
der übrigen Litteratur-Zeitungen damals und die feste Absicht der Heidel-
berger, es besser zu machen als die anderen. Man merkt wohl an
mancher Verbindung ziemlich entgegengesetzter Bestimmungen, dass der
„Plan** aus einem nicht ganz leicht errungenen Kompromiss hervorge-
gangen ist. Indessen Vorschrift und Ausführung der Vorschrift sind
überall zwei verschiedene Dinge, und Ausnahmen von den Regeln er-
laubte man sich sofort auf beiden Seiten, auf der der Redaktoren und der
Rezensenten. Übrigens war den Rezensionen, so sehr und vergeblich die
Redakteure auch auf Kürze drängten, kein bestimmter umfang zuge-
messen, und wenn nur formell durch Anknüpfung an ein vorgemerktes
Buch dem Rezensionszuschnitt genügt war, konnte sich der Verfasser,
Zeugnisse zur Pflege der deutschen Litteratur in den Heidelb. Jahrbüchern 185
wenn er etwas Tüchtiges zu sagen hatte, unbeschränkt in seinen Mit-
teilungen ergehen. Manche Beiträge der Jahrbücher sind auf diese
Weise eher eine Abhandlung, als eine Rezension geworden, und eben
deswegen haben sie um so grössere historische Wichtigkeit für uns.
Die Rezensionen konnten also mit und ohne Namen veröffentlicht werden;
die Regel war im Text ,ohne Namen". Allein die Heidelberger Pro-
fessoren hatten das Sonderrecht der Selbstanzeige ihrer Werke, aber
nur mit voller Namensunterschrift. Hinzu kamen die Intelligenz-Blätter
für Ankündigungen, buchhändlerische Angebote, wissenschaftliche Nach-
richten, Antworten und Berichtigungen bestimmt.
Die Vielheit der an der Redaktion Beteiligten hatte ihre Vorzüge
und Nachteile. Die Vorzüge bestanden darin, dass die ganze Universität
an dem Gedeihen der Jahrbücher ein Interesse hatte, und dass eine
Vielheit persönlicher Beziehungen zu Gunsten derselben ausgenutzt werden
konnte; auch war möglich bisweilen, eine Rezension, die in ihrer Ab-
teilung aus irgend einem Grunde anstössig gewesen wäre, zur Vermei-
dung des Anstosses in einer verwandten Abteilung unterzubringen. An-
dererseits hemmte die Vielheit der Redaktoren, unter denen es flinke,
eifrige und lässige gab. Jeder hatte schliesslich doch seine eigne Vor-
stellung von kritischer Gerechtigkeit und Parteilichkeit, von dem Zweck
und Ziele der Jahrbücher, und dies schadete der scharfen Herausar-
beitung eines einheitlichen Geistes, auf den sich alle Rezensenten ein-
zurichten gehabt hätten. Auch wechselten die Personen öfters. Die Fünf-
teilung der Jahrbücher, in der Idee vortrefflich, führte in der Praxis
doch für die Leser von damals, und die Benutzer von heute, zu fühl-
baren Unbequemlichkeiten. Dies alles lässt sich im Einzelnen genau
erkennen und darthun. Daneben besteht zu vollem Rechte, was Creuzer
in seinem Buche rückblickend auf die ersten Jahre sagte: ,Mit wissen-
schaftlichem Eifer und Wahrheitsliebe wurde das Werk unternommen.
Jenen Ehrenmännern, die sich dabei thätig erwiesen, Daub, Schwarz,
Thibaut, Heise, Ackermann, Langsdorf u. A. waren alle anderweiten
Motive fremd; und was Wilken und Böckh, Schlosser u. A. auf den
mir bekannten Gebieten geleistet, wird sich wohl immer als gründliche
Arbeit erweisen.*
Creuzer spricht so als klassischer Philolog und Professor zu Philo-
logen und Professoren, denen er als bejahrter Mann durch Mitteilung von
Erfahrungen aus seinem amtlichen Leben nützen wollte. Dieser klar
zu Tage liegende Charakter seines Buches muss festgehalten werden, weil
man alsdann nicht auf die falsche Suche nach Dingen geht, die nicht
186 Reinhold Steig
darin zu finden sind. Fast ganz beiseite gelassen, oder nur in Be-
merkungen angedeutet, hat Creuzer sein persönlich und litterarisch sehr
enggeknüpftes Band mit der damaligen deutschen Litteratur. Darüber
aber wissen wir genügend heute auch so Bescheid. Er hat als Student
in Jena Schiller gehört und dessen wie Novalis' Einschriften in sein
Tagebuch selbst bekannt gegeben. Es braucht ferner nur auf den
grossen Einfluss hingewiesen zu werden, den in Marburg Savignys
Umgang nach der litterarischen Richtung auf ihn übte, so dass er auch
in die Laroche-Brentanosche Schrifbstellerei und Freundschaft hinein-
kam. In Heidelberg, bemerkt er beiläufig einmal, habe er eine ihm von
einer uralten Grossmuhme vorgesagte Volksliedstrophe aus dem dreissig-
jährigen Kriege den Herren v. Arnim und Clemens Brentano mitgeteilt,
welche sie in des Knaben Wunderhorn aufnahmen. An Schütz in Halle
empfahl er brieflich die Einsiedlerzeitung, der jeder Biedermann Beifall
geben müsse. Görres, dem nur privatim dozierenden, liess er, halb gegen
die Satzungen, in c^en Jahrbüchern das Wort zur Selbstanzeige und
nachträglichen Erweiterung der deutschen Volksbücher. Mit Tieck, als
er in Heidelberg 1806 erschien, befreundete er sich, mit Wilhelm und
Friedrich Schlegel knüpfte er an. Seine Einladung Friedrichs, 9. 12. 1807,
ist bekannt (Raich, Dorothea 1, 240). Mit keinem der Brüder Schlegel war
er bisher in näheren Verhältnissen gewesen, aber innerlich hatte er sich
längst ihnen verwandt gefühlt. In der Schrift von 1803 über «die
historische Kunst der Griechen in ihrer Entstehung und Fortbildung*
zitiert er sie, und von Böttiger deswegen zur Bede gestellt, bekennt er
freimütig (12. 12. 1803), dass er manche Ideen derselben über das Alter-
tum für sehr fruchtbar, manche Ansichten für neu und interessant halte:
„In meiner Schrift aber bin ich mir nicht bewusst von Ideen derselben
ausgegangen zu seyn, vielmehr war ich bemüht mein Urtheil von allen
fremden Einflüssen frei zu erhalten. Da ich aber in dem Laufe einer
Untersuchung, wo ich so oft die griechische Poesie berühren musste,
auf einigen Punkten mit Friedrich Schlegel zusammentraf, so erforderte
es ja die historische Genauigkeit, diese gleichlautenden Zeugnisse unter
dem Texte anzuführen.^ Die Brüder Grimm, als ganz junge Leute,
zog Creuzer zu sich und seinen wissenschaftlichen Arbeiten heran, weil
ihn, mitten in seinen mythologischen Forschungen, natürlich auch die
nordischen und altdeutschen Religionen und Dichtungen fesselten. Und
an die mit Goethe verlebten glücklichen Septembertage 1815 erinnert
unvergänglich das Ginge biloba-Gedicht im Buch Suleika des Westöst-
lichen Divans.
Zeugnisse zur Pflege der deutschen Litteratur in den Heidelb. Jabrbachern 187
Diese ungefähre Übersiebt mag andeuten, wie Creuzer in den Jahr-
büchern das Fach der deutschen Litteratur zu begründen und auszu-
gestalten begann. Sein jüngerer Freund August Böckh, der nach Greuzers
Weggang nach Leiden im Sommer 1809 die Bedaktion der fünften
Abteilung fibernahm, wirkte in demselben Sinne und mit erhöhter
Emsigkeit weiter. Creuzer klagte immer von Anfang an, dass ihn diese
Thätigkeit zu sehr zerstreue, und die Creuzer-Böckh*sche Tradition
fand dann, als Böckh zu Ostern 1811 nach Berlin übersiedelte, in
Wilken einen die Dinge sicher und nüchtern behandelnden Fortsetzer.
Im ersten Jahrgang, der im Ganzen eine lokalheidelbergiscbe Fär-
bung zeigt, finden wir doch schon Rezensionen von Jean Paul, Friedrich
Schlegel, Arnim, Görres, Horstig aus Miltenberg (der vorher in Heidelberg
privatim doziert hatte), Karl Justi aus Marburg (nach Greuzers freund-
schaftlicher Einschätzung «als gefälliger Übersetzer alttestamentlicher
Dichter etc. rühmlichst bekannt*^) u. a. Die hatte also Greuzer sich an-
geworben. Carl Windischmann aus Aschaffenhurg, der sich mit seinen
medizinisch-philosophischen Rezensionen auf der Grenzlinie mit dem
Litterarischen hielt, korrespondierte fast allein mit August Böckh, noch
ehe dieser an der Bedaktion beteiligt war, zuerst von Böckh wegen
seiner Platoarbeiten etwas mitgenommen, dann aber mit ihm bekannt
geworden und innig befreundet. Nach und nach treten Jacob und
Wilhelm Grimm hinzu, aber auch Gräter aus Schwäbisch Hall. Ernst
Wagner aus Meiningen, dessen Talent dem Jean PauPs ähnlich geartet
war. Dann Wilhelm Schlegel. Franz Hörn und Solger aus Berlin.
Niemals aber, obwohl öfters eingeladen, Clemens Brentano als Rezensent,
und zwischen allen geschäftlich, ja nicht blos geschäftlich vermittelnd,
helfend, ausgleichend der Verleger Johann Georg Zimmer.
Sehen wir uns diese Männer heute an, so erkennen wir historisch
sofort, was an ihnen verschieden war. unter Lebenden ist das aber
far dritte Personen nicht so leicht. Gewisse Meinungsverschiedenheiten,
ja Gegnerschaften zwischen den zur Mitarbeit Eingeladenen stellten sich
erst allmählich ein und setzten sich bis in den Schooss der Jahrbücher
selber fort. Grimms z. B. gerieten mit Gräter in ein gespanntes Ver-
hältnis: während noch Jacob ihm die Rezension einer seiner Schriften vor
dem Drucke zuschickt und ihm die Einsendung an die Jahrbücher an-
heimstellt, verurteilt Gräter anonym an derselben Stelle Wilhelms Alt-
dänische Heldenlieder. Arnim wird von seinen Freunden Görres und
Grimm gut, wie durch ein Versehen aber von Ernst Wagner schlecht
behandelt. Mit Schlegels sucht Arnim sich immer auf gutem Fusse zu
188 Reinhold Steig
halten: es hindert nicht, dass Friedrich Schlegel in denselben Heidel-
berger Jahrbüchern, die Görres' enthusiastische Anzeige des Wunder-
horns brachten, eben diesem Werke ein paai" stechende, von der Vossischen
Gegenseite schadenfroh begrüsste Wahrheiten sagte. Durch die Jahr-
bücher mittelbar kam zuerst auch der Gegensatz zwischen den schon
berühmten Brüdern Schlegel und den noch nicht berühmten Brüdern
Grimm auf, bis er plötzlich in ihnen auch für alle Aussenstehende grell
sichtbar wurde. Namentlich Wilhelm Schlegel und Jacob Grimm traten,
wie sich das zeigen wird, einander hier auf demselben Boden störend
in den Weg: Schlegel verdross die Tonart der beiden jungen Leute,
Grimm der Wissensgrad Schlegels, der von den auf äusseren Namen-
glanz bedachten Redaktionen zu Ansprüchen geradezu verzogen wurde.
Gewiss, ein Name wie der Schlegelsche war sehr wichtig für die
Heidelberger Jahrbücher, und Creuzers eigene Bemerkungen aus späterer
Zeit beweisen, wie hoch er die ngelohrten und geistreichen* Beiträge
dieser beiden Brüder einschätzte : worin ihm Böckh und Wilken folgten.
Ja wir empfangen nachstehend die Belege dafür, dass zu Gunsten
Schlegels in Jean Pauls und in Arnims Rezensionen von den Heidel-
bergern eingegriffen wurde. So trat auch Jacob Grimm in einem
Falle 1810 aus freiwilligem Selbstzwang vor Wilhelm Schlegel zurück
und hatte, da er es selber nicht geheim hielt, öffentliche Missdeutung
und Verdruss davon. Beide Brüder Grimm, insbesondere aber Wilhelm,
mussten dann die scharfe Rezension ihrer Altdeutschen Wälder in den
Heidelberger Jahrbüchern über sich ergehen lassen. Und dies Ver-
hältnis gegenseitiger Abneigung zog sich immer weiter hin, selbst bis
in Goethes Nähe, dem Boisseree, allerdings vergeblich, seine Freunde
Schlegel gegen die ihm nicht recht genehmen Grimms wieder anzu-
empfehlen sich bemühte. Später sind Wilhelm Schlegel und Grimms so
leidlich mit einander ausgekommen, aber ohne die in und neben den
Heidelberger Jahrbüchern sich abspielenden Vorgänge wäre dies alles
in gleichem Masse nicht verständlich.
In diesen Vorbemerkungen deute ich die Dinge nur mehr an, als
ich sie für jetzt ausführe. Namentlich auch übergehe ich hier alles,
was die Rezensenten zweiten und dritten Wertes anlangt, die schliesslich
auch ihr Recht erhalten müssen. Es kommt mir zunächst darauf an,
urkundliche Zeugnisse in einer gewissen Masse vorzulegen, aus denen
und durch die eine historische Wiedererkennung der ganzen Verhält-
nisse ermöglicht wird. Schon die Feststellung der Autorschaft der
einzelnen Rezensionen hat ihre Schwierigkeit. Die Rezensionen erschienen,
Zeugnisse zur Pflege der deutschen Litteratur in den Heidelb. Jahrbüchern 189
wie gesagt, ohne, selten mit Verfassernamen, aber auch mit blossen
Anfangsbuchstaben, mit willkürlich gesetzten Buchstaben oder Ghiffern.
Diese gilt es, zum Verständnis und zur Wertbestimmung des Inhaltes,
aufzulösen. Eine anonyme Rezension ist eigentlich keine Rezension;
man will wissen, wer sie geschrieben hat; immer sehen wir daher, im
Bereiche unserer litterarischen Überlieferung, vorkommenden Falls die
Frage aufwerfen : wer ist der Verfasser? Fichte wie Treitschke wnssten,
was sie wollten, als sie für jeden Zeitungsartikel die Unterschrift des
Verfassers forderten. Rezensionen haben eben einen subjektiven Wert,
der aber nicht allein beim Rezensenten anfängt. Die Auswahl des
Rezensenten für ein Buch, die wissenschaftliche Stellung die er einnimmt,
seine Zugehörigkeit zu oder Abneigung vor bestimmten Gruppen seiner
Wissenschaft, auch wohl menschlich für sich oder den Autor nebenher
laufende Wünsche und Zwecke, all das bedingt, ohne des Einzelnen
Schuld, den subjektiven Charakter einer Rezension. Dadurch gerade
erhöht sich für uns das Interesse, das wir, wenn die Dinge historisch
geworden sind, nun objektiv solchen Rezensionen entgegenbringen.
Historisch arbeitend habe ich wenigstens die eigentlich wichtigen Züge
einer anonymen Rezension und sie selbst erst dann zu verstehen ge-
glaubt, wenn ich den Verfasser kennen lernte und die übrigen Ver-
hältnisse übersehen konnte, unter denen sie entstanden war. Nun aber
sind in den Heidelberger Jahrbüchern die Unterfertigungen in und ausser
den Registern keine verlässlichen Wegweiser durch die Irre. Sie stimmen
nicht genau. Es kam daher, dass diese äusseren Dinge vielfach dem ange-
stellten Sekretär der Jahrbücher überlassen blieben, der seine Sache so gut,
als ihm beliebte, machte. Oft mag aber der Sekretär selber nicht gewusst
haben, wer der Verfasser einer anonymen Anzeige war, und daraus
flössen dann auch irrige und ungenaue Angaben. All dies muss auf-
geklärt werden, und dazu sollen die nachfolgenden Zeugnisse dienen,
die ich, nicht ohne freundlich teilnehmendes Entgegenkommen von
mancher Seite, allmählich aus privaten Nachlässen Arnims, Böckhs,
Creuzers, Grimms, oder aus dem Besitze der Königlichen Bibliotheken
zu Berlin und Dresden gesammelt habe; manche Nachforschung nach
einst Vorhandenem hat, wie es zu gehen pflegt, auch wohl zu keinem
Resultate mehr geführt. Die meisten Blätter gebe ich vollständig
wieder, in dem Glauben, dass auch die übrigen persönlichen oder all-
gemeinen Mitteilungen, die sie enthalten, der Geschichte der Heidel-
berger Romantik nützen werden; aus den Briefen Windischmanns und
denen Creuzers an Böttiger allerdings schien es mir zu genügen nur die
190 Reinhold Steig
einschlägigen Stellen auszuheben. Die Zeugnisse erscheinen rein chrono-
logisch hintereinander, und ich merke nur das Notwendigste zu ihrem
Verständnisse an.
1. Friedrich Creuzer an Karl August Böttiger.
Heidelberg, d, 23. October 1807.
. . Aus beiliegender Ankündigung und Plan^) ersehen Sie
nun was wir hier im Literarischen . . vorhaben. Die wirklich activen
Mitglieder unserer Universität arbeiten sämtlich an diesem Institute.
Es kommt nun noch darauf an, dass wir bedeutende Gelehrte des Aus-
landes gewinnen. Daher ergeht auch an Sie, verehrungswürdiger Freund,
die Bitte unser junges Institut durch Ihren Rath und Ihre Hülfe zu
unterstützen. Ich nenne Ihnen vorerst kein bestimmtes Buch zum Re-
censiren, aber indem ich denke, dass in dem an Literatur und Kunst-
schätzen so reichen Dresden so manches bedeutende seltene und theuere
Werk des Aus- und Inlands aus dem Gebiet der alten und neuen Kunst
zuerst in Ihre Hände kommt, so zähle ich auf Ihre aus so vielen Proben
erkannte Freundschaft, hoffend, dass Sie davon jezuweilen für unsre
Blätter eine Becension ausarbeiten. Auch bitte ich um freundschaft-
liche Mittheilung Ihrer Gedanken über die Einrichtung unseres Instituts.
So viel an mir liegt, wird kein Wink meines einsichtsvollen Freundes
verlohren gehen . .
(Am Rande :) Voss der Vater hat an den Literarischen Jahrbüchern
nicht den geringsten Theil.
Nehmen Sie die Versicherang meiner wahren Verehrung an
Ihr ergebenster
Fr. Creuzer.
2. Friedrich Creuzer an Karl August Böttiger.
(Heidelberg) d. 24. October 1807.
Da mein Brief sich verspätet hatte, so füge ich heute noch ein
Blättchen hinzu . .
Ich lege Ihnen auch den Plan der Heidelb. Lit. Jahrbücher bei *),
nicht um Ihnen die darin enthaltenen Regeln vorzulegen (welches
einem Veteranen gegenüber mir schlecht anstehen würde), sondern da-
mit Sie doch mit der inneren Einrichtung dieses so eben aufkeimenden
Instituts bekannt werden möchten . .
Ihr
Creuzer.
1) Über die ^Ankündignng** vgl. oben S. 181. — Böttigers Briefe an Creiuer
sind in Karlsruhe, auf der Hof- und Staatsbibliothek, nicht vorhanden.
2) Ober den „Plan" vgl. oben S. 183.
Zeugnisse zur Pflege der deutschen Litteratur in den Heidelb. Jahrbüchern 191
3. Friedrich Creuzer an Karl August Böttiger.
Heidelberg, d. 10. Januar 1808.
. . Von unseren Li t. Jahrbüchern ist nun das erste juristische
Heft ausgeflogen. Es geht mit den Bestellungen sehr gut, und es ist
kein Zweifel, dass sie aufkommen werden. Die Bedingung, unter der
Sie Ihre Theilnahme zusagen, stimmt auch mit meiner üeberzeugung
überein. Da ich indessen nicht der einzige Bedacteur bin, so musste
ich dem Schluss der Mehrheit folgen, welcher dahin aasfiel, dass Nen-
nung des Namens oder Anonymität oder Chiffre jedem Becensenten frei
stehen soll. Mehrere Becensenten und namentlich ich werden die Namen
unterzeichnen. Warum sollte ich mich auch nicht nennen P ich bin mir
einer redlichen, von personellen Beziehungen freien, wissenschaftlichen
Gesinnung bewusst. In meinen Beiträgen zum ersten philologischen
Heft, das auch bald erscheinen wird, habe ich selbst im Widerspruch
mit Vossischen Lieblingsmeinungen, diese Freiheit mir vindicirt und
werde sie ferner behaupten . . Diese Achtung für jedes rechtschaffene
Bemühen in der Wissenschaft suche ich und Daub auch in den Stu-
dien zu beweisen, worin wir Arbeiten von den heterogensten Denkern
aufnehmen. So enthält z. B. der nächstens erscheinende 3te Band neben
einer Abhandlung vom Skeptiker Fries auch eine von Görres . .
Hoffentlich werden Sie bei der oben angegebenen Einrichtung un-
serer Lit. Jahrb. kein Bedenken tragen, zuweilen die Beurtheilung
eines bedeutenden, kostbaren antiquarischen Werks, dergleichen Ihr Dresden
so viele gewinnt, für diese Blätter zu übernehmen, und ich freue mich
dieser Gelegenheit von Ihnen zu lernen . .
Creuzer.
4. Bettina Brentano an Goethe.
[Frankfurt, im März 1808.J
Friedrich Schlegel wird Goethes Werke in der Heidelberger Littera-
turZeitung rezensieren. Hat doch der Wolf den Hirten, endlich selbst
fressen wollen.')
1) Aus der Nachschrift eines undatierten Original -Briefes Bettina Brentanos,
der mit den Worten „Wer dranssen auf der Taunusspize** (Briefwechsel mit einem
Kinde, 3. Aufl., S. 111) beginnt. Durch den Absatz „Die Erziehungsplane und Juden-
broschOien werd ich mit nächstem Posttag senden*" weist sich dieser Brief als Ant-
wort auf Goethes Brief an Bettina vom 24. Febniar 1808 (Weim. Ausgabe IT 20, 21)
ans, gehört also in den März 1808. Friedrich Schlegels Rezension der ersten vier
Bände von Goethes Werken erschien im zweiten Hefte 1808 S. 145; der Druck der
Hefte war im Januar 1808 wegen überhäufter Arbeit ins Stocken geraten (Görres-
Briefe 7, 500). Ausser Goethe noch Adam Molior und Bttschings Volkslieder (oben
S. 188) von Fr. Schlegel anonym rezensiert, im Register sämtlich: „Von Fr. S."
NEUE HEIDELB. JAHRBUECHEK XI. 13
192 Reinhold Steig
5. Carl Windischmann an August Böckb.
Aschaffenburg d. 14. Juli 1808.
. . Creuzern meinen herzlichen Gruss. Von Daub, dem ich das-
selbe zu entrichten bitte, hab ich auf einige Anfragen wegen philoso-
phischer Rezensionen noch keine Antwort und weiss nicht, was ich
daraus machen soll. Die physiologische Rezension von Walther im
nächsten medizinischen Heft der Jahrbücher wird Sie hie und da freuen, ^)
besonders, wo es mir etwa gelungen ist, das Scholastische wieder zu be-
leben . . Ewig der Ihrige
Windischmann.
6. Friedrich Creuzer an Wilhelm Grimm.
Heidelberg, 26. October 1808.
Recht willkommen, mein hochzuverehrender Herr, war mir Ihr
Brief vom 11 mit den beiden Beilagen, und für das eine, wie für das
andere sage ich Ihnen meinen verbindlichsten Dank. Die Recension
wird in einem der ersten Hefte des nächsten Jahres der Heidelberger
Jahrbücher eine Stelle finden,') und die Verlagshandlung wird Ihnen das
für den gedruckten Bogen bestimmte Honorar ä 20 fl. Rheinisch notiren.
Die historische Abhandlung^) kann indessen in die Jahrbücher nicht
aufgenommen werden, d^ der enge Raum dieser Zeitung die Aufnahme
von Abhandlungen überhaupt nicht mehr gestattet.
Dagegen biete ich Ihnen die Studien dazu an, wo sie bald ab-
gedruckt werden kann. Das Honorar von den Studien ist für den ge-
druckten Bogen 12 fl. Rheinisch. Der Druck ist aber grösser und weit-
läufiger, so dass der Unterschied des Honorars doch nicht sehr be-
trächtlich ist.
Haben Sie die Güte mich über Ihren Entschluss mit einigen Zeilen
zu benachrichtigen.
Bei künftigen Sendungen von Packeten bitte ich Sie, sich der fah-
renden Post zu bedienen.
Es wird mir recht erwünscht seyn, wenn Sie die unter uns ange-
knüpfte literarische Verbindung fortsetzen wollen, und ich werde die
Gelegenheit nicht vorbeilassen Sie jezuweilen um neue Beiträge für die
1) Über Physiologie des Menschen mit durchgängiger RQcksicht auf die kom-
parative Physiologie der Tiere von Ph. Fr. Walther: Medizinische Abteilang 180S,
S. 218—265, im Text anonym, im Register: Von Windischmann.
2) Über der Nibelungen Lied, hg. von Fr. H. v. d. Hagen, im Jahrgang 1809,
Heft 4 und 5 (Kleinere Schriften 1, 61); zu der Honbrarbestimmung vgl. oben S. 184).
3) Über die Entstehung der altdeutschen Poesie und ihr Verhältnis zu der
nordischen: in Daub und Creuzers Studien Bd. 4 (Kl. Sehr. 1, 92). Vgl. Deutsche
Literatur-Zeitung 1902 Nr. 25 zu den Briefen an Benecke.
Zeugnisse zur Pflege der deutschen Litteratur in den Heidelb. Jahrbüchern 193
Jahrbücher zu bitten. Empfehlen Sie mich bei Ihrem älteren Herrn
Bruder bestens. Ihr jüngerer Hr. Bruder, ^) den ich gestern noch sprach,
befindet sich recht wohl. Mit wahrer Hochachtung
der Ihrige
Fr. Creuzer.
7. Friedrich Creuzer an Wilhelm Grimm.
Heidelberg, d. 18. December 1808.
Hochzuehrender Herr und Freund!
Beiliegenden Brief an Herrn v. Arnim geben oder senden Sie ihm
doch gefälligst sogleich, üa ich seine Berliner Addresse nicht weis, so
muss ich Sie, falls er abgereisst wäre, mit dieser Bitte beschweren.
Ihr Zusatz zu der Abhandlung in den Studien kam zu spät.
Doch ist am Ende der Abhandlung noch das Citat von Müller,
Schweizergeschichte beigefügt worden.
Die andere Note soll zur folgenden Abhandlung aufgehoben werden.
Um diese bitte ich Sie nun recht sehr, denn da das Stück, was
den ersten Theil Ihrer Abhandlung enthält, in diesen Tagen ausgegeben
wird, so soll gleich mit dem Druck des neuen fortgefahren werden, und
in dieses muss sie.
Ihre Becension erscheint nächstens. Vorläufig ist es in den Studien
bemerkt worden, dass die Becension mit der Abhandlung in Zu-
sammenhang steht.
Ich gratulire Ihrem älteren Herrn Bruder zu der literarischen
Muse.') Die vaterländische alte Literatur darf nun noch schöne
Früchte von Ihnen Beiden hoffen. Glücklicher Weise denken nicht alle
Gelehrte so, wie der alte Eutinische Sehulmonarch, ^ der, wie in der
Griechischen und Lateinischen, so auch höchstwahrscheinlich in der alt-
deutschen Literatur zum Verwundern wenig gelesen hat. Grüssen Sie
Ihren Hrn. Bruder.
Aufrichtig hochachtend Ihr
Fr. Creuzer.
(Am Bande:) So wie mir wieder etwas aus dem Kreis Ihrer For-
schungen vorkommt, werde ich Sie um fernere Beiträge für die Jahr-
bücher bitten.
1) Ludwig Grimm, der Maler, seit Anfang Jani in Heidelberg, und von da
nach München gehend.
2) Mundartlich für Müsse. Jacoh Grimm war im Juli znm Privatbibliothekar
des Königs Jerome ernannt worden.
3) Johann Heinrich Voss. Der Vorwurf der Unbelesenheit kehrt auch in
Arnims Angriffen auf Voss wieder, oder vielmehr steht damit in Verbindung.
13*
194 Reinhold Steig
8. Friedrich Creuzer an Achim von Arnim.
Heidelberg, d. 18. December 1808.
Ihren Unfall unterwegs, verehrtester Freund, erfuhr ich bald durch
meinen Vetter, ^) den Sie meinen Bruder nennen. Gottlob dass es so ab-
gegangen ist, mit blossem Stubenarrest.
Wie sehr mir Ihre epistola ad Yossium gefallen hat in Ton und
Art und in ihrer sich durchaus gleichbleibenden Haltung kann ich Ihnen
nicht genug sagen. Sie machen sich dadurch um die deutsche Litera-
tur verdient.*)
Lassen Sie sich nun kurz erzählen, wie es hier damit gegangen
ist. Das Finale errathen Sie schon, da Sie wissen, wie ich hier ge-
stellt bin.
Schon acht Tage vor Empfang Ihres Briefes, musste ich von Thi-
baut (der doch zu Vossens Feinden schwören will) die Zumuthung
hören (er ist jezt Mitredacteur) : keine Ihrer Recensionen wieder mit
Ihrem Namen abdrucken zu lassen.
Ich gedachte also den Brief ohne weiter bei der Redaction herum-
zufragen im Intelligenz-Blatt abdrucken zu lassen. Dagegen bemerkte
aber Hr. Zimmer und Wilken, dass dieses zur grossesten Spaltung An-
lass geben würde, da das Intelligenz-Blatt Eigenthum des ganzen In-
stituts sey und jedem Heft beigelegt werde. Zu einer Umfrage aber
den Versuch zu machen, benahmen mir und Zimmer fernere, unter der
Hand angestellte Erkundigungen (selbst Daub hielt es für unmöglich —
dem Ihr Brief selbst überaus wohl gefiel) allen Muth — und so hat
denn der alte Wütherich hier in loco für seine schlechten Streiche ge-
rade den allerfreiesten Spielraum. Mehrere der Wortführer in der Re-
daction haben nämlich keine andere Sorge, als die Jahrbücher, durch
gehörige Castrirung und Zähmung, für den grossen Haufen in dem Ruf
guter Waare zu erhalten — Vaterland und Wissenschaft mögen dann
zusehen, wie sie dabei zurecht kommen.
Auf obige Zumuthung Thibauts gebe ich übrigens eine factische
Antwort, dadurch dass ich eine Recension von Ihnen (vom Dichter-
garten) an die Spitze des 2ten philologisch-ästhetischen Hefts stelle,
1) Leonhard Creuzer in Marburg; Arnim hatte mit dem Reisewagen Unglück
gehabt.
2) Gemeint ist Arnims aus Cassel, 8. Dezember 1808 ^An Hrn. Hofrath Voss
in Heidelberg** erlassenes Schreiben, das im Intelligenzblatt der JenaiscJien Littera-
tur-Zeitung Nr. 3 vom 6. Januar 1809 abgedruckt ist. Arnim hatte es also auch
zur Aufnahme io die Heidelberger JahrbQcber eingeschickt.
Zeugnisse zur Pflege der deutscheu Litteratur in den Heidelb. Jahrbüchern 195
das in diesem Augenblick unter der Presse ist, das ist Alles was ich
thun kann, ohne Jemand zu fragen.^)
Die Becension vom Wunderhorn ist nun angelangt. Sie ist aus-
führlich und mitunter recht gelehrt. Nur der Anfang ist mir zu sehr
im Ton der Kecension von Runge 's Blättern. Ich habe daher
Görres um die Erlaubniss gebeten vornen das etwas zu brennende Golo-
rit ein bisgen abzustreifen. Ich werde sorgen, dass sie nun bald kommt.')
Ihre Becension von Jacobi findet, laut mehreren eingelaufenen
Nachrichten, vielen Beifall, und namentlich hat mir der Pfarrer Bang
in einem Gevatternbrief an mich (Mitgevatter ist Savigny) mir aufge-
tragen Ihnen dafür die Hand zu drücken.')
Das Vossische Haus wird jetzt durch einen neuen Plan bewegt:
den beohrfeigten Martens in eine vacantgewordene Lehrerstelle am hie-
sigen Gymnasio zu bringen. Da wird stark nach Karlsruh correspon-
dirt mit Ewald und Graf Benzel. Ohne Zweifel geht der Plan durch. ^)
Letzterer (Benzel) demaskirt sich im Jason immer mehr. Der alte
Hr. Rector soll das Haupt der deutschen Philologen seyn, und die deut-
schen Universitäten sollen eben aufhören.^)
Ihren Brief an Voss sollten Sie doch vor allen Dingen an die Hal-
lische Literatur-Zeitung schicken.^) Dort nimmt man ihn ja wohl am
ersten auf. Zimmer meinte auch vor allen Dingen in den Hamburger
Correspondenten.
Zimmern habe ich neulich gebeten, Sie um einige neue Recensionen
für die Jahrbücher zu ersuchen unter andern von Seume's Miltiades.
Ich vergass aber die Hauptsache. Diese besteht in der angelegentlichen
1) Rostorf» Dichter-Garten etc. : Heidelberger Jahrbücher 1809 S. 53, im Text
anonym, im Register: „Von L. A. v. Arnim*. — Der Nr. 29 der Einsiedler-Zeitung
halte Arnim von Rostorf das Gedicht „Lebensweise* vorangestellt: hierzu ist die,
offenbar von Arnim selbst herrührende, Druckfehlcranzeige im Intelligenzblatt der
Heidelberger Jahrbücher 1808, Nr. 14, S. 452 zu berücksichtigen. Die «Lebensweise**
war Arnim handschriftlich durch Friedrich Schlegel zugekommen (Schlegel 8. 6. 1808,
bg. von Walzel in der Zeitschr. f. öst. Gymn. 1889. 40, 100).
2) Wunderhorn und Runges Vier Blätter von Görres rezensiert. Eine Auf-
stellung der von Görres herrührenden Beiträge bei Franz Schultz, J. Görres als
Herausgeber, Litterarhistoriker, Kritiker 1902, S. 78. Vgl. Neue Heidelberger Jahr-
bücher 1901. 10, 12.
3) Jacobi, Über gelehrte Gesellschaften; dazu zwei Gegenschriften von Rott-
manner und Aman : Heidelb. Jahrbücher 1808, S. 362. Pfarrer Bang in Gossfelden,
der Freund Savignys, Brentanos, Grimms, war ein Vetter Creuzers.
4) Näheres darüber in den Görresbriefen 8, 46.
5) Über Graf Benzel-Sternaus Zeitschrift Jason vgl. „Heinrich von Kleists
Berliner Kämpfe** 1901, S. 391.
6) Grenzer in befreundetem Verhältnis zum Heransgeber Prof. Schütz (oben S. 182).
196 Reinhold Steig
Bitte: von Schillers Theater uns eine Kritik zu machen. Es ist
mir viel daran gelegen. Thun Sie es doch.^)
Sie hatten recht. In jener grausenvollen Nacht ist auch nicht ein
Blutstropfen geflossen — , und ich muss lachen so oft ich daran denke.
Indessen hat die AiFaire doch die Folge gehabt, dass hiesige Stadt ihre
Garnison verloren hat, die vor acht Tagen nach Mannheim verlegt
worden mit der Erklärung, es sollten keine Soldaten mehr her — nach-
dem hiesige Bürgerschaft vorigen Sommer eine Caserne aus ihrem Beutel
erbaut hat — die sie 6000 fl. kostet. Das ist acht Badisch.') — Adieu,
lieber Freund. Vergessen Sie uns nicht, besonders auch Schiller
nicht. Alle Bekannte grüssen herzlich. Aufrichtig der Ihre
Fr. Creuzer.
9. Johann Georg Zimmer an Achim von Arnim.
Heidelberg, d. 21 te Januar 1809.
Lieber Arnim, wenn ich nicht wüsste, dass Sie mir im Briefschreiben
etwas zu gute hielten, so wäre ich wirklich in Verlegenheit, und ich
bin es doch, dass ich Ihnen bisher auf Ihre drey Briefe noch keine
Zeile geantwortet habe. ^ Vergeben Sie mirs. Jetzt nachdem ich in den
heute angekommenen Blättern der Jenaischen Literatur-Zeitung Ihre
Erklärung gegen Voss gedruckt gesehen habe, schiebe ich es nicht
länger auf, Ihnen zu sagen, wie sehr ich mich über dies köstliche Stück
gefreut habe; beynahe so gut hat mir in Hinsicht ihrer Schlechtigkeit
die Vossische Antwort gefallen.^) Der Mann muss in seinem üebermuth
durchaus nicht gehört haben, was Sie ihm gesagt, oder alles für Spass
halten. — Brentano hat mir unterdessen seine kurze Erklärung gegen
Voss ebenfalls zugeschickt. Ich hoffe dass sie nächstens auch in einigen
Zeitungen gedruckt erscheinen wird. Sie ist gar hübsch und Voss kann
wohl bey einigen Stellen in die Verlegenheit kommen zu glauben, er
1) Für SchiUers Theater war, auch vergeblich, Ludwig Tieck von Creuzer an-
gegangen worden (Zimmer S. 264).
2) Dies gehört zu der „Dfirrischen kleinen Revolution*, über die Arnim an
Görres (8, 39) schreibt.
3) Von diesen „drei Briefen** Arnims enthält das Buch über Johann Georg
Zimmer und die Romantiker, hg. von Heinrich Zimmer, keinen einzigen; möglicher
Weise war der eine der, in welchem Arnims Schreiben «An Voss* übermittelt wurde.
4) Voss' Antwort an Arnim, den er aber nicht mit Namen nennt, im Intelligenz-
blatt der Jen. Litteratur-Zeitung Nr. 5 vom 11. Januar 1809.
Zeugnisse zur Pflege der deutschen Litteratur in den Heidelb. Jahrbüchern 197
hätte sie selbst gemacht. ^) — Wissen Sie denn, dass Eichstädt Ihre An-
zeige vor dem Abdruck an Voss geschickt hat, ob er auch erlaube, sie
abzudrucken? und Voss hat sie dann mit seiner Antwort zurück ge-
schickt.
Mir hat dieser Voss seit 3—4 Monaten unsäglichen Aerger, Ver-
druss und auch Schaden zugefügt. Er hat unter dem Schein gutmüthiger
Sorge für mich, bey Leuten die es nicht beurtheilen können, deren gute
Meynung von meinem Geschäft mir aber, wie er wohl wusste, wichtig
ist, dieses verdächtig zu machen gesucht und ein Oeschrey angerichtet,
als sey ich mit den Romantikem und Mystikern etc. verschworen und
diese richteten mich zu Grunde. Durch solch allgemein verbreitetes
miserables Geschwätz verleitet wäre ich beynahe zu einem Verlags-
artikel gekommen, dessen ich zeitlebens mich würde geschämt haben.
Baggesens vollendeten Faust, von dem Sie ja hier schon gehört haben,
habe ich drucken sollen. Anfänglich rieth mir ein Freund dazu, der
es far politisch hielt, dass bey mir etwas von der Gegenparthey ver-
legt würde, er meynte, dann sey den Leuten das Maul gestopft. Mir
schien das anfänglich selbst so und ich ging weiter als ich kluger Weise
hätte gehen sollen. Baggesen kam selbst wieder hierher. Ich beknm
das Stück unter einem Vorwand in die Hände und er selbst las bey
mir etwas daraus vor. Jetzt erst sah ich, was ich gemacht hatte und
hätte mögen des Teufels werden. Ich lebte zwei Tage im Fegefeuer.
Endlich gab mirs Gott ein den Kerl zu beleidigen : ich wollte ihm das
Agio von den Louisd'ors abziehen und das hat mich vor der Selbst-
kreuzigung gerettet. Auch hierbey war Vosä thätig, auch wieder aus
anscheinend guter Meynung, aber hätten sie mich gehabt, dann hätten
die Teufel sich höhnisch ihres Schelmstreichs gefreut. Dieser vollendete
Faust ist ein schändliches Ding. Voll Witz, bey dem man aber nicht
1) Die Erkl&nxDg Brentanos «Zu allem üeberflnss an Herrn Hofrath Voss in
Heidelberg, dass man keine KirchenUeder an ihn gedichtet"*, welche im Intelligenz-
hlatt der Jen. Litteratnr-Zeitong Nr. 18 vom 4. M&rz, in der Hallischen Litteratur-
ZeituDg vom 8. M&rz 1809 gedruckt ist, erschien aber im NOmberger Correspondenten
schon in der Nummer vom 30. Januar 1809. Hierauf bezieht sich, was Brentano
mit durchschlagender Komik an Zimmer, am 6. Juni 1811, als dieser ihm die
Rechnung daftlr präsentiert hatte, schreibt (Zimmer S. 192) : ^.Stellen Sie sich vor,
wie Voss gerächt ist gegen die Anzeige in dem Correspondenten, da ich 24 6. da-
für bezahlen muss und er nichts, umsomehr, da ich von der ganze Anzeige nichts
mehr wnsste, und wenn Arnim es mich nicht versicherte und die Rechnung, so
glaubte ich, es hätte Ihnen geträumt. Ich versichere Sie, dass bis jetzt mich keine
Bekanntmachung in der Welt so interessirt, dass ich 24 fl. dafür gegeben hätte,
doch es ist geschehen."
198 Reinhold Steig
zum lachen kommen kann, vor Empörung und Schaam. Das Ding ist
eigentlich gar nicht gegen die neueste Zeit, gegen die alte erste Schlegel-
Tieckische und bekommt dadurch ein lächerliches Ansehen, weil die
Streiche gar niemand treffen. Tieck wird gemein schändlich behandelt.
Creuzer hat mir schon lange aufgetragen Sie zu bitten, doch fol-
gende Sachen für die Jahrbücher anzuzeigen:
Attila von Werner.
Miltiades von Seume.
Penthesilea von v. Kleist. ^)
Meine Frau grüsst Sie bestens. Vergessen Sie uns nicht. Unser
Kind wird täglich herrlicher.
Mit stets treuer herzlicher Gesinnung
Ihr Zimmer.
(Nachschrift:) Ich lege die Abrechnung über einige im vorigen
Jahrgang der Jahrbücher von Ihnen abgedruckte Anzeigen bey. Den
Betrag habe ich Ihnen vorläufig gut geschrieben.
10. Achim von Arnim an Friedrich Creuzer.
Berlin d. 25. Januar 1809.
Vielen herzlichen Dank für die Zeichen Ihrer freundschaftlichen
Erinnerung, die mir Ihr Brief giebt; meine Vermuthung hat mich nicht
getäuscht, dass Sie der einzige in Heidelberg seyn würden, der noch
meiner gedächte, von Zimmer hörte ich noch kein Wort. — Und viel-
leicht gehen Sie auch bald fortP Unter uns gesagt, Wolf ist der An-
trag nach Landshut gemacht worden, er sagte mir aber, dass er ihn
ausschlüge; er scheut etwas die regelmässig vielen Vorlesungen und
will auch eigentlich nur Oberdirektion und Arbeit nach Gefallen bey
1) Infolge dieses Auftrages schrieb Arnim in einem Billet, das ich besitze, an
Reimer: „femer erbitte ich mir zur Durchsicht, wenn Sie gerade diese Bücher
liegen hahen oder mir gefalligst verschaffen köonlen: Attila von Werner, Seumes
Miltiades, Kleists Penthesilea . . Ich soll das recensieren und hab noch nichts als
das erste mit Augen gesehen, das ist doch zuviel verlangt;*" vgl. H. v. Kleists Ber-
liner Kämpfe S. 176. — Nur die Attila-Rezension ist im Jahrgang 1810 S.6, anonym,
im Register von TT — Q, erschienen.
* Zeagnime zur Pflege der deatschen Litteratur in den Heidelb. Jahrbüchern 199
der hier zu errichtenden Universität. — Dann wird Voss herrschen in
Heidelberg! Es thut mir leid, denn ich habe doch wirklich viel An-
hänglichkeit noch an den treuen Berg und die luftigen Schlösser. —
Sie werden in der Jenaer mich und ihn gehört haben, ich lege Ihnen
meine Antwort bey/) zeigen Sie die an Zimmer, und wem Sie wollen,
die schändliche Lügenhaftigkeit des Brutus im zitzenen Schlafrock trit
immer deutlicher hervor, ich hoffe doch, dass den Leuten endlich die
Augen aufgehen. — Die Becension des Schillers trag ich in Gedanken,
aber geschrieben ist noch nichts davon, noch hätte ich Lust Brentanos
sämtliche Arbeiten vom Anfange seiner Schriftstellerey zu characteri-
siren, manches von ihm, das ich wieder in die Hände bekam hat mich
so neu und anmuthig überrascht, dass ich auch andern die Freude
gönnte und machen wollte. Glauben Sie, dass es sich für die Jahr-
bücher schickt? Seume*s Miltiades ist mir noch nicht zu Gesicht ge-
kommen. — Für Görres hab ich wenig Aussicht, ^ ich hoffe Savigny ist
glücklicher. — Mit Brentanos Ehewesen scheint es in Landshut besser
zu gehen, es überrascht und freut mich, ich wünsche Fortgang und
glaube doch nicht daran. — Hier ist alles in grossen Geldverlegenheiten,
ich befinde mich unter der Zahl mit, die Beise des Königs hat alle
Geschäfte gestockt und allen Credit schwankend gemacht, wer vor-
räthiges Geld hat versteckt es lieber für die unsichere Zukunft. —
Humboldt der ältere hat die Stelle als Geheimerstaatsrath über das ge-
sammte gelehrte und geistliche Wesen noch nicht angenommen. Viele
Grüsse allen Freunden und Bekannten, den Ihren vor allen.
Hochachtend
Achim Arnim.
(Am Bande:) Ist hier niemand zur Mitarbeit an den Jahrbüchern
aufzufordern? Humboldt, Spalding, Weltmann, Wolf, — Solger, den
Uebersetzer des Sophokles kenne ich speciell.
11. Carl Windischmann an August Böckh.
Aschaffenburg, d. 20. Januar 1809.
. . Thu mir doch den Gefallen, zu Loos zu gehen und ihm nebst
meinem Gruss zu sagen, ich wolle das angebotne Buch nehmen: er
1) Die aus »Berlin, 20. Januar 1809" datierte Antwort »An Hm. Ilofrath Voss
in Heidelberg** im Intelligenzblatt zur Jenaer Litteratur-Zeitnng Nr. 13 vom
15. Februar 1809.
S) Nftmlich ihn in Berlin zu versorgen.
200 Reiohold Steig
solle mirs cur schicken, auf März käme alles, was ich an Rezensionen
hätte: er solle nur darauf bedacht seyn, mir einmal etwas recht ange*
nehmes zuzuwenden, z. B. Schubert's Ansichten von der Nachtseite
der Naturwissenschaft . . ^)
Ewig Dein Windischmann.
12. Friedrich Creuzer an Wilhelm Grimm.
Heidelberg, d. 27. Januar 1809.
Theuerster Freund!
Die Fortsetzung Ihrer Abhandlung in den Studien wird in dem
nächsten Stück, dessen Druck baldigst angefangen wird, erscheinen.
Das Stück mit dem Anfang Ihrer Abhandlung ist bereits ausgegeben.
An Ihrer Kecension der Nibelungen in den Jahrbüchern wird so eben
gedruckt und dieses Stück erscheint hier in den ersten Tagen des
Februar.
Jetzt also eine neue Bitte:
Ich wünsche die so eben erschienenen
Deutschen Oedichte aus dem Mittelalter
von V. Hagen
von Ihnen für die Jahrbücher recensirt zu sehen ; und Sie würden mich
verbinden, wenn Sie diese Kritik doch baldigst einsenden könnten.
Darum bitte ich also.*)
Herr von Arnim wird wohl nun in Berlin seyn.
Leben Sie wohl. Grüssen Sie mir Ihren Herrn Bruder.
Hochachtend der Ihre
Fr. Creuzer.
13. Johann Georg Zimmer an Achim von Arnim.
Heidelberg, d. 6. Februar 1809.
Lieber Arnim, Sie haben ohne Zweifel jetzt meinen vorigen Brief.
Ich habe unterdessen noch Ihren vorwürfigen vom 25. Januar bekommen
1) Der Jabr^og 1809 enthält von Windischmann mehrere Rezensionen in der
medizinischen Ahteilung; darin aach, S. 393—410, seine bedeutsame Anieige yod
6. H. Schuberts damals Aufsehen machendem Buche.
2) Die Rezension der ^Deutschen Gedichte des Mittelalters*, hg. von v. d. Hagen
und BOsching, lieferte Jacob Grimm: 1809. 2, 148 (Kleinere Schriften 4, 22).
Zeugnisse zur Pflege der deutschen Litteratur in den Heidelb. Jahrbüchern 201
und antworte um Ihnen ein Zeichen meiner Besserung zu geben sogleich
darauf. *)
Wer eins von folgenden Blättern liesst, dem konnte doch wohl die
Erscheinung des 2ten und Sten Theils vom Wunderhorn nicht unbe-
kannt seyn: 1) Hamburg. Correspondent , 2) Zeit. f. d. eleg. Welt,
3) Morgenblatt, 4) Miszellen f. d. Weltkunde, 5) Jahrbücher d. Lit.,
6) Schwab. Merkur, 7) Allgemeine Zeitung. An alle habe ich die An-
zeige noch im Oktober geschickt, aber freylich ist sie in manche erst
spät eingerückt worden. Wer Ihnen in Leipzig gesagt hat, die Jahr-
bücher würden aufhören, der müsste überhaupt von den Jahrbüchern
nicht so viel wissen als Bileams Esel. Ihre Fortsetzung ist in allen
Exemplaren des vorigen Jahrgang No. 14 ausführlich angekündigt')
und diese Ankündigung ist auf einem besonderen Blättchen abgedruckt
allen Buchhandlungen, welche die vorige Anzeige erhalten, noch extra
in starker Anzahl geschickt worden, um es ihren Kunden mitzu-
theilen, wenn es nicht sonst verbraucht worden ist. Dann hat diese
Ankündigung auch im Hamburg. Correspondenten, der allg. Zeitung, den
Miszellen, dem allgem. Anzeiger pp. gestanden und ich habe in keinem
dieser Blätter eine Anzeige von der Fortsetzung der Jenaischen Lite-
raturzeitung, der Hallischen do., gelesen und glaube doch, dass sie fort-
gesetzt werden. Oder können sie die Berliner Buchhändler nicht liefern ?
Dann kenne ich freylich die Ursache nicht, aber man bestelle sie als-
dann auf der Post. Es sind von 1809 bereits 10 Hefte heraus.
In Ihren früheren Briefen, lieber Arnim, habe ich nirgends den
Auftrag gefunden, Ihnen noch Exemplare des Wunderhorns zu senden,
nur die Anzeige, Sie hätten sich welche in Frankfurt geben lassen.
Haben Sie nun die Güte auf beyfolgendem Zettel die Anzahl der Exem-
plare auszufüllen, die Sie zu haben wünschen und geben Sie ihn dem
Reimer, der Ihnen den Bezug derselben von Leipzig gern besorgen wird.
Ich habe seitdem wir den Abdruck Ihrer Erklärung hier haben,
mit der Rudolphi noch nicht über diese Sache gesprochen. ') Brentanos
1) Der n^orige Brief* ist der oben unter Nr. 8. Der ^vorwArfige vom 25. Janaar*
steht bei Zimmer S. 150; es sind aber, wie die Verteidigung Zimmers zeigt, dort
die Vorwürfe Arnims fortgelassen worden. Auf den obigen Brief ist der Arnims
vom 25. März 1809 (bei Zimmer S. 148 gedruckt, aber mit der irrigen Jahreszahl
1808) die Antwort, der die Attila-Rezension beigelegt war; Creuzers Bemerkung
gegen Görres (8, 53): „Arnim hat auch wieder was geschickf*, meint eben diese
Attila-Rezension.
2) D. h. im Intelligenzblatt der Heidelberger Jahrbücher Nr. 14.
3) Die Rudolphi unterhielt in Heidelberg eine Erziehungsanstalt, in die Bren-
tano die Tochter seiner ersten Frau gegeben hatte.
202 Reinhold Steig
Aufsatz ist Dun auch abgedruckt, aber erst, wie ich sehe, im Corre-
spondenten von Deutschland. ^) Die Jugendblätter der Landsfauter kom-
men nicht zu Stande. Ich weis nicht warum. Hier ist nichts Neues
vorgefallen, es soll aber nächstens etwas Wichtiges vorfallen.
Meine Frau und Kind sind gesund. Frühling haben wir hier schon
gehabt. Bäume wollten blühn, es wird aber wieder Winter. Leben
Sie wohl!
Ihr Zimmer.
14. Carl Windischmann an August Böckh.
Aschaffenburg, d. 18. Februar 1809.
. . Freund Molitor hat eine recht wackere Charakteristik der
sämmtlichen schriftstellerischen Laufbahn unseres vortrefflichen Nico-
laus Vogt (den Eure Curatel vor mehrem Jahren schon nach Heidel-
berg vocirt hatte, was er ausschlug) mir zugeschickt. Ich werde hieran
aus meiner eignen genauen Kenntniss des Mannes einiges kleine ändern
und hinzusezen und dann alles ins reine schreiben lassen und wünschte
diese Darstellung (welche kaum einen Bogen betragen wird) in die
historisch- philologischen Jahrbücher aufgenommen zu sehen, so wie dies
Vogt selbst gar sehr wünscht — weit mehr als in die ver-Ast-elte
Zeitschrift als worin es Molitor wolte abdrucken lassen, weil ihm oder
vielmehr mir wegen seiner bis auf diese Stunde auf meine Anfragen an
Daub noch keine Antwort auch nicht durch Auftrag zugekommen, was
ich nun gewiss nicht mehr anders als unverholene Geringschäzung und
Verachtung auslegen kann, welche ich dem sonst biederen Daub nie er-
wiedern werde . .*)
Dein Windischmann.
15. Carl Windischmann an August Böckh.
[Aschaffenburg März 1809.]
. . Daub grüsse schönstens; ich werde anzeigen, was ich bear-
beiten will. Molitors Charakteristik ist eine Rezension, keine Abhand-
lung; ich habe manches gute hinzugefügt: es kann also wohl abgedruckt
werden und ich schicke es ein . .
Dein Windischmann.
1) S. oben die Anmerkung auf S. 197.
2) Die ver-Ast-elte Zeitschrift ist die von Friedrich Ast herausgegebene Zeitschrift
für Wissenschaft und Kunst. Molitors „Charakteristik", angeschlossen an N. Vogts
Darstellung des europäischen Völkerbundes, erschien in den Heidelberger Jahr-
büchern 1809. 2, 129.
Zeugnisse zar Pflege der deutschen Litteratur in den Heidelb. JahrbQchern 203
16. Friedrich Creuzer an Achim von Arnim.
Heidelberg, d. 1. April 1809 (Ostersammstags).
So eben komme ich von einem Abendgang aufs Schloss, wobei ich
mich Ihrer erinnerte, wie wir so oft zusammen in das schone Abendroth
gesehen, so schön, wie es heute war — da fiel mir meine Sande schwer
aufs Herz, dass ich Ihnen so lange Antwort schuldig, und ich beschloss
so fort, sie so viel möglich heute noch gut zu machen. Die welthisto-
rischen, sage universalhistorischen, hochwichtigen, ja einzigen Begeben-
heiten, die sich seit vier Wochen dahier ereignet haben, mögen, wenn
sie können, meine Saumseeligkeit entschuldigen. Die Hauptsache werden
Sie nun wohl schon wissen, dass unser Böckh Professor Ordinarius mit
1200 fl. geworden, weil ich nach Leyden als Professor linguae graecae
gehe u. s. w. Dazwischen liegen dann nun noch mancherlei Sachen als
z. B. eine Vocation für Böckh nach Königsberg mit 1200 Thalern —
allgemeine Bewegung unter allen schlechtbesoldeten hiesigen Professoren,
Kabale, Missgunst, Neid, und dann auch eine Braut, nämlich des Prof.
Böckh (Demoiselle Wagemann von Göttingen, des Juristen Martin
Schwägerin). Stellen Sie sich nun, bei solchem Discursmaterial unsere
Tbeegesellschaften vor, unsere Abendversammlung im Hecht — so haben
Sie Alles in Zeichnung und Colorit, bis auf die leiseste Schattirung.
Dass ich unserm Böckh von Herzen glfickwünsche zur Stelle, wer-
den Sie erwarten : zur Braut nicht. Es thut mir gar zu leid, dass er
nun mit den Juristen so verflochten ist. Seine Wissenschaftlichkeit
wird ihn vor Philistereien bewahren, aber solcher Familennexus wirkt
unvermerkt nachtheilig. Die Veränderung meiner Lage war ganz un-
verhoft. An Landshut konnte ich, seit ich von Buttmanns Vocation
wusste, nicht mehr ernsthaft denken. Da kam mir der sehr erwünschte
Ruf nach Holland. Wer Buhe sucht und Griechische Manuscripte und
die Belehrung in seinem Fach durch den Mund eines Meisters (wie dies
Alles bei mir der Fall ist), der konnte sich wohl wegen der Wahl
keinen Augenblick besinnen, zumal bei so freundlicher, nobler Behand-
lung, wie ich sie von dortaus erfahren — und so schwimme ich dann
in vier Wochen mit Frau und Büchern auf dem Bhein zu den Batavern
hinunter, bei denen ich wohl sterben werde. Statt in die Pfälzische
Ebene, sehe ich künftig in die weite See, und stärke mir meine Augen
von der Lesung- der griechischen Handschriften. — Es soll mich freuen,
wenn Sie meinen Entschluss eben so billigen wie Görres, der mir gestern
schrieb: „ich würde in dem Lande der Philologen und Blumisten wohl
204 Reinhold Steig
gedeihen^. Besuchen Sie mich nur einmal da drunten in dem Lande
von Egmond; wäre doch schon Ihr Johann von Leyden einer solchen
Reise werth. ^) Den müssen Sie uns nun um so weniger vorenthalten,
da ich ihn an Ort und Stelle mit verstärkter Theilnahme lesen werde.
Wir erwarten nun die von Ihnen übernommenen Becensionen, be-
sonders über Schiller. Die Anerbietung wegen Brentanos Schriften ge-
fällt mir. Da aber die meisten Sachen für die Jahrbücher zu alt sind,
so wäre es schön, wenn Sie den Goldfaden von Brentano, der so
eben mit Holzschnitten versehen erschienen ist, recensiren wollten. ') Da
hätten Sie denn Gelegenheiten über diesen Poeten überhaupt etwas zu
sagen. Ich habe Brentano schon vor sechs Wochen geschrieben und ihn
um Beiträge gebeten, bis jezt aber keine Antwort erhalten. An die
Berliner Gelehrten hatte ich schon öfter der Jahrbücher wegen gedacht,
allein Böckh versicherte mich immer, dass weder Wolf noch Buttmann
noch Spalding Theil nehmen würden. Da habe ich dann das Einladen
unterlassen. Jezt aber kommt es mir überhaupt nicht mehr zu, da
ich das Bedaktionsgeschäft vom philologisch-ästhetischen Heft bereits
an Böckh abgegeben habe, der es nun mit Wilken gemeinschaftlich
fortführt. Wenn Sie die Herrn sehen, auch Hrn. SchleiermaCher, so bitte
ich meine Empfehlung auszurichten. — Voss, der alte, hat seit Ihrer
Abreise drei chirurgische Operationen ausgestanden: Zwei an der Nase,
da man ihm aus jedem Nasenloch einen Polypen herausgezogen, und
Eine an der Hand. Jezt ist er wieder wohl, da(gegen) kränkelt nun
der älteste Sohn sehr an Hypochondrie und Gicht. Baggesen treibt
(sich seit ei)nigen Tagen wieder mit den Vossischen hier herum. Eine
Satyre gegen die (Romantiker) soll bei Cotta unter der Presse seyn. ')
A. W. Schlegels Buch über die dramatische Poesie ist zum Iten
Theil fertig. Zimmer liefert überhaupt gewaltig viel Sachen auf die
Messe. Er rüstet sich schon zur Reise nach Leipzig. — Die Grimms
haben beide zu den Jahrbüchern recht tüchtige Beiträge geliefert. Em-
pfehlen Sie mich dem gelehrten Uebersetzer des Sophokles Herrn Solger.
— Ich werde auf meiner Reise bei Görres einsprechen. Er scheint recht
1) An einem Drama Johann von Leiden arbeitete damals Arnim schon seit
Jahren.
2) Die Rezension von Brentanos Goldfaden schickte Arnim am 29. Juli 1809
an Zimmer (Zimmer S. 150). Auf den Wunsch Brentanos verfasste auch Wilhelm
Grimm, beide ohne davon zu wissen, eine Anzeige, die durch Japob Grimm an die
Heidelberger Jahrbücher weitergegeben wurde. Nur diese letztere wurde abgedruckt :
1810. 2, 285. Darüber unten weiteres.
3) Gemeint ist von Baggesen „Der Karfunkel oder Klingklingel- Almanach", 1810.
ZengniBse zur Pflege der deutschen Litteratur in den Heidelb. JahrbOchern 205
vergnügt zu seyn. Dr. Zimmermann hat seit einigen Tagen einen Sohn
erhalten. Er gebt mit Frau und Kind wieder nach Marburg zurück. ')
Viele Orüsse von den Meinigen. Leben Sie recht wohl. Ihr
Fr. Creuzer.
N. S. Von Ihren Secensionen ist fast Alles abgedruckt. Die
Görressische über das Wunderhorn ') hat bei der Dünne der Hefte ge-
theilt werden müssen. Die Hälfte ist bereits erschienen. Brentano hatte
sie lange in Landshut gehabt; ihm so wie Savigny hat sie sehr ge-
fallen. Adieu.
17. Carl Windischmann an August Böckh.
AschafFenburg d. 5. April 1809.
. . Dein letztes Schreiben gibt mir die angenehme Aussicht, einen
grösseren Wirkungskreiss für die Jahrbücher zu gewinnen. Durch
Loos schnelle Sorge für den Abdruck vermag ich in medizinischen
Dingen manchmal ein kräftig Wort früh genug zu sagen: durch Deine
Beförderung ists mir nun auch in andern Sachen erlaubt, so wie durch
Danb. Sobald ich den Messkatalog erhalte, werde ich Euch vorschlagen,
was mir lieb ist und manchmal auch nicht lieb, sondern nothwendig,
dass es gethan werde. Ich hoffe, es soll uns gelingen, lieber Böckh,
hie und da noch gutes zu stiften in dieser gleichgültigen Zeit. Molitor
dankt Dir schönstens für die Einladung und wird Dir selbst schreiben,
hier folgt seine von mir durchsehene und durchreinigte Rezension von
Vogt : sie beträgt troz dem Schein doch kaum über einen halben Bogen
und ich wünschte, Du liessest sie sogleich abdrucken. Die Abschrift
hat lange aufgehalten . .
Ewig Dein Windischmann.
18. Johann Qeorg Zimmer an Achim von Arnim.
Heidelberg, d. 7ten Aprill 1809.
Ihren Brief vom 25^ März, lieber Arnim, habe ich erhalten und
danke Ihnen dafür, so wenig tröstliches er auch gebracht, ausser der
Becension. Ihre Nachricht von den schlechten Aussichten für den
BücherVerkauf in Ihrem Lande konnte mir nicht unerwartet seyn, dem-
1) Dr. Christ Zimmermann, der vergebUch in Heidelberg versucht hatte sich
festzusetzen, war verheiratet mit Creuzers Tochter aus der ersten Ehe seiner Frau,
später Bergrat in Clausthal.
2) 1809. 1, 222; im Register: Von ^— g.
206 Reinhold Steig
ohngeachtet dräckt mich Ihre BestätigUDg, denn selbst bey der grössten
BesignatioD ist immer noch eine Hoffnung zu verlieren. Dass die Buch-
händler deDDOch gerne verlegen, kann ich mit eigenem Beyspiel be-
weisen: ich bringe nicht weniger als 23 Artikel zur Messe, denen ich
mit schwerem und bekümmerten Herzen jetzt nachsehe. £s ist so ver-
flucht verführerisch, man kann nicht widerstehen ; auch wenn man denkt,
wenn das auf einmal alles baar Geld wäre, welch reicher Mann wärst
Du. Dass es in Preussen so schlimm ist, schadet uns mehr als irgend
ein Land, denn dort ist doch verhältnissmässig am meisten gekauft
worden. Ich weis nicht ob ich meinen Ballen nachziehen werde. Wenn
der Krieg nicht ausbricht, gehe ich ganz gewiss hin. Wie wollte ich
mich freuen, wenn Sie sich verleiten Hessen, mit Reimer die Reise zu
machen, um dort die armen Buchhändler zu trösten. Im Ernst, lieber
Arnim, kommen Sie hin.
Dass uns Creuzer yerlässt, wird er Ihnen in der Einlage sagen. ') Es
ist sehr betrübt.
Meine Frau ist wohl und mein Kind unbeschreiblich herrlich und
liebenswürdig.
Grüssen Sie Reimer herzlich !
Ihr treuer Zimmer.
19. Friedrich Creuzer an Jacob Grimm.
Heidelberg, d. 10. April 1809.
Für Ihren gehaltvollen Beitrag zu den Jahrbüchern bin ich Ihnen,
hochzuverehrender Herr Auditor, sehr verbunden, und es wird diese
Kritik der Hagenschen Sammlung altdeutscher Gedichte bald abgedruckt
werden. Freilich wird ihre Länge, bei dem kleinen Umfang der Hefte,
ein mehrmaliges Abbrechen nothwendig machen, wobei aber doch für
unmittelbare Aufeinanderfolge Sorge getragen werden wird. ') Eine An-
zeige der kürzlich erschienenen altfranzösischen Fabliaux wird der Re-
daction gleichfalls willkommen seyn ; und es ist gut, dass Sie diese
Anzeige kurz zusammendrängen wollen, da durch die Enge des Raums
der Jahrbücher Kürze so dringendes Bedürfnis ist.
1) D. h. in Brief Nr. 16.
2) Vgl. oben S. 200 Anmerkang 2. An der Rezension waren beide Brüder
beteiligt, das setzt Creuzers Brief ?oin 2. Mai 1809, unter Nr. 21, ausser Zweifel ;
vgl. Wilhelm Grimms Kleinere Schriften 4, 643. J. Grimms Zusendungsbrief muss
von verschiedenen AufTassungeD zwischen den Brüdern gesprochen und Creuzers
Urteil erbeten haben, wovon dessen Bemerkung Ober den „Orientalismus", die sich
auf S. 215 der Rezension (Jac. Grimms KI. Sehr. 4, 37; Wilhelms 1, 149) bezieht, ein
Nachhall ist
Zeugnisse zur Pflege der deul sehen Litteratnr in den Heidelb. Jahrbüchern 207
In Ihrem Streit mit Ihrem Herrn Bruder über den Orientalismus
scheint mir, soweit mir das Vorliegende hinreichendes Urtheil gestattet,
das Becht auf Ihrer Seite zu seyn. Ich wünsche, dass wir uns in einer
mündlichen Discussion einmal darüber auslassen könnten. Vielleicht
führt Sie ja einmal Ihre Eunstliebe auf eine Reise nach Holland.
Die Recension von Eichhorn im vorigen Jahrgang der Jahrbücher
hat (unter uns gesagt) Wachler in Marburg gemacht.^)
Von Brentano habe ich in langer Zeit nichts gehört, ohngeachtet
ich ihm vor 6 Wochen einen langen Brief schrieb. Hr. von Savigny
hat mir noch kürzlich geschrieben. Ich hatte den Brentano um mehrere
Recensionen gebeten. Auch darauf höre ich nichts von ihm. Von Hrn.
V. Arnim werden Sie wohl neue Nachrichten haben. Die neuesten, die
er hierher gegeben an Herrn Zimmer, lauteten nicht sehr günstig. Ich
habe ihm vor einigen Tagen geschrieben. Er ist sehr thätig für uns,
und hat neulich wieder eine Recension geschickt. Görres desgleichen,
der mich vorige Woche mit einem langen heiteren Briefe erfreute, und
sich wieder recht heimisch in Coblenz zu fühlen scheint. Ich freue
mich auf den bevorstehenden Besuch, da ich ihm auf meiner Durch-
reise zusprechen werde. Voss hat einen harten Winter gehabt. Erst
musste er sich aus jedem Nasenloch einen Polypen herausholen lassen,
dann ward ihm ein alter Schaden an der Hand operirt. Jezt ist er
wieder wohl auf, und Baggesen, der sich seit einigen Wochen wieder
hier herumtreibt und nächstens bei Cotta sein Buch gegen die Roman-
tiker ans Licht treten lassen wird, scheint sehr mit ihm verbunden zu
seyn. Ich sehe den einen so wenig wie den andern.
Dass Prof. Böckh dahier mein Nachfolger geworden, wissen Sie viel-
leicht schon. Derselbe führt mit Wilken die Redaktion des ästhetisch-philo-
logischen Hefts fort, und es wird also durch mein Weggehen nicht das ge-
ringste geändert. Herr Zimmer wird die Beiträge immer sofort besorgen.
Empfehlen Sie mich Ihrem Herrn Bruder. Sein Aufsatz für die
Studien ist unter der Presse. Die dringenden Messartikel halten jezt
den Druck dieses Stücks der Studien etwas auf. Es wird aber doch
noch zur Ostermesse ausgegeben.
ich beharre mit aufrichtiger Hochachtung Ihr
ergebenster Fr. Creuzer.
1) Die Rezension von ^Eichhorns Geschichte der Literatur . . bis auf die
neuesten Zeiten" (1808. 2, 184) ist, wie noch andre, nur mit R. im Register gezeichnet.
Eine Inhaltsangabe dieses Briefes Creuzcrs in dem Briefwechsel zwischen Jacob und
Wilhelm Grimm aus der Jugendzeit S. 82, wodurch er auch Arnim und Brentano
bekannt wurde.
NEUE HEIDELB. JAHRBUECHER XI. 14
208 Reinhold Steig
20. Achim von Arnim an Friedrich Creuzer.
Berlin, d. 22. April 1809.
Ungewiss, ob mein Brief Sie, geehrter Freund, noch in unserm
schönen Heidelberg treffen kann, habe ich eine eben erschienene Novellen-
sammlung, meine Winterarbeit und den Wintergarten genannt, zurück-
gehalten, weil sie der Unkosten bis Leiden und besonders dieses Um-
weges nicht werth. Sie wollen, dass ich Ihren Entschluss dahin zu
gehen billigen soll, und denken nicht daran, dass ich Heidelberg lieb
habe und dass es mir leid thut, es allmälig so verweisen zu sehen,
nun alle Gevattern fortgezogen sind. Alle andre Einwendungen, ob
ein so fremdartiges Völkchen, wie die Holländer jezt sind, Ihnen einiger-
massen den Wirkungskreis auf einer deutschen Universität ersetzt, ob
Sie nicht bestimmt in Deutschland auf eine Anstellung an einem der
Bibliotheksorte rechnen konnten, der Ihnen diese Vorzüge Hollands
einigermassen ersetzt, werden Sie Selbst hinlänglich abgewogen haben,
wie leicht ist es auch, wenn man an einem so grossen Strome wohnt,
sich mit dem ganzen Hausrathe und Bibliothek einzuschiffen um wieder
in das Herz von Deutschland zurückzudringen, das Reisen auf Schiffen
ist nicht einmal eine Unterbrechung der gewohnten Beschäftigungen
und Lebensweise. Wohl freue ich mich darauf, Sie nach solcher Rück-
kehr einmal wiederzusehen und, wo es sey, uns der schönen Sonne
Heidelbergs und der gewohnten Wege im Thal und auf der Höhe zu
erinnern; vielleicht dass ein guter Genius Sie aus einem unruhigen
Kriegsschauplatze entfernt, wo die wissenschaftliche Bildung bald ver-
trieben wird. Die Jahrbücher thun mir leid, wegen mancher Hoffnung,
die ich und andre daran gehängt, die Freyheit und Unbefangenheit des
Urtheils darin bewahrt zu sehen, nun zweifle ich gar nicht an Böckhs
guter Gesinnung und Absicht, dasselbe fördern zu wollen, aber eine
Verbindung, eine Bekanntschaft, die eben gut vorhanden, lässt sich
durch gar keine andre ersetzen, auch hat er das Hinderniss seiner
Jugend und des wohlbewahrten Verkehrs mit den meisten zu bekämpfen,
wodurch sich jeder berechtigt glauben wird, ihn auf allerley Art be-
schränken zu müssen, jeder wird ihn in seine Bündnisse aufnehmen
und, wenn er sich nicht sehr tapfer hält, werden die Jahrbücher zu
nichts weiter, als zu einer theuern Ausgabe der Göttinger Anzeigen.
Auch um die Beendigung Ihrer Symbolik thut es mir leid, ich bin ge-
wiss, wir erhalten von Ihnen bald ein viel gelehrteres Werk in schönem
Latein, prächtig gedruckt, aber uns fehlte gerade ein Werk, in dem
Zeugnisse zur Pflege der deutschen Litteratur in den Heidelb. Jahrbüchern 209
sich Keontniss der Alten und unserer Sprache so vereinigt, wie Sie es
uns geben können, so dass die ganze Sinnesart ohne Zwischenträger von
Uebersetzern, Erklärern, unmittelbar zu uns übergeht. Geben Sie es
nicht auf, vielleicht wird es Ihnen darin eine Freude und Aufmunterung
in der Arbeit, sich dabej an die alten reinen deutschen Töne zu er-
innern, die Ihnen bald in den grausamen Gutturalen der Holländer
untergehen werden. Doch lassen Sie Sich durch mein Bedauern nur
von meinem Wunsche überzeugen, Sie so wiederzusehen in alten Ver-
hältnissen, wo ich Sie so lieb gewonnen, sonst lassen Sie Sich dadurch
nicht in Ihrem unternehmen einen Augenblick bedenklich machen. Das
Glück liegt in jedem Unternehmen, Luft und Erde und Wasser können
die Freude über ein gelungenes, über erfüllte Thätigkeit nicht ver-
nichten. — Ich wünsche Ihnen Gesundheit und Ihrer werthen Frau,
die ich herzlich begrüsse
Hochachtungsvoll
Achim Arnim.
Da Sie mir nichts über Hamanns Schriften schreiben, so vermuthe
ich, dass Sie dieselben vielleicht noch brauchen, in diesem Falle schicken
Sie sie mir noch nicht, sondern künftig — Leiden liegt ja nicht ausser
der Welt.
21. Friedrich Creuzer an Jacob Grimm.
Heidelberg, d. 2. Mai 1809.
Verzeihen Sie mir, mein verehrtester Herr und Freund, dass ich
Sie mit Besorgung dieses Pakets nach Göttingen belaste. Sie erweisen
mir durch baldige Weiterbeförderung einen grossen Dienst, worum ich
Sie ergebenst bitte. Halten Sie diese Freiheit, die ich mir nehme, der
Zerstreuung zu gut, in der ich eben mich befinde, da ich mich zum
Abzug rüste. Ich habe das Paket frankirt. Sollte Ihnen aber doch
eine Portoauslage dadurch verursacht werden, so bitte ich den Betrag
nur gelegentlich Hrn. Buchhändler Zimmer zu melden, der den Auftrag
hat, dergleichen auf meine Rechnung zu notiren. Es versteht sich von
selbst, dass Sie es von Cassel nach Göttingen weiter nicht frankiren.
Das Paket enthält, ausser der Probeschrift eines Mitglieds des hiesigen
philologischen Seminar, eine Schrift von Dr. Zimmermann aus Marburg,
welcher in Göttingen eine Anstellung sucht. Da er sich vorgenommen
hat, von Marburg aus, wohin er in diesen Tagen zurückgeht, Ihnen
selbst zu schreiben und seine Schrift zu übersenden, so unterlasse ich
jezt etwas Weiteres über seine Lage und Wünsche zu sagen. Er wird
14*
210 Reinhold Steig
Sie selbst bitten, seiner in Gassei bestens zu gedenken. Die Aussiebten
in Marburg sind jezt gar zu eng, und hier ist gegenwärtig eine grosse
Ueberzahl an Docenten.
Die Abhandlung Ihres Hrn. Bruders in den Studien ist nun abge-
druckt. Schade, dass das Stück noch nicht ausgegeben werden kann,
sonst hätte ich Ihnen ein Exemplar beigelegt. Ich werde aber durch
Zimnoiermann eins von Marburg aus besorgen. Die inhaltsreiche Recen-
sion von Ihnen beiden^) wird nun bald in den Jahrbüchern, freilich in
einigen Absätzen erscheinen. Dem Hrn. Prof. Böckh, meinem Nach-
folger im Amt und in diesem Zweig der Redaction,* habe ich bereits
vor einiger Zeit die sämtlichen Papiere gegeben.
Wegen Ihres Hrn. Bruders in München ^) können Sie sich beruhigen.
Es sind gute Nachrichten von dorten hier.
Sehr freue ich mich auf den Fortgang Ihrer Untersuchungen in
unserer alten vaterländischen Literatur. Sollte mir, auf meiner Reise,
oder dorten etwas Wichtigscheinendes aufstossen, so werde ich Sie be-
nachrichtigen. Nur Schade, dass ich zu sehr Laie bin. In Darmstadt
beschäftigt sich ein Eirchenrath Wagner mit einem Zweig derselben.
Ich weis nicht ob Sie Grund finden, etwas auf seine Arbeiten zu halten.
Freund Görres ist recht munter in Coblenz, und beschäftigt sich jezt
mit physikalischen Versuchen, lieber das Licht dürfen wir etwas von
ihm erwarten. Doch noch früher über die Mythengeschichte
(Fortsetzung dessen, was von ihm in den Studien stand).
Zunächst werde ich auf einige Zeit nach Darmstadt gehen. Em-
pfehlen Sie mich Ihrem Hrn. Bruder. Ich beharre hochachtend
Ihr ergebenster
Fr. Creuzer.
(4 Nach- und Randschriften:) Meine Adresse ist: Prof. Creuzer
abzugeben bei Buchhändler Leske in Darmstadt.
Meine lezten Briefe haben Sie ho£fentlich durch Hrn. Zimmer
erhalten.
Herr Buchhändler Zimmer wird auf seiner Rückreise von Leipzig,
wo er auf der Messe ist, vermuthlich durch Cassel kommen, und nicht
verfehlen, Sie und Ihren Herrn Bruder zu besuchen.
ich mache Sie aufmerksam auf A. W. Schlegels Vorlesungen über
die dramatische Kunst und Literatur, die nächstens hier erscheinen
werden.
1) 8. oben auf S. 206 die Anmerkung 2.
2) Des Malers Ludwig Grimm (oben S. 193).
Zeugnisse zur Pflege der deutschen Litteratur in den Heidelb. Jahrbüchern 211
22. Carl Windiscbmann an August Böckh.
Aschaffenburg, d. 13. Mai 1809.
Lieber Freund!
. . Für Molitors Rezension sorge baldigst. Uebrigens sind mir
Deine Worte nicht gar tröstlich in Hinsicht meiner eignen Beiträge.
Dennoch schlage ich Dir vor, was auf beiliegendem Blätlein steht,
hoffend, dass Du dem Freunde künftig ein bequemes Pläzchen in den
Jahrbüchern bereiten wirst.
. . Sag doch Loos, Okens Lehrbuch eines Systems der Natur-
philosophie möge er mir überlassen.^)
Ewig Dein Windischmann.
23. August Böckh an Wilhelm Grimm.
Heidelberg, den 29. May i809.
An Herrn Carl Wilhelm Grimm in Cassel.
Ew, Wohlgeboren werden hierdurch ersucht, von den unten ver-
zeichneten Schriften eine Beurtheilung in die Heidelberger Jahrbücher
der Literatur zu liefern. Im Fall, dass Ew. Wohlgeboren eine oder
die andere Schrift nicht übernehmen sollten, erbitten wir uns den Ge-
setzen des Instituts gemäss, eine baldgefällige Antwort.
Die Redaction der Heidelbei^ger Jahrbücher
der Literatur.^)
Für Philologie, Historie, schöne
Litteratur und Kunst.
Aug. Böckh, Prof.
Dr. J. Gust. Büsching und Dr. Fr. Heinr. von der Hagen
Buch der Liebe. 1 B. 8. Berlin Hitzig.
Museum für altdeutsche Litteratur und Kunst. Herausg. von
Dr. J. H. von der Hagen, B. J. Docen und Dr. J. G.
Büsching 1 B. m. K. Berlin Unger.^)
Ein von Ew. Wohlgeboren selbst übernommener französ.
Fabliau.
1) Das ^beiliegende Blättlein* nicht erhalten; die Rezension über Oken in der
Abteilung für Theologie, Philosophie etc. 1810 S. 97 anonym.
2) Böckh benutzt zu diesem Briefe ein Redaktion sformular, in dem das oben
curaiv Wiedergegebene vorgedruckt war, das Übrige handschriftlich vom Redakteur
oder vom Sekretär ausgefüUt wurde. Die S. 212 folgende ^Nachschrift** Böckhs be-
findet sich auf der inneren Seite des Formulars.
3) Über das «Buch der Liebe** siehe unten zu Brief Nr. 54. Das „Museum*
besprach Jacob Grimm: 1811 S. 145 (Kleinere Schriften 6, 16).
212 Reinhold Steig
Nachschrift.
Ew. Wohlgeboren habe ich die Ehre vorstehende Schriften zur Be-
urtheilung anzutragen, da mir nach Hrn. Creuzers Abgang die Uedaction
dieses Theiles unserer Jahrbücher rait Hrn. Prof. Wilken gemeinschaft-
lich äbertragen worden ist.
Ihre Recensionen, welche noch in unsern Händen sind, werden wir
sobald als möglich befördern. Sie würden längst abgedruckt worden
seyn, da wir von ihrer TreflFlichkeit überzeugt sind, wenn die Länge
derselben nicht ein Hinderniss in den Weg legte, indem wir nicht zu
oft abbrechen mögen, und doch einige Mannigfaltigkeit nothwendig ist.
Die Redaction hofft und wünscht, dass Sie uns ferner wie bisher
mit Ihrer eifrigen Theilnahme beehren mögen. In Erwartung einer
baldigen gütigsten Antwort habe ich die Ehre mich Ihnen zu em-
pfehlen. Mit aller Hochachtung bin ich
Ew. Wohlgeboren gehorsamer Diener
Böckh.
24. Jean Paul an August Böckh.
Bayreuth, d. 31. Mai 1809.
Meine Theilnahme an den Heidelberger Jahrbüchern belohnt mich
reich durch die Verbindung und Bekanntschaft^ in welche sie mich mit
so vielen hochgeachteten Gelehrten setzt. Ihr Brief gehört unter diese
Belohnungen.
Sehr gern streich' ich den Namen Schlegel aus der Recension.
Nicht einmal meinen Feinden mag ich weher thun als es literarisch
nothwendig ist; geschweige einem Manne wie Schlegel, dessen seltenen
Kunstgeist ich so achte und den ich persönlich kenne. *) — So wie ich
1) Briefe Jean Pauls an Zimmer (Zimmer S. 299) streifen seine Verbindung
mit Crenzer; vgl. auch unten zu Brief Nr. 59. Bereits am 1. Februar 1808 konnte
Görres (8, 80) ihm für die Zusage seiner Mitarbeit danken und ihm Herders Schriften
und die Corinne der Frau v. Stael antragen: eine Anzeige der letzteren von Jean
Paul ist noch im Jahrgang 1808 S. 322 erschienen. Wahrscheinlich hat Böckh eine
ungünstige Erw&hnnng Schlegels aus dem zweiten Absatz der Rezension von Pellegrins
(Fouques) Roman Alwin weggestrichen, die 1809. 2, 49 im zehnten Hefte der Jahr-
bücher erschien. Jean Paul beginnt mit dem Preise von Goethes Meister, wendet
sich dann aber gegen die ihn nachahmende «neuere Dichterschule'' und sagt: „Bei
Werner, Ast, dem Verfasser der Niobe u. s. w. vererzet sich oft das wahre poetische
Gold-Geäder in rauhes, graues, unförmliches Gestein.** Wahrscheinlich war hier
Schlegel mitgenannt; der typographische Zustand der Stelle zeigt, dass aus den Zeilen
etwas herausgenommen ist; vgl. unten Nr. 31. Schlegels „Kunstgeist" vorher von
Jean Paul in der Rezension von Gottfr. Kömers Aesthetischen Ansichten (1809. 2, 100)
mit demselben Worte gerühmt. — Jean Paul hat seine Heidelberger Rezensionen
1826 in der „Kleinen Bücherschau" (Hempel 52. 53) herausgegeben.
Zeugnisse zur Pflege der deutschen Litteratur in den Heidelb. JahrbQchem 213
aber gerechten Tadel über mich nicht verzeihend aufnehme, sondern
dankend: so setz' ich freilich dieselbe Aufnahme meiner wolwoUenden
Rügen zu leicht bei andern voraus.
1) Baggesen Wallers Briefe und 2) Delbrück über die Dichtkunst
will ich gern beurtheilen, wenn ich sie — habe. ') Leider find' ich bei
dem hiesigen Buchhändler nicht viel mehr Neuigkeiten als etwan den
— Messkatalog. Leben Sie wol! Ich grüsse meine Freunde.
Ihr
Jean Paul Fr. Richter.
25. August Böckh an Achim von Arnim.
Heidelberg, den 14. Juni 1809.
(Redactionsformular; die , unten verzeichneten Schriften*', deren
Beurtheilung gewünscht wird, sind:)
E. Wagner, Reisen aus der Fremde in die Heimath. 2. B.
Tübingen, Cotta. *)
Fr. Schlegels sämtl. Werke 1. B. Berlin, Hitzig,')
V. Steigentesch, Lustspiele 1. und 2. B. Wien, Geistinger.
Derselbe, die Gelehrsamkeit der Liebe, München 1809. 8.
(Auf einer inneren Seite des Formulars:)
Lieber, verehrter Freund,
Sie werden wissen, dass Creuzer leider von hier fort ist, dass ein
ganz anderes Wesen dadurch hier entstanden, alle unsere schönen Ge-
sellschaften und Unterhaltungen sich in langweilige Essgesellschaften
aufgelöst haben ; dass unser Heft der Jahrbücher nun auf Wilken und
mich — versteht sich die Recensenten ausgenommen — allein beruht,
und was dergleichen mehr ist, was Sie noch ausserdem wissen werden.
Da ich nun nicht zweifle, dass Sie uns wohl auch ferner Ihre Beyträge
zu den Jahrbüchern schenken werden, so habe ich Ihnen vorstehende
Bücher antragen wollen, und bitte Sie, uns zu schreiben, was davon,
und ausserdem, was sonst noch, Sie wohl übernehmen möchten.
1) Rezension von „Delbrück, Ein Gastmahl. Gespräche über Poesie^ im Jahr-
gang 1809. 2, 241; im Register: Von F. R. J. P.
2) Früher geschriebene Rezensionen Arnims über drei Werke Ernst Wagners
im Jahrgang 1809. 1, 169; im Register: Von 77. <T.
3) Die Rezension von Schlegels Werken sandte Arnim an Zimmer (Zimmer
S. 150) schon am 19. JuU; sie ist im Jahrgang 1810. 1, 145 gedruckt, im Register:
Von 71 — g. Einen ähnlichen Eingriff Böckhs, wie vorstehend bei Jean Paul, be-
zeugt unten der Brief Nr. 53.
214 Reinhold Steig
Was wir noch von Ihnen haben, wird bald abgedruckt seyn. Mit
dem Baum sind wir eben immer in der Enge. Darum bleibt auch die
Fortsetzung der Becension des Wunderhornes so lange aus. ')
Werden Sie uns hier nie wieder heimsuchen? Wenn Sie wieder
kommen, so werden Sie mich wahrscheinlich, wie die Leute sagen, in
einem andern Stande finden. Ich habe nehmlich die „nüdliche* Göttin-
gerin Dorette Wagemann, die Sie mir einmahl auf dem Balle zeigten,
zur Braut, und werde in einem Vierteljahre nach ihrer Vaterstadt rei-
sen, um sie mir zur Frau zu holen.
Ich erwarte von Ihnen bald einige freundliche Worte. Wenn Sie
Wolf, Schleiermacher, Spalding oder sonst einen meiner Bekannten in
Berlin sprechen, so bitte ich Sie mich ihnen zu empfehlen. Leben
Sie recht wohl. Der Ihrige
Böckh.«)
26. Johann Georg Zimmer an Achim von Arnim.
Heidelberg, den 17tenJuny 1809.
Mein werthester Freund!
In Leipzig habe ich durch Reimer Ihren Brief vom 22ten Aprill
erhalten und Ihnen durch denselben den Goldfaden gesandt. ^) Hoffentlich
wird die neue Redaktion die alten Aufträge nicht zurücknehmen wollen
und darum erfreuen Sie uns recht bald mit Ihrer Anzeige desselben.
Zum Zeichen, wie erfreulich uns allen Ihre Beyträge sind, bittet Sie
Böckh in der Anlage einiges neue zu übernehmen und zu wählen was
Sie ausserdem noch anzuzeigen wünschen. Ich sende Ihnen den Brief
mit der reitenden Post und ein Packet von Ernst Wagner, das wahr-
scheinlich den 2ten Theil seiner Reise in die Heimath enthält, mit dem
Fuhr-Ballen nach. ^) Diesen Mann haben Sie durch Ihre Recension
sehr entzückt, worüber er sich ausgelassen gegen mich auslässt. Das
Bild folgt dann ebenfalls mit vielem Danke zurück.
Wegen der altdeutschen Bühne bin ich mit Ihrem Vorschlag ganz
einverstanden. Kommen bessere Zeiten und Sie haben es noch keinem
übergeben, dann drucke ich es mit Lust. ^)
1) Sie kam erst 1810 nach; aus welchen Gründen, sieh Neue Heidelberger
Jahrbücher 1901. 10, 127 und unten die Briefe Nr. 64. 66. 73.
2) Auf der Adresse die Bemerkung: „Mit Gelegenheit**; der Brief war Ein-
lage zu dem folgenden Zimmers an Arnim.
3) Dieser Brief Arnims findet sich nicht in Zimmers Buche.
4) Den diesem Packete einliegenden Dankbrief Ernst Wagners an Arnim, vom
6. Mai 1809, teilte ich in der Zeitschrift für deutsche Philologie 1896. 29, i'09 mit.
5) Von Arnim war eine »Alte deutsche Bahne*" schon 1808 im VI. Intelligenz-
blatt der Heidelberger Jahrbücher angekündigt worden.
Zeugnisse zur Pflege der deutschen Litteratur in den Ueidelb. Jahrbüchern 215
Creuzer hat einige sehr unangenehme Wochen in Darmstadt zuge-
bracht. Es waren ihm, ehe er sein Bestaliungs-Diplom erhalten hatte,
hässliche Kabalen in Holland gespielt worden, die aber jetzt zu seiner
Ehre niedergesclilagen sind. Er reisst in wenig Tagen dahin ab. Von
Brentano und Hrn. v. Savigny habe ich noch gar nichts gehört. Grössen
Sie Reimer. Meine Frau empfiehlt sich Ihnen bestens. Mein Knabe
ist ganz herrlich. Leben -Sie recht wohl !
Ihr J. 6. Zimmer.
27. Karl Justi an August Böckh.
Marburg, den 20. Juni 1809.
Wohlgeborner
Hochzuverehrender Herr !
Es macht mir ausserordentliches Vergnügen, mit einem Manne in
Verbindung zu treten, der seine Laufbahn so ruhmvoll begann, und
den ich längst hochschätzte! Noch vor einiger Zeit, als ich das Gluck
hatte, Ihren wackern Freund Prof. Schulz von Halle *) hier bei mir zu
sehen, wurde Ihrer öfter mit Theilnahme in unserm Zirkel erwähnt.
Sehr gerne werde ich die mir aufgetragenen Bücher zum Bezen-
siren übernehmen. Schon längst sandte ich eine Anzeige des 3. Bandes
von Jördens Lexikon etc. ein, die noch nicht abgedruckt ist. ^) Jördens
Werk habe ich selbst; bloss den 3. Band habe ich von Hrn. Zimmer
erhalten, die 2 ersten aber wieder durch Hrn. Krieger zurückgeschickt,
durch ein Versehen hat jedoch Hr. Zimmer auch diese auf die mir
zugeschickte Note gesetzt. Mit Vergnügen werde ich bisweilen ein Buch,
das ich besonders studirt habe, anzeigen, und desfalls bei Ihnen vorher
anfragen.
Da ich jetzt mit der zweiten Auflage meiner Gedichte beschäftigt
bin, so wäre mir*s sehr angenehm, wenn die Anzeige davon in den
Heidelberger Jahrbüchern recht bald erschiene, um darauf Uücksicht
zu nehmen und von Erinnerungen, die ich für begründet halte, Gebrauch
zu machen. Ueber Gedichte muss man sich oft die sonderbarsten Dinge
sagen lassen, und selten fasst ein Rezensent die ganze Individualität
eines Gedichts gehörig auf. Die herrlichste, in einer klassischen Sprache
verfasste und für mich höchst aufmunternde Beurtheilung meiner Ge-
1) Wohl David Schulz, vgl. Max Hoffmann, August Böckh (Leipzig 1901)
S. 9. 11 und sonst.
2) Erschien in Jahrgang 1810. 1, 189; im Register: Von Ki.
216 Reinhold Steig
dichte hat Joh. von Muller in einem Briefe an mich gegeben. Schade,
dass das viele Lob, welches dieser reiche Brief enthält, es unmöglich
macht, ihn drucken zu lassen!
* Nächstens werde ich Ihnen mit meinen , Blumen althebräischer
Dichtkunst** aufwarten, wofür sich J. v. Müller so warm interessirte.
Oft musste ich ihm Bruchstücke daraus mittheilen. Es ist mir schmerz-
lich, dass er die Erscheinung des Ganzen nicht erlebt hat! Wachler
und Kommel lassen Gedächtnisreden auf ihn drucken.^)
Mein lieber, alter Freund Creuzer ist jetzt bei uns. Morgen oder
übermorgen reist er ab, und meine herzlichsten Wünsche begleiten ihn !
Er empfiehlt sich Ihnen bestens. Die Herren Daub und Eries bitte ich
angelegentlichst zu grüssen.
Leben Sie wohl! Mit innigster Hochachtung und Verehrung habe
ich die Ehre, zu sein
Euer Wohlgeboren gehors. Dr.
Justi.
28. Ernst Wagner an August Böckh.
Meiningen den 4. Juli 1809.
Der verehrungswürdigen Uedaction meinen innigsten Dank für Ihre
freundliche Einladung zur Theilnahme an den Heidelberger Jahrbüchern
der Literatur! Und gewiss, wenn ich mir je gewünscht, Mitgenosse
eines Kritischen Instituts zu seyn, so würden meine Wünsche auf dieses
trefflichste von allen, die ich kenne, gerichtet seyn.
Doch ist mein Leben durch langjährige Kränklichkeit des grössten
Theils seiner Kraft beraubt, und ich werde bey einem so herrlichen
Concerte nur als ein schwaches Stimmlein tönen. Indessen soll mich
auch diess nicht abhalten. Weniges zu würken, so lang es noch Tag ist.
Mit Vergnügen übernehme ich die mir aufgetragenen beyden Werke
Fesslers J. A. Nachtwächter Benedict. Berlin. Maurer, und
Der Wintergarten. Novellen von L. A. v. Arnim. Berlin.
Realschulb. ^)
F. M. Klingers Werke Th. 8, 9, 11 und 12 betreffend, so bitte ich
diess ablehnen zu dürfen, da es mir für jetzt zu bändereich ist, und
1) VT achlers, Rommels und Windischmanns Gedächtnisreden auf Johannes von
Müller sind im Jahrgang 1813 S. 65 von F. W. (Friedrich Wilken) angezeigt.
2) Die Rezensionen beider Werke stehen im Jahrgang 1809. 2, 164 und 2, 145;
sie sind im Register mit D. A. £. gezeichnet, während dies selbe Zeichen zu gleicher
Zeit auch noch Heinrich Voss hat. Darüber ist im Euphorion 1902. 9, 204 ge-
sprochen.
ZeugDiBse zur Pflege der deutschen Litteratur in den Heidelb. Jahrbüchern 217
ich mich vor einiger Zeit schon einmal habe durcharbeiten müssen,
einem Freunde zu Liebe.
J. E. Wagner.
29. Karl Justi an August Böckh.
Marburg, den 4. Juli 1809.
Hochgeehrter Herr und Freund!
In meinem letzten, durch Hrn. Dr. Zimmermann besorgten Brief-
chen erwähnte ich eine neue Schrift von mir, die nun erschienen ist,
und die ich Euer Wohlgeboren zu überreichen die Ehre habe. Möge
diese Frucht reinen Sinnes für orientalische Poesie und sorgfältigen
Studiums Ihres Beifalls nicht unwerth seyn ! ') Haben Sie die Güte, für
eine baldige Anzeige in Ihren schätzbaren Jahrbüchern zu sorgen. Ein
Rezensent mit poetischem Geiste wird hier der kompetenteste Richter
seyn. Bücher, die hebräische Literatur betreffend, bedürfen der Em-
pfehlung, wenn sie unter das Publikum kommen sollen.
Ihren würdigen Hrn. Kollegen Da üb, Schwarz und de Wette
bitte ich mich angelegentlich zu empfehlen, und versichert zu seyn,
dass ich mit ausgezeichnetster Hochachtung sey
Euer Wohlgeboren
ganz ergebenster
Justi.
30. Achim von Arnim an August Böckh.
Berlin, d. 5. July 1809.
Sehr geehrter Freund! Fast zu gleicher Zeit kam mir Ihre freund-
schaftliche Aufforderung') und Ihre Anzeige gegen die divina comoedia
in die Hand, für beydes sage ich Ihnen meinen Dank, denn mir hat
beydes viel Freude gemacht. Die lächerlichen Winkelzüge in der
Vossischen Antwort könnten Sie sehr schön einleuchtend machen, wenn
Sie Ihre erste Anzeige ruhig noch einmal mit der Beyfügung abdrucken
Hessen : nach dem Rathe des Recensenten von allen Schreib und Sprach-
1) Sieh unten Brief Nr. 60.
2) Oben S. 213 Brief Nr. 25.
218 Reiuhold Steig
fehlem gereinigt, zweyte verbesserte aber unveränderte Auflage.^) Von
denen verschiednen Aufträgen, die ich theils noch von Creuzer, theiis
von Ihnen habe, holte ich eine Anzeige des Goldfadens, Schillers und
Fr. Schlegels bald zu liefern, haben die andern grosse Eile, so über-
nimmt es wohl ein andrer, etwas von Steigentesch möchte ich indessen
auch gern auch noch annehmen, weil der Mann mir sehr werth ist. Ich
sende Ihnen die Recension des Sigurd, zu der ich mir den Grimm zu
Hülfe nahm wegen seiner vertraulichen Bekanntschaft mit den alten
Sagen, er repräsentirt im Anfange das gelehrte Urtheil und ich am
Schlüsse das ungelehrte, da es gemeinschaftlich, so bitte ich keinen
Namen oder Zeichen beyzufügen. *) — Ist Ihnen mein Wintergarten vor-
1) In der Jenaischen Litteratur-Zeitung 1809 Nr. 18 war über die aus der
VosBiscben Umgebung stammende Comoedia divina eine die Angriffe gegen die
Heidelberger verschärfende anonyme Rezension erschienen, für deren Verfasser man
den alten Voss hielt. Am Schlüsse war die Anspielung gemacht: „dass Calvin
den Servet braten Hess, war. nach dem Ausspruch eines berühmten protestantischen
Lehrers der Kirchengeschichte, die höchste Religiosität." Ein Heidelberger Theologe
sollte getroffen werden. Dagegen erliess August Böckh, im Intelligenz-Blatt der
Jen. Litt.-Zeituug Nr. 36 vom 13. Mai 1809, mit seines Namens Unterschrift und dem
Datum Heidelberg 13. März 1809, eine abwehrende „Bemerkung über den Schluss
der Recension der sogenannten Comoedia divina in der Jen. A. L. Z. 1809 Nr. 18
S. 143". Worauf die Antwort des Rezensenten der Comoedia divina, in Nr. 43 des
Jen. Intelligenz-Blattes vom 14. Juni 1809, ohne sachliche Polemik an Böckhs Stil
herummäkelte. Diese Schriftstücke lagen Arnim vor, als er seinen obigen Brief an
Böckh schrieb. Ein halb Jahr später, in Nr. 79 desselben Intelligenz-Blattes, wurde
die formelle Erklärung abgegeben, dass „Professor Voss** weder die Rezension der
Comoedia divina, noch die Erwiderung gegen Böckh geschrieben habe. Offenbar war
diese Erklärung dem jüngeren Voss, auf den sich wohl auch der Verdacht gelenkt
hatte, durch sein amtliches Verhältnis zu Böckh abgenötigt worden.
2) Als Arnim diese von Wilhelm Grimm verfasste, von ihm selber mit einem
Schlusssatze versehene Rezension von Fouques Sigurd an Böckh sandte (Näheres
künftig darüber im Briefwechsel zwischen Arnim und den Brüdern Grimm), konnte
er nicht wissen, dass bereits Jean Paul ihm zuvorgekonunen war. In Jean Pauls
Nachlass auf der Königl. Bibliothek zu Berlin existiert kein das Zustandekommen
dieser Rezension betreifendes Dokument. Dagegen meldet Bernhardi aus Berlin,
9. Februar 1809, seinem Freunde Fouquc nach Nennhausen (1848, S. 25), er sei auf
seiner Reise bei Jean Paul in Bayreuth gewesen: „Er wünschte sehr, Dich persön-
lich kennen zu lernen, nachdem ich ihm viel von Dir erzählt hatte, und da wünschte
er den Alwin und Sigurd zu lesen.** Daraufhin knüpfte Fouqu6 mit Jean Paul an,
dessen Rezension beider Werke in den Heidelberger Jahrbüchern 1809. 2, 49 an
der Spitze des zehnten Heftes steht. Unmittelbar dahinter, gleich im elften Hefte
(1809. 2, 121), erscheint nun Arnims und W. Grimms Rezension, mit folgender An-
merkung der Redaktion (d. i. Böckhs): „Schon im vorigen H. 10 S. 52—55 hat ein
Mitarbeiter unseres Instituts als Anhang zu der Beurtheilung von des Verf. Alwin
seine Stimme über den Sigurd vernehmen lassen, und wir haben geglaubt, dem
Publikum die Worte dieses Schriftstellers, der unter die grössten Zierden unserer
Literatur gehört, nicht vorenthalten zu dürfen. Die gegenwärtige, ausführlichere
Zeugnisse zur Pflege der deutschen Litteratur in den Heidelb. Jahrbüchern 21 d
gekommen ? Vielleicht gefällt Ihnen einiges daraus, Sie können ihn bey
Wilken finden, dem ich ihn geschickt, ich bitte ihn und seine Frau
freundlichst zu grüssen. — Dass Brentano von seiner Frau getrennt ist,
werden Sie wissen, sie wohnt bey Marburg auf dem Lande, er bleibt
noch in Landshut, mich hält der Krieg, sonst wäre ich längst dort ein-
getroffen. — Mein Glückwunsch zu Ihrer Ehe, Ihre Braut hat mir sehr
Wohlgefallen, so selten ich sie gesehen, die Göttinger Damen sind über-
haupt nach meiner Beobachtung häuslicher, wirthlicher und freundlicher,
als die Pfälzerinnen. Herzlich
Achim Arnim.
31. Jean Paul an August Böckh.
Bayreuth, d. 19. Juli 1809.
Verehrtester Herr Professor! Den 31. Mai hab ich Ihr gütiges
Schreiben beantwortet.^) Da ich nun die beiden zum Rezensieren ge-
wählten Werke von der Buchhandlung noch nicht erhalten — Baggesen
Wallers Briefe und Delbrücks Gastmal etc. ~ so vermuth' ich, dass
mein Brief, da der Krieg alles, also auch Briefe nimmt, nicht ange-
kommen. Ich wiederhole ihn gern, da mir soviel an der Erfüllung
Ihres Wunsches liegt, dass der Name Schlegel aus der Rezension
weggelassen werde. Er kam ohne bittere Beziehung hinein, da ich ihn
als Kritiker und jetzt besonders als Mensch sehr achte und wir längst
einander persönlich in Weimar liebgewonnen. Leben Sie wol! Was
vielleicht jetzt leichter wird, da der Friede mit seiner Morgenröthe
heraufdämmert.
Ihr
Jean Paul Fr. Richter.
Rezension, welche im vorigen Hefte keinen Raum mehr finden konnte, wird darum
nicht unnütz scheinen, sondern beyde werden neben einander gelesen werden können.
Die letztere rührt von zwey Verfassern her, welche ihre Ideen ineinander gearbeitet
haben.** Dies letztere, wie Böckh gutgläubig Arnims Mitteilung formulierte, ist nicht
richtig; Grimm und Arnim kommen sich innerhalb der Rezension nicht ins Gehege,
ein Zusammenarbeiten der Ideen hat nicht stattgefunden. Das grosse Lob, das Böckh
hier Jean Paul spendet, stimmt sachlich zu der litterarischen Ausn ahmesteil ang, die
ihm innerhalb der Heidelberger Jahrbücher, insbesondere 1811 von Görres, einge-
räumt wurde und der Schätzung Jean Pauls seitens der Romantiker allgemein ent-
sprach.
1) Sieh oben S. 212 Brief Nr. 24.
220 Heinhold Steig
32. Carl Windischmann an August Böckh.
Aschaffenburg [ohne Datum].
Euer Wohlgebohrn
haben mir gütigst die Rezensionen von Adam Müller, Görres ^) und Her-
mann von Lehoin übertragen — das wolte ich Dir, mein lieber Böckh,
nur melden und zugleich einmal recht bitterlich klagen, dass es mir
nicht vergönnt ist Dich zu sehen. . . Wenn Creuzer noch da ist, so
wünsch ihm in meinem Namen glückliche Beisse. Jene Bücher aber:
Adam Müller und Hermann von Lehnin schicke mir mit nächster Ge-
legenheit (eine andre Ausgabe des lezten hab ich hier : ich nehme noch
einige Prophezeihungen hinzu und werde etwas über das Prophezeien
im allgemeinen reden).
Wir grüssen Dich von Herzen. Sobald ich so viel Geld bekomme,
als ich Lust habe Dich zu sehn, komme ich zu Dir.
Dein Windischmann.
33. Carl Windischmann an August Böckh.
Aschaffenburg, d. 22. Juli 1809.
Lieber !
. . Auch bitte ich Dich, Freund Daub zu sagen (aber gewiss), er
möge mir doch den 7 ten Band von Tennemann's Geschichte der Philo-
sophie') nebst den andern recensendis zuschicken, damit ich nicht auf-
gehalten bin: ich habe nur 6 Bände. Die Rezension von Adam Müller
freut mich sehr.
Wir grüssen Dich schönstens.
Dein Windischmann.
34. August Böckh an Achim von Arnim.
Heidelberg, den 25. July 1809.
(Redactionsformular ; die „unten verzeichneten Schriften", deren
Beurtheilung gewünscht wird, sind:)
1) Die Rezensionen von Adam MüHers Idee der Schönheit und von Göires'
Mythengescbichte ; die Rezension des ersteren Werkes verzögerte sich (worüber
unten näheres); die der Mythengcschichle steht in den Heidelberger JahrbQcbern
1810 (-2, 113), im Register: ,Von W— d."; vgl. Görres-Briefe 8, 225. 233.
2) Anzeige von Tennemanns Geschichte für Philosophie in der Abteilung für
Theologie, Philosophie etc. 1810. 1, 57; im Register: „Von — d — ".
Zeugnisse zar Pflege der deutschen Litteratur in den Heidelb. Jahrbüchern 221
E. Lappe, Miranda ein historisches Gedicht in 3 Gesängen.
(Rostock Stiller in Conamission.)
Sarrazins Bomanzen und Erzählungen. Bremen, Heyse.
Jean Paul, des Feldpredigers Schmelzlo Beise nach Flätz mit
fortgehenden Noten, nebst der Beichte des Teufels bey
einem Staatsmanne. Tübingen, Cotta 1809.
Gräters lyrische Gedichte nebst einigen vermischten Inhalts.
Heidelberg, Mohr und Zimmer.
Aug. Böckh, Prof.
35. Johann Georg Zimmer an Achim von Arnim.
Heidelberg, d. 30ten July 1809.
Lieber Arnim! Ihre beyden Briefe vom 5ten und 19ten Jnly habe
ich erhalten und die Einlagen beyder an Böckh abgeliefert.^)
Beimer hatte mir in Leipzig allerdings einige Packete von Ihnen
zur Besorgung übergeben,^) aus dem Trouble der Messe kann ich mich
nicht mehr erinnern, an wen, nur war eins an Fr. v. Stael dabey, das
ich erst vor kurzem mit einem andern Packet an A. W. Schlegel nach
Copet gesandt habe. Alles für von Savigny bestimmte wird in Frank-
furt im Brentanoischen Hause abgegeben und so ist es ohnfehlbar auch
mit dem überlieferten Packet gehalten worden, so wie das an Görres
ohne Zweifel an die Buchhandlung von Pauli & Co beygeschlossen seyn
wird. Es ist mir ausserordentlich leid, dass ich Ihnen nicht nähere
Aufschlüsse darüber geben kann und besonders dass das Packet nach
Landshut noch nicht angekommen ist. — Görres* Buch hat ein unglück-
liches Schicksal. Er hat jetzt erst den G^n Bogen zur Correktur. Den
5ten hat er viermal gehabt. Er und ich und Setzer und Drucker werden
noch toll darüber werden. Engelmann hat wohl die meiste Schuld ; aber
bey dem entsetzlichen Manuscript ist es ihm nur halb zu verdenken,
dass er nicht eifriger ist.
Von Nehrlich habe ich keine Nachricht, aber ich weiss durch
Winter, dass er das Geld erhalten hat. Wunderhorn und Bogs hat
1) Der Brief yom 5. Juli 1809 fehlt im Buche über Zimmer, der vom 19. Juli
hat daselbst (S. 151) das unrichtige Datum des 29. JuU, das auch oben S. 204 An-
merkung 2 zu lesen ist. Die Einlage des zweiten Briefes waren Arnims Rezen-
sionen von Friedrich Schlegels Gedichten (oben S. 213) und von Brentanos Gold-
faden (oben S. 204 und unten Brief Kr. 54) ; Arnim vermisst den Abdruck seiner
Anzeige von Jung-Stillings Geistertheorie in Daubs Abteilung (unten Brief Nr. 54).
2) Die Packete enthielten den Wintergarten, der zu Arnims Yerdruss erst spät
in die Hftnde seiner Freunde gelangte.
222 Reinhold Steig
Reimer sich nicht ausliefern lassen. Ich werde sie Ihnen mit nächster
Gelegenheit senden.
Creuzer hatte noch kein eigentliches BerufungsPatent vom König
erhalten, sondern nur einen Brief des Ministers. Der König hatte ihn
ohne Zustimmung der üniversitätsCuratel berufen und diese einen andern
Professor, einen Inländer, vorgeschlagen, um diesen zu gewinnen hatte
man Creuzer verläumdet und ihn der Irreligiosität und Gott weis wessen
alles beschuldigt; man glaubte anfänglich hier es seyen Fuchsschwänze
dazwischen, aber es war nicht wahr. Durch das kräftige Dazwischen-
treten einiger Freunde wurden jene Yerläumdungen bald niedergeschlagen
und Creuzer ist eine sehr ruhmvolle Existenz dorten gewiss.
Unser Knabe wird bald laufen. Sie sollten ihn einmal sehen, wie
lieblich er ist.
Ihr tr. Zimmer.
(Nachschrift:) IcK sende Ihnen zugleich Honorarberechnung und
Anweisung auf Reimer.
36. Ernst Wagner an August Böckh.
Meiningen den 4. August 1809.
Ew. Wohlgeboren
habe ich die Ehre, anliegend die beyden zu fertigen übernommenen
kritischen Anzeigen über Arnims Wintergarten und Fesslers
Nachtwächter Benedict gehorsamst darzulegen, womit ich zu-
gleich das mir gütigst aufgegebne Pensum verrichtet habe. ^)
Zum Schluss die dringende Bitte an das verehrte Institut, meinen
eigentlichen Namen gefälligst niemals aus dem Incognito hervortreten
zu lassen, wenn nicht ich selbst Beweggründe finden sollte, diess zu
thun, woran ich aber zweifle, da mir nichts heiliger und werther ist,
als der Friede in jeder Rücksicht, der dadurch doch immer gestört
wird. In vollkommenster Verehrung
Ew. Wohlgeboren
ganz gehorsamster
J. E. Wagner
Hz«rl. S. ('abinetssecret'ir.
1) Vgl. oben S. 21«.
Zeugnisse zur Pflege der deutschen Litteratur in den Heidelb. Jahrbüchern 223
37. Karl Horstig an August Böckh.
Mildenberg 4. August 1809.
Ew. Wohlgebornen theilten mir unterm 17. Mai 1809 die dies-
jährigen Aufträge der Redaction der Heidelberger Jahrbücher mit, mit
namentlicher Angabe von
Füessli Sämmtl. W. in 8 Contourblättern
— allg. Künstlerlexikon
Gräter poet. u. pros. Schriften
Gruber poet. Anthologie etc.
Zimmer schreibt auf meine Nachfrage, er höre von der Redaktion, dass
bey derselben sich gar keine Notiz eines Auftrages dieser Werke vorfinde.^)
Haben Sie die Güte, diesen Irthum zu heben und Zimmer zugleich
aus nachfolgendem Verzeichnisse der Schriften, die ich aus dem Mess-
verzeichnisse gezogen habe, diejenigen anzustreichen, die Sie mir noch
zur Beurtheilung zukommen lassen wollen.^
Zimmer hat von mir seitdem 7 Rezensionen und unter diesen erst
zwey (Lorrey und Bernewitz) für Sie') empfangen. Er schreibt zugleich,
1) Karl Horstig gehört zu denen, die an den Heidelberger romantischen Be-
strebungen in einiger Entfernung teilnahmen. Seine Mitarbeit ist fast in jeder der
damaligen Zeitungen anzutreffen. lieber ihn teile ich eine ungedruckte Stelle aus
Grenzers Briefe an Böttiger vom 10. Januar 1807 mit. «Horstig und seine Frau**,
schreibt er, „treiben sich hier auch noch herum, welches buchstäblich von
ihnen gilt, da sie allenthalben sind, selbst oft wo man sie nicht gerne siehr, und
dies leztere ist jezt an vielen Orten hier der Fall, seitdem man weis, dass sie was
in Gesellschaften gesprochen wird wieder in Journalen drucken lassen, und über-
haupt jede Kleinigkeit von hier, in Flugschriften ausbreiten. (Ich habe neulich
selbst auf dieses vorlaute Paar angespielt, als ich in einem Programm, wo ich von
den neuen Schicksalen der Universität sprach, der male feriatorum hominum ge-
dachte, die von hier aus Alles ins Publicum brächten.) Dazu kommt noch ihre ans
cynische gränzende Lebensart und vernachlässigte Kinderbehandlung, welche ihnen
von einem hiesigen Satyricus den Namen honette Zigeuner zugezogen hat. Ue-
brigens halte ich ihn für einen sehr gutmüthigen braven Mann, und auch der Frau
kann man vielfache Talente und eine gewisse Aufrichtigkeit des Charakters nicht
absprechen." Im Schlussberichte seines Programms „Philos. vet. loci** 1806 S. 37
lobt Creuzer die naturae artisque bona Heidelbergs, die jeder kenne, und sagt: et si
quis ignoret, edoceri queat ephemeridibus, quibus nuper multi homines, partim
male feriati, in ' haue literarum universitatem depraedicandam certatim involarunt.
Horstig wurde von Anfang an zur Mitarbeit an den Jahrbüchern herangezogen
und hat eine ganze Reihe, übrigens ziemlich unbedeutender, Anzeigen mit und ohne
Namensandeutung geliefert. Ja, er erhielt sogar das Lob der von ihm rezensierten
Autoren (unten Brief Nr. 40).
2) Das beigelegte Verzeichnis enthält 36 Schriften litterarischen oder künst-
lerischen Inhalts.
3) d. h. für Ihre Abteilung. Die kurze Anzeige von Loreyes Rhetorik, ano-
nym im Text und Register, in 1809. 2, 336.
NRUR HRIDRLH. JAIIKBIIRCIIRR XI. |5
224 Reinhold Steig
dass er den Elopstock nicht in der Prachtausgabe habe und dass die
Anzeige davon unterbleiben müsse, wenn ich mir die Ansicht desselben
nicht selbst verschaffen könne. Machen Sie ihm den Vorschlag, ob er
ein doppeltes Honorar für Beurtheilung solcher Werke, die er nicht
anschaffen möge, bezahlen wolle. Ich würde mir alsdann Mühe geben,
sie aufzusuchen. Unter Versicherung meiner aufrichtigsten Hochachtung
und Ergebenheit nenne ich mich
Ihren Freund und Diener
Horstig.
38. Carl Windischmann an August Böckh.
Aschaffenburg, d. 14. August 1809.
Geliebter !
. . Lass doch ums Himmelswillen die Rezension von Vogt bald
abdrucken, man quält mich darum. In acht Tagen erhältst Du eine
kleine Anzeige eines drolligen Büchleins von mir, das mir mein Freund
Dr. Ehrmann in Frankfurt gegeben ; die lass sogleich einrücken . .
Ewig Dein Windischmann.
39. Carl Windischmann an August Böckh.
[Aschaffenburg, August 1809.]
Lieber Böckh!
Hier die Rezension, von der ich neulich sagte. Es ist ein Spass,
der eben darum nicht verzögert werden darf. Lass sie sogleich ab-
drucken.
Du lässt doch wieder keine Silbe von Dir hören. Durch Ehrmann
habe ich erfahren, dass Du gesund bist . .
Ewig Dein Windischmann.
40. Karl Justi an August Böckh.
Marburg, den 15. September 1809.
Hier, mein verehrtester Freund, erhalten Sie eine von den mir auf-
getragenen Rezensionen, die ich einstweilen voraus gehen lasse, weil sich
mir gerade eine Gelegenheit darbietet, den Brief einschliessen zu können.
Die andern sollen demnächst folgen ; die über die epigrammatische An-
Zeagnisse zur Pflege der deutschen Litteratur in den Heidelb. Jahrbüchern 225
thologie alsdann/) wenn ich die beiden letzten Bände (die so eben er-
schienen seyn sollen) werde erhalten haben. Ich werde sodann den Geist
des Ganzen bestimmter darzustellen suchen.
Unserm Freunde Creuzer gefällt es nicht sonderlich in Leyden ; das
steife, pedantische Leben konnte, wie ich voraus sah, seinen natürlichen
Sinn nicht wohl ansprechen. Auch muss es einem ächten Deutschen
wunderlich an einem Ort behagen, wo man nichts als holländisch, la-
teinisch und französisch spricht. Gegen Wyttenbach fing seine erste
Unterredung sogleich lateinisch an, obgleich Wyttenbach hier in Mar-
burg gebahren und erzogen ist.
Die Horstigsche Rezension meiner Gedichte habe ich mit Vergnfigen
gelesen,*) wenn ich gleich nicht in allen Punkten mit dem Verfasser
harroonire, so sind doch einige seiner Bemerkungen sehr gegründet.
Auch ist seine Sprache schön und geistvoll. Mir macht es überhaupt
viel Vergnügen, mancherlei Stimmen zu vernehmen. Unser Freund Schulz
zu Halle hat zur zweiten Auflage zwei treffliche Kompositionen geliefert.
Vielleicht wird diesem braven Mann jetzt durch Vaters') Abgang nach
Königsberg geholfen.
Ich wünsche recht sehr, dass meine Rezensionen bald abgedruckt
werden möchten, weil ich gern mit den Herrn Verlegern, wenn ich auch
den vorigen Jahrgang erhalten habe, abrechnen möchte.
Schenken Sie mir ferner Ihre Liebe und Gewogenheit!
Hochachtungsvoll
Der Ihrige
Justi.
41. August Böckh an Jacob Grimm.
Heidelberg, den 25. September 1809.
(Redactionsformular ; die „unten verzeichnete Schrift*, deren Be-
iirtheilung gewünscht wird, ist:)
Judith, Schauspiel von Heinr. v.Itzenloe, Hofpoet bey K. Rudolf IL
Aus einer alten Handschrift. Zürich, Orell & C. 1809.*)
Aug. Böckh, Prof.
1) Heidelb. Jahrbücher 1811. 8. 1132, im Register: Von Ki.
2) Heidelb. Jahrbücher 1809. 2, 55; im Register: Von — g.
3) Des Professors Vater.
4) Heidelb. Jahrbücher 1810. 1, 89; im Register: Von J. Gr. (Kleinere Schrif-
ten 6, 9) ; vgl. unten Briefe Nr. 46 und 68.
15*
226 Reinhold Steig
42. Carl Windischmann an August Böckh.
Ascbaffenburg, d. 28. September 1809.
Geliebter Freund!
. . ich höre, Greuzer kommt wieder an seine d. h. an Deine
Stelle zurück. Sage mir doch um aller Götter willen, wie sich das
verhält. Man wird Dich doch nicht zurücksezen? . .
Du erhälst nächstens die ßezension von Adam Müller. Andre
Arbeit quälte mich bisher zu sehr. Du könntest mir einen grossen
Gefallen erweissen, wenn Du mir die Geschichte einer Drusen-
familie und den Dabistan von unserm Hrn. v. Dalberg zur Re-
zension überliessest. ^) Dieser hatte beide Schriften schon längst an
Greuzer gesandt, der ihm auch baldigste Rezension zusagte. Bis izt
ist nichts gekommen. Da nun Dalberg gehört, dass ich Mitarbeiter
sey, so hat er mich angelegentlich gebeten, die Rezension zu über-
nehmen. Wenns also möglich ist und selbst wenn dieselbe schon über-
tragen wäre und manierlich wieder zurückgenommen werden könnte
wegen des langen Ausbleibens, so wäre ich sehr froh darum: Du be-
greifst wohl, dass mir dies in meiner hiesigen Lage von Bedeutung
seyn muss und dabei darf ich Dir auch sagen, dass vieleicht niemand
die Arbeit dieses wirklich liebenswürdigen Mannes so zu erkennen ver-
mag wie ich, der ich seine Eigenthümlichkeit ganz kenne. Den
Dabistan habe ich im Februar für Jena rezensirt. Dies hindert
nicht in der Rezension der Drusenfamilie auch darauf hinzudeuten
und denselben als einen Anhang dieser Schrift zu betrachten, was er
wirklich ist. Geht dies leztere nicht, so übernimmt Molitor recht gerne
den Dabistan. Schreibe sogleich hierüber. Vogts Ruinen am Rhein
bitte ich mir ebenfalls aus, dass Du sie keinem andern gibst . .
Dein Windischmann.
43. Johann Georg Zimmer an August Böckh.
(nach Göttingen)
Heidelberg, d. 3. October 1809.
Liebster Böckh!
Ich kann Dir jetzt schon „Glück zum heiligen Ehestände!^ zurufen,
denn bis es zu Dir tönt, sitzst Du ganz und gar drinn. Deinen Brief
1) Heidelb. JahrbQcher 1810. 1, 50; im Register: Von W— d.
2) Böckhs Hochzeit wurde am 4. Oktober 1809 in Göttingen gefeiert.
Zeugnisse zur Pflege der deutschen Litteratur in den Heidelb. Jahrbüchern 227
•
an Creuzer habe ich zurückgehalten, weil mir May es rieth und niemand
mir gewisses sagen konnte, was ich damit tbun sollte.
Kastner ist wirklich — n i ch t Ordinarius geworden ; aber Loos
und de Wette. Sonst nichts neues, als dass Wagner aus Würzburg
hier erwartet wird, der künftig hier privatisiren wird.
Angekommen ist nichts als Recensionen von Welker'), Jean Paul
und Horstig; kein Brief.
Ich habe zwar keine Braut und keine junge Frau, aber doch Eile.
Grüsse Deine junge Frau und Zimmermann und die seinige herzlich.
Dein Zimmer.
(Nachschrift:) de Wette ist verheurathet.
44. Carl Windischmann an August Böckh.
Aschaffenburg, d. 28. Oktober 1809.
Lieber Freund!
. . Solte dann mein Schreiben an Dich, das ich an Daub ein-
schloss, nicht an Dich gekommen seyn? Ich muss dringend seyn um
eine Erklärung über die Angelegenheit des Hrn. v. Dalberg, da dieser
mich gar sehr drängt . .
Dein Windischmann.
45. Johann Georg Zimmer an Achim von Arnim.
Heidelberg, d. 4ten November 1809.
Wie sehr muss ich Sie um Verzeihung bitten, theuerster Freund!
dass ich Ihnen bis jetzt noch nicht auf Ihren Brief vom 11^" September
geantwortet habe. Ich habe immer schreiben wollen und habe immer
Abhaltungen gehabt: zuerst Sorgen, dann mehrere Reisen und endlich
der starke Besuch unserer Universität in diesem angefangenen Cours.
Es ist mir diese Nacht heiss aufs Herz gefallen, dass ich durch meine
Verzögerung Sie vielleicht in Ihren Operationen gehindert habe, wenn
es nähmlich ernsthaft damit gemeynt war.')
1) Weickers Zeichen ist W — k; eine Aufstellung seiner Heidelberger Rezen-
sionen bei Kekule, Das Leben Friedrich Gottlieb Weicker's S. 488.
2) Der Brief Arnims vom 11. September 1809 fehlt im Buche Ober Zimmer.
Aus Zimmers Andeutungen und denen in den Briefen Nr. 49 und 52 ergiebt sich
der mir auch anderswoher bekannte, eine Zeitlang gehegte, dann aber aufgegebene
Wunsch Arnims, zu promovieren und Vorlesungen zu halten, wohl im Hinblick auf
die Begründung einer Universit&t in Berlin.
228 Rdnhold Steig
Ich hatte gleich mit Wilken gesprochen. Das Hinderniss mit den
achtzig Gulden wollen wir schon in so weit beben, dass es wenigstens
Ihren Wunsch nicht unausführbar macht. Wilken sagt, Sie sollten
entweder ein Gesuch in lateinischer Sprache an den Decan der philo-
sophischen Facultät, das die beyfoigende üeberschrift haben müsste^),
gleich einschicken, oder auch nur einen Bogen mit Ihrer Unterschrift,
so wolle man das Gesuch selbst hier abfassen, doch thun Sie lieber
das erste.
Ist Brentano noch be? Ihnen? Ich freue mich Ihres Zusammen-
seyns recht herzlich und wünsche mir nur zu Zeiten ein Stündchen bey
Ihnen zu seyn. Grüssen Sie doch Brentano recht von mir und sagen
Sie ihm, er solle mir doch auf meinen Brief antworten, den ich etwa
vor 4 — 5 Monathen nach Landshut habe gehen lassen. Ich bat ihn
darin nahmentlich mir zu sagen, ob ich das, was ich ihm noch schuldig
bin, an Mad. Rudolphi bezahlen solle, oder wo sonst hin?
Dass Grenzer wieder da ist, wissen Sie. Ich habe bis jetzt ihn
noch wenig geniessen können; aber er ist ganz ausserordentlich ver-
gnügt und das ist reicher Gewinn für seine Drangsale. Die Jahrbücher
werden k.J. natürlich fortgesetzt.^) Empfehlen Sie sie doch recht!
Leben Sie recht wohl!
Ihr Zimmer.
46. Jacob Grimm an August Böckh.
Cassel, am Sten November 1809.
Hochgeschätzter Herr Professor
Hier sende ich Eurer Wohlgeb. zwei schon längst niedergeschriebene
Kecensionen über Hagens Museum und Buch der Liebe, für welche
sich nunmehr wohl Platz finden könnte, da wie ich eben sehe, mit dem
Abdruck der früheren Recension über die Sammlung altdeutscher Ge-
dichte der Anfang gemacht worden ist. Vielleicht wäre es um des-
willen gut, wenn sie bald erscheinen könnten, da dem Vernehmen nach
schon Fortsetzungen der genannten Schriften auf dem W^e sind. *)
1) Diese üeberschrift, wohl von Wilkens Baod, fehlt.
2) Die Anzeige der Fortsetzung im XXY. Intelligenzblatt der Hddelberger Jahr-
bucher 1809.
3) Jacob an Wilhehn Grimm 16. Juni 1809 (aas der Jogendieit S. 110): «Ein
Brief von Böckh in Heidelbeig (oben S. 212) bemerkt es müsse bloss ihiter Länge
halber geschehen, nm nicht so oft abzubrechen, und bittet um weitere Aueigco des
Buchs der Liebe und des Magazins. Ich will ihm antworten, das soUe geschehen,
würde aber wegen jenes aufgehaltenen Abdrucks nicht so eilig sein."
Zeugnisse zur Pflege der deutschen Litteratur in den Heidelb. Jahrbachern 229
Wie schön hätte ich sie Ihnen bei Ihrer neulichen Anwesenheit in
CasseP) mitgeben können, und wie leid that es mir, dass ich den mir
zugedachten gütigen Besuch versäumte! Allein wie ich nach Haus
kam, hatten meine Leute sogar den Gasthof abzufragen vergessen, wo
Sie für diesen Tag noch zu finden gewesen wären.
Indem ich nochmals die Recension durchsehe, kommen mir einige
Sätze unpassender vor, als damals, wie ich sie niederschrieb, und es
möchte Ihnen noch viel mehr so scheinen. Besonders der Eingang über
Büschings Abhandlung von Wolframs Leben ist ein wenig zu sentimental.
Ich frage freilich, ob denn am Sentimentalen an sich etwas Unrechtes
zu finden ist? und ich gestehe, dass ich bei der ganzen vielleicht nur
zu ausführlichen Ausführung meines Glaubens, eine Art von Ironie gegen
Büsching im Sinn hatte, welcher bei Abfassung seines unglaublich
trockenen Aufsatzes gewiss eher an seine tägliche Mittagssuppe als an
dergleichen gedacht hat. Inzwischen kann die Stelle allenfalls wegbleiben
und verfahren Sie meinetwegen damit nach Ihrer bessern Beurtheilung.*)
Wenigstens würde dadurch etwas Raum gespart, und es ist meine
Generalbesorgnis für beide Becensionen, dass sie wieder zu weitläufig
geworden sind. Ich hätte sie freilich noch weitläufiger machen können,
durch das, was ich darum mit Fleiss ausgelassen habe. Mich tröstet
die Hoffnung, dass die Heftezahl dieser Abtheilung der Jahrbücher
künftiges Jahr vergrössert werden kann, das Publicum hätte gewiss
nichts dagegen, weil so Vieles zurückbleibt, aus Mangel an Baum.
Wo ich nicht irre, so ist z. B. Görres Recension des Wunderhorns nur
angefangen, aber noch nicht aus. auch hat es längst von einer Arnim-
schen Recension von Stillings Geisterkunde verlautet, die ich seither
vergebens erwartete.*)
Als mir neulich Hr. Zimmermann erzählte, dass Hr. Hofrath
Creuzer aus seinem Leiden wieder nach Heidelberg zurückkäme, habe
ich mich recht gefreut. Sollte er schon dort seyn, so bitte ich mich
ihm bestens zu empfehlen.
mein Bruder ist noch in Berlin, wird aber nun ehstens hier zurück-
erwartet.
1) GelegenUich der Hochzeitsreise nach Göttingen (oben S. 226); vgl. auch
Briefwechsel aus der Jugendzeit S. 187.
2) Böckh scheint die Stelle beim Abdruck 1811 S. 145 weggelassen zu haben;
was da Ober Wolfram gesagt wird, hat nach meiner Aufifassung wenigstens nichts
Sentimentales (Kleinere Schriften ß, 16).
3) Jacob Grimm benutzt hier die Gelegenheit, auf die Redaktion zu Gunsten
seines Freundes Arnim einen Druck zu üben.
230 ReiDhold Steig
Die Anzeige, welche Sie die Güte gehabt haben, von der kürzlich
in Zürich erschienenen altdeutschen Judith zu verlangen, soll so bald
erfolgen und so kurz als möglich, als ich sie vom Buchhändler erhalte. ^)
Die Buchhändler in unserer Nähe versorgen ihr Sortiment so übel, dass
man dergleichen Sachen immer besonders verschreiben lassen und dann
lang darauf warten muss.
Ich habe die Ehre mit aufrichtiger Hochachtung zu seyn
Ihr
ergebenster
J. Grimm.
47. Carl Windischmann an August Böckh.
Aschaffenburg, d. 5. November 1809.
Geliebter Freund!
Endlich einmal ein Wort von Dir nach so langem Harren. Ich danke
Dir für die Uebertragung der Rezension von Dalbergs Schrift und hoffe,
Du sollst meiner sicher genug seyn, dass ich Dir Deine Bedingungen
erfülle. In den nächsten Wochen sollst Du sie erhalten, so wie Adam
Müller etc. — ist denn Gör res Mythologie noch nicht fertig? . .
Ewig Dein Windischmann.
48. Ernst Wagner an August Böckh.
Meiningen den 14. Nov. 1809.
Ew. Wohlgeboren
übermache ich anliegend, Dero Schreiben vom 25. v.M. gehorsamlich,
das mir aufgegebne Pensum sogleich, um Sie nicht mit 2 Briefen zu
belästigen. Ich hatte die beyden Werke') zur Hand, und fand die Beur-
theilung derselben leicht. Wollen Ew. Wohlgeb. den Faust doch etwa
in Correlation geben, so soll es mir ganz gleich seyn — ja, ich
will von Herzen gern geirrt haben !^)
1) FQr altdeutsch war die Judith von Itzenloe (oben S. 225) wohl von
Böckh, als er sie Grimm antrug, und von diesem, als er sie annahm, gehalten wor-
den, da sie dem Titel nach aus einer alten Handschrift stamixien sollte. Vgl. darüber
Grimms Rezension.
2) Kessler, Alonso und Schöne, Faust: im letzten Hefte 1809. 3, 357 und im
ersten Hefte 1810 S. 3.
3) Wagner kennzeichnet Schönes Faust als ^einen missglQckten Versuch*. Er
meint also, wenn ein Korreferent für das Buch noch bestellt würde, der etwa gün-
stiger urteile, so sei es ihm recht; er denkt an Fälle, in denen, wie von Fouques
Sigurd, zwei Rezensionen erschienen waren.
Zeugnisse zur Pflege der deutschen Litteratur in den Heidelb. Jahrbüchern 231
Den Messkatalog von Michaelis habe ich nicht da. Es war aber in
demselben nichts wünschenswerthes für mich. Ich lese gegenwärtig
Göthe's Wahlverwandtschaften. Sollte ich Ursache finden, mit
meinen Gedanken darüber zufrieden zu seyn, so könnte ich sie Ew.
Wohlgeb. mittheilen. Rechnen Sie aber gütigst nicht auf mich, son-
dern geben die Recension ja recht schnell einem Würdigern. —
(Ä. W. Schlegel wäre wohl zu wünschen.) Das meinige findet wohl in
geringern Blättern noch Platz.
Darf ich Ew. Wohlgeb. den 2. Band meiner Reisen und meinen
kleinen Ferdinand Miller für baldgefallige Beurtheilung bey dieser
Gelegenheit zu Gnaden empfehlen?
Mit der entschiedensten Verehrung
Ew. Wohlgeboren
ganz gehorsamster
J. E. Wagner.
49. Achim von Arnim an Friedrich Creuzer.
Berlin, d. 25. November 1809.
Ein herzlicher Glückwunsch zu Ihrer Rückkehr, lieber Creuzer, ich
höre Sie sind vergnügt und wohl und das freut mich, Christus ist zu
Leiden geboren und Sie sind auch dort gewesen und ich bin einmal
durchgereist und mehr mag ich von der Stadt nicht wissen. Das Merk-
würdigste muss Ihnen in Heidelberg gewesen seyn, nachdem Sie so
manches Neue gesehen und erlebt, alles dort noch in alter Art wieder-
zufinden, mich wenigstens hat seit der Jenaischen Schlacht nichts so
sehr verwundert, als ein dickes Buch ^), das eben bey Cotta herausgekom-
men unter dem Namen KlingdLng Almanach herausgegeben
von Baggesen, das von nichts als der Einsiedlerzeitung und der
•
Sonettengeschichte*) spricht, einigemal glaubte ich bey dem langwierigen
Lesen, die Schlacht von Regensburg, Aspem, Wagram, das sey alles
nur eine Lüge aus dem Vossischen Hause, ich wäre noch ein Jahr
jünger und sässe im Schatten des Heidelberger Schlosses und wegen
dieser lebhaften Rückerinnerung an Sie und alle Freunde dort (Görres
— Wintergarten — Doctorat') — Jahrbücher) sey auch dem nordisch
mythologischen Vogel ^), der den Leuten ins Nest s. und das für Eyer
1) „ein dickes Buch** ironisch, da es im Gegenteil ein äusserst dünnes ist.
2) Die letzte grosse „Beylage'' asnr Einsiedlerzeitung.
3) Sieh oben S. 227 zu Brief Nr. 45.
4) d. i. Baggesen.
232 Reinhold Steig
ausgiebt, vorläuiig') alle öffentliche Köge geschenkt, ich glaube, dass
schwerlich ein andrer Mensch, der nicht so persönlich darin berührt
ist, die Gednit hat, es auszulesen. Ich habe dieses Packesels') zu jener
Zeit') nicht entfernt gedacht, jezt aber merk ich, da er einen Faust heim-
lich in der Tasche gemacht^), dass ihn mancherley ärgern konnte, das
ist die Hand des Schicksals, es giebt zurück, dass es so überflüssig mit
Fäusten geschlagen wird. — Haben Sie die Redakzion der Jahrbücher
wieder übernommen ? — Ihrer Frau viel Glück, dass sie ihren Kindern
wieder näher, ganz der Ihre
Achim Arnim.
50. Carl Windischmann an August Böckb.
Aschaffenburg, d. 2. Dezember 1809.
Lieber Freund!
. . Hiebei die Rezension der zwei Dalbergschen Werke.^) Was ich
gesagt habe, ist wahr und wohl verdient; Dalberg ist eine der
besten und schönsten Seelen, die ich kenne, und so innerlich, wie sein
Bruder äusserlich ist. Kleine Fehler sind hier leicht zu übersehen.
Ueberhaupt darf bei Männern von grossem Einfluss immer ein Wort
mehr zu ihren Gunsten gesagt werden, weil Wissenschaft und Kunst
den wesentlichsten Gewinn dabei haben. Ich weiss wenige Grosse, die
so eifrig für die Literatur wirken und keine Kosten scheuen, auch so
fleissig und verständig selbst Hand anlegen, als dieser Hr. v. Dalberg.
Ich bitte Dich recht dringend, diese Rezension bald abdrucken zu las-
sen und mir dann von diesem Stücke statt eines zwei Exemplare zu-
schicken zu lassen.
Ist dann Görres Mythologie noch nicht erschienen? seine Dar-
stellung des Upnekhat in den Jahrbüchern^) hat mich mit ihm ausge-
söhnt. Da ist er einmal wieder ein wackerer einfacher Mensch. Der
homo compositus Brentano hatte ihn fast ganz zum Narren gemacht
— einfache kräftige Gemüther können solche convulsivische Spannungen,
wie sie Menschen von der Art natürlich sind, nicht vertragen.
1) Später als Waller in der Grätin Dolores mitgenommen.
2) Wortspiel mit Baggesen.
3) d. h. als Arnim die Sonettengeschichte schrieb.
4) Wortspiel mit der Faust und dem Faust, welchen Baggesen gemacht hatte
(ohen S. 197) ; im folgenden Fortsetzung dieses Wortspieles in Bezug auf das all-
gemeine Welt- Schicksal, als im besonderen darauf, dass neben Goethes Faust noch
so überflüssige „Fäuste", wie der von Baggesen, von Schöne hervorkamen.
5) Sieh oben S. 226.
6) Abteilung für Theologie 1809. 2, 193.
Zeugnisse zur Pflege der deutscheu Litteratur in den Heidelb. Jahrbüchern 233
Adam Mfiller erhältst Du nach Neujahr — er wird etwas gekam-
pelt werden müssen ; denn bei aller Treflichkeit ist er auch ein äusserst
aufgeblassener Prinz . .
(N. S.) Den Abdruck besorge ja bald ; bedenke , dass es das
erstemal ist, dass Du mir etwas einrückest und ein kleines Einkommen,
dessen ich so sehr bedarf, zufliessen lassen kannst. Von dem Ertrag
dieser Rezension bitte ich Dich auch das Dir schuldige Geld abzuziehn.
Dein Windischmann.
51. August Friedrich Bernhardi an August Böckh.
Berlin, d. 28 st. December 1809.
Ich habe Ihren lieben Brief vom 25sten September nebst der ehren-
vollen Einladung zu den Jahrbüchern vor etwa 10 Tagen erhalten und
bin nicht abgeneigt beide Werke zu übernehmen, wenn mir die Bedak-
tion dazu Zeit lässt die Becensionen nach meiner Bequemlichkeit anzu-
fertigen, denn ich bin sehr beschäftigt und die neue Organisation des
Schulwesens wird noch mir zu mancherlei neuen Geschäften Veranlas-
sung geben . . ^)
Ich schliesse mit der Bezeugung meiner innigsten und wahrsten
Hochachtung für Ihre Verdienste und 'Gelehrsamkeit
A. F. Bernhardi.
52. Friedrich Creuzer an Achim von Arnim.
Heidelberg, d. 2. Januar 1810.
Sie beschämen mich recht, mein theuerster Freund, durch Ihren
begrüssenden Brief. Es wäre an mir gewesen, Ihnen zuzurufen, dass
ich wieder auf der Oberwelt sey. Gottlob, dass ich wieder da bin.
Dort hätte ich es nicht ausgehalten. Die Menschen waren gutmüthig
und freundlich, und die CoUegialischen Verhältnisse bildeten sich
günstig. Aber das Wasser, das Wasser — und die Kost — und
die blassen Gesichter — und die Todtenstille auf den Gassen und, und
- doch Sie waren ja selber dort — üeber der Beise habe ich nun
manches versäumt z. B. dass ich eben jezt erst Ihren herrlichen Winter-
garten lese, den mir Zimmer neulich mittheilte. Es ist ein erquick-
liches Buch. Geben Sie öfter dergleichen. Den Albert und Concordia
hätten Sie etwas weitläufiger geben sollen. In meiner Jugend hab' ich
1) Das weitere in diesem Briefe handelt von Pindar, im Anschluss an Böckhs
jüogste Abhandlung über den Dichter.
234 ReiDhold Steig
das Buch in den Nachbarsbäusern herumgetragen und vorgelesen. Da
möchte ichs ganz wieder regenerirt sehen. Die Kecension in den Jahr-
büchern findet Savigny schlecht, Görres schlecht und ich auch schlecht.
Ich weis nicht wer sie gemacht hat. ^) So viel aber weis ich, dass ich
sie nicht aufgenommen hätte. — Sie wissen vielleicht schon, dass die
Görressche Kecension des Wunderhorns (diese würdige Arbeit) nur
einem kleinsten Theil nach ist in den Jahrbüchern abgedruckt worden.
— Und warum? — weil Thibaut (der N. B. in der Redaction jezt
prädominirt) ein veto dazwischen gelegt hat. — Und warum hat es
Wilken gelitten? weil, sagt man, Sie selbst etwas unter die Kecension
geschrieben. (Sie erinnern sich doch des kleinen Umstands noch ?) und
weil daraus hervorleuchte, dass Verfasser, Recensent und Be-
dacteur (also meine Wenigkeit) mit einander unter der Decke ge-
spielt hätten. Ich habe Görres die Sache auf der Stelle gemeldet und
zu Zimmer gesagt, dass dies Verfahren miserabel sey. Görres will es
auch nicht dabei lassen. ^) — Ich selbst aber bin seit meiner Rückkehr
nicht mehr in der Redaction. Zimmer und Einige andere wünschten
es zwar — aber wo Thibaut regieret — mag ich keine Hand im Spiel
haben. — Auch brauche ich keine Programme mehr zu schreiben (diese
Ehre hat Böckh) und vom Senat hab* ich mich auch dispensiren lassen.
Sehen Sie, wie glücklich ich nun meinen CoUegien (und daran habe ich
Freude) und meinen Büchern (welche mir auch lieber sind als alle
Jahrbücher) leben kann! Die Redaction des ästhetisch-philologischen
Hefts haben Böckh und Wilken zusammen. — Dem Elingding-Al-
manach hab ich die Ehre nicht angethan ihn zu lesen. Eben so wenig
die Jenaische Recension der Reinbeckschen Briefe über Heidelberg.
Alle diese Sachen sind doch zu ungesalzen, um goutirt zu werden. —
Bei Görres hab' ich auf der Hin- und Herreise einige schöne Tage zu-
gebracht. Er arbeitet seit dreiviertel Jahren gewaltig im Feuer (er
schreibt was Französisches über das Licht) — daneben geht es mit
seiner Mythen historie rasch vorwärts; sie wird bald fertig sey n. Der
Mann ist ungemein fleissig. Sein Leben in Coblenz ist aber nicht für
ihn. Ich wollte ihm wünschen, dass er wenigstens nach Göln käme,
wohin, nach Einigen, die Departementsuniversität verlegt werden soll. —
In Cöln hat mirs bei den alten Bildern sehr wohl gefallen. Boisseree
und sein Freund kommen nächstens mit den Bildern hierher, um hier
zu wohnen. — unser Doctor Zimmermann sizt mit Frau und Kind am
1) Sieh oben S. 216 : Ernst Wagner.
2) Vergleiche wegen der Angelegenheit auch unten die Briefe Nr. 64 und 66.
Zeugnisse zur Pflege der deutschen Litteratur in den Heidelb. Jahrbüchern 235
Harz. Er hat eine Stelle beim Bergdepartement in Clausthal, und es
gefällt ihm wohl.
Sie sind ja mit Brentano recht fieissig gewesen, wie ich aus dem
Brief an Zimmer ersehen. ^) Hoffentlich wird Zimmer doch den Verlag
übernehmen. Ich wünsche bald wieder etwas von Ihnen beiden zu
lesen. Und Brentano vergisst doch seine Romanzen nicht P') Orüssen
Sie ihn doch bestens von mir. Werden Sie denn im Sommer nicht
wieder hierherkommen? Es ist doch hübsch hier an den Bergen.
Wegen des Doctorats braucht es wohl keiner Versicherung, dass
ich mir eine Ehre daraus mache. Fries ist seit gestern Decanus.
Wilken, Böckh (Langsdorf hoffentlich auch) sind dafür — da ist es
also entschieden (auch ohne Langsdorf schon). — Wilken wird Ihnen
geschrieben haben, dass es nur eines kurzen lateinischen Briefes bedarf,
m
worin Ihr Wunsch ausgedrückt ist. Der muss aber von Berlin
kommen. Darüber können wir nicht hinaus.^) — Ich bin nun begierig,
wie es, nach der Rückkehr des Königs, mit Ihrer Universität gehen
wird. Es kann was Grosses werden. Nur wäre ich doch für eine
kleinere Stadt in dortiger Gegend.*) Meine Frau erwidert Ihren freund-
lichen Gruss. Ich bin hochachtend
Ihr
Fr. Creuzer.
(Am Rande:) Den Herrn Buttmann und Schleiermacher bitte ich
mich gelegentlich zu empfehlen.
53. Carl Windischmann an August Böckh.
Aschaffenburg, d. 3. Jenner 1810.
Lieber Freund!
. . Was die Rezension betrift, so gebe ich mich ohne noch den
Abdruck gesehn zu haben, zufrieden. Fr. Schlegel werde ich in meiner
Schrift genugsam zurecht weissen. Wegen Othmar Frank aber wird Hr.
Görres doch seine leidenschaftliche Meinung etwas herunterspannen
1) Dem verlorenen Briefe Arnims vom 11. September 1809 (oben S. 227. 257).
2) Zu Grenzers fortdauernder Teilnahme für Brentanos Romanzen vom Rosen-
kranz vgl. Rohde, Friedrich Creuzer und Karoline v. Günderode 1896 S. 32 und
Euphorion 4, 363.
3) Wegen des Doktorats vgl. S. 227. 231. 253.
4) Diese Meinung bezieht sich auf die damals viel erörterte Frage, zu der auch
Savigny Qber Schleiermachers ^Gelegentliche Gedanken" (Heidelberger Jahrbücher
1808 S. 297) und Wachler zu Eggers' Schrift «Keine Universität in Berlin" (1811.
1, 141) Stellung genommen hatten.
236 Heinhold Steig
müssen, wenn er die Commentationes Persicas liesst. In einiger Zeit
dürften also die Jahrbücher auch ihre Meinung ändern. Wäre ich der erste
redende gewesen, wie dann mit der ganzen Rezension vom Görres? —
Dies nur bemerkungsweisse. Du kennst meine Gesinnung und weisst,
dass ich nicht an Kleinigkeiten hafte. ^)
Ich danke Dir für die zugetheilten Rezensionen, denke ferner so
günstig für mich. Den Ast lass mir zugehen.
Wir grüssen Dich alle von Herzen.
Dein Windischmann.
54. Jacob und Wilhelm Grimm an August Böckh.
Cassel, 5. Januar 1810.
Verehrter Herr Professor,
ich muss recht bedauern, dass ich dem gütigen Antrag, meine
Secension des Buchs der Liebe zu einer späterhin von A. W. Schlegel
eingegangenen zuzurichten, unmöglich entsprechen kann. Beide Beur-
theilungen berühren sich auch gar nicht; die meine ist durchaus historisch,
die schlegelsche sagt zur Empfehlung der alten Bücher für unser heu-
tiges Publicum manches Gute, obgleich zu weitläufig, und überhaupt
scheint es mir, dass Schlegel, wenn er sich mit der Geschichte unserer
älteren Literatur beschäftigt hätte, so viele bekannte Dinge nicht so
sehr herausgehoben haben würde, die an hundert andern Orten eben-
falls stehen könnten. Ich wüsste aus dem Meinigen nichts zu streichen,
ohne dass manches folgende unklar würde, alles könnte wohl recht gut
als ein nothwendiges Supplement zu der Schlegelschen Critik angesehen
werden, aber alsdann würden Sie keinen Raum gewinnen, welches doch
die eigentliche Absicht ist.
Ich bin überzeugt, dass Schlegel selber seine Abhandlung viel eher
abkürzen könnte, vielleicht einigen meiner Bemerkungen zu gefallen,
1) Der Brief lässt erkennen, dass Böckh wieder zu Gunsten Friedrich Schlegels
und Görres' in Windischmanns Rezension von Dalbergs Drusenfamilie und Dabistan
(1810 S. 49) eingegriffen hatte. Und zwar muss dies gegen den Schluss, auf S. 60,
geschehen sein. Dort n&mlich mustert Windischmann die neueren und neuesten
Leistungen auf dem Gebiete asiatischer Religionsgeschichte durch. Es wäre da
Schlegels Sprache und Weisheit der Inder und Otbroar Franks Licht vom Orient —
von Görres in der Abteilung für Theologie 1809. 2, 269 zwar mit Vorbehalten, aber
doch mit günstiger Wärme angezeigt — zu nennen gewesen. Schlegels und Görres'
Name aber fehlt jetzt ganz, und Franks Schrift wird so erwähnt, dass man gerade
noch leise fühlt, dass Windischmann nicht mit ihr zufrieden ist. Vgl. A. W. Schle-
gels Vorwürfe unten in Brief Nr. 65.
Zeugnisse zur Pflege der deutschen Litieratur in den Heidelb. Jahrbüchern 237
wenn Sie ihm solche mitseDdeten, dazu wohnt er aber wohl zu entfernt ;
er ist glaube ich immer noch in Copet. Also auf den Fall, dass sich
zu meiner Secension kein Raum finden würde, begebe ich mich, einem
so geachteten Schriftsteller gegenüber, gern meines Vorrechts, besonders,
da es dem Institut der Jahrbücher daran gelegen seyn muss, sich jenen
für andere Fälle zu erhalten, wo er mehr competent ist, als dies im
Fach der altdeutschen Poesie zu seyn scheint.^)
Was den Goldfaden betrifft, so wird mein Bruder, da er so eben
von seiner Reise zurückgekommen ist, einige Worte hinzufügen.
Sie haben wohl die Qüte mir von dem Schicksal der obigen Re-
cension demnächst einige Nachricht zu ertheilen.
Mit wahrer Hochachtung bin ich
Eurer Wohlgeb.
gehors. Diener
Grimm.
1) Der Brief, mit dem Böckh den Antrag that und dem er Schlegels Manuskript
beilegte, fehlt. Jacob Grimm erhielt schliesslich seine Rezension zurück (unten S.255)
und veröfTentlichte sie später in der Leipziger Litteratur-Zeitung 1812 (Kl. Schriften
6, 84). Gegen die Angriffe wehrte sich v. d. Hagen im Anzeiger zu Idunna und
Hermode Nr. 15, indem er auch etwas von dieser Schlegel-Grimmschen Angelegen-
heit verlauten Hess. Darauf antwortete Jacob Grimm 1813 in der Leipziger Litte-
ratur-Zeitung 1813 (Kl. Schriften 7, 591) und gab die folgende richtige Darstellung
des Sachverhalts:
»Im Jahr 1809 wurde ich von der RedacUon der Heidelb. Jahrb. aufgefordert,
das genannte Buch der Liebe zu beurtheilen; später aber ging auch eine unbe-
stellte Rec. desselben Werks durch A. W. Schlegel ein. Der Redacteur, damals
Hr. Prof. BOckh, wünschte diesen ersten von einem beliebten Schriftsteller ein-
gehenden Beitrag nicht gerade abzuweisen und hatte die Güte, mir die Schlegelsche
Beurtheilung im Original zuzuschicken mit der Bitte, sie mit meiner zu bearbeiten,
zugleich aber auch mit dem Erbieten, im Fall ich mich nicht dazu verstände, jene
dennoch zurück zu geben und die meinige, als welche das Recht für sich habe und
sonstiges Lob verdiene, das hier nicht wiederholt zu werden braucht, aufzunehmen.
Ich war freilich mit den Grundsätzen der Schlegelschen Rec. zu wenig einverstan-
den, um in jenen Ausweg einzugehen, aber bescheiden genug, aus freiem Willen
meine Arbeit wieder zu nehmen. Was ich für recht hielt, wollte ich auch recht
sagen; Herr v. H. mag durch irgend eine Klatscherei davon gehört haben und er-
frecht sich zu der Lüge: «dass meine Rec. dort zu spät gekommen und vor der
Schlegelschen habe zurückstehen müssen*. Ich habe die Redaction dieser L. Z.
durch Mittheilung des Originals, woran hier gelegen, in Stand gesetzt, die Wahrheit
metner obigen Behauptung pflichtmässig bezeugen zu können.**
Die Leipziger Redaktion versichert dann auch in einer Fussnote, dass J. Grimm
ihr den Originalbrief zur Einsicht vorgelegt habe; er wird nicht mehr in Grimms
Hände zurückgelangt sein und deshalb heute im Nachlasse fehlen. Hagen kam
nochmals in Idunna und Hermode 1813 Nr. 6 auf diese Antwort zurück, indem er
aus einem Briefe J. Grimms an ihn die Stelle abdruckte, worin Grimm allerdings
selber von der Kollision beider Rezensionen geschrieben hatte.
238 Reinhold Steig
(Auf demselben Blatte, unmittelbar hinter Jacob :) leb nehme hier
Gelegenheit, geehrter Herr Professor, Ihnen die Entstehung der zwei
Becensionen vom Goldfaden zu erklären.^) Ich hatte zwar in Berlin ge-
sagt, dass ich eine Anzeige davon aufschreiben wollte, darnach aber
kam es mir aus den Gedanken, so reiste ich ab, und erst in Halle kam
mir das Buch wieder in die Hände und mein Vorsatz in den Sinn, und
von dorther ist das Blatt zu Urnen gekommen. Arnim wusste also nichts
davon und hat meine Aeusserung nicht gehört oder vergessen oder für
fluchtig gehalten. Enthält meine Anzeige nichts, das nicht auch in
Arnims Recension stände, oder kann sie nicht leicht angefugt werden,
so seyn Sie nur so gütig sie zurückzulegen, da Arnim in jedem Fall
den Vorzug haben muss.
Ich empfehle mich Ihnen und bin mit ausgezeichneter Hochachtung
Ihr ergebenster Dr.*)
Wilhelm Carl Grimm.
55. Jacob Grimm an August Böckh.
Cassel, 21. Jan. 1810.
Eine Stelle, die ich neulich über den Roman von Tristan aufge-
funden habe, ist so merkwürdig, dass ich nicht unterlassen kann, solche
Ihnen, werther Herr Professor, beiliegend zuzuschicken, um sie, auf den
Fall von meiner Recension des Buchs der Liebe noch Gebrauch gemacht
wird, angezeigten Orts einrucken (sie) zu lassen. Im Fall, dass der
Raum, welchen die schlegelsche einnimmt, solches nicht gestattet, bin
ich zugleich so frei, um deren gefällige Rücksendung zu bitten.
Mit vollkommener Hochachtung
Ew. Wohlgeb. ergebener Dr.
Grimm.
(Nachschrift:) Darf ich Sie wohl ergebenst bitten, Herrn Zimmer
gelegentlich zu fragen, ob er einen Brief von meinem Bruder noch aus
Berlin mit einer Ankündigung erhalten?')
1) Wegen der Goldfaden-Rezensionen sieh oben S. 204.
2) ^Dlener^ natürlich, nicht „Doctor"*.
3) Betrifft die von Wilhelm Grimm, Arnim und Brentano gemeinsam verfasste
Ankündigung der Altdänischen Heldenlieder, die im 3. Intelligonzblatt der Heidelb.
Jahrbücher 1810 (Kl. Schriften 1, 172) abgedruckt ist; vgl. Zeitschr. f. d. Philol.
29, 195.
ZeugDisse zur Pflege der deutschen Litteratur in den Heidelb. Jahrbüchern 239
56. A. W. Schlegel an Augast BOckh.
Genf, d. 23. Januar 1810.
Hochgeehrtester Herr Professor!
Ew. Wohlgeboren gütige Zuschrift vom 25sten December v. J., die
ich erst vor einigen Tagen erhielt, säume ich nicht sogleich zu beant-
worten. *)
Es sollte mir leid thun, wenn, meiner Anzeige des Buchs der
Liebe zu Gunsten, eine andre schätzbare Arbeit zurückgelegt werden
sollte. Ich schrieb sie aus eignem Antriebe und auf meine Gefahr; da
das Buch erst vor kurzem erschienen, so glaubte ich nicht einer vor-
gängigen Bevor wort ung zu bedürfen, die bey der grossen Entfernung
immer weitläuftig ist. Es steht also ganz bey Ew. Wohlgeboren, ob
Sie Gebrauch davon machen wollen ; widrigenfalls bitte ich, die Anzeige
in meinem Namen Hrn. Hofrath Eichstädt in Jena für die dortige
A. L. Zeitung gefalligst zuzusenden. *)
Die Anzeige des Ariost von Gries ist beynahe fertig und erfolgt
unfehlbar in wenigen Tagen. Demnächst werde ich die von Winkel-
manns Werken liefern, wenigstens von den beyden ersten Theilen,
wenn ich nicht unterdessen noch den dritten erhalte. Mit Hrn. Hof-
rath Greuzer war ich ^chon übereingekommen, etwas über Goethe's
Winkelmann, wiewohl das Buch schon früher erschienen, als am
schicklichsten Orte anzuhängen.')
Klingers Werke muss ich ablehnen. Sie scheinen mir für den
jetzigen Stand unsrer Litteratur gänzlich veraltet, und ich habe nichts
darüber zu sagen.
Niobe und der Graf von Gleichen vom Vf. des Lacrimas
wird sich mit den romantischen Wäldern desselben Yfs. am besten
zusammennehmen lassen. Sigurd unterbleibt natürlich, da, wie ich
höre, Hr. Bichter mir schon mit einer Beurtheilung zuvorgekommen.
Wegen Goethe's Wahlverwandtschaften sehe ich einer Antwort
meines Bruders entgegen.
Ich danke Ew. Wohlgeboren in meinem und seinem Namen, für
die Sorge, welche Sie für die Anzeige unsrer Schriften in Ihren Blättern
1) In Wilhelm Schlegels Nachlass (Klette S. 23) befindet sich kein Brief
Böckhs aus der Heidelberger Zeit; keiner Oberhaupt von Creuzer.
2) Diese Wendung der Sache, dass die Schlegelsche Rezension des Buchs der
Liebe an Böckhs Gegner Eichst&dt gehen sollte, war sehr fatal und trug gewiss
dazu bei, Schlegels Rezension abzudrucken (1810 S. 97) und Grimms zurückzugeben.
3) Ariost, mit vollem Namen im Register, abgedruckt 1810 S. 193; Winkel-
mann, mit Namensunterschrift, 1812 S. 65.
NEUE HEIDELR. .lAHRRURCHRR XI. 16
240 Keinhold Steig
tragen. Für Fr. Schlegels Gedichte, und den 2ten Band meines
spanischen Theaters würde ich Hrn. Görres als Ben rtheiler vor-
schlagen.') Was meine Vorlesungen betrifft, so scheint es mir nicht
gerade nöthig, dass derselbe Becensent für beyde Bände gewählt würde.
Wenn Ew. Wohlgeboren die Beurtheilung des ersten Bandes übernähmen,
so würde es ohne Zweifel sehr belehrend für mich ausfallen. Leid^
habe ich Ihre Schrift über die Ächtheit einiger griechischer Stücke nicht
dabey benutzen können ; ein hiesiger gelehrter Freund hat sie erst
kürzlich erhalten, und will sie mir mittheilen, sobald er sie ausgelesen
haben wird. Der 2te Band könnte Hrn. von Collin in Wien zur Be-
urtheilung angetragen werden ; falls E. W. nicht auf meinen obigen
Vorschlag eingehen sollten, würde er wohl das Ganze übernehmen.^)
Verzeihen Sie meine Freyheit, wenn ich Ihnen nun noch mit einer
Anfrage beschwerlich falle. Hr. v. Barante, Sohn den hiesigen Präfects,
und selbst Präfect in der ehemaligen Vendde, in der neugebauten Stadt
Napoleon, ein Mann von vielen Kenntnissen und einem liebenswürdigen
Charakter, Verfasser einer geistreichen Schrift über die französische
Litteratur des ISten Jahrhunderts, wünscht einen Deutschen als Gesell-
schafter und Secretär um sich zu haben, der ihm beym Studium der
deutschen Sprache und Litteratur behülflich seyn könnte. Wissen Sie
für diese Stelle einen gebildeten und in unsrer Litteratur und Philo-
sophie bewanderten jungen Mann? Die Bedingungen, die ihm zuge-
sichert werden, sind ein Gehalt von 50 Lsd., also 550 fl. Rheinisch,
nebst freyer Wohnung, Tisch u. s. w. Fürs erste würde das Verhältniss
auf ein Jahr eingegangen, um zu sehen, ob man gegenseitig für ein-
ander passt. Hr. von Barante steht natürlich die Kosten der Reise,
und falls die Verbindung nicht länger dauert als ein Jahr, auch die
der Rückreise. Es würde dem jungen Mann Müsse genug zu eignen
Studien übrig bleiben, auch hätte er in der Folge gewiss Gelegenheit
Paris zu sehen und zu benutzen. Dass er mit Fertigkeit französisch
spreche, ist nicht nöthig, diess würde sich schon durch den Aufenthalt
im Lande finden. Wäre er ausübender Musiker, so wäre es um so
angenehmer zur Aufheiterung eines einsamen Aufenthalts.^)
1) Fr. Schlegels Gedichte von Arnim rezensiert (oben S. 213).
2) Wilhelm Schlegels Spekulation auf Böckh schlug fehl, da dieser die
Vorlesungen bereits anders vergeben hatte. Eine Anzeige in Jahrgang 1811
S. 683 von A. W.
3) Es war dies dieselbe Stelle, «die Schlegel und Stael Chamisso (Leben und
Briefe 1839. 1, 268) zudachten**: Chamisso bot sie am 1. August 1810 aus Chaumont
seinem Freunde Wilhelm Neumann an, übernahm sie dann aber selber und verlebte
die n&chste Zeit in Napoleon.
Zeugnisse zur Pflege der deutseben Litteratur in den Heidelb. Jahrbüchern 241
Ew. Wohlgeb. würden mich durch eine baldige Antwort hierauf
recht sehr verbinden.* Wenn Sie jemanden zu dieser Stelle mit Zuver-
sicht empfehlen können, so stehe ich auch meinerseits dafür ein, dass
sie mancherley Vortheile und Annehmlichkeiten darbieten würde.
Mit ausgezeichneter Hochachtung E. W.
ergebenster
A. W. Schlegel.
57. Ernst Wagner an August Böckh.
Meiningen den 23. Jan. 1810.
Tausend Dank, verehrtester Mann, für Ihre gütige Zuschrift vom
25. v.M., die ich erst heute erhielt!
Gern wollte ich noch länger an Ihrem verehrten Institute Theil
nehmen — allein meine Kränklichkeit nimmt schneller zu, die Kräfte
ab — und mein letztes Stündlein beginnt so allmählig zu nahen, dass
ich jeden Augenblick noch auf die Beschickung meines eignen Hauses
verwenden muss. Also — Ade!
Qöthe ist bei A. W. oder Fr. Schlegel, diesen göttlichen Kritischen
Seelen, in den besten Händen — möchte ich doch die Recension noch
lesen ! *)
Hr. A. V. Arnim hat mir selbst geschrieben und sich als Becen-
senten meiner frühern Werke genannt. Aber er meldete mir, dass er
die Kec. über den 2. Band meiner Reisen abgelehnt habe, wovon
Ew. Wohlgeb. nichts zu wissen scheinen. *) — Nun, Sie werden schon
meine übrigen Bücher einem auch guten und schöndenkenden Manne
zur Beurtheilung anvertrauen — im Nothfalle thut es ja wohl der
prächtige Jean Paul. — Wenn der Mensch einem höhern Richter-
stuhle naht, so verliert sich doch, wie ich finde, die Begierde auf das
ürtheil der Welt gar merklich. — Gut habe ich es wohl gemeynt! —
Wollten Sie, Verehrtester, vielleicht mit Herrn Mohr und Zimmer
für mich meine kleine Rechnung gütigst abmachen? Ich habe von
ihnen nichts als die ,,Trösteinsamkeit.^ Es wird ja wenigstens Null
von Null aufgehen, hoffe ich? — Aber Verzeihung für diese Bitte!
J) d.h. die Rezension von Goethes Wahlverwandtschaften; es ist jedoch keine
von der ersten Auflage in den Heidelb. Jahrbüchern erschienen; vgl. S. 252.
2) Wie Arnim später aus dem Gedächtnisse den Inhalt seines Briefes an
E. Wagner skizzierte, sieh Zeitschr. f. d. Philologie 29, 211; jetzt kommt nun hin-
zu, dass Arnim eine weitere Besprechung der Schriften Wagners abgelehnt hat.
16*
242 Eeinhold Steig
Schliessen Sie den ehrlich bewahrten Namen eines heitern Menschen in
das Gedächtniss eines Biedermanns ein, und leben Sie froh und glück-
selig! Ewig Ihr
J. E. Wagner.
58. Karl Solger an August Böckh.
Frankfurt an der Oder, den 27sten Januar 1810.
Wohlgeborener Herr
Hochzuehrender Herr Professor,
Ew. Wohlgeboren gütige Zuschrift und der Antrag der Herren
Redaktoren der Heidelberger Jahrbücher war mir so ehrenvoll als er-
freulich. Besonders freut es mich, auf diese Weise mit Ihnen in
nähere Verbindung zu kommen, welches ich bei der begründeten Hoch-
achtung, die ich schon längst gegen Ihre Verdienste um die alte Litera-
tur hege, nicht besser wünschen konnte. Um Ihnen einen Beweis von
meiner Bereitwilligkeit zu geben, übernehme ich die Uebersetzungen
von Fähse, und zugleich die Schlegelschen Vorlesungen. Den Sophokles
von Bothe erlauben Sie mir wenigstens noch auszusetzen, da ich grade
durch andere Arbeiten ziemlich stark bedchäftigt bin. Haben Sie doch
auch die Güte, mich wissen zu lassen, wie die Recensionen aufgetragen
werden, ob etwa durch zugeschickte Auszüge aus den Messkatalogen,
aus welchen der Recensent wählt, wie es bei andern Instituten zu sein
pflegt. Zuweilen werde ich mir die Freiheit nehmen, Ihnen Recensionen
anzubieten, da man sich doch immer am liebsten und besten mit
solchen Büchern beschäftigt, woran man aus andern Ursachen ein be-
sonders Interesse nimmt. So habe ich vor einiger Zeit eine Beurtheilung
des Attila von Werner geschrieben, welche für ein andres Journal be-
stimmt war, aber dort, ich weiss nicht aus welchen Gründen oder Rück-
sichten, noch nicht abgedruckt worden ist. Wollen Sie diese aufnehmen,
und mich bald davon benachrichtigen, so werde ich sie zurückfordern
und Ihnen sogleich übersenden. Bei ganz neuen oder sonst noch nicht
sehr verbreiteten Büchern, werde ich um so mehr bitten müssen, sie
mir zu überschicken, da Frankfurt leider keinen hinlänglichen Bücher-
verkehr hat. ^)
1) In Solgers Nachgelassenen Schriften und Briefwechsel, hg. von Ranmer nnd
Tieck, findet sich keine Spur, dass diese Anknüpfung von Folgen gewesen wäre.
Böckh kam in Berlin bald in Verkehr mit Solger; an Minister von Reitzenstein
schrieb er 17. Oktober 1811 (ungedruckt): ^Unsere Universität hat von Frankfurt
noch den Prof. Solger erhalten, einen gelehrten nnd scharfsinnigen Mann, der in
der Philologie sowohl als Philosophie eine Locke füllt.**
Zeugnisse zur Pflege der deutseben Litteratur in den Heidelb. Jahrbüchern 243
Bei der Correspondenz die hierdurch entstehn wird, darf ich Sie
wohl bitten, mir gelegentlich Nachricht von dem, was in Heidelberg
fär die Wissenschaften merkwürdiges vorgeht, zukommen zu lassen.
Besonders wünschte ich sehr zu wissen, wie es mit^ des Herrn Professor
Creuzer Werk über die religiösen Symbole der Alten steht, und ob man
Hoffnung hat, es bald erscheinen zu sehn, da mir dieser Gegenstand
besonders wichtig ist. Stehn Sie in näheren Verhältnissen mit meinem
Freunde, dem Professor Voss, so bitte ich diesen von mir zu grüssen.
Nehmen Sie gütig die Versicherung der ausgezeichneten Hoch-
achtung an, mit der ich die Ehre habe mich zu unterzeichnen
Ew. Wohlgeboren ergebener Diener
Solger.
59. Jean Paul an August Böckh.
Bayreuth, d. 5. Februar 1810.
Verehrtester Herr Professor ! Schon -einmal hab' ich — mit Dank
fär das Zutrauen der Bedakzion — die Beurtheilung der Herder sehen
Werke ausgeschlagen, weil sie Kräfte federt, welche meine übersteigen
und welche die Redakzion gewiss leichter in ihrem Zirkel aufbietet. ^)
Auch, glaub* ich, wären, da seine Werke schon von der Zeit rezensirt
worden, keine mehr zu beurtheilen nöthig als die zum ersten male ge-
druckten.
Zu beurtheilen wünsch' ich K 5 p p e n s Darstellung des Wesens der
Philosophie, — welche in kurzem erscheint — in so fern sie eines
Schülers meines Freundes Jacobi so würdig ist als ich hoffe. ^) Die
übrigen vorgeschlagenen Werke — Krummacher *), Weltmann, Conti —
sind nicht hier zu haben und leider bei mir jetzt zu wenig Zeit zum
Rezensieren, das mich die dreifache eines eignen Produzierens kostet.
Leben Sie wol in Ihrem so fruchttragenden Leben. ^)
Ihr
Jean Paul Fr. Richter.
1) Es war dies Creuzer gegenüber geschehen (Nerrlich S. 544) : Jean Paul
erklärte auf den Rezensionsantrag, da gerade das historische Auge Herders Polyphem-
Auge sei, während er selbst nur Schmetterlings-Augen habe, Creuzer selbst «mit
seinem reichen, grossen, historischen Sinne"* für weit geeigneter.
2) Anzeige in der Abteilung für Theologie, Philosophie etc. 1810. 2, 97; im
Register: Von F. R. J. P.
3) Vgl. Jean Pauls Kleine Bücherschau (Hempel 52, 108).
4) Obwohl Dicht mit diesem Briefe zusammenhängend, sei doch hier ange-
knüpft, dass, in Weiter führuug der Note auf S. 212, Jean Paul im Jahrgang 1810.
2, 65 Fouques Held des Nordens in drei Teilen rezensierte. Jean Paul schreibt
darüber an Fouque (S. 301) am 30. Juni 1810. Diejenigen Stellen, die Jean Paul
244 Reinhold Steig
60. Karl Justi an August Böckh.
Marburg, 13. Februar 1810.
Hier, mein verehrtester Freund, komnat die Rezension von der
epigrammatischen Anthologie, einem Werke, das ich durch
längeren Gebrauch von einer vortheilbaften Seite kennen gelernt habe.
Da das Ganze noch nirgends, soviel ich weiss, rezensirt worden ist, so
wünschte ich einen baldigen Abdruck dieser Anzeige.^)
Sodann bin ich so frei, Ihnen zwei andere Rezensionen, die ich mit
Müsse verfertigt habe, zu senden. Noch ist von Matthissons An-
thologie in Ihren Jahrbüchern nicht die Rede gewesen; es war also,
wie ich glaube, schicklich, ihrer zu gedenken. Dass ich aber nicht in
das unbedingte Lob habe einstimmen können, womit man hie und da
so freigebig war, werden Sie sehen. (Die etwas strenge Rezension in
der Jenaer Allg. Lit. Zeit. v. 1807 war von mir; dort aber konnte von
den zwei neuesten Bänden noch nicht die Rede seyn.) Gefällt Ihnen die
Rezension, so bitte ich gleichfalls um baldigen Abdruck. Ist das Buch
schon einem andern aufgetragen, so bitte icli um gefällige Zurücksen-
dung meiner Rezension. Sarrazins Romanzen sind auch noch nirgends
rezensirt worden; ein angehender Schriftsteller mit Talent, der aber
doch solche Missgriffe thut, wie Sarrazin, verdient, glaube ich, auf die
Art behandelt zu werden, wie ich diesen Verfasser behandelt habe, d. h.
gerecht, aber human. Im Fach der Ballade und Romanze wird jetzt
allzuviel gesudelt, daher ist Strenge hier nöthig. ')
Die Rezension von Jördens Lexikon 3. Theil habe ich auch noch
nicht abgedruckt gesehen; sobald ich den Abdruck der Rezension er-
halte, soll die Rezension des 4. Bandes nachfolgen. — Am Ende des
1. Semesters 1810 wünschte ich mit den Hrn. Mohr und Zimmer abzu-
rechnen, wenn bis dahin meine eingegangene Rezensionen abgedruckt
darin aus der Heidelberger Rezension im voraus mitteilt, weichen in merkenswerter
Weise von der Druckgestalt ab. Auch Foiiques Eginhard und Emma wurde im
Jahrgang 1811 S. 292 angezeigt oder, wie Fouque sich in seiner Lebensgeschichte
(1840 S. 300) ausdrückt, „durch eine Jean Pauls-Rezension geehrt*".
1) Diese Anzeige von Haugs und Weissers Epigrammatischer Anthologie er-
schien erst 1811 S. 1132; unterzeichnet: Ki.
2) Die Rezension erschien 1810. 2, 80 im Text anonym, im Register: Von Ki.
Dass Justi sich selbst in der Rezension als Muster, wie Sarrazin es besser machen
müsste, neben Bürger hinstellte, hat den herben Tadel Jacob Grimms hervorgerufen,
wie künftig aus dem Arnim- Grimmschen Briefwechsel hervorgehen wird. Man ver-
gleiche auch unten Brief Nr. 68, wo Jacob Grimm die Rezension von Jördens 3. Teil
im Jahrgang 1810. 1, 189 offen tadelt; trotzdem auch 1811 noch von Justi eine
Rezension des 4. und 5. Teiles.
Zeugnisse zur Pflege der deutscheo Litteratur in den Heidelb. Jahrbüchern 245
seyn sollten ; ich habe bisher noch gar nicht abgerechnet, und kann die
alten Hockstände nicht wohl leiden, deswegen wünsche ich die zwei
vorigen Jahrgänge erst zu haben. Die Einlage bitte ich den Herren
gefälligst zuzustellen.
Ist mir's einigermassen möglich, so komme ich in den Osterferien
auf ein Paar Tage mit Freund Creuzer *) nach Heidelberg, um Sie und
meinen alten Freund Creuzer einmal in Ihrem edlen, wohlthätigen
Wirken näher zu schauen. Creuzer hat mich freundlichst eingeladen.
ünsre Universität wird, wie man sagt, sieben neue Professoren er-
halten. Was Hr. v. Leist nun thun wird, wird man nun bald sehen.
Was würde J. v. Müller gethan haben, wenn er für Universitäten frei
hätte wirken können. ,
Meinen lieben Freunden Creuzer, Daub und Schwarz tausend herz-
liche Orüsse! Mit reinster Hochachtung und Liebe
der Ihrige
Justi.
N.S. Werde ich nicht bald eine Anzeige meiner hebräischen An-
thologie in den Heidelberger Jahrbüchern lesen?*) — Wenn Sie für
Meusels Künstler-Lexikon noch keinen Rezensenten bestimmt haben, so
will ich wohl diese Rezension übernehmen, und bitte mir desfalls nur
Ihre Meinung zu eröffnen.
61. C. Windischmann an August Böckh.
Aschaffenburg, d. 13. Februar 1810.
. . Liess doch meine Rezension von Tennemann^), ich mögte Dein
Urtheil wissen. Sage aber Zimmer, er möge für bessere Correctur
sorgen, es steht da S. 60 Scheine statt Scheue, S. 61 unzuver-
lässlichst statt unverlässlichst, mehreres andere nicht zu ge-
denken. In früheren medizinischen Rezensionen wars ebenso.
Loos bitte ich zu bemerken, dass im nächsten Monat die rückstän-
digen Rezensionen kommeü. Dann auch die für Dich . .
Ewig der Deinige
Windischmann.
1) Leonhard Creuzer.
2) Abteilung für Theologie etc. 1810. 2, 3.
3) Sieh oben S. 220.
246 Reinhold Steig
62. Carl Windischmann an August Böckh.
Aschaffenburg, d. 28. Februar 1810.
. . im nächsten Monat, wo ich auch meine literarischen Schulden
an Dich, Daub, Loos abzutragen gedenke . .
Hiebei die verlangte Bezension. ich hatte sie nur erst flüchtig
angesehen und für einseitig gehalten, da der Verfasser alle Mystik ver-
höhnt, wie Creuzer alles mystifizirt; bei genauerer Ansicht sehe ich,
dass Du recht haben magst.
Freilich will ich den Ast behauen, wo möglich abhauen — das
hab' ich Dir ja schon gesagt, hab' Dir auch den Auftrag gegeben mir
die sämmtlichen Hefte zur ßecension schicken zu lassen. Diesen
Menschen muss ich rezensiren . .
(N. S.) Dass D u mit meiner Bezension des Tennemann zufrieden
bist, ist mir mehr wehrt, als der Beifall der ganzen andern Welt . .
. . sei in gutem eingedenk
Deines C. Windischmann.
63. Carl Windischmann an August Böckh.
[Aschaffenburg, März 1810]
Lieber guter Freund!
. . Ich habe nun Görres ^) : er hat fleissig gearbeitet, schäzenswerth,
doch manche nähere Quelle verschwiegen — es ist in der That etwas
gewonnen mit dem Buch, aber manierirt bleibt es, wie alle seine Werke.
Ich rezensire es sogleich, da ich es jezt schon zu mir genommen und
mir alles ausgezeichnet habe: ich hoffe. Du sollst zufrieden seyn.
Adam Müller verzögert sich deswegen, weil ich nicht viel Gutes zu sagen
weiss über eine Schrift, von der man so viel Bühmens macht und dies
thut mir immer leid . .
Ewig Dein Windischmann.
64. Achim von Arnim an August Böckh.
Berlin, 12. März 1810.
Herzlichen Dank, lieber Böckh, für Ihren Brief, ich hätte ihn gleich
beantwortet, aber ich wünschte mancherley mitzusenden, was noch nicht
eingetroffen ist, unter andern ein Paar Becensionen übersetzter spanischer
Schriften von einem hiesigen gründlichen Kenner der Sprache Hrn.
Assessor Siebmann. Sie schrieben mir, dass alle meine Becensionen in
den Jahrbüchern abgedruckt sind, ich vermisse nach den beyden ersten
t) Görres' Mythengeschichte, sieh oben S. 220.
Zeugnisse zur Pflege der deutschen Litteratur in den Heidelb. Jahrbüchern 247
Stücken dieses Jahrganges doch noch zweye, die von Fr. Schlegels Ge-
dichten, eine andre über Jungs Geistertheorie. ^) Wenn ich jezt einigen
Tadel gegen die Jahrbücher erhebe, werden Sie vielleicht argwöhnen,
dass er durch eine geargwöhnte Zurücksetzung veranlasst werde, aber
theils kennen Sie mich besser, theils kenne ich Sie besser. Mein erster
Tadel, den ich sehr allgemein höre, betrifft das schlechte Intelligenz-
blat, welches allen andern Zeitungen ein Hauptinteresse giebt, doch dies
wird wohl wegen der Juristen unveränderlich bleiben. Was aber in
Ihrer Abtheilung doch leicht zu bessern wäre, das ist ein Auffassen
alles dessen, was der Zeit merkwürdig scheint, um davon unterrichtet
seyn zu wollen, nun werden aber solche Sachen theils zu spät, theils
niemals angezeigt, während eine Menge unbedeutender Arbeiten weit-
läuftig rezensirt sind. Sie glauben nicht, wie ungemein wichtig in einer
Zeit wie die unsre, die so schnell verdaut, die durch eine Zahl allge-
meiner Blätter so schnell bedient wird, die augenblickliche Beurtheilung
von Schriften ist. Fried. Schlegels Schriften vor einem halben Jahre
angezeigt, wo in allen Zeitungen von ihm gesprochen war, hätte doppelt
so viele Leser angezogen; warum ist noch keine Bezension der ver-
schiednen Schriften über Johannes Müller erschienen, der Wahlverwandt-
schaften, Hirts Baukunst der Alten, Jean Pauls Schriften u. a. m. Die
Bibliothek der Abentheurer und den Feldprediger Schmelzle werde ich
rezensieren,') weil Sie es mir aufgetragen, den Best dieses Auftrages habe
ich aber fast noch nicht mit Augen gesehen, es ist sehr schwer hier
Bücher zu bekommen, nirgends kann der Sortimentsbuchhandel un-
ordentlicher betrieben werden. Ich sende Ihnen zwey Bezensionen, eine
ist ein wunderlich Buch, das in manchen Kreisen viel Aufsehen gemacht
hat, ^) das andre, den Bitter, habe ich mit Lust und Liebe und ganz in
allgemeiner menschlicher Beziehung geschrieben, alles eigentlich Physi-
kalische aber nicht berücksichtigt, ich glaube, dass ein schneller Ab-
druck davon gut thäte, es ist noch nirgends etwas darüber gesagt.^) Die
Geschichte mit der Bezension von Görres ist sehr lächerlich; ich habe
sie durchaus nicht gelesen als soweit sie abgedruckt, nur abreisend von
Heidelberg erhielt ich einen Brief von Görres der mich erinnerte eine
1) Zu den Rezensionen von Fr. Schlegels Gedichten and Jungs Geisterkunde
sieh oben S. 240 und 221.
2) Was nicht geschehen ist.
3) Die g&nzlich anonyme Rezension von dem Buche »Die Versuche und Hinder-
nisse Karls'*, im Jahrgang 1810. 2, 347.
4) Die Rezension von Ritter, Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen
Physikers (vgl. unten S. 252) in der Abteihmg für Theologie, Philosophie etc. 1810.
2, 116; im Register: von tt — g.
248 Reinhold Steig
Verbesserung darin zu machen, die ich aber nur dabey notieren konnte,
weil das Blat, wozu sie eigentlich gehörte, noch unterweges war; die
Geschichte gehört wieder characteristisch zu Heidelberg. Wilken grüssen
Sie doch vielmal so wie seine Frau und Kind, ich hätte ihm geschrieben,
wenn ich nicht in diesem Augenblicke durch einen Todesfall in meiner
Familie sehr beschäftigt wäre, Greuzer, Krapfries und allen Bekannten
viel Herzliches, der Frühling fängt bald an und da wird es auf Ihren
Bergen hochhergehen. Gluckzu.
Achim Arnim.
65. A. W. Schlegel an August Böckh.
Coppet, d. 2ten April 1810.
Hochgeehrtester Herr Professor!
E. W. sende ich hiebey die Antwort des Hrn. von Barante auf Ihre
ihm mitgetheilten Vorschläge. ^) Sie sehen, dass er bereitwillig darauf
eingeht, und es ist nun an dem Secretär Ihrer Jahrbucher sich zu 'ent-
scheiden, ob er die Stelle antreten will, und uns baldigst seinen Ent-
schluss wissen zu lassen. Die, wo ich nicht irre, schon erwähnten
Bedingungen wiederhole ich zum Ueberfluss. Sie sind: ein Gehalt von
1200^ oder 50 Carol. nebst freyer Kost und Wohnung; Vergütung
der Reisekosten ; der Vertrag gilt auf ein Jahr, und sollte auf einer
von beyden Seiten keine Erneuerung desselben beliebt werden, so steht
Hr. von Barante auch die Rückreise. Er wird nach der Mitte Aprils
in seiner Präfectur zu Napoleon im Dept^de la Vendee zurückseyn.
Der Secretär könnte gerade zu an ihn schreiben, thut er es aber auf
Deutsch, so müsste er sich dabey lateinischer Schrift bedienen. Er
kann aber auch seine Antwort an mich richten oder beyschliessen, und
wiewohl ich im Begriff bin nach Frankreich abzureisen, treffen mich
die Briefe am sichersten, wenn sie hieher adressirt werden. Je eher
er die Stelle antreten kann, desto angenehmer wird es seyn.
1) de Barante ä monsieur Schlegel: j'ai fort k tous remercier, du soin que
V0U8 avez bien voulu prendre pour ce que je soubaite. il me semble que le secre-
taire des annalles litteraires doit §tre un hemme tout convenable et fort instruit.
on ne redige assurement pas le Journal de Heidelberg avec autant de facilite que
nos jouroaux de France et il y faut plus de savoir. quant au savoir faire je m'en
passerai bien, je ne veux que m'instruire et m'occuper. ainsi, monsieur, je m'en
rapporte plelnement k vous. si vous croyez que 1a chose puisse convenir, je vous
reroercierai de la conclure. je vous prie, monsieur, de croire ä mon sinc^re et
durable attachement. de Barante.
ZeiigDisse zur Pflege der deutschen Utteratur in den Heidelb. Jahrbüchern 249
E. W. reichhaltige Schrift aber die Tragiker habe ich jetzt gelesen,
jedoch fehlte es mir noch an Müsse, es mit der Aufmerksamkeit zu
thun, die sie verdient, d. h. immer dabey die alten Dichter nachzulesen.
Sollte ich eine zweyte Ausgabe meiner dramaturgischen Vorlesungen
erleben, so werde ich nicht ermangeln meine Versäumniss nachzuhohlen,
und meine üehereinstimmung mit Ihnen oder meine Zweifel zu äussern.
Die Beurtbeilung des Ariost habe ich seit Ihrem Briefe eingesandt;
der des Winkelmann wird meine nächste freye Müsse gewidmet seyn. ')
Dass die Herren Uedactoren für gut gefunden, zwey Aufsätze gegen
meines Bruders Kecension des Stollberg einzurücken, kann ich wohl
begreifen'); ich will Ew. W. aber auf einen andern indirecten Angriff
auf ihn aufmerksam machen. Philol. p. III Jahrg. 2teB Heft steht eine
Recension zweyer Schriften von Hrn. v. Dalberg. Der Beurtheiler will
ganz offenbar S. 59 meines Bruders Ansicht vom Pantheismus wider-
legen. Auf der folgenden Seite hingegen, wo er alle unbedeutenden
Schriften über die Indier nennt, wovon die meisten ja nur Afterüber-
setzungen aus dem Englischen sind, übergeht er geflissentlich die meines
Bruders, die erste in Deutschland, und überhaupt in Europa ausser
England, aus den Quellen geschöpfte, ohne deren Kenntniss alles nur
Geschwätz bleibt. Eine solche stillschweigende Feindseligkeit gegen
einen verdienten Mitarbeiter hätte wohl billiger Weise ganz zurück-
gewiesen oder mit einer Berichtigung begleitet werden sollen. Ueber-
haupt befremdet es mich, dass eine so wichtige Schrift wie die über
die Sprache und älteste Weisheit der Indier, die unsrer Litteratur Ehre
macht, und wovon ein übersetzter Abschnitt in Frankreich schon die
grösste Aufmerksamkeit erregt hat, in Ihrer Zeitschrift immer noch
nicht angezeigt worden.^)
Ich danke Ihnen für die Nachricht von den Brüdern Grimm, die
mir bey meiner Entfernung von Deutschland unbekannt geblieben waren.
1) Ueber die beiden Rezensionen siehe oben S. 239. In Friedrich Schlegels
Briefen an seinen Bruder Wilhelm, soweit sie erhalten, geschieht die einzige Er-
wähnung der Heidelberger Jahrbücher an der Stelle, wo Friedrich schreibt (Walzel
S. 531) : „Mohr & Zimmer haben die Geschicklichkeit gehabt, mir grade alle Stücke
von den Jahrbüchern zu schicken, nur grade die beyden nicht, welche mich allein
oder fast allein interessirten ; nemlich worin Deine Recensionen vom Titurell und
Winkelmann enthalten sind/
2) In der Abteilung für Theologie 1808 S. 266 hatte Friedrich Schlegel mit
voller Namensuoterschrift Friedrich Leopold Stolbergs Geschichte der Religion Jesu
Christi beurteilt. Dagegen erschienen an der Spitze des Jahrgangs 1809 derselben
Abteilung „Bemerkungen über einige Stellen in Fr. Schlegels Rezension etc."" und
eine zweite Rezension des Stolbergschen Buches ebendaselbst S. 54.
3) Vgl. oben S. 235. 236 zu Brief Nr. 53.
250 Reinfaold Steig
Es ist zu verwundern und zu loben, dass Leute, die im Dienst einer
so neudeutschen Regierung stehen, das Altdeutsche so gut kennen. Die
Herren sind etwas bey der Hand mit Tadeln: das pflegt so zu gehen,
wenn man jung ist, und selbst noch nichts bedeutendes geleistet hat.
Tch empfehle Ew. W. eine kürzlich in französischer Sprache er-
schienene Lebensbeschreibung Zwingli's von Hrn. Hess aus Zürich zu
baldiger Beurtheilung. Der Vf. wird der Redaction ein Exemplar zu-
stellen lassen. Der gelehrte Hr. Professor Wilken würde mich sehr
verbinden, wenn er die Anzeige übernehmen wollte. ^)
Noch verguss ich, dass das mit Hrn. von Ghamisso ein Irrthum
ist. Ew. W. verwechseln Napoleonville mit Napoleon. Das letzte ist
eine fast nur noch im Entwürfe vorhandne Stadt.
Mit ausgezeichneter Hochachtung
Ew. Wohlgeb.
ergebenster
A. W. Schlegel.
66. August Böckh au Achim von Arnim.
Heidelberg, den 2. April 1810.
(Redactionsformular ; die «unten verzeichnete Schrift", deren Beur-
theilung gewünscht wird, ist:)
Ferdinand Miller, Roman von Ernst Wagner.
(darunter, noch auf der ersten Seite des Formulars:)
Nachschrift zur auf der folgenden Seite befindlichen
Vorschrift.
Wagner schreibt zwar, dass Sie auch den 2. Band seines vorigen von
Ihnen recensirten Romans nicht übernehmen wollten. Warum nicht?')
üeber Ihre Recension des Attila hat der Vorleser in seinen Monologen
im Jason nicht genug Ausruf ungszeichen machen können.') Da der Jason '^)
nunmehr aus dem Ministerium kommt, und Hofrichter in Mannheim
wird, so hat er viele Zeit nach Eolchis zu schiffen; wenn er nur end-
lich statt des Dreckgelben Felles das goldne mitbrächte! Er dcheint
stets denselben Weg umsonst zu beschiffen.
1) Eine anonyme Rezension von Hess, Yie d'Ulrich Zwingle im Jahrgang
1811 S. 1065.
2) Sieh oben S. 241.
3) Sieh H. v. Kleists Berliner Kämpfe S. 393.
4) d. i. Graf Benzel-Sternau.
Zeugnisse zur Pflege der deutseben Litteratnr in den Heidelb. JahrbQchern 251
«
Recensionen von Hrn. Assessor Siebmann werden uns sehr angenehm
seyn; künftige Messe will ich ihn auch zuna Recensiren noch besonders
einladen. ')
(Auf der zweiten und dritten Seite .des Formulars :)
Ihr letzter Brief, verehrter Freund, war mir sehr erfreulich, indem
ich schon lange neue Beyträge von Ihnen erwartete, wenn auch die
alten noch nicht alle verbraucht waren. Ich hatte Ihnen geschrieben,
dass Ihre Recensionen bereits alle gedruckt wären; Ihnen mangelte aber
noch Jungs Geisterkunde und Fr. Schlegels Gedichte. Jungs Geister-
geschichten gehen mich iedoch gar nichts an, wie Sie wissen, und daran
konnte ich also gar nicht denken ; was aber Fr. Schlegels Gedichte be-
trifft, so waren diese damals wirklich in der Druckerey, wurden aber
aus Mangel an Raum von unsrem Secretär immer wieder zurückgelegt,
sind nun aber in dem iüngst erschienenen und schon in voriger Woche
ausgegebenen Hefte wirklich erschienen. ') Aber hier muss ich Sie sehr
um Entschuldigung bitten, bester Freund ! Sie kennen die bedenklichen
Zeiten ; Sie leben freylich in Preussen, wo Sie ieder Anfechtung unaus-
gesetzt sind ; aber Sie wissen, wie den Süddeutschen ieder Ausdruck ietzt
missdeutet wird; Sie werden es daher nicht übel nehmen, wenn Sie in
der gedachten Recension einige Aenderungen gemacht finden werden.
Darüber könnten Sie sich freylich beschweren, dass ich nicht mit Ihnen
früher darüber conferirt habe; aber ein Zufall verhinderte dieses ge-
rade. Denn da ich, ohne irgend einen Anstoss zu ahnden, Ihre Kritik
in den Druck gab, so fiel mir das Ganze erst in der Correctur auf,
und es musste daher die Aenderung gleich, ohne die Möglichkeit wei-
teren Conferirens, von mir selbst gemacht werden. Da auf unsere Nah-
men die Jahrbücher censurfrey gedruckt werden, so müssen natürlich
wir auch die Verantwortung dafür stehen. Sie sehen hieraus auch, dass
an Zurücksetzung gar nicht zu denken ist; und Sie werden davon weit
weniger noch sprechen können, wenn Sie wüssten, in welchem Gedränge
ein Redakteur bey der Masse der Materialien ist, wovon manche wohl
Jahre lang im Pulte liegen, ehe der harrende Verfasser seine Arbeit
wieder zu Gesichte bekömmt.
Was Ihren Tadel betrifft, so gebe ich Ihnen zu, dass er gegründet
ist; aber bedenken Sie auch anderseits, was sich zur Entschuldigung
sagen lässt. Das Intelligenzblatt kann bey der ietzigen Einrichtung un-
1) In Böckbs Nachlass keine Spur einer Anknüpfung mit Siebmann (geadelt
als von Granenthal).
2) Sieb oben S. 240.
252 Keinhold Steig
möglich das werden, was Sie wünschen, indem es schon im Verhältniss
gegen die übrige Masse unförmlich gross werden würde, zumahl bey
den einzelnen Abtheilungen, wo es wohl die Masse der Kecensionen an
Umfang bei Weitem übertreffen würde. Auch würden wir doch mei-
stens die andern Zeitungen ausschreiben müssen; und das ist doch eine
sehr geringe Buchmacherey. Was das schnelle Recensiren in die Zeit
einwirkender Bücher betrifft, so sagen Sie mir nur, wie es zu machen!
Sie meinen freylich, es wäre leicht zu bewirken, ist es aber keinesweges.
Ich halte mich an die von Ihnen genannten Bücher : die Wahlverwandt-
schaften hatten die beyden Schlegel übernommen; um eine Kecension
von diesen wartet man wohl einige Zeit ; zuletzt bekommt man sie doch
niclit. Ernst Wagner hatte sie gleichfalls ; aber dieser ist ietzo körper-
lich zu elend. ^) Hirths Baukunst ist seit Jahr und Tag dem Senator
Stieglitz in Leipzig aufgetragen; eben so lange die Jean-Paulschen
Schriften^): aber die Becensenten sind eben nicht so allzeit fertig, wie
die Weimarschen Kunstfreunde, die ohne Kenntniss der Sache, meisten-
theils, mit schönen Worten allerley mehr anzeigen als beurtheilen.') Be-
denken Sie auch, dass unsere Jahrbücher auf Schnelligkeit schon wegen
der Lage unserer Stadt verzichten müssen, da die Bücher erst aus dem
Norden zu uns kommen, meist in den Norden wieder zur Recension
gehen, und dann zurück, und die Recensionen dann wieder, zum Theil
wohl langsam, gedruckt nach dem Norden. Auch ist der Spruch so
wahr, dass erst nachdem der erste Rausch verbraust ist, nach Jahren
die Bücher frey und partheylos beurtheilt werden können, und so scha-
det denn das Späte auch nichts. Sie meinen. Manches Unbedeutende
käme eher und wäre weitläuftiger angezeigt. Allein wie vielfältig ist das
Interesse! Jeder will etwas von dem Seinen; und wahrhaftig ein Re-
dacteur einer Zeitung, zumahl einer so in 5 Abtheilungen zerspaltenen,
ist nicht minder in Verlegenheit, als der Theaterdirector im Faust;
allein man muss ein für allemahl auf allgemeine Befriedigung verzichten.
Ihre Kritik des Ritter soll hoffentlicfh im philosophischen Heft, wo
sie früher wird erscheinen können, frühzeitig abgedruckt werden.*) Wegen
des Wunderhorns bin ich von Ihrer Unbefangenheit vollkommen über-
1) Wegen der Wahlverwandtschaften sieh S. 239. 241. 253. 258.
2) Görres lieferte sie im Jahrgang 1811.
3) Diese Wendung gegen Goethe ist sehr bemerkenswert, erscheint aber auch
bei anderen Heidelbergern, so bei Görres in der Jean Paul-Rezension; und auch
Wilhelm Schlegel macht in der Winkel mann-Kezension zuletzt ein paar Bemerkungen
gegen Goethes Schrift .Winkelmann und sein Jahrhundert**.
4) Sieh oben S. 247.
Zeugnisse zur Pflege der deutschen Litteratur in den Heidelb. Jahrbüchern 253
zeugt: ich habe vor wenigen Wochen mir den Rest der Becension von
Wilkcn, der ihn in Beschlag hatte, wieder zu verschaffen gesucht; allein
lächerlich wird's nun allerdings seyn, nach so langer Zeit die Fort-
setzung folgen zu lassen. Doch hat Creuzer allerdings einen Fehler ge-
macht, indem er die Recension, wie er mir sagte, an Savigny und Bren-
tano nach Landshut verschickt hatte, und die Zufriedenheit derselben
damit als ein besonderes Motiv des schleunigen Abdruckes selbst öffent-
lich aufstellte. Es ist hier allerdings viel Kleinigkeitsgeist; aber mit
etwas mehr Vorsicht und Consequenz, als Creuzer besessen, konnte vie-
les vermieden werden, was, nach so grossen Fehlern von Seiten der
bessern Parthey, nun einmahl auf viele Jahre im Argen liegt. ^)
Das Wetter ist trefflich; unsere Aussichten erheitern sich auch
sonst: aber die Hoffnung, dass Sie wieder kommen, ist durch die Ber-
liner Universität nun ganz dahin. ^) So leben Sie denn wohl in Ihrem
beneidenswerthen Berlin. Grüssen Sie alle, die mich etwa kennen.
Der Ihrige
Böckh.
67. Carl Windischmann an August Böckh.
Aschaffenburg, d. 11. Mai 1810.
Oeliebter Freund!
. . Ich muss erst wieder recht Lust an der Arbeit gewinnen, das
fehlt mir noch vor allem andern. Dies ist auch der Grund, warum
Daub die Fortsezung der Tennemannschen Rezension noch nicht erhalten,
die doch wirklich in der Arbeit ist. Für Deinen Antheil bekommst
Du nächstens die Rezension von Adam Müller. Ich muss mich durch
die Kritik wieder hineinschaffen in meine eigne Sphäre. Dann wird
sogleich Görres vorgenommen und Ast (den ich jedoch noch nicht
habe) . .
Also haben wir beide die Wahlverwandschaften verstanden und
gefühlt! — In diesem Buche steht mein innerstes Leben — wie? dies
kann ich Dir nur von Angesicht zu Angesicht sagen, wenn ich es je-
mals irgend einem sage und auf die rechte Weisse sagen kann. Mich
hats nicht verwirrt, sondern zur vollen Klarheit gebracht; ich bin ihm
zwar tiefen Schmerz, aber auch die tiefste Selbsterkenntniss schuldig.
1) Sieh oben S. 214. 247.
2) Das bedeutet doch wohl : Arnim werde, im Anschlüsse an die Berliner Uni-
▼ersit&t, nun finden, was er sonst in Heidelberg angestrebt hätte, und bezieht sich
mit auf das „Doctorat*" (oben S. 235).
254 Reinhold Steig
Ach! könntest Du mir erlauben diese Schrift in den Jahrbüchern dar-
zustellen, ich weite Dinge darüber sagen, welche Göthe, Dich und
jeden, dem dieses Licht leuchtet, von Herzen freueten. Es wäre mir
leid, wenn's auch da so schief beurtheilt würde wie überall. Solte
nicht möglich seyn, über etwas dergleichen zwei Rezensionen zu
geben? Sonderbar! ich bin gewiss, dass ich das rechte sagen würde
und doch eben so gewiss, dass ich in mir selbst eben solche wahre
aber weit tiefere Ansicht zurückbehalten würde und müsste . .
Lebe wohl. Ewig
Dein Windischmann.
68. Jacob Grimm an August Böckh.
Cassel, U. Mai 1810.
Hochgeschätzter Herr Professor
ich bin so frei anzufragen, ob eine im März abgeschickte Anzeige
von Beneckes Minneliedern, um deren baldige Einrückung ich gebeten
hatte, richtig angelangt ist? Das Gegentheil wäre möglich und wird
mir sogar wahrscheinlich, als ich auf einen im Paquetchen zur weitern
gefälligen Absendung eingeschlossenen Brief an Herrn Prof. Görres zu
Coblenz bisher noch keine Antwort erhalten habe.
von dem unlängst erschienenen 2ten Heft des altdeutschen Museums
stehe ich fast an, für die Heidelberger Jahrbücher eine Becension nieder-
zuschreiben, da Sie wahrscheinlich einen überflüssigen Vorrath an bessern
und wichtigeren haben, vielleicht scheint Ihnen dann folgender Vor-
schlag angenehm, dass Sie mir die noch nicht abgedruckte Recension
des ersten Hefts des Museums zurückschickten, ich würde dann, da
beide Hefte eigentlich einen Band und ein Ganzes ausmachen, und
einige im ersten abgebrochene Abhandlungen im zweiten schliessen, die
Anzeige beider in einander verarbeiten, wodurch vermuthlich das Ganze
nicht eben weitläufiger werden würde, als die Beurtheilung des ersten
Hefts. .
von der Becension des Buchs der Liebe habe ich seitdem nichts
gehört, als ich sie nebst der mir mitgetheilten schlegelischen im Januar
zurücksandte. In der abgedruckten kleinen Anzeige vom Schauspiel
Judith habe ich einige auffallende Druckfehler angetroffen, sie aber
nicht notirt und jetzt das Heft nicht zur Hand.
Ist es erlaubt zu wissen, wer der andere D. A. E ist ? der nicht
der jüngere Voss ist. ^) Einige kleine Becensionen, die z(war) in den
1) Sieh darüber oben S. 216 und den folgenden Brief.
Zeugnisse zur Pflege der deutschen Litteratur in den Heidelb. Jahrbüchern 255
Heften hinten, aber im ganzen dann doch in der Mitte stehen, haben
mich nicht sehr erbaut, z. B. die des Jördensschen Lexicons von Ei
(Justi in Marburg?) Sie müssen mir aber meine Freimüthigkeit zu
gut halten.
Ich empfehle mich nebst meinem Bruder Ihrer Gewogenheit ganz
ergehenst
Grimm.
69. August Böckh an Jacob und Wilhelm Grimm.
(Bedactionsformular; äussere Postadresse: Sr. Wohlgeboren Hrn.
Jacob Grimm, Auditor beym Staatsrath, in Cassel, Johannisstrasse,
bey dem Kaufmann Hrn. Simon Wille. Mit einer Beylage. — Am
Kopfe des Formulars dagegen:)
Heidelberg, den 31. Mai 1810.
An Herrn Grimm, Privatgelehrten in Cassel
Wohlgeb.
(Die .unten verzeichneten Schriften^, deren Beurtheilung gewünscht
wird, sind:)
Nibelungenlied. Critische Ausgabe v. Dr. Fr. H. von der
Hagen. Berlin Hitzig.
Büsching und von der Hagen, Museum der altdeutschen
Litteratur, 2. Heft.
(auf der inneren Blattseite :)
Hochgeschätztester Herr,
auf Ihre gütige Zuschrift vom 14. May habe ich, wenn auch etwas
spät, die Ehre Ihnen zu melden, dass die Kecension von Benecke's
Minneliedern bereits im Druck ist ^) ; auch habe ich den Brief an Görres
besorgt, aber weiter nichts mehr davon erfahren.
Ihren Vorschlag wegen des Museums von Büsching und von der
Hagen nehme ich mit Dank an, und sende Ihnen daher die Recension
des ersten Heftes zurück, um von beyden eine zu erhalten. Dass sie
bisher nicht abgedruckt worden, liegt daran, weil ich den spärlichen
Kaum unter so viele Fächer theilen muss, und gerade im Fache der
altdeutschen Litteratur relativ am meisten geliefert worden war. Desto
mehr werde ich nachher sorgen, die Recension beyder Hefte schneller
zum Druck zu befördern.^) Davon mag denn auch Veranlassung ge-
1) Erschien 1810. 1, 371 (Kleinere Schriften 6, 11).
2) Sieh oben S. 211.
N'RUK HßlDKLH. .TAHRBÜECHRR XI. ^7
256 Reinhold Steig
nommen werden, Ihre Becension des Buches der Liebe beyzufügen,
welche sogleich nach Schlegel folgen zu lassen unpasslich schien.')
Was die Druckfehler betrifft, so habe ich deswegen schon häufige
Vorstellungen gemacht, welche aber bisher wenig gefruchtet haben ; ich
selbst bin mit mannigfaltigen Geschäften zu sehr überhäuft, als dass
ich durch eigene Bemühung helfen könnte. Von manchen kleinen Be-
censionen bin ich eben auch nicht erbaut; überhaupt missbillige ich
vieles an unserem Institut, was ich nicht abändern kann. Die zu-
sammengesetzte Bedäction hat neben vielem Guten auch manchen Nach-
theil. Der andere D. A. E. ist der Kabinetssecretär Wagner in
Meiningen, welcher aber, wegen einer Kränklichkeit, die ihn täglich
sein Ende erwarten lässt, keinen weitern Äntheil nehmen kann. Wenn
Sie mir im Fache der Poesie und der verwandten Litteratur einige
tüchtige Männer als Mitarbeiter nennen könnten, würde ich Ihnen vielen
Dank wissen. In diesem Fache wechseln die Becensenteu so sehr;
Fr. Schlegel, Jean Paul, A. W. Schlegel, Arnim u. a. wechseln ; und
keiner hat lange Ausdauer!
Ich empfehle mich Ihnen und Ihrem Herrn Bruder bestens.
Der Ihrige
Böckh.
70. Johann Georg Zimmer an Achim von Arnim.
[Leipzig, Juni 1810]
Hierbey, mein geliebter Freund, erhalten Sie nebst einem Brief von
Görres ein Exemplar seines Buches, worin Sie sich mit unserm Bren-
tano teilen sollen; wenn Sie künftig einmal sich trennen, dann soll der
abgehende Theil sein eigenes haben. ^)
Ihr Briefchen hat mir Beimer gebracht, aber das Manuscript werde
ich nun wohl nicht mehr hier erhalten, denn ich gehe in drei Tagen
ab. Schicken Sie es entweder durch Reimers Einschluss (was mir des
hohen Portos wegen am liebsten wäre) oder direkt an J. F. Gleditsch
Buchh. allhier mit dem Auftrag, es dem nächsten PostPacket an uns
beyzuschliessen. Auf diesem Wege wünschte ich überhaupt künftig auch
Ihre Briefe und Beyträge für die Jahrbücher zu erhalten. Ich erhalte
es immer innerhalb acht Tagen. ^)
1) Sieh oben S. 237.
2) Görres' Mythengeschichte der asiatischen Welt mit seinem Briefe vom
11. Mai 1810: sieh Neue Heidelberger Jahrbücher 1901. 10, 139.
3) Das ^Briefchen** Arnims fehlt im Buche über Zimmer; das „Manuskript"
ist das zu Halle und Jerusalem. Vgl. oben S. 235.
Zeugnisse zur Pflege der deutschen Litteratur in den Heidelb. Jahrbüchern 257
Von der Messe lassen Sie sich Reimer erzählen. Wenn sie auch
schlecht war, so zeigte sich doch wenigstens einige Hoffnung zu einer
künftigen bessern.
Grüssen Sie Brentano herzlich. Wie gerne hätte ich Sie hier ge-
sehen! Leben Sie recht wohl!
Ihr treuer Zimmer.
(Nachschrift :) Ich freue mich erschrecklicli nach Haus zu kommen.
Denn ich habe nun auch ein Mädchen neben dem Knaben. Die Frau
Prof. Wilken ist sammt ihrem Kinde mit mir hierher gereisst und geht
wieder mit mir zurück.
71. Johann Gustav Büsching an August Böckh.
Berlin, d. 15. Juni 1810.
Mein Freund Kannegiesser ladete Ew. Wohlgeboren im Anfange
dieses Jahres zur freundschaftlichen Theilnahme an einem Journal für
Wissenschaft und Kunst, Pantheon betitelt, ein, welches Sie damals
nicht ganz von der Hand wiesen. Bei der jetzt bestimmten Fortsetzung
auch im folgenden Jahre, lade ich Sie ergebenst unter den schon ge-
meldeten Bedingungen noch einmal ein, mit der Bitte, uns recht bald
mit einem Beitrage zu erfreuen.
Eine aus dem Pantheon besonders abgedruckte Abhandlung meines
Freundes Bernhardi : über das Alphabet, hoffe ich, werden Sie durch eine
Buchhandlung von der Leipziger Messe bekommen haben. Sie war von
Bernhardi für Sie bestimmt. Die einliegende Ankündigung empfehle ich
Ihnen freundschaftlichst. *)
Hochachtungsvoll
Ew. Wohlgeboren
ergebener
Dr. Büsching.
72. Carl Windischmann an August Böckh.
Aschaffenburg, d. 27. Juni 1810.
Geliebter Freund!
. . Hier hast Du die Rezension von Gör res; möge sie Deinen
Beifall erhalten : sie ist ehrlich und von Herzen für die Sache und den
Verfasser. Lass sie bald abdrucken.')
1) Diese Ankündigung des Pantheons im 10. Intelligenzblatt der Heidelberger
Jahrbücher von 1810 abgedruckt: hierin sowohl wie in der Vorrede des Pantheons
ist Böckh als Mitarbeiter aufgeführt.
2) Sieh oben S. 220.
17*
258 Reinhold Steig
Hast Du dann die hündisch schlechte Rezension meines Versuchs
über den Gang der Bildung in der heilenden Kunst gelesen ? ^) Der Mensch
hat nicht einmal das Buch gelesen, verwechselt Bacons, Sydenhams und
andre Ansichten mit der meinigen — weiss von der Geschichte der
Kunst nichts und hat den Leichtsinn ins blaue zu schwäzen! Ich
habe Ackermann eine klare Epistel darüber geschrieben, wie er so etwas
nur abdrucken Hess. An dem ganzen Jammer ist Schubert schuld, der
die Sache zu lange verzögerte, weil er mir in jeder Hinsicht genug
thun wolte, und nun wurde sie durch Loos einem andern übergeben und
verhunzt. Indessen werde ich dazu still schweigen, solches Lob und
solcher Tadel bekümmern mich wenig. Der Autor ingenuus karakter-
sirt sich selbst genug.
Welche Freude machst Du mir mit dem Auftrag der Darstellung
der Herderschen Werke. Ich sehe das als Belohnung meiner nun
20 jährigen ununterbrochenen Liebe für den Verfasser an.^) Und um
Göthes Wahlverwandschaften solls Dich nicht reuen, dass Du
sie mir zugestanden.^) Nur vergiss nicht wieder, dass Du diese Bücher
mir zugetheilt, wie Du es mit Görres vergessen zu haben scheinst, den
Du mir ja schon vor einem Jahre fest übertragen hattest.
Lebe wohl. Ewig
Dein Windischmann.
73. August Böckh an Achim von Arnim.
[Heidelberg] d. 13. July 1810.
Meinen letzten Brief werden Sie ohne Zweifel richtig erhalten haben,
worin ich Ihnen über allerley unklare Punkte ziemlich ausführlich ge-
schrieben habe.^) Ihre letzten Becensionen sind leider noch nicht gedruckt ;
die über Ritter habe ich zur schnellern Förderung an Daub gegeben,
der sie aber, wie ich sehe, immer noch nicht drucken lässt. Die Ver-
- suche Carls sind gegenwärtig in der Presse. ^) Es fehlt uns gar zu sehr
an Raum, um die mancherley Bedürfnisse zu befriedigen ; ich hoffe aber
mit nächstem Jahre wenigstens 8—9 Bogen Zulage zu meinem Hefte
zu bekommen. Mit der Fortsetzung der Wunderhornsrecension habe ich
gegenwärtig einen Plan, welchen ich durchzutreiben gedenke, wodurch
1) Abteilung für Medizin 1810 S. 214, anonym.
2) Erschien im Jahrgang 1812 S. 385. 417; im Text und im Register: Von
C. J. W— n.
3) Sieh oben S. 252.
4) Oben S. 250 Nr. 66.
5) Zu Ritter und zu Carls Versuchen vgl. oben S. 247.
Zeagnisse zur Pflege der deutschen Ldtteratur in den Heidelb. Jahrbachem 259
sie endlich auch zu Tage gefördert werden wird.^) Ueberhaupt dürfen
Sie von meinem guten Willen und meiner Bereitwilligkeit überzeugt
seyn, das Gute und das freye Urtheil in uhsem Jahrbüchern zu erhalten;
es wird mir aber von der alten bekannten Parthey thätig entgegen-
gewirkt, insbesondere von Thibaut.
Die Mythengeschichte von Qörres ist ein vortreffliches Buch, welches
Sie hoffentlich angesehen haben werden. Es liegt davon auch schon
eine schöne Kecension bey mir, die wegen des beengten Raums immer
auch noch nicht vom Stapel laufen kann.^) Es ist ärgerlich, dass ich
die besten Sachen oft zurücklegen muss, weil ich so wenig Raum habe,
während bey der Redaction der andern Hefte, besonders beym juristi-
schen, oft der grösste Mangel ist.
üebrigens ist mir das ziemlich hölzerne Leben hier ziemlich ver-
leidet; ich wünschte nichts sehnlicher, als bey Ihnen seyn zu können,
wo eine schöne neue Welt, unter der liberalsten Unterstützung einer
Regierung emporblüht, welche ich vor allen Deutschen liebe und ieder-
zeit geliebt habe. Ach wann wird die Zeit kommen, da ganz Deutsch-
land sich einer solchen Morgenröthe erfreuen kann!
Grüssen Sie Brentano von mir, und wer sich sonst meiner erinnert,
und vergessen Sie nicht einen Freund, dem Sie so theuer sind.
Böckh.
74. A. W. Schlegel an August Böckh.
Chaumont an der Loire, d. 6\^ August 1810.
Hochgeehrtester Herr Professor!
Ew. Wohlgeb. verzeihen gütigst die so lange Verzögerung meiner
Antwort auf Ihren verbindlichen Brief vom 24 sten April, der mir erst
hier und also ziemlich spät zugekommen ist. Eine beträchtliche Reise,
mancherley Abhaltungen und überhäufte Beschäftigungen sind Schuld
an meiner Versäumniss.
Was Sie mir von Hrn. Wagner melden, scheint es allerdings sehr
wünschenswert zu machen, dass er auf den Vorschlag eingehen möchte,
den Sie ihm gethan. Sie würden mich also sehr verbinden, wenn Sie
mir baldigst nur durch einige Zeilen melden wollten, ob er entschieden
bejahend geantwortet hat. Die Unentschlüssigkeit des Secretärs Ihrer
Jahrbücher, da er anfangs verneinend geantwortet und nachher diess
1) Sieh oben S. 214.
2) Sieh oben S. 257, von WindiBchmann.
260 Reinhold Steig
wieder zurückgenommen, macht, dass die Sache einer neuen Wahl an-
heira gegeben werden kann. Indessen wünschte ich zugleich zu wissen,
wie dieser Mann letztlich über den Vorschlag gesinnt ist. Er kennt
die Bedingungen, er hat nun schon einige Zeit lang seine neue Stelle
bey der Bibliothek verwaltet, und wird also keine Schwierigkeit haben
sich zu entscheiden, ohne dass wir von unsrer Seite nöthig hätten, ihm
im voraus eine ganz bestimmte Entscheidung zu geben. Die Bestimmung
des Reisegeldes wird keine Schwierigkeit machen.
In einigen Wochen hoffe ich mit Hrn. von Barante zusammenzu-
treffen, es ist daher mein dringender Wunsch zuvor Nachricht über die
EntSchliessung der beyden Männer, denen der Vorschlag durch Sie ge-
macht worden, zu haben. Hrn. Wagners Geneigtheit könnte allerdings
die Wahl noch anders entscheiden, da Hr. von Barante ein grosser Lieb-
haber der Musik ist. Ich will Ihnen nicht bergen, dass auch Hr. von
Chamisso, dessen Ernennung in Napoleonville ein Irrthum war, und der
sich gegenwärtig hier bey mir befindet, ihm vorgeschlagen worden ist.^)
So lange die vorläufig gethanen Vorschläge noch niemanden zu einem
Schritt bewogen haben, der seine Verbältnisse verrückt und dadurch für
den andern Theil bindend wird, ist es, däucht mich, immer erlaubt,
sich die Wahl frey zu lassen.
Ihre Erklärung über die meinen Bruder betreffenden Erwähnungen
und Verschweigungen in den Heidelbergischen Jahrbüchern'), habe ich
ihm mitgetheilt, und ich zweifle nicht, er wird sie befriedigend finden.
Uebrigens schien mir die Sache nur in Bezug auf die Gesinnung der
Herren Bedactoren bedeutend. Solche Bücher wie die Schrift meines
Bruders über die Indier und die Sammlung seiner Gedichte bahnen sich
wohl selbst ihren Weg, und wenn sie in einem so ausgezeichneten Blatte,
wie Ihre Jahrbücher sind, unbeurtheilt bleiben, so hat diess nur den
Nachtheil einer Lücke für die Zeitschrift selbst.
An dem besten Willen hat es mir nicht gefehlt, Ihnen noch ferner
Bey träge zu den Jahrbüchern zu liefern, bis jetzt aber ist es nicht mög-
lich gewesen. Besonders hätte ich Lust über die Ausgabe von Winkel-
manns Werken etwas zu sagen. ^)
Es ist mir sehr erfreulich zu hören, dass Sie über die Pindarischen
Sylbenmasse gearbeitet haben, und ich werde gewiss die erste Gelegen-
heit benutzen, mich durch Ihre Untersuchungen zu belehren. Ueber
1) Sieh oben S. 240.
2) Sieh oben S. 235. 236. 249.
3) Sieh oben S. 239; in Wilhelm Schlegels Sämmtlichen Werken 12, 321.
Zeugnisse zur Pflege der deutschen Litteratur in den Heidelb. Jahrbüchern 261
Hermanns metrische Einsichten kann ich nicht so günstig urtheiien,
wie Sie es mir in der Abhandlang über die Griechischen Tragiker zu
thun schienen. Seine Grundsätze scheinen mir allzu abstract, seine An-
wendung davon gewagt, seine Constrnctionen der Sylbenmasse nicht be-
friedigend, seine Urtheile oft gerade zu geschmacklos, wenn er z. B. die
Kömer in Behandlung des Elegischen Sylbenraasses den Griechen vor-
zieht, oder behauptet, Horaz habe schlechte Hexameter gemacht, da
dieser Dichter vielmehr mit der grössten Kunst den Hexameter zum
vertraulichen Ton der Sermonen herabgestimmt hat.
Mit ausgezeichneter Hochachtung
Ew. Wohlgeb.
ergebenster
A. W. Schlegel.
Wenn E. W. mich bald mit einer Antwort erfreuen wollen, so bitte
ich selbige hieher zu richten unter der Adresse: ä Ghaumont par
Ecure Depf de Loire et Ober. Späterhin aber: ä Paris, rue de
la Concorde No. 8 aux soins de Mr. Rocheux.
75. Karl Justi an August Böckh.
Marburg, 18. August 1810.
Verehrtester Freund!
Sie erhalten einstweilen von den mir aufgetragenen Rezensionen die
von Jördens — 4. 5 Band^), und eine Rezension von eitiem Kalender
des deutschen Parnasses'), wo ichs für Pflicht hielt, vor dieser trivialen
Kompilation zu warnen, und mein Urtheil zu belegen, damit sich nicht
andere — durch den Titel getäuscht, dies Büchlein kaufen, wie es mir
leider! ergangen ist.
Matthissons Erinnerungen habe ich nun auch erhalten, und nächstens
folgt davon eine Recension.
Vielleicht habe ich das Glück, Sie diesen Herbst in Heidelberg
meiner Hochachtung persönlich versichern zu können.
Ganz der Ihrige
Justi.
1) Auch diese Rezension ist erschienen 1811 S. 730; im Register: Von Ki;
vgl. oben S. 244.
2) Ich kenne davon den zweiten und dritten Jahrgang für 1810 und 1811, der
erste war 1783 erschienen, elende Charteken, der Anzeige in den Held. Jahrbüchern
unwtlrdig; Böckh hat die Anzeige mit Recht unter den Tisch fallen lassen.
262 Reinhold Steig
76. Wilhelm Griram an August Böckh.
Marburg, 4. September 1810.
Ew. Wohlgeb.
bin ich so frei eine ßeceusion einer dänischen Schrift zu übersenden
für die Jahrbücher. Da ich dachte, sie berühre eins der merkwürdig-
sten dänischen Bücher, von dem man doch keine grosse Bekanntschaft
in Deutschland vermuthen darf, und als Gelegenheitsschrift sey sie auch
nicht in den deutschen Buchhandel gekommen, so hoffte ich, eine Be-
cension davon werde bei diesem eigenen Interesse Ihnen nicht unangenehm
seyn. Sie geben freilich der altdeutschen Literatur verhältnissmässig
Baum genug, wie immer eine neue Wissenschaft vieles zu sagen hat,
welches eine erwachsene voraussetzen darf, und es wird sich daher für
die altnordische wenig Platz finden, indessen sind die Fälle nicht häufig,
wo etwas von Belang übers Meer kommt : von der eben herausgekommenen
Niäls Saga lässt sich nicht viel sagen, dagegen soll eine Uebersetzung
der Besenischen Edda erschienen seyn, die interessant seyn könnte ; ich
habe sie aber noch nicht bekommen. Auch hälts äusserlich schwer, dass
etwas herüberkommt: ein Paquet hatte erst neulich ein französischer
Caper genommen, es hatte drei Monat vor dem Priesen Gericht in Lübeck
gelegen, bis endlich eine günstige Entscheidung von Paris kau;, wodurch
ich es' erhielt, nachdem ich es schon verloren gegeben. Weil ich es
sosehr wünsche, denke ich auch an die Möglichkeit, dass die Herrn vom
Magnäischen Institut angeregt werden, und sich endlich anschicken den
zweiten Theil der Sämundinischen Edda herauszugeben, wenn ihnen die
Becension zu Gesicht kömmt. Wenn jemand in Sünden sein Brot ge-
gessen, so sind es die zwei, die vom Legat dreissig Jahr zur Heraus-
gabe; der Manuscripte besoldet worden und gar nichts gethan. ^)
Die Becension von Hagens Nibelungen werde ich anfangen, sobald
ich nach Cassel zurückgekehrt bin, welches in einigen Wochen der Fall
seyn wird. Die nothwendige Vergleichung nimmt viel Zeit weg, da Sie
1) Die hier eingesendete „Becension einer dänischen Schrift** kann nach den
Umstanden (vgl. auch unten S. 266) und dem Inhalte nur die über Nyernps Axel
und Yalborg sein, die im Jahrgang 1811 S. 369 (Kl. Schriften 2, 1) zum Abdruck
gelangte. Ich weiss allerdings damit nicht recht zu reimen, was Wilhelm Qrimm
aus Marburg den 20. September 1810 an Nyerup schreibt (an Nordische Gelehrte
S. 30): „Ich habe in diesen Tagen eine Recension von Axel und Waldbui'g . . für
die Heidelberger Jahrbücher angefangen, und werde sie, sobald ich wieder in Cassel
bin, beendigen." Das nPacket**, von dem Grimm spricht, war ein von Nyerup ab-
gesandtes (ebenda S. 22. 23).
Zeugnisse zur PHege der deutschen Litteratur in den Heidelb. Jahrbüchern 263
aber noch Vorrath an altdeutschen Becensionen haben werden, so wird
es nichts verschlagen, wenn ich sie Ihnen erst in etwa zwei Monaten
zusende.
Ueber die sehr treffliche Recension von Qörres über die Mythologie
des Jndous par Mr. de Polier ^) habe ich mich sehr gefreut : haben wir
nicht bald Hoffnung eine Becension seiner Mythengeschichte zu erhalten ?
es scheint mir gerade bei diesem Buch, das so herrlich in der Idee und
oft in der Ausführung, nothig, dass es öffentlich anerkannt und gewür-
digt werde.
Eine erneuerte Becension über das altdeutsche Museum von meinem
Bruder werden Sie ohne Zweifel erhalten haben. ^)
Mit der Versichrung der aufrichtigsten Hochachtung
Ew. Wohlgeb.
gehorsamer Dr
Wilhelm Carl Grimm.
(Nachschrift:) Die Einlage bitte ich Hrn. Zimmer zukommen zu
lassen.
77. Franz Hörn an August Böckh.
Berlin, 10. September 1810.
Wohlgeborne,
Hochzuverehrende Herren,
Indem ich Ew. Wohlgeb. die Beurtheilung der mir genannten Schrif-
ten zu senden die Ehre habe, möge es mir verstattet sein, den Wunsch
auszudrücken, dass auch meine Schriften, besonders die neueren, bald
möglichst einen Becensenten in Ihren Jahrbüchern finden mögen. Ich
darf diesen Wunsch aussprechen, indem ich, die strengste Gerechtig-
keit für die erste Pflicht eines Kritikers haltend (wie ich denn dies be-
reits in den beifolgenden Beurtheilungen genugsam zeige) nichts anders
erwarte und wünsche, als solche. Zugleich würde es mir angenehm
sein, mich bald wieder durch neue Aufträge von Ihrer Seite beehrt zu
sehen. *)
Mit der ausgezeichnetsten Verehrung
Ew. Wohlgeb.
gehorsamer Diener
Dr. Franz Hörn.
1) in der Abteilung für Theologie 1809. 1, 241.
2) Sieh oben S. 255.
3) Von Franz Hörn sind eine grosse Anzahl von Rezensionen in die Heidel-
berger Jahrbücher geliefert worden. Sein Zeichen ist Fn. Für 1810 nenne ich seine
Anzeigen von Graf Loebens Roman Guido und dessen in Berlin herausgekommenen
264 Reiohold Steig
78. Carl WindischmaDO ao August Böckh.
Aschaffenburg, 15. October 1810.
Lieber Freund!
. . Die Rezension von Görres kommt spät genug; es sind nun vier
Hefte erschienen, seitdem ich sie eingeschickt — vor Neujahr sollst Du
noch Göthe und Müllers Idee der Schönheit haben, aber die Darstellung
Herders ist schwieriger als dass ich sie so im Fluge abthun könnte
— ich werde also jeden freien Augenblick verwendend doch kaum in
diesem Jahre fertig werden. Was restirt muss mir ja doch bleiben,
wenn auch eine andre Kedaction eintrit. So will ich Dir auch nächster
Tage sagen, was ich mir aus dem Cataloge gewählt. Daub erinnert
mich nicht an Tennemann ^), ich fühle daher auch keinen Drang, die Re-
zension fortzusezen, besonders, da ich so ungeheuer viel zu thun habe
und endlich einmal mit meiner magischen Arbeit fertig werden muss . .
Ewig Dein Windischmann.
79. August Böckh an Jacob Grimm.
Heidelberg, den 1. November 1810.
(Redactionsformular ; die ,,unten verzeichneten Schriften*, deren
Beurtheilung gewünscht wird, sind:)
Büsching, Der arme Heinrich. Zürich, Orell pp.*)
Sendschreiben über den Titurel — von Docen. Berlin Salfeld.')
Böckh.
Gedichten ; Ilorn, als Fouques Getreuer, hatte Graf Loeben gewiss kennen gelernt.
1811 wieder eine Reihe Rezensionen. 1812 S. 411 H. v. Kleists Kätheben von ihm an-
gezeigt (Kleists Berliner Kämpfe S. 451); ferner (1812 S. 1030) Frau von Fouques
kleine Erzählungen und Fouques Magie der Natur, wozu man vergleiche Hom an
Fouque aus Berlin 6. Juni 1812 (Briefe 1848 S. 151): «Femer habe ich an die Re-
daction der Heidelberger Jahrbücher geschrieben und mir die Beurtheilung der Er-
zählungen und der Magie der Natur ausgebeten. Da ich seit zwei Jahren ein so
sehr fleissiger Mitarbeiter bin, und man mir bis jetzt fast immer meine Wünsche
gewährt har, so zweifle ich nicht, man werde es auch diesmal. Wenn ich nur auch
im Stande wäre, dem mich so sehr ehrenden Wunsch Deiner Gattin ein völliges
Genüge zu leisten. Ihrem pfeilartig durchdringenden Scharfsinn stehet vielleicht
kein Mann. Yoluisse sat est." Vgl. unten Nr. 96 und 99.
1) Sieh oben S. 220. 245; eine gänzlich anonyme Rezension von Tennemanns
Grundriss der Geschichte der Philosophie im Jahrgang 1812 S. 1218.
2) Jahrgang 1812 S. 49 (Kl. Schriften 6, 64).
3) Der Titurel von Wilken unten in Nr. 89 zurückgenommen, angezeigt von
Wilhelm Schlegel 1811 S. 1073 (Sämmtliche Werke Bd. 12).
Zeugnisse zur Pflege der deutschen Litteratur in den Heidelb. Jahrbüchern 265
80. Wilhelm Grimm an August Böckh.
Cassel, 12. November 1810.
Hochgeehrtester Herr Professor.
Ew. Wohlgebornen bin ich so frei eine Kecension von Arnims Ro-
man zu übersenden. Da Sie noch kürzlich über den Mangel an Recen-
sionen im poetischen Fach sich beklagten, so hoffe ich, dass sie Ihnen
nicht ganz ungelegen kommt, und wünsche es. Haben Sie das durch-
aus geistreiche und originelle Buch schon gelesen, so werden Sie mir
gewiss in allem Lob Recht geben, und vielleicht manchen Tadel zu
streng finden: er mag ein Beweis seyn, wie redlich die ganze Recen-
sion geschrieben worden. Wenn es Ihnen gefällt, sie anzunehmen, so
würde ich es für eine besondere Freundschaft erkennen, wenn Sie solche
bald zum Druck beförderten.^)
Zugleich folgt als Fortsetzung einer früher übersendeten Recension
von Nyerups Axel und Waldborg eine kurze Anzeige von einer zweiten
Probeschrift, mit der Bitte sie unmittelbar auf die andere folgen zu
lassen.')
Die früher aufgetragenen Recensionen werden wir Gelegenheit
haben, diesen Winter auszuarbeiten, und sie Ihnen zusenden, sobald sie
fertig sind. Mein Bruder empfiehlt sich mit mir Ihnen bestens
Der Ihrige
Wilhelm Carl Grimm.
81. Carl Windischmann an August Böckh.
[Aschaffenburg, November 1810]
Lieber Freund!
. . Die Historie wegen der Jahrbücher ist mir sehr begreiflich:
ich mag mich über nichts mehr wundern. Nur dies wäre mir nicht
lieb, wenn ich die Wahlverwandschaften nicht darstellen könnte, weil
ich es Göthe bei Gelegenheit selbst mitgetheilt habe. Wäre dann
nicht möglich, si6 noch ins 14, 15, 16 te Heft zu bringen? — Unser
freundschaftliches Verhältniss stört doch in der Redaktion nicht! und
1) Jahrgang 1810. 2, 374 (Kl. Schriften 1, 289); veigl. Zeitechrift f. d. Philo-
logie 31, 168.
2) Aage og Eise, hg. von Rahbek: 1811 S. 143 (Kl. Schriften 2, 12).
266 Reinhold Steig
als Bedacteur hast Du mir doch Göthe und Herder übertragen.
Schreibe mir hierüber bald . . ')
Lebe wohl. Ewig
Dein Windischmann.
82. Wilhelm Grimm an August Böckh.
Cassel, 11. December 1810.
Hochgeehrtester Herr Professor.
Ich übersende Ihnen anliegend eine Becension von Wagners A. B.C.
für die Jahrbücher, die freilich ins poetische Fach gehört, weil aber
das Buch auch zum Theil in meinen Kram einschlägt, so hab ich daran
Gelegenheit genommen, sie zu schreiben. Sollten Sie die Becension
schon einem andern Becensenten aufgetragen haben, so verstehts sich,
dass die meinige nachsteht, und ich bitte auf diesen Fall nur, sie mir
gelegentlich wiederzuschicken. ')
Mit der aufrichtigsten Hochachtung der Ihrige
Wilhelm Carl Grimm.
83. Karl Justi an August Böckh.
9
Marburg, 11. Dezember 1810.
Mein Lieber!
Hier noch eine der mir aufgetragenen Bezensionen! Da ich höre,
dass es mit der Bedaktion der Jahrbücher eine Veränderung geben wird,
1) Es scheint, dass in dem Redaktions-Komitee, ähnlich wie früher (ohen
S. 252) aus Creiizers Freundschaft mit Arnim und Görres beim WuDderhoni, so
hier aus Böckhs Freundschaft mit Windischmann bei Rezensionen des letzteren
Schwierigkeiten entstanden seien. Was die Wahlverwandtschaften anlangt (von deren
zweiter Auflage schliesslich im Jahrgang 1814 S. 177 eine A. W. unterzeichnete
Anzeige erschien; sieh oben S. 252. 258), so erfahren wir hier, dass Windischmann
seine Absicht bei Gelegenheit Goethe selbst mitgeteilt habe. Windischmann trat
zuerst 1804 mit Goethe in Verbindung (Weim. Ausgabe IV 17, 219), und 1811 am
2. Mai (ebenda 22, 79) dankt Goethe Windischmann „für die mitgetheilte Recension",
ohne dass aus den (in den Lesarten S. 425) gegebenen Bemerkungen sicher hervor-
ginge, welche Rezension (doch wohl der Farbenlehre?) gemeint sei. Briefe Win-
dischmanns sind in Goethes Nachlass vorhanden; das Weimarer Goethe-Archiv teilt
mir aus dem Briefe Windischmanns vom 13. November 1810 die folgende, hierher-
gehörige Stelle mit: ^ Durch eine Fügung vom Himmel ist mir die Darstellung der
Wahlverwandtschaften für die Heidelberger Jahrb. übertragen. Ich darf Ihnen be-
zeugen, dass nicht leicht einer besonderer Schickungen wegen so tief wie ich von
diesem Werke durchdrungen werden konnte. Hiemit sollen Sie gewiss zufrieden
seyn." Vgl. oben S. 253.
2) Ganz anonym 1810. 2, 371 abgedruckt, fehlt in Wilhelm Grimms Kleineren
Schriften, von mir früher in der Zeitschrift f. d. Philologie 29, 206 ohne dies direkte
Zeugnis schon für W. Grimm in Anspruch genommen.
Zeugnisse zur Pflege der deutseben Litteratur in den Heidelb. Jahrbüchern 267
SO ersuche ich Sie angelegentlichst, die noch von mir vorräthigen Be-
zensionen alle in dem Jahrgang 1810 einrücken zu lassen; besonders
wünschte ich, dass dieBezensionen von der epigrammatischen Anthologie ^)
und von Matthissons lyrischer Anthologie und dessen Erinnerungen vor
allen andern abgedruckt würden.*) —
Mit unserm trefflichen und kostbaren Begräbnismonument der heil.
Elisabeth hat es unterdessen leider! eine traurige Veränderung gegeben.
Nachdem es sechstehalb hundert Jahre in der Elisabethkirche gestanden,
ist es die vorige Woche eingepackt und nach Kassel transportirt worden.
Bei der Zählung der Edelsteine fand sichs, dass noch 824 Edelsteine
(Sapphire, Smaragde, Bubinen, Onyxe, Amethyste, 3 ungeheuer grosse
Perlen u. s. w.) daran waren, herrliche Gemmen und Kameen von grie-
chischer Arbeit, meist von Bittern auf ihren Kreuzzügen gesammelt.
Diese haben wir alle erst sorgfältig abgedrückt. Das Publikum soll in
der Folge manches erfahren. Sagen Sie doch dies, nebst meiner besten
Empfehlung, meinem Freunde Creuzer.
Leben Sie wohl. Hochachtungsvoll
Der Ihrige
Justi.
N. S. Vor einigen Tagen habe ich eine Gehalts-Zulage erhalten. Eben
so die Hm. Wagner, Tennemann und Wenderoth.
84. Carl Windischmann an August Böckh.
Aschaffenburg, 25. Dezember 1810.
Lieber Freund,
Verzeihe dass ich Dich so lange ohne Antwort Hess. Deinem freund-
lichen Vorschlag, die Bezension der Wahlverwandschaften in diesem
Jahre noch einzurücken, konnte ich nicht entsprechen, was mich aller-
dings schmerzt. Mein Georg wurde eben in jenen Tagen gefährlich
krank und ist jezt noch reconvalescent, meine ganze Familie wurde nach
und nach unpässlich und ich war nicht im Stande, das geringste, viel
weniger so wichtige Gegenstände, wie in jenem Buche, rein und heiter
1) Die Rezension von Weissers Epigrammatischer Anthologie 1810 S. 1132,
im Register: von Ki.
2) Matthissons Erinnerungen: 1813 S. 355, 1815 S. 1037, 1816 S. 1240; ge-
zeichnet mit Ki. Ueberhanpt bringen noch die nächstfolgenden Jahrgänge eine
Reihe kleiner Anzeigen von Jasti, so dass eine viel spätere Mitteilung Justis an
Böckh nach Berlin: „Seit Ihrem Abgange von Heidelberg habe ich wenig oder
gar keinen Antheil mehr an den Heidelberger Jahrbüchern genommen", kaum zu
Recht bestehen kann.
268 tlemhold Bteig
durchzudenken. Wenns nicht möglich ist, dass der Auftrag mir er-
halten werde* (so wie Herder), da er mir einmal geschehen, so muss
ichs eben fahren lassen . .
Ewig Dein Windischmann.
85. Franz Hörn an August Böckh.
Berlin, 17. Januar 1811.
Es ist mir erfreulich, Ihnen, verehrtester Herr Professor, die bei-
liegenden Recensionen für Ihre Jahrbücher bereits jetzt übersenden zu
können, wobei ich nur bedauere, dass ich vier der mir aufgetragenen
Schriften (Tiraoleon, Etwas über Theater, Vorlesungen über Deutsche
Klassiker und Streckfuss Klementine) nicht habe auftreiben können. In
mehrern hiesigen Buchhandlungen waren meine Nachfragen vergeb-
lich, doch wird es mir in Zukunft nicht fehlen, sie zur Stelle zu schaf-
fen, und ich hoffe deshalb, die Recensionen wenigstens gegen die Oster-
messe senden zu können. Alle übrigen, (26 Blätter) die ich wegen
jener wenigen fehlenden, nicht aufhalten wollte, erfolgen hiebei, und ich
wünsche sehr, dass sie den Ernst und Eifer bezeichnen, den ich für die
Sache hege, und stets hegen werde. ^)
Mit dem innigsten Vergnügen vernahm ich Ihren Ruf hieher, und
die Uebereinstinimung desselben mit Ihrer Neigung. Ich hege die
Hoffnung, dass Sie Sich hier recht glücklich fühlen werden, denn in
der That ist Berlin überhaupt, so wie die Universität in dem herrlich-
sten Gedeihen.
Verstatten Sie mir, die Bitte, dass auch meine eignen Schriften
baldmöglichst recensirt werden mögen, zu wiederholen, eine Bitte die
sich gewiss durch sich selbst rechtfertigt.
Mit der ausgezeichnetsten Hochschätzung
Ew. Wohlgeb.
gehorsamer Diener
Franz Hörn.
N. S. Der sichern und schnellern Ankunft wegen frankire ich
diese Beiträge nicht; bitte aber, mir diese Auslage zu berechnen und
vom Honorar abzuziehen.
2) Sieh oben S. 2G3 zu Brief Nr. 77.
Zeugnisse zur Pflege der deutschen Litteratur in den Heidelb. Jahrbüchern 26d
86. Carl Windischmann an August Böckh.
Aschaffenburg, 31. Jenner 1811.
Lieber Freund!
Ich danke Dir für die Notiz wegen der Becension von Herder und
Göthe — wünschte aber, dass Du mir von Wilken die bestimmte Er-
klärung der Aufnahme verschafftest oder mir schreibst, ob ich mich an
denselben selbst wenden soll. Ich bin nicht sehr interessirt, ferner vieles
für die Jahrbücher zu thun; aber diese Sachen mögte ich nach Müsse
bearbeiten und darin aufgenommen haben. Vieleicht macht sich in
Berlin eine andre, geistigere Unternehmung — dann vergiss meiner
nicht . .
Ewig Dein Windischmann.
87. Achim von Arnim an August Böckh.
[Berlin, ohne Datum.]
Lieber Böckh! Sie wissen, dass Sie ein Doppeldaseyn auf zwey
Universitäten leben, ich weiss daher nicht, ob Sie dieser Brief noch an-
trifft. Herzlich lieb war es mir gewesen, wenn Sie jezt schon in dem
grossen Universitätsgebäude anzutreffen wären, wo alles in gutem Geiste
gedeiht. Wie gehts mit den Jahrbüchern? Mancherley Arbeiten und
störende persönliche Geschäfte haben mich vom Rezensieren abgehalten,
doch habe ich jezt wieder Lust gewonnen. Wer trit nun an Ihre
Stelle? Sind Sie schon abgegangen? — Ich sende Ihnen, oder dem
Nachfolger, Siebmanns Antwort auf den Einladungsbrief Oi zugleich
sende ich Ihnen Einladungsgrüsse aus der fiedaktion aller Ihrer hiesigen
Freunde, insbesondre
von Ihrem Achim Arnim.
88. Friedrich Wilken an Jean Paul.
Heidelberg, d. 13. May 1811.
Erlauben Ew. Wohlgebohren, dass ich dem gedruckten Schreiben
noch einige schriftliche Worte beylege, um Ihnen unsere Jahrbücher
zu fernerer wohlwollender Beförderung und Unterstützung zu empfehlen,
so wie sie sich derselben bisher zu erfreuen hatten.
Für Ihre Beurtheilung von Eginhard und Emma würde ich Ihnen
früher meinen Dank gebracht haben, wenn ich nicht durch eine Reise
nach Paris, von der ich erst seit wenigen Tagen zurückgekehrt bin,
1) In BöckhB Nachlasse nicht vorhanden, also wohl an den Nachfolger ah-
gegeben; vgl. oben S. 246. 251.
270 Reinhold Steig
daran wäre verhindert worden. Das Becepisse hat Ihnen indess das
Morgenblatt überliefert, wo Einer der schlechtesten Sturnnwächter von
dem hiesigen aesthetischen Wartthurm gar voreilig über Ihr ür-
theil über Arnims Halle und Jerusalem Lärm geblasen hat. Ihre Be-
cension ist, (buchstäblich fast gemeint,) von der Post in die Druckerey
gewandert, und dennoch ist fast zu gleicher Zeit das Stück vom Morgen-
blatt mit dem Geschrey des Julius hier angelangt, wo das Blatt der
Jahrbücher ausgegeben wurde. Darum muss im Volk der Drucker Be-
stechung und Verrath obwalten. Es wäre mir nicht unangenehm, wenn
Sie gelegentlich dem Herrn Julius zutheilen wollten, was ihm gebührt.^)
1) Diese Mitteilung Willcens 1988t uns einen überraschenden Blick in die Hei-
delberger Yerbältnisse thun, die am so unerquicklicher sein mussten, als sie eich
auf 80 engem, die Beteiligten immer wieder persönlich zusammenfahrenden Räume
abspielten. In seiner Rezension von Fouqu^ Eginhard und Emma 1811 S. 292
(oben S. 244) hatte Jean Paul im Eingang vergleichend mit Fouque gesagt, „es sei
eine n&hrend-erquickende Erscheinung, dass gerade jetzt so viele geist- und kennt-
nissreiche Männer — Hagen, ßüsching, Görres, Brentano, Arnim etc. — uns durch
das Ausgraben und Abformen Altdeutscher Götterstatnen und Ahnenbilder . . zu
trösten, zu erheben, ja zu reinigen suchten**, und in einer Note dazu unter dem
Texte bemerkt: »Hm. v. Arnims „Halle und Jerusalem, Studentenspiel
und Pilgerabentheuer**, verdient, so wie seine Geschichte »der Gräfin Dolores**
durch die Kraft des Komischen, des Romantischen, des Charakteristischen and des
Altdeutschen weit mehr LfOb als ihm verwöhnte, obwohl von einigen Ecken mit
Recht verwundete Kunstrichter, welche der Demantschneide die Perlenrinde vor-
ziehen, werden geben wollen.** Von dieser Rezension erhielt die Yossische Partei,
vor dem Erscheinen, in der Korrektur auf unzulässige Weise Kenntnis und lieferte
schleunigst einen Gegenartikel in das Morgenblatt, der aber das Missgeschick hatte,
in Nr. 84 vom 8. April 1811, fast früher als Jean Pauls Rezension herauszukommen.
Wilken gebraucht den Ausdruck: »von dem hiesigen ästhetischen Wartturm.** Es
ist dies allerdings bildlich, aber eigentlich doch wirklich gemeint, wie auch
sonst Öfter vom alten Voss in seinem Thurm gesprochen wird. Seit ich letzte Pfing-
sten Voss' Haus (eine Woche vor dem Abbruch!) gesehen habe, verstehe ich die
Anspielung. An dem kleinen Hause, das ursprünglich, nicht mehr zuletzt, in einem
Garten mit Steinmauer lag, war ein eigenes, turmartig aufsteigendes Treppenhaus
angebaut, dessen oberstes Geschoss Voss zur Arbeitsstube diente. Da sass in der
That der alte Voss wie auf einem Thurme, und von da oben aus ist die Polemik
gegen die Heidelberger Romantiker geleitet worden. Hier hatte auch der Morgenblatt-
Artikel «Deutschlands Wiedergeburt durch seine neueste Literatur** seinen Ursprung.
nEin modern christlicher Recensenf, beginnt er, „hat neulich in einem kritischen
Blatte, welches unter den Anspielen einer Akademie herauskommt, ein Wort des
Trostes für Deutschland und die Deutschen gesprochen, und sehr treuherzig ver-
sichert, die Herrn Achim v. Arnim, Brentano, Görres, und die übrigen Gevattern
und Gevatterinnen hätten keine ernstlichere Angelegenheit, als ihre in den Kotb
gefallenen Landsleute zu erheben und — zu reinigen.** Von den Veteranen unserer
Litteratur, von Wieland, Voss, Goethe, Klinger etc. erwarte der Rezensent natürlich
nichts mehr, „dieser Ehrenmann, der beym Diamant nicht auf das Wasser, sondern
auf die Schärfe sehe.** Das neueste Produkt der Karfunkelmanie sei „Halle
Zeagnisse zor Pflege der deutschen Litteratur in den Heidelb. Jahrbüchern 271
Es freut mich unendlich, dass die Bedaction der Jahrbücher, welche
ich nach Herrn Prof. Böckh's Abgang habe übernehmen müssen, mir
Gelegenheit geben wird zu näherer Verbindung mit Ihnen. Am liebsten
wäre es mir, wenn die Correspondenz bald nicht mehr schriftlich wäre,
und Sie Ihren Plan ausführten, den ich mit Freuden vernommen habe,
in das anmuthige Neckarthal Ihren Wohnsitz zu verlegen.
Genehmigen Sie die aufrichtigste Versicherung meiner innigsten
Verehrung.
Wilken
Professor.
89. Friedrich Wilken an Jacob Grimm.
Heidelberg d. 14. Juni 1811.
Ew. Wohlgebohren
nehme ich mir die Freyheit, um die Beurtheilung der auf dem Um-
schlage bemerkten Schriften für unsre Jahrbücher zu bitten. ^) Ich hoffe,
dass Sie künftig sich derselben so gütig annehmen werden, als bisher.
Es ist mir äusserst unangenehm, dass von Herrn Prof. Böckh das
Buch der Liebe zweymal aufgetragen worden, und dass ich dadurch
genöthigt worden bin, die reichhaltige Beurtheilung, welche Sie einge-
sandt haben, zurückzulassen. Ihrem Wunsche gemäss habe ich sie
Herrn Zimmer zugestellt, um sie Ihnen bey erster Gelegenheit zugehen
und Jernsalem*, wo alle Vemichtheit durch eine Pilgerfahrt zum Grabe des Er-
lösers gebüsst, und der stupideste Monachismus als die letzte Zuflucht unserer Zeit
gepredigt werde. Blätter, die unter der Aufsicht protestantischer Professoren her-
ausgegeben würden, redeten einer solchen Verkehrtheit das Wort! Und zum Schlüsse
gebt es dann höhnisch noch gegen den «musivisch-dichteuden Kecensenten" los, der
schliesslich auf Karls Versuche und Hindemisse (oben S. 258) verwiesen wird. In
diesem Romane macht Jean Paul eine bestimmte Figur und wird, unbekannt, aus
seinem Gespr&ch erraten: was auch nicht schwer sei, da ein jeder, der nur eine
Seite von ihm gelesen habe, ihn an den ersten vier Worten erkennen müsse. Da-
mit war in dem Morgenblatt-Artikel angedeutet, dass man auch Jean Paul als Re-
zensenten erkannt habe. Im Morgenblatt ist ^Julius" unterschrieben. Es kann
dies nicht der Hamburger Dr. Julius gewesen sein (Kemers Briefwechsel 1, 134).
Arnim hielt denn auch ohne weiteres Alois Schreiber, der zu Voss' Partei gehörte,
für den Verfasser; an Zimmer S. 151: ^Dass Ihnen die Feindschaft der Vosse viel
Schaden thut, ist unleugbar . . Was hat es geholfen, dass Sie dem Schreiber
die «Aesthetik" in die Welt befördert? Kr hat , Halle und Jerusalem" im Morgen-
blatt mit aller Niederträchtigkeit zu besudeln gesucht, und das nicht der Sache
wegen, da wSre Zeit gewesen, wenn es vertrieben, sondern im Voraus, um den Ab-
satz zu hindern.**
1) Der Umschlag nicht erhalten.
NEUE HEIDELB. JAHRRUECIIRR XI. 18
272 Reinhold Steig
ZU lassen. Eine günstige Gelegenheit, die Bückreise des Herrn Prof.
Harding aus aus Göttingen, habe ich leider durch Vergessenheit versäumt.^)
Unendlich freue ich mich, bey dieser Veranlassung in nähere Ver-
hältnisse mit Ihnen zu treten.
Genehmigen Ew. Wohlgebohren die Versicherung meiner innigsten
Hochachtung
Wilken.
(Nachschrift:) Die Recension von Docens Sendschreiben über
Titurell bitte ich zurückzulassen, wenn Sie dieselbe noch nicht ange-
fangen haben sollten. ^) Um die übrigen bitte ich recht sehr, auch um
baldige gefällige Mittheilung.
90. Johann Georg Zimmer an August Böckh.
Heidelberg, den Uten July 1811.
Lieber Böckh!
Nimms nicht übel, dass ich Deinen in Leipzig empfangenen Brief
so spät beantworte: Du weist, wies geht. Es freut mich von Herzen,
dass Du Dich in Berlin wohl fühlst. Es konnte auch nicht fehlen und
Dein Sinn hat immer dahin gestanden. — Wir leben hier so nach alter
Weise, es nimmt aber immer mehr und mehr einer vom andern keine
Notiz. An die Dauer unsrer Universität ist übrigens jetzt kein Zweifel
mehr und man hat Grund von dem neuen Grossherzog recht viel Gutes
auch für sie zu hoffen.
Deinen Auftrag nach Karlsruhe habe ich besorgt. Prof. Voss be-
hauptet den Schützischen Aeschylus niemals von Dir gehabt zu haben.
— Nach unserm Buche sind alle Hefte des vorigen Jahrgangs der Jahr-
bücher an Dich expedirt worden, sollte Dir eins oder das andere fehlen,
so zeige mirs an und es soll nachfolgen.')
Grüsse unsere Freunde und sage Arnim, ob er mir nicht auf
meinen Brief antworten wollte?*)
Gott behüt Dich! Dein Zimmer.
Lass doch die Einlage gleich abgeben.
1) Über die Angelegenheit vgl. oben S. 237. 255.
2) Rezensiert von A. W. Schlegel, vgl. oben S. 265; Jacob Grimms ^verspä-
tete** Anzeige ebenfalls, wie die vom Buch der Liebe, in der Leipziger Literatur-
Zeitung 1812 (Kleinere Schriften 6, 116).
3) Der „in Leipzig empfangene Brief" Böckhs, vom 1. Mai 1811, steht bei
Zimmer S. 303 ; es ist, wie diese Antwort Zimmers zeigt, Einiges daselbst ausge-
lassen worden.
4) Bald darauf musste Zimmer allerdings Arnims Brief vom 28. Juni 1811
(Zimmer S. 152) erhalten haben; die „Einlage** in der Nachschrift meint den fol-
genden Brief Nr. 91.
2eugni8Be zur Pflege der deutschen Litteratur in den Heidelb. Jahrbüchern 273
91. Johann Georg Zimmer an Clemens Brentano nach Berlin, und
Achim von Arnim an Brentano nach Bukowan.
Heidelberg, den 17ten July 1811.
Ich schreibe Ihnen, lieber Brentano, ohne zu wissen, ob mein Brief
Sie noch trifft, oder ob ich Sie nicht fräher hier sehe, als mein Brief
nach Berlin kommt. Ich bin von einem Tag zum andern abgehalten
worden Ihnen zu schreiben.*)
Herzlich gefreut hat mich die Nachricht dass wir Sie nächstens
hier sehen sollen : ich dachte Sie hätten Heidelberg ganz vergessen, denn
ich weis dass Sie in Berlin sehr zufrieden sind. Ich sehne mich recht
darnach so vieles mit Ihnen zu sprechen.
Einliegend erhalten Sie Ihrem Verlangen gemäss Mohrs Rechnung.
Es hat mich Kampf gekostet Ihnen die f. 24 für die Anzeige gegen Voss
im Correspondenten anzuschreiben*), allein wir haben für den Abdruck
derselben in den Literatur-Zeitungen und einigen aqdern Blättern ausser-
dem f. 40—50 bezahlt und da die Sache doch mehr persönlich war, so
hielt ichs für schicklich die Kosten zu vertheilen. Dass Sie das Wunder-
horn defekt erhalten haben ist mir sehr leid: Sie werden nun den
Sten Theil von Leipzig aus erhalten und ich bitte Sie das Exemplar
vom 2ten Theil durch Reimer zurückzusenden. — Wenn Sie nur die
f. 19 an Arnim bezahlen wollen, so lassen wir den Rest der Rechnung
auf künftige Abrechnung stehen. Sie wissen, lieber Brentano, dass ich
stets nichts mit grösserer Liebe drucke, als etwas von Ihnen : auch
waren wir ja in Hinsicht der Kindermährchen eigentlich schon einander
gewiss: allein die entsetzlich traurige Lage des Buchhandels und die
noch traurigere Aussicht in die Zukunft, hat uns zu dem festen Entschluss
gezwungen, nicht eher wieder etwas neues zu unternehmen, bis die
Sachen sich einigermassen geändert und bis nahmentlich die Beschrän-
kungen, welche durch die K. franz. Dekrete der Buchhandel erfahren hat,
einigermassen wieder beseitigt sind. Demohngeachtet möchte ich die
Kindermährchen um keinen Preiss fahren lassen, wenn es irgend ge-
schehen kann, dass uns die dadurch zu übernehmenden Verbindlichkeiten
nicht zu sehr drücken. Ich bitte Sie daher wegen des Preisses der
Kupferstiche mir die möglichsten Details zu verschaffen, auch zu sagen,
1) Dies Schreiben bezieht sich auf Clemens Brentano's Brief vom 6. Juni 1811
(Zimmer S. 192), worin er Rechnung von Mohr verlangt, den Verlag seiner Kinder-
märcben berührt und für Anfang August seinen Besuch m Heidelberg in Aussicht
Stent.
2) Sieh oben S. 197.
18*
274 Reinhold Steig
ob sie illuminirt werden müssen, ob und um welchen Preiss dies dort
geschehen könnte. — Am leichtesten wäre der Sache geholfen, wenn
Sie durch Ihren Hrn. Bruder in Frankfurt das Capital gegen die Hälfte
des Gewinnes könnten herschiessen lassen?! — Eine grosse Freude
würden Sie mir machen, wenn Sie mir einmal einige der Mährchen
schicken wollten.
Ich verspare alles Weitere auf Ihre Ankunft, und grüsse sie herzlich ! ')
Ihr
tr. Zimmer.
(Auf der vierten Seite desselben Briefbogens Arnim weiter:)
Lieber Clemens ! Ich habe den Brief des Zimmer eröffnet, weil ihn
Böckh als etwas sehr eilig zu besorgendes erhalten hatte, ich dachte,
dass etwa wegen der Hulda Vorkehrungen zu treffen, Du wirst aber
sehen, dass nichts darin sonderliche Eile hat. Ich reise in diesen Tagen
fort über Halle und Weimar, ob ich mich dann nach Böhmen wende,
um Savigny zu repräsentiren, der wegen seiner Collegia die dringenden
Bitten von Motz nicht erfüllen kann mit ihm in Bukowan zusammen-
zutreffen, oder ob ich an den Rhein gehe, das ist mir noch nicht ganz
klar. Steffens, der Dich sehr vermisste, war hier und wollte mir aus
Halle schreiben, ob ich während des Aufenthalts der Luise in Reichardts
Hause in die Kost genommen werden könnte, der Mann hats aber ver-
gessen, so komme ich wahrscheinlich um diese Freude, Louisen zu
sprechen. — Meine Judengeschichte hat seit Deiner Abreise eine Ka-
tastrophe erlebt, die mir zu einem Buche, woran ich arbeite, sehr ge-
legen gekommen, ich wäre sonst nimmermehr herausgekommen. Ich
sass im Badehause und lass in der Zeitung von den Schnürbrüsten, es
war am Tage wo Du abreistest, war mit drey hundert Thalern bepackt
und hundsmüde, trit ein fremder Mensch herein, springt mit erhobnem
Stock auf mich schimpfend los, ich habe meinen Stock zum Glück an
der Hand, pariere aus, haue nach, er taumelt und blutet, ich drück
ihn an die Erde, übergeb ihn den Badeknechten in der Meinung, es
sey ein Wahnwitziger, er aber schreit mir zu, er sey der Moritz Itzig,
worauf ich die Sache der Justiz übergeben, die an dem Juden nach
1) Brentano aber war nicht mit Schinkel an den Rhein gegangen, sondern
nach Bukowan in Böhmen. Dahin sendet ihm Arnim den Brief nach. Arnim selbst
entschied sich in Weimar, nicht nach Böhmen, sondern an den Rhein su reisen,
und sah noch vor Ende des Jahres auch die Heidelberger Freunde wieder. — Diese
Nachschrift Arnims, jetzt erst mir bekannt geworden, gehört zu »Arnim und Bren-
tano** S. 288. 3ß4, wo das N&here über die Reise zu ersehen ist.
ZeugDiBse zur Pflege der deutschen Litteratar in den Heidelb. Jahrbüchern 275
Herzenslust examinirt. Mir ist die Katastrophe das Liebste, denn die
Geschichte hat mich innerlich in der Hitze durch das dumme Gerede
so tief gekränkt, dass sich meine Natur endlich in einer Buhr Luft
machte, von der mich Dr. Meyer kurirte. *) Viel Grüsse an Christian,
ich schriebe mehr, wenn ich Zeit hätte.
Dein Achim Arnim.
92. Wilhelm Grimm an Friedrich Wilken.
Cassel am 23. JuL 1811.
Ew. Wohlgebornen
geehrtes Schreiben vom 14. Juni habe ich richtig erhalten. Mit
Vergnügen werde ich noch ferner an den Jahrbüchern Theil nehmen,
so wie auch mein Bruder. Als Beweis übersende ich Ihnen hierbei von
diesem eine früherhin schon aufgetragene Becension von Büschings
armen Heinrich und von mir eine, welche verschiedene neuere
Schriften über die nordische Mythologie zusammenfasst. *) Ich
wünsche, dass Sie Ihnen angenehm sey, und da ich die Bücher selbst
nicht ohne manichfache Mühe und Gefahr erhalte, denn noch vorigen
Herbst ward ein Paquet von einem^ französischen Gaper genommen, und
endlich von dem PriesenGericht zu Paris noch frei gegeben, als ich es
schon verloren glaubte, so denke ich, dass sie in Deutschland selten
und auch noch keinem andern Becensenten aufgetragen sind.
Ew. Wohlgeb. könnten mir einen besonderen Gefallen erzeigen, wenn
Sie die Güte hätten, diese Becension bald zum Druck zu befördern,
und mir die Numem, worin sie steht, auf der Post sous bände zuzu-
schicken. Da ich sie einem Freunde^), der sich lebhaft dafür interessirt,
nach Copenhagen senden will, so war es mir ungemein lieb, wenn ich
einen Abdruck auf das allerfeinste und leichteste Papier, das man haben
kann, erhalten könnte, es versteht sich auf meine Kosten. Da alle
Briefe von hier dahin nach dem Gewicht bezahlt werden, so kommt un-
gemein viel darauf an, und ein freilich dicker Brief, den man nicht auf
die Paketpost gegeben, hat, was unglaublich lautet, mit hundert
dänischen Thalern Porto müssen bezahlt werden.
Was die von Ihnen gütigst zum Becensiren angetragenen Bücher
betrifft, so wollen wir sie gern übernehmen, indessen ist bis letzt noch
1) Über die „Jadengeschichte* s. Kleists Berliner Kämpfe S. 632. Das „Buch,
woran Arnim arbeitete** sind doch wohl die Novellen von 1812. Dr. Heinrich Meyer
war Mitglied der christlich-deutschen Tischgesellschaft.
2) Armer Heinrich : oben S. 264. Schriften über die nordische Mythologie :
Jahrgang 1811 8. 774 (Kl. Schriften 2, 14).
3) Nyerup.
276 Reinbold Steig
keins davon wirklich erschienen, und ich glaube auch nicht, dass dies
vor Herbst der Fall seyn wird.
Mein Bruder behält Ihrem Wunsch gemäss die Becension von Do-
cens Titurell zurück und bittet sich dafür Sailers Weisheit auf der
Gasse aus ^), so wie er auch in kurzem so frei seyn wird, eine Recension
von dem Stück aus der Edda Sämundar, welches Gräter edirt, zuzu-
senden. *)
Mit der Versicherung der aufrichtigsten Hochachtung
Ew. Wohlgeb.
ergebenster Dr
W. C. Grimm.
(Nachschrift:) Ich bitte, meinen Namen gleich unter die Kec.
über nordische Myth. drucken zu lassen.
93. Friedrich Wilken an Jacob Grimm.
Heidelberg d. 20. Sept. 1811.
Ew. Wohlgebohren
habe ich die Ehre hiedurch anzuzeigen, dass ich die Beurtheilung des
Gräterschen Specimen heute richtig empfangen habe. Auch die erste
Abschrift war mir richtig vor etwa vier Wochen zugekommen, und
zwar durch Herrn Prof. Gräter in Schwäbisch Hall, wie ich heute aus
einem Briefe desselben an mich erfahren habe. ^
Ihr Herr Bruder wird den Abdruck seiner Beurtheilung der Schrif-
ten über die Nordische Mythologie, welche ich ihm auf die angegebene
Art zugeschickt habe, zu seiner Zeit richtig empfangen haben.
Die erste Abschrift Ihrer Beurtheilung von Gräter war schon seit
mehren Tagen in der Druckerey, ich habe sie nun zurückgenommen
und an deren Statt die zweyte hingegeben. Sie wird im letzten Bogen
1) Nicht erschienen, aber 1816 in der Rezension von ßeneckcs Ausgabe des
Bonerius (Kl. Schriften 6, 214) kommt Jacob Grimm auf dies Buch zurück. Savigny
an Wilhelm Grimm 8. JuU 1811 (ungedruckt): „Dass Euch Sailers Weisheit auf
der Gasse gefallen hat, freut mich ungemein . . Wenn es einer von Euch reccn-
siren wollte, wäre mirs gar lieb. Vielleicht in den Fleidelberger Jahrbüchern.*"
2) Gräters specimen eddicum: 1811 S. 999 (Kl. Schriften 6, 29).
3) Jacob Grimm an Gräter, 23. Juli 1811 (H. Fischer S. 16. 21): „Das Pro-
gramm von der Helgaquitha . . hat mir Herr Zimmer erst gestern geschickt; ich
habe es sogleich durch gelesen und darüber ist eine kleine Anzeige desselben für
die Heidelb. Jahrbücher entstanden, die ich, um dasselbe nicht noch einmal schrei-
ben zu müssen, so frei bin hierbei im Original zu übersenden . . Nach Durch-
lesung derselben bitte ich sie unter beikommenden Couvert an Hrn. Prof. Wilken
nach Heidelberg, dem ich sie bereits angekündigt habe, abgehen zu lassen.**
»■4
Zeugnisse zur Pflege der deutschen Litteratur in den Heidelb. Jahrbüchern 277
des September oder im ersten Bogen des Oktoberheftes abgedruckt
werden.
Ihrer fernem gütigen Theilnahme empfehle ich unsere Jahrbücher
angelegentlich
Wilken.
(Nachschrift:) Auch die Recension des armen Heinrich soll nicht
lange mehr zurückbleiben.^)
94. Friedrich Wilken an Jacob Grimm.
Heidelberg d. 22 Dec. 1811.
Recht sehr bedaure ich es, dass ich Ew. Wohlgebohren nicht die
Kämpedater mittheilen kann, indem sie in hiesiger Bibliothek sich nicht
finden, üeberhaupt hatte unsre Bibliothek von nordischer und alt-
deutscher Litteratur nichts, ich habe erst angefangen, Kleinigkeiten,
deren ich habhaft werden konnte, zu sammeln. Mit dem grössten Ver-
gnügen würde ich Ihnen das Werk mittheilen, wenn wir es hier be-
sässen. Auch in Manheim weiss ich nicht, wo es sich finden könnte.
Es wäre von Görres leicht zu erfahren, an den ich ohnehin in diesen
Tagen schreiben werde, wo es wäre, wenn es dort seyn sollte. Im Fall
ich nähere Kundschaft erhalte, werde ich diese oder das Buch selbst
Ihnen mittheilen.')
Was die andere Angelegenheit betrifft, deren Sie in Ihrem Briefe
erwähnen, so thut es mir leid, dass Hr. von Arnim eine zufällige Aeus-
serung im Gespräche unter uns, die er selbst sogleich widerlegte, Ihnen
raitgetheilt hat. Denn nicht von Fries ist etwas geäussert worden,
was Ihnen nachtheilig gedeutet werden könnte, sondern von mir; aber
niemals ist jener Recension von mir gegen jemanden anders gedacht
worden, als gegen Hrn. v. Arnim, daher auch nur von ihm eine solche
Aeusserung Ihnen mitgetheilt werden konnte. Prof. Fries hat mir aus-
drücklich nach meiner Zurückkunft von Paris gesagt, dass Ihre Selbst-
recension recht gut ohne irgend einen Nachtheil der Jahrbücher hätte
abgedruckt werden können, und dass sie durchaus nicht selbstlobend
1) Rezensionen der Brüder sind in dieser Zeit wohl durch Beischluss an an-
dere Sendungen und ohne Begleitbriefe nach Heidelberg gesandt worden. So z. B.
eine Anzeige von Heinrich von Kleists Erzählungen in der ersten Novemberwoche
1811. Wilhelm an Arnim 10. Dezember 1811: ^ich hatte etwa vierzehn Tage vor-
her [d. h. hier vor H. v. Kleists Tode] eine Anzeige von seinen [KleistsJ Erzäh-
lungen nach Heidelberg geschickt"*. Die Anzeige ist nicht wieder aufgetaucht; vgl.
Kleists Berliner Kämpfe S. 450.
2) Vgl. Görresbriefe 8, 271. 284.
278 ReiDhoId Steig
gewesen sey, was ich auch Herrn v. Arnim, soviel ich mich erinnere,
bemerkt habe, da er gegen meine Aeusserung, mehr scherzend als
eigentlich ernstlich, am wenigsten böse gemeint, mit Kecht Sie in
Schutz nahm. Sie werden selbst wissen, wie man über solche Ange-
legenheiten wohl einmal unter vier Augen, wie dies geschah, mit Freun-
den spricht; Sie hätten dabey seyn können, ohne dass Sie Sich dadurch
beleidigt würden gefühlt haben. Aber anders klingt freylich die Sache,
wenn sie weitererzählt wird. Seyn Sie fest überzeugt, dass wir alle hier
durchaus nicht im mindesten irgend eine üble Meynung von Ihnen
hegen; am wenigsten Ihnen Machinationen zutrauen, wie sie die Tage-
löbner unter unsern deutschen Schriftstellern leider sich erlauben.^)
A. W. Schlegel hat selbst Ihren Altd. Meistergesang sich ausge-
beten und versprochen, sehr bald seine Becension zu liefern, was ich
Ihnen mittheile mit der Bitte, nicht weitern Gebrauch davon zu
machen.^ Ihre Becension vom armen Heinrich steht in No.4 des Neuen
Jahrgangs. Für die neulich überschickten Becensionen danke ich so-
wohl als Ihrem Herrn Bruder, sie sollen bald abgedruckt werden.
Mit der ausgezeichnetsten Hochachtung habe ich die Ehre zu seyn
Ew. Wohlgebohren
ergebenster Diener
F. Wilken.
(Nachschrift:) Die Einlage bitte ich gütigst auf die Post geben
zu lassen.
95. Achim von Arnim an Friedrich Wilken.
Berlin, 16. April 1812.
Lieber Wilken! Ich wünsche, dass der Überbringer Sie und Ihre
liebe Frau und Kinder in gutem Wohlseyn treffe und, dass er Ihnen
allerseits gefallen möge. Es ist ein sehr braver ausgezeichneter junger
1) Jacob Grimm hatte in dem Glauben, dass, was den Heidelberger Profes-
soren, auch den Mitarbeitern an den Jahrbüchern gestattet sei (oben S. 185), eine
Selbstanzeige seiner Schrift „Ueber den altdeutschen Meistergesang** eingesandt,
wobei es ihm hauptsächlich auf die Veröffentlichung eines Nachtrages ankam. Bei
Arnims Anwesenheit in Heidelberg 1811 war davon die Rede gewesen. Arnim
fragt halbbesorgt bei den Brüdern an; beide gaben in Briefen vom 26. November
1811 dem Freunde klare Auskunft. Arnims Brief vom 6. Dezember schl> darauf
den Text eines Schreibens an Wilken vor, auf das dieser in dem obigen Schrift-
stück erwidert. Das Nähere darüber künftig in „Arnim und die Brüder Grimm.**
2) Schlegel blieb aus; die Rezension des Altdeutschen Meistergesangs im Jahr-
gang 1813 S. 753 ist von Görres.
Zeugniase zur Pflege der deutschen Litteratur in den Heidelb. Jahrbüchern 279
Mann, (H. v. Röder) und sein junger Freund, den er zum Soldaten vor-
bereiten soll (H. V. Humboldt) hat schon frühzeitiges Talent gezeigt,
Ihr guier Bath wird dies entwickeln helfen. ^) — Ihren Grus an Böckh
habe ich bestellt, ich hoffe, dass er ihn wieder zum Becensieren an-
treibt, eine Beceosion von Voss wie jene über Wolf giebt zwar der
Welt genug zu lachen, kommen aber mehrere der Art von ihm, so
fürchte ich sehr, er möchte sich wiederholen und die Leser möchten
endlich den Unterschied zwischen dünsten und ferzen (S. Seite 186)
zum Überdruss begreifen. — *)
In aller Kürze möchte ich Ihnen doch noch versichern, dass ich
aus einer Unterredung mit Schuckmann schliesse, Sie können auf ihn,
als auf einen Freund, wenn Sie hier etwas wünschen sollten, rechnen. ')
Ich empfehle mich Ihnen und Ihrer Frau hochachtungsvoll
Achim von Arnim.
96. Friedrich Wilken an Wilhelm Grimm.
Heidelberg d. 7. Juli 1812.
Ew. Wohlgebohren
gütiges Anerbieten wegen einer Beurtheilung von Horn's Literatur des
18. Jahrb. nehme ich mit Vergnügen an und bitte um deren baldige
Einsendung. ^)
Ibre Klage wegen der langen Verzögerung des Abdrucks Ihrer
Recensionen im Fache der Altdeutschen Lit. finde ich nicht ganz ge-
gründet. Wenigstens so lange ich die Bedaction übernommen, habe
ich ihnen immer den Vorzug soviel als möglich eingeräumt, und ich
würde sie allerdings noch schneller haben abdrucken lassen, wenn ich
1) Vgl. Kleists Berliner Kämpfe S. 633. 634.
2) Dies bezieht sich auf Heinrich Voss' Rezension von Fr. Aug. Wolfs Über-
setzung der Wolken des Aristophanes in Jahrgang 1812 S. 161; darin ist in der
That S. 186 von der Berechtigang jener beiden Wörter, ein griechisches wiederzu-
geben, auf eine philiströse Art die Rede. Wenngleich der junge Voss diese und an-
dere Rezensionen schrieb, so glaubte doch jeder aus ihnen die Gesinnung des alten
Voss herauszuhören. Vgl. auch Arnim und Brentano S. 301.
3) Ich schliesse, ohne dass es unmittelbar hierher gehörte, an, dass die gänz-
lich anonyme Anzeige von Bürgers Ehstandsgeschichte (1812 S. 1199) Arnim zum
Verfasser hat. Die Rezension wurde von Arnim erst zur Begutachtung an Wilhelm
Grimm, von diesem dann nach Heidelberg geschickt. Über die von Grimm beein-
fluBSte Textgestalt der Rezension spreche ich im laufenden Jahrgang der Zeitschrift
f. d. Philologie.
4) Heidelb. Jahrbücher 1812 S. 913 (Kl. Schriften 1, 266); über diese Rezen-
sion, mit der auch Arnim wieder befasst war, bringe ich Näheres im laufenden
Jahrgang der Zeitschrift f. d. Philologie.
280 Reiuhold Steig
nicht durch den ßaum und die Bücksicht aufs Publikum beschränkt
wäre. Auf den Keiz der Neuheit, meine ich, müsse man in dieser Lit.
am wenigsten sehen.
Zuweilen treten Umstände eigner Art ein, welche den Abdruck
verzögern, wie dieses bey der Recension Ihres Herrn Bruders von der
Lit. der deutschen Poesie ist. ^) Als ich jene Recension erhielt, hatte
A. W. Schlegel schon die Bourtheilung übernommen und in den ersten
Wochen zu liefern versprochen. Ich dachte beide Beurtheilungen zu
geben ; allein bis jezt erwarte ich sie vergebens. Nun habe ich endlich
die Recension Ihres Herrn Bruders in die Druckerey gegeben.
Die Edda von Rühs wollte ich Ihnen zur Recension schon anbieten.
Um desto lieber ist es mir, dass Sie mit Ihrem gütigen Anerbieten mir
zuvorgekommen sind. *)
Hochachtungsvoll habe ich die Ehre zu seyn
Ew. Wohlgebohren
ergebenster
F. Wilken.
97. Achim von Arnim an Friedrich Wilken.
Berlin 3 Jan. 1813.
Sehr geehrter Freund!
Ich hätte mein Versprechen die Recension des Alfieri zu liefern
längst erfüllt, wenn nicht durch einen unangenehmen Zufall mir der
zweite Theil entwendet worden wäre. Jezt habe ich Lust bis zur Er-
scheinung der beyden letzten Bände von Goethes Leben zu warten, die
Zusammenstellung wird, ohne einen von beyden zu verletzen nur in-
teressanter'), auch erwarte ich Schillers Leben in der neuen Ausgabe
seiner Werke. Einliegend sende ich Ihnen die Anzeige eines Buchs,
das bis jezt noch nirgends beurtheilt worden, und doch eine eigenthüm-
liche Seite hat, auch gab es Gelegenheit ein Paar kuriose Hochzeit-
lieder, die bei mir einliefen, der Welt bekannt zu machen.*) — Das
1 ) 1812 S. 849 (KI. Schriften 6, 74) über v. d. Hagen und Büschings Literari-
schen Grundriss der deatschen Poesie.
2) 1812 S. 961 (Kl. Schriften 2, 80).
3) Arnim an Jacob Grimm, 22. Oktober 1812 (tingedruckt) : «Ich kann nicht
mehr recht zum Recensieren kommen, ich sollte den Alfieri recensieren fQr die
Heidelberger, es ward mir aber lächerlich als ich mich dabeisetzte und den Mannes
Geist und Fleiss recht beschaute.*"
4) Es ist die ganz anonyme und bisher als Arnim'sches Eigentum unbe-
kannte Rezension von Bomemanns Plattdeutschen Gedichten im Jahrg. 1813 S. 305;
nächstens davon in Boltes Zeitschrift des Vereins für Volkskunde in Berlin 1902.
Zeugnisse zur Pflege der deutschen Litteratur in den Heidelb. JahrbQchem 281
Vösslein ist ja bey den Acharnern noch mehr acharne, was wird aus
dem Männlein noch werden, wenn es so fort fährt Griechenland in der
einen, England in der andern Hand zur Verwunderung der Welt zu
tragen, seine Kräfte werden sich zuletzt so steigern, dass er sich wird
wie der Riese in Ketten legen müssen, um nicht alles zu zermalmen. ^)
— Eine. Neuigkeit, die man sich hier nur in die Ohren sagt, erzählt,
dass der grösste Theil des Macdonaldischen Corps, worunter auch unser
Hülfskorps, bey dem von Napoleon mit Wahnsinn bis zum 20ten ver-
späteten Rückzüge, grösstenteils gefangen und aufgerieben ist, dies ganz
unversehrte Corps hätte allein schon seinen Rückzug decken können,
wenn er es zur rechten Zeit zu sich berufen, aber so von Gott ge-
blendet war noch nie ein verruchtes Haupt. In Metz und Mailand ist
Aufruhr, in Spanien hat Wellington gesiegt und Birnams Wald rückt
schon auf Dunsinan heran. Viel herzliche Grüsse an Frau und Kind
und alle Bekannte. Zimmer sagen Sie gefälligst, dass ich über das
Rungesche Manuskript') an des Verstorbenen Bruder geschrieben.
Hochachtungsvoll ergebenst
Achim Arnim.
98. Achim von Arnim an Friedrich Wilken.
Berlin d. 29ten Nov. 1813.
Adr: Bey H. P. v. Savigny, Ludwigstr. Nr. 3.
Geehrter Freund! Wie es uns ergangen, wäre weitläuftig zu be-
schreiben, genug ich war Landsturmhauptmann und zuletzt sogar Viee-
bataillonschef, meine Frau gebar mir einen zweiten Sohn, wir haben uds
hier nicht fortbewegt, ungeachtet Berlin so leer geflüchtet war, wie ein
Dorf. Gegenwärtig pfusche ich in Ihr Fach, oder vielmehr ich will
Ihren künftigen Nachfolgern in der Geschichte die Mühe soviel meine
Kräfte und die Censur gestatten, erleichtern, ich schreibe eine Zeitung,
genannt der Preussische Korrespondent seit dem Anfange Oktobers,
Niebuhr hat ihn angefangen, Schleiermacher fortgesetzt, wie lange ich
dabey aushalte, das hängt von den Umständen ab.') Können Sie mir
1) Dies bezieht sich darauf, dass ausser Aristophanes auch Shakespeare von
den «VöBsen* in den Heidelb. Jahrbüchern in Beschlag genommen war; eine An-
zeige von dem von Heinrich und Abraham Voss übersetzten Coriolan und Winter-
märchen war sofort im Jahrgang 1812 S. 677 erschienen.
2) Die beiden plattdeutschen Märchen vom Mahandelboom und Fischer be-
treffend.
3) Arnim hielt vier Monate, vom 1. Olctober 1813 bis 31. Jan. 1814 dabei aus.
282 Reinhold Steig
einige Materialien liefern, so werde ich dankbar seyn, nicht Neuigkeiten
aus der Ferne, denn das kommt meist auf anderen Wegen schneller,
sondern aus der Gegend, Kriegsvorfälle, innere Angelegenheiten, Anek-
doten. Ich habe einen Band Schaubühne in der Realschulbuchhandlung
herausgegeben, ich sende ihn nächstens, da er in der Zeit der gänzlichen
Abtrennung vom äbrigen Deutschlande erschien, so wäre mir eine bal-
dige Anzeige in den Jahrbüchern sehr viel werth, sie wurden auf meine
Kosten in der Absicht gedruckt meinem Landsturmbataillon Kanonen
zu schaffen. —
Viele herzliche Grüsse allen Bekannten, Ihrer lieben Frau vor allen,
sie wird bey dem Unglück in Leipzig alles näher mitgefühlt haben ^), als
unser einer, der den Ort nur wegen der Lerchen, die in diesem Jahre
die Menschen aufspeisen, heimgesucht hat.
Hochachtungsvoll
Achim Arnim.
99. Friedrich Wilken an Wilhelm Grimm.
Heidelberg d. 5. Februar 1814.
Ew. Wohlgebohren
nehme ich mir die Freyheit unsre Jahrbücher wieder in gütige Er-
innerung zu bringen.
Wenn Sie glauben, sich von aller Persönlichkeit fern halten zu *
können, so würde ich Sie bitten, die neuste Schrift des Herrn Rühs zu
beurtheilen, über den Ursprung der isländischen Poesie u. s. w. Ich
habe freylich dieses opus noch nicht gesehen, und weiss daher nicht,
inwiefern es persönlich gegen Sie gerichtet ist. Sie werden am besten
beurtheilen können, in wiefern Sie die Sache untersuchen können, ohne
in Conflict mit etwaigen Pommeranismen des Verf. zu kommen.')
1) Fraa Karolioe Wilken war die Tochter des Akademiedirektors und Portrait-
malers Fr. Ä. Tischbein in Leipzig: Adolf Stoll, Der Geschichtschreiber Friedrich
Wilken, 1896 8. 27.
2) Die Rezension erschien 1814 S. 209 (El. Schriften 2, 137); Wilhelm Grimm
hatte sie in der Handschrift vorher an Savigny nach Berlin zur Begutachtung ge-
schickt, in dessen Namen und Vertretung Arnim (März 1814) seine Meinung zu-
rQckschrieb; Arnims Erinnerungen sind fast alle von Wilhelm Grimm berücksich-
tigt worden. Darüber künftig in ^ Arnim und die Brüder Grimm*.
Zeugnisse zur Pflege der deatschen Litteratur in den Heidelb. Jahrbüchern 283
Horns Deutsche Litteratur 2. Th. habe ich auf des Verf. Verlangen
einem andern Bec. zutheilen müssen. ^)
Dagegen möchte ich Ihnen vorschlagen den Theil von Bouterweks
Geschichte der Poesie, welcher die altdeutsche umfasst, ausführlicher
zu beurtheilen, und die frühem Bände nur kurz anzuzeigen.*)
Hochachtungsvoll habe ich die Ehre zu seyn
Ew. Wohlgebohren
ergebenster
Fr. Wilken.
100. Friedrich Wilken an Jacob Grimm.
Heidelberg d. 12. Febr. 1816.
Ew. Wohlgebohren
haben schon durch meinen Collegen Conradi vernommen, welch*
herrlicher Beweis der päpstlichen Grossmuth uns in diesen Tagen an-
gekündigt worden. Dass wir so schnell und so sicher zum Ziele ge-
langen würden, wer hätte solches zu hoffen gewagt? 847 Bände MSS
sollen ausser den 38 zu Paris restituirten Handschriften uns zurückge-
geben werden. In acht oder zehn Tagen, wahrscheinlich am Mittwoch
über acht Tagen werde ich von hier abreisen, um den Hort zu hohlen.
Sie wünschen mir sicher allen möglichen Seegen zu dieser Reise.
Sie werden nun auch Ihr Versprechen nicht unerfüllt lassen, hieher
zu kommen und aus dieser Quelle Ihren Durst zu laben. Denn bis es
möglich seyn wird, davon in die Fremde auszusenden — das würde
Ihnen gewiss zu lange dauern. Im Junius hoffe ich übrigens, soll dieser
Schatz in Heidelberg angekommen seyn, und dann soll sogleich Anstalt
zu einer ordentlichen Gatalogisirung gemacht werden.
Das responsum von Greuzer lege ich bey, und um die baldgefällige
Bestellung der Einlage durch die Post wage ich ergebenst zu bitten.
Die Acquisition des Sachsenspiegels von dem Herrn Oberlin werde
ich sehr gern für die hiesige Bibliothek machen, und bitte Sie Ihre
1) Die Anxeige des zweiten Teils erschien im Jahrgang 1814 S. 497, gezeichnet
mit ***, Sie lantet aber im Grande nicht anders, als die Wilhelm Grimms; sie
beginnt: «Ober den ersten Teil dieses Werks hat bereits ein Sachkundiger in diesen
Jahrbflchem (oben S. 279) sich ausgesprochen ; auch der Verf. der gegenwärtigen
Anzeige stimmt dem ihm unbekannten Beurteiler darin bei, dass** etc.
2) Wilh. Grimm an Jacob 12. 2. 1814 (aus der Jugendzeit S. 251) : .Wilken
trftgt den Bouterweck an, was ich aber ablehnen will, das Buch verdient nicht die
Mfihe, es ordentlich su recensiren, und das mflsste doch hier geschehen.**
264 Heinhold Steig: Zeugnisse zur Pflege der deotscben Litteratur etc.
Verwendung dafür eintreten zu lassen. 30 Franken werden wir gern
daran wenden, und ich werde auch dafür sorgen, dass, wenn auch noch
während meiner Abwesenheit der Handel richtig werden sollte, die
Zahlung doch unverzüglich erfolge, üebrigens gebührt nicht noir die
Ehre der Recension von Eichhorn. ^)
Becht sehr werden Sie mich verbinden, wenn Sie im Fach der alt-
deutschen und nordischen Litteratur Sich unsrer Jahrbücher annehmen
wollen. Was Sie in meiner Abwesenheit einzuschicken die Güte haben
wollen, bitte ich mit den Worten : „für die Heidelb. Jahrbücher der
Litteratur^ auf der Addresse zu bezeichnen.
Genehmigen Sie gütigst die Versicherung der ausgezeichnetsten
Achtung, womit ich stets bin
Ew. Wohlgebohren
ergebenster Diener
Fr. Wilken.
P.S.
Sie thun gewiss sehr recht, gegen A. W. Schlegel nicht eigentlich
aufzutreten.*) Den Unkundigen wird nur durch einen solchen Streit
die Zeit gekürzt, und der Kundige weiss ohnehin, wie weit Schlegel
Recht oder unrecht hat.
1) Eichhorns Schrift üeber das geschichtliche Studium des deutschen Rechts
ist anonym im Jahrgang 1816 angezeigt.
2) A. W. Schiegel hatte den ersten Band der Altdeutschen W&lder im Jahr-
gang 1815 S. 721 (Sämmtliche Werke 12, 383) rezensiert. Wilhelm Grimm machte
im dritten Bande der Altdeutschen Wälder jedoch S. 253 und S. 273 (Kleinere
Schriften 2, 156) seine Gegonausfühningen.
IV.
Seite
Wilb. Erb, Über die wachsende Nervosität unserer Zeit 1
Emil Kraepelin, Über geistige Arbeit 31
Fn OriBime, Die Anordnung der grossen Heidelberger Liederhandschrift 53
Arthur Kleijisehmidt, Marianne, Gräfin von der Leven 91
Mermann Wunderlich^ Zur Sprache des 'neuesten deutschen Schauspiels II. 115
F. T. Duhn. Geschichtliches aus vorgeschichtlicher Zeit. Nene Entdeckungen
Lnigi Pigorinis , 143
A. y. Domascewshiy Die Heere der Bürgerkriege in den Jahren 49 bis 42
vor Christus 157
Otto Kariowa, Das Testament des Veteranen Gaius Longinns Castor vom
Jahre 189 n. Chr. . 189
Karl Zangemeister imd Wllh. Braune, Bruchstacke der altsächsischen
Bibeldichtung ans der Bibliotheca Palatina . 205
Carl Ifeumauu, Über Kunst in Italien im 12. Jahrhundert 1
Riehard Schröder, Eine Selbstbiographie von Fritz Reuter 18
Richard Schröder, Ein Brief Savignys an einen früheren Schüler ... 23
Moritz Cantor, Zahlonsymbolik 25
Karl Zangemelster, Zur germanischen Mythologie 46
Friedr. Ohlenschlager, Der Name «iPfahl*' als Bezeichnung der römischen
Grenzlinie 61
Karl Zangemelster, Der obergermanisch-rätische Limes . . 68
A. T« DomaszewskI, Zu den Heeren der Bürgerkriege 105
A. T. Domaszeivski, Die Chronologie des bellum Germanicum et Sarmaticum
166-175 n. Chr 107
Eduard Ueyck, Die Staatsverfassung der Cherusker 131
Karl Schumacher Altes im Neuen . -^ 182
J. Wille, Pfalzgränn Elisabeth Charlotte, Herzogin von Orleans .... 190
Richard Oraf Du Moulin Eckart, Zweibracken und Versailles .... 229
VI.
Erwin Rohde, Orpheus 1
F. Y» Buhn, lieber die archäologische Durchforschung Italiens innerhalb der
letzten acht Jahre 19
Oh« HiUsen, Caecilia Metella 50
G. Slxt, Zu den Votivsteinen der equites singulares 59
Relnhoid Steig, Frau Auguste Pattberg 62
B. Erdmaunsdörffer, Eduard Winkelmann f 123
Henry Thode, Eine italienische Fürstin aus der Zeit der Ronaissanoe .129
Alexander Riese, Der Feldzug des Caügula an den Rhein 152
A. HauRrath, Luthers Bekehrung 163
B. ErdmannsdörfTer^ Kleine Beiträge zur Goethe-Biographie .... 187
0. Kariowa, Über die in Briefform ergangenen Erlasse römischer Kaiser . 211
E, Kraepelin, Zur Hygiene det Arbeit 222
■
VII.
Adolf Hausrath, Philipp Melanchthon 1
Richard Graf Bn Moulin Eckart, Treitschke und das Elsass .... 17
Walther Amsperger, Leasings Beschäftigung mit der Leibnizischen Philosophie 43
Fr. Ed. Schneegans, Die Volkssage und das altfranzOsische Heldengedicht . 58
Max Freiherr von Waldberg, Briefe von Jacob und Wilhelm Grimm, Karl
Lachraann, Creuzer und Joseph von Lassberg an F. J. Mone, I. . . 68
Karl Helm, Die Legende von Erzbischof Udo von Magdeburg .... 95
F. Y. Vtahn, Karl Humann 121
K. Schumacher, Die Besiedelung des Odenwaldes und Baulandes in vor-
römischer und römischer Zeit 138
Paul Joseph, Der Weinheimer Halbbrakteatenfi.ud 161
Arthur Kleinschmidt, Karl Theodor, Friedrich zu Salm und F. X. von Zwackh 199
Carl Schmidt, Die Paulusakten 217
Max Freiherr von Waldberg, Briefe von Jacob und Wilhelm Grimm, Karl
Lachmann, Creuzer und Joseph von Lassberg an F. J. Mone, II. . . 225
VIII.
H. Lämmerhirt, Kosalien und Pasqua Rosa ......... 1
Fr. Ed. Schneegrans, Frederi Mistral 38
A. Hansrath, Luther als Dichter ...... , .' . 58
H. Bassermann, Erziehung und Gesellschaft 78
Karl Schamacher, Zur rdmischen Keramik u. Geschichte Südwestdentschlands 94
Anton Baumstark, Zqr Chronologie des Bakchylides . .125
Fr. Ed. Schneegans, Die Abtei Th^l^me in Rabelais' Gargantua . .143
K. Tossier, Giuseppe Gioachino Belli und die römische Dialektdichtung . . 160
A. Hansrath, Luthers Thesenstreit .181
Richard Schröder, Germanische Rechtssymbolik auf der Marcuasäule .248
Karl Schumacher. iZur ältesten Besiedelungs^eschichte Badens .... 256
Alexander Cartelueri, Die Machtstellung Heinrichs II. von England . 269
•
Faul Hensel, Englische Zustände zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts . 1
Fritz Scholl, Ans neuerworbenen Korrespondenzen der Heidelberger Universsi-
tätsbibliothek . . . . . . ' 17
Walther Arnsperger, Einfluss der kirchlichen Unionsversucbe des 13., 14.
und 15. Jahrhunderts auf die philosophische Renaissance des Abendlandes 73
Moritz Cantor, Kiclaus Koppernikus 90
F. Y. Duhn, Fundumstände und Fundort der ältesten lateinischen Steininschrift
am Forum Romanum . 107
Karl Yossler, Die Lyrik des Angelo . Poliziano .121
A. V. Domaszewski, Die Principia des römischen Lagers ' . 141
Albert Krieger, Eine kaiserliche Brautwerbung in Kopenhagen 1697 . .164
F. Ed. Schneegans, Batiste Bonnet. Ein provenzalischer Bauer u. Schriftsteller 182
Karl Wild, Leibniz als Politiker und Erzieher nach seinen Briefen an Boine-
bürg *201
Moritz Cantor, Carl Friedrich Gauss 234
Karl 8chumacher, Die Handels- und Kulturbeziehungen Sadwestdeutschlanda
in der vorrömischen Metallzeit 256
Karl Helm, Die Legende von Erzbischof Udo von Magdeburg (Nachtrag) . 273
Dietrich Schäfer, Die Schlacht bei Lutter am Barenberge 1
Karl .Yossler, Pietro Aretino's künstlerisches Bekenntnis 38
Karl Boehm, Die Mathematik der Natur . . . GG
Karl Helm, Ein Tagebuch aus Matthissons Jugend . . \ . 81
Reinhold Steig, Joseph von Görres' Briefe an Achim von Arnim . 115
F. T. Duhn, Der Zeus des Phidias 177
Walther Arnsperger, Die Entstehung von „Werthers Leiden*" . .195
A« V. Domaszewski, Der Truppensold der Kaiserzeit 218
Albert Bftckström, lieber den Grosius-Codex F. v. 1 Nr. 9 in der Kaiserlichen
Oeifentlichen Bibliothek zu St. Petersburg 242
Richard Graf Du Monlin Eckait, Zum Gedächtnis Bernhard Erdmanns-
dörffers . . . . . . . . ^, . 1
Alfred Bassermann, Veltro, Gross-Chan und Kaisdlisage . , \ . 28
Th. Leber, Willy Kühne ' . . . . . . . IG
Karl Yossler^ Dante und die Renaissance 85
J. Wille, Pfalzgräfin Elisabeth, Äbtissin von Herford . 108
J. Wille, Karl Zangemeister (geb. 28. November 1837, gest. 8. Juni 1902) . 14.S
F. Ed. Schneegans, Maistre Fran^ois Villen 15:»
Alexander Cartellieri, Beiträge zur Geschichte Albrechts von Hobenberg aus
dem Vatikanischen Archiv 173
Alexander Cartellieri, Reiseeindrücke vom Grossen St. Bernhard ans dem
Jahre 1188 H^
Reinhold Steig, Zeugnisse zur Pflege der deutschen Litteratur in den Heidel-
berger Jahrbüchern 180
^9 * »^
Briefe und Mann»krlptsendnngen ' sind an Professor Dr. Wille in Heidel-
berg (Bunsenstrasse i)), dagegen alle Sendungen den Tan seh verkehr betreffend
an die UnIverHitätti-jBibllothek in Heidelberg zu richten.
ünlverBiUU-Bachdriickerei von J. Hörning in Heidelberg;
Inhalt der erschienenen Bände.
Programm 3
Chronik deg Vereins 5
M. Cantor, A.Dürer als Schriftsteller 17
R. Schröder, Die Landeshoheit über die Trave 32
K. Hartfelder, Das Katharinenfest der Heidelberger Artistenfakultät . . 52
A. Uaosrath, Arnold von Hrescia 72
F« T. Duhn, Heinrich Schliemann 145
0. Kariowa, Die Rangklassen des Ordo salutationis sportnlarumque provinciae ''
Numidiae, insbesondere die coronati 165
A* T« Domaszeifski, Beiträge zur Geschichte der Perserkriege . .181
— Die Entwicklung der Provinz Moesia . . .190
J. V. Pflngk-Harttung:, Keltische Bauwerke 201
A. y. Ontschmld f. Die Heidelberger Handschrift der Paradoxographen (Pal.
Gr. 398) ^ 227
A. C. Clarky Die Handschriften des Graevius 238
A. T. Oechelhäuser, Philipp Hainhofers Bericht über die>>tuttgarter Kindtaufe
im Jahre 1616 254
G. Meyer, Die Verhandlungen des preussischen Abgeordnetenhauses über den
PJrlass von Stempelsteuern für Fideikommisse 336
B« Erdmannsdörirer, Zur Geschichte der Heidelberger bibliotheca Palatina 349
A« Hausrath, Festrede gehalten bei der Enthüllung des Scheffel-Denkmals zu
Heidelberg am 11. Juli 1891 352
II.
K. Zangemeister, Zur Geographie des römischen Galliens und Germaniens
nach den Tironischen Noten 1
F« Scholl, Risse und Brüche in der Urhandschrift Plautinischer Komödien . 37
F. Y. Dahn, Die Benutzung der Alpenpässe im Altertum 55
K. Schumacher, Über den Stand und die Aufgaben der prähistor. Forschung
am Oberrhein und besonders in Baden 93
0. Kariowa, Zur Inschrift von Skaptoparene 141
J. Haller, Die Verhandlungen von Mouzon (1119). Zur Vorgeschichte des
Wormser Konkordats 147
K« Schröder, Arno, Erzbischof von Salzburg und das Urkundenwesen seiner
Zeit 165
H. Bassermaun, Johann Arnos Comenius. Festrede, gehalten bei der Comenius-
Feier in Heidelberg 172
M. Cantor, Zeit und Zeitrechnung 190
L, Lemme, Shaksperes Köuig Lear 312
J, T. Pflugk-Uarttung, Die Druiden Irlands 265
H. Buhl, Hugo Donellus in Heidelberg (1573—1579) 280
III.
K. Zangemeister, Zur Gef^chichte der Neckarländer in römischer Zeit . . 1
Friedr« ?• Weech, Ein Projekt zur Reform der Reichsjustiz aus dem 16. Jahr-
hundert ... 17
J. V. Pflugk-Harttuiig, 'ie Schriften S. Patricks 71
Fr« Y* Üuhn, Eine 'ir-nz*" <ler früheren Sammlung Ancona 88
£d. He)ck, Über <ii> Eiitstchung des germanischen Verfassimgslebens . . 106
G« Jeliinek, Adam in der Staatslehre 135
A. v. Oechelhäuser, Zur iOntstehung der Manesse-Handschrift .... 152
A* T. Domasze^Hki, Das deutsche Wun l'»raut in lateinischen Inschriften . 193
Rm Ueinze, Magisur l<«nrad Sihades Streithändel mit der Stadt Heidelberg . 199
Ferd. (Gerhard, Vom' Hussenkriege 224
Ed. Heyck, Zur Entstehungsgeschichte des germanischen Verfassungslebens . 2öl
Herrn« Wunderlich, Zur Sprache des neuesten deutschen Schauspiels . .251
Max Freiherr Ton TValdberg, Das Jaufner Liederbuch 260
NEUE
HEIIlELBEß&EB JAHßBOCHEB
HERAUSGEGEBEN
VOM
HISTORISCH-PHILOSOPHISCHEN VEREINE
Zü
HEIDELBERG
JAHRGANG XII
— >i>»^i«-
HBIDBLBBRa
VERLAG VON G. KOESTER
1908
INHALT.
Seite»
Otto Honsellt August Reichensperger und der Kirchenbau der Renaissance . 1
Ernst Tramnann, Stift Neuburg 54
Alexander Cartellieri, Nochmals die Reiseeindrücke vom Grossen St. Bernhard 63
Karl Brnnner, Über das Hagestolzenrecht in Kurpfalz 65
Karl Enling', Das Priamel. Beiträge zur Volkspoesie 73
Karl Obser, Bettine von Arnim und ihr Briefwechsel mit Pauline Steinhäuser 85
Richard Schröder, Der Schauplatz der Ruprecht'schen Fragen . .138
6. A. Gerhard und 0. Gradenwilz, Ein neuer juristischer Papyrus der Hei-
delberger Universitätsbibliothek 141
Hans Rotty Ulrich von Huttens Streit mit den Strassburger Karthäusem 184
Ph« kag» Becker, Die spanische Litteratur von ihren Anfängen bis zu den
katholischen Königen 193
Alexander Cartellierl, Kaiser Heinrich VII 254
August Reichensperger und der Kirchenbau
der Renaissance.
Von
Otto Honselh
Zu derselben Zeit, da bei uns die bildende Kunst aus einem un-
mittelbaren Zurückgehen auf die Schöpfungen der Antike neue Kraft und
neue Vorbilder zu gewinnen strebte, und der Klassizismus im Norden wie
im Süden, in Berlin, Dresden und München durch glänzende Leistungen
seinen Sieg zu verkünden suchte, bildete sich im Stillen eine Bichtung
aus, die ganz von dieser Strömung abgekehrt, dem Mittelalter sich zu-
wandte. Sie war hervorgegangen aus der führenden Kunst, der Dichtung.
Die Bomantiker versenkten sich mit schwärmerischer Hingabe in den
Geist, in die Thaten und Empfindungen der mittelalterlichen Helden;
rüstig arbeitete die Sprachwissenschaft an der Erkenntnis der Sprache
und der nationalen Epen und Volkslieder jener Zeit. Die Brüder Boisseräe
sammelten Bilder der Kölner Meister und suchten die verachteten goti-
schen Bauwerke auf; man hörte wieder die stille Mahnung des Kölner
Doms und arbeitete an Plänen für die Vollendung des herrlichen Werkes.
Die Thätigkeit englischer Künstler und Forscher regte auch auf dem
Festland zur Beschäftigung mit der älteren Baukunst an. — In dieser Zeit,
Anfang der fünfziger Jahre, begann August Beichensperger seine schrift-
stellerische Thätigkeit, seine Arbeit um die Wiederbelebung der Gotik,
seinen Streit wider die Benaissance und den Klassizismus.^)
1) Von seinen Schriften sind hier benutzt und kommen fttr die kirchliche
Architektur in Betracht:
Die christUch- germanische Baukunst and ihr Verhältnis zur Gegenwart.
3. Aufl.
Fingerzeige auf dem Gebiet der kirchlichen Kunst.
Vermischte Schriften über christliche Kunst.
Allerlei aus dem Eunstgebiet.
NRUK HBIDELB. JAHRBURCHRR Xlt. 1
Otto Honseil
I.
BeicheDsperger stellt sein Programm auf, indem kr die gotische
Baukunst als die christlich-germanische bezeichnet.
Mit glühender Begeisterung steht er vor ihren Werken, voll innigster
Bewunderung preist er sie. Manchmal geschieht es freilich, dass er
darüber zu sehr das Sachliche vernachlässigt, Bestimmtheit vermissen
lässt und überhaupt zu viel Oedanken hineinlegt, die das Gebilde un-
mittelbar nicht giebt. — Die mittelalterliche Kunst erscheint ihm ein
Wunder aller Zeiten in Qrösse, Schönheit und Tiefsinn, vorbildlich für
alle gleichzeitige Kunstübung. In ihren Werken sieht er die vollkom-
menste Annäherung an das Ideal eines Bauwerks: zweckmässige Ein-
richtung, dauerhafte Ausführung, bedeutungsvolle Anordnung und Klar-
heit, Einfachheit und Reichtum und lebensvoller Wechsel, Folgerichtig-
keit und Freiheit so vereinigt, das eine harmonische Gesamtwirkung
entsteht; das Einzelne ordnet sich dem Ganzen unter, und das Ganze
offenbart unzweideutig seine Bestimmung, seine höhere Idee. Kein Glied
tritt auf, das nicht durch die Gesamtkonstruktion bedingt ist und
darin seinen bestimmten Zweck zu erfüllen hat. Nichts ist willkürliche
Zuthat, angeflogene Verzierung. Er begründet dies mannigfach, an den
konstruktiven Elementen wie den vorwiegend schmückenden Teilen.^)
Als vollendete Kunst gilt ihm die Gotik deshalb, weil in ihr in rechtem
Masse Zweckmässigkeit und Schönheit, Freiheit und Notwendigkeit ver-
eint und durchdrungen sind. Dies setzt voraus, dass sie nirgends fertige
Formen an die Hand giebt, sondern nur allgemeine Gesetze und einfache
Konstruktionsprinzipien. Daher auch ihr Reichtum, ihre Fügsamkeit, da-
her die unendliche Reihe von Individualitäten, die sie gewährt, und eine
Fortbildung ins Unendliche. Dass jedes Gebilde auf eine innere Not-
wendigkeit hinweist und zugleich dem Kunstschönen angehört, hängt
ferner zusammen mit einer richtigen Anwendung des Materials. Alles
ist auch, was es scheint ; und das nämliche gilt für Bauten jeder Gattung,
jedes Zwecks, es ist eben eine wahre Kunst. „Die Gesetze,' sagt er,
„welche der Schöpfer in jede Menschenbrust gelegt hat, sind hier mit
klarem Verständnis erfasst und mit künstlerischer Hand in schlichter
anspruchsloser Weise zur Darstellung gebracht; das ist es, was ich ihre
Wahrhaftigkeit nenne.'
tt
1) Besonders in einem Aufsatz ^Über das Bildnngsgesetz der gotischen
Kanst** in den «Vermischten Schriften**, wo auch der beliebte aber verfahrerische
Vergleich mit der Musik nicht fehlt.
Augost Rpichensperger und der Kirchenbau der ttenatssaace 3
Die äussere ErscbeinuDg des gotischen Bauwerks reflektiert das
innere Bildungsgesetz, aber noch viel mehr. Wenn er überzeugt ist,
dass das kirchliche Leben in der kirchlichen Kunst seinen vollkommen-
sten und vielseitigsten Ausdruck findet, so ist ihm auch in dieser Be-
ziehung die Ootik der Höhepunkt derselben. Wie keine andere redet
sie die Sprache, verkündet sie den Geist des Christentums. Das Christen-
tum, erklärt er, hat auch die Baukunst frei gemacht von den Banden,
mit denen das Heidentum sie an die Erde gefesselt hielt; es hat der
Materie Flügel verliehen, auf denen sie sich himmelwärts schwingt.
Der lebendigste Ausdruck far diese Thatsache ist das System der ver-
tikalen Gliederung und Höhenrichtung der gotischen Kirche. Auf kirch-
lichem Boden, dem sie entsprossen, fand diese Kunst auch vorzugs-
weise Leben und Gedeihen. Und dieser enge Zusammenhang, das Be-
streben, die höchste Verklärung der Religion und Verherrlichung der.
Kirche zu sein, das, meint Beichensperger, bewirkt ihren Ruhm und
Wert. Mitten aus dem Volk herausgewachsen und von ihm getragen,
war die Gotik aber auch eine wirklich nationale Kunst. (Etwas kühn
ist zwar behauptet : der germanischen Race sei vorzugsweise das archi-
tektonische Genie zu Teil gefallen, der aus ihr erwachsene Stil sei zu-
gleich der schönste und fügsamste.) Ihre hinreissende Kraft und innere
Wahrheit machte sie fähig, weithin vorbildlich zu werden. Auch in
Italien, so wird konstatiert, habe sie festen Fuss gefasst, und wenn sie
dort auch einiges eingebüsst, so habe sie dafür doch wieder manche
Schönheiten gewonnen und jedenfals den glänzendsten Beweis ihrer enor-
men ' Bildungsfähigkeit geliefert.
Und diese jugendfrische heilige Kunst, die im Be-
griffe stand, dem germanischen Geist die Weit zu erobern,
die angestammte, glorreiche, echt nationale und christ-
liche Kunst ward überwuchert durch die Renaissance,
durch das zu einer Art von Scheinleben wiedererweckte
Heidentum besudelt, zersört. — Es ist notwendig, darauf hin-
zuweisen, wie er über die vorchristliche Kunst denkt: die Seele der
Antike war die Religion, ihr Mark das Nationalgefühl. Ihre grossen
Meister waren darauf bedacht, das heilige Feuer des Ideals zu hüten,
das im religiösen Glauben und in der Kultur wurzelte. Allein so grosse
Werke sie auch hervorgebracht, ihr Schaffen und Leben lief doch im-
mer der Erde parallel und blieb in Natur und Sinnentum befangen.
Dass man in Italien zuerst auf die Antike geriet, glaubt Reichen-
sperger noch einigermassen erklären und — entschuldigen zu können.
4 Otto Honsell
wenn man die Geschichte und natürlichen Verhältnisse dieses Landes,
die Lebensweise seiner Bewohner und die grossartigen alten Denkmäler
in Betracht zieht, die sich den Blicken der Kunstler stetig boten. Die
Antike war hier im Grund genommen nie gänzlich verdrängt, sondern
nur allmählich dem Geist des Christentums angepasst worden. Darum
ist er auch geneigt, der italienischen Benaissance immer noch eine ge-
wisse Wahrheit, Gesundheit und Naturwüchsigkeit zuzuerkennen. Dass
aber die im Süden auflebende Antike auch im Norden sich ausbreitete
und siegreich eindrang, war eine masslose Verblendung, und noch mehr:
eine Verirrung nicht nur in künstlerischer Hinsicht, sondern (was
Beichensperger noch viel mehr am Herzen liegt) in Sachen des Glau-
bens und der Kirche. Benaissance und Abfall vom Christentum bedeuten
ihm dasselbe; sie ist schlechthin Heidentum, und so bezeichnet er sie
fast ausnahmslos. Ja er geht so weit zu erklären, die grosse Beweg-
ung des rinascimento sei wesentlich nichts anderes gewesen als eine
grosse Neuerungssucht in Kunst und Wissenschaft. Ihr begegnete von
Norden her die Beformation, die Neuerungssucht im Glauben, und in
dem eisigen Wirbelwind, der sich darüber erhob, ging die bildende
Kunst in Erstarrung über. Dass der Norden die fremde Kunst mit
offenen Armen aufnahm, die angestammte Art vergass und überwuchern
liess, das erscheint ihm der grosse Irrtum der vergangenen drei Jahr-
hunderte ; für die germanische Kunst bedeutet sie die Verschüttung der
nationalen Kraft, der volkstümlichen Kunstübung, des alten Glaubens,
die Unterbrechung und Hemmung der gesunden Entwicklung. Nicht
von innen ist sie gekommen, ist vielmehr von aussen angeflogen und
ihrem Wesen nach unsern Bedürfnissen und Sitten durchaus fremd ge-
blieben. Bald wurde sie gelehrt, kritisch, vornehm, blieb dem Leben
der Nation ferne und ohne schöpferische Kraft. Dem entsprechen ihr
Gesamtcharakter und ihre einzelnen Elemente: das Säulensystem mit
seinem horizontalen Gebälk passte nicht zu den neuen Verhältnissen und
Anforderungen ; es waren ja die aus dem Altertum überkommenen Muster
fast alle nach einem streng abgeschlossenen System konstruierte Tempel ;
sie dienten nun allem Möglichen als Vorbild, alles ward denn auch
gleich gebaut: Kirche und Theater, Börse und Kasino, Paläste und
Privathäuser.
Die gesamte folgende Entwicklung der Kunst erscheint Beichen-
sperger als notwendige Folge jener ungesunden, unnatürlichen Wand-
lung, die Ausartung in Hohlheit und Leblosigkeit als Vergeltung für
das Verlassen der eigenen Weise und des eigenen Wesens. Selbst rei-
AuguBt Reichensperger und der Eirchenbaa der Renaissance 5
fere Schöpfungen der Renaissance sind doch nur taube Blüten geworden,
ohne Frucht und Samen zu spenden. Es war nur konsequent, wenn die
Kunst sich vom Leben zurückzog, aus dem sie nicht erwachsen war,
das sie nicht trug; sie ward ein Opfer der Hofarchitekten und Stuben-
gelehrten, wollte den gewöhnlichen Zwecken des Daseins nicht mehr
dienen und arbeitete nur für Paläste, Buhmeshallen und Museen. Gänz-
lich verschwunden und begraben war alles, was die mittelalterlichen
Meister und ihr Schaffen so gross gemacht hatte: eine lebendige Tra-
dition, die strenge Gesetzmässigkeit, die vor Willkür, der feine Sinn für
Verhältnisse und Massenverteilung im Grossen, der vor Starrheit be-
wahrte; die sichere Empfindung für das Gepräge und den Ausdruck
ihres Werkes, die Einheit von Können und Wissen, von Handwerk und
Kunst, die enge Beziehung derselben zum Leben in allen seinen Äus-
serungen. Dahin alles, was ein lebensfrisches organisches Ganzes hätte
schaffen können. Bezeichnend wird der Mangel einer künstlerischen
Vollendung im Grossen wie im Kleinen, alltäglich Gebrauchten und
Geschauten. An die Stelle des Schaffens tritt das Machen, statt der
Vollendung in Einseitigkeit macht sich Vielseitigkeit breit, ohne Mittel-
und Schwerpunkt. Wo die Antike nicht mehr vorhält, arbeitet man auf
Bestellung in allen Stilen zu gleicher Zeit oder gar an demselben Werk.
Das schlimmste Produkt sieht Beichensperger in dem Eklektizismus,
der in erhabener Unparteilichkeit Jedem das seine nimmt, ohne doch
jemals zu etwas Eigenem zu gelangen, ebenso verwerflich wie das Ge-
lehrtthun, das Schaffen von Kunst ohne Leben aus totem Wissen und
blinder Nachahmung heraus. Verderblich und ertötend wirkt ein immer
nach denselben Mustern gerichtetes Schaffen, das Symmetrische, Steife
und Trockene in endloser Wiederholung. Dazu kommt noch die äussere
Unwahrheit, die Täuschung mit allerlei Benaissance-Zierwerk, das wegen
Kostspieligkeit und Mangel an echtem Material aus Cement, Steinpappe
und Zink hergestellt wird, wo Mörtel und Farbe aus Holzschäften
schimmernde, fettglänzende Marmorsäulen hervorzaubern, aus Tannen-
wänden Steininkrustationen schaffen, aus Thon Bronce machen. Voll
gerechten Zorns eifert er gegen die „Gusseisen -Cellini und sonstigen
Snrrogatenjäger der Gegenwart, die ihre Dutzendware unter der Flagge
des^Genies der Renaissance zu decken sich unterfangen^. Aufs heftigste
bekämpft er diese ünwahrhaftigkeit, die er nur befördert sieht durch
das Eindringen der Industrie und Maschine in die Kunst. Hierbei ist
zu bedenken, dass zu dieser Zeit in Frankreich unter anderm auch der
Vorschlag gemacht wurde, das Modelliersystem auf den Häuserbau an-
6 Otto HoDsell
zuwenden: die meisten Kunstprodnkte unseres Bedarfs könnten auf diese
Weise modelliert werden; mit einem Dutzend Modellen für jeden der
verschiedenen Gegenstände, die zur Aufführung eines Hauses gehören,
je nach der Grösse des Gebäudes und dem Vermögen des Hausherrn,
wären alle vernünftigen Bedürfnisse zu befriedigen und so Hesse sich
die Fabrikation von diesen Stücken in Grossmanufakturform ausführen!
Mit leidenschaftlicher Heftigkeit, mit einem geradezu fanatischen
Eifer stellt sich Beichensperger in den Streit wider die herrschende
Bauweise, die ihm nicht mehr eine Kunst, sondern ein Bild völliger
Anarchie und Auflösung ist. Allein er bleibt dabei nicht stehen; er
will etwas bieten, wo er verdammt. Das ist die Erneuerung der go-
tischen Kunst. Wenn die gleichzeitige Wissenschaft sich wohl mit ihr
befasst und für ihre Kenntnis, nicht aber für die Erhaltung oder Voll-
endung ihre Monumente arbeitet, so ist damit nicht genug gethan.
Sie ist nicht ein zurückliegendes Durchgangsstadium, ein abgeschlossenes
m
Ganzes, sondern aus der Beschäftigung mit ihr soll neue Kraft erwachsen,
sie wieder ins Leben zurückzuführen. Den Vorwurf, solches Beginnen
sei Rückschritt, weist Beichensperger entschieden zurück; „zur mittel-
alterlichen Bauweise zurückkehren, heisst vorwärtsschreiten, vom Heiden-
tum zum Christentum, vom Römertum zum Deutschtum, von anarchisch
allerwärts umhertappender Verirrung zu höchster Einheit und Gesetz-
mässigkeit*^. Oder mit anderen Worten: es bedeutet die Wiederauf-
nahme der Arbeit der Vorfahren, die Anknüpfung an die Kunst der
eigenen alten Meister, welche durch eine unheilvolle Entwicklung ver-
lassen, verdrängt und vergessen wurde.
Und der Schriftsteller lässt es nicht an praktischen Satschlägen
fehlen, um seine Absichten verwirklichen zu helfen. — Die Grundlage
für jedes Weiterarbeiten im Geist der alten Kunst ist das eingehendste
Studium des gotischen Bauwesens, seiner Gesetze und Organismen, ver-
bunden mit dem Bestreben, sich in diese Schöpfungen hinein zu denken
und zu arbeiten und ihr inneres Leben zu erkennen. Unentbehrlich
dafür genaue Aufnahmen und Messungen mit Schnitten und Massangabe.
Sehr Günstiges hofft er von der Aufnahme der Kunsttradition der mittel-
alterlichen Bauhütten ; einen Anfang dazu, die Bauhütte am Kölner Dom,
empfiehlt er zur Nachahmung. Gerade die tägliche Anschauung der
besten Vorbilder, die Beschäftigung mit ihnen gilt ihm als ein wichtiges
Mittel, die Baumeister heranzubilden. In der Thätigkeit der Bauschulen
soll die Tendenz aufs Können und Schaffen im Vordergrund stehen;
hier sei bis jetzt alles nur gelernt und gewusst, stilisiert, nichts geschaut.
August Reichensperger und der Kirchenbau der RenaisBauce 7
Er stellt einmal das Wesen dieser Erziehung recht drastisch dar : „was
früher Lehrlinge und Gesellen hiessen, sind heute alles Herren geworden ;
diese Herren wissen dann eine Unzahl griechischer und lateinischer
Wörter, können die feinsten Oefühlslinien, Licht- und Schattenstriche
machen, Schattenkonstruktionen ausführen, verstehen mehr oder weniger
Physik, Chemie, Mineralogie, Mechanik, Perspektive, Infinitesimalrech-
nung und Trigonometrie, kurz alles, alles — nur nicht die Eunst^des
Bauens^. — Von Seiten der Kunst- und Altertumsvereine wünscht er
eine rege Mitwirkung und von der Regierung die nötige Beihilfe, die
den ersten Impuls zu der allgemeinen Bewegung geben und durch
materielle Mittel sie unterstützen soll.
Er ist sich wohl bewusst, dass die Arbeit keine leichte ist. Denn
nur eine eingehende Beschäftigung mit den Werken und ihren Gesetzen
und langdauernde, konsequente Übung ermöglichen das Verständnis der
Gotik und ihre Anwendung. Oberflächliches Hantieren mit ihr; ist ge-
fährlich, da ihre Schwierigkeiten nur der theoretisch und praktisch mit
ihr vollkommen Vertraute bewältigen kann. Jedenfalls wird sie, falls
nur die zugrundeliegenden Prinzipien gehörig verstanden und beherrscht
werden, jedem heutigen baulichen Bedürfnis zu entsprechen vermögen.
Die Wiederbelebung der mittelalterlichen Kunst hält nun Reichen-
sperger allein für möglich bei der Wiederherstellung des Bodens, aus
dem sie erwachsen ist. Die Renaissance und in ihrem Gefolge der
rationalistische und materialistische Geist haben (und davon ist er stark
überzeugt) in die neuere Entwicklung gefährlich viel antike Ideen und
Anschauungen getragen, Ideen, die er wieder schlechtweg als heidnische
bezeichnet. Sie haben auch in die Entwicklung der Kunst Verwirrung
und Verderben gebracht. «Die Renaissancekünstler, sagt er einmal,
kannten nicht die Falschheit und Tragweite des Prinzips, dem sie
dienten*, und an anderer Stelle : „man vergass damals, dass den Formen
Ideen entsprechen, dass das Erlösungswerk auch die Kunst freigemacht
hat und ihr die Bahn gewiesen, auf welcher der Geist die Wiederher-
stellung seiner ursprünglichen Beziehungen zum Schöpfer . . . anzu-
streben hat*. Jetzt wird ersichtlich, welche Modifikation die Erneuerung
in seiner Anschauung erfährt: es ist der Wiederaufbau der mittelalter-
lichen Kunst auf christlich-nationaler Basis, wie er es selbst bezeichnet;
wir sagen aber eher in seinem Sinn : auf kirchlicher Basis.
Von hier aus gewinnen die Persönlichkeit und die Kunstauffassung
unseres Schriftstellers ein ganz verändertes Aussehen. Das Ziel, welches
er erreichen helfen will, ist die Wiederbelebung der Gotik. Das ist ihm
8 Otto HoDBell
aber nicht die Hauptsache, sondern ins letzten Grand oft nur ein Mittel.
Die Kunst ist ja die Dienerin der höchsten Wahrheit und ihrer Yer-
künderin, nämlich der Kirche. Daher soll mit der alten Kunst auch
wieder der alte Glaube emporsteigen und herrschen. Sie aber soll wieder
erblühen unter dem Schutz der Kirche. Denn unter ihre Obhut ist nicht
blos die Wahrheit, sondern auch die Schönheit gestellt; sie soll dem
Chaos entgegentreten, ihre Wächter sollen mit ganzer Kraft für diese
Arbeit wirken als ihre natürlichen Hüter und Beschützer.^) Mit Stolz
und Siegesbewusstsein schaut er auf seine Kirche. Mag es befremdend
erscheinen, dass er dabei immer mit Nachdruck von der Gotik als einer
nationalen Kunst spricht, so erklärt dies seine Ansicht, dass seine Kirche
eben darin ihre echte Grösse zeige, dass sie auf die verschiedenen
Nationalitäten einging, ohne diese zu schmälern und sich zu entkräften.
Gewähre sie doch jedem Einzelnen die Freiheit, die zu seiner eigen-
artigen Entwicklung notwendig sei, aber so, dass sein Thun doch einer
hohen und allgemeinen Absicht diene: Freiheit und Notwendigkeit ver-
einige auch sie in sich'), und hier liegt der Zusammenhang mit der
Gotik, welche ihm wegen der Vereinigung und Durchdringung der
beiden Gegensätze in ihren Bildungen als das vollkommenste Kunstwerk
gilt, eben als der vollkommenste Ausdruck seiner Kirche. — Reichen-
sperger behauptet überall seinen exklusiv konfessionellen, sagen wir be-
stimmter: ultramontanen Standpunkt; er ist Katholik durchaus und
stolz darauf, unleugbar ein Mann von Überzeugung und Konsequenz.
Selten führt ihn sein Eifer zu feindseliger Gehässigkeit.^)
Die Erwähnung dieser Thatsachen ist in diesem Zusammenhang
nötig; einmal offenbaren sie die tiefere und intimere Grundlage seiner
Bestrebungen und seiner Anschauung über die Kunst, dann aber be-
leuchten sie den eigentümlichen Fall, wie die Arbeit für die Wieder-
belebung der Kunst durch Aufnahme und Fortsetzung der mittelalter-
lichen Weise selbst von streng kirchlichem Standpunkt aus als höchst
wertvoll, als Pflicht erscheint, — ein Standpunkt, der ebenso einseitig
als ungenügend ist für die Betrachtung der Kunst.
Unter den zahlreichen Angriffen, die Reichensperger erfuhr, waren
diejenigen Anton Springers die schwerwiegendsten, der ihm vorwarf, von
1) Interessant ist, wie er für die jangen Priester Kenntnis der Kunst und
eifrige Beschäftigung mit ihr verlangt, nicht nur zu ihrer allgemeinen Bildung des
Geistes, zur Erholung, sondern geradezu als Pflicht.
2) Diese Erörterungen haben den Aufsatz : Über den Humor in der Kunst (in
den Vermischten Schriften) völlig verdorben.
3) Am heftigsten in seinen nFingerzeigen**.
August Reicheosperger und der Eirchenbau der Renaissanee 9
der ganzen Entwicklung der Kunst seit Raffael und Michelangelo habe
er keine Ahnung und erkläre alles inzwischen Qeschaifene für Teufels-
werk; worauf Reicbensperger die Erklärung folgen Hess, dass er jene
Meister hoch in Ehren halte und, wo er ihren Grundanschauungen nicht
beipflichten könne, doch ihrem Genie, der soliden Pracht und voll-
endeten Technik ihrer Werke aufrichtige Bewunderung entgegenbringe.
Unermüdlich ist er darin, seine Überzeugungen offen auszusprechen,
damit die Wahrheit, die er vertritt, wirke und verwirklicht werde.
Erwähnenswert ist seine Thätigkeit für die Förderung des Kölner Dom-
baus, dessen Vollendung er noch erlebte.^) üeber seine Kunstschrift-
stellerei äussert er siöh selber einmal: „ihre Tendenz geht nicht dahin,
die Kunstgelehrten noch gelehrter zu machen, (wohl etwas praktischer),
vielmehr habe ich mir die Aufgabe gestellt, das Wesen der christlichen
Kunst zu möglichst allgemeinem Verständnis bringen zu helfen, besonders
aber die opferwillige Hingabe an dieselbe zu beleben, sowie dem Ein-
dringen modernen Schwindels in die Massen entgegenzuarbeiten.^ Später
beschäftigte er sich eingehender auch mit der gotischen Profankunst
und war bis in die neunziger Jahre thätig durch Arbeiten im Reperto-
rium und in der Zeitschrift für christliche Kunst. — In hervorragendem
Masse gewährte ihm seine Stellung als ultramontaner Abgeordneter in
der Volksvertretung, der er die längste Zeit seines Lebens angehörte'),
Gelegenheit, für seine Sache öffentlich zu wirken, und er war trotz des
extremen Standpunktes immer noch eine Persönlichkeit, die, auf gewisse
Sachkenntnis gestützt, für die Pflege der Kunst wenigstens Verständnis
und praktisches Urteil besass.
IL
Unverkennbar zeigt Beichenspergers Auftreten eine bedeutende Ein-
seitigkeit in der Betonung des Ideengehalts der Baukunst und ihrer Abhän-
gigkeit vom kirchlichen Leben. In seinen Schriften und seiner öffentlichen
Thätigkeit das Wertvolle herauszulösen, ist notwendig, um seine Persön-
lichkeit richtig zu würdigen. Gegenüber der Willkür und Gesetzlosig-
keit in der Baukunst weist er hin auf die strenge Gesetzmässigkeit,
das Mathematische, im Kunstgebilde als eine seiner wichtigen Grund-
lagen ; einer unverständigen Konstruktion und sinnlosen Dekoration stellt
1) Hierzu zahlreiche Aufsätze in den Vermischten Schriften und seine Ab-
haodlang: Zur neueren Geschichte des Dombaus in Köln. (Köln 1880.)
2) Seit 1848 bis 1884, vom Frankfurter Parlament bis zum Reichstag, bewegte
er sich mit wenigen Unterbrechungen in verschiedenen gesetzgebenden Körperschaften;
er wurde 1852 der Grander der katholischen Fraktion, die sich 1861 Zentrum nannte.
10 Otto Honsell
er die innere Wahrheit der älteren Kunst in Darstellung und Material
entgegen; in der Zeit, da in Baiern die Schlösser des einsamen Königs
leer standen, mahnte er, die Kunst könne nur lebensfähig werden als
Gemeingut des Volkes, das sie tragen müsse; während die Städte und
Dörfer sich bevölkerten durch tote symmetrische, jedem ästhetischen und
praktischen Bedürfnis Hohn sprechende Steinmassen, erinnerte er daran,
dass die Kunst wieder wie ehemals das Leben durchdringen müsse, dass
das innere Leben auch nach einer entsprechenden Bildung seiner Um-
gebung verlangt, dass alles, das ganze Haus wie jeder einfache Ge-
brauchsgegenstand, einer künstlerischen Behandlung wert und würdig ist.
Allein sein Eifer führt ihn zu weit. Für jene Richtung, die in
der Baukunst den gotischen Stil für den einzig kirchlichen hielt,
war er einer der entschiedensten Verfechter dieser Überzeugung, die-
ses Glaubens. Denn bei ihm ist es wirklich ein Glauben; eine gewisse
Voreingenommenheit, allerlei Erinnerungen an die Epoche seiner Blüte
leiten ihn dabei und er verfällt beinahe in den nämlichen Fehler, den
er an seinen Gegnern rügt. Was seinem Urteil vorangeht, ist nicht ein
Schauen, selbst nicht einmal immer bei der Gotik, (in der er sich noch
am besten auskennt,) sondern blos ein Denken, nicht aber ein Nach-
denken, sondern ein Hineindenken, Hineinlegen von bestimmten Absichten
und Zwecken, Gedanken. Mag seine politische Stellung ihn immer ver-
leiten, in der Kunst mehr als billig nach grossen Zusammenhängen mit
dem gesamten Leben eines Volkes zu suchen : sobald er als Kunstschrift-
steller auftritt, bildet dieser Umstand keine Entschuldigung für seine
Einseitigkeit und den Mangel an genauer Kenntnis dessen, was er be-
dingungslos verdammt.
Zwischen allen Stilen der Kunst nach der Renaissance, besonders
in Deutschland, giebt es für Beichensperger ganz und gar keine Unter-
schiede. Man darf sagen, er schlägt alles über einen Leisten ; man ge-
winnt die Überzeugung, dass: er mit einem gewissen Schauder von der
Renaissance und der Kunstarbeit der nächsten Jahrhunderte spricht und
den Abscheu gerne los wird, indem er schnell über jene Periode hinweg-
geht und sie als ein grosses Verderben hinstellt! Sie ist ja für ihn
nichts anderes als die Zeit des Streites wider die alte Kirche, des
Rationalismus und des Unglaubens; daher die gleichzeitige Kunst der
Ausdruck derselben, die Offenbarung einer ganz unkirchlichen Gesinnung.
Die baukünstlerische Thätigkeit der Jesuiten, Barock, Rokoko, Klassi-
zismus, alles gilt ihm gleich und schlechthin verwerflich. Kaum an-
merkend will er dem Rokoko noch in der Ausstattung eine gey^isse solide
August Reichensperger und der Kirchenbau der Renaissance H
Technik znerkennen ; aber wie äussert er sich sonst darüber, wie schreckt
er zurück wie vor einem Gebilde des Wahnsinns! ^ Jedes Prinzips und
jeder Grundlage baar, taumelte die emanzipierte Kunst im Delirium
des Bokoko umher, die Gaffer mit ihren Kaprizen ergötzend. Wer
kennt nicht den buntscheckigen Wirrwarr dieses Stils mit seinen Aus-
wüchsen, Verkröpfungen, Schnecken und Genien, pomphaft aufgestellten
Triumphbögen, Altären, durcheinander gestikulierenden Statuen und
Pfropfziehersäulen etc/ Mag man immerhin bedenken, dass die allge-
meinere Anerkennung der Barockkun^t und des Rokoko noch sehr jung
ist, so zeigt sich hier am deutlichsten, wie alles nur gedacht ist und
wie verderblich es wirken kann, überall nur Absichten und Zwecke
(wenn auch sehr hohe) in die Formen und Gebilde der Kunst hinein-
zulegen und darnach ihren Wert, ihre Bedeutung zu bestimmen. Ein so
konsequentes Kunst-Denken muss jede aufrichtige, natürliche Empfindung
schon von ferne ertöten.
Ebenso einseitig, nur weniger beschränkt, zeigt sich seine An-
schauung über den romanischen Stil. Es mag nicht unrecht sein, ihn
als ein Entwicklungsstadium zu bezeichnen, ihm keine volle Reife zu-
zuerkennen; aber diese Beurteilung gründet sich keineswegs auf die
Kenntnis seiner Entwicklung und künstlerischen Formen. Der Geist,
heisst es da, ringt noch mit der Materie um die Herrschaft, die Teile
führen noch ein gesondertes Leben, enthalten noch uubewältigte, nicht
gehörig gegeneinander abgewogene Massen. Vor allem aber offenbare
der Stil noch zu viel „vorchristliche Beminiscenzen'. Daher kann
Beichensperger auch nicht den Ideengehalt in ihni finden (oder in ihn
hineinlegen), der ihm nun einmal die folgende Periode so verklärt er-
scheinen lässt.
Wenn er von mittelalterlicher Kunst spricht, so ist das stets und
ausschliesslich die Gotik. Er geht dabei aus von ihrer Universalität,
welche sie fähig gemacht habe, vorbildlich zu werden für den ganzen
Occident. — Ich möchte hier auf zwei seiner Äusserungen zurück-
kommen: die eine betrifft die Ausdehnung der Gotik, die andere die
Grenzen ihrer Bildungsfähigkeit. Die christlich-nationale Bauweise (auf
die Frage, ob Deutschland oder Frankreich die erste Ausbildung dieses
Stiles sein eigen nennen dürfe, lässt er sich nicht ein) hat auch in
Italien festen Fuss gefasst, hat dort gegen manche Einbusse andere
Schönheiten gewonnen und damit jedenfalls gezeigt, dass sie im höchsten
Grad, ja ins Unbegrenzte weitergebildet werden kann. Weniger die
Aussprüche späterer Kunsthistoriker als vielmehr die Monumente jener
12 Otto Honsell
Zeit beweisen, dass die Gotik in Italien nie recht heimisch ward. Oerade
die wesentlichen, charakteristischen Elemente des nordischeu Stiles sind
bei ihr vernachlässigt oder ausgeschieden. Bedeutend geschwächt ist
die Höhenrichtung, das System der Strebepfeiler und -bogen oft auf-
gegeben, es fehlt die Gliederung der Pfeiler und die Ausbildung der
Bippen, sogar zuweilen das Gewölbe, an dessen Statt ein offener Dach-
stuhl tritt. Endlich aber das höchste Ergebnis der nordischen Eunst-
arbeit, das Hineinbeziehen der Türme in den Gesamtorganismus, wurde
in der Begel nicht übernommen: die Dome zu Orvieto, Siena, Florenz
haben ihre Gampanili wie die früheren Kirchen gesondert stehen; wo
sie mit der Kirche vereinigt sind, erscheinen sie in unbedeutenden
Höhenverhältnissen und verlieren den Charakter des Turmes, wie der
Aufbau über der Vierung der Mailänder Kathedrale. Es besteht zwischen
der italienischen Gotik und der nordischen ein ähnliches Verhältnis wie
zwischen der deutschen Benaissance im Anfang und der italienischen;
sie übernahm von ihr wesentlich die Ausschmückung, nicht die Kon-
struktionsprinzipien. Was sie Wunderbares hervorgebracht hat, verdankt
sie weniger speziell dem Stil der Gotik, als dem ihren Baumeistern an-
geboren sicheren Gefühl für Baumbildung und -disposition. Wenn
übrigens auch nachweislich deutsche Meister im Süden arbeiteten (in
Mailand und Orvieto wie in Burgos), so mussten sie sich in vielem
dem herrschenden ^Bedürfnisse fugen.
Die Universalität des gotischen Stils findet Beichensperger darin
begründet, dass sie nicht fertige Formen, sondern nur einfache Gesetze
und feste Konstruktionsprinzipien giebt und dadurch eine Fortbildung
ins Unendliche zulässt. Er ist aber geneigt, mit jedem derartigen Ge-
setz eine höhere Bedeutung, nicht ein einzelnes Symbol, sondern einen
religiösen Inhalt zu verknüpfen. Keineswegs ist jedoch anzunehmen,
dass die schaffenden Meister die Absicht oder das Bewusstsein gehabt
hätten, dies oder jenes Gesetz und Prinzip zu einem bestimmten Inhalt
anzuwenden oder auszubilden ; an die Verkörperung gewisser symbolischer
Verhältnisse und Zeichen ist hier zunächst nur insofern zu denken, als
überhaupt das ganze mittelalterliche Leben die Symbolik und Mystik
aus angeborenem, durch Beligion, Legende und Altertum genährten
Hang reichlich pflegte. Hier kommt aber femer die ganze von der
heutigen so grundverschiedene Kunstübung in Betracht, die Zunft mit
ihrem bis in die Hochgotik erhaltenen kirchlichen Charakter, mit ihren
Gesetzen und Verboten, mit ihrer lebendigen, sorgfältig bewahrten Tra-
dition. Nicht für Papier oder eine Modelliermasse, sondern unmittelbar
Augast Reichensperger und der Kirchenbau der Renaissance IS
und lediglich ffir Stein dachten und arbeiteten die Baukünstler bei ihren
Kirchen; daraus erwuchs die Notwendigkeit jedes Gebildes und der
Gliederung und die Einfachheit, und mit Naturgewalt musste so das
Gesetz hinter der Bildung durch langdauernde Übung gefunden werden.
Etwas Künstlerisches hätte nicht entstehen könnnen, wenn, wie Reichen-
sperger annimmt, ein unmittelbarer Einfluss religiöser Vorstellungen auf
die Bildung der Gesetze und ein mehr immanentes als bewusstes Ein-
mrken solcher Prinzipien auf das ausübende Schaffen bestanden hätten.
Daran ist hier nicht zu denken. Denn als einmal die höchste Sicher-
heit in der Bewältigung der Massen erreicht war, überwucherten die
schmückenden Formen die Konstruktion, aus architektonischen Gebilden
wurden dekorative, deren Ausbildung und Überwiegen die späte Gotik
kennzeichnen. Die nordische Kunst war, als die Bewegung der Renais-
sance über die Alpen kam, keineswegs so jugendfrisch, wie Reichen-
sperger erklärt, sie war vielmehr schon gealtert und hatte von ihrer
ursprünglichen Kraft viel eingebüsst.
In seiner Anschauung liegt die Grösse der gotischen Kunst darin
beschlossen, dass sie der adäquate Ausdruck kirchlichen Lebens und
kirchlicher Gemeinschaft ist und zugleich des nationalen Lebens, (insofern
nämlich jenes in Deutschland zur herrlichsten Blüte sich entwickelt
haben sollte). Es mag aber überhaupt mit Fug als geßlhrlich erscheinen,
in Sachen der bildenden Kunst so häufig mit den Begriffen des Natio-
nalen und Christlichen zu operieren. Schon dass es abstrakte Begriffe sind,
möchte eine Warnung enthalten; denn muss ihnen auch wirkendes
Leben entsprechen, so steht dies nicht in so unmittelbar erkennbarem
Zusammenhang mit seinen verschiedenen Äusserungsformen, auch nicht
mit der bildenden Kunst.
Im Kunstschönen, sagt uns Reichensperger, findet die Religion ihren
reinsten, erhabensten und wirksamsten Ausdruck. Und was ist der
Zweck, was die Aufgabe der Kunst? Sie ist nicht Lebensgenuss, sondern
sie steht im Dienst der höchsten, der christlichen Wahrheit. Wer dem
ersten zustimmt, kann dem letzteren entschieden entgegentreten. Und
braucht noch lange nicht die Kunst als Selbstzweck zu verherrlichen.
Es ist hier zu unterscheiden: für den Schaffenden muss sie in vielen
Fällen, in den Momenten des Schaffens wohl notwendig Selbstzweck
sein, damit er nicht wisse, dass er etwas künstlerisches hervor-
bringt; hier aber handelt es sich und auch im Folgenden um das fer-
tige Werk, um die künstlerische Stimmung, die es erzeugt, um das
höhere Leben, das es in sich bannt, das den Menschen in seinen Bann
14 Otto Honseil
zieht. — Etwas wesentlich Verschiedenes ist es aber, wenn wir sagen:
die Kunst ist der reinste Ausdruck, die höchste Verklärung religiösen
Lebens, oder : sie dient der religiösen Wahrheit, ist ihr unterthan, ist
nur für sie da und gilt ohne engen Zusammenhang mit ihr nichts P Die
letzte Konsequenz ist bei Beichensperger, wenn nicht ausgesprochen,
doch deutlich genug gezogen. Verdammt er doch die Kunst der Renais-
sance deshalb, weil sie der Kirche nicht mehr ausschliesslich dient, an-
tike Vorbilder und Ideen aufnimmt, eine Erneuerutig des ,,Heidentums''
herauffuhrt.
In diesem Streit steht in erster Linie die Frage nach der Bedeu-
tung der Renaissance im Kirchenbau. Reich ensperger spricht ihr, da-
mals wie heute, jede Berechtigung darin schlechtweg ab ; ihre Kirchen,
St. Peter oben an, sind ihm Wahrzeichen der traurigsten Verirrung.
Seine Anschauung wird hier zum Beispiel des einen Extrems.
Versuchen wir einmal, an der Hand seiner Ausfahrungen den Stand-
punkt zu formulieren, welchen die Gegner der Renaissance im Kirchen-
bau einnehmen, so ergiebt sich im allgemeinen folgendes. Die Renais-
sance trug in das moderne Leben antike Ideen, in die Kunst antike
Vorbilder herein. Diese verlässt die früheren Bahnen, stellt sich nicht
mehr ausschliesslich in den Dienst der Kirche, ist nicht mehr religiös,
sondern weltlich. Wie die Antike, wurzelt sie im „Sinnentum* und
haftet an der Erde. Aus ihren Bauten vertreibt sie das religiöse Leben,
statt es darin zu hüten, zu pflegen, zu verklären. Mögen Paläste und
Profanbauten überhaupt ihre Verwendung rechtfertigen : dem Gotteshaus
soll sie ferne bleiben ; ihre Harmonie, ihre Pracht und ihr Glanz lassen
den .Andächtigen völlig kalt. Die Renaissance hat überhaupt keinen
„sakralen Stil' ausgebildet oder geschaffen.
Die Frage gewinnt also eine ungeheure Tragweite. Am besten wer-
den die Verhältnisse in Italien Aufschluss geben. Zunächst wird es ge-
boten sein, die Entwicklung der Renaissancekirche in Italien und in den
wichtigsten nordischen Ländern kurz zusammenzufassen ; darauf soll ver-
sucht werden, den Zusammenhang von Kunst und Kirche der Renaissance
deutlich zu machen und ihren Einfluss auf die Kunstübung des Nor-
dens nach Wert und Folgen begiündend darzustellen. Dann erst wird
sich ergeben, in welcher Art ein Urteil über die Bedeutung der Renais-
sance im Kirchenbau möglich ist.
August Beicheusperger und der Kirchenbau der Kenaissance 15
in.
Um fär die Frage nach dem Wesen der Benaissancekirche eine
feste Grundlage zu gewinnen, möge hier eine kurze Übersicht ihrer Ge-
schichte Platz finden. Sie soll die formale Entwicklung in ihren wich-
tigsten Funkten zusammenstellen. Massgebend ist die Gesamterschein-
ung, sind die Elemente ihres Aufbaues und daneben der Grundplan, der
die Idee des Bauwerks in knappster Form darstellt.
Die Benaissance- Architektur Italiens erstarkte im Kampfe gegen
die Gotik, im Bund mit dem Humanismus. Im Verhalten gegen den
vorausgegangenen Stil hatte bereits das sichere eigene Eunstvermögen
seine Stärke gezeigt: das Hauptgewicht lag nicht auf der vertikalen
Gliederung und Entwicklung, sondern auf der Schönheit der 'Bäume,
der harmonischen Disposition von Flächen und Massen. Schnell wurde
engerer Zusammenhang mit der Antike gewonnen, mit Stolz die eigent-
lich nie verdrängte Kunst wieder aufgenommen, als die einheimische,
echte, grosse dokumentiert. Man empfand das Neue als Bruch mit der
Vergangenheit, dem Altertum (soweit es bekannt war) nachzueifern
wurden alle Kräfte eingesetzt. Es begann aber zuerst nur mit einzel-
nen Formen, nicht mit umfangreichen Besten und grossen Denkmälern
einzuwirken. Nicht blinde Nachahmung, sondern eigene Arbeit führten
die Grösse der Benaissance-Architektur herauf. Schon das innerlich
treibende Gesetz aller ihrer Schöpfungen, das auch ihren künstlerischen
Gehalt letzthin bestimmt: das der „geometrischen und kubischen Ver-
hältnisse* ist wesentlich ihre eigene Errungenschaft. Wohl verarbeitet
sie ältere Formen, schafft aber daraus etwas Neues, einen Baumstil,
wie ihn selbst die Bömer nicht gekannt hatten.
Er kommt im Kirchenbau zur herrlichsten Erscheinung, vorzüglich
im Centralbau, der seit Anfang das höchste Ziel ist und die vollkom-
menste Leistung auf dem Gebiet der religiösen Benaissancebaukunst
wird. Hinsichtlich der Gestaltung einzelner Teile tritt im allgemeinen
in der Hochrenaissance gegenüber einer zaghaften Plastik, der Bevor-
zugung von Ornament und farbenfreudiger Dekoration und der Konzen-
trierung des Schmucks auf einzelne Teile das Bestreben nach Verein-
fachung in dieser Bichtung hervor, nach Verstärkung des architektoni-
schen Elements (Nischen, Umrahmungen, Giebel, Halbsäule, später
dorische Säule besonders und Pilasterordnungen) und nach Vermehrung
der Kontraste (in der ganzen Disposition und im Einzelnen, Abwechse-
lung von . Fenster, Nischen, umrahmten Feldern, von Halbsäulen mit
Pilastern).
16 Otto äoDsell
Die ganze Entwicklung der italienischen Renaissancekirche kann
aufgefasst werden als Kampf zweier Haupttypen : Langhaus und Central-
bau. Beide treten gleich anfangs auf und kommen gegenseitig modifiziert
vor; in der höchsten Blüte herrscht der Centralbau, am Ende siegt die
Longitudinalanlage unter Beibehaltung von Motiven, die jenem ange-
hören.
Das Centrum der Frührenaissance ist Florenz. Ihre erste Gross-
that die Vollendung von Arnolfos Dom durch Brunellescos gewaltige
Spitzkuppel, an Dimension und Grossartigkeit denen der Hochrenaissance
ebenbürtig, unter dem Einfluss desselben Meisters entstehen S. Spirito
und S. Lorenzo, Säulenbauten mit Bogen, bereits herrliche Räume, voll
Helle und Klarheit, wesentlich verschieden vom Charakter mittelalter-
licher Kirchen. Der hiermit zur Geltung gebrachte Typus der Basilika
wird neben der Säulenkirche, zum Teil mit Tonnen gewölbt, zum Teil
von niederen Kuppeln überhöht, vorbildlich für zahlreiche Kirchen Ober-
italiens, Bolognas, Ferraras (S. Francesco), Piacenzas (S. Sisto). Das
Äussere ist meist schlicht gehalten, anderwärts wieder sorgfältiger be-
handelt durch Ausbildung einer Fa9ade. All diese Kirchen bilden inner-
lich den Gegensatz zum Typus des Centralbaus, sind auch nicht vor-
zugsweise auf die Wirkung schöner Räume hin gebildet.
Leon B. Albertis Kirchen scheinen fast der Entwicklung vorauszu-
greifen. Seine Fafaden, prächtige Vorbauten, zeigen eine oder zwei Ord-
nungen mit Halbsäulen oder Pilastern, zuweilen den Giebel. (S. Fran-
cesco in Rimini ; S. Andrea in Mantua, mit bedeutendem Portal zwischen
vier Pilastern ; S. Maria novella in Florenz, das erste Beispiel von Stein-
voluten, die aber hier mit Inkrustation geschmückt sind.) — Nicht mit
derselben Sicherheit behandelt wie die Bauten des grossen Theoretikers
sind zahlreiche Kirchen Ober- und Mittelitaliens der Frühzeit. Man
wendet antike Formen an, ohne sie noch in eigentümlicher Art ver-
wenden zu können. So die Kirchen Baccio Pintellis (S. Maria del
popolo, S. Agostino) in Rom, welches überhaupt zu Anfang im Kirchen-
bau nur unbedeutendes hervorbringt. Die hier zuweilen auftretenden
Vorhallen an Kirchen tragen ein durchaus profanes Element in sie hin-
ein (Fafaden von S. Pietro in Vincoli, SS. Apostoli, S. Marco) ; später
auch an S. Maria in Navicella). — In Abhängigkeit vom Material lei-
sten einige Bauten Oberitaliens und Nordtoskanas Eigenartiges: so der
Backsteinbau der Madonna di Galliera in Bologna, die Misericordia in
Arezzo und andere, die an kleinen Fa9aden allen Schmuck in einem
Prachtportal konzentrieren. — Ganz isoliert steht die Fa9ade der Cer-
August ßeichensperger und der Kirchenbau der Kenaissance 17
tosa bei Pavia. ohne spätere Analogie, aber von wichtigstem Einfluss
auf die Formenwelt des Nordens; mit völliger Auflösung der Pfeiler in
Nischen mit Statuen, im Aufbau völlig unabhängig von den antiken
Ordnungen (Burckhardt). Ebenso vereinzelt ist der Dom von Pienza,
eine lichte dreischiffige Hallenkirche, als Erinnerung an die Wirkung
nordischer Kirchen von ihrem Gründer gedacht.
Das höchste Problem auch für die Langkirchen ist die Baumgestal-
tung, die Innenwirkung. Von den wichtigsten Möglichkeiten ihrer Bildung :
als ein- oder mehr-(drei)-schiffige, flachgedeckte oder gewölbte Räume
findet schon der einfachste bedeutende Ausbildung. Als einschiffig flach-
gedeckt charakterisieren sich längere Zeit die Ordenskirchen ; sie erhalten
Kapellen an der Langseite, auf deren Anschluss an das Schiff alles an-
kommt (die Eingänge bald triumphbogenartig, bald einfach von Pila-
stern flankiert). Hierher gehören Giul. da Sangallos S. Maria Maddalena
deTazzi, Antonio da Sangallos (d. J.) S. Spirito in Rom, ferner Kirchen
Neapels. — Reichste Variationsfilhigkeit büßtet die dreischiffige Qewölbe-
kirche; eine Grundform, die vereinzelt immer wieder auftritt, wertvoll
durch die Fähigkeit, Motive des Centralbaus sich zu verbinden. Der
unter Nikolaus V. ausgebildete Plan für St. Peter sollte diese Richtung
einschlagen. S. Giovanni in Padua hat noch polygonale Kapellen am
Langhaus. Von guter Innenwirkung ist die Annunziata Arezzos, mit
einer Fenstermauer zwischen Pfeiler und Gewölbe, und mit niedrig ge-
haltener Kuppel. Ein weiterer Schritt ist die Gliederung des Langhauses
in Abschnitte, entsprechend der Auflösung des Gewölbes in einzelne
Kuppeln. Dies Prinzip ward massgebend für den Dom zu Pavia, vor-
züglich für S. Giustina in Padua, das im Mittelschiff drei Flachkuppeln
trägt, an den Seitenschiffen Kapellenreihen führt, die Abschlüsse von
Querhaus und Chor sind durchweg rund; diese Elemente sichern eine
günstige Lichtführung und schaffen schöne Räume. — Ähnlichen
Charakter besitzen Kirchen Venedigs (S. Salvatore und S. Giorgio mag-
giore; in Padua der Dom Righettos).
Diese Entwicklung begleitet die Ausbildung des Centralbaus. Er
erfüllt schon lanpfe die Phantasie der Künstler, zeigt sich auf Werken
der Kleinkunst, im Hintergrund von Gemälden. Mittelalter und Altertum
boten auch fortwährend Anregung: das Baptisterium in Florenz, in
Bavenna, S. Lorenzo in Mailand, in Rom Minerva medica und das
Pantheon (letzteres späterhin überhaupt das Vorbild der grossen Ver-
hältnisse und Masse). Am reinsten verwirklicht diese Kunstform die
Ideale der Zeit: „absolute Einheit und Symmetrie, vollendet schöne
NEUE HBTDELB. JAURBUECHRR XII. 2
18 Otto Ronsell
Gliederung und Steigerung des Raums, harmonische Durchbildung des
Äussern und Innern ohne müssige Fa9ade, herrliche Anordnung des
Lichts. ' Dominierend und centralisierend erhebt sich der Mittelbau über
die Umgebung; seine charakteristische Form ist, als Abschluss eines
Raums, kein turmartiges Gebilde, sondern nur die Kuppel ; ihrer Wölbung
entspricht auch der runde Abschluss der Bauteile im Grundplan. Die
Überführung der Kuppel vom polygonalen Unterbau durch den Gylinder,
wesentlich eine That Bramantes, und die Calottenform sind erst spätere
Resultate. Was der nordischen Architektur der Turm, ist der italienischen
Renaissance die Kuppel; sie verträgt keine Türme neben sich in ihrer
höchsten Bedeutung, bedarf auch keiner Fapade, die sie doch auf jeden
Fall beherrschen müsste ; sie verträgt auch nicht störende Einbauten im
Innern (Gräbmäler, Altäre), der Hauptaltar findet im hinteren Kreuzarm
seinen Platz ; endlich verlangt sie Unterordnung der Plastik und Malerei.
Im Gentralbau kommt das Gesetz der schönen Verhältnisse am schwie-
rigsten, aber auch am besten zu reinem Ausdruck, gelangt die raum-
bildende Kunst zur herrlichsten Entfaltung, findet jene, den Baukünstlern
der italienischen Renaissance so eigene, absolute architektonische Kraft
ihre vollkommenste Auswirkung.
Bereits Brunellesco arbeitet in dieser Richtung; selbständig zuerst
an dem (nicht ausgeführten) Polygon «bei den Angeli" in Florenz, das
ein achtseitiger Kuppelraum mit acht Oberlichtfenstern und Kapellen
werden sollte mit Nischen in der Mauerdicke; vollendet wurde erst die
Pazzikapelle, deren Kuppel bereits über zwei Bogen schwebt. Zunehmende
Sicherheit in der Beherrschung der Raumwirkung offenbaren die folgen-
den: die Madonna degli Carceri zu Prato (von Giul. da Sangallo) mit
niedrem Cylinder und geraden Kreuzabschlüssen, und Madonna di San
Biagio in Montepulciano (von Antonio da Sangallo), welche ihre Kuppel
mit Cylinder auf vier gut gegliederten Pfeilern trägt (merkwürdigerweise
mit — getrennt stehenden — Türmen, wovon einer ausgeführt; neben
ihm nennenswert nur der Turm an S. Spirito in Rom mit günstiger
Behandlung der Pilaster, die zwei Stockwerke zusammenfassen). Nicht
selten zeigen kleinere Kirchen (z. B. in Venedig S. Giovanni Grisostomo)
quadratische Anlage mit Kuppel über vier mittleren Pfeilern.
Die Ausbildung des Centralbaus zu seiner höchsten Vollendung ist
die Lebensaufgabe Bramantes; das Resultat: die Durchführung des
griechischen Kreuzes mit halbrunden Abschlüssen, und die sichere
Lösung der Überführung des Polygons zur Kuppel durch den Cylinder.
— Gegenüber andern Versuchen: Canepanova in Pavia hat noch Vor-
August tleicliensperger undl der Kirchenbaa der tteoatssance Id
halle und Chor vereinigt mit dem Mittelbau; freier schon die Kapelle
an S. Satiro in Mailand (darüber Octogon mit Nischen, Fries, Umgang
und gutes Oberlicht), S. Maria delle Grazie zeigt schon den Meister
vor der Vollendung: vorzügliche Raumwirkung, Harmonie der Verhält-
nisse, vornehme Einfachheit der Anordnung und feine Ausbildung der
Einzelglieder. Hier ist auch die äussere Erscheinung der Kuppel harmo-
nisch durchgebildet. — Unter seinem Einfluss entsteht auch die Conso-
lazione zu Todi; ihre Kuppel ist von vier grossen Bogen getragen, die
Kreuzarme sind polygonal abgeschlossen und mit Halbkuppeln bedeckt.
Bramante in Rom : das bezeichnet den Höhepunkt der künstlerischen
Leistungen der Renaissance, den Höhepunkt ihrer kirchlichen Architektur
im besondern. Zunächst ein kleines vollendetes Werk: der dorische
Rundtempel bei S. Pietro in Montorio. Das Schaffen der grössten Meister
konzentriert sich am Neubau von S. Peter, der von Julius H. mit der
eigenen Wucht aller seiner Unternehmungen begonnen wird. Das ganze
Vermögen der Renaissance und Bramantes zeigt sein Plan: die Kuppel
überm griechischen Kreuz, in den Ecken gewaltige Kapellen und Turm-
bauten; indessen war die Gestaltung des Äussern wie die Form der
Kuppel noch schwankend. An ihren Dimensionen müssen alle folgenden
Architekten festhalten. Raffael plant in merkwürdigem Gegensatz zum
herrschenden Ideal ein vorgelegtes Langhaus ; Ant. da Sangallo und Fra
Giocondo häufen die Nebenräume; Peruzzi bildet die Eckräume bedeutend
aus. Die Durchführung der Anlage mit lauter Rundformen als Abschlüssen,
die leichtere Wirkung der Kuppel durch eine Säulenstellung innen und
aussen sind die nächsten Veränderungen. Hieran arbeitet Michelangelo
weiter; sein eigenste» Werk die herrliche, ganz «»undefinierbare^ Linie
der Kuppel mit ihrer energischen Gliederung durch Gurten und Pfeiler,
bezw. Säulenpaare (von GeymüUer als eine Wiederaufnahme des gotischen
Prinzips der vertikalen Zusammengehörigkeit bezeichnet); seine That
vor allem, dass er die Riesenkuppel überhaupt zur Vollendung führt
und den Centralbau zum Schluss noch einmal zum Sieg bringt.
Zahlreich sind die Centralbauten von reinerer oder schwächerer
Ausbildung in der Mitte der Renaissance und in der Spätzeit. Bra-
mantes Ideen werden weithin getragen, bis in die Alpen (nach Riva
und Cannobbio). Daneben entstehen auch mehr selbständige Werke;
beachtenswert Sanmichelis Rundkapelle S. Bernardino in Verona mit
sphärischer Kuppel; von Sansovino kommen S. Martine in Venedig
in Betracht und sein Plan zu S. Giovanni dei Fiorentini in Rom, der
eine Mittelkuppel zeigt umgeben von vier Neben- (oder Halb)-Kuppeln.
2*
20 Otto Honsell
Bereits unter bestimmtem Einfluss von S. Peter (und darum von hoher
Baumschönheit) steht Alessis S. Maria di Carignano in Genua. — Wie
eifrig sich übrigens die Phantasie mit dieser Kunstform beschäftigt hat,
geht auch daraus hervor, dass in Sansovinos Plänen zahlreiche, in Serlios
Entwürfen 11 Centralbauten vorkommen.
Bramantes Werk bedeutet die höchste Vollendung des Centralbaues,
aber auch das Ende desselben. Die Steigerung der kirchlichen Bau-
thätigkeit, wie sie gegen die Mitte des 16. Jahrhunderts eintritt, die
Notwendigkeit vieler und prächtiger Neubauten, die Vertiefung und
Versinnlichung des Kults: all das kann sich nicht vereinigen mit einer
so hohen und reinen Kunstform, wie der Gentralbau geworden war.
Das Langhaus, als Prozessionskirche, umgeben von Kapellen und andern
An- und Einbauten, wird der mächtigere Typus, der noch in Kuppel
und Chor Motive des Centralbaues übernimmt. Die Kuppel verliert
ihre centralisierende Wirkung; neben ihr wird die Fafade oft einseitig
ausgebildet. Sie ist nicht mehr auf Harmonie hin mit dem Ganzen
gestaltet; zuweilen ohne Bücksicht auf den Durchschnitt der Kirche,
erhält sie ein oder zwei Ordnungen und bildet besonders das Portal
prunkhaft aus. Infolge dieser Behandlung wird sie „ein Hauptgegenstand
der verstärkten, wirksam gemachten Formensprache^. Im übrigen wird
das Äussere geringer ausgebildet: Gliederung durch Pilaster, Fenster
und Nischen und Felder; Fries und Architrav treten zurück. Ver-
loren geht die Wirksamkeit des Gesetzes der schönen Verhältnisse, die
Gebilde nehmen zu an Grossartigkeit und Begelmässigkeit, die Formen
werden zu sehr ausgeglichen, allgemein, indifferent.
An drei Künstler vor allem knüpft die folgende Entwicklung an:
Michelangelo, Vignola und Palladio. — Schon des ersteren Plan zur
Fa9ade von S. Lorenzo in Florenz bedeutet einen Schritt in einer neuen
Bichtung: sie zeigt zum ersten Mal frei vortretende Säulen und eine
bisher ungekannte Mitwirkung der Skulptur, was die Fa9ade zum wich-
tigsten Teil der Kirche macht und ausserdem mit ihrer architektoni-
schen Erscheinung in Konkurrenz tritt. — Unter den verschiedenen
Bildungsweisen des Langhausraumes gewinnt ein Typus dominierende
Geltung, der bald vorbildlich wird weit über Italien hinaus: die ein-
schiffige gewölbte Kirche. Auch ihn hatte Alberti vorausgreifend ver-
körpert in S. Andrea in Mantua. Ein anderes Beispiel aus der Mitte
ist S. Maurizio in Mailand (Nischen im Erdgeschoss, darüber ein Gang,
nach aussen durch Fenster, nach innen durch eine Säulenstellung abge-
schlossen ; eingedeckt mit oblongen Kreuzgewölben. Normal wird später
August Reichensperger und der Kirchenbau der Renaissance 21
die Wölbung durch Tonnen, in welche die Fenster einschneiden; diese
Bildung ladet von selbst die Stukkatur zur Mitwirkung ein. Der Wert
der Baumbildung ist abhängig von der Gestaltung der Wölbung und
von der Lichtführung. — Diese Typen repräsentieren Vignolas II Gesü
in Born und Palladios II Bedentore in Venedig. Der Nachdruck liegt
auf dem breiten hohen Schiff mit Seitenkapellen ; das Querschiff tritt
wenig vor, darüber «zum Chor vermittelnd" die Kuppel. Die Fafade
ist charakterisiert: dort als Doppelgeschoss mit Gliederung durch Pi-
laster und Nischen, durch den Giebel und die Voluten als Überführung
vom erhöhten Mittelbau zum Unterbau; Palladio gestaltet in strengen
Formen die Front seiner Nischen nach Analogie der antiken Tempel-
front (so ausserdem an S. Giorgio maggiore, S. Francesco della Vigna,
immer mit besonderer Ausbildung des Portal motifs).
Diese Bichtung gelangt zum Sieg auch an S. Peter; ihr Werk ist
die Veränderung der ursprünglichen Gentralanlage und die Verminde-
rung der Gewalt der Kuppel durch die Dimensionen der Fa^ade Berninis.
Der Kirchenbau schmiegt sich enger an die Bedürfnisse des Gottes-
dienstes der neu gefestigten Kirche, die durch eifrige Kunstpfiege ihre
Macht erweitern will; auf die Wirkung starker elementarer Eindrücke
ist die kirchliche Kunst gerichtet, auf die Entfaltung reichen Prunks,
besonders mit Hilfe der dekorativen Künste. Dies ist das Vermächtnis
der Benaissance an den italienischen Barock.
In Frankreich traten der Benaissance im Kirchenbau Hinder-
nisse entgegen teils architektonischer, teils persönlicher und nationaler
Natur. ^) — Vieles was die Gotik geschaffen hatte, besass einen unver-
gänglichen Wert und behielt seine Geltung ; und doch war eine weitere
Entwicklung in der bisherigen Bichtung nur schwer möglich. Durch die
Kirchenbauten seit dem 13. Jahrhundert waren unendlich viele künst-
lerischen und materiellen Kräfte verbraucht worden; Kirchen aller Art
waren zahlreich vorhanden oder doch begonnen, so dass ein reges Be-
dürfnis nach Neubauten nicht vorhanden war. Leise oder bestimmt em-
pfand man auch den ausländischen Charakter der Benaissance, ihre
Formen offenbarten ein ganz anderes Leben, ganz andere Kraft, die im
Vergleich mit der Gotik oft geringer, weniger energisch schienen. Be-
zeichnend ist das zähe Festhalten des Volks und der Geistlichkeit an
der alten Kunst. Noch 1536 wird die Notre Dame zu Brou, 1601 die
Kathedrale von Orleans gotisch gebaut bezw. vollendet. Im 17. Jahr-
1) Hierzu und zum Folgenden: Geymüller, Die Baukunst der Renaissance in
Frankreich, im ^Handbuch der Architektur**. II (Stuttgart 1901) Kap. 25. Art. 913 ff.
22 Otto Honsell
hundert endlich sucht die nach den Religionskriegen neu gestärkte
Kirche auch äusserlich ihren Zusammenhang mit Rom zu zeigen durch
Festhalten an den Prinzipien Vignolas.
Grundriss und Aufbau (drei- oder fünfschiffige Anlage mit poly-
gonalem Chor samt Umgang oder Kapellenkranz) ändern sich lange
Zeit überhaupt nicht; an dem Strebesystem und der vertikalen Gliede-
rung wird festgehalten; gotisch bleiben dann auch die Kreuzgewölbe,
bleiben überhaupt die Innenräume. Dem alten System werden nur im
Detail oder in einzelnen Gliederungen Renaissanceformen zugeführt, am
meisten beherrscht die neue Kunst die Fa9ade. Erst die Aufnahme der
Kuppel bringt auch im Aufbau Veränderungen.
Drei Gruppen unterscheidet Geymüller: 1. die Kirchen des 16. Jahr-
hunderts, die in den Schiffen die gotischen Höhenverhältnisse annähernd
festhalten; 2. die Bauten seit dem zweiten Drittel des 17. Jahrhunderts,
welche weniger schlanke Innenverhältnisse und Vignolas Schule zeigen,
die Ausbildung der Fa9ade mit Türmen einleiten ; 3. die Kuppelbauten.
Die erste Periode weist teilweise, insbesondere an Einzelbildungen
der Fa^aden, eine Vollkommenheit und Formschönbeit auf wie die ita-
lienische Frührenaissance; in kleinen Kompositionen werden Verhältnisse
und Detail phantasievoll und mit ausserordentlichem Geschmack behan-
delt. Die Aufnahme des Rundbogens, die Veränderung der Strebepfeiler
in Pilaster oder Dreiviertelsäulen, zuweilen ein Zurückschieben derselben
als Glieder der Mauer, die Bildung der Giebel als abgestufte Attika,
die Verstärkung des horizontalen Elements: diese Erscheinungen be-
zeichnen den stillen Anfang der neuen Kunst. Das Portal der Kirche
zu Montresor, mit ihren romanischen Lisenen, schlichtem Gebälk und
Rundbogenfenster, steht am Anfang (1519). Die spielende Verwendung
der neuen Formen zeigen die Kapellen am Chor von St.-Pierre zu Caen.
An der Notre Dame zu Tonnerre, von reicher Komposition und reiz-
vollem Detail, ist das Portalmotiv bedeutend ausgebildet (ein Doppel-
thor unter dem Tympanon eines grossen Rundbogenportals.) Bei
St.-Michel in Dijon erhält der Mittelbau zwischen den beiden Türmen
eine eigenartige Gliederung : hinter einem Tempietto als Bekrönung des
Portals die grosse Fläche mit zwei Rundbogenfenstern, daran eine Log-
gia, letztere ein sehr beliebtes und bedeutungsvolles Motiv. Die Aus-
bildung der Fa9ade als Kathedralfront mit zwei Türmen tritt noch be-
deutender in die Erscheinung an dem Entwurf Du Cerceaus für Saint-
Eustache in Paris (in Anlehnung an die Certosa). Überall ist die Pi-
lasterarchitektur mit Arkaden durchgeführt, trefflich die innere Höhe
August Reichensperger nüd der Kirchenbau der Renaiasance 23
dargestellt durch die gewaltige Arkade des Mittelschiffs. Auch hier tritt
die Tribüne auf. Von hoher Bedeutung ist das Innere dieser fünf-
schifGgen Kathedrale: die allgemeine Disposition wird beibehalten, Än-
derungen betreffen allein die Pfeilerbildung, wobei Strebesystem, Ver-
hältnisse und Gliederung, im Kern gotisch, in Frührenaissance über-
setzt sind. — Eine kurze Übergangszeit (Geymüllers «Style Marguerite
de Valois*) bringt kleine, aber herrliche Werke hervor. Bereits treten
Fa9aden mit drei und zwei Geschossen auf (Vetheuil und Belloy); von
feinem künstlerischem Aufbau ist die Kapelle St.-Bomain zu Bouen
(vielleicht von Jean Goujon) in zwei Ordnungen mit weiten Arkaden
dazwischen, von einem Tempietto bekrönt. Hierher gehört auch der
Klosterhof der C^lestins in Paris, mit einer seltenen Harmonie von
Stützen und Gebälke, und die Gruppe der Kirchen von Troyes, die die
Thüren in eine Komposition von zwei Ordnungen einbeziehen und jene
mit einem Fenster zum Gesamtmotiv vereinigen.
Die Hochrenaissance zeigt ein eingehenderes Studium italienischer
Vorbilder und eine emsige selbständige Arbeit. Am besten giebt ihren
Charakter wieder die Grabkapelle zu Anet (von De l'Orme oder Bul-
lant); die Einzelglieder werden beschränkt, aber feiner ausgeführt, der
Massstab der Pilasterordnung vergrössert sich. Bereits kommt die Pi-
lasterfront der klassischen Hochrenaissance zur Anwendung (Mesnil-
Aubry), ferner die Fa9ade mit drei Ordnungen (an St.-Florentin, Kreuz-
schiff; St.-Pierre in Auxerre). Eine konsequente Übertragung der goti-
schen Komposition in die neuen Formen ist die nördliche Kreuzschiff-
fa9ade von St.-Clothilde im Grand-Andelys, besonders im vollendeten
Erdgeschoss mit seinen die Strebepfeiler ersetzenden gekuppelten Säulen.
Fast die ganze Entwicklung verdeutlicht die Kirche zu Gisors mit
einer energisch gegliederten zweitürmigen Fa9ade und ihrer zwischen
den mittleren Strebepfeilern frei vortretenden , triumphbogenartigen
Loggia.
Zum letzten Mal beherrscht die Gotik die Benaissance in der
Fa9ade von St.-Etienne-du-Mont in Paris. Auf das Erdgeschoss mit
einer Vorhalle von vier Kompositasäulen und strengem Giebel folgt im
nächsten ein grosses Badfenster unter gebrochenem Segmentgiebel, darüber
die steile gotische Giebelmauer. Die Antwort darauf ist die Fa9ade
von St.-Gervais zu Paris (1616—1621), von Salomon de Brosse, dem
grossen Hugenottenmeister, dem Schöpfer des „Grand Style*. Die An-
wendung grosser Säulenordnungen von bedeutendem Belief schafft ruhige
Klarheit, Einheit und Grösse. Es ist die erste entschieden klassische
24 Otto Honseil
Schöpfung im französischen Eirchenbau — als Abschluss einer gotischen
Kirche. Die Hauptwirkung geht aus von der langen Linie der mittleren,
kannelierten Säulen; lebendiges Detail fehlt, statt dessen wirken im
Mittelbau die drei gleichgrossen Arkaden, in den Seitenfeldern Nischen
mit Statuen. Horizontal und vertikal herrscht die Dreiteilung; die
Harmonie der Verhältnisse ist aber auch erreicht durch den Massstab
des Werks und besonders durch die ernste Bildung der Säulenordnungen.
Die zweite Periode bedeutet ein allmähliches Sinken der selbstän-
digen architektonischen Kraft. Das dekorative Element tritt wieder
mehr hervor ; reich und effektvoll, aber oft seelenöde sind die folgenden
Werke. Die Wirkung der Innenräume wird geschwächt durch Tonnen-
gewölbe, welche die Kreuzgewölbe ersetzen, aber noch durch die Stich-
kappen angeschnitten werden. Noch an St.-Gervais angelehnt und be-
deutend ist St.-Paul et St.-Louis (Maison Professe) in Paris von Derand
(1627 — 41), die erste wichtige Kirche der Jesuiten in Frankreich; hier
beginnt die Vertikalgliederung erst über dem als kräftiger unterbau
gebildeten Erdgeschoss. Immer enger wird der Anschluss an Italien;
die Durchfuhrung der römischen Halbsäulen- und Pilasterfa^ade bildet
die Hauptarbeit (neben dem Kuppelbau). Ohne Einheit ist diejenige
des Langhauses der Sorbonne; an St.-Roch zu Paris ist die scharfe
Durchdringung des horizontalen und vertikalen Elements auf kleinen
Massstab bei kalter Formbehandlung übertragen. Hervorragend ist
wieder die Schlosskapelle zu Versailles (Hof- und Chorseite) mit fünf
vornehmen Arkaden zwischen schlanken Pilastern auf schlichtem unter-
bau, jihst an antik-römische Grossartigkeit grenzend^. — Die folgende
Entwicklung der Kirchenfassade wird am besten repräsentiert durch die
Entwürfe zu St.-Sulpice und St.-Eustache. Aus der Kathedralfront Du
Cerceaus ist um 1750 in dem Entwurf von Patte eine klassizistische,
stilistisch reine, aber ebenso kühle Bildung geworden. J. Mansard da-
gegen umgiebt die Massenverhältnisse der gotischen Turmfa9ade nur
mit streng italienischen Formen. Nichts ist entgegengesetzter als die
Entwürfe zur alten gotischen Kirche St.-Sulpice von Meissonnier und
Servandoni, und doch liegen sie nur sechs Jahre auseinander (1726;
1732) ; erstere «die barockste bauliche Gestaltung in Frankreich* ^), mit
völliger Auflösung in Kurven; dieser von streng antiker Bildung mit
einer dekorativ ohne Zusammenhang vorgelegten, offenen toskanischen
1) C. Gnrlitt, Geschichte des Barockstils, des Rokoko und Elassizismas io
Frankreich etc. (Stuttgart 1888.) S. 236.
August Reichensperger und der Kirchenbau der Renaissance 25
Halle mit zwei Tärnien : die Fortbildung des alten Gedankens der zwei-
geschossigen Eircbenfront zum Säulentempelbau. Das ünkircbliche
dieser Anlage ward schon damals empfunden.
Einheitliche Anlage und Ausbildung des Innern ist bei den wenigsten
Kirchen zu finden. Aus der Zeit der Hochrenaissance ist überhaupt gar
kein grosser Innenraum erhalten ; die sonst bedeutenden Kapellen an der
Kathedrale zu Toul, die eine mit wagrechter Quaderstein decke, die andere
mit einer Kuppel bedeckt, gewähren nur geringe Entschädigung.
Gleichmässigere Ausbildung des Innern und Äussern macht der
Kuppelbau nötig; er wird erst nach dem Beginn des 17. Jahrhunderts
übernommen, und wichtig ist, wie dies geschieht. Kleinere Bauten
zeigen die Kuppel zuerst und am vollkommensten: die Chapelle de la
Toussaint, wo sie überm Achteck, die Schlosskapelle zu Anet, wo sie
in Verbindung mit dem griechischen Kreuz gebildet ist. In grösserem
Massstab trug sie die ehemalige Grabkapelle der Valois zu St. Denis,
wie die vorhergehende vielleicht nach Ideen zu St. Peter in Rom gebaut.
Die grossen Kuppeln Frankreichs entbehren einer gewissen Monumenta-
lität, des Ernstes: die Disharmonie zwischen der inneren und äusseren
Höhe ist zu auffallend. Die äussere Schale ist aus Holz, als Schutz-
dach gebaut, in ihrer Basis liegt ungefähr der Scheitel der inneren
Wölbung. Die erste grosse Kuppelanlage ist die der Sorbonne über
einem Mittelding von Lang- und Centralbau. Ganz von Michelangelos
Bau abhängig ist die bedeutende Kuppel der Klosterkirche Val-de-Gräce;
charakteristisch ist für sie die niedere Umrisslinie, die ruhig abrundende
Form hinter der edel gebildeten Fa9ade. Der Invalidendom beschliesst
die Reihe mit dem eleganten Schwung seiner Kuppel und Laterne.
Nüchtern und kalt ist durch alle Feinheit die Architektur geworden;
fremder als andere Formen ist die Kuppel geblieben, die gotische Kathe-
drale vermochten solche Bildungen am wenigsten zu ersetzen. — Was
unter mittelbarem Einfluss der Benaissanceformen der Klassizismus her-
vorgebracht, soll hier nicht berücksichtigt werden. S. Genevieve und
Madelainekirche gehören nicht hierher.
Einen merkwürdigen Kampf kämpft die Renaissance mit der Gotik
Spaniens. Noch deutlicher als in Frankreich bleibt lange die Struktur
fast bis zur Haut gotisch, und eine zuweilen entzückende Übertragung
von Renaissanceelementen in die Funktionen der alten Gebilde bringt
in den Werken eine eigene warme Empfindung hervor.
Die Kirche Santa Engracia in Saragossa hat eine hochbedeutende
Fa9ade (Backsteinbau), wie spielend sind drei Ordnungen Pilaster über-
26 Otto Honseil
einander aufgebaut; unter einem mächtigen Bundbogen, dessen Scheitel
über das unterste Gebälk hinaufgeht und dessen Aufbiegung veranlasst,
ist das Rundbogenportal, im Tympanon ein halb altar-, halb attikaartiger
Aufbau mit reichem Schmuck. Auch die grossen Dome von Toledo,
Segovia und Salamanca werden schon ,,al romano^ gebaut (Anfang des
16. Jahrhunderts). Prachtvoll und reich ist oft die Dekoration der
Portale und des Innern, besonders am Ghorgestühl und Orgelaufbau.
An der Kirche San Juan de Letran zu Yalladolid sind die Strebe-
pfeilerabschnitte ersetzt durch barock ausgebauchte Säulen. Eins der
grössten Bauwerke überhaupt ist die Kathedrale von Qranada, 1529
begonnen und von Diego de Siloe zu Ende geführt, um eine alte Kapelle
gebaut und mit eigenartiger Disposition von Chor und Altar. Die
Innenwirkung mag bedeutend sein, der Baum scheint ganz gotisch und
ist er doch kaum mehr, so wie die Bundbogen wirken, welche über den
die Pfeiler mit ihren Diensten ersetzenden, hohen schlanken Säulen-
bündeln auf schönen Kapitalem mit kämpferartigem Aufsatz ausgespannt
sind. — Beinere Benaissancebildung weist die alte Karthause zu Evora
(Portugal) auf, ein abgestufter Giebelbau in drei Ordnungen von sehr
guten Verhältnissen.
Die Entwicklung der kirchlichen Benaissance in England ist für
unsere Übersicht ebenso nur von untergeordnetem Wert. Nach einer
formalen Prührenaissance wird dort ihre entwickelte Gestalt wie mit
einem Schlag zur Geltung gebracht durch Inigo Jones, und bald ent-
steht ein befremdender Klassizismus. Die ganze Bewegung war auch
viel ruhiger als auf dem Festland und besonders auf den Kirchenbau
von geringerem Binfluss; die scharfen Gegensätze von Beformation und
Katholizismus, von Benaissance und Gotik konnten sich nicht zu der
Heftigkeit und zu den Folgen entwickeln wie dort.
Das grösste Werk der englischen Benaissance im Kirchenbau ist
Wren*s St.- Paul-Kathedrale in London. Aus den vom Parlament aus-
gegebenen Anweisungen ist bekannt '), dass ernste Beratungen stattfanden
über die Bildung der Kirche, die ausdrücklich eine Predigtkirche werden
sollte. Der erste Entwurf, . als Centralbau charakterisiert, wurde abge-
löst durch den andern, der das Langhaus mit der Kuppel brachte.
Die Strebebögen des alten Vierungsturmes, die seine Last auf die
Mauern der Seitenschiffe übertrugen, machten eigene Pfeiler für die
neue Kuppel unnötig, daher steigt sie, in voller Breite des dreischifßgen
1) Qurlitt, a. a. 0. S. 336 ff.
August Heichensperger und der Kirchenbau der Renaissance 27
Hnuses, fast selbständig und getrennt von dem Langbau auf. Das ganze
ist aus scharfer Berechnung hervorgegangen; im Äusseren ist der Auf-
bau dem Tempietto Bramantes nachgebildet. Die Fremdheit der Bildung
wird vermehrt durch die rein dekorativ als Verblendung ohne rück-
liegende architektonische Räume ausgeführten Mauern des zweiten Ge-
schosses, die um drei Seiten umlaufen. Die Trennung von Langhaus
und Kuppel enthält einen speziell nordischen Qedanken und birgt eine
eigene Empfindung, doch scheint sie den Charakter der Renaissance zu
vernichten.
Hervorragende Bedeutung für unsere Betrachtung gewinnt die Frage,
wie Deutschland die Renaissance in seinen Eirchenbau aufnahm. Hier
begegnete ihr die Reformation, sie war ohne unmittelbare Beziehung zur
bildenden Kunst, war auch der Baukunst nicht f&rderlich, mehr als
andere Einflüsse löste sie die Abhängigkeit der Kunst von der Kirche.
— Langsam und auf Umwegen kam die Renaissance ins Land, und in
einer Zeit vorwiegend religiöser Interessen, fanatischer Konfessionsstreitig-
keiten und vernichtender Religionskriege fand sie keinen Raum sich aus-
zubreiten. Vielleicht empfand man gerade im Kirchenbau an den neuen
Kunstformen etwas Fremdes. Gewiss ist richtig, dass infolge der enormen
kirchlichen Bauthätigkeit der Gotischen Zeit, auch infolge des Frei-
werdens von Klosterkirchen neue Bedürfnisse sich kaum geltend machten.
Allein es waren tiefere Gründe, welche die Aufnahme der Renaissance
im Kirchenbau beschränkten. So wie sie in Italien geworden war, konnte
sie überhaupt im Norden keinen Fuss fassen; ihre geistige Grundlage
und künstlerische Gestaltung waren zu verschieden geartet. Sie wird
hier nicht die Raumeskunst wie im Süden; auf schöne Verhältnisse,
harmonische Erscheinung legt man wenig Wert, die Rücksicht auf formale
Gesetzmässigkeit tritt zurück. Das künstlerische Grundprinzip ist das
malerische, es beherrscht die Komposition, die Gruppierung der Massen
und ihre Ausschmückung. Hatte schon in der späten Gotik das Ornament
über die Konstruktion die Oberhand gewonnen, so wurde nun eine Menge
neuer Zierformen hinzugefügt, welche die deutsche Kunst mit Freuden
aufnahm und anwandte; und das erschien ihr nicht als ein Bruch mit
der Gotik, sondern als eine Fortführung. Man hat die deutsche Re-
naissance geradezu als Dekorationskunst bezeichnet, und als solche hat
sie eine immerhin charakteristische Bildung erlangt. — Was die wenig
zahlreichen Kirchenbauten bieten, reicht nicht entfernt an die Leistungen
auf ihrem eigentümlichen Felde, im Profanbau, heran. Aber noch ein
28 Otto Honseil
anderes, rein persönliches Motiv ist hier zu beachten. Seitdem die Türme
der stolzen Dome anfragten und die Gotik in ihrer Ausbildung das
Höchste geleistet hatte, war dem deutschen Bürger der Kirchturm mit
den Glocken, dem Wächter und Wetterhahn so vertraut, ein Stolz seiner
Stadt, ein Stück seines Daseins geworden, dass er ihn nicht missen wollte.
Die Renaissance hat es aber nicht vermocht, im Turmbau ein recht
organisches Gebilde zu schaffen : entweder schichtet sie Stockwerke über-
einander auf, oder setzt auf Strebepfeiler, die ohne Verjüngung aus-
laufen, eine kleine Kuppel mit Laterne, also dass der Charakter des
Turmes verloren geht. *)
Den konstruktiven Hintergrund bildet noch lange die Gotik; vor
allem werden die Gewölbeformen beibehalten, was stets die beliebte
malerische Wirkung sichert. Zuweilen rein äusserlich werden Renaissance-
formen verwendet im Detail, zur Dekoration. — Im katholischen Kirchen-
bau findet zunächst keine prinzipielle Änderung der Anlage statt: die
Hallenkirche mit Chorumgang oder Chornische im Osten bleibt die ver-
breitetste Form für die grösseren Bauten. Mit dem Eindringen italie-
nischer Grundrisse kommt es zu einer Vereinigung von Langhaus und
Centralbau, welche weniger abstrakt und dem nordischen Kunstempfinden
entsprechender, ausserdem ästhetisch bedeutend und sehr modifikations-
fähig, den Anforderungen des Kultus Genüge leistet. Besonders der
kreuzförmige Langbau mit Vierungskuppel ist die wichtigste Form auch
für einfachere Kirchen und später die Grundlage der Rokokobauten, die
sich aber teilweise wieder dem Centralbau nähern. — Der protestantische
Kirchenbau tritt in seinen künstlerischen Leistungen zurück. Versuche,
die Form aus den Anforderungen des Gottesdienstes zu entwickeln,
Altardienst und Predigt gleichmässig zu berücksichtigen, führen zum
Teil zum Centralbau (besonders in Holland bei den reformierten Kirchen);
günstige Erfolge hat die Aufnahme von Emporen, als Galerien oder
Balkone gebildet oder als Obergeschosse der Seitenschiffe mit Arkaden-
öffnungen gegen die Mitte. Wesentlich ihrer praktischen Vorteile wegen
verbreitet ist die einschiffige rechteckige Saalkirche mit Emporen. Dem
Protestantismus fehlte zuerst eine künstlerisch bildende Kraft; seine
Schöpfungen boten dem Empfinden keinen Ersatz für die zum Teil
grundsätzlich aufgegebenen alten Formen. — Zu allgemeiner Geltung
und hoher Bedeutung kommt die Renaissance im Kirchenbau durch die
Jesuiten, deren Thätigkeit eine ganz neue Entwicklung einleitet.
1) Die beste Bildung hierin weist auch Dicht Deutschland auf, sondern in den
Niederlanden die Jesuitenkirche in Antwerpen.
Aagust Heichensperger und der Kirchenbau der HenaUsance 2d
Unter den Hallenkirchen der Benaissancezeit ist eine der frühesten
die Marienkirche in Halle (1530—41); charakteristisch für die Anlage
die ÜDgebundenheit in der Verteilung der Enoiporenstützen, „behag-
liche Weiträumigkeit^.^) Die Wallfahrtskirche zu Dettelbach, die Fran-
ziskanerkirche in Innsbruck zeigen an den Fa9aden bereits barocke
Gliederung. Gute Verhältnisse weist die Marienkirche zu Wolffenbüttel
auf, ein Werk des Paul Francke, mit reichem massvoll verteiltem
Schmuck; bedeutende Raumgestaltung die Stadtkirche von Bückeburg,
die Fa9ade (^exemplum religionis, non structurae^) ist schon reich barock.
Fast überall tritt dieser Widerspruch zwischen dem Innern und Äussern
hervor; selten gehören sie eng zusammen oder sind gleich bedeutend
ausgebildet. Ein Beispiel für das konservative Beharren in der Kon-
struktion und den Formen der Ootik ist die Katharinenkircbe in Frank-
furt a. M., eine jener Saalkirchen aus der Spätzeit des 17. Jahrhunderts.
— Erst gegen 1600 kommt reinere Benaissance an den Kirchen vor.
St. Michael in München (1583—97), die erste grosse einschiffige Kirche,
ist eine freie Nachbildung des Gesü, nur fehlt die Vierungskuppel, ist
der Chor verlängert; die guten Verhältnisse, eine bedeutende Licht-
führung bringen Klarheit und Grösse in das Werk, ohne an ihm eine
tiefe Empfindung zu offenbaren; auch hier ist das Äussere mit der
dürftigen Gliederung der Fa9ade unbedeutend. Ganz von italienischem
Geist erfüllt und von Italienern gebaut (von Solari nach Plänen
Scamozzis) ist der Dom von Salzburg. Die Wirkung des Chors und
der Vierung, begünstigt durch gute Beleuchtung, wird gedrückt durch
das schwere tonnengewölbte Langhaus mit seinen theatralischen Baikonen;
die Formen nehmen hier die Richtung nach dem italienischen Barock.
— Bei den Kirchen mit Emporen beruht die Wirkung auf der Art der
Einfügung dieses Bauteils; häufig erscheinen sie über den Seitenschiffen,
in ein System von mehreren Ordnungen eingebaut (an der Universitäts-
kirche Würzburgs mit römischem Bogenmotiv und vorgelegten Halb-
säulen). Störend ist das Abbrechen der Emporen, wenn die Anordnung
von Altar und Kanzel es bedingt.
Der genannte Typus gewinnt besondere Bedeutung im protestan-
tischen Kirchenbau und hat vielleicht in der Schlosskapelle seinen Ur-
sprung.*) Trotz kleiner Verhältnisse in der ganzen Entwicklung ein
wichtiger Bau ist das älteste protestantische Gotteshaus, die Schloss-
1) V. Bezold, Die Baukunst der Renaissance in Deutschland, Holland etc. »Hand-
buch der Architektur**. II. 7. (Stuttgart 1900) Kap. 11. Art. 91.
2) V. Bezold, a. a. 0. Art. 93.
30 Otto Honseli
kapelle zu Torgan (1544 von Luther selbst geweiht): „Mit voller. Er-
kenntnis der geschichtlichen Bedeutung des Bauwerks war dasselbe auf-
geführt als protestantische Kirche im Gegensatz zu allen übrigen Gottes-
häusern der Christenheit." ^) Dies Bewusstsein findet Ausdruck in der
Anordnung. Der gesonderte Chor fällt weg, der Altar ist nach Westen
verlegt, die Kanzel an die Langseite, auf der Empore ein Sängerchor,
an Stelle der Kapellen werden seitliche Sitzplätze angeordnet. Praktische
Gestaltung, zugleich freundliche und ernste Bildung des Predigtsaales
sind auch bei vielen andern Kirchen ähnlichen Charakters angestrebt.
Überhaupt zeigen die Kirchenbauten im protestantischen Sachsen ein
dem entsprechendes Gepräge; es sind meist Hallenanlagen mit offenen,
einheitlichen weiten Innenräumen, schlanken Stützen und Rippenge wölben.
Dasselbe Bedürfnis nach praktischer und künstlerischer Ausgestaltung
des Predigtsaales führt in Holland zu eigenartigen Versuchen und Lö-
sungen (H. de Keyzers Bauten in Amsterdam mit ihren fast mathe-
matisch abstrakten Grundrissen); Altar und Kanzel treten zuweilen beide
vor die Mitte der Langseite, und die Anlage drängt nach Verbindung
von Langhausbau mit centralem Motiv (Neue Kirche im Haag, Marekerk
zu Leyden). Wichtig ist der Versuch Faidherbe's einer Verbindung
von Langhaus mit Kuppel an der Notre-Dame d'Hanswyk im Mecheln.
— In Deutschland steht als Beispiel einer ähnlichen Richtung die Wall-
fahrtskirche Maria Birnbaum (Oberbayern) fast ganz vereinzelt da.
Nicht eine Fortführung der Entwicklung, sondern den Bruch mit
der deutschen Renaissance bedeutet die an Umfang so bedeutende Thätig-
keit der Jesuitenbaumeister, die zuerst eine gründliche stilistische Ver-
tiefung herbeiführt. Bedeutend ist ihr erstes Hauptwerk auf deutschem
Boden, St. Michael in München, hervorragend zahlreiche Bauten in
Österreich, Bayern, Böhmen und am Rhein. Aber es war ein Verhängnis,
dass ihre Kunst aufbrat im Gefolge des Kampfs gegen den Protestan-
tismus, gegen den Bürgerstand, gegen die volkstumliche Kunstübung.
Das Festbalten an der Gotik war für die deutsche Renaissance ein Segen
gewesen ; den Jesuiten erschien diese Kunst weltlich, ketzerisch. ') Mittel-
alterliche Anlagen werden so viel als möglich verändert, besonders seit
der Mitte des 17. Jahrhunderts tritt die Absicht hervor, durch rück-
haltlose Umgestaltung eine neue, der antiken sich nähernde Bauweise
zu schaffen. Ihren Typus verkörpert die Ignazkirche zu Linz: Fehlen
1) Gurlitt, Geschiebte des Barockstils und des Rokoko in Deutschland. (Stutt-
gart 1889.) S. 4Ö ff.
2) Hierzu Gurlitt. a. a. 0. S. 3, 4, 24 ff.
August Reichensperger und der Kirchen bau der EenaiBsance 31
des Qnerschiffs, schmaler Chon Seitenkapellen von geringer Tiefe, Tonnen
über Langbaus und Chor, reiche Ausbildung des Qesimses, korinthische
Pilaster; Gliederung der Fa9ade durch Vorhalle und zwei Türnoe: dies
sind die Merkmale. Die Farbe wird weiss ; geistige Leerheit haftet an
diesem formell der Hochrenaissance verwandten Klassizismus der Jesuiten.
Man mag hier eine Analogie finden mit der Thatsacbe, dass sie sich
auch nirgends auf das religiöse Empfinden, auf das Volk, sondern auf
Bom stützten. Alsbald beherrschen sie die bauliche Entwicklung in
Bayern und Österreich, aber am Rhein und in den Niederlanden zeigen
sie dieselbe Haltung. Von dem im Profanbau eine Zeit lang bemerk-
lichen Streben nach strengerer Komposition und reiner abgewogener
Gliederung der Fafade wurde der Kirchenbau nicht beeinflusst. Die
Jesuiten waren es hauptsächlich, die den Norden in „die internationale
Periode des Barocks und des Kokoko, wo alle regionalen unterschiede
. . . verschwinden^, einführten.^) Dieser , Weltstil'' ensteht aus dem
italienischen Barock; seine Meister werden neben den Architekten der
Spätrenaissance Vorbilder weithin. Das künstlerische Empfinden der
nordischen Baumeister bleibt geteilt zwischen eigener und fremder Art;
es spricht sich in allgemeinen Formen aus. Ihren Schöpfungen fehlt
die Harmonie der italienischen Benaissance und die Dekorationsfreude
der deutschen; aber sie offenbaren eine ganz eigene Stimmung, die frühere
Werke nicht kannten. Was uns heute oft kalt und leer erscheint, ist
im Grunde wohl erst ein sekundärer Eindruck: Denn aus vielen redet,
still oder mächtig, eine tiefe Bewegung, in ihnen zittert innere seelische
Erregung nach, nicht aber offenbaren sie einen tief innerlichen Drang
des Herzens, sondern eine Hast der Empfindung, des Suchens, eine
leidenschaftliche Hingabe an eine mehr gewollte als erlebte Religion.')
Dem entspricht es ganz, dass zur Erregung und Steigerung jener Stim-
mung gehäufte Dekoration auftritt, ein Prunk, der berückt und die
Sinne verwirrt. Dieser Charakter tritt besonders in Süddeutschland her-
vor; seine Baumeister kennen „kein Gesetz der Schönheit als das sinn-
liche Empfinden^. In künstlerischer Hinsicht sind darunter bedeutende
Werke; viele dürfen auch durch ihre erhöhte Innerlichkeit den Anspruch
1) T. Bezold, a. a. 0. Art. 81. Daselbst auch über den italienischen Barock, seinen
Ursprung als kirchlicher Stil, seine Bedeutung als Kunst der Gegenreformation, zum
Folgenden.
2) Man braucht gar nicht an die politische Entwicklung zu denken, an den
ungenügenden Abschluss der religiösen Kampfe oder ihre erbitterte Fortsetzung;
n&her liegende Thatsacben, die ungewöhnlich rasche Verbreitung, das Aufschiessen
der Kirchen, die Hast und Unfertigkeit im. Bauen weisen auf jene Grundlage hin.
32 Otto Honsell
erheben, religiös zu wirken. Und ein weiter Weg ist noch bis zu Fischer
von Erlachs St. Borromäus in Wien, mit den Durchfahrten und Trajan-
säulen an der Front, mit ihrer bereits eklektischen Bildung. Dazwischen
liegt viel ernste Arbeit, die Thätigkeit geschlossener Generationen, der
Carloni, die wesentlich in Anlehnung an Borromini die alte Kunst weiter-
bilden als Stukkatoren und Architekten, die Schöpfungen der Dientzen-
hofer in Österreich und Böhmen, liegen die Dome von Kempten, Passau
und Prandauers Klosterkirche von Melk.') Auf eigenes Schaffen kann
besonders Sachsen hinweisen, dort erreicht der protestantische Kirchen-
bau seine höchste Blüte. Auf der einen Seite der Theoretiker Sturm,
im Glauben reformiert, in der Kunst bereits klassizistisch, der über den
einfachsten Grundformen, Quadrat, Dreieck, Kreis, Winkel, seine Central-
bauprojekte errichtet, dem Grundsatz getreu : ^der Protestantismus sieht
mehr auf Beinlichkeit als auf Pracht und will nicht prunkvolle Kirchen-
bauten'. Gleich einem der mittelalterlichen Meister wendet Georg Bahr,
eine schlichte gewaltige Persönlichkeit, seine ganze Lebenskraft dem
Kirchenbau zu, dessen grösste Leistung die Frauenkirche zu Dresden,
,die am meisten protestantische Kirche der Welt^ ^) wird.
Eine genauere Übersicht über die Bildung und den Gehalt der
Barockkirchen ist hier nicht notwendig. Zwischen Barock und Renais-
sance besteht, zumal in Deutschland, ein entschiedener Gegensatz nicht ;
doch ist eine Sondenmg geboten, da es sich hier um die Bedeutung der
kirchlichen Renaissance handelt. Schon wegen der grundverschiedenen
Stimmung scheint die Trennung am Platz zu sein ; dann aber noch aus
rein künstlerischen Gründen. Wohl arbeitet der Barock mit den Formen der
alten Kunst, er schafft keine neue Formensprache ; gelangt er aber dazu,
die früher architektonischen Elemente und konstruktiven Glieder mehr
oder weniger in dekorativem Sinn zu verwenden, so trägt diese Ver-
änderung in die Kunst einen neuen Charakter hinein und giebt ihr eine
selbständige Bedeutung. Schon in Italien geschah sie mit den antiken
Ordnungen, mit der Kuppel. Aus der früheren Kunstform geht eine
neue hervor, welche ganz veränderten Wert, ganz andere Wirkung inne-
hat. — Infolge des Mangels einer scharfen Grenze mussten die Richtung
und der Übergang der Renaissance nach dem Barock kurz dargestellt
werden.
1) Gurlitt, a. a. 0. Über ihre Bedeutung S. 246 fg.
2) S. 83.
August tteichensperger und der Kirchenbau der Renaissance 33
Die Übersicht über die historische Entwicklung der Renaissance-
kirche gewährt Einblick in die künstlerische, rein formale Ausgestal-
tung. Sie weist schon auf Wichtiges hin, was ihren Gehalt betrifft:
auf die Anforderungen, die an sie gestellt, die von ihr befriedigt wer-
den, Grundriss und Aufbau verdeutlichen die Gliederung, die Einzel-
bildungen den Wert und die Bedeutung der Teile. Hier aber ist be-
stimmt zu fragen: wie gestaltet sich die Erscheinung, nicht die des
Bauwerks, sondern vielmehr die der Kirche, besitzt sie «Mittel, um
religiös zu wirken*, welches ist ihr Gehalt? — In hohem Grad ver-
langt die Antwort hierauf die Teilnahme der innersten tiefsten Empfin-
dung: jeder muss sie selber suchen.
Wie stand es denn überhaupt mit dem religiösen Bedürfnis, welches
etwa die Kunst verlangte und trug?
Die Stellung des Volks zu Kirche und Religion war vor der Re-
naissance eine ganz andre gewesen. Sowie das gesamte Dasein, das
geistige Leben, im Bann der Kirche lagen, war auch die Kunst an sie
gebunden, und dieser Zusammenhang sicherte ihr einen gewissen Wert
und Ernst; gerade in der Baukunst hatten sich die Konstruktion und
die Formen lediglich an der Kirche entwickelt. Ein grosser Teil der
mittelalterlichen Dome war durch die Liebesthätigkeit und Opferwillig-
keit des Volks zustande gekommen ; die Lehre von den guten Werken,
ihrer Wohlgefälligkeit und Notwendigkeit, sowie die Erteilung von Ab-
lässen thaten das übrige. Vor dem Eindringen der Laienschaft ins
Handwerk stellten die Bauhütten eine von idealen und tiefreligiösen
Absichten getragene Organisation dar ^). „Gott zum Lob und redlicher
Aufrichtung und Beständigkeit des Handwerks'' arbeiteten sie, aber
das Gott zum Lob war das erste. — Mit der Renaissance veränderte
sich dies Verhältnis von Grund aus. Nicht scharf genug kann der
folgenschwere scharfe Gegensatz hervorgehoben werden, der zwischen
Religion und Kirche sich heranbildete. Zuvor deckten sich diese Ge-
biete, Quelle und Anhalt des Gottesbewusstseins waren im Christentum
und seiner äusseren Machtgestalt, der Kirche, gegeben. Jetzt war die
Religion nicht mehr etwas objektiv Gegebenes, sondern wurde lediglich
das Produkt des einzelnen Menschen. Denn zwischen dem Prinzip des
Glaubens und seiner Darstellung riss eine Kluft seit der Entartung der
Kirche. Erklärt schon Machiavelli, dass die Italiener vorzugsweise irr-
religiös und böse sind, so erkennt er selber als Ursache: das üble Bei-
1) Hierzu Kraus, Geschichte der christlichen Kunst. II.
NEUE HEIDBLB. JAHRBUECHER XU. 3
34 Otto HoDsell
spiel, das die Kirche in ihren Vertretern giebt. Die Schuld der Kirche,
die politischen Verhältnisse, .die Entdeckung der Welt und des Menschen^,
die übrigen Ursachen für die Loslösung des Menschen von der Kirche,
das Verblassen der christlichen Ideale, ihr Ersatz durch das Ideal der
historischen Grösse und des Ruhmes, der Einfluss der Antike, die
äusserliche, unklare Stellung zur Kirche, die Stimmung der Gebildeten
gegen dieselbe: über alle diese Verhältnisse giebt uns bekanntlich
Burckhardt den besten Aufschluss ^). Ihre Einsicht ist durchaus un-
entbehrlich für die Erkenntnis der Grundlage der religiösen Kunst;
man muss diesen ungelösten Widerspruch in der Tiefe der Entwicklung
begreifen, muss erkennen, wie über ihn das glänzende Leben hinzog.
Daseinsgenuss und Wirklichkeitsdrang, freie Entwicklung der persön-
lichen Kraft und eine rein ästhetische Weltanschauung wirkten zu-
sammen und schufen eine äusserliche Harmonie des Lebens, das die
bildende Kunst brauchte, in ihr seinen höchsten Ausdruck suchte und
fand. Aber die Benaissance war in ihren Grundlagen keineswegs eine
so ungetrübte Einheit, wie sie sich zuerst darstellt. Das Gleichgewicht
wurde zerstört durch die schweren politischen und religiösen Umwäl-
zungen, und im Gefolge der Gegenreformation ward die innere In-
differenz verdrängt durch eine neue Vertiefung des Glaubens, eine weit-
greifende, religiöse, ja geradezu reformatorische Bewegung bis in die
höchsten Prälatenkreise Boms. Mit elementarer Wucht drängten die
lange unterdrückten Begungen des Innern hervor ; mit leidenschaftlicher
Hast suchte der Einzelne wieder nach einem beruhigenden sichern Halt,
nach einem neuen befriedigenden Ziel seines Daseins. Aber ebenso hastig
und erregt, wie man sich zuvor über den Widerspruch hinwegzusetzen
vermocht, wollte man jetzt auch diesen Halt gewonnen haben. Gerade
die Energie dieser Bewegung könnte darauf hinweisen, dass hinter aller
Indifferenz und äusseren Glauben slosigkeit bei den Menschen der Be-
naissance, die so sicher auf der Erde stehen wollten und mussten, ein
tiefes religiöses Gefühl oft genug verborgen lag.*)
In ihrem Verhältnis zur Kirche ist aber anzuerkennen, dass neben
einem tiefem Widerwillen gegen dieselbe in den weitesten Kreisen .das
Gefühl der Abhängigkeit von den Segnungen, Sakramenten und Weihen
1) Es muBB unmittelbar aaf ihn verwiesen werden, da jede Citiening seiner
feinen Urteile wie eine YerBtammlung auBsieht. Hierzu beflonders der 6. Abschnitt
in seiner Kultur d. R. in J.: »Sitte und Religion."
2) Vgl. hierzu eine Stelle aus Eugene Müntz, Leonard de Vind (Paris 1899)
L. II Chap. 3 S. 277: Les Italiens du XVI. sitele tombaient . . . dans l'h^r^sie qui
est elle-ro^me une manifestation si puiBsante du sentiment religieux et nullement
une manifestation de la libre pensee.
August Reich ensperger und der Kirchenhau der ftenaissancd 35
der Kirche" ein wenigstens änsserliches Festhalten an ihr verlangte.
Auch sorgte eine lange Tradition, die Nähe des Papsttums und eine
festliche, die Sinne gefangen nehmende Pracht des Kultus und der kirch-
lichen Feste dafür, dass der Zusammenhang weniger gelockert ward, als
es die inneren Verhältnisse erwarten Hessen.
Am glänzendsten — und verzweifeltsten ist unter solchen Verhält-
nissen die Stellung des Künstlers, wenigstens desjenigen, dessen Kön-
nen im Dienst der „Kirche" steht. Was sollen auch Kirchenbauten
unter Menschen, die zum Teil die Kirche hassten, ihr innerlich nichts
mehr zu verdanken haben wollten, oder die nur äusserlich an ihr
hafteten? — Aber lag es denn in der Absicht, in der Richtung
der Baukünstler, etwas Religiöses zu schaffen? Geradezu widersinnig
wäre diese Frage für die Zeit der Gotik. Im Grunde genommen,
wissen wir hier wie dort über diesen Punkt ebensowenig bestimm-
tes, und doch ist sie hier durchaus berechtigt, schon deshalb, weil
aus der Menge, die die Kunst trägt, der einzelne Künstler mit seiner
besonderen, mit Stolz betonten Persönlichkeit heraustritt. In der Früh-
renaissance war wohl auch in diesen Kreisen der Zusammenhang mit
der Kirche noch nicht erschüttert, nur insofern schwächer, als er es seit
jeher in Italien gewesen war. Noch Brunellesco vertraut in naivem
Glauben beim Bau des Florentiner Doms, die Kirche (Sta. Maria del fiore)
sei Gott und der heiligen Jungfrau geweiht, und diese werde bei einem
Werk zu ihrer Ehre es nicht unterlassen, das Wissen zu erweitern, wo
es fehle, und Geist, Kraft und Kenntnisse derer zu stärken, die es er-
richteten ^). Aber schon Battista Alberti stellt Überlegungen an, welchen
Göttern Tempel zu bauen seien. Jedoch verlangt er von der Kirche
eine ernste tiefe Wirkung auf die Empfindung. ,,In den Tempeln steigt
das Göttliche (superiori) nieder, um unsere Opfer und Gebete in Em-
pfang zu nehmen. Sollte aber das Göttliche sich um der Menschen
hinfälliges Bauwesen nicht kümmern, so trägt es doch viel zur Frömmig-
keit bei, dass die Tempel etwas an sich haben, was das Gemüt erfreut
und durch Bewunderung fesselt. Der Eintretende soll von Erstaunen
und Schauder hingerissen sein, dass er laut ausrufen möchte: dieser
Ort ist Gottes würdig!* Unter den kleinen und mittleren Künstlern
mögen noch lange die gewohnten und überkommenen religiösen Vor-
stellungen äusserlich ihre Geltung behalten oder mit den neuen An-
schauungen eine bizarre Vermischung erfahren haben. Über diese Zu-
sammenhänge sind wir wenig unterrichtet, auch nicht bei den grossen
1) Vasari XLI.
3*
36 Otto Honsell
Meistern, deren Leben am schwersten in Konflikt geraten konnte mit
den Verhältnissen. Ihre Werke müssen reden, nur weniges von ihren
Worten giebt Aufschluss in dieser Richtung. Bramantes tiefe Inner-
lichkeit mag an seinen Entwürfen zu St. Peter sich genügend offenbaren.
Oanz rein sind die Ideale der Zeit ausgesprochen, wenn Raffael bei
Übernahme der Bauleitung schreibt : Welcher Ort auf Erden wäre auch
würdiger als Rom, und welches Unternehmen edler als der Petersdom,
denn er ist der erste Tempel der Welt und der grösste Bau, den man
jemals gesehen hat^). Heisst doch selbst in dem Breve Leos X., das
die offizielle Ernennung enthielt, die Kirche: der Tempel des Apostel-
farsten ^). Dieser Bau hat überhaupt das ganze Leben der Benaissance
mitgelebt. Und ebenso haben sich in Michelangelo, dem grössten seiner
Meister nach Bramante, verschiedene Strömungen vereinigt. Voll Be-
geisterung für die Aufgabe, die Kirche von S. Lorenzo in seiner Heimat-
stadt zu vollenden, will er die Fa9ade so herstellen, „dass sie als der
Spiegel der Baukunst und der Skulptur von ganz Italien erscheine* *).
Die rein künstlerische- Bedeutung, die formale Ausgestaltung sind so
hervorragend, dass es unzulässig ist, einen anderen «Oehalt'^ als den
durch sie gegebenen in dem Werk finden zu wollen, von ihm zu ver-
langen. Ausserdem aber spielt in jede Thätigkeit hinein verhängnisvoll
das antike Motiv des Ruhms. Wie ganz anders wird dies im späteren
Leben Michelangelos, besonders seitdem er als «archimaestro* die Bau-
leitung für St. Peter in Händen hat. Die harten politischen und reli-
giösen Schicksale haben ihn persönlich berührt; ein langes Leben rast-
losen Schaffens, die fast abstrakte Gedankenwelt, welche zu gewaltiger
Erscheinung drängt, der Umgang mit dem Kreis der Vittoria Golonna
machen ihn empfänglich für die Bestrebungen nacli Verinnerlichung des
Menschen; ja sie erwecken wieder das Verlangen nach einem positiven
Inhalt des Glaubens, der ihm durch eigene Schuld entschwunden sei:
Mein Herz erfüllt nicht Meisseln mehr und Malen,
Dass es sich nur zur Gottesliebe wende,
Die ausgespannt am Kreuz die Hand uns reicht.
Nur der Bau von St. Peter beschäftigt noch seine Phantasie und die
plastische Kraft. Das bringt seinem Verlangen Ruhe, die Thätigkeit
ist für ihn ein „gottgefälliges" Werk. Nur seine Frömmigkeit und
Liebe zu Gott und dem Apostelfürsten, heisst es einmal, hätten ihn
1) Bei Springer, Raffael und Michelangelo H. S. 102. 103.
2) S. 199.
August Reichensperger und der Kirchenbau der Renaissance 37
bewogen, das Amt des Baumeisters in seinem hohen Alter zu über-
nehmen ; auf irdischen Lohn verzichtet er *). Den Bau kann er nicht
im Stiche lassen, solches erschiene ihm eine Schande für die ganze
christliche Welt und eine schwere Sünde. Hier offenbart sich ein In-
einanderleben von Mensch und Werk, von Seele und Schöpfung, wie es,
nur natürlicher und gemilderter, in der gotischen Zeit uns entgegentritt.
Es handelt sich hier nicht darum, die These zu halten, dass zu
allen Zeiten und in allen Stilen die Kunst ihre höchsten und voll-
kommensten Leistungen auf dem Gebiet der religiösen Aufgabe voll-
bracht habe. Auch kann es nicht wertvoll sein, abstrakte Zusammen-
hänge zwischen Kunst und Religion im allgemeinen zu suchen (oder zu
konstruieren) und davon auf die Renaissance Anwendung zu machen.
Bei der kirchlichen Baukunst bleibt immer zu bedenken, dass sie aus
künstlerischen, praktischen und religiösen Bedürfnissen gleichmässig her-
vorgeht, deren eigenartiges Verhältnis den Wert der Schöpfung enthält. —
Es ist aber vielmehr zu fragen: was haben jene Meister erreicht? In
der Zeit des jugendkräftigen Aufschwungs nicht minder als später in
der Hochrenaissance bewundern wir die rastlose kirchliche Bauthätig-
keit, ein gewaltiges Schaffen, aber auch einen leidenschaftlichen Eifer,
der sich ebenso im Fertigen offenbart als im Mangel an Vollendung,
in dem Missverhältnis, in dem zuweilen die äussere und innere Er-
scheinung bleibt. Die rein ästhetische Lebensanschauung der Zeit, die
sich auf alle Verhältnisse auszudehnen versuchte, hatte zur Folge, dass
in der Kirche der religiöse Qehalt, der bei den früheren Bauwerken so
natürlich, fast unbewusst zum Ausdruck kam, mehr und mehr einem
rein künstlerischen, rein formalen weichen musste. Aber freilich: die
Kunst hatte ein allmächtiges Ideal, und die höchste Kraft war einge-
setzt, es zu verwirklichen ; eigene Arbeit und die Einwirkung der Antike
hatten es geschaffen, und es galt am allermeisten für den Kirchenbau.
Es war die vollkommenste Ausgestaltung der lebendigen Form, die
höchste Darstellung der harmonischen Erscheinung, die vollendete Aus-
prägung eines rein künstlerischen Stils. Praktische Bedürfnisse finden
kaum Berücksichtigung; mit einem ausgebildeten, komplizierten Kult
vertragen sich seine Kirchen nicht. Die schöne Erscheinung beherrscht
alles andere. Man hat über die italienische Renaissance, teils mit Rück-
sicht auf ihr Verhältnis zum Altertum, teils wegen des Eindrucks ihrer
Werke, geurteilt, sie habe keinen sakralen Stil entwickelt, habe keine
1) S. 328.
38 Otto Honsell
eigentlich »heiligen Formen** ausgebildet. Allerdings, wenn man dabei
ausgeht von einer einseitigen Auffassung der Formenwelt des Mittel-
alters als einziger Norm. Es hat aber wie kaum ein anderer Stil die
Eenaissance die architektonische Erscheinung ausgebildet, am herrlich-
sten und zum höchsten in ihrer Kirche. Die Wertung derselben ist im
geschichtlichen Überblick bereits versucht worden; indess sei hier noch
einmal betont, dass wir festhalten an einer scharfen Trennung der Ent-
wicklung, an deren Ende als vollkommene Schöpfung der Centralbau
steht, von derjenigen, die später über die Bauten Vignolas und Palladios
zu einer neuen Phase führen.
Für die bedeutende Ausbildung des Eirchenbaus in der italienischen
Renaissance dürfen einige Motive recht profaner Art nicht unberück-
sichtigt bleiben ; auf Seiten der Gründer und der Baumeister. Weltliche
Fürsten finden durch den Bau von Kirchen Gelegenheit, ihre (oft auf
unsicherem Boden stehende) Herrschaft zu befestigen, die Unterthanen
zu gewinnen, gewaltigen Ruhm zu verbreiten und ein längeres Andenken
sich zu sichern. Einigermassen modifiziert, sind die nämlichen Beweg-
gründe auch für einige Päpste massgebend gewesen, unvergängliche
monumentale Kirchen vermehren Ehre und Glanz, steigern die Bewun-
derung, die „ Devotion ** der ganzen Christenheit, stärken den Glauben
der Menge, die nur durch Grösse der Schöpfungen hingerissen wird
(so notorisch bei Nikolaus Y.). Für die Baumeister selber brachte es
ebenfalls grossen Buhm und auch innere Befriedigung, eine Kirche zu
bauen, womöglich schwierige Konstruktionsprobleme damit zu lösen und
ihr prachtvolle Formen zu geben, wohl gar damit einen der alten Bauten,
Tempel oder Basiliken, zu übertreffen. Solche Motive sind in Zeiten
blühender Entwicklung, der höchsten Anspannung menschlicher Kräfte, bei
politisch klugen Mäzenen wie bei Künstlern ganz natürlich, uro so mehr
bei der ganzen Anlage des Italieners der Renaissance mit der gewal-
tigen Phantasie und dem ungemessenen Ehrgeiz. — Damit ist aber eine
tiefere Grundlage nicht ausgeschlossen. Es ist schon gesagt worden,
dass die Renaissance die rein architektonische Erscheinung zur schön-
sten Vollendung ausgebildet hat. und dies nirgends mehr als an der
Kirche; kein Bauwerk verträgt sich mehr mit diesem idealen Organis-
mus wie ihr Centralbau. Dass es dem Gottesdienst gewidmet, dass es
geweihte Stätte ist, ist erst ein sekundärer Eindruck. Während sie die
Wirkung des Bauwerks reinigend steigert und die künstlerische Form
auf die oberste Stufe der Ausbildung hebt, übt sie schon allein eine
der tiefsten Wirkungen aus auf die Empfindung (wenigstens der Men-
August Reichensperger und der Kirchenbau der Renaissance 39
sehen der Renaissance). Das bedeuten die erwähnten Worte Albertis;
mit einigem Vorbehalt kann man auch einen Ausspruch Michelangelos
anführen, der zwar äusserlich nur die Malerei betrifft : »die wahre Ma-
lerei ist edel und fromm von selbst, denn schon das Ringen nach Voll-
kommenheit erhebt die Seele zur Andacht, indem es sich Gott nähert
und vereinigt ''. Burckhardt sagt: „Im Süden ist alles Grosse und
Schöne von selbst heilig. '^
Wenn es gerechtfertigt ist, mit Vorsicht den Wert und Gehalt
eines Bauwerks in Beziehung zu setzen mit den gleichzeitigen Ideen
der Menschen, so ist es nötig, auf die Bedeutung des Centralbaus,
speziell der Kuppel hinzuweisen. Jeder Vergleich mit der gotischen
Kathedrale, mit ihrem hochaufstrebenden Raum voll angenehmen Düsters
oder spielender Farben, muss zurückgedrängt werden. Hier herrscht
eine „abstrakte Raumschönheit*'. In den herrlichen Räumen der Kuppel
sucht und findet auch die religiöse Empfindung neue Kraft und Begei-
sterung. Nicht mehr im Jenseits liegt das Ziel, es ist auf Erden aus-
gebreitet, es ist die schöne Wirklichkeit, die dem Menschen gehört, die
er ergänzt durch die Schöpfungen seiner Phantasie, sie ist als sichtbare
Offenbanmg des Himmels ein Gegenstand der Verehrung und Andacht.
Der Gedanke ist nicht abzuweisen, dass in dieser Gestaltung leise Ideen
anklingen, welche im Kreise des Lorenzo Magnifico, an der Florentiner
Akademie heimisch waren. Bereits hinter dem ganzen Leben und der
Kunst der Renaissance liegen Elemente der vor andern bevorzugten
platonischen Lehre und seiner Welt der Ideen, deren jede einzelne nicht
bloss ethisch, sondern — und das ist das entscheidende — , zugleich
ästhetische Vollkommenheit besitzt, und deren höchste (das ayadov)
vom Stifter offenbar mit der obersten Gottheit identifiziert wird. Daher
die enge Verbindung des Schönen und Religiösen. Die Männer jenes
edeln Kreises gingen aber weiter, ihre Anschauung lief hinaus auf den
Theismus, wie er damals in Italien ganz einzeln dastand; ihre Über-
zeugung von dem Verhältnis des Menschen zu Gott fasst Burckhardt
in die Worte ^): ,,die Seele der Einzelnen kann durch Erkennen Gottes
ihn in ihre Schranken ziehen, aber auch durch Liebe zu ihm sich ins
unendliche ausdehnen; dies ist dann die Seeligkeit auf Erden.^ Und
diese Begegnung des Hinaufstrebens und des Herabschwebens vermag
die Kuppel der Renaissance zur Erscheinung, zur Empfindung zu
bringen •).
1) Kultur der Renaissance in Italien, S. 28.S fg.
2) Hierzu die Auffassung (die sich allerdings nicht ganz mit der letzteren
40 Otto Honsell
Gewiss sind derartige subtile Zusammenhänge nicht notwendig, um
den Wert der Benaissancekirche zu erkennen.
Wer aber von der Betrachtung des Mittelalters herkommt oder aus
seinen eigenen Gedanken schöpft, wird in ihr vergeblich nach dem Aus-
druck einer religiösen Empfindung suchen, eine Teilnahme des religiösen
Lebens an der Schöpfung erkennen wollen. Er erinnert sich vielleicht
an die Stellung weiter Kreise jener Zeit zur Kirche (wie es zuvor kurz
dargestellt wurde), an einen gewissen Widerspruch in diesen^ Verhält-
nis. Sollten wir dann annehmen, dass die Kunst sich zu ihrer schönsten
Blüte entwickelt habe über einer Kluft, dass man in ihr Ersatz gesucht
habe für ein tieferes religiöses Leben, das jene Verhältnisse, wenigstens
in allgemeinerer Ausdehnung, unmöglich machten? Nichts verkehrter.
Hätte sie als Ersatz dienen sollen, und selbst für das Höchste, wäre sie
nicht die grosse Kunst geworden, deren Werke noch heute herrlich wie
am ersten Tag blühen.
Schliesslich aber, ist es denn überhaupt gerechtfertigt, wenn manch
einer heute (wie auch früher in der Zeit nach der Benaissance) in dieser
Kunst die Wirksamkeit religiöser Motive sucht, und nach ihrem Vor-
handensein oder Nichtvorhandensein den Wert derselben bemisst? Ist
es überhaupt zulässig, in der Baukunst zu reden von .Mitteln, um
religiös zu wirken^, in sie einen religiöseü Gehalt zu legen?
Gern erhebt eine kunstarme Zeit einem grossen Künstler gegen-
über den Vorwurf, er habe über der Ausbildung der Erscheinung den
„Gehalf vergessen. Aber immer aufs neue werden solche Bedenken
überwunden durch die wiederkehrende Thatsache, dass die reine Freude
am Gestalten, das Bewusstsein des lang geübten Könnens, der Bewäl-
tigung des Stoffs eine — nicht die einzige — Voraussetzung sind für
die künstlerische Offenbarung, und die wichtigste Grundlage für die
Vollendung eines Kunstwerks. Es macht hier GeymüUer als der erste
den schwierigen Versuch, auch für die Benaissancekunst «die Mittel,
um religiös zu wirken*^, aufzusuchen. Er greift einzelne Elemente her-
aus, sucht ihre Bedeutung, ihren Wert, die Wirkung auf das Empfinden
zu erkennen; er weist hin auf den Bundbogen, auf die Verbindung mit
den Schwesterkünsten, auf die Behandlung des Lichts und die Kuppel.
deckt, aber nns etwas von der Wirkung der Enppel auf das religiöse GefCkhl offen-
bart) in einem Sonett des 6. B. Strozzi für den Florentiner Dom [bei Vasari XLI]:
Tal Bopra sasso sasso
Di giro in giro etemamente io strussi,
Che cosi pasBO passo
Alto girando al ciel mi ricondussi.
August Reich eosperger und der Kirchenbau der Renaissance 41
In der That vermögen diese Teile den Weg zu weisen zu einer be*
stimmteren Auffassung. Man ist geneigt, auch an die Bedeutung der
schönen Verhältnisse, vor allem der Kaumgestaltung zu denken; sie
bergen nicht bloss rein ästhetische Werte. Der französische Gelehrte
sieht aber ferner eine weitgehende Übereinstimmung zwischen einem
Teil der antiken Ästhetik mit ihrem Ideal der objektiven Vollkommen-
heit (welches auch für die Renaissance massgebend wurde) und derjenigen
des Christentums. — Es ist hier nicht nötig, einen grossen psycholo-
gischen Apparat zu bewegen und zu zeigen, wie bestimmte Formen und
ihre Beziehungen ganz bestimmte Wirkungen ausüben auf das Empfin-
dungsleben. Für die religiöse Empfindung handelt es sich doch immer
um ein ausgeprägt persönliches Verhältnis zum Überirdischen; und die
Regungen in dieser Hinsicht sind viel elementarer, als dass jene Werte
sie wohl bestimmen könnten.
Tausend Dinge und Erscheinungen sind, die, scheinbar zusammen-
hangslos, uns erinnern können an eine Beziehung zu einer Gewalt, die
ausserhalb der Grenzen des Menschendaseins liegt; gleichviel wie nun
ein jeder sie empfindet oder denkt. Von einer so realen, materiellen
Kunst, wie die Architektur ist, wird man im Ernst nicht verlangen
können, dass sie ein religiöses Gefühl zum Ausdruck bringe, weder ein
bestimmtes noch ein allgemeines ; dass in ihr ein religiöses Bewusstsein
eich verkörpere oder auch nur die eine solche stützende Grundempfindung.
Sie wirkt ebenso mit dem Einzelnen, den Teilen, wie mit dem Ganzen,
der Fläche, der Masse, dem Raum vor allem. Sicher gehen von diesen
Elementen bessimmte Wirkungen aus; diese bestehen aber nicht in der
Übermittlung einer Empfindung, sondern bedeuten eine Reinigung, eine
Befreiung der mitgebrachten Empfindung des Beschauers von diesen
oder jenen Einflüssen, ein stilles Lenken, ein Vorbereiten auf etwas, das
unter jenem Gewöhnlichen verborgen liegt und entweder keine Kraft,
Gelegenheit oder Neigung hat, rein hervorzutreten. Und gerade in
dieser Richtung vermögen allerdings die wohlbeherrschte Masse, der
Baum und die architektonischen Formen mit einer elementaren Wucht
zu wirken. — In einem ganz übertragenen Sinn darf dann allerdings
der Baukunst eine religiöse Wirkung zuerkannt werden, kann man von
einem religiösen Gehalt selbst beim Centralbau der Renaissance sprechen.
V.
Bramantes letztes Werk bezeichnet ungefähr die Grenze für die
beiden Entwicklungen der Renaissancekirche, an deren Trennung wir
42 Otto Honsell
festhalten, so lange wir sie werten und beurteilen wollen. Natürlich
hat im Verlauf die eine auf der anderen sich aufgebaut, hat den älteren
Typus des Langhauses mit Tonnen und Seitenkapellen weitergebildet und
von den Formen des Centralbaus wesentliche übernommen und ver-
ändert. Allein die absolute architektonische Kraft, welche jene Kunst-
form ausgestaltet und beherrscht und alte Elemente zu einer ganz neuen
Erscheinung und Wirkung verwertet hatte, war im Schwinden. Die
folgende Zeit verarbeitete das Übernommene in ilirem Sinn. „Es kommt
alles auf den Geist an, der sich der Formen bediente*, sagt Burckhardt;
und dieser Geist war ein ganz anderer geworden.
Rom mit seiner grossen Vergangenheit begann bedeutenden Einfluss
auszuüben auf die Aufgaben, wie auf die Formgebung und die Phan-
tasie der Künstler. An diesem Punkte ward es verhängnisvoll, dass
die Antike nicht mehr bloss vorzugsweise nachgeahmt, sondern aus-
schliesslich massgebend, absolut vorbildlich wurde, und nach der Antike
wenige gewaltige Persönlichkeiten und Künstler, Bramante und Michel-
angelo, sogar weit über Italien hinaus. Ganz anders als bei den Kirchen
der Frührenaissance wurde jetzt das Hauptgewicht gelegt auf den Bhyth-
mus der Verhältnisse, die feine Abstufung der Glieder, das Gleichgewicht
der Teile; von der Harmonie der Masse, der Symmetrie, endlich von
schönen Kontrasten sollten wesentliche Wirkungen ausgehen. Diese
Elemente, die früher die Baumgestaltung bedingten, drängen jetzt zur
Herrschaft in der Bildung des Äussern, der Fläche und der Fa9ade.
Sie sind auf dem Weg, imposant, konventionell, gleichgültig zu werden.
In der religiösen Baukunst bedeutete nicht die strengere Ausbildung
ihrer Formen und Anlagen an sich, sondern die Konstellation, in der
es geschah, die Veränderung ihres Werts, die Verminderung ihrer
Einheit. Darf es als eine Thatsache betrachtet werden, dass in der
mittleren Epoche einer Stilentwicklung der befriedigende Einklang
zwischen der Bedeutung, dem Gehalt des Lebens und ihrer künst-
lerischen Erscheinung nach Möglichkeit erreicht ist, im weiteren Ver-
lauf aber immer mehr eine Entfernung, ein Zwiespalt eintritt, so ist
dieser von erschreckender Tiefe für die Entwicklung der Benaissance-
kirche Italiens. Es wurde bereits angedeutet, dass die unerwarteten
politischen und religiösen Schicksale das Leben immer mehr mit einem
neuen Gehalt erfüllten, der seine äussere Darstellung durch die Be-
wegung der Gegenreformation fand. Sie darf als mitursächlich in
Beziehung gesetzt werden mit der veränderten Bichtung der Baukunst.
Sie erzeugte ein stärkeres Bedürfnis nach Kult bauten, machte überdies
August Reichensperger und der Kirchenbau der Renaissance 43
notwendig, neue Kirchen zn bauen und schnell grossartige prachtvolle
Werke hinzustellen. Die Formen waren da, wurden durch strengere
Auffassung der Antike weiter, ins Grosse und Ernste, gebildet, und sie
mussten weiter entwickelt werden. Aber das Leben, das einst in ihnen
gewohnt, ward der entschiedene Gegensatz zu dem jetzigen, welches sie
auch fernerhin umkleiden sollten bis zur abschliessenden Vollendung
der künstlerischen Form. Man rede nicht von der Freiheit, mit der
der Künstler derselben gegenübersteht; sie gilt nicht grenzenlos in der
Baukunst, ist noch beschränkter inmitten einer einheitlichen ge-
schlossenen Stilentwicklung, auf eine fortlaufende Beihe intensiv ar-
beitender Kräfte gestützt, wie es auch die Renaissance in ihrer Mitte
war. Es liegt dann eine elementare Macht in diesen Formengebilden,
wenn sie einmal zur Höhe gebracht sind; sie müssen weiter entwickelt
werden, es koste was es wolle. Und diese Entwicklung findet ihren
Abschluss erst im Barock; ihrem neuen Leben entsprechen hier auch
kräftig veränderte Formen. — So wurde die Stärke und Sicherheit der
künstlerischen Entwicklung sich selber im Kirchenbau zum Verhängnis.
Von dieser Zeit an offenbart sich leise oder deutlich darin etwas, das
als ein tragisches Schicksal bezeichnet werden könnte. Es regt sich in
den Schöpfungen einzelner Bauten, in dem Leben einzelner Meister; an
St. Peter vor allen. Bramante hatte mit der ihm eigenen Schnelligkeit
und Sicherheit die ersten Pläne gemacht. Die Energie Julius IL strebte
nach ihrer Verwirklichung. Seit Leo X. kam die sittliche und politische
Krise zum Ausbruch, das Werk blieb liegen, schon das Geld fehlte.
Viele aber, die in Bramantes Entwürfe Einsicht haben, erklären, dass
in ihnen das beste der Renaissance liegen geblieben sei. Schon der
Grundriss eine herrliche Harmonie: das griechische Kreuz mit der
weiten Kuppel und mächtigen Eckräumen ; das Äussere mit merkwürdiger
Verbindung von Türmen mit Kuppel und Nebenkuppeln, mit der unter-
schiedenen Gliederung der Traveen; das erscheint, noch geschlossen, als
die schönste Blüte der kirchlichen Renaissance. Und kam nicht zur
Entfaltung. Fast alle berühmten Architekten des Jahrhunderts arbeiteten
für diesen Bau. Michelangelo hält sich selber für den esecutore der
Pläne Bramantes, allein er ist es nicht, er hebt die eigenartige, unter-
schiedene Gliederung der Traveen auf, die Kuppel und die Steigerung
des ganzen Auf baus von der Vorhalle bis zum Tambour, das ist sein
Werk. Die Harmonie, der Einklang der ersten Idee mit ihrer Form
ist gesprengt. Wie in seiner Plastik auch hier das Hinarbeiten auf ein
einziges grosses Ziel : ein transcendentes Element lebt unter seinen zum
44 Otto Honseil
Teil nüchternen Formen, sie thun ihren Dienst nicht, genügen kaum
mehr. Die weitere Entwicklung, der Langbau Madernas, die Farads
des Bernini und seine projektierten Türme, ein fortgesetztes Herab-
drücken der Euppelwirkung, ein stetiges Verändern, sagen das Übrige.
Freilich, auch gotische Dome hatten mit ihrer Vollendung zu kämpfen,
das Fehlen finanzieller Mittel kommt auf beiden Seiten in Betracht, bei
diesen war aber durch einen Meister oder die in seinem Oeist arbeiten-
den Nachfolger ein umfassender Plan gegeben ; bei St. Peter hatte
aber nicht die Ausführung eines Planes Schwierigkeiten, vielmehr die
Ausgestaltung des Planes, der ganzen Erscheinung. — Man kann einen
Beweis für die Grösse und den Ernst der kirchlichen Renaissance io
der Spätzeit darin sehen, dass sie trotz des Zwiespalts, in dem sie sich
bewegte, nicht stockte oder entartete, sondern eifrig weiter arbeitete.
Der künstlerische und der religiöse Mensch rangen beide. Jener ver-
suchte immer wieder mit den Formen seiner Kunst, die doch ein neues
Leben als das ihnen ursprüngliche umklammerte. Aber sie gaben nur
langsam nach. Ihren Höhepunkt findet diese Bichtung in Palladio,
einem der letzten, allergrössten der Zeit. Er besass die gründlichste
Kenntnis des Alten; und er war einer der ersten, der wieder für einen
reineren Kultus, in einer strengeren Art herrliche Kirchen baute. Die
Seitenkapellen erscheinen wieder, das Äussere wird ernst und würdig
gestaltet, dem Innern entsprechend. Schon verschwindet die Farbe.
Aber er beherrscht noch straff die Formen der Alten, die für jeden
verhängnisvoll werden, der sie nicht meistert, die unter seiner Hand
ein ganz neues Wesen gewinnen. Palladios That ist es, in der Zeit
einer ernsteren Religion, eines vertieften Glaubens die Mittel geschaffen
zu haben zu einer neuen Gestaltung der Kirche. Er bestimmte die
eine der Hauptrichtungen, in denen der Barock weiter arbeitete.
Erkennen wir die kirchliche Baukunst der italienischen Renaissance
an als eine, im Bezug auf das Volk als Individuum, höchst subjektive,
worin dieselbe mit Hülfe ihrer speziellen, selbst durchgearbeiteten Mittel
ihre Ideale zu verkörpern sucht und einen eigenen Gehalt aufweist, so
erscheint es schwer denkbar, wie die Übertragung einer so abgeschlossenen
Kunst auf fremde Länder möglich ist; und dennoch ist sie geschehen.
Denn es ist ihr Äusseres, ihre Gestalt und Erscheinung, so bedeutend
ausgebildet, dass man sich zunächst über ihr Wesen, ihre inneren
Werte hinwegsetzt und bloss jenes übernimmt. Weiterhin ist wahr-
scheinlich, dass in der Zeit der späten Gotik und des Flamboyant eine
Entwicklung in den alten Bahnen zu keinem rechten Ergebnis mehr
August Reichensperger und der Kirchenbau der Renaissance 45
geführt haben würde, dass eine Stilwandlung nötig war, der Norden
aber und besonders Deutschland neben den tiefgreifenden politischen
und religiösen Kämpfen nicht genügend Kraft und Baum besessen hätte,
aus sich heraus eine wertvolle Umwandlung der Formen durchzuführen.
Mit Vorsicht kann zur Erklärung auch der Gedanke berücksichtigt
werden, dass die einzelnen Völker nicht so abgetrennt und abgeschlossen,
auch ihre Kräfte nicht gleich und auf dasselbe Ziel hin gerichtet sind,
so dass ungefähr gleichzeitig alle ihren , nationalen Stil' haben könnten.
Der Vorwurf, die nationale Kraft getötet zu haben, ist der Renais-
sancearchitektur gegenüber nicht nur in Deutschland erhoben worden;
in Frankreich kam er bereits von VioUet-le-Duc. GeymüUer hat ver-
sucht, die Notwendigkeit der Stilwandlung und der Aufnahme der
Renaissance in Frankreich um 1500 nachzuweisen ^). Zwischen der An-
erkennung der Thatsache, dass sie ein , Aufblühen nationaler Elemente'
nicht gebracht habe, und dem Recht hieraus der Renaissance einen
Vorwurf zu machen, liege aber eine weite Kluft. Indessen müsste man
an einen Stillstand der Entwicklung glauben, wollte man ihm darin zu-
stimmen, dass ein nationaler Stil nach der Gotik nicht mehr möglich
war, weil alle nationalen Elemente in der Gotik ihren vollkommenen
Ausdruck gefunden hatten. — Der andere, hiermit zusammenhängende
Vorwurf ist der, sie vermöge nur in geringem Mass, oder überhaupt
nicht, .christlich zu wirken^. Er ist es, der uns hier hauptsächlich
beschäftigt. Mit der neuen Bildung der Renaissance, die aus Italien
über die Alpen vordrang, kam allerdings keine neue Quelle religiösen
Lebens, und dies verzögerte von vorn herein ihre Aufnahme im Kirchen-
bau, liess Geistlichkeit und Volk beharrlich an der Gotik festhalten.
um so ausgedehnter verwandte sie die kirchliche Kunst an kleinen
Werken, Altären, Grabmälern, kirchlichen Geräten. In ihrer Architektur
aber entstanden Schöpfungen von ganz eigenartiger, speziell französischer
Durchbildung der alten Formen und der Renaissance. In dieser Rich-
tung bewegt sich das Streben bis in die Zeit Ludwigs XIII. hinein ; hier
tritt die Änderung ein. Immer enger wird der Anschluss an Italien,
immer unmittelbarer die Nachahmung. In hohem Grade mögen poli-
tische und konfessionelle Rücksichten die Anlehnung an römische Vor-
bilder zur Folge gehabt haben, deren Typen doch nur in den grossen
Verhältnissen des Südens ihre wahre Schönheit entfalten konnten. Viel-
fach machte auch kluge Berechnung der geistlichen Fürsten und des
1) Baukunst der R. in Fr. Kap. 2. 3 a.
46 Otto FTonsell
unter ihrem Einfluss stehenden Hofes das Streben nach italienischer
Pracht und Grösse wünschenswert. Auf Kosten der religiösen Stimmung
wurde formale Vollendung gesucht, und endlich gegen Ende des 17. Jahr-
hunderts war man an demselben Ziel angelangt, wie in Italien etwa ein
Jahrhundert zuvor'). Wie dort durch Palladios und Vignolas Thätig-
keit eine geschlossenere Gestaltung der Forraensprache der Antike er-
reicht war, die formalen Bestrebungen zurücktraten und eine freiere
Verwendung der Glieder ermöglicht wurde, so bewegte sich nun auch
hier die Arbeit in der Richtung, „den Ton der Architektur zu verstärken',
den Gebilden eine erhöhte Bedeutung und Grösse zu geben. Nirgends
tritt die einer solchen Übertragung anhaftende Unwahrheit deutlicher
hervor als am Kuppelbau '). Diese höchste Kunstform der Renaissance
war für Frankreich „nicht das Erzeugnis langer Arbeit, nicht geworden
in zahlreichen grossen künstlerischen Thaten . . ., sondern als fertige
Ware überliefert. (Es) hatte sich nicht an der Durchbildung der Idee
beteiligt und empfand daher nicht ihre Grösse". In allen den drei grossen
Kuppelkirchen, die unter direktem Einfluss der Renaissance stehen: an
der Sorbonne, an Val-de-Gräce und dem Invalidendom hat die Form
eine unwürdige Bildung erhalten. Das Missverhältnis des Äussern und
Innern zerstört ihren Wert; die Basis der äusseren stets aus Holz ge-
bauten Schale liegt in Höhe (bei Val-de-Gräce noch oberhalb) des
Scheitels der inneren ; daher auch die gestreckten Verhältnisse des Tam-
bours, die Disharmonie zwischen der Höhe der inneren und äusseren
Fensteröffnung, welche den ruhigen Eindruck trüben. AufTallend ist an
der Kuppel von Val-de-Gräce der allzu ruhige, runde Kontur; an der
des Invalidendoms die Eleganz. Mit ihrer Feinheit der Formen und
Vornehmheit der Verhältnisse ist sie auch eher ein Denkmal des Ruhms,
voll festlicher Stimmung. — Den verständigen, kühlen, nüchternen Cha-
rakter der späteren Renaissancekirche Frankreichs muss selbst ein be-
geisterter Verehrer wie Geymüller zugeben.
Der letzte Versuch, die Gotik und Renaissance für Konstruktion
und Formen unvereint nebeneinander zu gebrauchen, war St.-Btienne-
du-Mont. In der Fa^ade von St.-Eustache erscheint der Höhepunkt
der französischen Kirchenrenaissance ^) : die aufstrebende Symmetrie der
1) Gurlitt, Gescbichte d. Barocks und d. Rococo . . in Frankreich etc. S. 244.
2) S. 65.
3) Sie wird schon damals in Vergleich gestellt mit den alten und gleichzeitigen
Bauten: «1a plus parfaicte et accoroplye ouvrage qui se trouve entre les anticques
et modernes, tant en France qu^en Itallye", heisst sie in einem Inventaire v. 1621;
bei Geymüller, a. a. 0. Anm. 1047.
August Reichensperger und der Kirchenban der HenaissaDce 47
gotischen Kathedralfront ist verändert in eine Haimonie von horizontaler
und vertikaler Dreiteilung, mit Energie und Klarheit gegliedert. Nichts
bezeichnender für die Höhe der künstlerischen Entwicklung als die That-
Sache, dass der erste grosse Bau der Jesuiten der Kirche des Hugenotten-
meisters unmittelbar nachgebildet ist.
Im Zusammenhang hiermit sei in Kürze die Auffassung Geymüllers
über den Wert der kirchlichen Renaissance dargestellt, weil er dieselbe
wesentlich im Anschluss an die französische Renaissance gebildet hat,
und ausserdem weil es reizt, sie der Anschauung eines Reichensperger
gegenüber zu stellen. Die beiden bedeuten die Extreme, zwischen denen
sich die andern Meinungen bewegen können. Freilich führen GeymüUer
nicht minder die Liebe zur französischen Kunst als das umfangreichste
Wissen und tiefes architektonisches Empfinden zu seiner Überzeugung.
Vorraussetzung ist far ihn der Beginn der Renaissance in Italien mit
dem Dom von Florenz 1296, wobei sich dem antiken Raumgefühl ent-
sprungene Innenräume in ein reduziertes gotisches Detail hüllen. Zwei
Strömungen begegnen einander: dort der Versuch, antike Weiträumig-
keit, Raummajestät, Harmonie und Kuppel in die gotische Formen- und
Ideenwelt einzubürgern; hier das Streben, die Prinzipien der vertikalen
Komposition, die Zusammengehörigkeit der Formen, den Bündelpfeiler
der antiken Formenwelt zuzuführen. Die Aufgabe der Vereinigung fällt
der Renaissance zu. Sie ist auf den Stil der Sehnsucht die Antwort
der Schönheit von Gottes Gnaden; sie ist die vollkommenste religiöse
Baukunst und enthält die christliche Ästhetik durch ihr Ideal der ob-
jektiven Vollkommenheit. Mehr noch als die Gotik verlangt sie grosse
künstlerische Vortrefflichkeit aller Ausführenden, Begeisterung für das
heilig Schöne und den höchsten christlichen Glauben aller Mitwirkenden.
In ihr kommt zur Erscheinung die Freiheit des Individuums auf Grund
der Harmonie mit den Gesetzen Gottes; ein höheres, architektonisches
Prinzip als dieses ist nicht denkbar. Sie hat alle Mittel für den voll-
kommensten Kirchenstil der Christenheit vereint und fertig hingestellt.
— Die Geschichte scheint ihm Recht zu geben, trotzdem sie äusserlich
auf das Gegenteil hinweist; die historischen Schicksale des Stils in
Frankreich machten es unmöglich, seine Ideale klar zum Ausdruck zu
bringen. Er muss zugestehen, dass die Übertragungen der italienischen
Kunst schliesslich kalt und korrekt geworden sind, die Innengruppierung
unbedeutend, und dass die französische Architektur die Mittel, um religiös
zu wirken, lediglich durch Beibehaltung gotischer Elemente gewonnen
bat. Aber aus Fragmenten, Altarwerken, kleineren Schöpfungen, die
4g Otto HoDseti
ihm wie Modelle für grössere Motive, als Befleie nicht ausgeführter
Entwürfe erscheinen, stellt er eine fortlaufende Reihe von Typen auf,
die ein Bild der virtuellen Entwicklung geben, die Möglichkeit ihrer
Entfaltung, die Ziele ihres Strebens darstellen.
Im Gegensatz zu den Verhältnissen im Westen standen in Deutsch-
land der kirchlichen Renaissance zu Anfang der Bewegung nur wenig
künstlerische Kräfte zur Verfügung. Viel früher und auch viel tiefer
als dort griffen hier die religiösen Kämpfe in das innere und äussere
Leben jedes ernsteren Menschen. Fand die Renaissance im Profanbau
neue Aufgaben und ein überreiches Feld, so bedeutete sie für den Kirchen-
bau um so weniger, gewann in ihm keine Bethätigung. Dass er noch
lange an der Gotik festhielt, ist für ihn nur von Vorteil gewesen; ja
es mag als ein Beweis der Stärke gelten, dass er die neue Formenwelt
nicht sogleich aufsuchte und übernahm, sondern ohne ihr grossen Ein-
äuss zu gewähren auf Konstruktion und Struktur, sie zuerst nur als
dekoratives Element verwendete, um damit den Schmuck zu veredeln
und die freundliche Erscheinung des Werkes zu erhöhen. So war die
deutsche Renaissance keineswegs ein Bruch mit der Vergangenheit,
sondern eine Fortführung, eine Ablösung, eine langsame Veränderung.
Aber gegen Ende des 16. Jahrhunderts geschah, was doch einmal ge-
schehen musste, dass ihre Gleichmässigkeit gestört ward, dass nicht
mehr die mit der Kleinkunst zusammenhängenden, in ihrer Art schaffen-
den Meister bauten, sondern Bau-Meister, die wieder ernster und archi-
tektonischer dachten und arbeiteten. Die italienische Spätrenaissance
wurde zum Vorbild genommen ; zahlreiche Architekten aus ihrer Schule
kamen über die Alpen, vor allem brachten die Jesuiten die Lehren ihrer
Theoretiker und die Formen ihrer Künstler herüber. Unter diesen Ein-
flüssen entstand eine Steigerung der Kräfte und Fähigkeiten, erhöhte
sich die Bedeutung ihrer Leistungen, bis in die Zeit vor dem grossen
Krieg. Das Erlernen der fremden Kunst, die sich als so mächtig erwies,
die Beherrschung der italienischen Formen waren die nächsten Aufgaben
und Ziele; aber dahinter regte sich die eigene Arbeit. Die innere Kraft
und Phantasie, welche einst die Gotik ausgebildet, hatten ihre Richtung
behalten und suchten, befruchtet und gestärkt durch die Kunst des
Südens, sich zu bethätigen, um mit ihr aus sich heraus nach eigener
Weise etwas rechtes zu schaffen^).
1) Vorzüglich schildert Gurlitt (Gesch. d. Barocks etc. in Deutschland, S. 33 fg.)
diese aufsteigende Bewegupg, das Bestreben, sich aus den Banden der Kleinkunst
zu befreien, die Bildung fester Schulen, das Auftreten kräftiger Kflnstlererschei-
August Reichensperger und der Kirchenban der Henaissance 49
Da zerriss der Krieg die künstlerische Überlieferung; das neue
Geschlecht verlor den engen geistigen Zusammenhang, ^ihm musste die
Baukunst als vor ihm abgeschlossen erscheinen^. Auf dem Gebiet des
Eirchenbaus macht sich dieser Riss dadurch fühlbar, dass künftighin
überwiegend italienische Formen übernommen und angewendet werden,
bis diese Richtung ihre Befriedigung findet im Barock, in dem Stil der
westeuropäischen Welt. Die Kunst in Süddeutschland mit ihrer rein
sinnlichen Schönheit, die Arbeit im (protestantischen) Mittel- und Nord-
deutschland mit ernsteren Bildungen haben beide noch hohe Leistungen
aufzuweisen. Bei der ersteren regt sich unter ihrer Pracht und Festes-
stimmung oft eine leidenschaftliche Erregung der Seele, welche im
äusseren Leben sich zuweilen zu einer fast mittelalterlichen Bussfertig-
keit steigerte. Indessen eine abgeklärte, tief religiöse Empfindung offen-
bart sich nur in vereinzelten Erscheinungen. Nicht unbegründet ist die
Annahme, dass die Kräfte und Formen, die dem religiösen Bewusstsein
einen würdigen künstlerischen Ausdruck schaffen sollten, in der Ent-
wicklung begriffen waren, allein durch gewaltsame Bewegungen, äussere
Schicksale verhindert wurden, in gemässer Weise sich auszubilden. Aber
gerade die Notwendigkeit einer blossen Annahme bedeutet die Schwierig-
keit in dieser wichtigen Frage. Denn eine umfassende Würdigung der
Leistungen der kirchlichen Renaissance in Deutschland liegt nicht vor;
fehlen doch schon genauere Aufnahmen und Publikationen. Es sei ge-
stattet zu erwähnen, wie Gurlitt auf die Bedeutung des gleichzeitigen
Profanbaus hinweist und die beginnende Durchbildung eines wirklich
eigenartigen Darstellungsvermögens unter anderem in den Schöpfungen
des Elias HoU und am Nürnberger Rathaus deutlich vorauserkennen
will. Indessen wird eine Analogie im Kirchenbau schwer zu finden sein.
VI.
Die italienische Renaissance hat in ihrer Blut« im Centralbau die
ihrer geistigen Grundlage angemessenste architektonische Kunstform zu
hoher Vollendung entwickelt und damit zugleich eine ihrem Leben ent-
sprechende, ihres Geistes würdige Kirche geschaffen. Die folgende Zeit
hatte dies Vermächtnis zu verwerten, allein unter ganz veränderten Be-
dingungen, was angesehen werden darf als notwendige Folge des neuen
Lebens, welches ihr Volk vor anderen Völkern zuerst durchlebte. Für
nangen, die Anfänge einer ins Grosse strebenden monumentalen Kunst. Was er dort
mehr von Profanbau sagt, lAsst auch fOr die Entwicklung der Kirche vieles und
wichtiges erkennen.
NKIR HRIDRLB. .TAIIRnilRCTIKK XI F.
50 Otto Honseil
die Länder des Nordens und Westens aber, die die Renaissance über-
nahmen, ergiebt sich, dass auf dem Gebiet des Eirchenbaus ihre Bau-
meister jene eigentümliche Formenwelt der Italiener nicht zu meistern
verstanden, sie in charakteristischer Weise zu verwerten keine Anlage
und Fähigkeit besassen und, abgesehen von seltenen Ausnahmen und
vereinzelten hohen Leistungen, aus dem Derivat eines Derivats Eigen-
wertvolles nichts hervorbringen konnten. Beden wir allein von der
zweiten Periode der Renaissance, die die Resultate der Spätrenaissance
Italiens und derjenigen des Auslandes zusammenfasst, so ist zu sagen,
jass es ihr nicht vergönnt war, ein Gotteshaus zu schaffen.
Ihre Kultur bot auch nicht die Grundlage dafür ; sie, von unserem
ganzen Leben unzertrennlich, hat es mit sich gebracht, dass die Renais-
sance im Eirchenbau eine Unmöglichkeit zu lösen unternahm. An ein
Unvermögen des künstlerischen Stils an sich ist alsdann erst in zweiter
Linie zu denken. Es war der Eirchenbau für die Renaissance, und ganz
besonders far die deutsche, das schwierigste Problem, die schwierigste
Leistung. Nicht nach den Ergebnissen allein darf sich hier das Urteil
richten, sondern auch nach der Aufgabe, nach dem Verhältnis ihres
Inhalts zu ihrer Lösbarkeit und zu der aufgewendeten künstlerischen
Arbeit. Nach heutigem Massstab darf die Eritik ihre Schöpfungen
nicht messen, es sei denn, dass ihre praktische Verwendung für eine
neue Anlage in Frage steht.
Bei dieser Auffassung ist die Berechtigung eines Vorwurfs, die
Renaissance habe ein Eultgebäude, eine Eirche nicht schaffen können,
ganz ausgeschlossen. Der arbeitende Eünstler wird ihn immer wieder
erheben, der es an sich spürt, dass die Formen sich seinen Ideen nicht
fügen, die sich doch so lange fügen mussten und oft nichts Ernstes und
Wahres bedeuteten; der gelehrte Forscher mag ihn aussprechen, dem
ebenfalls die künftige Entwicklung am Herzen liegt. Geradezu wertlos
aber und nichtig wird der Vorwurf, ausgedehnt auf die Baukunst Italiens.
Sie ist wie das Leben, das sie begleitete, so natüriich, so konsequent
und notwendig erwachsen aus dem Boden, worauf sie stand, und aus
seinen Menschen. Endlich aber — das ist der Eern der Anschauung
Reichenspergers — der Renaissance entgegenhalten, sie habe in der Sorge
um die Wiederbelebung der Antike die Ideen der mittelalterlichen Eirche,
die doch wahrlich nicht dieselbe Eine bleiben sollte, samt ihren Dogmen
und Offenbarungen, Hoffnungen und Verheissungen nicht mehr wie die
Gotik „zum Ausdruck gebracht*', dass heisst die Gotik schier um die
Hälfte ihres Werts herabsetzen und die Eultur von vier Jahrhunderten
August Reichensperger und der Kirchenbau der RenaisBance 51
für nichtig erklären. Nicht die Kunst allein und nicht das Leben,
nicht dies oder jenes allein trifft überhaupt ein Vorwurf. Ferner aber,
eine Anklage der Art, die Renaissance habe keine „heiligen Formen",
keinen sakralen Stil ausgebildet, verliert überhaupt jeden Boden. Denn
es heisst, einen so fertigen Begriff des Heiligen mitbringen, wie es doch
weder in zwei Religionssystemen noch in zwei Empfindungen gleich
vorhanden ist; und darnach ein Kunstwerk oder gar eine ganze Kunst-
gattung allein beurteilen, bedeutet: einen Massstab an sie anlegen, dem
sie sich völlig entzieht.
Es ist mit Schärfe hervorgehoben worden, dass Reichensperger eine
erfolgreiche Erneuerung der Qotik basieren will auf die Wiederherstellung
ihrer mittelalterlichen religiösen Grundlage; »die Kirche* von heute
steht aber und blribt auf einem anderen Boden als früher. Nicht ein
Schluss aus diesem Satze ist die Behauptung, dass die Zukunft mit der
Ootik ihre Kirchen nicht wird bauen können. Man hat es seither immer
wieder mit ihr versucht. Die deutsche Renaissance hielt an ihr fest,
nnd das lieferte vielfach gute Ergebnisse. In der Zeit, in der Reichen-
sperger wirkte, hielt man den gotischen Stil far den einzig kirchlichen
und verwandte ihn darum zu Kirchen vorzugsweise. Davor liegt noch
eine merkwürdige Strömung der Romantik, der Wahn Schinkels, die
Ootik, „der ergreifendste Stil deutscher Bauart*', sei im Mittelalter
nicht zu «völliger Vollendung'' gelangt und diese sei durch eine Wieder-
geburt aus dem griechischen Oeist heraus zu bewirken. Die Frucht
der ernsteren Bestrebungen seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts war
wenigstens der Beginn der genaueren Erkenntnis, wie die alten Meister
die Kirchen gebaut haben. Dass man die daraus gewonnene Kraft in
Nachahmungen erprobte und vermehrte, war natürlich; dass es schöne
Versuche blieben, ebenso. Von jener Erkenntnis aus aber werden neue
Versuche im Kirchenbau ausgehen.
Es stehen hier auch ganz andere Schwierigkeiten im Wege als
zuvor. Die gewaltige Formensymbolik, durch welche die mittelalter-
liche Kirche so enge verwachsen war mit der Darstellung der Religion,
belebt das katholische Kultgebäude nicht mehr wie einst; von der pro-
testantischen Kunst wurde sie aus dogmatischen Gründen bereits im
Anfang vollständig aufgegeben (Schlosskapelle in Torgau). Die Kirche
war ehedem das ,»Haus Gottes*, die irdische Stätte der Hostie, das
Behältnis des höchsten Wunders. Luthers Religion verändert ihren
Wert : sie ist ein Haus der Vereinigung religiös empfindender Menschen,
die Stätte der Vertiefung in die Worte der Schrift, der Ort der Er-
52 Otto Uonsell
hebung in dem Gefühl der Gemeinschaft und der Nähe iiires hohen
Stifters. Von allen diesen Elementen hätte wohl am ehesten das letzte
befruchtend auf die Kunst wirken können (und hat es zum Teil auch,
besonders in der Umgebung des Pietismus um die Wende des 17. und
1 8. Jahrhunderts) ; es birgt zunächst eine tiefe Empfindung der Seele,
enthält aber einen Wert, dem auf der anderen Seite ein künstlerischer,
gerade ein architektonischer, entsprechen könnte ; es erweckt ein schwe-
bendes Gefühl des Raumes und der Höhe, das sich in keine der früheren
Formen kleiden möchte.
Eine der gotischen Hoheit und Geschlossenheit entsprechende kirch-
liche Baukunst wird erst wieder in die Erscheinung treten können, wenn
ein neues, ebenso hohes Gottesbewusstsein sich entwickelt hat. So lange
bleiben alle Bildungen ein Zurückversetzen, ein Stillstehen. Inzwischen
werden auch die Vorwürfe weiter dauern. So lange aber auf dem Ge-
biet der Profanmonumentalkunst die Renaissance nicht überwunden ist
und man mit äusserstem Hass oder äusserster Liebe zu ihr steht, haben
wir auch noch kein objektives Verhältnis zu ihr gewonnen, zum Geist
der Renaissance ebenso wenig wie zur Persönlichkeit Luthers.
Ein bestimmt entwickeltes religiöses Bedürfnis einer grösseren All-
gemeinheit: das ist die Voraussetzung für die Blüte der kirchlichen
Baukunst. Ohne diese findet sie sich immer in einem Zwiespalt und ist
sich selbst ein Widerspruch. Damit sind aber grosse Einzelleistungen
nicht ausgeschlossen. Mehr als anderwärts erhebt sie sich über der
zusammenhängenden inneren Arbeit vieler. Die Baukunst haftet an der
Erde und ihren Stoffen wie keine andere, nur langsam verändert sie
eine Form ; und gerade bei der kirchlichen Architektur wird erst hinter
der subjektiven Vollendung die objektive Gestaltung möglich, sie er-
scheint nicht im Augenblick der inneren Vollendung. — In dieser Hin-
sicht mag der Kirchenbau als ein Problem gelten, dessen Lösung dem
innersten Bedürfnis des Menschen am nächsten steht.
Oder er müsste aufhören, einen Sinn zu haben, aufhören zu sein.
Es bedarf zum Ende noch einer Fixierung, die erst jetzt ihre Be-
rechtigung erhalten hat. Bei der vorliegenden Frage lässt sich nicht
umgehen, für die Beziehungen des religiösen Lebens zum künstlerischen
Schaffen bestimmte Bezeichnungen zu gebrauchen : es war die Rede von
Formen Symbolik, von der Verkörperung einer Empfindung, von dem ent-
sprechenden Ausdruck einer religiösen Bewegung im Kunstwerk.
Nichts liegt mir ferner, als zu meinen, diese Bezeichnungen sollten
irgend etwas mehr als andeuten, abkürzen. Diese Ausdrücke benennen
August Reichensperger und der Eircheobau der RenaisBance 53
Dur zwei Enden, sie schlagen Brücken von einer Höhe zur anderen.
Was in der Tiefe liegt, was sie verbindet, wir wissen es nicht; allein
es widerstrebt uns zu glauben, dass es ein Nichts sei, man müsste sonst
am Ende leugnen, dass ein Zusammenhang bestände zwischen Kunst
und Leben. Jene Worte lassen aber diesen zu gewaltsam erscheinen,
zu bestimmt, zu unmittelbar. Zwischen der Absicht, einer religiösen
Empfindung Gestalt zu verleihen, und dem bestimmten Drang, diese
Gestalt ans Licht, in die Wirklichkeit, in die Erscheinung zu f&hren,
liegt jene Tiefe, wo sich durch die Menschenseele hindurch vereinigt,
was der Glaube erschaut und ersehnt, und was die Kunst sieht und will.
Stift Neuburg.
Von •
Ernst Tranmann.
Das Auge des Wanderers, der auf der Landstrasse von Heidelberg
aus gegen Osten schreitet, wird schon aus der Ferne von einem hellen,
stattlichen Gebäude angezogen, das, zwischen dem Harlass und Ziegel-
hausen etwa dem Eönigstuhl gegenüberliegend, aus langer Fenster-
flucht von einem Hügel des rechten Neckarufers in das Thal hernieder-
schaut. An das rechtwinkelige Haus — mit der einen Front nach
Süden, mit der anderen nach Westen gerichtet — schliesst sich, mit
Dach und Turm es überragend und massig vorspringend, ein epheu-
bewachsenes Eirchlein an, das dem Ganzen sein freundlich-ernstes Ge-
präge giebt. Ein Bild des Friedens, ebenso reizvoll am frühen Morgen,
wenn die ersten Strahlen der Sonne über dem Flusse zittern, wie am
Abend, wenn sich die Schatten der Berge in das Thal senken. Es ist
das Stift Neuburg. Auf ihm hatte das Auge Goethe's geruht, als er
auf der Reise in die Schweiz im Jahre 1797 von Sinsheim aus am
27. August schrieb : „Aus Heidelberg um sechs Uhr, an einem kühlen
und heiteren Morgen. Der Weg geht am linken Ufer des Neckars
hinaus zwischen Granitfelsen und Nussbäumen. Drüben liegt ein Stift
und Spital sehr anmutig. "" Der Dichter ahnte damals nicht, dass dieser
Ort einmal durch nahe Freunde, die hier seinen Geist und sein An-
denken pflegten, zu einer Wallfahrtsstätte für spätere Generationen
werden sollte. ^
Eine Gründung des Klosters Lorsch aus dem 12. Jahrhundert,
später ein Stift für adelige Fräulein, im 18. Jahrhundert zuerst im
Besitze der Jesuiten, dann der Lazaristen — erwarb es im Jahre 1825
der »Rath** Fritz Schlosser aus Frankfurt. Er war, 1780 geboren, der
ältere Sohn jenes Hieronymus Peter, den Goethe ebenso wie dessen
Bruder Johann Georg — der spätere Schwager des Dichters — im
Stift Neuburg 55
12. Buch von „ Wahrheit und Dichtung*' so freundschaftlich erwähnt.
Wie der Vater und OheioQ, so wandte sich auch Fritz der Bechts-
wissenschaft zu, wurde zuerst Advokat in seiner Vaterstadt, dann in
der primatischen Zeit Stadt* und Landgerichtsrat daselbst, späterhin
Oberschul- und Studienrat, zuletzt Direktor des neugebildeten Frank-
furter Lyceums — eine Laufbahn, die er seiner hohen, umfassenden
Bildung verdankte. Auch ihm „streckten die Musen willig die Rosen-
hände von den Aktenstöcken', wie Qoethe von seinem Vater sang. Die
Liebe zur Litteratur und zu den schönen Künsten blieb in dieser Familie
heimisch. Als er im Jahre 1816 seine öffentliche Thätigkeit beschlossen —
er hatte noch am Wiener Eongress die Interessen seiner Vaterstadt
einige Zeit vertreten — widmete er sich völlig seinen Neigungen.
Ungewöhnlich sprachkundig — er lieferte z. B. eine Übersetzung von
«Freudvoll und leidvoll'' in 12 Sprachen — bethätigte er sich besonders
in Übertragungen neugriechischer, italienischer und lateinischer Dicht-
ungen. Von seinen Arbeiten verdienen vornehmlich «die Lieder des
heiligen Franciscus von Assisi** (1842) und «die Kirche in ihren Liedern
durch alle Jahrhunderte** (1852) erwähnt zu werden. Seit 1809 mit
Sophie Dufay in glücklichster, wenngleich kinderloser Ehe vereinigt,
war er mit seiner ernsten, ihm durchaus gleichgesinnten Lebensgefährtin
im Jahre 1814 zum Katholizismus übergetreten — ein Ereignis, das
Julius Frese in der biographischen Einleitung zu seiner trefflichen
Publikation der „Goethe-Briefe aus Fritz Schlosser*s Nachlass**, abge-
sehen von dessen eigener Qeistesrichtung, teils aus Einflüssen Christian
Schlosser's, des schwärmerisch angelegten jüngeren Bruders, vielleicht
auch Clemens Brentano*s, teils aus dem romantischen, der Vergangen-
heit zugekehrten Zuge jener Zeit erklärt. In seiner Denkweise änderte
dieser Schritt nichts. Sein Ausspruch: ,,der Gläubigste ist auch der
Duldsamste* charakterisiert ihn in seiner ganzen Milde und Weitherzig-
keit. Nirgends aber tritt uns seine Güte, seine Gewissenhaftigkeit, seine
Freundestreue und Hilfsbereitschaft so leuchtend entgegen als in seinem
Verhältnis zu Goethe. Zu ihm blickte er zeitlebens auf: ^Von unserer
Kindheit an^, so schrieb er nach des Dichters Tode an Sulpiz Bois-
seree, „hatte Goethe*s Gestirn mit immer gleichem Glänze über uns
gestrahlt; Generationen waren neben ihm aufgeblüht und dahin gewelkt,
manches schön aufstrebende Talent, manches reiche Gemüt hatte sich
wenigstens in Perioden der Entwicklung an ihn gerankt und seine Ein-
wirkungen aufgenommen — und wie manche der uns Teuersten unter
diesen deckt längst das Grab, während wir uns gewöhnt hatten, dem
56 Ernst Traumann
alten Heros gewissermassen eine Art physischer Unsterblichkeit bei-
zulegen. In ihm und dem im verflossenen Jahre geschiedenen Minister
V. Stein starben die beiden kräftigsten Heldennaturen, die mir im Leben
begegnet.^ Die von den Eltern überkommene Freundschaft hatte durch
Goethe's Weggang nach Weimar (1775) keine Änderung erfahren. Im
Jahre 1797 ward sie, als Qoethe mit Christiane und August in Frank-
furt weilte, erneuert. Der Dichter hat es seinen dortigen Freunden
niemals vergessen und stets mit rührender Dankbarkeit vermerkt, dass
sie sowohl damals als späterhin seiner Frau (1807 und 1808) und seinem
Sohne (1805) die gastlichste und ehrenvollste Aufnahme bereiteten. Drei
Frankfurter Familien vornehmlich sind es, in deren Freundschaft wir
das Band erkennen, das Goethe in seinen späteren Jahren mit seiner
Vaterstadt verknüpfte : Schlosser, Willemer und Brentano. Sie bildeten
den festen Stamm der kleinen Gemeinde, die Frankfurts grössten Sohn
schon zu Lebzeiten voll zu würdigen wusste. Mit dem Tode der Frau
Rat, 1808, wurden die Beziehungen des Dichters zu Fritz Schlosser
noch enger und stetiger. Goethe trachtete sein Erbteil, das lediglich
aus Immobilien bestand, wenig eintrug, dagegen in den Eriegsjahren
mit schweren Abgaben belastet war, an sich zu ziehen und des Frank-
furter Bürgerrechts, das ihm nur materielle Nachteile brachte, entbunden
zu werden. In den Verhandlungen mit den Behörden, die sich bis zum
Jahre 1817 hinzogen, war Schlosser der Sachwalter Goethe's. Seine
ausführliche Denkschrift über diese Angelegenheit, die bekanntlich keinen
Buhmestitel für die Stadt Frankfurt bedeutet, ist uns erhalten. Ausser
den geschäftlichen Beziehungen — Schlosser besorgte für Goethe nicht
nur die Verwaltung des in Frankfurt liegenden Vermögens, sondern
auch den Einkauf von Waren und Kunstgegenständen, so dass wir ihn
in ständiger Verrechnung mit dem Dichter finden — verbanden die
beiden Männer die regsten geistigen Interessen. Schlosser liefert dem
Dichter das gewünschte Material zu „Dichtung und Wahrheit': Die
Frankofurtensien seines Vaters, die ersten Jahrgänge der , Frankfurter
Gelehrten Anzeigen", eine Übersetzung des Jordanus Brunns, ja sogar
Becher und Stäbchen, wie sie dem Schultheiss beim Pfeifergericht über-
geben wurden; für die Farbenlehre verschafft er ihm den Telesius.
Goethe übersendet die fertigen Bände seiner Selbstbiographie, später die
„Rhein- und Mainhefte'' u. A. m. Die künstlerischen Bestrebungen der
Zeit, insbesondere die der deutschen Kolonie in Rom, werden eifrigst
besprochen. Den Höhepunkt bilden die Jahre 1814 und 1815: Goethe
besucht nach 17jähriger Abwesenheit seine Heimat wieder. Vom 25. bis
Süft Nouburg 57
29. Juli wohnt er in Schiosser's Hause, desgleichen — nach dem Auf-
enthalt in Wiesbaden und am Bhein — vom 10. bis 24. Sepsember.
An diesem Tag begleitet ihn Christian Schlosser nach Heidelberg. Das
nächste Jahr sieht dei> Dichter wieder in der Vaterstadt. Nach der
Kur in Wiesbaden und der teilweise in Begleitung des Freiherrn v. Stein
und E. M. Arndt's unternommenen Rheinreise trifft er mit S. Boisseree
am 12. August in Frankfurt ein. Aber sein jetziger Aufenthalt steht
im Zeichen Snleika-Mariannens. Nur vorübergehend besucht er das
Schlosser'sche Haus. Er wohnt auf der Gerbermühle bis 8. September,
dann eine Woche im „Roten Männchen^ in der alten Mainzergasse,
dem Stadthause Willemer's, um nochmals für vier Tage auf die Gerber-
mühle zurückzukehren. Es war Goethe*s letzter Aufenthalt in Frank-
furt. Im Oktober 1820 besucht das Schlosser*sche Ehepaar den Dichter
in Weimar, der in den Annalen bemerkt: „Die lieben Verwandten, Rat
Schlosser und Gattin, hielten sich einige Tage bei uns auf und das
vieljährig thätige freundschaftliche Verhältnis konnte sieh durch persön-
liche Gegenwart nur zu höherem Vertrauen steigern.^ Der Briefwechsel
mit Schlosser dauert nahezu bis zum Tode des Dichters. Er zeigt uns
diesen in seinen liebenswürdigsten Eigenschaften, dankbar für jeden
Dienst, voll Interesse für die Angelegenheiten und das Schicksal seiner
Freunde. Lebhaft beschäftigt ihn auch die politische Weiterentwicke-
lung seiner Vaterstadt. Wie innig spricht sich oft die Sehnsucht nach
dem Frankfurter Kreise aus (z.B. am 29. Oktober 1817), wie tief
empfunden sind die Worte des Dichters beim Tod der alten Frau
Schlosser (1819)! Nicht minder edel tritt uns das Bild Schiosser's
aus diesen Briefen entgegen. Den getreuen Mann und dessen Ver-
hältnis zu Goethe kennzeichnen am besten die Eingangsworte des Briefes
vom 10. April 1818: «Wäre Ihnen, mein Teuerster, nicht gleich bei
der Geburt die entschiedenste Geschäftsthätigkeit und Festigkeit von
guten Geistern beigelegt worden und hätten sich nicht durch An-
strengung und Fleiss daraus nach und nach alle Tugenden Ihres ewig
verehrten Vaters entwickelt, so dass Sie mehr für Andere als für sich
im Leben zu handeln geneigt, ja genötigt sind; ich wäre bei jeder
neuen Sendung betroffen und beschämt, welche Mühe bis ins Einzelne,
Kleinste meine, obgleich nicht höchst wichtigen Geschäfte Ihnen ver-
ursachen. Bleiben Sie überzeugt meiner treuesten Dankbarkeit und fahren
fort, bis sich dann doch zuletzt dieser Faden nach und nach abspinnt.*'
Der letzte Brief Goethe*s an Schlosser (vom 28. Mai 1830) ent-
hält den Dank des greisen Dichters für die Sendung einer Abbildung
58 Ernst Traumann
von Stift Neuburg, «der ernst-heiteren Wohnung und der unschätzbaren
Gegend^. Hier verflossen dem Rührigen — Schlosser starb 1852, seine
Gattin 1865 — die Jahre teils in stiller Gelehrten- und Sammlerarbeit,
teils in angeregtester Geselligkeit. Ausser dem ausgedehnten Frank-
furter Verwandtenkreise verkehrten auf dem Stift die Häupter der
katholischen Partei ebenso freundschaftlich wie die grossen Protestanten
Stein, W. von Humboldt u. A. m. Auch Goethe's Enkel wohnten oft-
mals auf dem Stift. Nach ihnen ist das „Goethezimmer^ des Hauses
benannt. Das Äussere des ehemaligen Klosters liess Schlosser unver-
ändert, dagegen schuf er aus den früheren Zellen wohnliche Zimmer ;
das einstige Refektorium wurde zu einem grossen Saal umgewandelt,
die Kirche von dem Karlsruher Hübsch im gotischen Stile derart
restauriert, dass sie, mit dem oberen Geschoss auf gleichen Boden ge-
bracht, im Chor die Kapelle, im Schiff den grossen Raum enthielt, der
Schlosser's Kunstschätze barg. Von dem damaligen Leben auf dem
Stift hat uns eine Augenzeugin, Emilie Kellner, geb. Andreae (Goethe
und das Urbild seiner Suleika, Leipzig 1876), eine anmutige Schilderung
entworfen: Wie früh morgens 7 Uhr die Glocke in die Hauskapelle
zur heiligen Messe rief, die der Geistliche vom nahen Ziegelhausen las;
wie die würdige Frau Rat Schlosser in einfachem Morgenüberrock und
dickgarniertem Tüllhäubchen den Kaffee bereitete und ihre Gäste be-
diente; wie man sich in den Nachmiltagsstunden in der herrlichen
Umgebung, sei es nach der Brunnenstube zu, sei es drüben nach
dem Wolfsbrunnen und Schloss, erging und des abends zu geistvoller
Unterhaltung um den Theetisch im grossen Wohnzimmer wieder ver^
sammelte.
In der Gestalt, worin Schldsser das Stift seinen Erben hinterliess,
erblicken wir es auch heute noch. Wieder treten wir zunächst in den
weiten Hof mit seinen herrlichen alten Bäumen. Noch schliessen sich an
das Herrenhaus die ehemaligen Ökonomiegebäude. Wir treten ein und
die alten Korridore und Treppenwände umfangen uns. Wir steigen
empor. Wohl sind die hängenden Schlingpflanzen und die Glaskästen
mit den ausgestopften Tieren verschwunden, aber Gypsfiguren schauen —
neben neueren Stichen und Photographien — ebenso ernst von den
Wänden wie zu Zeiten des Herrn Rat. Ein grosses Wohnzimmer nimmt
uns auf, ein langgestreckter Raum. Durch das Balkonfenster blicken
die ehrwürdigen Bäume des Parkes, der Springbrunnen murmelt. Wir
sehen uns staunend in dem dicht bestellten, behaglich-reichen Gemache
lim. Wohin, in welche Zeit sind wir geraten? Hier grüsst uns die
Stift Neuburg 59
grosse Zeichnung Krelings, Faust im Studierzimmer, dort ein Steinle,
Overbeck's und Cornelius' Selbstportr&ts auf Einem Blatt; Alfred Rethel,
Schraudolph, Jos. Anton Eocb, Kaulbach mit der prächtigen Zeichnung :
„Unter der Linden-Tandaradei*" schliessen sich an. Über derThüre ein
grosser Schwind, uns umwittert der Qeist jener Zeit, der die Brüder
Christian und Fritz in seinen zauberischen Bann zog. Nazarener und
Romantiker blicken uns aus tiefen Schwärmeraugen an. Daneben das
schmale Bibliothekzimmer. An langen Wänden die Bücherreihen. Am
Ende des Zimmers ein gotischer Erker ; durch giBmalte Scheiben schim-
mert der grüne Park. Vor dem Seitenfenster eine Staffelei: Ooethe's
Bildnis, von Gerhard von Kügelgen gemalt, das Kleinod des Hauses.
Der Dichter hatte es im Jahre 1810 nebst dem geschnitzten Rahmen
eigens für Fritz Schlosser anfertigen lassen, um ihm «für so viel Liebe
und Treue auch endlich einmal etwas Erfreuliches zu zeigen*. Darüber
das Konterfei Goethe's aus der ersten Weimarer Zeit von Melchior
Krauss: der Dichter (im Profil) den Schattenriss der Frau von Stein
betrachtend. Ist es die Scene in Pyrmont, als er ihr Porträt zum
ersten Male erblickte und darunter die ahnungsvollen Worte schrieb?
,Es wäre ein herrliches Schauspiel zu sehen, wie die Welt sich in
dieser Seele spiegelt. Sie sieht die Welt wie sie ist, und doch durchs
Medium der Liebe.*' -- Und siehe! hier in der Fensternische das kleine
Bild einer freundlichen Greisin. Unter der Spitzenhaube quellen Löck-
chen hervor, helle Augen blicken uns sinnend an, anmutig lächelt der
Mund und unter dem immer noch rundlichen Kinn schliesst sich die
breite Bandschleife. Wahrlich, sie ist's : Suleika-Marianne ! Wir denken
ihrer Besuche in Heidelberg. Zuerst jener hochbewegten Septembertage
des Jahres 1815, da durch die Liebe des Dichters ihr tiefstes Wesen
aufgeschlossen war und die Neigung zu ihm sie selbst unsterbliche Töne
finden liess. Das holde Geheimnis des Divans! Gemeinsam erblicken
wir sie vor dem Baum der Gingko biloba, dem Sinnbild ihres Doppel-
lebens; sie stehen „an des lust'gen Brunnens Rand** und der Dichter
zeichnet die Chiffre der Geliebten in den Boden ; sie verabreden, in der
nächsten Vollmondnacht, wenn auch räumlich getrennt, so doch im
Geiste sich nahe zu sein. Dann das Jahr 1824, als sie im August
Heidelberg wiedersah, der Tiefbewegten die heiligen Erinnerungen
heraufstiegen und sie dem Dichter schrieb : „Gedenken Sie meiner, und
in Liebe; dass ich Ihrer gedenke, möge Nachstehendes beweisen, so wie
dass die schönste Gegend immer eine fremde bleibt, wenn nicht durch
Liebe und Freundschaft sie heimisch geworden ; wo fände sich für mich
60 Erost Traiimann
eine schönere als Heidelberg!*^ Beigelegt war ein Landschaftsbildchen
mit einem Motiv aus der Umgebung des Schlosses und jener Hymnus
mit dem Datum des Geburtstags Goethe's:
„Euch grüss' ich weite, lichtumfloss'ne Räume^ — worin sie, in
die Betrachtung der teuren Erinnerungsstätten versunken und umklungen
von den Tönen des Divans, Vergangenheit und Gegenwart in wehmuts-
voll süssem Traume verschmilzt. Oft und gerne hat Marianne auf dem
Stift Neuburg geweilt. Dreimal, so viel wir aus Creizenach's rühmlich
bekanntem Werke ersehen, schrieb sie darüber an Goethe. Am
2. September 1828: „Auf dem Schlosse in Heidelberg habe ich wieder
guter Zeiten gedacht, und ich muss es mit zu den Ereignissen meines
Lebens zählen, dass ich so oft und immer wieder dahin komme, wo ich
zu so verschiedener Zeit und Gemütsstimmung war. Bei Schlosser, wo
wir uns einen Tag aufhielten, sah ich Tieck.* 1829, wiederum in den
Septembertagen — waren diese ihrer lieben Erinnerungen wegen ab-
sichtlich als Besuchszeit von ihr gewählt? — berichtet sie: «Den
30. (August) kamen wir nach Heidelberg und blieben bis zum 3. Sep-
tember; nur den ersten Tag war es möglich, einen Fuss vor die
Thüre zu setzen, die übrigen verstrichen so gut es gehen wollte, doch
ist es auch im Begen schön auf dem reizenden Stift; das Schloss habe
ich diesmal nicht besucht, an dem Hause, wo Boisseröe wohnte, gingen
wir vorüber, ich konnte mir nicht versagen, die Thüre zu öffnen und
tynein zu sehen." Unterm 17. Dezember 1831: «Nur so viel, dass ich
mit Professor Creuzer bei Schlosser's auf dem Stift Neuburg, wo ich
wohnte, viel von Ihnen sprach, und dass Ihrer herzlich und liebevoll
gedacht wurde." Augenzeugen haben über diese Besuche berichtet. Am
Eingehendsten Emilie Kellner. Vom 21. Juli 1857 zeichnet Johannes
Janssen (Creizenach S. 339) auf: „Stift Neuburg. Grossmütterchen
allerliebst. Ich lese ihr^eine Übersetzung eines kleinen Gedichts aus
dem Spanischen vor; — ihre schelmischen Neckereien. Wir sassen
wohl zwei Stunden am Brunnenstübchen und ihr Herz ging voll auf
im Andenken an Goethe. Auf dem Rückwege erzählte sie mir, dass
das Gedicht »Ach, um Deine feuchten Schwingen" von ihr sei und
dass sie davon noch das Original besitze mit den Verbesserungen und
Veränderungen Goethe's.* Sinnig, wie ihr ganzes Wesen war, und
rührend ist ihr letzter Abschied von Stift Neuburg und Heidelberg.
Schon ist sie unterwegs, da fällt ihr ein, dass sie ein Häubchen ver-
gessen habe. Sie lässt den Kutscher umkehren, doch sie besinnt sich
anders : das Vermisste soll als Pfand zurückbleiben, dass ihr die Bück-
Stift Neubnrg 61
kehr gesichert sei. Es sollte nicht sein , am 6. Dezember desselben
Jahres, 1860, ist sie, sechsundsiebzigjährig, entschlafen. Der Geist des
y, Grossmütterchens*' aber umschwebt, ein freundlicher Genius, heute
noch die gastlichen Räume des ihr einst so teuren Hauses. . . . Wir
überschreiten den Korridor und treten in die Kapelle ein. Sie ist auch
jetzt noch geweiht und wie ehemals liest der Geistliche von Ziegel-
hausen von Zeit zu Zeit hier die Messe. Durch die hohen Bogenfenster
nicken die alten Bäume des Parks. Auch ist das Schiff der Kirche
wieder zum Museum bestimmt. Hier hat der Vater des jetztigen Be-
sitzers die Schätze untergebracht, die er auf seinen Reisen erwarb,
reichgeschnitzte Renaissanceschränke, antike Töpfereien, Waffen u. dergl.
Die Wände schmücken u. A. Gemälde alter Frankfurter und Heidel-
berger Meister, darunter ein Fries und Fohr. Hier steht auch der
schwarze Kasten mit der silbernen Aufschrift : Goetheana. Der Besitzer
öffnet ihn. Mit ehrfurchtsvoller Scheu erkennen wir die Handschrift
des Dichters, der Frau Rat. Wir halten einen Brief in der Hand, den
Fräulein von Klettenberg (1773) zur Vermählung der Cornelia Goethe
mit Job. Georg Schlosser schrieb. Julius Frese hat den ganzen Briefe
schätz veröffentlicht : Ausser den besprochenen Briefen Goethe's an Fritz
Schlosser das herrliche Schreiben des Dichters an seine Mutter aus
Italien, Briefe Goethe's an Schlosser's Bitern, der Eltern Goethe's an
Hieron. Schlosser, Briefe August's von Goethe und des Kanzlers
von Müller an Fritz Schlosser und schliesslich die stattliche Anzahl
der Briefe des jungen Goethe an Sophie von Laroche (1772—75) —
Alles in sauberen Umschlägen von der pietätvollen Hand des Herrn
Rat wohl geordnet. Keine würdigere Stätte hätten diese Reliquien
finden können als diesen hellen, weiten Kirchenraum. Ein hohes Fenster
öffnet sich gegen Westen. Vor uns steigt über Felder und Obstbäume
hinweg der waldige Heiligenberg auf, unten fliesst der grüne Neckar,
die Stadt verbirgt sich hinter dem jenseitigen Hügel, völlig abgeschieden
von der Welt erscheint hier das Stift.
„Wenn man so in sein Museum gebannt ist^ — mag man wohl
gerne die Trennung von der lauten Welt ertragen und sich wunschlos
dieser Einsamkeit erfreuen. Noch durchwandeln wir die Wohnräume
des Besitzers mit ihren ehrwürdigen Familienbildern — darunter auch
das Schlosser*sche Ehepaar — dann gehen wir durch Hof und Garten
nach der hinteren Pforte. Freudig danken wir unserem liebenswürdigen
Wirte, der uns bis hierher geleitet, für die herzerhebende Stunde und
nun treten wir ins Freie. Vom Rebhügel, über den unser Weg nach
62 Krnst Traumann: Stift Neuburg
dem Walde za führt, schauen wir nochmals auf das Stift zurück. Wie
still es zwischen Flnss und Waldthal unter seinen Bftumen ruht! Wie
durch Kunst und Natur dazu geschaffen, teure Erinnerungen an den
zu bewahren, der Beide mit gleicher Liebe umfing. Eine geweihte
Stätte. Denn, ob gleich sie der Dichter selbst nie betreten, klingt hier
nicht überall
sein Wort und seine That dem Enkel wieder?
Nochmals die Relseeindrücko Tom Orossen
St. Bernhard.
Von
Alexander CartelllerK
Mein Hinweis auf die Schilderung (vorgl. Jahrgang XI S. 177 ff.),
die ein englischer Mönch im Jahre 1188 von seinen Erlebnissen auf
dem Grossen St. Bernhard entworfen hat, ist zu einer Zeit, da tag-
täglich jemand in den Alpen abstürzte, freundlicher Beachtung ge-
würdigt worden und hat sogar seinen Weg in die Zeitungen gefunden.
Den Lesern der .Jahrbücher'^ möchte ich nicht vorenthalten, was mir
darüber am 17. 9. 1902 Herr W. A. B. Coolidge, Mitglied der Sektion Wien
des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins, geschrieben hat. Er be-
merkt, dass W. Stubbs, der Herausgeber der von mir angezogenen Quelle,
in seinem am 11. Juni 1878 gehaltenen Vortrage: Learning and Litera-
tnre at the Court of Henry II, abgedruckt in den Seventoen Lectures
on the study of medieval and modern history (in der mir vorliegenden
Ausgabe, Oxford 1887, S. 147), jenen Stossseufzer Johanns von Bremble
englisch wiedergegeben hat. An dieser Stelle war die Notiz dem deut*
sehen Forscher übrigens nur schwer zugänglich. Ausserdem nennt
Stubbs dort seine lateinische Quelle nicht. Herr Coolidge hat jene
Übersetzung im Alpine- Journal, Mai 1887, vol. XIII, p. 271, und den
lateinischen Text teilweise in seinem Buche: Swiss travel and Swiss
Guide-books, London 1889, p. 8, 160, abgedruckt und gedenkt den Ur-
text mit französischer Übersetzung in seinem in Grenoble unter der
Presse befindlichen Werke: Les origines de TAlpinisme zu veröffent-
lichen.
64 Alexander Gartellieri: Nochmals die Reiseeindrücke vom Grossen St. Bernhard
Ich darf hier vielleicht noch den Wunsch anschliessen, dass alle
diejenigen, denen zerstreute Stellen zur Geschichte der Reisen bekannt
sind, solche doch der Vergessenheit entreissen möchten. So ergäben
sich für die älteren Zeiten wertvolle Ergänzungen zu Jacob Burckhards
Viertem Abschnitt in der Kultur der Renaissance.
über das Hagestolzenrecht in Kurpfalz.
Von
Karl Brnnner.
Der Sinn des Wortes , Hagestolz* (ahd. hagustalt, hagastalt) ist
nicht mit voller Sicherheit aufgeklärt. Die Ergebnisse der mannigfach
unternommenen Deutungsversuche sind, wie das Grimmsche Wörterbuch
(IV. 2, Sp. 154) zutreffend bemerkt, „nur die Schattierungen einer nach
und nach verdunkelten Hauptbedeutung, die tief das altdeutsche Bechts-
leben berührt^. Die vorwiegendste Bedeutung, die das Wort nament-
lich späterhin in der Rechtsgeschichte gewonnen hat, ist ohne Zweifel
caelebs, ehelos. Das Hagestolzenrecht beschäftigt sich mit der
Hinterlassenschaft des ehelos Verstorbenen, die wie erbenloses Qut dem
Heimfallsrecht unterliegen soll.
Einen sehr dankenswerten Beitrag ^Zur Geschichte des Hagestolzen-
rechts^ hat unlängst Professor W. v. Brünneck (Halle) in der Zeit-
schrift der Savignystiftung für Rechtsgeschichte, Band XXII, Germa-
nistische Abteilung, S. 1^48, veröffentlicht. Hier ist näher auf die
Entwicklung des Rechtes eingegangen, namentlich auch die Litteratur
umfassend herangezogen. Der Hinweis auf die vortreffliche Untersuchung
überhebt mich aller weiteren Angaben in dieser Richtung.
Der Verfasser hat auch eine interessante handschriftliche Quelle be-
nützt, auf die ich ihn noch während seiner Arbeit aufmerksam machen
konnte. Die Urkunde, die speziell kurpfälzische Verhältnisse betrifi't,
findet sich im Karlsruher G.-L.-Archiv in einer wohl ziemlich gleich-
zeitigen Abschrift (Kopialbuch Nr. 857, fol. 295—299). Als authentische
Interpretation eines im Gebrauch mit der Zeit schwankend und unsicher
gewordenen Rechtes erscheint sie wertvoll genug im ganzen Wortlaut
mitgeteilt zu werden, wie auch die angefühlten praktischen Beispiele
die Rechtsübung in gewissen schwierigeren Fällen, für deren Entschei-
NEUE IIEIDKLB. JAHRRUECHER XII. 5
66 Karl Brunn er
duDg die höchste lustanz angerufen wurde, anschaulich darthun. Die
von W. 7. Brünneck mitgeteilten Citate aus der Urkunde enthalten zu-
dem einige störende Lesefehler, besonders von Ortsnamen, die ihm eben zu
ferne lagen.
«
Der Hauptinstruktion von 1609 stelle ich eine andere ebenfalls be-
merkenswerte Weisung in der gleichen Rechtsfrage vom Jahr 1584 voran
(Karlsruhe, G.-L.-Archiv, Kopialbuch Nr. 855, fol. 31). ^)
1584.
HagenstoUtz.
Amptleuth zu Heidelberg berichten, was ein hagenstoltz
in ehesachen seie.
Mit Bezug auf einen 1583 zu Heiligkreuzsteinach vorgekommenen Fall heisst es:
So uiel dann diesen vnnd dergleichen possessorios actus etc. belangt,
jst es im Ottenwalt vnnd sunsten dieser fauthei Heidelberg also beschaffen
vnnd vblichen herbracht, das, wo mann vnnd weih ehelich zusamen khom-
men vnnd kheine kinder mit einander gewinnen oder aber betten vnnd
die kinder bei lebzeitten jrer der eitern mit todt verführen vnnd der
mann für den weib ohne testament oder vbergab verstürb, so tregt er
das recht eines hagenstoltzs, aber die hinderlassene wittib bleibt bei der
narung vnnd hatt den beysitz jr lebenlang. Do sie aber auch todts ver-
führe, thut man alsdann die verlassenschafft der herrschafft einziehen
vnnd den fall oder casum einen Gottsfall nennen. Was aber doch in
solcher erb- oder verlassenschafft vonn wiederfelligen güetern verfangen,
last man den nechsten agnaten vnnd erben vnuerhinderlich volgen, das
vbrig alles feilet der herrschafft durchaus heimb, es möge dann hierinnen
vff vorbitten vnnd supplicirn ein gnade widerfahren, wie dann verschien-
nen 82. jars zu Waldt Michelbach') sich begeben, das Lorentz Fautli
für etlichen jähren todts verfahren, seine haussfraw bei dem gute jr leb-
tag sitzen blieben, so baldt sie aber auch tödtlich abgangen, seindt nach
ausrichtung der verfangenen wiederfelligen guetter, auch Zahlung der
schulden biss in die 400 fl. vberrestirendt plieben, daruon SOOfl. inn die
landtschreiberei ingezogen, auch verrechnet, die vberigen 100 fl. der freundt-
1) Die Schreibweise der Vorlagen wurde durchweg beibehalten, nur habe ich,
mit Ausnahme von Eigennamen und Satzanfdngen, überall kleine Anfangsbuchstaben
gesetzt.
2) Waldmichelbach in Hessen, Kr. Heppenheim.
IJher das Hagestolzenrecht in Kurpfalz g7
schafft laut beuelchs aus besoudern gnaden vf vielfeltiges anhalten ge-
schenckht worden. Inngleichem hatt sich mit Wendell Degen im stifft
Speier zue Maisch^) ein ebenmessiger aber bastarts fall zugetragen, so
für etlichen jharen verstorben, sein hinderlassene wittib aber zeit ihres
lebens bei der verlassenschafft sitzen blieben, nach ihrem absterben der
fall ererst eingezogen, der wittiben freundtschafft jr wiederfelliges oder
zubrachtes vnnd ein drittigs theil der errungenschafft eingeraumbt worden,
das vbrig guett aber der herrschafft geblieben. Vnnd scheinen diese fäll
gleich wol etwas frembdt, dieweil sie sich seltten zutragen, vnnd nach-
dem dann dis ein gleicher casus, soll dem beuelch vnnd hiebeuor aus-
gangenem decret gehorsaroblich nachgesetzt werden.
Signatum Heidelberg, den 26. Julij anno etc. 84.
Ambtleuth daselbsten etc.
1609.
Beuelch der hagenstoltz wegen ergangen.
Priderich etc.
Liebe getrewen ! Älss jr hiebeuor etliche vnderschiedliche feil vnd
strittige fragen, betreffendt die hagenstoltzerei etc. zu vnserer cantzlei
berichtet, vnd was eigentlich ein hagenstoltz sei, sarapt was vor ein
vnderscheidt vnder denselben freunden vnd geschwisterten, verheurateten
vnd lediges standts etc. zu halten, vmb resolution vnd aussschlag vnder-
thenigst angehalten vnd gebetten, haben wir, was dieser Sachen wegen
vor alte bericht vnd handlungen bei vnserer cantzlei vorhanden, zusamen
suchen, mit vleiss ersehen, vnd was eigentlich ein hagenstoltz sei, was
wir vnd die churf. Pfaltz vf denselben hergebracht, wie fern sich solche
gerechtigkeit erstrecke, was dan auch derentwegen vnnd vf etliche newere
sonderbare berichte fragen zu decidiren sein wolle, reifflich bedencken
vnd erwegen lassen vnd darauf vns nach einkommener relation eines
gewissen entschlossen, wie wir es ins künfftige darmit sowol in eurem
anbeuohlenen ampt Starckenburg als auch dem ampt Heidelberg, ratione
der kellerei Lindenfels, gehalten haben wollen, vnd warnach jr euch vf
zutragende fäll jederzeit habet zugerichten.
Geben diesem nach euch gnediglichen zuerkennen, dass die hagen-
stoltzerei anders nichts ist als eine sonderbare gerechtigkeit, so wir vnd
vnsere geliebte vorfordern, Pfaltzgrauen Churfnrsten etc. christmilter ge-
1) Maisch in Baden, H.-A. Wiesloch.
5*
68 Karl Rronner
dechtnus, als landtsfursten vor vDuerdencklichen jähren im ampt Starcken-
bürg vnd nicht allein in denen dartzu gehörigen vnd jm Odenwaldt ge-
legenen sechs, sondern auch in denen vf der ebene gelegenen dreien
dörffern, die ßieddorflfer genant, als Lorsch,*) Biblis*) vnd Birstatt, ')
dessgleichen auch in deren zum ampt Heidelberg gehörigen vnd im
Odenwaldt gelegenen kellerei Lindenfels vnd dartzu gehörigen dreien
zeutten vf den leibsangehörigen vnderthanen also herbracht vnd ersessen
haben, das wir befugt sindtjn gewissen feilen deroselben verlassenschaflt
gantz oder zum theil nach vnserm belieben als verfallen mit ausschlies-
sung der negsten beiderseits linien freundtschafft, welche sonsten ab
intestato negste erben weren, einzuziehen vnd zuhanden zunemroen.
Jedoch jst diese successions gerech tigkeit nicht simpliciter vnd ohne
vnderscheidt vf alle, sonder vf etliche gewisse feil zuuerstehn vnd hat
in nachuolgenden sechs vnderschiedlichen feilen keine statt:
[1.] Alss zum ersten jst sie vngültig in den stetten, da keine leib-
eigene sindt oder herbracht worden, als zu Heppenheim, Benssheim etc., wie
auch gegen die jenigen, so ausserhalb der stett dess Odenwaldts geboru,
aber darein getzogen vnd durch erbschafft oder fursichtige hausshaltung
etwas an narung für sich gebracht haben, es were dan das sie ein Zeit-
lang ausserhalb der statt vf dem landt gewohnet vnnd als wildtfenge *)
(darauf dan fleissige auffacht gegeben sein will) zu leibeigen gemacht
vnd vfgenommen worden weren.
[2.] Zum andern hat sie auch keine statt bei den jenigen, die sich
verheuratet vnd in die ehe begeben haben, ausserhalb eines fals, wan
nemblich eheleutt ohne erzielung kinder von einander versterben, da das
letzstlebendt ehegemecht den beisitz bei der gantzen narung vnd ver-
lassenschafft sein lebenlang gleichwol behelt, aber nach seinem todt,
vnnd da es auch ohne leibserben abstirbt, die verlassenschafft als dan
der herrschafft als ein hagenstoltz fall allein heimfeit, welches gemeinig-
lich ein gottsfall, wie auch ein hagenstoltzerei in ohesachen genant
würdt.
[3.] Vor das dritte hat diese gerechtsame auch bei denen dieser
orten gesessenen leibeigenen vnderthanen keine statt, welche eintweder
eheliche kinder oder enckel etc. oder auch vatter, mutter, altuatter oder
1) Lorsch in Hessen, Kr. Bensheim.
2) Bibh's, ebenda.
3) Bürstadt, ebenda.
4) Über das kurpfjtlzische Wildfangreoht vgl. Schröders Rechtsgeschichte, S. 7i«^
und besonders S. 825, Anm. 4, wo auf meine einsclilägigen Arbeiten verwiesen ist.
über das Hagestolzenrecht in Kurpfals 69
altniutter etc. verlassen, dan solche eheliche kinder jre vätter, mutter
vnnd andere freundt in vfsteigender linien, wie auch die altern jre Kinder
vnd andere nachuolgende enckel in absteigender linien vermög gemeiner
rechten vnd unserer landtsordnung erben vnd die herrschafft aussschliessen.
[4.J Zum vierten ist solche gerechtigkeit auch in diesem fall nicht
zu exerciren, wan eintweder ein bestendig testament vfgerichtet worden
oder sonst ein ordenliche vff- vnd vbergab der narung ist beschehen,
welche einem letzsten willen gleich gehalten wurdt, jedoch auch darbei
jhre sonderbare requisita hat, so diss orts erfordert werden, vnd ohne
welche sie sonsten nicht bestehen kan, alss, dass die jenige person, so
jre nahrung zuubergeben Vorhabens vnd vber 15 oder 16 jar alt ist,
selbst personlich, guter vernunfft in beisein deren curatoren, mit vor-
wissen jedes orts seienden kellers oder zinssmeisters, vor einem gantzen
gericht oder, da es keinen verzug leiden wolte, vor einem schultheissen
vnd vier gerichtspersonen, ausswendig einigen gebewes, ledig vnd vnder
freiem himmel (es were dan, das die person, so die vbergab thun will,
leibsvnuermöglichkeit halben nicht webern köndte) sein gemüth erclere
vnd die vfgab thue, da dan der Schultheis das erb von dem vbergebenden
theil nimbt vnd es dem erben reicht, gleich wie in kauffen vnd ver-
kauffen beschieht.
[5.] Zum funfften hat diese gerechtigkeit ferner nicht statt, wan
der verstorbene schon weder vatter, mutter oder kinder, jedoch eines
oder mehr ledige vnd noch vnuertheilte geschwisterten, erben den ver-
storbenen ledigen vnuertheilten bruder oder Schwester vermög gemeiner
vnd vnsers landts rechten vnd schliessen die herrschafft auss.
[6.] Zum sechsten begibt sichs offt, das etwan theils verheurate,
theils vnuerheurate geschwisterten von beiden banden in leben vber-
bleiben, vf welchen fall es also herkommen, dass, woferr nur eines
oder auch mehr solcher geschwisterten noch vnuerheuratet vorhanden
ist, dasselbige alle andere geschwisterten, so albereit verheuratet vnd
vertheilt sindt vnd sonsten nichts zuerben hetten, bei der verlassenschafft
mit erhelt, also das sie samptlichen bei dess verlassenschafi't gelassen
vnd diss orts abermals die hagenstoltzerei gerechtigkeit nicht exercirt
kan werden.
Auss welchem allem nunmehr erscheint vnnd klar zu sehen ist, das
in allen vbrigen ausserhalb negst vorgesetzter puncten sich zutragenden
fallen, vnd sonderlich wa dess verstorbenen hinderlassene geschwisterten
verheuratet vnd vertheilet sindt, sie seien gleich von einem oder beiden
banden, mann oder Weibspersonen, jung oder altt, zuuerheuraten taug-
70 Karl Branner
lieh oder nit, vber oder vnnder jren funff vnd zwantzig jaren, wie auch
ins gemein bei allen fernem gradibus ohne vnderscheid keine successio
oder erbschafft vnder verwandten statt hat, sonder aller solcher per-
sonen erbschafften als hagenstoltzer vnns vnd churf. Pfaltz frey vnnd
ledig heimfallen, auch von vnsern vorfordern von vnuerdencklichen jaren
hero eingezogen, ohne was etwan vf der freundt vnd verwandten vnder-
thenigs beschehen ansuchen vnd nach gelegenheit der sachen umbstendt
aus gnaden gegeben vnd geuolgt worden.
Darum ben jr nun ins kunfftig vf zutragende feil euch ohne zweiffei
wol nach dieser vnserer erclerung werdet richten vnd die Sachen deci-
diren vnd schlichten können, oder da je eins oder andern halben mehrer
zweiffei vorfallen solte, es jedertzeit an vns zum aussschlag vmbstend-
lich gelangen lassen.
Vnnd ob wol auch jr der anfangs vermeldten vnderschiedlichen
fragen wegen, so jr zu vnserer cantzlei gelangen lassen, den aussschlag
auss obiger deduction leichtlich selbst finden möchtet, haben wir doch
vmb mehrer gewissheit willen euch vnsere resolution und meinung da-
rüber auch zugleich gnedigst eröffnen wollen.
Vnnd souiel anfenglichs belangt den fall mit Wolff Dollen zu Bür-
statt, ob wol er Doli sich zuuerheuraten in willens gewesen, dasselbig
aber nicht ad effectum kommen, jst er, wofern er weder kinder, altern
noch ledige ohnuerteilte eines oder mehr geschwisterten hinderlassen,
auch von dem seinigen nichts disponirt oder vbergeben hat, vor einen
hagenstoltz zuhalten.
Ferners vnd zum andern betreffendt Laux Dollen gewessenen forst-
knecht zu Bürstatt, jst dahin zusehen, ob ermelter Doli sein weib vnd
kinder vor leibeigene zuhalten oder nicht etc. Dessenwegen nun ercleren
wir vnns dahin, jm fall er, sein weib vnd kinder, ehe er zu diesem
dienst kommen, vnns vnd churfürstl. Pfaltz mit der leibeigenschafft
albereit vnderworffen, sie durch diesen dienst derselben nicht befreiet
worden, da sie aber zuuor vns mit keiner leibeigenschafft verfangen ge-
wesen, sie auch, so lange dieser dienst geweret, darmit nicht zube-
schwören gewesen seien, selten aber nach geendetem dienst, er forst-
knecht, sein weib oder kinder jar vnd tag an orten, da wir die ge-
rechtigkeit hergebracht, gesessen sein oder noch daselbsten sich heuss-
lichen vfhalten, werden sie billich als wildtfenge eingetzogen vnd andern
mit der leibsbeeth gleich gehalten.
Wie es zum dritten mit stieff- auch rechten geschwisterten, wan
die verheuratet oder ledigs standts sinndt, dan auch zum vierten, wan
über das Hagestolzenrecht iu Kurpfalz 71
die altern mit den kindern abgetheilt haben, jtem zum funfften, wan
einer ein altuatter, altmutter etc. verlast, desgleichen zum sechsten, was
für ein vnderschiedt vnder freunden vnd brüedern zuhalten etc.: dass
alles ist auss demjenigen, so oben aussgefürt worden, aller notturfft
nach zuerlernen, das nemlich descendentes et ascendentes den verstor-
benen erben ohne allen vnderscheidt, ob sie miteinander abgetheilt ge-
wesen oder nicht, vnder den coUateral freunden vnd geschwisterten aber
ein vnderscheidt obangedeutermassen zumerken seie.
So ist auch eurer siebenden frage halben albereit oben decidirt,
das die jenigen, so ausserhalb deren orten vnd enden, da diese hagen-
stoltzerei gerechtigkeit gültig ist, geboren vnd daselbsten etwas für sich
bringen, hierunder nicht begrieffen seien, es were dan, das einer her-
nacher sich an solche ortt begeben, da man, wie vorgemelt, dieser ge-
rechtigkeit befugt, ein zeit lang alda sesshafftig gewesen were vnd also
hierdurch mit der leibeigenschafft sich verfangen gemacht hette.
Ferner zum achten vnd letzsten anlangent Hannsen Bollen zu
Biblis verlassenschafft, deren sich Schultheis vnd gericht daselbsten pro
suo interesse anzumassen vnderstehen, weil wir souiel versthen, das er
ausserhalb dem ampt vnder dem ertzstifft Meintz geboren, auch im
ambt sich nicht auffgehalten noch jemals vor einen leibeigenen auff-
vnd angenommen, zu deme auch albereit vor etlichen jaren seine ver-
lassenschafft durch zusehender zeit gewesenen beampten vertheilet wor-
den, als lassen wir es nachmals auch darbei bewenden, das wegen
dieser verlassenschafft mit fernerer anforderung gegen die erben jnge-
standen, hinfuro aber vf dergleichen feil vnd frembd ankommende per-
sonen desto bessere vfsicht gegeben werde. Alss jr auch vnder dato
den 29. Äugusti anno 1607 zwen andere strittige feil zu vnserer
cantzlei berichtet, jst bei dem ersten, den schaffknecht zu Bibliss
Hannss Heblich belangendt, kein zweifei, dass er nicht solte vor einen
hagenstoltz gehalten werden, in ansehen er ledig vnd ohne letzsten
willen vnnd vffgab verstorben, dahero vns seine verlassenschafft ver-
fallen, dieweil wir aber dabeneben berichtet worden, das sein hinder-
lassener Schwester söhn (der sonsten der negste erb were) ein armer
presthaffter mensch seie vnd sich bei seinen freunden in der Wetteraw
vfhalten soll, also seindt wir gnedigst zufriden, thun euch auch hiemit
beuelhen, jhme zu seiner vnderhaltung vf gebüerlich quitung vnd jeder-
zeit glaubwürdige bescheinung, das er noch jm leben sei, jarlichs zehen
oder zwantzig gülden zum höchsten volgen zulassen, das vberige aber
vns einzuziehen vnd gebürlich zuuerrechnen.
72 Karl Brunner: Über das Hagestolzeurecht in Eurpfalz
Den andern fall Georg Helfl'erichs zu Biblis söhn, so von 16 jähren
gewesen vnd ledigs stand ts gestorben, betreffennt, jst es zwar an denie,
das schultheiss vnd gericht der orts sich solcher fäll anzumessen vnder-
sthen vnd vermeinen wollen, wan einer vnder seinen 25 jaren versterbe,
dass desselben negste erben die herrschafft aussschliessen, desswegen sie
sich dan auch vf etliche actus referiren.
Wan nun gleich wol hierinnen von vorigen amptleutten etwas mehr
vfsicht vnd vleiss gebraucht worden sein solte, wir aber diss orts
weniger nicht als zu Lorsch vnd Bürstatt der succession vf den hagen-
stoltzen berechtigt, als wissen wir auch disfals vns vnserer gerechtig-
keit nicht zu begeben, jedoch lassen wir vns gleichwol anjetzt nicht
zuwider sein, weil es strittig vnd biss dahero etwas vngleich obseruirt
vnd gehalten worden sein mag, das mit dem angemassten des verstor-
benen negsten erben Hannssen Geuders hausfrawen gütlich gehandlet
vnd nützliche vergleichung vf vnser ratification getroffen, jns künfftig
aber vnserer obgesetzten erclerung allenthalben nachgegangen werden,
jnmassen wir ein solches auch euch hiemit benelhen.
Welches alles wir euch zu vnserer resolution vnnd ewerer gewissen
nachrichtung zuerkennen geben wollen, mit nachmaligem anbeuelhen,
demselben vf zutragende feil also nachzusetzen.
Datum Heidelberg, den 16. May anno etc. 1609.
Ans ampt Starckenburg.
Derselbe Befehl erging mit einem kurzen Begleiterlass am gleichen Tag auch
an das Amt Heidelberg.
I)a8 Friaiiiel.
Beiträge zur Volkspoesie.
Von
Karl Enling.
I.
iKt um 8o mehr, ji; nAtürlieher und kpuntanor hIo
auftritt, Produkt und Kif^ontuin nicht einer Kay«*,
Hner Völker- oder SprftchcnfAmlU«*, »ondorn einer
nationnlen Individunlitilt und einer Sprache.
Comparetti.
Trotz aller romantischen und spekulativen Schwärmerei hat das
deutsche Volk immer zugleich die Kichtung auf das Praktische bewahrt,
pjin Lessing war aller Romantik und Mystik abhold, und Herder sah
den poetischen Charakter der Deutschen wesentlich in Biedersinn und
Hausverstand, in treuherziger Lehrhaftigkeit. Wenn nun auch das Zeit-
alter der Aufklärung, wie sich wieder in diesem Urteil zeigt, der Tiefe
und Idealität deutschen Wesens nicht gerecht zu werden scheint, so
beweist doch die Entwicklung der germanischen Litteratur von den
Dichtern der Havamal bis Goethe eine so unverkennbar glänzende Be-
gabung unsres Volkes für die Gnomik, wie sie, das indische vielleicht
ausgenommen, kaum ein andres besessen hat.
Es ist mit Becht beklagt, dass in der litterarhistorischen Forschung
die Gnomik, das wichtigste Kapitel einer nationalen Ethik, bisher ver-
hältnismässig vernachlässigt wurde. Allerdings wandte schon Wilhelm
Grimm seine liebevolle Sorgfalt der Spruchdichtung Freidanks zu, und
Hermann Paul hat an Wilhelm Grimm wieder angeknüpft. Uhland gab
in seiner bewunderungswürdigen Abhandlung über die deutschen Volks-
lieder manchen lehrreichen Einblick in die Stoffgeschichte der germani-
schen Gnomik, MüUenhoff behandelte mit charaktervoller Gründlichkeit
74 Karl Euling
das Meisterwerk altnordischer Didaktik. Aber die Geschichte der Ge-
samtentwicklung dieses Litteraturzweiges ist bis heute noch ungeschrie-
ben und wird es vielleicht noch lange bleiben.
Über die Bedeutung der Gnomik für die Geschichte der Litteratur
täuschte man sich nicht. Schon der gelehrte Benediktiner Sarmiento
hat die Theorie aufgestellt, alle poetischen Formen seien aus gnomischer
Poesie herzuleiten'); sicher eine Übertreibung, in der aber Spaniens
erster Litterarhistoriker den gesunden Kern nicht hätte übersehen sollen.
In Deutschland war es wieder Herder, der früh auf die Bedeutung gno-
mischer Dichtung für Poetik und Litteraturgeschichte hinwies. , Wollen
wir je,'^ sagt er im Anschluss an das Epigramm,^) «eine philosophische
Poetik oder eine Geschichte der Dichtkunst erhalten: so müssen wir
über einzelne Gedichtarten vorarbeiten und jede derselben bis auf ihren
Ursprung verfolgen.** Unter philosophischer Poetik verstand er dabei
nicht die begriffsfrohe und thatsachenscheue graue Scholastik unsrer
grossen und kleinen Kompendien, sondern ein wirklich entwickelndes
Verfahren.')
Nun sind ja in unsren Tagen Versuche genug gemacht worden, die
Poetik entwicklungsgeschichtlich (evolutionistisch, wie man zu sagen
pflegt,) und psychologisch zu bebandeln. Aber die Schwierigkeit scheint
eben darin zu bestehen, die Entwicklung von innen heraus zu verfolgen,
ohne allgemeine, vorher gefasste Ideen äusserlich an die Objekte heran-
zutragen. Man müsste die Thatsachen mehr zu Worte kommen lassen,
die Dinge selbst Rede zu stehen zwingen und im Sinne Goethischer
Ästhetik^) das Allgemeine im Besonderen suchen, nicht umgekehrt.
Meistens ist jene sogenannte evolutionistische Poetik, ohne es zu wol-
len, nur eine andre Auflage der ästhetisch-philosophischen Litteratur-
geschichte; vor dieser zu warnen ist ja heute üblich^); weniger leicht
dürfte es sein, ihre Fehler zu meiden. Es bedarf zunächst wohl der
abwartenden Kühe des experimentierenden Physikers, der leidenschafts-
losen Objektivität des historischen Forschers. Dabei gilt es, den präg-
nanten Punkt zu finden, aus dem sich möglichst Vieles ableiten lässt
^oder vielmehr, der vieles freiwillig aus sich hervorbringt.^ In diesem
1) Eberts Jahrbuch für romanische und englische Litteratur 2, 46. 71.
2) Supban 15, 385.
3) In der ersten Auflage und in der Handschrift lautete die Stelle: «Wollen
wir je eine philosophische Poetik oder eine wahre Geschichte der Dichtkunst er-
halten" u. 8. w.
4) Anzeiger für deutsches Altertum 16, 314.
5) Vgl. 2. B. R. M Meyer, Goethe. Berlin 1895, S. 608.
Das Priamel 75
Sinne wiegt Karl Büchers epochemachendes Buch über Arbeit und
Uhythnius eine ganze Bibliothek von Poetiken. Es charakterisiert die
Unzulänglichkeit der landläufigen Litteraturbetrachtung, dass ihr ge-
lehrter Fachwerkbau für ein Gebilde, wie den Vierzeiler, keinen Platz
hat. Vielleicht weist gerade dieses elementare Verschen einen Weg, um
über die Kluft zu gelangen, die ein geistvoller Beurteiler Büchers zwi-
schen der Arbeits- und Spielpoesie einerseits, und der höheren Kunst-
poesie auf der andren Seite treten lässt. ') Richard Gosche scheint
dieser Weg in ahnenden Gedanken vorgeschwebt zu haben, wenn er
einmal aussprach : „Die Betrachtung der einzelnen Litteraturformen in
ihrer geschichtlichen Entwicklung ist durch die Herrschaft einer ein-
seitig formulierten Ästhetik, welche allgemeine Begriffe, das heisst hier
Bezeichnungen von gleichmässig ausgebildeten, grossen Gattungen an
die Spitze ihrer Untersuchungen stellte, in falsche Bahnen gelenkt wor-
den. Die geschichtliche Forschung hat hier wie bei allen praktischen
Ueihenfolgen das Elementare aufzusuchen, und die Litteraturgeschichte
wird dies bei sorgfältiger und unbefangener Untersuchung in jener Form
der rednerischen Darstellung*) finden, welche wir einfach als Spruch
im weiteren Sinne bezeichnen können. Dieser Spruch, welcher weder
ganz Poesie noch ganz Prosa, weder episch noch lyrisch noch drama-
tisch ist, wird in der Litteraturgeschichte dieselbe Stelle einzunehmen
berechtigt sein, welche die Wissenschaft von der organischen Natur der
Zelle angewiesen hat." •) Wenn es gilt, in vergleichendem Verfahren,
wie Dilthey ^) anregt, gleichsam zu Urzellen, zu primären und einfachen
Lebensformen der Poesie aufzusteigen, kann vielleicht der einfache Volks-
spruch eine Kolle spielen; und wenn gar der epigrammatische Spruch
das konzentrierteste Produkt der Poesie überhaupt sein soll, wie Bo-
rinski^) will, so müsste doch vielerlei an ihm zu lernen sein; er müsste
fast in die Mitte der allgemeinen Poetik rücken.
Besondre Beachtung hat bisher nur die kunstmässige Spruch-
dicbtung gefunden. Meister der deutschen Philologie gaben dem Stu-
dium der Spruchdichtung Walthers Grundlage und Richtung, Roethe
verfolgte die Spruchdichtung bis in den Meistergesang . hinein mit ein-
1) Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Deutsche Litteraturzeitung 21, 92.
2) Das würde im Sinne späterer Darlegung über Poesie und Musik zu be-
richtigen sein.
3) Archiv für Litteraturgeschichte 2, 277.
4) Dilthey, Die Einbildungskraft des Dichters S. 340.
ö) Borinski, Deutsche Poetik § 66.
76 Karl Euling
dringendem Scharfsinn; Inhalt und Kunsttbrm. Entstehung und Aus-
bildung der poetischen Fot'men in der Didaktik waren bis dahin nur
stiefmütterlich behandelt, obwohl Versuche derartiger Betrachtung vor-
lagen; Hexameter, Sonett und Madrigal in Deutschland fanden ihre
Historiker. Den Zusammenhang jener Kunstdichtung mit der Volks-
poesie hat man heute noch nicht erledigt ; es werden immei: neue Fixa-
tionen sichtbar.
Zufall ist es nicht, dass Lessing und Goethe wieder auf die Gno-
mik des Mittelalters zurückgreifen, wie sie im 16. Jahrhundert für
Deutschland, wie für die übrigen Kulturländer des Westens, in grossen
Sammlungen kodifiziert war, den Nationalstolz aller sammelnden Völker
mit leichtbegreiflichen Übertreibungen weckend. Verhält sich Lessing
mehr aufnehmend der alten Gnomik gegenüber, deren veraltendes Ge-
wand zu erneuern er sich begnügte, so läutert und durchdringt sie
Goethe mit höchster Freiheit und Kultur und gibt ihr die durchgei-
stigtste Form. So wird auch am Ende einer Geschichte der deutschen
Gnomik Goethe stehen, als der grösste Lehrer deutscher Lebensweisheit.
Der besondren Begabung unsres Volkes für die Gnomik verdankt
eine ihm eigene selbständige Kunstgattung ihre Ausbildung, das Pria-
mel:*) als klassisches Epigramm des 15. Jahrhunderts ein Erzeugnis
Nürnberger Kleinkunst; keineswegs bloss acumina, pointes, maximes;
nicht nur blitzendes Aper9u, schemenhafte Aufschrift, pointiertes con-
cetto: sondern voll und reich aus- und durchgebildet zu einer, trotz
seiner engen Grenzen, fast universalen Kunstform; in seinen Grundlagen
von lebenskräftig unverwüstlichem Dasein, in seiner Vollendung so eigen-
artig in dem Nährboden bestimmter, national-gebundener Kunst-, Denk-
und Vorstellungsart wurzelnd, dass jeder Vergleich mit verwandten Er-
scheinungen unzulänglich erscheint.
Seit dem bekannten Brief,^) den Lessing am 10. Januar 1779 über
die geplante Herausgabe deutscher Volksgedichte an Herder schrieb,
spricht man in Deutschland wieder von dem Priamel. Die altberühmte
Wolfenbütteler Bibliothek beherbergt ausser kleineren, freilich wert-
volleren Priamelhandschriften eine grosse Sammelhandschrift (2. 4. Aug.
fol.) der späteren Nürnberger Schule und eine überaus reiche Folge
alter Lautenbücher, deren Wert für die Musikwissenschaft täglich
1) Das seit Lessing übliche Femininum hält, wie sich später ergibt, den That-
Sachen historischer Bezeugung gegenüber für das 15. Jahrhundert nicht stand.
2) Redlich 20, 1, 775.
Das Priamel 77
steigt. Eschenburg betont ausdrücklich, dass er das Wort Priamel sehr
oft in den Überschriften alter poetischer und musikalischer Stücke
tindeJ) Dass Lessing die Hainhoferschen Sammlungen, die Lautenbücher
der Gerle, Newsiedler, Ochsenkuhn und wie sie alle heissen,') entgangen
wären, ist kaum möglich; er spricht aber nicht davon.^) Das war Les-
sings Material, als er das Priamel wieder entdeckte. Es ist zu bedauern,
dass Lessing wie Eschenburg sich fast durchweg mit der bequemen
grössten Sammelhandschrift begnügten, die allerdings den Namen am
häufigsten enthält, und dass sie das alte musikalische Priamel nur aus
späteren Tabulaturen kannten. Die älteren fehlen in Wolfenbüttel. So
kam es, dass Lessing und Eschenburg das echte Priamel in seiner ur-
sprünglichen Gestalt nur streiften, und meist dem Wust sehr fragwürdiger
Produkte der späten Nürnberger Schule die Ehre widerfuhr, eines Lessing
Aufmerksamkeit zu erregen und die erste Veröffentlichung zu erleben.
Es war Echtes und Unechtes, Altes und Neues, viel Schutt, weniger
edles Gestein, alles bunt durcheinander gewürfelt, und hat bis heute
das Urteil verwirrt. So kam es aber auch, dass sich in der Bezeichnung
der Gattung das neuere Femininum „Die Priamer einstellte. Mit dem
Modewort wusste Niemand recht, wohin. Noch Baechtold und Com-
paretti scheinen es nur auf dem Umweg durchs Französische oder etwa
das Niederländische kennen gelernt zu haben. Handschriftlich bezeugt
ist im 15. Jahrhundert nur das Neutrum,^) das 16. Jahrhundert kennt
auch das Masculinum, ''') das Französische, und zwar schon im Mittel-
alter, und deutsche Mundart entwickelten das Femininum. Veröffent-
licht hat Lessing selbst vom Priamel nichts, Eschenburg fixierte den
für die Blütezeit der Gattung unhistorischen Gebrauch des Femininums.
Der grosse Kritiker, der immer erst während des Druckes die Arbeit
abschloss, hätte wahrscheinlich doch den Fehler gesehen. Die Priamel-
form der volkstümlichen Dichtung wirkt noch in seiner epigrammatischen
Poesie nach, ohne dass er davon weiss;") so fesselten jene entdeckten
kleinen poetischen Gebilde ihn lebhaft.
1) Zur Geschichte und Litteratur 5, 188.
2) Der vorläufigen Orientierung dient Vogels Katalog.
3) Auch Muncker ist ps nicht gehingen, eine Spur der «längst verschollenen''
bandschriftlichen Papiere Lessings zu finden. Es ist also nicht festzustellen, wofOr
Lessing, wofür Eschenburg allein verantwortlich gemacht werden muss.
4) Schon Wendeler hat das festgestellt: De pracambulis S. 21 Anra. 2.
5) Siehe Kapitel III.
6) Auf einiges derart hat Knster zu Schönaichs Neolo^ischem Wörterbuch
S. 564 hingewiesen.
78 Kar] Ealing
Herder empfahl und erläuterte den Fund; aber er war doch besser
in der griechischen Anthologie als in der Kleinkunst des 15. Jahrhunderts
zu Hause. Er rechnete die Priameldichtung zum Meistergesang ; in den
deutschen Zünften sollte diese Form ausgebildet sein, und zwar zum
Handwerksleisten.*) Kein Wunder, dass Goethe fast vergass, für ein
ihm übersandtes Priamelmanuskript zu danken, und in den angeblichen
Meistersprüchen nur ein Spiel mit den platten Lebens- und Handwerks-
begriffen sah. Aber das, worauf es ankam, hatte Herder doch erkannt,
freilich nicht mit Priameldichtung in Verbindung gebracht. Er hatte
gewünscht, dass wir von mehreren sinnlichen Völkern, statt Beschrei-
bungen über den Geist derselben, Proben ihres kindlichen Witzes, ihres
sich übenden Scharfsinns in Sprichwörtern, Scherzen und Rätseln hätten,
wir hätten damit die eigensten Gänge ihres Geistes — gerade diese
Dinge gehören zum Heiligtum einer Sprache. Seitdem dann Jakob Grimm
im Jahre 1812 mit einem kräftig gesunden Protest*) gegen den unechten
Namen ,der Priamel*, von der Gattung gerühmt hatte, die ältesten
und erhabensten Priameln habe Odin selbst in dem göttlichen Havamal
gesungen, hat das Priamel nicht aufgehört Forschung und Liebhaberei
zu beschäftigen.
Den Vorsprung gewann, wie jedesmal, die edle Liebhaberei. Das
umfassende Programm des Wunderhorns schloss auch die Spruchpoesie
1) Suphan 16, 228. 226 (Andenken an einige ältere Deutsche Dichter 6):
^ Wanim ich von den Meistersängern noch nicht gesprochen ? Weil sie mir oft herz-
liche Langeweile gemacht haben*. 227: nDa ist auch kein Seelenerhebender Ton,
keine Gegenwart der Dinge, kein plötzlicher begeisternder Augenblick (denn wie
konnte der in ihre Zünfte gelangen?) merklich". — „Erlauben Sie also, dass ich
vom grossen Uebel mir das kleinste wähle, mithin auf die geistlichen und weltlichen
Schwanke der mehresten Meistersänger Verzicht thue und mich an ihre GrQsse
und Sprüche halte. Sie wissen, die Meister sagen einander vor der Lade den
Gruss; der Geselle hat seinen Spruch. Solche Grüsse und Sprüche hat auch die
Meistersängerzunft fleissig gehandhabet'. In der Anmerkung: «Eine Sammlung
derselben war diesem Briefe beigelegt ; sie mag indess auf einen andern Ort warten".
Am 21. August 1788 bittet er Karoline: „Das Manuskript, das ich an Goethe ein-
gcsicgelt h^ibe, lass Dir von ihm geben und bewahre es auf. Es sind alte deutsche
Sprüche und Priameln". Goethe an Herder, September 88: „Fast hätte ich ver-
gessen, Dir für die Meistersängersprüche zu danken. Es ist sehr artig zu sehen,
wie sie mit den platten Lebens- und Hand werk sbegriifen gespielt haben."* Suphan
S. G29. Goethes Briefe, Weimarer Ausgabe, 9, 19. Aus Ernst Jennys Ausführungen,
Goethes altdeutsche I^ektüre, Basel 1900, S. 40 ist nicht zu entnehmen, dass es sich
um Priamel handelt.
2) Auch gegen die französische Form Bergmanns La priam^le protestiert
Gaston Paris in der Revue critique 1868. Nr. 39. S. 193: „La forme fran^aise adop-
tee par M. B. ne me paralt pas excellente".
Das Priamel 79
ein. „Was der Beichtum uosres ganzen Volkes, was seine eigene, innere
lebende Kunst gebildet, das Gewebe langer Zeit und mächtiger Kräfte,
den Glauben und das Wissen des Volkes, was sie begleitet in Lust und
Tod, Lieder, Sagen, Kunden, Sprüche, Geschichten, Prophezeihungen
und Melodien, wir wollen Allen Alles wiedergeben, was im vieljährigen
Fortrollen seine Demantfestigkeit bewährt, nicht abgestumpft, nur farbe-
spielend geglättet, alle Fugen und Ausschnitte hat zu dem allgemeinen
Denkmale des grössten neueren Volkes, der Deutschen.' ') Vieles wurde
allmählich durch den Druck zugänglicher gemacht, wenn auch meist
ebenso unkritisch als ungeniessbar, manches auch schon übersetzt und
weitesten Kreisen zu vermitteln gesucht. Mit heller Freude wurde in
den reichen Schätzen unsrer Vorzeit gekramt, und die Liebhaber eines
triftigen Sinnes in ungekünstelten Worten machten vielgekaufte Bluten-
lesen für diejenigen, «welche die Wege und Stege zu den im köstlichsten
Feldblumenschmuck prangenden Gemeindetriften deutschen Witzes und
deutschen Gemütes nicht verschmähten und an frisch und kräftig her-
vortretender Eigenart der Sprach- und Denkweise unsrer Altvordern
Lust und Erquickung fanden*". Das Publikum bekam wieder Urväter
Hausrat in die Hände, und nicht ohne Grund konnte man hoffen, dass
dessen sinn- und gemütvolle Bedeutung verständnisvoll von allen ge-
würdigt werde, die »mit Liebe und Lust den Spuren unsrer in der Ge-
schichte so energisch sich entwickelnden Nationalität nachzugehen wissen*'.
Es schien sich bereits zu verwirklichen, was Herder prophezeit hatte:
«Mich dünkt, ich sehe eine Zeit kommen, da wir zu unsrer Sprache, zu
den Verdiensten, Grundsätzen und Endzwecken unsrer Väter ernster zu-
rückkehren, mithin auch unser altes Gold schätzen lernen.*' *) Bald
war aus Lessings Plane, ^Altdeutschen Witz und Verstand"" herauszu-
geben, eine kleine Bibliothek herausgewachsen. An den Witz und Ver-
stand reihten sich Weisheit und Witz, Altdeutsches Herz und Gemüt,
Altdeutscher Schwank und Scherz, Kabinettstücke in Liebhaberausgaben,
Sammlungen von feinem Geschmack und geradem Urteil. Wie treffend
spricht Sandvoss von der Form! «Es sind Reimsprüche", sagt er von
seiner Sammlung, ^deren meist kunstlose Form aber doch reine innere
Form ist, gewachsene Rinde gleichsam, statt der bloss hart gewordenen
Borke der in eine feste Matritze gekneteten Paprika-Käschen moderner
Witzbolde*.^ Riehl und v. Radowitz gaben dem Volksepigramm seinen
1) Des Knaben Wunderhorn 1, 463 der ersten Originalausgabe.
2) Siiphan 16, 133.
3) Xanthippiis, Gute alte deutsche Sprüche. Berlin 1897, S. VIII.
80 Karl Euling
Platz an der Seite des Volksliedes, und der grosse Kulturhistoriker meint,
der Hausschatz deutscher Spruchverse sei in seiner Art nicht minder
reich an lauterem Gold wie das eigentliche Volkslied. ^) Die naive grund-
satzreiche Unbeholfenheit') durfte nicht abschrecken. Die simple Spruch-
weisheit, die in der Lieder- und Bücherflut unsrer Tage ganz von selber
ersäuft, fand Freunde wie Otto Sutermeister, der dem Hausspruch die
unübertroffene Charakteristik widmet. ^) «Auch er zählt mit als Ausfluss
einer im Ganzen gesunden, gescheiten und frommen Denkweise; auch
er ist in der Geschichte des deutschen Hauses ein Moment voll sittlichen
Gehalts, ist über Thür und Bank, auf Hauswand und Dachbalken, an
Ofen, Bett und Kasten, und wo er sich sonst noch niedergelassen, ein
redender Zeuge sittigender Macht der Poesie in vielfach verlassensten
Menschenkreisen. "
Dagegen war die wissenschaftliche Priarael-Forschung entschieden
im Rückstand. Sie tastete zwischen den fingierten Polen der sogenannten
Volksdichtung und Kunstpoesie hin und her, um schliesslich in Verwir-
rung auszulaufen."^) Selten trat Jemand gegen die unhistorische Richtung
misslungener Erneuerungen auf, wie ihrer Zeit die Grimms sich gegen
die Verfasser des Wunderborns gewandt hatten, die Altes nicht als Altes
wollten stehen lassen, ein Verfahren, das als Notwendigkeit für die Zeit
ein Irrtum, und für das Studium der Poesie ein Ärger. ^) Man bemühte
sich mit Einfällen, Scharfsinn und Gelehrsamkeit aus dem Namen des
Priamels sein Wesen zu erraten, wandte sich Aufschluss suchend an die
indische, hebräische, lateinische Litteratur, an die Geschichte der Uni-
versitäten, an die Fechtkunst, an die Predigt, und versäumte nur eins:
seine wirkliche Geschichte — eine einigermassen vollständige Sammlung
1) Über Hausinschrifien. W. H. Riehl, Die Familie, 9. Aufl. Stuttgart 1882.
S. 198 ff. „Zeigt uns das Volkslied zumeist die Poesie der Ruhe, des Geniessens
und Genügeus, so führt uns Sitte, Sage und Spruch auf hundert versteckten Pfaden
zur P>kenntnis der Arbeitslust und Arbeitsehre, die unserm Volke nicht minder
ins innerste Leben gewachsen ist." Riehl, Die deutsche Arbeit ^ S. 149.
2) R. Falck, Deutsche Inschriften an Haus und Geräth. Zur epigrammatischen
Volkapoesie. Berlin 1865, S. V.
3) Otto Sutermeister, Schweizerische Haussprüche. Ein Beitrag zur epigram-
matischen Volkspoesie aus der Landschaft Zürich. Z. 1860, S. VH, IX.
4) Freilich ist mir Niemand bekannt, der den Ergebnissen Uhls zugestimmt
hätte.
5) Briefwechsel zwischen Jakob und Wilhelm Grimm aus der Jugendzeit h}f.
von Herman Grimm und Gustav Hinrichs. Weimar 1881, S. i»8. Philipp Strauch
in der Deutschen Litteralurzeitung 1893, 366.
Das Priamel Ql
des Materials,*) eine treue Analyse und historisch zusammenhängende
Behandlung. Nur so erklärt es sich, dass noch heute auf diesem Ge-
biete der Forschung die schroffsten Gegensätze unvermittelt gegen ein-
ander stehen. Hier spricht und handelt man ausführlich von ,Priameln*
in der Weltlitteratur, *) dort wird in den gründlichsten Darstellungen
deutscher Litteraturgeschichte das Priamel entweder mit der grössten
Zurückhaltung erwähnt oder als Rührmichnichtan behandelt.«) Hier
wird das Priamel zu eng *) definiert, dort *) zu weit ; hier lässt man nur
eine Hauptform des klassischen Priamels gelten, ^) dort soll jeder Witz
schon ,eine Priamel' sein. ^) Hier wird es mit vielen alten Gattungen
zusammengeworfen, ') dort, unfruchtbar isoliert, ®) ganz für sich betrachtet.
Hier wird es für eine Gattung urgermanischer Spruchweisheit gehalten, *)
und man glaubt sogar ,eine urgermanische Priamel' nachgewiesen zu
haben,"®) dort leugnet man jede Spur ,der Priamel* auch in der alt-
deutschen Dichtung bis gegen das 12. Jahrhundert. *') Bei solcher Ver-
wirrung kann nur eine vorurteilslose, aber auf wirklicher Kenntnis des
Materials beruhende geschichtliche Betrachtungsweise Forschung und
Urteil auf die richtige Grundlage stellen. Erhebt man wirklich im
Sinne Herders die Frage nach dem Ursprung dieser poetischen Form,
1) Eine mit Untorstützuag unserer höchsten Unterricbtsbehörde unternommene
Studienreise, auf systematische Durchforschung der wichtigsten süddeutschen und
österreichischen Bibliotheken gerichtet, lieferte manche Ergänzung.
2) Zum Beispiel: Bergmann, La priam^le dans les diiferentes litt^ratures an-
eiennes et modernes. Strasbourg et Colmar 1868, S. 9 ff. Separatabdruck. Gosche,
Archiv für Litteraturgeschichte -2, 280; aber er verklausuliert seine Zustimmung. Uhl,
Die deutsche Priamel. Leipzig 1897, S. 120 ff. ohne Einschränkung.
3) Z. B. Gervinus II ^ 126. Scherer, Litteraturgeschichte S. 254. Deutsche Stu-
dien I 345 ff. EttmüUer, Handbuch S. 283.
4) Z. B. Wackemagel, Litteraturgeschichte 1 ', 368. Golther, Geschichte der
deutschen Litteratur 1, 394.
5) Z. B. Kluge, Etymologisches Wörterbuch, ^ 303. Marc Monnier, Litteratur-
geschichte d. Renaissance (Deutsche autorisierte Ausgabe. Nördlingen 1888), S. 200.
Werner, Lyrik und Lyriker S. 545 f.
6) Z. B. Herder, Suphan 15, 1*21 ff. Ehrismann, Anzeiger für deutsches Alter-
tum 25, 165 ff.
7) Schild, D'r Grossätte us'em Leberberg 3 ^ 46. Uhl, Die deutsche Priamel 117.
8) Yilmar, Geschichte der deutschen Nationallitteratur, 14. Auflage, S. 268. —
Goedeke, Grundriss I ^ 304. Grassberger, Die Naturgesch. des Schnaderhüpfels 54.
9) J. Grimm, Kleinere Schriften 6, 103.
10) R. M. Meyer, Die altgermanische Poesie 434. Man spricht unbedenklich
von «der Priamel^ als poetischer Gattung in altgermanischer Litteratur: W. Grimm,
Freidank CXXII; ühland, Schriften 2, 526; MüUenhoff, DAK. 5, 277; Scherer und
seine Schule; Kelle, Geschichte der deutschen Litteratur 1, 188.
11) Koegel, Geschichte der deutschen Litteratur I', 182.
NEUE HEIDELB. JAHRBUECTIEK XII. 6
82 Karl Euling
SO erweitert sich das Problem zu einem fast ins unbegrenzte verlaufen-
den und gewinnt ein beträchtliches entwicklungsgeschichtliches Interesse.
Dabei scheint zunächst auch hier der richtige Weg, über das, was
das Leben seinen Bedürfnissen gemäss geschaffen hat, das Leben selbst
zu befragen und auch das Eingehen auf poetische Formen der sogenannten
Natur- und Halbkultur-Völker nicht zu scheuen.^) Was die Erzeug-
nisse primitiver Volksdichtung an poetischem Wert entbehren, ersetzen
sie durch ihren wissenschaftlichen, welcher der älteren Geschichte unsrer
Volksdichtung und der Entwicklungsgeschichte zu Gute kommt. Auch
auf den Inhalt kommt es dabei oft nicht an. Gewiss, nach lauem Wasser
kann kein Mund je wässern, und nach A. W. Schlegels Wort mit Gustav
Meyer im Dreck der Menschheit zu patschen, ist kein Vergnügen ; aber
bisweilen sind solche Erzeugnisse uralter Tradition für die Geschichte
der Form am lehrreichsten. Nichts liegt uns ferner als damit dem
Leser, was sich Goethe energisch verbat, glorios zu Leibe zu rücken.
Das Phantom eines in mystischer ünfassbarkeit dichtenden Volks-
geistes*) wird unsern Weg nicht kreuzen, obwohl sich gerade beim Priamel
so recht ein Hauptcharakterzug der Volksdichtung wirksam erweist: die
Beteiligung und (der Überlieferung gegenüber) autoritative Bethätigung
Aller. Die gelehrte Forschung bedarf ihres Korrektivs durch das Leben,
schon deshalb ist die Volkskunde nicht zu entbehren. Aber sie kann
vielleicht noch mehr leisten, wenn es gelingt, Volkskunde und Litteratur-
geschichte in engere fruchtbarere Verbindung zu setzen, aus jener diese
zu erläutern, dadurch die Grenzen der Litteraturgeschichte zu erweitern,
ihr Gebiet zu bereichern. Erst aus dieser Vereinigung wird eine wirk-
liche Geschichte der deutschen Geisteskultur hervorgehen.')
Freilich bleibt auf dem Gebiete einer zum Teil ungeschriebenen
Litteratur vieles, besonders das Chronologische, problematisch, und wie wenig
zwingend manche Schlüsse hier sind, weiss derjenige, der ihr Zustande-
kommen mit einiger Aufmerksamkeit beobachtet hat. Aber das bringt,
1) Zur Methode: M. Bach in den Sitzungäberichten der gelehrten estnischen
Gesellschaft in Dorpat 1883 S. 133 und die glänzenden Ausführungen Schcrers im
Anzeiger 1, 199. Dagegen z B. Eugen Wolff, Poetik S. 27 f. Borinski, Deutsche
Poetik S. 19f.: durch Büchers Erfolg widerlegt. Grosse, Die AnfA.nge der Kunst
S. ?22 ff. Bücher, Arbeit und Rhythmus « S. 333.
2) Die Realität der Volksseele rettet Wundt, Völkerpsychologie I 1, 9 ff. —
Vierkandt, Naturvölker und Kulturvölker S. 36.
r>) Beachtenswert sind die Bemerkungen Vogts im Vorwort zu den Schlesiscben
Weihnachtsspielen S. IX. Unsere obigen Sätze sind schon vor vielen Jahren ge-
schrieben.
Das Priamel 83
wie bei aller Volksdichtung, die Natur des Gegenstandes mit sich ; man
wird deshalb nicht auf Berücksichtigung nnlitterarischer Poesie verzichten
können.
Ebenso bedenklich, aber auch ebenso lohnend ist die Heranziehung
fremder Litteraturen. Alle Volksdichtung hat etwas zeitlich und räum-
lich Konstantes, ebenso sehr dem sich selbst treuen Oeiste eines grossen
Volkes als der geistigen Einheit verwandter Völkerfarailien entsprechend.
Daraus ergibt sich ein Überwiegen des Zuständlichen über das Indivi-
duelle und für die Forschung eine wenigstens theoretische Möglichkeit
internationaler Zusammenhänge. In der That ist es unumgänglich nötig,
das Eigne durch Fremdes, soweit es verwandt, zu erläutern, und frühere
Litterarhistoriker haben die fragmentarischen und leicht gezimmerten
Gerüste ihrer Konstruktionen bis tief in die Litteraturen des Ostens
hineingebaut. Im Gegensatz zu dieser Richtung wurde hier hei der
Vergleichung zunächst das Erkennen des Besonderen angestrebt, und
lieber das Beispiel eines Grimm, Mommsen, Comparetti befolgt als die
heute beliebte etwas skrupellose Methode, ohne rechte Ergebnisse Alles
mit Allem zu vergleichen.
Man wird vielleicht den Nutzen problematisch finden, den litteratur-
geschichtliche Betrachtungsweise gelegentlich aus den Ergebnissen Goethe-
schen Denkens zu ziehen gesucht hat. Es ist wahr : historisch im Sinne
der historischen Einzelforschung hat Goethe selten gedacht. Seine Kennt-
nisse von altdeutscher und altgermanischer Litteratur kann heut jeder
Student korrigieren. Aber es gibt eine höhere Art historischer Auf-
fassung, die aus dem Geiste unsers grössten Dichters spricht, wenn sie
auf Grund einer in der Art nie wieder erreichten weltumfassenden und
harmonischen Bildung intuitiv die Anfänge aller Poesie mit den höchsten
Errungenschaften des poetischen Genius verknüpft. Dem Tiefsten und
Verborgensten, was bloss gelehrter Forschung meist unerklärt entgehen
muss, ist niemand so nahe gekommen, wie er. Wir sind ihm um so
lieber nachgegangen, als er uns von der Last befreit, die Jahrhunderte
gelehrt dogmatischer Aesthetik auf die Gegenwart gehäuft haben. ^)
Eine Geschichte des Priamels kann, abgesehen von allen individuellen
Momenten, auch im allgemeinen Goethes Forderungen noch nicht er-
füllen, wenn er die Maxime aufstellt: „Die Pflicht des Historikers ist
zwiefach : erst gegen sich selbst, dann gegen den Leser. Bei sich selbst
muss er genau prüfen, was wohl gescheiten sein könnte, und um des
1) Vprprl. Scliprer, Poetik 289.
g4 Karl Euling: Das Priamel
Lesers willen muss er festsetzen, was geschehen sei. Wie er mit sich
selbst handelt, mag er mit seinen Kollegen ausmachen; das Publikum
muss aber nicht ins Geheimnis hineinsehen, wie wenig in der Geschichte
als ausgemacht kann angesprochen werden/ Vielmehr ist bei dem
heutigen Stande der Forschung eine solche^ glatte Darstellung unmög-
lich ; auch in diesem Falle kann nur die Verbindung von Untersuchung
und Darstellung zum Ziele fuhren.
Hoffentlich gereicht es der Untersuchung nicht zum Nachteil, dass
die Beispiele so reichlich gegeben sind. Zunächst sind sie zur Begrün-
dung der aus ihnen gezogenen Schlüsse nicht zu entbehren, besonders
wenn es sich darum handelt, die Struktur dieser Gebilde der Volks-
poesie zu beurteilen;^) dann war aber auch bei der ungeheueren Ver-
zettelung des Materials für die eine oder andre Periode des engeren Ge-
bietes annähernde Vollständigkeit der Belege erwünscht. Jakob Grimm
meint einmal: »Es wäre eine schwere, aber würdige Arbeit, alle Kraft
altdeutscher Sprüche in einem Band zusammenzufassen.^ ') Mehr als
irgend eine andre ist die Priamellitteratur das Fragment der Fragmente;
aber wer in romantischer Trauer um das Verlorene die Vergangenheit
um ihren Reichtum beneidet, verschliesst Aug und Ohr für die Gegen-
wart. Es trifft nicht zu, dass während der Reformation auch dieser
Nibelungenhort des volkstümlichen Spruchschatzes in den Rhein sank,
zur Zeit, als die Bauern Psalmen sangen, selbst wenn sie betrunken waren. ')
Sondern auch heute noch strömt der Quell deutscher Volkspoesie voll
und reich, wie je; nach den jüngsten Erfolgen einer gründlichen Er-
forschung bedürfen die gewöhnlichen Vorstellungen über das viel beklagte
Verschwinden volkstümlicher Überlieferungen einer vollständigen Um-
gestaltung.
Der deutsche Volksspruch im eminentesten Sinne, das Priamel, über-
dauert alle Formen der volkstümlichen Spruchdichtung und besteht bald
die Probe eines Jahrtausends, während der Parzival, der Tristan, das
Entzücken einer ausgesuchten hochstehenden kleinen Gesellschaft in der
kurzen Blütezeit höfischer Kunst nach wenigen Generationen um ihre
Wirkung gekommen waren.
1) Vergl. Bücher, Arbeit und Rhythmus S. VII ^
2) Kleinere Schriften 6, 103.
3) Baslerische Kinder- und Yolksreime aus der mOndlichen Überlieferung ge-
sammelt. Basel 1857. S. IV.
Bettiiie voii Arnim
und ihr Briefwechsel mit Pauline Steinhäuser.
Von
Karl Obser.
Ludwig Geiger') hat unlängst die vielseitigen, trotz alles Gegen-
sätzlichen im Grunde doch auf innerster Wesensverwandtschaft beruhen-
den Beziehungen Bettinens von Arnim zu König Friedrich Wilhelm IV
in anziehender Weise gewürdigt und sich ein Anrecht auf den Dank
aller gebildeten Kreise erworben, indem er ihre bedeutsamen und inhalt-
reichen Briefe an den König erstmals veröffentlicht hat, — Briefe, die
uns einen tiefen Einblick in die Eigenart einer der geistvollsten deut-
schen Frauen gewähren und von einer hohen, idealen, menschenfreund-
lichen Gesinnung nicht minder, wie von einem seltenen Freimut in
beredter Sprache zeugen. Es wird darin auch der gemeinsamen Be-
strebungen, die Bettine mit dem Bildhauer Karl Steinhäuser ver-
banden, vorübergehend gedacht. Ein günstiger Zufall hat es gefügt,
dass mir in eben den Tagen, da das Buch erschien, mit dem hand-
schriftlichen Nachlasse des Künstlers') eine Anzahl von Briefen in die
Hände fiel, die Bettine an ihn und seine Gattin gerichtet. Wenn gleich
auch hier, wie in der Geiger'schen Publikation manches verloren, manche
Lücke zu beklagen ist, so genügt das Vorhandene doch, um das freund-
schaftliche Verhältnis, das zwischen beiden Teilen lange Jahre hindurch
bestand, und ihr eifriges Zusammenwirken in einer wichtigen, weite
Kreise des Volkes bewegenden künstlerischen Angelegenheit genauer er-
1) L. Geiger: Bettine von Arnim und Friedrich Wilhelm IV. Frankfurt a. M.,
Lilterar. Anstalt. 1902. 220 S. 8^
2) Im Besitze des Herrn Prof. Dr. M. Rosenberg in Karlsruhe, dem ich für die
freundliche Überlassung der Briefe auch an dieser Stelle meinen verbindlichsten
Dank auszusprechen habe.
86 Karl Obser
kennen und verfolgen zu lassen, manches Gehässige und Unwahre aber,
was darüber verbreitet worden ist, zu widerlegen. Hermann Grimm bat
einmal von Bettinens Schriften gerühmt, dass sie zum Schönsten ge-
hören, was je in deutscher Sprache geschrieben worden sei. Das ist
wohl etwas zu viel gesagt. Aber dass die seltene Frau, der ein Goethe
einst bekannt, dass er ihr nichts zu geben vermöge, da sie sich selbst
alles schaffe oder nehme, in ihren Briefen ihr Bestes geboten, das wer-
den auch die vorliegenden Schriftstücke erweisen, in denen sich, wie in
allem, was ihrer Feder entstammt, der volle Reichtum ihres Geistes und
Gemüts offenbart, und ihre Mitteilung dürfte daher auch als ein be-
scheidener Beitrag für eine künftige Biographie Bettinens willkommen sein.
Die Beziehungen der Steinhäusers zu dem Hause Arnim reichen
zurück in den Anfang der dreissiger Jahre. Als Karl Steinhäuser^)
nach Berlin kam, stand er noch im jugendlichen Alter. Er war ge-
boren zu Bremen am S.Juli 1814.') Sein Vater, ein tüchtiger Bild-
schnitzer, hatte frühe die fränkische Heimat verlassen, war zur Aus-
bildung in seinem Berufe weit in der Welt herumgewandert und hatte
dann in der Hansastadt sein Heim gegründet. In Kopenhagen, wo er
die Eltern Bertel Thorwaldsens kennen gelernt, war er einst Zeuge ge-
wesen der tiefen Rührung, mit der die schlichten Leute die Nachricht
von dem ersten grossen Erfolge ihres Sohnes vernommen. Mit freu-
digem Stolz hatte auch er in dem eigenen Knaben, dem er in seiner
Werkstätte die erste Anleitung erteilt, vielversprechende künstlerische
Anlagen entdeckt und nach Kräften zu f5rdern gesucht. Die ersten
MoJellierungsversuche Karls fanden ermunternden Beifall; er erhielt vom
Senate den Auftrag, die Büste des Astronomen Olbers nach dem Leben
zu modellieren, und Christian Rauch war von dem Modelle so befriedigt,
dass er darnach die Ausführung in Marmor übernahm und den talent-
vollen jungen Künstler einlud, als Schüler in sein Atelier einzutreten.
So erfolgte 1831 Steinhäusers Übersiedelung nach Berlin, wo er sich
unter Rauchs Leitung eifrig an den Arbeiten für die Kelheimer Wal-
halla zu beteiligen begann. Sein erstes selbständiges Werk, die Marmor-
1) über Steinhäuser vergl. v. Weecb, Bad. Biographien, 3, 181; Allg.
Deutsche Biographie, 35, 716; Nagler, Kunstlerlexikon, 17, 290; Singer,
Künstlerlexikon, 4, 335. Die in diesen Werken enthaltenen Angaben sind fibrigens
vielfach dürftig und unrichtig; ich folge hier im wesentlichen der Lebensskizze, die
der Architekt H. Müller bei der Trauerfeier für Steinhäuser im Bremer Künstler-
verein gegeben hat (Bremer Courier vom 25. Dez. 1879;.
2) Nicht 1813, wie meist irrig angegeben wird. Auszug aus dem Totenbuch
der St Stefanspfarrei zu Karlsruhe.
B-T!
Betline v*»n Arnim und ihr Briefwechsel mit Pauline Steinhäuser 87
statue des «KrebsfäDgers*', die in der Gefälligkeit der Komposition und
der sichern Behandlung der Formen schon die Vorzuge seiner späteren
Schöpfungen verriet, erregte Aufsehen und fand rasch einen Käufer.
Sein Name wurde genannt, seine Erfolge verschafften ihm Zutritt zu
allen kunstsinnigen Kreisen. So kam er auch in das Haus Bettinens,
in deren Salons sich damals alles versammelte, was auf Geist und Bil-
dung Anspruch machte, und der Umgang mit der in künstlerischen
Dingen wohl bewanderten und feinfühlenden Frau, die seit ihren Mädchen-
jahren selbst gerne zeichnete, malte und modellierte, wirkte, wie be-
richtet wird, vielfach anregend und befruchtend auf die Seele des jungen
Bildhauers. Für die künftige Gestaltung seines Lebens aber wurde der
Verkehr in dem gastfreundlichen und kunstliebenden Hause vor allem
dadurch von Bedeutung, dass er an der Seite Bettinens eine junge
Malerin kennen lernte, Pauline Franke,^) und die tiefe Herzensneigung,
durch die sich beide einander verbunden fühlten, schon 1834 zur Ver-
lobung führte. Die Tochter eines meklenburgischen Superintendenten,
aufgewachsen in den streng kirchlichen Anschauungen und Überliefe-
rungen des Elternhauses, war sie nach Berlin gezogen, erfüllt von dem
glühenden Wunsche, ein unverkennbares Talent zur Beife zu bringen
und sich zur Künstlerin auszubilden. Die ihr später als der Gattin
Steinhäusers begegnet, rühmen an ihr reiche Gaben des Geistes und
Gemütes; „eine edle und hohe Seele, voll tiefer Frömmigkeit, voll Be-
geisterung für alles Erhabene, Echte und Schöne**, — urteilt Wilhelm
Lübke.') Diese Grundzüge ihres Wesens treten schon in ihrem Brief-
wechsel aus der Brautstandszeit hervor, vor allem der frommgläubige
Sinn, dem Religion und Liebe in eines verschmelzen, der in der Religion
das hohe Ideal erblickt, dem alle Kunst dienen müsse. Nach ihrer Ge-
sinnung und ihrem künstlerischen Glaubensbekenntnisse steht sie wohl
ihrer hochverehrten Lehrerin Luise Seidler und Marie EUenrieder am
nächsten,') und ihrem Einflüsse ist es zweifellos wesentlich zuzu-
1) Über Pauline Steinhäuser-Franke (geb. zu Güstrow 26. Dez. 1810, gest. zu
Karlsruhe 21. Juni IS66. Auszug aus dem Totenbuch der St. Stefanspfarrei) vergl.
Nag! er, Künstlerlexikon, 27, 290; Singer, "Künstlerlexikon, 4, 336; J. von Kopf,
Lebenserinnemngen eines Bildhauers, 54.
2) Wilh. Lübke an Paulinens Tochter, Frau M. Bellardi, 29. Juni 1866. Nach-
lass St.
3) Vergl. Uhde, Erinneningen und Leben der Malerin Luise Seidler, 446, und
die dort mitgeteilte Stelle aus einem Briefe Paulinens. — In einem hübschen Auf-
satze, dessen Konzept sich im Nachlass Steinhäusers befindet, hat sie ihre Anschau-
ungen über die verschiedenen Kunstrichtungen ihrer Zeit niedergelegt. Die eigentliche
Bestimmung der Kirnst erblickt sie hier in der „Heiligung und Verklärung der sinn-
88 Karl Obser
schreiben, dass Karl Steinhäuser in den beiden letzten Jahrzehnten seines
Lebens sich vorwiegend der christlich-kirchlichen Kunstrichtung zuge-
wandt hat. Vertraut mit der Ideenwelt der Romantiker, hatte sie sich,
als sie nach Berlin kam, an Bettine angeschlossen; trotz dem Unter-
schied der Jahre begegneten beide sich in ihren Sympathien, und Bet-
tine nahm sich der jungen Kunstnovize mit wahrhaft mütterlicher
Freundschaft an. Diese Beziehungen bestanden auch ungetrübt fort,
als Pauline Franke sich im Herbst 1834 durch häusliche Verhältnisse
gezwungen sah, ihren Berliner Studien schweren Herzens vorläufig zu
entsagen und in die Heimat zurückzukehren. Bald nach ihrer Abreise
hat Bettine der Freundin, deren Umgang sie schmerzlich vermisste, ge-
schrieben: es ist der erste der vorliegenden Briefe, die mit einer Aus-
nahme sämtlich an Paulinens Adresse gerichtet sind. Er trägt das
Datum „am ISten*' und fällt, wie die Ankündigung ihres Buches —
„Goethes Briefwechsel mit einem Kinde* — lehrt, in einen der beiden
letzten Monate[^des J. 1834. Die Klage um den Tod Schleiermachers,
dem die vielfach verkannte Frau vertraute und der sie verstand, klingt
in ihm noch nach. Durch ermunternden Zuspruch sucht sie die Freun-
din an ihren künstlerischen Idealen festzuhalten.
1.
Am löten [Nov. oder Dez. 1834].
War wegen Paulinens kranker Schwester Auguste^) bei Dr. Stuler
und hat seinen Rat wegeti Behandlung der Patientin eingeholt.
Ich vermisse Sie^sehr. Wären Sie hier, ich wäre schon zwanzig
mal bei Ihnen gewesen, obschon ich kaum zu mir selbst komme vor
vielen Besorgungen. Max*) und Arragard^) sind jetzt hier, und so
sind die Sieben^Kinder an einem Tisch und hauen tüchtig in die Brocken
ein. Das ist ihre beste Kunst und dabei machen sie einen fürchter-
lichen Lärm, dass einem Hören und Sehen vergeht, wenn sie alle Sieben
lachen, dann möcht ich weinen ; ich komme mir vor wie die gefangene
liehen Natur" ; die christliche Kunst, die ihr hiiher steht und älter ist, als die übrigen
Richtungen, darf darum nicht auf sinnliche Wahrheit und technische Vollendiuig ver-
zichten.
1 )^ Auguste Franke, später Vermählt mit dem Leiter des deutschen archäologischen
Instituts' in Rom, Prof. Dr. Wilhelm Henzen (1816—1887).
2) Maximiliane von Arnim, die älteste Tochter Bettinens (1818—1894), spater
Gemahlin des kgl. preuss. Tieneralleutnants (irafen Eduard Oriola.
3) Armgard von Arnim (18*22—1880), später vermählt mit dem kgl. preuss. Ge-
sandten am Karismher Hofe, Albert Grafen von Flennning.
Bettine von Arnim und ihr Briefwechsel mit Pauline Steinhäuser g9
Psyche. Keiner weiss, was ich will, was ich denke, was ich bedarf.
Die Leute leben ihr Leben, und weil das meine nicht zu dem ihren
passt, so hält man mich gradezu für unsinnig und verkehrt. An meinen
Schleiermacher ^) denke ich oft, dem könnte ichs sagen und mir da-
durch deutlich machen, was ich alles in mir gewahr werde und was
alles auf den Ursprung und das psychische des Geistes geht, dem würde
ichs aussprechen; mir zu lieb kann ichs nicht. Alles lässt sich ver-
einfachen und hierdurch der Wahrheit näher rücken und erst die aller-
jüngste Einfachheit ist Wahrheit und giebt der Seele den Begriff, der
ihr unmittelbare Nahrung wird, wie ich glaube, dass die unmittelbare
Wahrheit gleich sich in die Sele verwandelt, und wenn das wäre, dann
wäre alles gut und die Erlösung hätte sich ins ganze menschliche Da-
sein aufgelöst und war keine Geschichte mehr, die ausser mir läge und
die wir nie begreifen, so viel Mühe wir uns auch geben. Ich meine:
wenn der Geist für alles strebt, was die Sele bedarf, das war das rechte
Leben, und wenn die Sele nie ihrem innern Willen ungetreu würde, so
dass sie noch im lezten Augenblick den Instinkt der frühsten Segungen
habe, dann sey das beste, was wir hier nicht erwerben konnten, für die
Zukunft erworben. Das sag ich, weil ich so dran denk, wie Sie gerne
malen möchten und welche Schwierigkeiten sich Ihnen entgegenstellen
und wie auch mir sich Schwierigkeiten entgegenstellen bei allem, was
mir lieb ist; ich habe aber bemerkt, diese innere Treue ist der lern-
samste Weg und kein andrer ist besser. So mancher hat grosse Fort-
schritte gemacht blos aus Sehnsucht und Liebe zur Sache, während er
bei angestrengster Übung nichts lernte. Das behalten Sie mir ja im
Herzen, dass nichts verloren ist, sobald wir nichts verloren geben. Es
ist eine gar gewaltige Sache, wenn wir uns mit Leidenschaft an etwas
hängen, was scheinbar nur eine Sache ist (wie die Kunst) ; dann können
wir sicher sein, dass unsere Seele geneigt ist mit Geistern zu leben und
dass sie es durch Treue auch durchsetzen wird, dass der Geist mit ihr
in der Liebe lebt; ja alle Versuche in der Kunst sind Liebschaften mit
den Geistern, denen wir das bessere abgewinnen, indem wir uns ihr aufs
zärtlichste einschmeicheln und Beethoven hat das meiste Glück in
dieser Liebe gehabt von allen, die ich kenne. Da können Sie aber auch
gleich sehen, wie tölpisch sich mancher dabei nimmt. Am schlimmsten
hat diesmal Hansel') um die Gunst der Geister gefreit. Sein abscheu-
1) Ülier Bettinens Beziehungen zu Schleiermacher, der ihre Söhne konfirmierte,
vergl. H. Grimm im Goethe- Jahrbuch, I, 5. Ihr Briefwechsel ist noch ungedruckt.
2) Wilhelm Hensel (1794—1861), Historien- und Bildnismaler, Professor an der
Berliner Kunstakademie. Singer, Künstlerlexikon, 2, 160.
90 Karl Obser
lieh grosses Bild machte den Baum, wo es hing, zu einer unangenehofien
Gegend, die man gerne vermied; er und seine Frau hatten unterdessen
das Ausstellungs-Fieber im höchsten Orade und hofften jeden Augen-
blick, es würde verkauft werden, aber leider Gottes ist die gemalte
Judengesellschaft zu der ungemalten zurückgekehrt, ohne sich zu ver-
silbern; wer weiss nun, wenn Hansel diesen Gegenstand der Verzweif-
lung los wird. Versäumt haben Sie nichts auf der Ausstellung auser
ein paar herrlichen Landschaften und das beste Bild, eine Frau mit
einem schlafenden Kind betend, von Maes,^) doppelte Beleuchtung einer
Kircbenampel und Sonnenlicht, wunderbar schön, halbdunkel, — man
wusste nicht wars Licht oder Schatten, was diese Figur hervorhob.
Wären Sie hier gewesen, so müssten Sie es kopieren, Sie hätten mehr
gelernt für eignen Bedarf wie von Tizian, ich will nicht sagen Coregio.
Adieu Bettine.
Soll ich, wenn ich eine Wohnung miethe, auf Sie rechnen, wenn es
möglich ist. Es wäre mir ganz recht wieder mit Ihnen in einem Haus
zu wohnen, man könnte sich gegenseitig erleichtern. Ich geh die Kunst
noch nicht auf; mein Buch^) kommt 14 Tag nach Neujahr. Grüssen
Sie Ihre Mutter und liebe Schwester. am löten.
Mit einem kurzen Billet aus dem Herbst des folgenden Jahres ent>
schuldigt Bettine, dass sie ein Schreiben Paulinens nicht ausführlicher
beantworte; „Goethes Briefwechsel, der inzwischen erschienen war,
ungeheures Aufsehen erregte und der Verfasserin mit einem male einen
Ehrenplatz in der deutschen Litteratur eroberte, soll ihr in Bälde
zugehen.
2.
3. Okt. 1835
Meine gute Frank, ich habe in dieser Zeit keine Ihnen zu ant-
worten. Mein Buch schicke ich, wie ich von einer Beise zurückkehre,
die ich mit Savignys^) auf das Land mache; sie suchen Trost in der
Einsamkeit, sie haben eine Tochter in Griechenland verlohren. Der
Posten, ihr Tröster zu sein, fällt mir schwer, aber was schwer ist, ge-
1) Jan Baptist Maes (1794 — 1856), aus Gent gebürtig. Das hier besprochene
Bild ist wohl die „betende römische Bäuerin", die sich jetzt im Besitz der Münchner
Pinakothek befindet. Singer, a. a. 0., III, 75.
2) „Goethes Briefwechsel mit einem Kinde**, dessen Vorrede vom August 1S34
datiert, dessen Ausgabe si<'h aber l)is zum Frühjahr 1835 verzögerte.
3) Karl Friedrich von Savigny, der berühmte Rechtsgelehrte, war vermählt mit
Kunigunde Brentano und Schwager Bettinens.
■n
Bettme von Arnim und ihr Briefwechsel mit Pauline Steinhäuser 91
lingt. Das wissen wir beide. Adieu. Wollen Sie wieder herkommen
(was ich Ihnen rathe, weil Sie mir abgehen), so finden Sie die alten
Verhältnisse in meinem Herzen
Bettine Arnim
am 3ten October
1835.
Damit bricht der Briefwechsel für einige Zeit ab ; wenigstens haben
sich unter dem Steinhäuser'schen Nachlasse aus den nächsten acht Jahren
Briefe Bettinens nicht vorgefunden, wenngleich manches, was sich in
diesem Zeiträume ereignete, bei den herzlichen Beziehungen zwischen
beiden Teilen einen brieflichen Verkehr wahrscheinlich macht.
Die Hoffnung Bettinens auf eine Bückkehr der Freundin nach
Berlin sollte sich nicht erfüllen. Pauline Franke wurde zunächst in der
mecklenburgischen Heimat festgehalten, nach dem Tode der Mutter war
sie dort unentbehrlich. Karl Steinhäuser aber weilte seit dem Herbst
1835 in Rom, die Munifizenz einiger Bremer Kunstfreunde hatte ihm
die Mittel zu einem längeren Aufenthalte in dem Lande seiner Sehn-
sucht gewährt. Die grossen Vorbilder der Antike, in deren Studium er
sich versenkte, übten eine tiefe Wirkung auf ihn aus. Es begann für
ihn eine Zeit sorgenfreien, glücklichen Schaffens, die ihn von Erfolg zu
Erfolg trug. In rascher Folge entstand eine Anzahl seiner besten
Werke: Genrefiguren, wie das bekannte Muschelmädchen, der Angel-
fischer, der Violinspieler und der Hirte mit dem Lamm, zwei prächtige
Marmorreliefs, von denen das eine Psyche, das andere Amor darstellt,
der von einer Löwin gesäugt wird, während Venus die herandrängenden
Jungen abwehrt, — vor allem aber eine seiner herrlichsten Schöpf-
ungen, der selbst Thorwaldsen seine offene Bewunderung nicht versagte,
die Gruppe von Hero und Leander, in der er das Hohelied seiner Liebe
in ergreifender Weise verkörperte. Die günstige Gestaltung seiner
äussern Lebenslage gestattete dem jungen Meister, nach langer Warte-
zeit seinen sehnlichsten Wunsch zu befriedigen und einen eigenen Herd
zu begründen. Im J. 1841 folgte Pauline, von ihrer Schwester Auguste
begleitet, seinem Bufe und wurde in der ewigen Stadt, die ihnen die
zweite Heimat wurde, die Seinige. Auch sie fand für ihre künst-
lerischen Bestrebungen auf dem klassischen Boden neue Nahrung. Mit
Eifer widmete sie sich ihren Studien ; als erstes grösseres Gemälde ent-
stand eine „Esther*^, die sich schmückt, um vor König Ahasverus zu
erscheinen.
92 Karl Obser
Dieses Bild ist es, an das ihr Briefwechsel mit Bettinen wieder
anknüpft. Pauline Steinhäuser mochte wohl wünschen, dass der König
es sehe, wenn' es zur Ausstellung nach Berlin gesandt werde ; auch An-
liegen anderer Art, die ihren Mann betrafen, die wir aber nicht näher
kennen, beschäftigten sie. Sie kannte die einilussreichen Bjeziehungen
der Frau von Arnim zu Friedrich Wilhelm IV. und ersuchte sie daher,
im Vertrauen auf die alte Freundschaft, um ihre Vermittlung. Mit
Freuden ging diese darauf ein. Geiger, der das Schreiben, welches
Bettine in dieser Angelegenheit an den König richtete, zum erstenmal
veröffentlicht hat,') ist geneigt, dasselbe in das Ende der vierziger
Jahre zu verlegen, giebt aber zu, dass es wohl auch einer früheren
Zeit angehören könne. Im Zusammenhang mit dem Folgenden kann
kein Zweifel darüber bestehen, dass es in die ersten Monate des J. 1843
fällt. Bettine legte den Brief der Freundin dem Könige vor. „Er ist
geschrieben, bemerkte sie, von einer jungen Künstlerin, die in ihren
frühsten Anlagen schon weit über das gewöhnliche Talent hinausragte.
In diesem Augenblick malt sie eine Ester, die sich schmückt, um vor
dem König Ahasverus die Anliegen seines Volkes darzulegen." Ein
kurzer Bescheid Friedrich Wilhelms IV. Hess Gutes hoffen, und Btttine
beeilte sich, den Freunden in Rom davon in einem Briefe Kunde zu
geben, aus dem ihre warme Verehrung für den König spricht.
3.
[2. März 1843]
„Wegen Ihres Künstlerpaares werde ich nach Rom schreiben und
hier den Rauch befragen. Ich hoffe Ihnen bald gute Kunde geben zu
können. Friedrich Wilhelm.*
Liebe Pauline. Am 26t«n Februar schrieb mir die obigen Zeilen
der König in Bezug auf Sie beide. Ich hoffe, dass sie Ihnen neues
Lebensfeuer zuströmen werden und dass die Hoffnung auch auf dem
Gesicht Ihrer Ester blühen werde. Von dieser Ester hab ich dem
König geschrieben und habe das (was ich ja auch immer in Ihren
Kunstversuchen herausfühlte) von Ihnen gesagt. Ich weiss, wie oft
eine heilige Energie einem überkommt schon bei der Ahnung verstanden
zu werden. Mögte dies Gefühl Ihnen die bitteren Stunden abkürzen.
Alles was Sie haben mit Sorgen erleben müssen, wird auch nicht ohne
Vortheile für Sie beide sein.
1) a. a. 0. 192.
Bettine von Arnim und ihr Briefwechsel mit Pauline Steinhäuser 93
Was kann ich Ihnen noch sagen? — Ich will mich eilen, den
Brief abzuschicken, besseres als die lieben ersten Zeilen kann ich Ihnen
ja doch nicht geben! Liebe Pauline! Da es mir nun mit so leichter
Mühe, ja mit Genuss gelungen ist, kann ich Ihnen nur dafür danken,
dass Sie mich ausersehen baben und keinen Andern. Wenn Sie denn
doch gern mit dem lieben Gott zu thun haben, so empfehlen Sie ihm
den König recht heiss und innig. Seufzer und Wünsche für das Wohl
geliebter und geheiligter Personen sind so naturgemäss der Dankbarkeit
und Liebe, dass sie doch zu etwas nützen müssen und so denk ich mir,
dass sie allenfalls magnetisch die Luft schwängern und so sich gegen-
seitig verstärken, so dass zulezt eine ganze Atmosphäre solcher Herzens
steigernden Gefühle sich bilde, in der eben Fürsten nur gedeihen können.
Und besonders, liebe Pauline, unser König hats vor Andern nötig ge-
hoben und getragen zu sein von echten Gefühlen der Begeisterung, nicht
von unechten, die ihn immer umgleisen und nur sich selbst auf dem
Gipfel erhalten wollen, indem sie aber doch gewiss sind, dass sie weder
Geist noch Glück haben.
Dass Sie in Rom sind und doch seufzen nach dem Vaterland!
Und ich mein, dass zu meinem Glük nichts anders dienlich sei, als
blos die unendlich blaue Himmelswiese über der heissen Erde zu be-
schauen, wärend die Pflanzen im Mittagschlummer ihr Haupt senken,
und da so mit ihnen zu ruhen, bis der Thau wieder ihr stilles Leben
erfrischt und ihre feinen schwankenden Arme badet und die Nachtluft
sie wieder kühlt. So, mein ich, möcht ich in Italien ganz befriedigt
leben, und die Schleussen meiner Gedanken würden dann reichlichen
Seegen zuströmen lassen.
Was man Glük der Erde nennt, wenn es einmal nicht mehr das
Ziel unserer Wünsche ist, so wächst man gleich darüber hinaus; ich
zum wenigsten könnte nicht wieder zu dem zurückkehren. Die Geistes-
flamme verzehrt die Lebens- und Glücksreitze. Begeisterung für Ruhm
findet keine Nahrung in mir. Nun das war auch kaum mehr thunlich
für gesunden Geist auf einer Steppe, wo keine edle Pflanze ihrer Wurzel
Nahrung findet. Wie soll[*)te da] der Lorbeer sich gefallen!
Ich grüsse Sie herzlich
Bettine Arnim,
am 2ten März
1843
Adr: Signor Steinhäuser
Caffe greco Roma
1) Riss und Lücke im Papier.
94 Karl Obser
Der König hielt Wort. Als die , Esther* 1844 zur Ausstellung
nach Berlin wanderte und durch Bettine ihm vorgestellt wurde, fand
sie seinen Beifall und ging in seinen Privatbesitz über.') Auch weiter-
hin scheint Bettine die befreundete Künstlerin nach Kräften gefördert
zu haben : in einem Schreiben an den königl. Geheimkämmerer Schöning
giebt Steinhäuser wenigstens der Hoffnung Ausdruck, dass es seiner
Frau vergönnt sein möge, ,,eine gelungenere Leistung, wozu'Fraa von
Arnim ihr gefälligst die Zeichnung entworfen hat, nämlich eine Iphi-
genie, die bald fertig sein würde, Seiner Majestät später vorlegen zu
dürfen^. Das Bild ist dann in der That, und zwar zweifellos durch
Vermittlung Bettinens, vom Könige erworben worden, ebenso wie später-
hin ein «Christus mit der Samariterin am Brunnen '', der sich in einem
der königlichen Schlösser befinden soll. Von den Bemühungen Bettinens
wegen eines vierten Gemäldes, das den „Genius der Rebe^ darstellte,
wird in dem folgenden Briefe, den wir mitteilen, die Bede sein.
Aber auch der Interessen Steinhäusers nahm sie sich mit all dera
Eifer an, den sie stets entfaltete, wenn es ein gutes Werk zu tbun
galt. Ihrer Fürsprache hatte der Meister es mit zu verdanken, dass
jene Marmorstatue, die unter dem Namen des „Muschelmädchens* be-
kannt geworden ist, — ein junges Mädchen voll Anmut hält eine Mu-
schel ans Ohr und lauscht erstaunt ihrem Brausen — im königlichen
Museum Aufnahme fand (1843).') Die Vermutung liegt nahe, dass die
hochherzige Frau auch bei späteren Erwerbungen mitgewirkt hat, so
vor allem, als es sich um den Ankauf der Gruppe von „Hero und
Leander' handelte, die heute im königl. Palais steht. Da Karl Stein-
häuser im Frühjahr 1846 auf kurze Zeit nacl) Deutschland zurückkehrte
und im Mai in Berlin verweilte, ist es möglich, dass damals eine Ver-
einbarung darüber getroffen wurde. Jedenfalls wissen wir, dass er mit
seiner Frau Bettine besuchte und die alten herzlichen Beziehungen er-
neuerte. Bei diesem Anlass kam — wohl zum erstenmale — auch eine
Angelegenheit zur Sprache, die beide Teile fortan lebhaft beschäftigte
und auf die wir, da sie in allen folgenden Briefen eine bedeutsame
Rolle spielt, etwas näher eingehen müssen.
1) Nagler, 17, 201.
2) Undatiertes Konzept, aus dem J. 1844.
Jj) Steinhäuser hatte die Skizze nach Italien mitgenommen ; 1838 war das Gips-
modell aufgebaut, 1841 die Ausführung in Marmor vollendet. Das Original gelangte
nach Bremen in den Besitz des Senators Lürmann, nach Berlin eine Wiederholung.
für die er 1500 Thaler erhielt. Nach den nachgelassenen Papieren.
Bettine von Arnim nnd ihr Briefwechsel mit PauUne Steinhäuser 95
Es handelt sich um den Plan eines Goethedcnkmals, mit dessen
Schicksalen ein gut Stück Lebens- und Leidensgeschichte Bettinens ver-
knüpft ist. Anfangs der 20 er Jahre hatte sich auf Anregung von
Sulpice Boisser^ ein Ausschuss in Frankfurt gebildet, der dem Dichter
ein Denkmal in seiner Vaterstadt zu errichten beschloss.') Bettine
hatte den Gedanken begierig aufgegriffen; in Erinnerung an eine Be-
gegnung mit Goethe in Böhmen war, wie sie erzählt, der Entwurf ent-
standen, der späterhin als Titelbild aus ihrem »Briefwechsel* allgemein
bekannt geworden ist : der Dichterfürst auf seinem Throne, mit nacktem
Oberkörper, den Mantel über die Schultern zurückgeschlagen, mit der
Leier in der Linken, vor ihm die zierliche, mädchenhafte Psyche, die
in die Leier greift. Wir kennen das Urteil Goethes über die Zeichnung,
die ihm vorgelegt wurde. »Die Skizze der Frau von Arnim — • schrieb
er, im Gegensatz zu dem, was Bettine berichtet, an Staatsrat Schulz —
ist das wunderlichste Ding von der Welt; man kann ihr eine Art Bei-
fall nicht versagen, ein gewisses Lächeln nicht unterlassen, und wenn
man das kleine, nette Schooskind des alten impassiblen Götzen aus
seinem Naturzustande mit einigen Läppchen in den schicklichen be-
fördern wollte, und die starre, trockne Figur vielleicht mit einiger An-
muth des zierlichen Geschöpfs sich erfreuen liesse, so könnte der Ein-
fall zu einem kleinen hübschen Modell recht neckischen Anlass geben.'
Mit Hilfe eines jungen Künstlers, Wichmann, hatte Bettine dann das
Thonmodell hergestellt, das sich heute im Frankfurter Museum befindet.
Christian Kauch, der um seine Meinung befragt wurde, hatte die Skizze
anfänglich nicht ungünstig beurteilt und versichert, es könne ein „in-
teressantes, bedeutendes Bild*^ daraus werden; als aber nach Jahresfrist
die Frage an ihn herantrat, ob er die Ausführung übernehmen wolle,
lehnte er ab. Das Ganze schien ihm zu malerisch gedacht; .die idyl-
lische Darstellung Goethes auf dem bilderreich verzierten Sessel", mit
dem «todten Symbol der Leier* möge wohl in einem Gemälde oder
Relief gelingen, als „eigentliche ikonische Statue, welche die charak-
teristische Persönlichkeit des Darzustellenden verewigen ** solle, sei sie
jedoch unausführbar. Der Bildhauer ernte überdies nur Mühe, die Er-
finderin alles Lob.^) Man hatte in Frankfurt, wie Bettine erzählt.
1) Vergl. zum Folgenden: H. Grimm, Bettina von Arnim. Goethejahrbuch
1, 5ff.; Eggers, Rauch und Goethe, 6, 57, (Jo, 97; Briefwechsel zwischen
Ooethe und Staatsrat Schultz, ed. Düntzer, 312; ßcttine von Arnim,
Goethes Briefwechsel mit einem Kinde. Dritte AuH. (1881). 398if., 542flf.
2) An Karl Ritter, 10. Febr. 1825. Eggers, Rauch und Goethe. S. 79.
96 Karl Ohser
trotzdem Neigung gezeigt, den Entwurf ausführen zu lassen, aber der
Verzicht Goethes auf sein dortiges Bürgerrecht verstimmte, und die
Sache blieb zunächst zu Bettinens Leidwesen liegen. Allein sie gab die
Hoffnung nicht auf. Als sie 1835 den «Briefwechsel Goethes mit einem
Kinde" veröffentlichte, trug das Titelblatt die schlichte Widmung:
„Seinem Denkmal!* Der Ertrag des Buches sollte zur Verwirklichung
des Planes dienen, der ihr immer mehr zu einer hohen Lebensaufgabe
wurde. Aus der Beschreibung, die sie im dritten Teile giebt, ersieht
man, wie die monumentale Apotheose des geliebten Dichters damals
ihrem Geiste vorschwebte. Die Komposition ist im Vergleich zu dem
ursprünglichen Entwürfe reicher geworden, die Gestalten Mignons und
der in Bettine personifizierten Mänade, die früher fehlten, treten — man
darf wohl sagen, nicht zum Vorteil einer einheitlichen Wirkung des
Ganzen — hinzu. ^)
Durch eine Übersetznng des Buches ins Englische, die Bettine 1838
veranstaltete, dachte sie das unternehmen weiter zu fördern : die Über-
setzung wurde in Amerika nachgedruckt und in England gelang es trotz
aller Bemühungen nicht, sie unter das Publikum zu bringen.') Noch
1847 bereitete der Vertrieb der Auflage eine Fülle von Widerwärtig-
keiten^) und statt des zu Gunsten ihres Denkmals erwarteten Gewinns
erwuchsen der Verfasserin nur Unkosten. All dies hielt Bettine jedoch
nicht ab, ihren Plan weiter zu verfolgen; ,sie kann nicht darauf ver-
zichten, — schreibt ihr litterarischer Berater Varnhagen — sie fühlt
eine Verpflichtung, die sie erfüllen will*.*)
Erst 1846 kam die Angelegenheit indes in Fluss. Die Begegnung
mit Karl und Pauline Steinhäuser wurde dafür entscheidend. Nichts
lag näher, als dass Frau von Arnim mit dem befreundeten Künstler-
paare den Entwurf besprach und von ihren Hoffnungen und Enttäusch-
ungen berichtete. Steinhäuser erwärmte sich für die Idee und hielt sie
im Gegensatze zu Bauch auch für ausführbar; beim Abschiede bat
Pauline, dass ihm gestattet werde, auf eigene Gefahr nach der Skizze
das Denkmal herzustellen, und Bettine willigte ein. Ein schriftliches
1) Goethes Briefwechsel mit einem Kinde, 542. »Auf der einen Seite der Thron-
lehne ist Mignon als Engel gekleidet mit der Iberschrift : ..So lasst mich scheinen,
bis ich werde**, jenseits Bettina, wie sie, zierliche kindliche Mänade, auf dem Köpfchen
steht, mit der Inschrift: ^Wende die Füsschen zum Himmel ohne Sorge. Wir
strecken Arme betend empor, aber nicht schuldlos wie Dn**.<
2) Geiger a.a.O. 192.
3) Vergl. S. 100.
4) 9. Jan. 18-12. Tagebücher, 2. S. 7.
Bettine von Amiin und ihr Briefwechsel mit Pauline Steinhäuser 97
Abkommen wurde nicht getroffen, aber Bettine Hess — wie sie selbst
wenigstens versichert — die römischen Freunde darüber nicht im
Zweifel, dass sie finanziell das Unternehmen nur durch den Ertrag ihrer
litterarischen Thätigkeit unterstützen könne. Steinhäuser mochte gleich-
wohl um so eher geneigt sein, die Arbeit zu übernehmen, als er nach
den Äusserungen Bettinens mit Grund annehmen durfte, dass der König,
der von ihrem Vorhaben unterrichtet war, sich dafür interessiere, und
Aussicht vorhanden schien, dass er die Sache fördern werde.
Der Entwurf selbst, an dem Bettine in der Folge eifrig arbeitete,
war inzwischen beträchtlich erweitert worden : die ursprüngliche Gruppe
wurde in Verbindung gesetzt mit einem Monumentalbrunnen, der im Lust-
garten vor dem Berliner Museum oder vor EroUs Etablissement seinen Platz
finden sollte.^) In einem Briefe an Varnhagen vom 12. Dezember 1846
beschreibt sie das etwas phantastische Gebilde, wie es vor ihren Augen
steht.^ Die Nische, die sich hinter der Gruppe eröffnet, ist mit einem
^grossartigen Basrelief umkleidet. ,,Die Gottheit der Sonne, ein
Jünglingsweib, schwebt auf von der Erde ; mit flammendem Haupt und
gehobenen Flügeln trägt sie auf beiden starken hochhinaufragenden
Händen den Tierkreis, dessen Zeichen alle in Gold ausgefüllt mit
schraffierenden Linien die obere Einfassung der Nische bilden. Auf
beiden Seiten dieses emporschwebenden Genius steigen zwei riesige Aloe
empor, die mit der Wurzel unter den Stand der Nische greifen, das
mächtige Blätterwerk aber schweift am Würfel hinab, der den Stuhl
trägt, und bildet so zwei Knaufe, die in zierlichen Schlangenlinien sich
verflechten; die Stachelsäume des Blattwerks sind alle von Gold. Das
schneeweisse Sonnenweib hat einen weiten Mantel, der sich hinter ihr
ausbreitet, in ganz einfachen Faltenlinien.^ Unten am Nischenrand
taucht die Erdkugel auf, mit der Inschrift Germania ; ein Lorbeerstamm
verbreitet sich über sie «nach antikem Sty^ ; seine Verzweigungen
tragen Nester mit Vögeln, «die alten Vögel schweben aufwärts und ab-
wärts zwischen die Falten des Mantels.^ „Eine goldene Inschrift füllt
zu beiden Seiten die Ecken aus, wo der Mantel schmal am Hals des
Mannweibs zuläuft; ihr Inhalt: Ich schütze die Wölbung des Himmels
und schütze die Sänger der Erde.^ Das Ganze, versichert Bettine, ist
indes keineswegs überladen, vielmehr sehr einfach «und nur so belebt,
lim die Seele zwischen geistigem und sinnlichem Beschauen zu fesseln **.
Der Würfel, der die Nische trägt, ruht auf zwei Stufen. Die unterste
1) Varnhagen, Tageluioher (9. M»ii 1847) 3, 85. -> Vergl. dazu S. 108.
NEUE HEIDELB. JAHRBUEGHER XII. 7
98 Karl Obser
«ist ganz einfach eingerichtet, dass Lorbeer und Orangerie darauf zu
stehen kommen", die zweite aber besteht wiederum aus einem Marmor-
basrelief.
Es lag nicht in der Natur der unsteten Frau, das Gegebene fest-
zuhalten. Wie der überquellende Reichtum der Phantasie und der
Mangel an geistiger Selbstzucht ihre litterarische Produktion beein-
trächtigten, so erschwerten sie auch ihr künstlerisches Schaffen. Immer
neue Ideen tauchten, wie man aus den folgenden Briefen ersieht, in
ihrem beweglichen Geiste auf; was sie heute entworfen, gab sie morgen
einem verlockenderen Einfalle preis, und man versteht es wohl, wenn
die Geduld des Künstlers, der ihr ein williges Ohr leihen sollte, unter
solchen Umständen oft auf eine harte Probe gestellt wurde.
Allein sie ging mit heller Begeisterung ans Werk. Der Maler
Ratti half ihr bei den Zeichnungen; Professor Stier versprach ihr bei
dem architektonischen Aufbau des Ganzen mit seinem Rate an die Hand
zu gehen. „Wenn Sie doch ahnen könnten, — schreibt sie mit dem
ihr eigenen naiven Selbstlobe an Pauline — wie schön ich das Monu-
ment erfunden habe! Ach, das wird das beste, was je gesehen wurde
in alter und neuer Zeit!''
Alles schien auf dem besten Wege. Friedrich Wilhelm IV, dein
sie und ihre Tochter Armgard die Sache vortrugen, stand ihrem Pro-
jekte sympathisch gegenüber und Hess ihr sagen, sein liebster Wunsch
werde dadurch erfüllt; »er will — beteuert Bettine — alles, was und
wie ich will*". War auch von irgend welcher bestimmten materiellen
Zusicherung allem Anscheine nach nicht die Rede, so zweifelte sie doch
nicht, dass er, wenn erst das Ganze fertig sei, seinen guten Willen be-
thätigen und das Monument übernehmen werde. Aber das Schicksal
fügte es anders. Yielftltiges persönliches Ungemach brach über Bettine
herein. Ein Buch, dessen Erträgnis sie dem Denkmal zuwenden wollte,
— ihr Briefwechsel mit Philipp Nathusius — wurde polizeilich be-
schlagnahmt, ein unerquicklicher Prozess mit dem Berliner Magistrat
und Rechtshändel mit dem Buchdrucker und Papierhändler brachten
mancherlei Aufregung und Sorge, die wirtschaftlichen Übelstände, die
das Jahr 1848 im Gefolge hatte, zogen auch sie empfindlich in Mit-
leidenschaft. Dazu kam ihre wohlgemeinte, aber nicht immer glück-
liche Einmischung in die politischen Wirren, in denen sie, wie ihre
Verwendung für Schlöifel, Mieroslawski, Kinkel und Corvin bezeugt, un-
bekümmert um die realen Verhältnisse, lediglich dem Zuge ihres Her-
zens folgend, sich eifrig der Verfolgten und Schutzbedürfbigen annahm
Rettine von Arnim und ihr Briefwechsel mit Pauline Steinhäuser 99
und gegenüber der drohenden Beaktion unerschrocken und mit leiden-
schaftlicher Beredsamkeit bei dem Könige für freiheitliche Reformen
eintrat. Ihre Beziehungen zu dem Monarchen lockerten sich, gehässige
Angriffe der Gegner erweiterten geschäftig die Kluft, schliesslich kam
es im Frühjahr 48 durch ihren Absagebrief vorübergehend zum f5rm-
lichen Bnich. Unter diesen Umständen war auf Unterstützung durch
den König vorläufig nicht zu zählen, ganz abgesehen davon, dass zur
Zeit auch die Mittel völlig fehlten. Die Lage wurde um so peinlicher,
als Steinhäuser, der nach Vollendung des Gipsmodells ^) im Herbst 1847
mit der Ausführung der etwa in der Grösse des „Moses'' von Michel
Angelo geplanten Kolossalstatue des Dichters begonnen hatte, sich nach
Garantieen für die Zukunft oder doch wenigstens nach einem Ersätze
für beträchtliche Auslagen sehnte. Bettine musste ihn aufs Ungewisse
vertrösten, und gelegentliche Verstimmungen konnten nicht ausbleiben,
zumal da auch der Gegensatz in den politischen Anschauungen — Stein-
häuser war, dem Beispiele seiner Frau folgend, unter dem Eindrucke
der revolutionären Ereignisse zur katholischen Kirche übergetreten —
auf die beiderseitigen Beziehungen zurückwirkte.')
Über all diese Dinge werden wir durch die nächsten hier mitzu-
teilenden Briefe, unter denen der aus dem Mai 1848 stammende wohl
das meiste Interesse beanspruchen dürfte, eingehender unterrichtet.
4.
[Juli 1847]»)
Liebe Pauline! eben erhalte ich Ihren Mahnbrief vom 9ten Juli;
ich entschuldige mich nicht, denn früher zu schreiben lag nicht in
meinem Gebein. Dinge, die gar mit dieser Sfäre unsers Verkehrs
keinen Connex haben, thürmten sich vor mir auf und versperrten mir
alle Intressen dieser Art; nehmen Sie an, dass ich eine Weile Tod war
und dass man meine irdischen Überbleibsel zu allerlei vernüzte, wie man
einen abgehaueneu Baum verwendet, wozu er auch nichts sagen kann,
obschon sein Geist in die Weite schweift und Thau aufsaugen möchte,
aber nicht kann!
1) Varnhagen, Tagebücher (9. Mai 1847) 3, 85. Bettine erzählt bei «lieser Oe-
le^^enheit, sie wolle es dem Könige anzeigen und ihn fragen, ^ob er den dazu von ihr
erdachten Brunnen und den i'Iatz* herzugeben geneigt sei.
2) Vergl. S. 119.
3) Das Jahr ergiebt sich aus dem Vermerk ttber Freimunds Heirat; da femer
ßetUne «eben** erst den Brief Paulinens vom 9. Juli empfangen hat, muss ihr Schrei-
ben noch in den gleichen Monat fallen.
7*
100 Karl Obser
DeDken Sie also, dass dies Schreiben Ihnen ein Lebenszeichen sei
von einer neuen Auferstehung, obschon ich noch nicht Bandenfrei bin,
das heisst obschon noch ein guter Theil meiner Selbst verarbeitet wird
zu allerlei Widersprüchen, zum Beispiel in einem Persönlichen Prozess
mit dem Magistrat hiesiger Stadt. ^) Also: meine Auferstehung ist nah.
Viel hab ich indessen gethan fürs Monument! einen Sachverstän-
digen hab' ich nach London gesendet, um die dortige Auflage des Göthe-
buchs unter den trefflichsten Bedingungen oder vielmehr Auspizien ver-
kaufen zu lassen. Dieser Mensch, versehen mit ein paar hundert Tblr.,
die ich mit grosser Aufopferung erübrigte, und mit einer Vollmacht
nach eignem Gutdünken über den englischen Verlag zu verfügen, hat
seit seiner Abreise nun schon in der 6ten Woche nichts von sich hören
lassen. Wir haben ihm Briefe und Aufträge nachgesendet, aber keine
Antworten sind erfolgt! — sollte er ermordet sein, sollte er durchge-
gangen sein mit samt dem Erlöss des Verlags? Sollte er aus Leicht-
sinn und Übermuth nicht antworten? — Dieses sind die Fragen, die
wir jeden Augenblick uns stellen. Seine Verwandten sind ausser sich,
ich selbst, da er mein Geschäftsführer war, bin dadurch wieder in un-
zählige Verlegenheiten und Geschäfte hineingerissen. Zugleich habe ich
in dem heisesten aller Sommer die schwierige Aufgabe eine Wohnung
zu suchen. Dann hat mein Sohn Freimund geheirathet,^) ich habe seine
Wohnung eingerichtet, ein demolirtes Landschloss zu einem Zauber-
pallast umgewandelt, mit eigenen Händen; ich habe von Morgens
4 Uhr bis abends in die Nacht gezimmert, gemeiselt, gemahlt, geweisst
Tapezirt, geleimt und alle Handwerker instruirt und bin beinah alle
Abend ohnmächtig vor Müdigkeit eingeschlafen und hatte vergessen zu
essen zu trinken. — Dann kam ich nach der Stadt, hab Ihr Bild ^) an-
gesehen, war entzükt über über die glükliche Fährte, auf der
Ihr Pinsel ist, so glüklich zwar, dass ich augenbliklich sah, wie es
durch ein wenigstes, aber Wesentlichstes ein unübertrefflichstes werden
könnte. Ach, warum war ich nicht dabei ! ein einzig Anregen und Sie
hätten die höchste Grazie eines Corregio darin erreicht! Ich habs ge-
sehen mit meinen eignen Augen das Mystische der innern Schauung.
Denn — zürnen Sie nicht, sondern lachen Sie und weinen Sie, liebste
1) Wegen Heranziehung ihres Verlags zur Gewerbesteuer. Geiger, lOS.
2) Freimund von Arnim hatte sich am 29. Mai 1S47 mit Anna von ßaumbach
vermählt.
3) V^ermutlich, wie die folgende Beschreibung andeutet, das Bild: «Genius der
Bebe**, das 1H47 entstanden ist. Singer, Künstlerlexikon,
Bettine Ton Arnim und ihr Briefwechsel mit Pauline Steinhäuser 101
Paiiline, zugleich wie an eiuem Tag, wo die Sonne durch Kegengewölk
schimmert, — wenn ich Ihnen sage, auf welche einfache Weise ich den
höchsten Efl'ekt in Ihr Bild brachte — ich nahm die Puderschachtel
von Katti') (zum Glük besizt diese Familie ein so rares Moebel) und
bepuderte das Weinlaub mit Nebelflökchen. 0, wie unendlich gewann
augenbliklich das Ganze! erstlich erschien das Bild noch einmal so
gross ; es war durch das etwas zu harte Grün des Weinlaubs nicht mehr
in zwei Hälften zerschnitten, und indem ich diese Floken nach oben hin
die Figur zart umspielen und auf den höchsten Blättern tanzen Hess,
drängte sich der neblige Hintergrund mehr hervor, ja er zog gleichsam
um sie her, ganz beweglich. Die Burg rechts vom Beschauer ward
auch mehr Traumartig und die Sonne, welche eine zu bescheidene Zu-
ruckgezogenheit observirt, ward hierdurch etwas markanter. Erinnern
Sie sich, als ich Ihnen die zerstreuten Dampffloken der Bisenbahn zeigte
und Ihnen bedeutete, so müsse der Herbstnebel die Figur umflattern,
grade denselben Efl'ekt erzeugte meine Puderquaste! Und wie edel!
wie magisch ! ja, das war der Mühe werth, eine solche Naturmagie
durch den Pinsel festzuhalten! 0 Genius! verleihe Muth und Aus-
dauer meiner Pauline Steinhäuser! ! ! Feuriges Gebet, nach langer Zeit
zum erstenmal ....
Folgen Nachrichten über die Familien Ratti und Schirmer,
. . . Jetzt komme ich aufs Monument : ich habs auf die Lezt ver-
spart. Dem König ist durch Armgart das Nötige gesagt. Er will
alles, sagt er, was und wie ich will. Ich aber will viel, das heisst
mein ganz Monument, wie ichs erfunden habe, soll gemacht werden.
Dazu will ich die alleroekonomischste Veranschlagung, denn sonst kann
uichts draus werden. Zweitens ist noch eins nothwendig, nemlich, dass
alles geschwind oder vielmehr rasch ins Werk gerichtet werde. Denn
Zeit zu verlieren ist nicht, da ich auch dabei sein will, ja ich muss
dabei sein, sonst wird nichts draus. Also muss Steinhäuser sorgen,
dass er viele Arbeiter bekomme, die alle zugleich daran arbeiten. Jeder
übernimmt ein Basrelief: rechnet also auf ein Dutzend Basreliefarbeiter,
denn ein Dutzend sind zu vollenden. Mehr sag ich diesmal nicht. Der
König hat bestellt, wenn er von seiner Reise nach Bresslau zurükkehrt,
will er die Bebengeländerentsprossne^) ansehen. Dann wird
1) Eduard Ratti, geb. 1819 zu Berlin, Historienmaler, Schüler Hensels. Singer,
Künstlerlexikon, IV, 18.
2) Als die «Rebengeländer-Entsprossne, Sonnengetauft e" hatte König Friedrich
Wilhelm IV. in einem Briefe aus dem J. 1843 Bettine bezeichnet (Vamhagen, Tage*
/
102 Karl Obser
vom Andern aach das Nähere zur Sprache kommen. Aber, wie ge-
sagt, Steinhäuser muss tüchtige Leute in den Basreliefs haben. Wenn
ich kann, so komme ich; ich werde alles versuchen, um es möglich zu
machen. Warum muss denn der grosse Marmorblock transportirt wer-
den? Warum nicht lieber ihn am Ort, wo er gebrochen wird, be-
arbeiten? Ein halbes Jahr! Das ist ein gewaltiger Fetzen Zeit. Den
erlaube ich nicht dazu. Den Marmor samt Basreliefs, samt noch anderem
Nothwendigen wollen wir lieber am Ort des Bruchs machen. Wie soll-
ten wir so lange zu warten von Gott erbitten können? bei der Un-
geduld in unsern Eingeweiden ! — Und wenn ich dort bin, so malen
Wir beide einen Theatervorhang zu gleicher Zeit! — Pauline, denken
Sie, wie jung Sie noch sind, und dass der Jugendrausch eine erlaubte
Sache ist, oder vielmehr eine Bedingung unserer ganzen Existenz ! Gott
mag keinen Foepel, der vor Nüchternheit krepirt ist. Schreiben Sie
mir, geben Sie mir die sichersten Nachrichten über die dortige Exi-
stenz, wie man am wolfeilsten da lebt nnd doch anständig, und wie man
am billigsten reist, welche Wege die besten sind. Sowie ich meine
Monumentzeichnung von allen Seiten fertig habe, werde ich meine An-
schläge machen.
Lachen Sie nicht über allen sanguinischen Unternehmungsgeist!
Alles ist so leicht, wie das Tägliche Verspeisen des Täglichen Brodes!
Sowie der König Ihr Bild haben wird, werde ich Ihnen darüber
schreiben.
Wenn Sie doch ahnen könnten, wie schön ich das Monument er-
funden habe! Ach, das wird das beste, was je gesehen wurde in alter
und neuer Zeit!
Aber malen müssen Sie, aber nicht a la Overbeck ! ') Sondern Kein,
Sonnig, Mark der Natur, Traumdurchwebt, denn alles Gemalte ist ge-
träumtes Leben, und alle Heiligen müssen davor zurükstehen und müssen
der göttlichen Phantasie den Vorrang lassen.
Aber der König verlangt, dass niemand davon wissen solle, drum
seien Sie so vorsichtig als möglich, damit keine Pralereien über die
deutsche Bergkette herübertönt (sie!). Denn sonst ist alles ein Spiel
des Teufels.
Adieu ! Bettine.
bücher, 2, 209) ; hier bezieht sich der Ausdruck zweifellos auf Paulinens obenerwähu-
tes Gemälde: „Genius der Rebe".
l) Vergl. oben S. 87. Paulinens Verehrung für Overbeck spricht sich schon in
ihrem Briefwechsel aus der Brautstandszeit aus. „Lass die alten frommen Bilder zu
Dir reden und Overbeck !*" rät sie dem Geliebten. 21. Juni 1836.
Bettine von Arnim und ihr Briefwechsel mit Pauline Steinhäuser 103
5.
[Mai 1848] »)
— — — die Herausgabe meiner Werke erwarb. Auf das, was meine
Kinder von ihrem Vater ererbten, habe ich keine Ansprüche, es ist
wenig; sie haben es immer selbst verbraucht.
Nach allem diesem müssen Sie einsehen, dass es mir nie einfallen
konnte, anders als durch eigne Anstrengung so viel zu erwerben, um
diese mir ausbedungene Vorhand bethätigen zu können. Dieser An-
strengungen war ich fähig, denn ich habe sie gemacht; dass sie nicht
gefruchtet haben, ist weder die Schuld meiner Intelligenz, noch meiner
Berechnungen, sondern der allgemeine Verrat an der Menschheit, der in
der vor den Kopf geschlagenen Staatsweisheit Posto gefasst hatte und
unter dem sie selbst zu Mist geworden. Selbst wenn es mich per-
sönlich betroffen hätte, dass die Behörden: Magistrat, Kammergericht,
Ministerien, Polizei nnd Potsdamer Begierungs- Präsident nebst der Ober-
censurbehörde ') einverstanden waren, mir einen Abgrund zu graben, in
dem sowohl meine Ehre, als auch[*meine Erwerbsquelle zertrümmert
werden mussten, so würde es dennoch durch die Auflösung aller bürger-
lichen Verhältnisse und gegenseitigen Verpflichtungen, die vermöge
jener über ganz Deutschland verbreiteten falschen Politik ausgebrochen
sind, dennoch denselben Erfolg gehabt haben. Der Buchhandel ist
untergraben. Die diesjährige Messe hat erklärt, nicht zahlen zu können,
da von verschiedenen Staaten, namentlich von Oesterreich verboten ist,
Geld auszuführen. Also die Werke, die mir ohne die geringste Befug-
niss mutwillig durch Polizei und Begierung — (die Bücher, von denen
ich hoffte etwas für das Monument zu erübrigen) — sind confiscirt
worden,') würden auch dann nichts eingetragen haben, wenn dies nicht
geschehen wäre, da die Buchhändler Bankerutt gemacht haben für
dieses Jahr.
Als ich nun die Höfinung für dieses Kunstwerk (für das ich schon
so viele Opfer gebracht) zu wirken, aufgeben musste, habe ich so un-
1) Der folgende undatierte Brief, dessen Anfang leider fehlt, fallt in den Mai
1848. Die Schreiberin, die wiederholt bei der Arbeit unterbrochen worden ist, hat ihn
am 20. Mai beendet und nach Rom abgesandt. Mit Ausnahme der Schlusszeilen liegt
er fast durchweg in Abschrift bezw. Diktat vor.
2) Die Stelle bezieht sich auf ihre verschiedenen Prozesse. YergL^Geiger, 108.
3) Das im Mai 1844 erschienene Buch: ^Clemens Brentanos Frühlingskranz*
war von der Polizei anfänglich mit Beschlag belegt, später aber auf Befehl des Königs
freigegeben worden. Im November 1847 war dann ihre Schrift «Uius Pamphilius und
die Ambrosia", ihr Briefwechsel mit Philipp Nathusius, erschienen und gleichfalls kon-
fisziert worden, ohne dass spater eine Freigebuug erfolgte. Vcrgl. Geiger, 55 ff., 113 ff.
104 Karl Obser
gern und blos aus herzlichem Interesse für Sie mich an den König ge-
wendet; er nahm es mit Freuden auf und fügte hinzu, dass es ganz
so werden solle, wie ich es ausgedacht, ich war eben damit beschäftigt,
eine vollständige Zeichnung davon zu machen. Katti war so herzlich
theilnehmend dafür, dass er gleich sich erbot, meine Erfindung nach-
zuarbeiten, allein mein Mangel an architektonischem Verstand machte
es nothwendig, mich mit einem Architekten zu berathen. Stier ^) wollte
sich dessen annehmen; nachdem er die Skizze in sein Haus genommen
und ich ihm alle einzelnen Theile meiner Erfindung dazu und die ge-
naue Eintheilung gegeben, habe ich ihn nicht mehr dazu bringen können,
sein Versprechen zu erfüllen.
Als der König noch der war, der er heute nicht mehr ist, und als
ich noch nicht bei ihm verläumdet war, konnte ich freilich jenen Schritt
thun und Ihnen auf seine Zusage hin die besten Hoffnungen machen;
jetzt aber, wa alles mich bei ihm verrathen hat, blos um zu hindern,
dass er durch mich die Wahrheit, die ihm noch Heil bringen konnte,
erfahre; jetzt wo er auch glaubt, dass ich mit an seinem Sturz ge-
arbeitet, jetzt wo man auf eine falsche, verrätherische Politik hin daran
arbeitet, ihn wieder emporzubringen, jetzt wo man ihn durch die
schauderhafte Katastrophe des grausamen Verraths am eignen Volk
selbst in den Abgrund gestürzt hat, aus dem man vergebens ihn heraus-
zuarbeiten sucht durch neuen Verrath und durch die unlogischsten, takt-
losesten Gewaltmassregeln; jetzt wo ich ihn zum letztenmale angeredet,
gewarnt und endlich mein Vertrauen zu ihm gezwungen zurücknahm,')
— jetzt ist es mir weder möglich, an sein Versprechen zu mahnen,
noch dürfte er es wagen, etwas in dieser ganz detruirten Zeit zu thun.
Das Volk würde ihn steinigen. Als das neue Ministerium in Folge der
Igten Märznacht eingesetzt war, ergab es sich, dass der ganze Staats-
schatz von 80 Millionen auf 8 geschwunden war; auch diese letzten
Gelder sind jetzt für Kriegsrüstungen drauf gegangen. 60000 Arbeiter
sind hier in der Hauptstadt als ein Boden von Zunder; der geringste
Funke erzeugt eine Feuersbrunst, die durch ganz Deutschland Stoff
1) Wilhelm Stier (1799— 18Ö6), Architekt und Lehrer an der Bauakademie zu
Berlin. A. D. B., 36, 207.
2) In einem, wie es scheint, verloren gegangenen Briefe aus dem « Beginn" des
J. 1848, wohl demselben, auf den in Vamhagens Tagebüchern, 9, 96 angespielt wm^e:
„er (der König) rückte ihr auch ihren Absagebrief vor**. Vergl. Bettinens Schreiben
vomJlO^Sept. 1848) bei Geiger, 126. Geigers Meinung, dass Bettine damit das
Schreiben vom 26. Dez. 1847 (ibidem 96 ff.) im Sinne habe, kann ich nicht teilen, da
von einer Aufkündigung des Vertrauens dort nicht die Rede ist.
Bettine von Arnim und ihr Briefwechsel mit Pauline Steinhäuser 105
findet. Der König sitzt als eine Null in Potsdam, der Prinz von
Preussen, vom Volk verjagt, in England. Die Ueaction, um ihn wieder
herzubringen, wirkt jetzt noch verderblicher, als wenn man sich still
verhielte. Wenn nun auch der König Privatvermögen hat, so ist doch
das ganze Land brot- und mittellos. 40000 Seelen sind vom Hunger
und von Krankheiten, die aus schlechter Nahrung zur Pest geworden,
durch den Tod erlöst. Dies ist in Schlesien der Fall, und noch immer
verbreitet sich die Pest weiter. Allein kein Mensch denkt daran, ihnen
in dieser allgemeinen Verwirrung zu helfen. Wie könnte der König
jetzt an ein Monument denken ? jetzt wo die brotlosen Arbeiter umher-
streifen und zu ganzen Horden einem ins Haus fallen und sich das
Brot, was sie finden, fortschleppen!
Folgen Mitteilumjen über die durch die allgemeine Kriais ungünstig
beeinflusste Gestaltung der eigetien Vermögensierhältnisse.
.... Was ist dies Alles gegen den scheusslichen politischen Ver-
rath, der an den Polen verübt wird ! Niemals sind in den barbarischen
Kämpfen des Mittelalters solche Grausamkeiten geschehen, wie dort,
von den Preussen an Polen ; ein Blutbad fiber das andere ! Ja, das hat
die Regierung schrecklich ergrimmt, als sie durch das Volk gezwungen
ward, die gefangenen Polen frei zu geben, ihnen die Wiederherstellung
Mires Reiches zu gewähren. Nun lässt man diese Polen, die man früher
gezwungen losgeben musste, durch heimliche Späher banditenmässig
überfallen und morden. Ein armer junger Pole, für dessen Mutter ich
selbst die Bittschrift für Begnadigung ihres Sohnes gemacht, wird im
Angesicht dieser Mutter von einer wilden Bande preussischer Soldaten
im Bett massakrirt.') Ganze Lazarethe mit Verwundeten, sammt den
Ärzten, die ihre Wunden verbanden, verbrannt. Der preussische General
Willisen, der als Komissar hingeschickt war und diesen schrecklichen
Unthaten Einhalt thun wollte, kam kaum mit dem Leben davon. Er
wurde des Hochverraths angeklagt; während er sein Leben dran wagte,
diesen Metzeleien zu steuern, hat man ihn mit Koth und Steinwürfen
beinahe getödtet.*) Hier aber sind die Blätter gedrängt voll der bos-
haften Lugen gegen ihn und, obschon er dem König den Verrath an
1) Von der Bittschrift ist weiter nichts bekannt. Über Bettineus Haltung in der
Polenfrage, die hier in ihrer vollen Einseitigkeit hervortritt, vergl. Geiger, 93—107.
3) Über die Sendung des Generalleutnants Karl Wilhelm von Willisen nach
Posen, die bekanntlich in Folge seines schwächlichen Auftretens kläglich scheiterte,
vergl. T. Willisen, Akten und Bemerkungen über meine Sendung nach dem Gross-
herzogtum Posen im Frühjahr 1848.
106 Karl Obser
der guten Sache und ebenso sein strenges Verhalten nach dem könig-
lichen Befehl nachgewiesen, so bat doch der König weder die Macht,
noch aach den Willen, ihn gegen so harte Verläumdungen zu schätzen,
denn leider lag es in der sehr falschen Politik der Reaktion, dass die
Polen, zur Verzweiflung getrieben, den Russen in die Arme laufen
sollten um diese zu ihrem Schutz gegen uns aufzurufen, wo denn Russ-
land sich als feindlich sammt den Polen gegen uns wenden sollte und
dann als unüberwindliche Macht zum Beschluss die neue Staatsverfassung
organisirte, — wo denn das Volk auf russische Art geknechtet würde.
110000 Russen stehen an der Qrenze, fraternisiren mit den preussisclien
Offizieren, um sammt diesen 20000 Polen zu knechten und ihres
verwüsteten Vaterlandes zu berauben und sie zu unsern und ihren Sklaven
zu machen. Endlich hat Lamartine den Polen den Beistand der Fran-
zosen zugesagt, schon werden sie in diesem Augenblick im Marsch
gegen Oesterreich begriffen sein. Also Russen und Franzosen werden
die deutschen Gauen zu ihrem Kriegsschauplatz machen. Das deutsche
Volk ist getheilt in seinem Interesse: Aristokratie und Bürger wollen
die Polen verderben mit Hülfe der Russen und mit diesen auch das
gemeine Volk bändigen, das ihrem Gelderwerb mit seinem Communism
und Socialism gewaltiges Verderben droht. Dieses aber ist geneigt,
lieber mit den Franzosen für Polen gegen Russland zu kämpfen. Das
Unheil aber, dem wir zu entgehen nicht hoffen können, sind die Ströme
brodloser Arbeiter, entweder sie müssen in den Krieg oder alles Eigen-
thum der höheren Stände wird ihre Beute; schon sind Anschläge ge-
macht, wie die grossen Güter unter sie vertheilt werden sollen.
13. Mai. Liebe Pauline, ich bin vielfältig in diesem Schreiben
unterbrochen worden; Mord und Brandereignisse sind vorgefallen auf
dem Land, wo die Bauern den Adligen die Schlösser abbrennten. Die
dicke republikanische Revolution, die in Süddeutschland immer geschlagen
wird und sich immer wieder verstärkt auf den Feind wirft, f&ngt an
jetzt mehr Gewicht zu haben ; man furchtet, dass sie sich an die fran-
zösischen Truppen anschliesst, sobald diese uns feindlich angreifen
werden, und dies kann keine 14 Tage mehr dauern. So steht es hier
und rund umher und nah und fem!
Heute, da ich meinen Brief zu schliessen gedachte, erhielt ich den
Ihrigen von 26. April ; er beginnt damit, dass Sie mich fragen, was ich
oder ob ich noch etwas für das Monument zu thun gedenke. Sie sagen
mir ferner, dass man Ihnen vorgeworfen habe, keinen Contract mit mir
gemacht zu haben.
Bettine von Arnim und ihr BriefVechsel mit Pauline Steinhäuser 107
Sie klagen, dass ich Steinhäuser und Sie keiner Begeisterung fähig
halte, dass Ihr Aufenthalt in Rom sehr schwer noch lange auszuhalten
sei, dass ich Ihnen Geld schicken solle. Auf all Dies antworte ich
ihnen aufrichtig. Erstens einen Contract mit Ihnen zu machen, würde
von meiner Seite ein Verbrechen gewesen sein. Ich konnte auch nicht
im entferntesten daran denken ; ich habe bei der Hingabe meiner Skizze
an Steinhäuser eine Wehmut gefohlt, diese Idee aufgeben zu sollen an
einen anderen. Ich habe daher in einer Hoffnung, mir noch dies Werk
einer lebenslangen Begeisterung zu bewahren, einen Vorbehalt ausge-
macht, den ich durch Fleiss und Anstrengung aller Art zu realisieren
hoffte, ich habe ein Buch herausgeben wollen, von dem ich zum wenig-
sten 2000 Thaler des Ertrags an das Monument zu wenden hoffte. Das
Buch ist mir von der Regierung wider alles Recht confiscirt worden,*)
es hat mich in eine Schuld an die Druckerei und Papierhandlung ver-
wickelt, die mich hindert, an der Herausgabe dieser Werke fortzu-
arbeiten, bis diese Schuld bezahlt sein wird. Ich habe das Geld, das
zu dieser Masse einkommen musste, meinen Gläubigern zugewiesen; es
wird aber leider nichts einkommen, weil die Staatsverbote, Geld aus dem
Lande zu bringen, die Buchhändler zwingen, nicht zu zahlen. Dass ich
dies all gethan habe, muss sie überzeugen von dem Eifer für die Sache ;
dass ich aber nie im Sinn haben konnte, mehr zu thun als dies oder
auf eine andere Weise daran theilzunehmen, kann ich Ihnen durch Ihre
eigenen Briefe beweisen, die ich von Ihnen auf Ihrer Rückreise nach
Rom erhielt, in denen sie theilnehmend mir mehrere Vorschläge nnd
mehrere Demarchen mittheilten, die Sie selbst zu Gunsten dieser mir
seit so langen Jahren theuem Angelegenheit haben unternommen. Die
Vorschläge habe ich nicht unbenutzt gelassen, aber es waren unnütze
Opfer, die jetzt nicht wenig auf meiner beschränkten Lage lasten, denn
300 Tblr, die ich aus eigenen Mittel zu diesen erfolglosen Reisen her-
gab, nebst den Nachtheilen, die mir aus leichtsinnigen Verfahren ent-
standen, haben mit die Folgen gehabt, dass ich keinen Pfennig in diesem
Augenblick zur Fortsetzung der Herausgabe meiner Schriften verwenden
kann.
Nach Ihrer Ankunft in Rom kam mir ein zweites Schreiben von
Ihnen, dessen Inhalt beweisvoller ist, dass meine Beziehungen zu diesem
Unternehmen ganz dieselben sind, wie ich sie hier Ihnen darlege, und
dass es, wo nicht eine Unmöglichkeit, doch eine Raserei gewesen sein
1) »Ilius Pamphilius'. Vergl. oben ö. 103.
108 Karl Obser
würde, auch nur einen Fingerbreit weiter zu gehen, als jene Anstreng-
ungen, die ich machte, um nicht ganz eine mir so heilige Sache, für
die ich schon so grosse Opfer gebracht, aufgeben zu müssen.
Noch einmal will ich Sie erinnern, wie Sie selbst wenig Tage vor
Ihrer Abreise mit bescheidener Bitte sich an mich wendeten, dem Stein-
häuser zu erlauben, auf eigenes Kisico nach meiner Skizze diese Auf-
gabe zu übernehmen ; ich bewilligte es, um nicht der glorreichen Hoff-
nung für dieses Werk in den Weg zu treten, ich sagte Ihnen aber auf-
richtig, dass ich nur durch eigne Anstrengung den Versuch maclien
könne, mich daran zu betheiligen. Wie diese Versuche mir sind ver-
eitelt worden, habe ich Ihnen hier mitgetheilt: ein schwerer Prozess,
der mit Indignation selbst gegen nahe Verwandten mich erfüllen musste,
hat alle meine Bemühungen vereitelt und meine Kräfte paralisirt. Aber
während mein Geist sich aufrieb im Streit wider diese Intriguen, hab
ich nichts versäumt was Ihrem Unternehmen zu gut kommen konnte.
Damals forderte ich den König auf, der auf alles einging und alles be-
willigte, mit dem Bemerken, dass sein liebster Wunsch realisirt werde.
Jetzt war ich gleich darauf bedacht, immer in Fürsorge für Ihr In-
teresse, diesem Unternehmen eine festere Basis zu geben; ich konnte
dies nur werkstellig machen, wenn ich dem König von allen Seiten den
Aufriss des Monumentes vorzeigte. Stier unternahm es, die architek-
tonischen Verhältnisse zu ordnen, in dieser Zwischenzeit drängten sich
ungeheure Kalamitäten auch in Bezug auf meine Familie, denen ich
kaum gewachsen war, und die Versprechungen des Stier sind indess
trotz meiner häufigen Bitten bis jetzt nicht erfüllt worden. Indess war
mir schon die Wahl des Platzes erlaubt, wir bestimmten anfangs das
Bassin im Lustgarten dazu, zwischen Schloss und Museum, aber weil
der neue Dom beinah bis auf diesen Fleck vorgerückt werden sollte, so
fanden wir einen noch beinah schöneren Platz im grossen, neu ange-
legten Garten vor Krolls Lokal auf dem Exerziei-platze. Während dem
erreichten die sich kreuzenden Verfolgungen gegen mich in öffentlichen
Blättern ihren Höhepunkt, die mich dem Gerede des Volks preisgaben,
mir aber durch obligate polizeiliche Zensur den Weg zur Widerlegung
abschnitten. Nun wurde der König immer mehr gegen mich einge-
nommen, und meine Verhandlungen mit dem König wurden dadurch
unmöglich; davon wurde ich um so mehr überzeugt, da der Kammer-
gerichtspräsident von Strampff mir sagte (als sei es im Auftrag), er
könne mir versichern, der König habe als bestimmend geäussert, er
wünsche mit nichts in Berührung gebracht zu sein, was meine An-
Bettine von Arnim und ihr Briefwechsel mit Pauline SteinhiiuBer 109
gelegenheiten berühre! Wie konnte ich glauben, dass dies eine Lüge
sei? Dennoch hatte ich Vertrauen, ich könnte durch Vorzeigung dieser
Aufrisse es noch zu Wege bringen, Ihnen eine festere Basis für dieses
Unternehmen zu erwirken. Denn trotz aller erkünstelter Verläumdung,
die einen so weiten Kreis durchströmte, als deutsche Zeitungen reichten,
drängte mich ein letztes Zucken der Begeisterung für den König, an
den ich, und ich allein unter so vielen, die heilige Mahnung an der
Vernunft schon so oft gerichtet hatte.
Ich wollte diesen Zwiespalt aufzuheben versuchen durch die Für-
sprache für eine gerechte Sache, für die grösste Angelegenheit der
heutigen Schiksale, und dadurch eine reinere, versöhnende Vorbereitung
einleiten, ich habe während drei Wochen Tag und Nacht alle Kräfte
einer feurigen Inspiration daran gewendet, um den Vortheil seiner eignen
Zukunft, der Zukunft von ganz Deutschland und seines eignen Bestehens
ihm darzulegen. Einst werden diese Documente an den Tag kommen
und zeugen für einen prophetischen Oeist, der mich zuweilen anfliegt. —
Es war ein grosses Wagniss einem diplomatischen Wahnsinn entgegen,
einem gefassten Entschluss des Ministeriums, in den der König sich
wie in einen Fuchsbau verrammelt hatte, durch eine herzhafte, aber auch
lockende Sprache für sein Heil, für seinen Buhm ihn wieder zu ent-
reissen, und gewiss ich hatte ihn wankend gemacht; sein besserer Dä-
mon pflichtete mir bei, — aber ich siegte dennoch nicht. Auf ein
Schreiben, wie es noch nie an einen Monarchen war gerichtet worden,
erhielt ich keine Antwort; indess ich verzagte nicht, ich schrieb ein
zweites mal, entschiedener, anklagender diejenigen, die ein schwindeln-
des Verderben über ihn ausbreiteten. — Nun ja! ich erhielt jetzt eine
Antwort vom König, worin er statt meinen Mahnungen Gehör zu
schenken, mir mit harten Worten entgegnete, die mir bewiesen, dass
ich bei ihm sei angeklagt worden, doch lag etwas versöhnendes darin,
dass er selbst mir schrieb, eine lange Epistel, worin er mich schliesslich
fragte, warum ich böse gegen ihn sei?') Ich fühlte darin, dass er
tiefer von mir überzeugt sei, als von seiner eignen Meinung und nur in
ein politisches Netz verstrickt, welches ihn hindere, die Wahrheit anders
1) Die beiden Schreiben Bettinens an den König, dessen Antwort und Bettinens
drittes Schreiben fallen, wie sich aus dem Zusammenhang ergiebt, in die Zeit vor dem
Ausbnich der Pariser Febmarrevolution und sind allem Anschein nach noch unbekannt.
Die von Geiger S. 94 — lOß mitgeteilten Briefe aus den J. 184*3/47 können nicht wohl
gemeint sein, da sie sich lediglich auf die Angelegenheit Microslawski beziehen und
ihr Inhalt dem hier angedeuteten wenig entspricht.
110 Karl Obser
als feindlich zu behandeln, und daher auch sie in mir zurückweisen
müsse, die wie ein Geist weder sich von ihm beschwören, noch leugnen
Hess. So viel ich darunter gelitten habe, holFte ich dennoch auf einen
günstigeren Zeitpunkt und beantwortete in dieser Erwartung des Königs
Handschreiben entsagend, aber mit gehobenem Muth, der sich von seinen
Stachelreden nicht bändigen Hess. Da gleitet plötzlich der mächtigste
Thron Europas in den Staub! Eine Erschütterung für Deutschlands
Throne! Noch konnte unser König durch ein entsprechendes Verfahren
das Volksvertrauen erhalten; aber das eiserne Terroristen-System der
Minister Hess dies nicht zu. — Da kam das Blutbad vom 18. März !
Politische Verwirrung, wahnsinniger Hochmuth ohne Mass, Volksrache
beschworen das Verderben herauf. Das Volksvertrauen auf die feier-
lichen Versprechen des Königs ward hart erprobt, bald lernte es kennen,
wie man es mit List in die Netze der Beaction verstrickte, wie die
Polizei ihre Fangeisen aufstellte, um es en canaille wieder dem Abso-
lutismus zu verpfänden. Von diesem Äugenblick hab ich nicht mehr
einer anderen Sache gedacht, als nur der Sache der verrathenen Mensch-
heit, der Polen nämlich, die man sich nicht scheute durch die heiligsten
Versprechungen zu entwaffnen, um sie dann der russischen Übergewalt
ins Netz zu treiben. Ach, diesem Verbrechen wird kein Gott mehr das
Mittel zur Sühnung gewähren. Wir müssen durch diesen blutigen Nebel,
dessen erschütterndes Geschrei: „Es lebe die RepubHk!* nächstens an
den Ohren eines früher allgeUebten Königs anschlagen wird! Eben als
ich dies schreibe, taumeln 60000 Menschen an unserer Wohnung vor-
über in die Stadt, um das neue Ministerium zu stürzen, weil es ohne
Zustimmung des Volks den Prinz von Preussen zurückberufen hat.')
Was wird sein von heut bis in 8 Tagen? Wie rasch braust die Ge-
schichte daher! Oh, seien Sie unbesorgt um Ihren Aufenthalt in Rom!
Während wir mitten in den Flammen stehen zwischen racheglühenden
Polen, preussischem Verrath, österreichischer Mordgier und russischer
Tyrannenwuth und vielleicht als letzte Rettung vor der Revolution
einer brodlosen Volksmasse die einrückenden Franzosen begrüssen werden !
16. März [sie! Mai!]. Der Strom politischer Ereignisse, der wie
ein Pfeil unter meinen Augen dahinschiesst, lässt mich nicht mehr zu
Wort kommen über das, was sie in Frage stellen. Aber doch werden
Sie einsehen, dass, wo Trümmer auf Trümmer stürzen und alle heiHgsten
1) t''ber die Volksversammlimjr bei den Zelten und die Demonstrationen vom
14. Mai vergl. Varnhaj^en, Tagebticher, 5, 20.
Bettine von Arnim und ihr Briefwechsel mit Panline Steinhäuser Hl
Interessen ihre Anforderungen geltend machten, nichts in seinen Fugen
bleibt, Gelobungen und Verbindlichkeiten mit und ohne Contract sich
auflösen! Bedauern Sie doch ja nicht, keinen Contract gemacht zu
haben. Als die Titanen Jupiters Welt zerschlagen wollten, um eine
neue zu bauen, kamen sie durch den eignen Sturz erst zur Erkenntniss,
dass sie sich wahrscheinlich in den Mitteln vergriffen hatten. Sie
suchten seitdem noch lange nach den echten Mitteln. Auch jetzt geht
es so! Ich bedaure Sie während dieser fugenlosen Zeit nicht, keinen
Contract gemacht zu haben; sie würde ihn dennoch auflösen.
Auf Ihre Frage, was ich noch für das Monument zu thun gedenke,
kann ich nur dasselbe antworten, was ich bisher zu thun mich bestrebte,
aber leider mit weit wenigeren Chancen des Gelingens. Bücher werden
in dieser Zeit einer epileptisch gewordenen Tagesgeschichte nicht ge-
kauft. Mein letztes Buch liegt schon längere Zeit zum Versenden be-
reit, allein es ist nicht der Mühe werth. Kein Mensch wird heute
lesen Anderes, als was auf den heutigen Tag sich bezieht, nämlich die
Zeitung. Alle Buchhändler sprechen von Bankrutt! Der König kann
und darf nichts thun, als alles dem verhungernden Volke zuwenden.
Wollte er aber auch, er kann nicht, denn alles Geld, aller Besitzthum
ist geschwunden. Wohin? Ich weiss es nicht. Keiner weiss es. Gegen
die Zwangsanleihe bewaffnet sich Bürger und Volk. Gegen freiwillige
Beiträge sind Alle taub, so sehr man von oben schreit: „Das Vaterland
ist in Gefahr, der Feind ist vor der Thür! Die Bussen kommen! Die
Franzosen von der anderen Seite !^ Die Masse antwortet: „Lasst sie
kommen, es geht uns dann nicht schlimmer als jetzt! wenn sie erst
bei uns sind, so können wir sie bequem bekämpfen, wir brauchen ihnen
nicht entgegen zu laufen.'
Ich hoffe nun, Sie sehen es ein, liebe Pauline, dass nichts von mir
abhängt, was ich nicht anwendete, um Ihr Unternehmen gelingen zu
machen, und dass wahrscheinlich von jenen Freunden (von denen Sie mir
schrieben), die Ihnen Vorwürfe gemacht haben, dass Sie sich nicht
sicher gestellt haben durch einen Contract, keiner gewesen wäre, der
sich so Vielem unterworfen haben würde ohne Contract, und dass, wenn
Sie sagen, es gebe eine moralische Sicherheit, die stärker sei und ver-
trauenbegründender als Contracte, Sie doch eingestehen müssen, dass durch
meine Schuld dies Vertrauen nie konnte gefährdet werden. Und dass
es endlich Schicksale gibt, die alle Contracte vernichten, aber niemals
den guten reinen Willen, der gern alles Elend abwenden möchte, alle
Bedrängnisse, allen Kummer erleichtern, sich selbst aber nie hoch an-
112 Karl Obser
schlägt und die eigenen Interessen in nichts geltender findet, als sie für
andere geltend zu machen.') — Im Vertrauen auf Ihre Freundschaft
unterzeichne ich herzlich
Bettine Arnim.
Nachschrift,
Die Ausstellung, die andere Jahre so gedrängt voll war, ist dieses
Jahr so leer, dass man die Leute mit der Lorgnette in dem grossen
Salon auffinden muss.
Man hat keine Hoffnung zu verkaufen, so will man's mit dem Ver-
losen versuchen. Auch das wird schwerlich gelingen. Der ^Geiger* ist
dort aufgestellt, das einzige edle Werk, das mir geföllt, bis auf den
Kopf, den ich entschieden individueller gewünscht hätte.') Allein diesen
gerade nimmt die Gisel ') in Schutz, und ich traue ihr mehr feinen Sinn
für die Kunst zu, als mir, und bescheide mich daher. Friedrich II. ist
nun in Bronze gegossen und ausgestellt in einem aparten Local,^) ich
habe nie ein infameres Ungeheuer gesehen, als das, womit Rauch wahr-
scheinlich seine Künstlerlaufbahn beschliessen wird! Sieht von Antlitz
wie eine auf dem Maskenball im Faustkampf plattgedrückte Maske [aus].
Der Gaul ist mit einem Netz von Adern überzogen, dessen weitgeöffnete
Maschen einem auf die Idee bringen, als sei dies Rennthier in einem
Fischhamen gefangen worden ! . . . .
Noch ein letztes Wort übers Monument. Bleibt der König und
fügt sich in die Wickelbande der Constitution, so wird die Zeit kommen,
wo wir sein gegebenes Wort in Anspruch nehmen dürfen; ich wilPs
hoffen. Wird durch die Gewalt der convulsiven Bewegungen eine Um-
wälzung alles Bestehenden [erfolgen], was leider zu befürchten steht, weil
ungeheure Krankheitssymptome uns beherrschen, so werden vielleicht die
Werke der Kunst, auch sammt den so hoch, so festgebauten Vorrechten
des Bestehenden zusammenstürzen ! Wir liegen nicht ausserhalb des
Laufes drohender Geschicke!
1) Unterschrift eigenhändig; das Folgende wieder Abschrift liezw. Diktat
2) Wohl Steinhäusers «Violinspieler", der 18i8 vollendet wunle, eines seiner
trefflichsten Bildwerke, «von wahrhaft klassischer Schönheit**; eine Wiederholung
tindet sich im Berliner Museum.
3) Gisela von Arnim (1827 — 1889), Bettineus jüngste Tochter, spater vermählt
mit Hennann Grimm.
4) Das schroffe T^rteil tlher Bauchs bekannte Beiterstatue erklärt sich wohl teil-
weise aus seinen abfälligen Aussenmgen filier Bettinens Denkmalentwurf. Vergl. unten.
Bettine von Arnim and ihr Briefwechsel mit Pauline Steinhäuser 113
Ich würde mehr noch wagen und Ihnen versprechen mit demselben
Eifer, so wenig er mir auch Früchte brachte, mich dem Gelingen zu
widmen, wie bisher. Allein wenn Sie nicht auch nach allen Beweisen,
die ich unzweideutig Ihnen bisher gegeben (und die noch stärker ins
Licht treten würden, wenn Sie genauer von allen auf mich gehäuften
Bedrängnissen unterrichtet wären) schon von selbst den Glauben in mich
haben, so kann meine Betheuerung Sie nur beschämen ! Kommt der König
in die Lage, dass es nicht unverschämt sein würde, an frühere Ver-
heissungen (die er in diesem Augenblick gezwungen ist, unberücksichtigt
zu lassen) zu mahnen, so werde ich Sie darüber unterrichten und Ihnen
Vorschläge machen zu einem direkten Schreiben an ihn, auf das er ge-
wiss Rücksicht nehmen soll, wenn es in der Möglichkeit steht, darauf
einzugehen.
Ich habe nun schon Vorkehrungen getrofien, die Zeichnungen der
Ansichten ausfahren zu lassen; sowie ich damit im Stande bin, werde
ich Ihnen eine Durchzeichnung zukommen lassen. Allein gedrängt darf
ich nicht werden, weil ich nirgend wieder drängen kann, und weil ich
durch andere Verpflichtungen, die viel absoluter auftreten, in jeder
Willensmeinung gehemmt bin !
Ein allgemeines bouleversement steht bevor, und (sie !) in Folge dessen
der Herr Generaldirektor der Königl. Museen leicht auch als überflüssige
Staatsbelastung dürfte gestrichen werden, und viele werden bald ohne
Gehalt und ohne Carri^re sein, die schon ihr ganzes Leben darauf be-
rechnet hatten. Dies Schicksal wird mich auch betreffen in meinem
Sohn, der jetzt den Gesandtschaftsposten in dem aufrührerischen Baden
bekleidet^), weil der ordentliche Gesandte der Lebensgefahr halber sich
zurükzog. — Der Melicher, der mitzuwirken hat bei dem Monument des
Hahnemann, ist auch von mir angegangen worden '), den Steinhäuser zu
berücksichtigen, ich habe ihm dieserhalb einen alten Schinken von Portrait
jn Aussicht gestellt. Sie werden sich der Magdeburger Bürgermeisterfrau
noch erinnern, die Sie bei mir gesehen haben ! Die soll er haben, wenn
er Euch diese Aufgabe zukommen lässt. Aber Steinhäuser muss sich
auch nicht wehren, den gebändigten Höllenhund zu Füssen des Doktor-
fürsten zu machen ! Was hat er dagegen ? Ich finde die Idee trefflich !
1) Sigmund von Arnim, preiissischor Gesandtschaftssekretär in Karlsruhe. Nach
freundlicher Mitteilung des Herrn Geh. Archivrats Dr. Bailleu.
2) Steinhäuser erhielt infolge dessen den Auftrag, ein Standhild des hekannten
Arztes und Begründers der H()mr>opathie, Samuel Hahnemann, für Leipzig herzu-
stellen, das im August 18.>1 enthüllt wurde. Kin Brief F. H. Melirher's, üher dessen
Persönlichkeit ich nichts ermitteln konnte, befindet sich im Nachlass Steinhäusers.
NEUE UEIDELB. JAHRBUECHER XII. 8
114 Karl Obser
Ich ^) habe die paar Seiten abschreiben lassen, weil ich zu unleser-
lich geschrieben hatte. Heute am 20ten Mai schicke ich diese Zeilen
an Sie; möchten Sie daraus ersehen, dass Ihre Vorwürfe in Ihrem letzten
Schreiben vom 26ten April ungerecht sind. Ich bedaure, dass ich für
ernste und warme Theilnahme an diesem unternehmen, da ich weit mehr
auf mich nahm, als ich mir zugetraut haben würde, nichts geerndtet
habe als den Tadel Ihrer Freunde, dass Sie gewagt hatten, eine solche
Aufgabe ohne Contrakt zu unternehmen. Bei einem allgemeinen Erd-
beben hat keiner Zeit dem Nachbar Vorwürfe zu machen, warum die
Mauer seines Hauses auf ihn fällt, denn in demselben Augenblick fällt
auf jenen auch die Mauer des eigenen Hauses.
ünsre eben umlaufenden Nachrichten aus Paris sind den Anstre-
bungen des Königs vorläufig sehr entsprechend. Die Reaktion hofft bald
kräftiger auftreten zu können und vielleicht ist es dann eher möglich,
den König über das Monument zu sondiren. Ich werde nicht versäumen
Ihnen das Nötige darüber zu berichten und genau die Schritte anzu-
geben, die Sie dann werden thun können, wenn Sie noch soviel Glauben
in meine Verheisungen haben werden.
Vielleicht aber kommt es auch ganz anders, als wie man da oben
hofft und unten zu verhüten trachtet! Dann wird der Saamen der Er-
bitterung mehr schiessen und seine Früchte werden dem scheusslichsten
Egoismus zu gut kommen; dann wird man sich blutiger Erbschaften
erfreuen und die rächenden Geister der geschändeten Menschheit werden
lauernd der Vergeltung harren, und dies letzte ist mir mehr als wahr-
scheinlich, da man der Russen harrt, um der verlorenen Anmassungen
gegen Freiheit und Recht sich wieder zu bemächtigen, und jetzt schon
sich nicht scheut, im Gefolge von Lüge und Wuth die schaudemdste
Verlezungen der Menschlichkeit als Patriotismus und Justiz zu üben.
Indem ich hoffe, dass die Wahrheit alles dessen, was ich hier mit-
theilte, Ihnen einleuchten möge, und mit Wünschen für Ihr besseres
Glück Bettine.
6.
28. Oktober [1848]
Liebe Pauline I Ihr lieber kalter Brief, der hintenan mit etwas
bitzelndem Rauch von glimmendem Zorn ausgeht, ist schon von ihrer
lieben Schwester an mich bevorwortet worden und ich habe, wie natür-
lich, alles, was sie mir sagte, mit Freude vernommen. Es ist heute
1) Das Folgendo wieder eigenhändig.
Bettine von Arnim und ihr Briefwechsel mit Pauline Steinhäuser 115
der fünfte Tag, dass ichs erfahren habe. Wir machten miteinander aus,
dass Ratti eine Durchzeichnung von der Kücklehne des Stuhles machen
solle. Leider ist dabei das Nothwendige die ganzen (sie !) Stuhlumfassung,
auf welche die Rückseite des Stuhls berechnet ist. Sie ist eine archi-
tektonische Nothwendigkeit. Ich werde sie in so kurzer Zeit nicht fertig
bringen nebst der ganzen Brunnenumgebung, auf den (sie!) die Statue
zu stehen kommen sollte und hier auf den Exerzierplatz berechnet war.
Sie bestehen aus sieben Basrelief, von denen drei schon fertig sind.
O wie schade! — Dem König habe ich vor kurzem noch Briefe über
seine politische Lage geschrieben, Dinge, die von mir allein gefasst
waren. Ich bin aber bei ihm für einen politischen Phantasten ge-
halten! . . .
Folgen Mitteilungen aus dem Familienkreise: Erkrankung ihres
Sohnes Friedmund an Typhus, Niederkunft ihrer Schwiegertochter^) u. n.
. . . Alles, was ich durch Bücher sonst erworben habe und worauf
ich angewiesen war, um Papier und Druck zu zahlen, ist Kriegs- und
Revolutions-halber nicht gezahlt worden. Der Buchdrucker hat mich
verklagt, der Papierhändler hat mich verklagt und noch ein zweiter
Papierhändler. Dafür hat das Kammergericht alle Betrüger und Diebe
meines Eigenthums mit der grössten Unverschämtheit unterstützt, ja ich
muss glauben, dass polizeilich Gauner aufgetrieben werden, um micli
mit falschen Anforderungen zu behelligen. Das ist, was mir zu schaffen
macht. . . .
Ausserdem hat man zu Gunsten der reichen Bauern alle ihre Ver-
pflichtungen gegen die Gutsherrn ohne Entschädigung aufgehoben, wo-
durch alle armen Leute, welche von dem Gutsherrn ihr Brod hatten,
jetzt ganz verdorben sind. Noch ist eine Grundsteuer im Werk, wo
jeder Gutsherr den ganzen Werth seines Gutes versteuern muss ; da aber
kein Gut ist, wo nicht grosse Kapitale drauf stehen und zwar so, dass
der Gutsherr oft nur 10000, ja weniger dran hat bei einem Kapital
von 100 000, von denen er die Zinsen ins Ausland zu zahlen hat, so ist
der Bankrot unvermeidlich. Alles ist schon darauf gefasst von diesem
wahnsinnigen und ganz von der Unwissenheit durchdrungenen Treiben,
welches die Armuth aufs höchste steigern muss, zerschmettert zu wer-
den! Das viele Zerschlagen und Demoliren der Eisenbahnen und andre
Kriegsgräuel haben die Actien heruntergedrückt, dass sie beinah auf
Null stehen und ausserdem dies Jahr nicht gezahlt haben; die Feld-
1) Achim von Arnim, geh. 24. März 1848, gest. 8. Fehr. 1891.
116 Karl Obser
arbeiter haben die doppelte Lohnerhöhung gefordert: mein Sohn hat
also den Kindern ihren kleinen Antheil nicht zahlen können. Wir sind
eben dabei unsre Kräfte anzustrengen, um selbst unser Brodt zu ver-
dienen. Das ist also, was andre Menschen Unglück nennen, was mich
aber nicht afiizirt und zum Glük auch nicht meine Kinder . . .
Adieu, liebe Pauline ! rechnen Sie mir meine Fehler nicht zu hoch
an, es ist keine Versäumniss Ihrer, sie haben mir immer am Herzen
gelegen und werden es immer. Es ist Mangel, alles zu umfassen, was
wie ein grosser Strom mich überschwemmt, unter dem ich dennoch,
wie gebannt an gewisse heilige Menschheitsintresse angestrengt arbeite.
0, nicht die Hälfte, was meine Seele und Geist noch zu bekämpfen
haben, ist hier angedeutet. Adieu, Adieu! Ratti soll Ihnen bald alles,
was ich jetzt zum ganzen beitragen kann, übersenden.
ihre herzliche Freundin
28ten October. Bettine.
Man darf nach dem letzten Briefe wohl vermuten, dass die Ver-
stimmung nicht von langer Dauer war. Bettine, die sich wieder eifrig
mit den Zeichnungen für die Basreliefs beschäftigte, die Sockel und
Stufen des Denkmals umkleiden sollten, bot air ihre liebenswürdige
Beredsamkeit auf, um den Künstler zu beruhigen und ihm neuen Mut
einzuflössen. Wenn der König das Monument nicht nehme, müsse Lon-
don oder Paris, wie sie meinte, dasselbe erwerben; durch eine Ausstel-
lung der Entwürfe in den beiden Städten hoffte sie zum mindesten dem
Denkmalfonds eine Summe zuwenden zu können. Auch Steinhäuser schien
wieder Hoffnung gefasst zu haben und machte sich rüstig ans Werk.
„Meine grosse Goethestatue — schrieb er am 6. April 1849 dem Vater
— geht jetzt vorwärts, es wird fortwährend daran gearbeitet", und
nach Jahresfrist wieder: „Der Goethe geht immer vorwärts, es ist eine
ganz ungeheuere Arbeit daran.*' Er hatte dabei jedoch nur die ursprüng-
lich geplante Gruppe im Auge; um den Monumentalbrunnen und die
Reliefs, für die Bettine fortwährend neue Vorschläge unterbreitete, küm-
merte er sich bei der Ausführung vorläufig nicht, in der richtigen Er-
wägung, dass die Statue wohl sicher einen Käufer finden werde, die
Herstellung des Monumentalbrunnens ohne besonderen Auftrag aber ein
Ding der Unmöglichkeit sei. Er hoffte hierbei immer noch auf Friedrich
Wilhelm IV, der, wie Bettine versicherte, sich wiederholt darnach er-
kundigt hatte. Frau von Arnim gab ihm den Rat, er möge sieh direkt
an den König wenden, doch dürfe er sich nicht darauf berufen, dass
Betüne von Arnim und ihr ßriefwechsel mit Pauline Steinhäuser 117
dieser ihrer Tochter Armgard versprochen habe, das Denkmal zu er-
werben. „Steinhäuser möge sagen, — so Hess sie ihm durch eine seiner
Nichten schreiben — die Arnim habe ihm die Freude gemacht, ihm
die Ausführung des Monuments zu übertragen, doch sehe er jetzt, dass
die Sache zu grossartig werde, als dass er mit seinen eigenen Kräften
es allein ausfahren könne, deshalb wende er sich mit der Bitte an den
König, ob derselbe ihn nicht dabei unterstützen wolle. Dann möge
Steinhäuser dabei erwähnen, dass Frau von Arnim noch Reliefs dazu
entwerfe — diese könne Steinhäuser dann loben, soviel er wolle, schaltete
sie hierbei ein — besonders aber möge Steinhäuser erwähnen, dass die
lieliefs einen Springbrunnen bildeten, da der König diese ganz besonders
liebe und ihn das besonders interessieren werde. ** ^)
Der Meister scheint den Rat befolgt zu haben, freilich ohne sein
Ziel zu erreichen ; Varnhagen, dessen Tagebücher für die folgenden Jahre
zahlreiche Nachrichten über die Angelegenheit enthalten, will wenigstens
wissen, der König habe Steinhäuser auf seine Anfrage im Dezember 1850
durch den Generaldirektor der Museen, Olfers, eröffnen lassen, dass er
^in diesen Zeitumständen" nichts thun könne.') Gleichwohl gab der
Künstler seine Sache noch nicht verloren. Offenbar in der Absicht, sich
an Ort und Stelle klaren Aufschluss über die Lage der Dinge zu ver-
schaffen, erschien er im Juni 1851, in Begleitung seiner Frau, in Berlin.
Unter den Augen Bettinens stellte er dort die Idee des Ganzen vorläufig
fest und baute das Gipsmodell für den Monumentalbrunnen auf. Sein
Wunsch, den König zu sprechen und mit ihm womöglich ein Abkommen
zu treffen, sollte sich aber nicht erfüllen ; als er im August die Haupt-
stadt wieder verliess, war er seinem Ziele nicht viel näher gerückt, das
Schicksal des Denkmals immer noch ungewiss.^) Äusserungen Hum-
boldts, mit dem Bettine sich darüber unterhielt, lauteten keineswegs
ermutigend; Rauch und Olfers, ohne deren Rat der König eine Ent-
scheidung voraussichtlich nicht traf, waren allem Anschein nach dem
Plane wenig gewogen; der erstgenannte, dessen Beziehungen zu dem
früheren Schüler sich längst abgekühlt hatten, hielt mit seinem abfälligen
Urteile über die Arnim*sche Komposition nicht zurück. Bettine klagte
offen über Ränke, mit denen man sie und ihren Schützling verfolge.
1) Marianne Dussler an Pauliuc Steinhäuser, 4. Jan. 1850.
2) Tagebücher, 8, 211.
3) Varnhagen, Tagebücher (1851 Juni 11, 13, Aug. 10, 11) 8, 208, 211,
•294, 295.
118 Karl Obser
und verzweifelte zeitweise selbst an der Hoffnung, dass der König seinem
Versprechen gemäss das Gipsmodell besichtigen werde.')
Aus diesen wechselnden Verhältnissen und Stimmungen sind die
drei nächstfolgenden Briefe entstanden.
7.
[16. Aug. 1849.]
Liebe Pauline! Die Figur mit den beiden Kindern soll Ihr lieber
mit mir so nachsichtiger Steinhäuser ja nicht machen, ich werde ihm
auf beide Seiten viel originellere Kindergruppen schicken ; auch ist diese
Figur nicht von mir! — Wenn Sie sich aus der kleinen Krupelscitze
vernehmen können, welche hier beiliegt, so werden Sie sehen, das bas-
relief des Piedestal läuft von einer Seite um den vordem Theil herum
bis zur andern Seite, es ist ein Bachanal, von dem sie schon Theile
gesehen haben und welches mit prächtigem Weinlaub durchrankt ist,
und wird den Würfel zu einem grossartigen Kunstgebilde schaffen, wie
bisher noch keins gesehen worden : in der Mitte grade der Bachus, wie
er die Psyche aus dem gährenden Weinduft rettet, Tieger, die ihn um-
heulen ! — trunkne Bachantinnen im Schlaf und Taumel versunken ! —
Das Basrelief verliert sich von beiden Seiten bis nahe an die Wasser
spauzenden Medusen und lässt ganz nachlässig und unbekümmert den
übrigen Platz leer. Dies denke ich mir besonders schön, dass es unbe-
kümmert um den leeren Platz, wie ein echtes Kunstwerk nur für sich
selbst redet. — Die weissen Marmorbasreliefs, welche den Wassertrog
bilden, gehen (wie der Würfel von vorne nach hinten) von hinten nach
vorne, wo sie von der breiten Marmortreppe von sieben Stufen abge-
kantet sind und zu dem Würfel hinaufführen, den weisse Marmorplatten
umgeben, welche einen Umgang um das basrelief des Würfels bilden
bis an das Ende desselben und weiter oder vielmehr ganz herum, wenn
man das Nasswerden nicht scheut, denn die Medusen speien ihr Wasser
so weit vor, dass man dahinter weggehen kann. — Die Bäume auf der
Höhe der basreliefs vom Trog sollen lebendige Lorbeer, Myrten und
Granaten seien in schönen Bronzekübeln, aber ganz einfach von der edel-
sten antiken Form. Diese basreliefs von weissem Marmor haben eine
bronze Einfassung, die breit genug ist, um diese Vasen zu tragen; es
ist auch unten mit Bronze eingefasst (vielleicht oder vielleicht auch
nicht). Dann steht der Trog auch auf zwei Stufen. Das basrelief, das
den Trog umgiebt, hat das eigenthümliche, dass es aus zwei Lagen be-
1) Varn Lagen, Tagebücher (1851 Sept 21), 8, 343.
Bettine von ArDim und ihr Briefwechsel mit Pauline Steinhäuser 119
steht. Alles noch im Mutterleib der firtiodung, aber kein Mohnkalb,
sondern eine Kunstwirklichkeit.
Sie tadeln meine politische Richtung! ich habe nie etwas unter-
nommen, was nicht ein Muss in mir gewesen wäre, und bin zum wenig-
sten nicht unfruchtbar für die Menschheit gewesen, denn viele haben
ihre Köpfe noch auf dem Rumpf sitzen, denen sie gewiss verloren
waren, wenn ich nicht mit beinah übernatürlicher Anstrengung dagegen
gekämpft hätte! — Auf die Zeichnungen müssen Sie wenigstens ein
V4 Jahr warten, aber wenn mich Gott leben lässt, nicht länger. Die
Zeichnungen sollen in Paris und London ausgestellt werden; viele sehr
bedeutende Personen intressiren sich dafür. Es soll etwas eintragen,
und wenn es meine Reise nach Rom deckt, so komme ich zu Euch —
sonst kann ich nicht, denn ich bin ganz arm. — Geht es dem König
gut dann wird er es gewiss nehmen; er hat schon mehrmals danach
gefragt. Gehts ihm aber schlecht, so muss das brittische oder pariser
Museum es kaufen. Noch viel hätte ich Ihnen zu sagen, aber ich kann
nicht mehr. Es wird sich alles ausweisen. Das basrelief über dem
Haupt der aufsteigenden Figur, die Steinhäuser ja nicht zu klein machen
muss, soll auch gemacht werden. Das Rabenvieh, was Steinhäuser
Frankfurter Adler nennt, ^) kann und darf nicht vornehin, da mein
Basrelief das ganze Werk emporhebt und davorne bleiben muss, weil
sonst das Individuelle ganz darin verloren geht. Ich begreife auch nicht,
wie diese so schaale Idee Gnade vor ihm findet. Was würde auch die
Welt sagen, wenn sie einmal ausgestellt wären und man fände, dass der
Künstler den Adler dem Bachanal vorgezogen hätte ! Das war ihm ein
ewiger Vorwurf! — Adieu, und alle Kinder Adieu und die göttlich
schöne Madona soll gelingen, und die kleine Paulline Adieu und Vivat
die grosse Nation, die Ungern, die so vielen vom Erschiessen helfen,
denn man hat hier schon Angst vor ihnen!
Die Eure von Herzen
16teu August 1849. Bettine
8.
[8. Sept. 1851]
Liebe Pauline. Ich befinde mich immer noch hier auf dem Lande
und werde auch vor 4 Wochen noch nicht fort kommen; als ich hier
1) Wohl der Adler, der auch nach dem iu*sprünglicheu Entwürfe Bettinens auf
der Stirnseite des Sockels angebracht ist. Vergl. das Titelbild zu „Goethes Brief-
wechsel*.
120 Karl Obser
ankam, fand ich die Gesundheit von Freimund ao sehr geschwächt und
so bedenkliche Anzeichen, dass ich ihn schnell nach der Stadt schiken
musste, um dort ärztliche Hülfe zu suchen, was er nicht anders thun
wollte, bis ich ihm versprach, so lange hier zu bleiben ; nun ist er seit
14 Tagen dort und ich sitze hier in einem grossen Haus ganz allein,
sogar ohne Bedienung, denn diese wohnt in einem andern Gebäude.
Jeden Abend um 8 ühr wird das grosse Haus zugeschlossen. — Und
nun kommt es darauf an, dass mich die Spitzbuben nicht ermorden, die
in unserer Gegend häufig einbrechen; sonst ists ums Monument ge-
schehen. Wir haben zwar hier 6 tüchtige Hunde, die bei dem gering-
sten Argwohn um die Wette ein höllisches Gebell verführen, aber kein
Mensch hört nach ihnen, nur ich, und wie manche Nacht spring ich
aus dem Bett, reiss das Fenster auf, ruf hinaus: „Johann! Kunz!
Peter! Friederich! — seid ihr alle wach?* — nur damit die Diebe
davon laufen sollen aus Furcht vor dieser grossen Volletaille, die im
tiefsten Schlaf jenseit des grossen weitläufigen Hofes liegt. — Wie selt-
sam wechseln doch meine Geschäfte! — hier bin ich Zimmermann,
Tischler, Drechsler, Glaser und Schlosser, — in Berlin hatte ich die
Ehre von Euch unter die Künstler gezählt zu werden. — Nach 3 Wochen
werde ich wieder nach Berlin gehen. Dann wird Freimund wieder hier
sein und hoffentlich mit bessrer Gesundheit. Ich wollte erst mit Gisel
in ein Bad gehen, um mich wieder ein bischen zu erholen, allein ich
habs aufgegeben, um meine Zeit möglichst zusammen zu halten, bis ich
mein Versprechen gegen Sie werde gelöst haben.
Der König ist immer noch nicht in Berlin. Hat Ihnen vielleicht
Katti geschrieben, dass ich noch am Tag vor meiner Abreise, — den-
selben, an dem ich von Ihnen Abschied nahm — den Humbold ge-
sprochen habe und dass er selbst mir von der Scitze sprach und mich
fragte, ob Steinhäuser vielleicht denke, dass es vom König werde be-
stellt werden, so irre er sich sehr, den[n] das Ministerium habe keinen
Heller dazu zu verausgaben. ' Ich gab ihm zur Antwort, dass ich nicht
glaube, dass Steinhäuser im Sinn habe, diese Bitte zu äussern. ,Nun/
fragte er, ,was will er dann damit?" — ich sagte, es sei ihm eine
angenehme Arbeit und er mache sie aus Liebhaberei. Er fragte, was
die Arbeit denn allenfalls kosten werde, — ich sagte, dass ich vermuthe,
die colossale Statue, welche bereits schon fertig sei, werde den Preiss
von 10000 Tbl. nicht übersteigen. »Auch 10000 Tbl. können nicht ver-
ausgabt werden, denn es ist keine Möglichkeit, dass auch nur ein Heller
gezahlt werden (sie!)." — „„Ja, daran denken wir auch nicht, die Statue
Bettine von Arnim und ihr Briefwechsel mit Pauliue Steinhäuser 121
wird, wenn Steinhäuser sie verkaufen will, augenblicklich verkauft sein/'
— „Wohin?* fragte er. — „, Überall, in Paris, Frankfurt, Weimar,
aber am schnellsten noch in Amerika."* — „0, man wird wohl auch
noch in Europa einen Ort finden!* — «„Nein,** sagte ich, ,, Amerika
ist der einzige Ort, der passend sein wird, da der König von Preussen,
der sie früher immer gewünscht hat, sie jezt natürlich nicht mehr be-
rüksichtigt, da so viele andre grosse Monumente in Arbeit sind. Auch
denke ich gar nicht daran, auf ihre Anfertigung einen Werth zu legen,
denn jezt bin ich geborgen, dass sie zum wenigsten nicht in Lieblose
Hände kömmt, denn Steinhäuser allein hat die Scitze gemacht und sie
ganz nach meinem Sinn angefertigt.** — Ob sie denn nicht ganz nach
der Scitze sei, welche vor meinem Briefwechsel in Kupfer sei? — ich
sagte: „ Ja, und noch ein bischen dazu,^* und hier fing Giesel an, ihren
Enthusiasmus auch auszusprechen. Hier frug er, ob ich wisse, dass
Herr von Olfers mit dem König nach HohenzoUern gereist sei? Ich
erwiederte, dass mich dies wenig interessire, da ich Herrn von Olfers
sehr wenig kenne. — Er sah mich verwundert an und ärgerte sich
etwas. Wir nahmen den herzlichsten und ehrfurchtsvollsten Abschied
von ihm und gingen fort. — Vorgestern kam nun ein höchst steifer
und diplomatischer Brief von dem Oberbaurath Stüler an mich, worin
er mir meldet, dass er bei seiner Rükkehr von seiner Heise mit dem
König einen Brief des Herrn Steinhäuser vorgefunden habe, begleitet
von einem Schreiben meiner Hand betreffend die unglükliche Kassen-
differenz der an den König verkauften Statuen.^) Steinhäuser sei abge-
reist, ohne diese erledigt zu haben und ohne auch nur die ihm anver-
traute Auseinandersetzungen der Hofmarschallamtskasse zurükzugeben
etc. etc., dass er sich daher an mich wenden müsse, weil er nach mei-
nem Schreiben schliessen müsse, dass ich im Besitz von Papieren sei,
welche der Oberrechnungskammer gegenüber den Beweis führen, dass
Steinhäuser nur die accordirte Summe erhalten habe, was die Kammer
aus Mangel an hinreichendem Beweiss nicht anerkennen wolle ; ich solle
daher so gütig sein, irgend ein offizielles Schreiben vorzuweissen, aus
1) Es handelte sich um die Statuen des „ Muschelmädchens ", — die erste war
beim Abladen zerbrochen und durch eine zweite ersetzt worden. Steinhäuser hatte
(vergl. oben S. 94) i. J. 1843 unter Vermittlung Bettinens 1500 Thl. dafür erhalten,
wogegen die Oberrechnungsltanimer nach 8 Jahren mit der Behauptung auftrat, es
seien nur 1000 Thl. bewilligt worden, und von dem Künstler Rückzahlung oder Nach-
weis für den rechtmässigen Bezug des Mehrbetrags verlangte. Der Briefwechsel Bet-
tinens mit Karl Steinhäuser und dem Oberbaurat Stüler über diese Angelegenheit, der
sich bei den Akten befindet, bietet kein weiteres Interesse.
122 Karl Obser
welchem die von sr. M. dem König bewilligten Preise für beide Sta-
tuen und die nachbewilligten Emballagekosten ersichtlich seien, wäre
dies aber nicht möglich, so wird und muss instructionsmässig die Ober-
Kechnungskammer auf eine Indemnitätsbill Sr. M. des Königs bestehen
etc. etc. Nachträglich bittet er inständigst, dieser widerwärtigen Ver-
handlung durch gütige Übersendung der über die Preisse sprechenden
Papiere oder durch Auswirkung einer nachträglichen Allerhöchsten Ge-
nehmigung dieser gezahlten Summen ein Ende /,u machen. Die wohl-
verdiente Gunst, welche ich Steinhäuser zuwende, werde mir vielleicht
diese Zumuthung weniger unangenehm machen. Ich habe
hierauf eine Antwort gegeben, welche mir das grösste Vergnügen macht
— noch ist sie nicht ganz fertig — und sie wird wohl zwei grosse
Bogen anfüllen. Bei Gelegenheit werde ich sie ihnen nach Rom senden,
es wird dies mir eine gute Unterstützung sein bei dem König, wenn
ich ihm die Scitze zeigen werde, denn er muss sie lesen, sie enthält zu
viel Schmeichelhaftes für ihn und ironisiert mit der grössten Feinheit
die Oberrechnungskammer. Sie werden aus diesen Mittheilungen er-
kennen, dass ich bis jezt noch nicht müde geworden bin, alles, was
und wie ich es für Ihr Interesse verwenden kann, sofort zu benützen.
Werden Sie nicht aengstlich, wenn es ein wenig laenger dauert, aber
sein Sie auch überzeugt, dass ich fort und fort mit Eifer dafür wirke.
Reisen Sie glüklich und denken meiner im Guten.
Ihre herzlich ergebene
Bettine Arnim,
am 8ten September 1851
Wiepersdorf bei Jüterbog
über Nonnendorf.
Adr. : An Fr. Pauline Steinhäuser
Bremen.
9.
[9. Januar 1852]
Mitteilung eines Schreibens Stülers vom 17. Dez. und der Antwoii
Bettinens vom 26. Dez.
Über diese Geschichte kümmert Euch nicht! Gebt um Gottes-
willen kein Geld! ich werde, sowie ich zum König komme, alles ihm
vorlegen als Aktenstük, den Grund belegend, warum die Zahlung, wenn
er das Monument machen lasst, durch andere Hände als diese an Euch
Bettine von Arnim und ihr Briefwechsel mit Pauline Steinhäuser 123
muss gelangen. Ich werde heute noch an den König schreiben, um ihn
vorläufig zu benachrichtigen.
Liebe Pauline, auf der andern Seite Kopie von Stülers und meiner
Oorrespondenz. Steinhäuser soll ihm schreiben, er habe sie bei mir ge-
troffen zu haben geglaubt, ich könne sie aber nicht finden. Dies ist
auch wahr, denn bei meiner Abreise nach Wiepersdorf und Transport
vieler Papiere können sie leicht drunter gekommen sein. Wenn ich sie
habe, so werde ich sie zu rechter Zeit schon finden, denn dann werd
ich sie nötig haben. Wenn es wahr ist, was sie von Reumont gehört
haben, so sagen [Sie] Steinhäuser, dass er ohne meinen Gonsenz nicht
über die Statue disponiren könnt. Das wird mich um so schneller zum
Ziel führen. Seit Ihr fort seid, hat Niemand das Modell gesehen. Wir
haben auch nicht davon gesprochen. Es sind tolle Intriguen im Gang
gegen dies Kunstwerk, beinah ärger wie in der Weltgeschichte jezt, ich
aber habe alles vorbereitet, diesen Intriguen einen tüchtigen Nakenschlag
zu versetzen. Ich habe ohne Rast vom Morgen bis zum Abend daran
gearbeitet. In der Zeit, wo Sie dies Schreiben erhalten haben werden,
würde ich auch bei dem König angefragt haben, wenn ich nicht jezt
erst warten müsste, ob die Nachricht mit dem Ankauf sich bestätige.
Ich bitte, versäumt nicht, zu thun, wie ich euch sage, dass Ihr nemlich
mich erst fragen müsstet. Dies giebt die beste Gelegenheit dem König
das Monument vorzuzeigen und ihn zu fragen, ob er die Basreliefs nicht
auch will machen lassen. Es wird hier Monument auf Monument ge-
häuft. Die Menschen werden nächstens zusammen rüken müssen, um
ihnen Platz zu machen.
Liebe Pauline, glauben Sie, viel muss ich an Sie denken bei allem,
was Ihnen weh thut. Sie werden sich aber selbst sagen, dass Schmerzen
auch von Gott geschafTen sind und dass sie in Bitterkeit einem vor
manchem bewahren, was man sonst mitgelebt haben würde. Aber Heiter-
keit ist die wahre Sprache des Göttlichen. Ich hoffe gewiss, dass wir
uns sehen werden, vielleicht in diesem Jahre.
Ihre treue Freundin Bettine
Berlin am 9ten Januar: 51
Hoffnungen und Enttäuschungen lösten einander auch in der Folge
ab. Auf eine Anfrage der Frau von Arnim erklärte der König sich be-
reit, das Gipsmodell in Augenschein zu nehmen, und ordnete (Febr. 1852)
an, dass es zu dem Zwecke nach Schloss Bellevue verbracht werde. Eine
persönliche Begegnung mit Bettine wünschte er aber nicht; «früher,
124 Karl Obrer
als sie eine Macht gewesen, habe ihre Annäherung ihm geschmeichelt,
aber seit 1848! ^^) Ihr Versuch, ihn dennoch zu sprechen miss-
glückte. Nach einiger Zeit kam der Bescheid, der König habe die Skizze
besichtigt und bitte, sie wieder abholen zu lassen. Kein Wort weiter!
Bettine legte dieses Schweigen zu ihren Ungunsten aus und war daher
um so freudiger überrascht, als sie mittelbar durch den General von
Willisen erfuhr, der König sei von dem Modell ganz entzückt und finde
es , herrlich, prächtig, ohne jedes Aber/ ') Allzu vertrauensselig frei-
lich blickte sie nicht in die Zukunft, denn sie wusste auch, dass der
König verschiedene Künstler und Kunstverständige um ihre Meinung
befragt habe, die den Entwurf nach Kräften herabsetzten. Sie nahm
sich vor, einiges daran zu ändern, und dachte den Herrscher zu bestim-
men, dass er das Modell noch einmal sehe ; zugleich wollte sie ihm mit-
teilen, dass eine allgemeine Subskription zu Gunsten des Denkmals er-
öffnet werde, und ihn ersuchen, seinen Namen als erster auf die Liste
zu setzen. Vielleicht, meinte sie, entschliesse er sich dann doch zum
Kaufe; andernfalls setze sie ihre Hoffnung auf den Grossherzog von
Weimar oder König Ludwig von Baiern. Wenn sie letzterem — fügte
sie scherzend hinzu, — ihr Bachanalrelief als Oktoberfest demonstriere,
werde er sicherlich Feuer und Flamme sein.
Unterdessen harrte das römische Künstlerpaar sehnlichst auf die
Entscheidung. Die Goethestatue mit der Psyche stand nahezu fertig
in des Meisters Atelier : ein gewaltiges Bildwerk, das schon allein durch
seine Grössenverhältnisse ') wirkte, voll Harmonie und Formenschönheit.
Der erste Entwurf Bettinens war, von geringfügigen Änderungen abge-
sehen, pietätvoll festgehalten worden. „Feierliche Stille* schwebt nach
der Schilderung einer berufenen Interpretin über dem Ganzen. „Goethe
in der Majestät des Dichterkönigs. Über den tiefen wunderbaren Augen
leuchtet herrlich die erhabene Stirne, ein Hauch der Begeisterung um-
spielt die riesig grossen Züge. Die Falten des Mantels, wie von der
Morgenluft einer höheren Welt geschwebt, scheinen sich melodisch zu
bewegen, während die kindliche Psyche das Geheimnis der Dichterseele
durch die Leier ausspricht: ihre Unschuld und Schönheit sind das Ge-
wand, das sie den Blicken der Gemeinheit verhüllt.^ ^)
1) Varnhageu. Tagebücher (1852 März 2), 0, 95.
2) Varnhageu, Tagebücher (1852 April 3) U, 148; ebenda 9, 150, 155.
3) Höhe der Goethestatue: 8 Fuss 2^/3", der Psyche: 4' IOV2".
4) Undatierter Aufsatz von Pauline Steinhäuser, wohl aus d. J. 1852. Konzept
Bettine von Arnim und ihr Briefwechsel mit Pauline Steinhäuser 125
Aber es steckte die Arbeit von vier Jahren in dem Werke, die
Auslagen, die dem Künstler erwachsen, waren beträchtlich und beliefen
sich nach seiner Berechnung auf 4000 Scudi: die nervöse Ungeduld,
die sich seiner allmählich bemächtigte, war daher begreiflich. Wenn
Bettine in ihrem naiven Optimismus die Sache einst so leicht geschil-
dert hatte „wie das Verspeisen des täglichen Brods*, so bewiesen die
Erfahrungen der letzten Zeit nur zu sehr das Gegenteil. Als monate-
lang aus Berlin keine Nachricht eintraf, konnte Pauline Steinhäuser sich
nicht enthalten, in vorwurfsvollem Tone der Gönnerin und Freundin zu
schreiben.^) Die Antwort Bettinens enthält der Brief vom 26. Mai, dessen
Inhalt ich oben kurz skizziert habe. Er vermochte den Meister nicht
zu beruhigen, um so weniger, als dieser bald darauf durch Bettinens
Tochter Maximiliane, die zu Besuch in Rom erschien, die niederschmet-
ternde Kunde erhielt, dass in Berlin keine Aussicht mehr bestehe. Worauf
sich diese Mitteilung stützte, entzieht sich unserer Kenntnis. „Sei es,
dass die Gegenwirkung sehr einflussreicher Männer meine nicht unbe-
gründeten Hoffnungen vereitelte, sei es, dass der König, durch die poli-
tischen Tendenzen der Frau von Arnim beleidigt, ihr und ihrer Unter-
nehmung seine Neigung ganz entzogen hat, ich weiss es nicht,'' — klagte
Steinhäuser.^) Er war entschlossen, die Statue nunmehr gegen Ersetzung
der Auslagen seiner Vaterstadt Bremen anzubieten und schrieb in die-
sem Sinne an seinen alten Gönner, den Senator Klugkist, während seine
Frau Bettine davon benachrichtigte. So schlimm, wie er meinte, stand
indes anscheinend die Sache in Berlin doch noch nicht; Maximilianens
Mitteilungen erwiesen sich mindestens als verfrüht. Ende Juni erfuhr
er, dass Friedrich Wilhelm IV. durch seinen Privatsekretär von Niebuhr
bei Frau von Arnim nach dem Kostenanschlage des ganzen Monumentes
habe erkundigen lassen,^) — ein Schritt, der immerhin zeigte, dass der
1) Die Darstelhing, die Vamhagen (Briefe von SUigeman n.s.w., 270) von den Be-
ziehungen Bettinens zn Steinhäuser gieht, muss, wie zur Ehre beider Teile festzu-
stellen ist, fast in jedem Satze als tendcnzirts und unzuverlässig bezeichnet werden.
Es ist, wie wir sehen, nicht richtig, dass Bettine dem Bildhauer vorspiegelte, „der
König habe das Ganze gebilligt und übernommen**, während er thatsächlich nichts
davon gevnisst habe, mid es beniht ebenso auf böswilligem Klatsch, wenn behauptet
wird, der Künstler habe, als er sich getäuscht gesehen, Bettinen mit einer Forderung
von 20000 Thl. (!) gedroht und sie und ihre Familie in peinlichste Sorge versetzt.
Der Brief Paulinens, in dem sie Frau von Arnim versichert, dass sie ihren Kummer
ebenso schmerzlich empfinde, wie den eigenen, spricht für ihre vornehme Denkweise
und bürgt dafür, dass die Auseinandersetzung eine nihige und würdige war.
2) An Senator Klugkist. Undatiertes Konzept aus dem Juni 1852.
3) An Senator Klugkist, 13. Juli 1852. Konzept.
126 Karl Obser
König sich mit dem Gegenstande noch beschäftigte, imd den Künstler
bestimmte, von Verhandlungen mit Bremen vorläufig abzusehen. Bettine
ihrerseits suchte die günstige Stimmung zu nützen. — , Meine Begriffe
von Eurer Majestät eingebornen Grossmuth, schrieb sie am 3. August
dem Herrscher, waren wankend geworden als mir vor einiger Zeit die
Meldung ward: Der Scitze von Goethes Denkmal könne der Platz in
Bellevue nicht länger gestattet werden ; ich glaubte, ein unverschuldeter
Unwille habe diese kalten Worte an mich gelangen lassen ; später kam
mir die bessre Einsicht, dass etwa ein Missfallen an der Scitze selbst
dies veranlasst habe, und jetzt nachdem ich viel Fehlerhaftes darin ver-
besserte, fühle ich um so mehr, wie sehr mein Enthusiasmus über sein
Verdienst hinausgriff, aber doch hoffe ich, das Mangelhafte, was mit
prüfender Geduld in der Scitze nicht überwunden ist, wird im Grossen
sich von selbst fügen; ich kann trotz vieler hartneckiger Gegner die
Schmach nicht auf mich nehmen, jetzt wo ich vielleicht der Vollendung
am nächsten stehe, es fallen zu lassen; da besonders ein Kostenplan
vom Bildhauer aufgestellt ist, der unschwer durch Suscription erreicht
werden kann; dieser besteht in einem Vorschuss von etwa 6000 Thlrn.
während fünf Jahren ; im sechsten Jahr, wo seine Vollendung bedingt
ist, erhält der Künstler noch so viel, dass mit dem Vorschuss der frü-
heren Jahre 50000 Thlr. voll werden. Ich hatte früher die Hoffnung,
dass es in Sans Souci aufgestellt werde, jetzt da es ein allgemeines deut-
sches Denkmal werden soll, darf ich diesen Wunsch nicht mehr aus-
sprechen.* *)
Es war ein letzter Versuch: falls er mislingen sollte, war Bettine,
wie wir aus dem Briefe an Pauline Steinhäuser vom 5. August ersehen,
gewillt, auf dem Wege einer allgemeinen Subskription die Mittel zur
Verwirklichung ihrer hochfliegenden Pläne flüssig zu machen. Und er
misslang; der König, bei dem offenbar gegenteilige Einflüsse die Ober-
hand gewannen, beantwortete ihr Schreiben nicht und liess auch sonst
nichts weiter von sich hören. Ende September machte sie sich daher,
wie dem letzten der hier folgenden Briefe zu entnehmen ist, auf den
Weg, um auf einer Reise durch Deutschland für ihr Denkmal zu werben.
Die Stimmung in Frankfurt schien günstig. Ein Zentralausschuss wollte
dort die Sache in die Hand nehmen, in allen grösseren Städten sollten
Zweigkomites gebildet werden. In Weimar, das sie als Heimstätte für
die Monumentalanlage ausersehen hatte, erklärte Liszt sich bereit, zu
1) Geiger, a. a. 0. 190 ff.
Bettine von Arnim und ihr ßriefwrechsel mit Pauline Steinhäuser 127
Gunsten des Unternehmens Konzerte zu veranstalten. Die Prinzessin
von Preussen, die spätere Kaiserin, stand dem Plane sympathisch gegen-
über; ihren Bruder, den Erbgrossherzog, hoffte Bettine nach seiner Rück-
kehr aus Italien dafür zu gewinnen. Von Berlin aus wollte sie dann
ungesäumt einen öffentlichen Aufruf erlassen.
10.
(26. Mai 1852.)
Liebe Pauline. Ihren Brief erhielt ich im Augenblick, da ich noth-
gedrungen nach Leipzig reisen musste und konnte dort durchaus keinen
Augenblick finden, ihn zu erwiedern. Seit gestern zurück ist es mein
erstes Geschäft.
Sie befinden es unrecht von mir, dass ich nicht schreibe? Wenn
ich Ihnen etwas definitives oder interessantes mitzutheilen hätte, so wür-
den beflügelte Briefe zu Ihnen gelangen. Wenn Sie furchten, dass ich
Ihre Interessen vernachlässigen könne, so ists Ihre Schuld, denn Was
während unsrer langen Bekanntschaft Ihnen beweisen konnte, dass ich
nichts der Art versäume, müssen Sie hinlänglich erfahren haben, und auch
jezt würden Sie dies alles doppelt bewährt erkennen müssen und Sie
würden sich schämen müssen, solche Äusserungen des MisswoUens gegen
mich gemacht zu haben, wenn Sie Augenzeugen wären von Allem, was
ich gethan habe. An Allem, was Steinhäusers Ungeduld mit dem Mo-
nument beginnt oder vorhat, werde ich ihn nicht hindern; wenn er es
verkauft, werde ich nicht dagegen sprechen, denn ich kann keine Ge-
wissheit geben, dass es gemacht werde, — es wird mich auch nicht
hindern das mögliche noch dafür zu thun, allein ich werde dann auch
nicht mehr dafür wirken können, dass Er es mache. Denn nur dies
ists, worauf ich mich stützen könnte, um es ihm machen zu lassen. —
Dem König hatte ich geschrieben um die Erlaubniss, die Scitze ihm
selbst zu zeigen, ich habe ihn zugleich gebeten, dass er es ein Geheim-
niss zwischen Ihm und mir bleibe (sie!); er hat es auf diese Beding-
nisse hin nach Bellevue kommen lassen; hat mir eine bestimmte Zeit
brieflich angegeben, wann er glaube dort sein zu können ; ich war dort,
habe ohne Essen und Trinken den ganzen Tag dort gewartet: er kam
nicht. Es vergingen 14 Tage, dann erhielt ich durch den Kastellan
Nachricht, der König habe die Scitze schon lange gesehen und, da er
jezt in diesem seinem Schlafzimmer in Bellevue, wohin es auf seinen
Befehl gestellt ward, damit es nach meinen Wünschen niemand anders
sehen möge, Ministerrath halten werde, so wäre es nothwendig, dass
128 Karl Obser
ichs wieder abholen lasse. Dies hab ich sofort gethan. Kein einziges
Wort verlautete weiter, kein Mensch sagte ein Wort, auch der König
nicht. Nach 6 Wochen kamen indirekte Anfragen, was damit geschehen
sei. General Willisen sagte, der König habe ihn aufgefordert, das
Monument in Bellevue zu betrachten, und als er hingekommen sei, habe
er es nicht mehr gefunden. Dies habe er dem König gesagt, worüber
dieser schrecklich böse geworden sei. Dies erzählte Willisen dem Yarn-
hagen und sagte ihm, — dass der König das Monument schöner ge-
funden habe, als ihm je was anders vorgekommen. Darauf kann man
aber nicht bauen, denn ebenso soll er viele Menschen, unter andern die
sieben weisen Meister hinzitirt haben, die es ihm schlecht ge-
macht haben: man könne es gar nicht machen, es sei schlecht als
Scitze behandelt. Es. werde eine Summe, die unerschwinglich sei, kosten
etc. Noch mancher andere Tadel ist ihm geworden. Namentlich die
Pinienäpfel missfielen. Ich habe nun alles, was man schlecht fand, noch
mehr hervorgehoben und werde möglichst veranlassen, dass der König
es noch einmal sehe. Ich werde ihm den Preiss schreiben, für welchen
es gemacht kann werden, ich werde hinzufügen, dass jährliche Zah-
lungen von vielleicht 6000 Tbl, während es gemacht wird, dem Künstler
vorgeschossen werden müssen, daher die Summe gar nicht zu berück-
sichtigen sei, weil sie in massigen langsam aufeinander folgenden Zeit-
räumen ausgezahlt werden würde. Ich werde ihm zugleich sagen, dass
eine öffentliche Suscription dafür solle in Umlauf gesetzt werden, und
ihn auffordern, der erste zu sein. Vielleicht entschliesst er sich dann,
es dennoch machen zu lassen. Wo dies nicht gelingt, werde ich den
Grossherzog von Weimar und das ganze Land von Sachsen dazu auf-
fordern. Wenn ich den König von Baiern persönlich darüber spreche,
so ist noch nicht gesagt, dass er es nicht machen werde lassen, ja ich
möchte beinah dafür stehen, dass er dazu erbötig sein werde, sobald
ich ihm das untere Basrelief als Octoberheft demonstrire. Ferner kann
ebenso gut in Prankfurt eine Suscription eröffnet werden, und es ist die
Frage, ob dies nicht am ersten gelingen werde. Mitten in der Stadt
sowohl als auch an der nahen Grenze sind herrliche Plätze dazu. Dies
ist was ich Ihnen sagen kann, und Sie hätten es sich selbst sagen
können nach dem, was Sie schon von mir erfahren haben.
Der Trog rund ums Monument ist nun auch ausgeführt, dank sei
es dem Fleise Ilatti's und seiner liebenswürdigen Schwägerin Elise, die
beide mir Treu bis auf den heutigen Tag beistehen und alles mir so
ausführten, wie es meiner Einsicht und Wünschen entsprechend ist.
Betthie von Arnim und ilir Briefwechsel mit Pauline Steinhäuser 129
Durch den Wassertrog hat das Monument unendlich gewonnen und
hierdurch erst einen edlen Abschluss erhalten. Den Goethe haben wir
nach meinem Gefühl etwas höher gesezt, der Stuhl musste nach oben
breiter werden. Dies haben wir dadurch bewerkstelligt, dass der Stuhl
in der Mitte um ein gutes Stük weiter gemacht ist. Dadurch ist die
hintere Figur flöten gegangen, aber sie ist sehr gut ersezt. Dieselbe
ist nun grösser und weit bedeutender geworden, so dass sie ein Monu-
ment für sich darstellt. Die Schwäne sind vorgerukt, dies wirkt trefl-
lieh. Auch noch die Wasserstrahlen werden gemacht werden in Glas
und um den Trog selbst werden an jedem Pfeiler Wasserspeiende
Thierköpfe angebracht, die zwar ganz unbedeutend scheinen, dennoch
zum vollständigen Abschluss des Ganzen der wesentlichste Beitrag seiner
Vollendung sind. Rund um den Trog gehen Marmorplatten bis nach
vorne hin. Ausserdem hängen Kränze aller Art an den Pinien. Dies
thut mit dem Basrelief hinreissende Wirkung. — Es kann auch noch
ausgestellt werden, wo eine Sammlung veranstaltet wird. Dies alles ist
zu überlegen und kann nicht so geschwind geschehen, aber es ist bis-
her noch immer das höchste Intrese meines Lebens.
Adieu! möge Ihnen die Zeit nicht zu lang werden, bis es zur
Wirklichkeit gedeihe. Dann werde ich auch Sie ins Auge behalten
können, denn ich bin nicht Treulos, wenn ich nicht dazu gezwungen
werde durch die, welche sich von selbst von dieser Treue losmachen.
Bettine.
am 26ten Mai 1852
11.
Pauline Steinhäuser an Bettine von Arnim.
[Juni 1852]
Steinhäuser trägt mir auf, einige Zeilen an Sie zu schreiben, um
Ihnen seine Ansichten und Wünsche über das Goethedenkmal mitzu-
theilen. Sie können sich denken, dass die Nachricht, dass uusre Hoff-
nung in Berlin gescheitert sei, ihn sehr schmerzlich berührt hat ; es ist
nun vorüber, er hat Charakter genug, um auch Schwereres zu tragen,
und hat es soweit überwunden, dass er heiter und ungestört an seinen
übrigen Arbeiten fortfährt. Ich kann Sie versichern, dass der Kummer,
den Sie nothwendig dabei gehabt haben, uns ebenso schmerzlich fällt,
wie unser eigner. Beugen wir uns dem Schicksal und bleiben treu und
liebend verbunden.
9
130 Karl Obser
Um nun diese Sache zum Abschluss zu bringen, die Steinhänsern
mehr Opfer gekostet hat, als der gewöhnliche Massstab der Pflicht für
erlaubt halten könnte, um wenigstens so bald und ungestört wie möglich
zu seinen übrigen Arbeiten zurückzukehren, hat er sich entschlossen,
den Goethe den Bremern für die Auslagen anzubieten. Wir wollten
Ihnen indessen dies mittheilen, wenn Sie noch einen anderen Ausweg
wüssten, etwa, wie Fräulein Max meinte, durch den Erbprinzen von
Weimar ihn denen in Weimar anzubieten, die ja ein Goethemonnment
haben wollen, auch unter den möglichst massigen Bedingungen, d. h.
eine Sammlung durch ganz Deutschland zu machen, um das Ganze für
Weimar auszufahren. Das ist ja ein Gedanke, der sehr nahe liegt und
dessen Gelingen Fräulein Max für sehr wahrscheinlich hielt. Ich weiss
nicht, wie Sie darüber denken, muss aber das bemerken, dass Steinhäuser
in jeder Hinsicht ungeeignet ist, diese Sammlung zu betreiben.
Der König von Baiern, der alte Ludwig, ist gewiss der letzte, dies
Monument zu begünstigen, da er, eifersüchtig auf Schwanthalers Mach-
werk, gejgen Steinhäuser keine Silbe über seinen Goethe erwähnte, den
er doch hier gesehen hat und da von Goethemonumenten zwischen dem
König, dem jungen Goethe und Steinhäuser an des Königs Tafel die
Rede war. Meinen Sie aber vielleicht den jetzt regierenden König, so
haben wir darüber gar kein ürtheil.
Konzept.
12.
[5. August 1852]
Liebe Pauline, hier haben Sie die Abschrift des Briefes an den
König, den [ich] vorgestern an ihn gesendet habe; er ist jetzt in Danzig,
von da nach Putbus. Wenn keine entscheidende Antwort darauf erfolgt,
so sind schon alle Vorbereitungen zu einer allgemeinen Suscription ge-
troffen; sie wird in allen bedeutenden Städten Deutschlands sein und
bei den Listen zugleich Photographien der Hauptansichten des
Monumentes.
Liebe Pauline, ich bitte dass Sie durchaus vorsichtig sind und nie-
mand etwas davon mittheilen, auch ja nicht von dem Brief an den König,
denn wenn er auch die grösste Lust dazu hätte, so wird er es nimmer-
mehr machen lassen können, wenn es erst bekannt wird, dass er daran
dächte. — Ich bin während 4 Wochen lahm gewesen an der rechten
Hand in Folge vielen Schreibens und erst seit einigen Tagen gehts
besser. Ich muss deswegen in ein Bad gehen, um mich ganz herzu-
stellen ....
Bettine von Arnim und ihr Briefwechsel mit Pauline Steinhäuser 131
(Nachrkhtm über Kattis Familie^ in (Ie7' Krankheit herrscht.)
Max ist hier sehr unwohl angekommen und ist nun nach Nordernei
ins Seebad; wenn sie gestärkt zurückkommt, so wird sie mir beistehen,
die Suscriptionen in Deutschland zu eröffnen. Wir haben schon bedeu-
tende Leute dafür angeworben. Adieu, liebe Pauline! Vertrauen Sie!
mehr als je bin ich überzeugt, dass es gelingen werde. — Rauch hat
gesagt, das sei eine Composition einer phantastischen Frau,
aber unmöglich sei es, sie insLeben zu rufen, ausserdem
sei die Figur der Psyche ganz obscön und es würde ein
Scandal sein, sie öffentlich zu sehen.^) Ich habe unterdessen
mit Hülfe der Elise Hüfner^) die Psyche nach meiner Zeichnung her-
vorgebracht. Ausserdem an jeden Pinienapfel, die ich vergrössert habe,
einen Kranz gehängt. Der Sarkophag ist um ein 6tel verlängert, die
Treppe verbreitert. Das äussere Basrelief um ein ganzes Feld vergrössert,
so dass die Treppe sich weit vorstreckt, unter jedem Pilaster ein Ele-
phantenkopf— wunderschön — der mit seinem Rüssel im ablaufen-
den Wasser spielt, das in der Marmorrinne weiterfliesst rund ums Mo-
nument. Ich habe den Sarcophag verlängert, bei Gelegenheit schicke
ich Ihnen ein Daguerotyp davon. Meine schwache Hand will nicht fort,
ch kann noch nicht wieder mit voller Kraft schreiben. Adieu.
Bettine Arnim.
Noch einmal reden Sie zu Niemanden von dem Monument und nicht
von dem Brief an den König, nur um Discretion bitte ich.
13.
[Weimar, 28. November 185213)
Liebe Pauline ! Nun bin ich bereits 2 Monate auf Reisen, um für
das Monument zu werben und habe bereits die besten Aussichten. In
Frankfurt am Main hat sich ein grosses Komitee gebildet aus den ersten
Häusern, man will grosse Konzerte und Theater geben, um die Summe
von 60000 Thlrn. zusamen zu bringen. -Der Vorschlag ist, dass es
nach Weimar kommen soll. Damit ist jeder, der mit bei dem Komitee
ist, zufrieden. Von diesem Komitee, welches das Centrum bildet, gehen
noch in allen Hauptstädten Deutschlands welche aus, zum Beispiel in
1) Auch aus späterer Zeit werden abfüllige Bemerkungen Hauchs über Statue
und Denkmal verzeichnet; er nannte die Psyche einen .greulichen Backfisch" und fand
Steinhäusers Arbeit „schlecht, mürrisch und kalt*. Varnhagen, Tagebücher, 13, 117.
2) Rattis Schwägerin.
3) Das Tagesdatum ergiebt sich aus dem Poststempel, das Jahr aus dem Inhalt
des Briefes.
132 Karl übser
Hamburg, Bremen etc. Auch in England hofft man dafür werben zu
können. Ich selbst habe einige Werke zum Besten des Monuments
zum Kauf gestellt. In Frankfurt selbst haben sich meine Verwandte
sowohl wie auch Freunde erboten beizutragen. Ein Programm, an dem
ich eben schreibe und an welches sich ein anderes anhängt, welches
den praktischen Theil ausmacht, wird mit meiner Ankunft in Berlin
gedrukt werden. Dies leztere hat der Herr Bernus aus Frankfurt
äbernommen, welcher nebst seinen Freunden Mum[m], Ouaita, Bren-
tano das gaAze in Gang bringen werden, (sie!) Ich habe also die beste
Hoffnung, das wir noch die Basreliefs machen werden können. Eine all-
gemeine Stimme ist, dass es nach Weimar müsse ; also verzagen Sie
nicht und hoffen Sie mit mir, dass wir noch alle in Bom uns dieses
Werkes freuen werden. Der Erbgrossherzog wird hier in Weimar er-
wartet. Deswegen bin ich nur noch hier, um mit ihm darüber zu
sprechen. Einen Platz habe ich schon ausgesucht, grade Goethes Garten-
haus gegenüber.') Sonst wäre ich schon wieder in Berlin, wo ich gleich
am Programm werde druken lassen. Denken Si meiner Abreise
von Berlin habe ich noch einmal an den König geschrieben') und ihm
dargelegt, wie sein Schweigen mir geschienen, als ob das Monument
Fehler habe und durch weiteres Überlegen seien diese nun beseitigt.')
Das ist jezt grade ein 4tel Jahr her, allein ich habe bis jezt noch kein
Wörtchen von ihm darüber vernommen. — Liszt hat sich auch schon
anheischig gemacht Gonzerte dafür zu geben. Kurz, lassen Sie uns die
beste Hoffnung hegen und freuen Sie sich mit mir daran. Die Prinzess
von Preussen hat auch mit mir davon gesprochen als von einer Sache,
die gewiss gelingen werde.
Leben Sie wohl, liebe Pauline, und grüssen Sie den Steinhäuser
recht herzlich von mir. Sowie mein Program fertig ist, werde ichs
Ihnen schicken.
Adresse: AI illustrissima Signora
la Signora Paolina Steinhäuser
pittrice
Piazza Barbarina No. 12
Postdeinpel: Weimar, \\ 10—11 N. ^^^'
1) Auch Hermann Grimm hat den Wicsenplan, dem Gartenhause Goethes gegen-
über, mit den aufragenden Baumparthien an der Um als fernem Hintergrunde, nrH*h
1889 zur Aufstellung von Steinhüusers Goethedenk mal warm empfohlen, freilich ohne
Erfolg. Vergl. „Bettinas Goetliestatue in Weimar". Deutsche Rundschau, 1889,
Bd. 60, S. 469 ff.
2) Geiger, 3. Aug. 52, S. 190.
3) In dem oben erwähnten Briefe vom 3. August 1852.
s?
Bettiuc vou Arnim iind ihr Briefwechsel mit Tauliue Steinhäuser 133
Inzwischen war aber eine entscheidende Wendung eingetreten.
Schon im Juli hatte Steinhäuser dem Senator Klugkist in Bremen mit-
geteilt, eine wohlwollende Gönnerin in Weimar habe den Erbgrossherzog
mit der Lage der Dinge bekannt gemacht; dieser habe sich sehr dafür
interessiert und geäussert, er gebe, wenngleich viele ungünstige Um-
stände vorhanden seien, die Sache für Weimar nicht auf und gedenke
die Goethestatue bei seinem Aufenthalt in Bom zu besichtigen.^) Der
junge Fürst hielt Wort. Am 12. August benachrichtigte August von
Goethe den Künstler, der Erbgrossherzog wolle im Laufe des Tages das
Denkmal seines Grossvaters in Augenschein nehmen.^) Zwei Monate
später aber konnte Pauline Steinhäuser an ihre einstige Lehrerin Luise
Seidler, in der wir jene „wohlwollende Gönnerin* vermuten dürfen,
dankerfüllt schreiben : ,,Mit innigstem Glücke theile ich Dir die Nach-
richt mit, da^^Sr Hein lieber Erbgrossherzog Karl Alexander die Goethe-
statue wirklich gekauft hat. Er ist fest geblieben. Seine edle Gemahlin
hat ihn unterstützt und die Sache zur Entscheidung gebracht. Ich kann
Dir nicht sage (, .. '.^edel und liebenswürdig sie sich benommen haben,
und wie mein guter Steinhäuser dadurch erfreut ist. Auch der Frau
von Goethe und, ihrem Sohn sind wir vielen Dank schuldig; ihre Gegen-
wart war ein grosses Glück. Die Hauptsache ist, dass die Statue nun
doch nach Deutschland und nach Weimar kommt. Wie gern verdanke
ich Dir, liebe Luise, dieses für uns so überaus freudige Ereigniss; ja,
es ist kein leeres Wort, wenn ich sage, dass es meine Freude erhöht,
zu denken, ich danke sie Dir.''^)
Der Kaufpreis war ein massiger, er betrug 4000 Scudi, rund 6000
Thaler, die ratenweise zur Anweisung gelangten. Die Marmorgruppe
selbst, deren Beförderung auf dem Seewege erfolgte, wurde nach Jahres-
frist, am 16. Dez. 1853, im sog. Tempelherrenhause im Weimarer Parke
aufgestellt^) und verblieb dort, bis sie im Oktober 1865 ihren Platz
in dem neuerbauten Museum fand, — leider, was wiederholt lebhaft
beklagt wurde, unter höchst ungünstigen Licht- und Eaumverhältnissen,
1) An Senator Klugkist, 13. Juli 1852. Konzept.
2) Billet im Nachlass Steinhäusers.
3) ühde, Erinnerungen und Leben der Malerin Luise Seidler, 440. — Wenn
freilich Vamhagen (Tagebücher, 10, 20; 14, 339) erzählt, die Erbgrossherzog! n habe
Anstoss iui der Gestalt der Psyche genommen imd hätte diese am liebsten wegmeisseln
lassen, so stimmt dies wenig zu obiger Darstellung, die dem Einflüsse der fürstlichen
Frau wesentlich den Erfolg zuschreibt.
4) Nach gefl. Mitteilung des Herrn Geh. Hofrat Dr. Ruland in Weimar,
134 Karl Obser
die dem Beschauer den Genuss des herrlichen Bildwerks verkümniern
und eine volle Würdigung nicht verstatten.')
So hatte Steinhäuser wenigstens das nächste Ziel seiner Wünsche
erreicht. Von der Ausführung des grossen Denkmalentwurfes, wie er
Bettiuen und ihm vorgeschwebt, war freilich bei den Verhandlungen mit
Weimar nicht die Rede. Nach den Erfahrungen der letzten Jahre war
er offenbar nicht gesonnen, ohne besonderen Auftrag eine Arbeit zu
übernehmen, deren finanzielle Lasten die eigenen Schultern nicht tragen
konnten, und in dieser Hinsicht mochten ihm auch die jüngsten Er-
öffnungen Bettinens eine beruhigende Bürgschaft nicht bieten, so lange
das Ergebni» der Subskription nicht feststand. Wie schwer ihm aber
der Verzicht fiel und welch' hohe Vorstellung er von dem künstlerischen
Wert des von seiner Gönnerin ersonnenen Entwurfes hatte, das zeigen die
Worte, die er damals einem Bremer Freunde schrieb: »Unsre Zeit hat
kein Werk hervorgebracht, das an Grossartigkeit der Conzeption, an
tiefpoetischer Bedeutung, an Originalität und Harmonie aller Theile
diesem gleichkommen würde. Alles, was ich durch langes Studium mir
erworben, alles was mir die Natur gegeben hat, würde ich mit Freuden
an die Vollendung des Ganzen wenden, wie ich es an die jetzt fertige
Kolossalstatue gewendet habe.*"
Mit dem Schreiben vom 28. November bricht der vorliegende Brief-
wechsel Bettinens mit der Gattin des Meisters ab ; es kann kein Zweifel
darüber bestehen, dass zwischen beiden Teilen eine Entfremdung eintrat.
Mochte Frau von Arnim sich durch den Verkauf der als krönende
Spitze ihres Denkmals ausersehenen Statue verletzt fühlen, da er ihre
eigenen Zirkel störte, — mochte sie die vorsichtige, kühle Zurück-
haltung des Künstlers gegenüber ihren weiteren Plänen als Kränkung
empfinden: wir sind darüber nicht näher unterrichtet. Jedenfalls steht
fest, dass sie gründlich verbittert war und ihrem Ärger in abfälligen
urteilen über Steinhäuser offen Luft machte. ,,Er hat — klagte sie
bei Varnhagen — den Goethe verdorben; die Gestalt ist zu kurz und
gedrückt, darf nicht von unten gesehen werden ; sie muss mit dem Be-
trachter auf gleichem Boden stehen.^ ^)
Die Stimmung schlug freilich, wie es bei der launischen Frau nicht
selten begegnete, nach einiger Zeit wieder ins Gegenteil um. Als der
1) Vergl. Herrn. Grimms BemerkuDgen in der Deutschen Rundschau 1881>,
Bd. 60, S. 471.
2) Tagebücher (1853 Jan. 10) 10, 20. Die Äussenuig befremdet um so mehr,
als Bettine damals die Originaistatue noch gnr nicht kannte.
Bettine von Arnim und ihr Briefwechsel mit Pauline Steinhäuser 135
Künstler im Oktober 1854 zu Besuch nach Berlin kam, schien alles
vergessen. Dass er ihren Entwurf rühmte und seine Ausführung dem
König, falls Olfers es nicht vereitelte, dringend zu empfehlen versprach,
erfüllte sie mit freudiger Genugthuung und belebte ihre HofTnungen
aufs neue. .Steinhäuser, der noch vor wenig Tagen nur ein Techniker,
ein Behauer des Marmors sein sollte, ist plötzlich wieder ein begeisterter
Künstler, seine Madonna ein Meisterwerk.'' ^) Ob er Gelegenheit ge-
fanden, die Sache dem König vorzutragen, ist nicht bekannt; man wird
es kaum annehmen dürfen, sonst wäre Varnhagen wohl davon unter-
richtet. Jedenfalls ist es das letztemal, dass wir von Bettinens Be-
ziehungen zu dem Meister etwas hören. Ihre Wege gingen auseinander,
es fehlte fortan an der Gemeinsamkeit der Interessen, die früher beide
Teile trotz räumlicher Entfernung in enger Verbindung erhalten hatte.
Steinhäuser ist nie mehr auf die Denkmalsangelegenheit zurückgekommen.
Andre Aufgaben lockten ihn, andre Werke entstanden, über denen
er der alten Pläne vergass. Es ist hier nicht der Ort, der weiteren
Lebensläufe des Künstlers zu gedenken, der als einer der begabtesten
und tüchtigsten Vertreter der Plastik seiner Zeit sich in der Künstler-
geschichte dauernd einen ehrenvollen Platz gesichert hat. In Karls-
ruhe, wohin er 1863 durch die Gnade des Grossherzogs als Lehrer an
die Kunstakademie berufen wurde, hat der Zufall ihn nach Jahren
wieder mit einer Tochter seiner einstigen Gönnerin, der Gemahlin des
preussischen Gesandten Grafen Flemming, zusammengeführt ; dort ist er
bekanntlich am 9. Dezember 1879 verstorben, nachdem die Gattin ihm
schon am 21. Juni 1866 im Tode vorausgegangen war.
Es sei gestattet, mit ein paar Worten noch die weiteren Wand-
lungen und Schicksale der Denkmalsfrage zu berühren. Auch nach der
Trennung von Steinhäuser mochte Bettine ihrem Lieblingsplane nicht
entsagen; die Sorge um ihn begleitete sie bis an ihr Grab. Immer
wieder sann sie auf neue Wege, um die Mittel zu seiner Verwirklichung
zu beschaffen. Bald wollte sie zum Besten des Fonds die Schriften
ihres Mannes herausgeben, bald sollte der Ertrag ihres Goethebuches
in Amerika oder der französischen Übersetzung eines andern Buches da-
für verwendet werden. Wie früher auf Liszt, so setzte sie später ihre
Hoffnung auf Joachim und die Ristori, die ihr Talent in den Dienst
der guten Sache stellen und im Konzert und auf der Bühne dafür wirken
1) Varnhagen, Tagobürher, 11, 277, 282.
2) Vergl. zum Folgenden Varnhagen, Tagebücher, 10, 29; 11, 87; 13, 4, 10,
113, 138, 201, 247.
136 Karl Oliser
sollten. Aach der Gedanke an eine allgemeine Subskription beschäftigte
sie unausgesetzt; wiederholt verhandelte sie mit dem Berliner Bankier
Magnus und anderen darüber. Alles freilich am Ende ohne Erfolg. Es
fehlte ihr der praktische Blick und die Fähigkeit, das einmal Begonnene
konsequent durchzuführen. Wenn Varnhagen ihr mit Recht vorhielt,
dass, ehe die Subskription eröffnet werden könne, die endgiltige Gestalt
des Denkmals, die Wahl des Künstlers und der Aufstellungsort fest-
stehen müssten, so meinte sie in ihrem unverwüstlichen Optimismus
bezeichnenderweise, das alles werde sich finden, wenn das Geld einge-
gangen sei.
An dem Entwürfe selbst arbeitete und änderte sie fortwährend. Vor
allem erhielt die Bückwand des Modells ein neues Aussehen. Wie früher
Steinhäuser, zog sie in den letzten Lebensjahren die Bildhauer Albert
Wolff und Ferd. Aug. Fischer zur Mitwirkung heran.*) WolfiF model-
lierte u. A. die Gruppe des jungen Hirten mit der Königstochter in den
Armen, eine Verherrlichung der alle Standesunterschiede aufhebenden
Dichtung. Auch von der Komposition eines Genius der Pressfreiheit,
von dessen künstlerischer Wirkung sie sich viel versprach, war gelegent-
lich die Kede.^) Noch 1858 trug sie sich mit dem Gedanken einer
tiefeingreifenden Umgestaltung : an die Stelle des im reifen Mannesalter
dargestellten Dichterfürsten sollte, nach dem Vorbilde der bekannten
Büste von Trippel, der jugendliche Goethe treten.') Kein Wunder, wenn
unter den Umständen der König, der längst die Lust an der Sache ver-
loren, es ablehnte, das Modell nochmals zu sehen, da es doch stets wie-
der abgeändert werde. ,,Käme es zur Ausführung, bemerkt Varnhagen,
die Verwirrung würde grenzenlos sein."^)
In einem blieb Bettine sich immer gleich : in der begeisterten, rück-
haltlosen Aufopferung für ihre Idee, in der sie keinerlei Enttäuschung
und bittere Erfahrung wankend zu machen vermochte. Es liegt ein Zug
ergreifender Tragik in dieser Hingabe, in der ihr Leben ausklingt. , Nichts
hörte Bettine lieber in den allerletzten Zeiten — so erzählt einer, der
ihrem Herzen nahe stand — als wenn ich ihr ausmalte, wie wir alle
nach Rom reisen und die Ausführung des Monuments überwachen wollten.
Schwach und nicht mehr recht im Stande zu gehen, Hess sie sich manch-
1) Varnhagen, Tagebücher, 13, 2.U, 252: II. Grimm im „Katalog der Ber-
liner Goetheaiisstelhmg vom Mai 1861". S. 4ff.
2) Varnhagen, Tagebücher, 13, 201.
3) Ebenda, li, 220.
4) Varnhagen, Tagebücher, 13, 110, 235.
Bettine von Arnim und ihr HrielS^'eclmel mit Paiiline Steinhäuser 137
mal zu der Arbeit führen, hielt sich mit den Händen an dem Gerüste,
auf dem das Modell aufgebaut war, und betrachtete es, langsam herum-
gehend, von allen Seiten.* *) Und als die ruhelose Frau zur letzten Buhe
einging, stand neben dem Monumente noch ihr Sarg, bevor er in die
Familiengruft nach Wiepersdorf übergeführt wurde, und des Dichters
Statue hielt bei ihr Totenwacht.
Modell und Entwürfe, die auf der Berliner Goetheausstellung von
1861 zu sehen waren, sind heute fast verschollen; von der Familie von
Arnim mit dem übrigen Nachlasse sorgsam gehütet, sind sie nur Wenigen
zugänglich geworden. Eine selbständige Würdigung ist heut« darum
nicht leicht möglich : wir sind auf das urteil von Bettinens Zeitgenossen
angewiesen, und dieses lautete verschieden. Der abfälligen Kritik Bauchs
ist oben gedacht worden; sie verdient, wenngleich unverkennbar persön-
liche Momente dabei eine Bolle spielen, unstreitig Beachtung. Allein
auch das Zeugnis eines Künstlers wie Steinhäuser fällt schwer ins Ge-
wicht; wir wissen, wie hoch dieser die künstlerische Bedeutung der
Kompositionen eingeschätzt und wie glänzend er durch die That Bauchs
Ansicht von der Unausführbarkeit der Arnim'schen Goetheskizze wider-
legt hat. Und ihm zur Seite steht ein Mann von so ausgeprägt feinem
Verständnis in künstlerischen Dingen, wie Hermann Grimm. Wie die-
sem .unter so vielem, was zu Goethes monumentaler Verherrlichung
versucht worden ist'', Bettinens Entwurf der Statue allein die Verkörpe-
rung dessen zu enthalten schien, „was Goethe in der zweiten Hälfte
seines Lebens seiner Zeit war'', so war er auch entzückt von der Ge-
samtwirkung des grossen Monumentalentwurfes und den Detailzeichnungen
für die Basreliefs, die er aus eigener Anschauung kannte. «Die Aus-
führung des Werkes in die rechten Hände gelegt, — meinte er, —
würde ein Denkmal entstehen lassen, wie es für Goethe nicht würdiger,
schöner und grossartiger erdacht werden könnte.''^
Man wird es mit ihm darum wohl beklagen dürfen, dass es Bettinen
versagt geblieben ist, ihren sehnlichsten Wunsch erfüllt zu sehen. Sie
nahm ihre Hoffnungen mit ins Grab. „Um Goethes Monument hab ich
ein Märtyrthum erlitten, und hätte wohl verdient, dass eine Hand aus
den Wolken mir die Palme dafür reiche* : — in diesen Worten, die sie
einst an den König richtete, spiegelt sich all ihr Verlangen und Ent-
sagen, die ganze Leidensgeschichte ihres inhaltreichen Lebens, soweit sie
mit jener Frage zusammenhängt, in beweglicher Weise wieder.
1) H. Grimm, Goetliejahrbuch 1, 15.
2) Katalog der Berliuer Goeiheausstelluug, S. 5.
Der Schauplatz der Kuprechrschen Fragen«
Von
Richard Schröder.
Eine der wichtigsten Femrechtsquellen sind die sogenannten Ru-
precht'schen Fragen vom 29. Mai 1408 (abgedruckt u. a. bei Lind ner,
Die Veme, 1888, S. 212 ff.). Die Einleitung besagt: „Anno domini 1408,
feria quarta post Urbani. Nota. Unser herre der künig bat besant dise
nachgeschriben freigreven, mit namen Gobeln von Werdinchusen, frein-
greven zu Volmestede (d. i. Volmarstein), Clausen von Wilkenbracbt,
freingreven von Walberth (d. i. Valbert), Stencken, freingreven zum
Hamme (d. i. Hamm) und Bernharten Mosthart, freingreven der stüle
zu Wilshorst, und hat die dise nachgeschriben frage und stuck tun
fragen.*
Der Schluss lautet: y,Nota. Item dicz obgeschriben allez haben die
obgenanten etc. geschriben geben mir Johannes Chirchain, hofschreiber
des romischen kunigs. dapei ist gewessen Johannes von Laudemburg,
zolschreiber zu Bacherach, unde geschah zu Heidelberg in Rebenstock-
haus, anno et die ut supra.*^
Man darf annehmen, dass die Verhandlungen an demselben Orte
stattgefunden haben, an welchem die auf König Ruprechts Geheiss nach
Heidelberg berufenen Freigrafen dem Hofschreiber (Hofgerichtsschreiber?)
Johann Kirchheim das darüber aufgenommene Protokoll übergaben.
Einer der besten Kenner der Heidelberger Ortsgeschichte, Herr
Landgerichtsrat Huffschmid in Konstanz, teilte in dankenswerterweise über
die in Frage kommende Örtlichkeit Folgendes mit : .Bei Zusammenstellung
meiner Notizen finde ich, dass 1428 das Haus ,fZum Ochsen* das Ort-
haus an der Knebelgasse war und am Markt nahe dem Heil. Geiste lag.
Zweifellos war es das westliche Eckhaus der Fischergasse. Unten daran
lag das der Ennel Rebstöckin gehörende Haus, das dem heutigen Hause
Fischergasse Nr. 16 entspricht. Schon 1376 wird in der Knebelgasse
Richard Schröder: Der Schauplatz der Huprecht'schen Fragen 139'
ein Haus angeführt .unten ati Uebstock stossend/ Da die Familien
^zum Ochsen^ und ^Kebstock* zu den wohlhabendsten Heidelberger
Familien des 15. Jahrhunderts zahlten, so ist es nicht zu verwundern,
dass 1436 Bischof Friedrich von Worms bei Johanns zum Ochsen und
1408 die Femrichter bei Kebstock abstiegen. Über die Identität der
Knebel- und Fischergasse kann kein Zweifel sein. «Knebel' wird mit
der Familie der Knebel von Katzenelnbogen zusammenhängen.'
Am 29. Mai 1908 wird seit der Aufzeichnung der Ruprecht'schen
Fragen im Kebenstockhaus ein halbes Jahrtausend vergangen sein.
Hoffentlich wird die Heidelberger Stadtverwaltung die Erinnerung an
dies denkwürdige Ereignis durch Anbringung einer Gedächtnistafel an
dem Hause Fischergasse 1(5 ehren.
IV.
S«it«
Willi« Erb, Über die wachsende Nervosität unserer Zeit 1
Emil Kraepelin, Über geistige Arbeit 31
Fr. Grimme, Die Anordnung der grossen Heidelberger Liederhandscbrift 53
Arthur Kleliischmidt, Marianne, Gräfin von der Leyen 91
Hermann Wuudorlicli, Zur Sprache des neuesten deutschen Schauspiels II. 115
F. r» Duhn, GeschichUiches aus vorgeschichtlicher Zeit. Neue Entdeckungen
Luigi rigorinis 143
A. Y* Domaszew^ki, Die Heere der Bürgerkriege in den Jahren 49 bis 42
vor Christus 157
H)tto Kariowa, Das Testament des Veteranen Gaius Longinus Castor vom
Jahre 189 n.Chr 189
Karl Zangremeister und Willi. Braune, Bruchstücke der altsächsischen ,
Bibeldichtung ans der Bibliotheca Palatina 205
V.
Carl Kcumann, Über Kunst in Italien im 12. Jahrhundert 1
Richard Schröder, Eine Selbstbiographie von Fritz Reuter 18
Richard Schröder, Ein Brief Savignys an einen früheren Schüler ... 23
Moritz Cantor, Zahlensymbolik 25
Karl Zangemeister, Zur germanischen Mythologie 46
Friedr. Ohlenschlager, Der Name ^Pfahl** als Bezeichnung der römischen
Grenzlinie 61
Karl Zangemeister, Der obergermanisch-rätische Limes 68
A. Y« DomaszcYi'ski, Zu den Heeren der Bürgerkriege .... .105
A. T. Domaszeitski, Die Chronologie des bellum Germanicum et Sarmaticum
166—175 n. Chr 107
Ednard Heyck, Die Staatsverfassung der Cherusker 131
Karl Schumacher, Altes im Neuen ' . . 182
J. Wille, Pfalzgräfin Elisabeth Charlotte, Herzogin von Orleans . . 190
Richard Graf Du Moulin Eckart, Zweibrücken und Versailles .... 229
VI.
Erwin Bohde, Orpheus 1
F. T. Dubn, Ueber die archäologische Durchforschung Italiens innerhalb der
letzten acht Jahre 19
€h. Hülsen, Caecilia Meteila 50
O. Sixt« Zu den Votivsteinen der equites singulares 59
Reinhoid Steig, Fi'au Auguste Pattberg .62
B. Erdmannsc^Örffer, Eduard Winkelmaun f ^ . 123
Henry Thode, Eine italienische Fürstin aus der Zeit der Renaissance . 129
Alexander Riese, Der Feldzug des Caligula an den Rhein 152
A. Hansrath, Luthers Bekehrung 163
B. ErdmanusdÖrffer, Kleine Beiträge zur Goethe-Biographie . . .187
0« Karioira, Über die in Briefform ergangenen Erlasse römischer Kaiser 211
E. Kraepelin, Zur Hygiene der Arbeit 222
VII.
Adolf Hausrath, Philipp Melanchthon 1
Richard Graf Dn Monlin Eckart, Treitschke und das Elsass . 17
Walther Arnsperger, Lessings Beschäftigung mit der Leibnizischen Philosophie 43
Fr« Ed. Schneegans, Die Volkssage und das altfranzösiRche Heldengedicht . 58
3Iax Freiherr von Wald^berg, Briefe von Jacob und Wilhelm Grimm, Karl
Lachmann, Creuzer und Joseph von Lassberg an F. J. Mone, I. . . 6S
Karl Helm, Die liegende von Krzbischof Udo von Magdeburg .... 95
F. V. Dnhn, Karl Humann 121
K. Schamacher, Die Besiedelung des Odenwaldes und Baulandes in vor-
römischer und römischer Zeit 138
Panl Joseph, Der Weinheimer Ilalbbrakteateufund 161
Arthur Kleinschmidt, Karl Theodor, Friedrich zu Salm und F. X. von Zwackh 199
Carl Schmidt, Die Paulusakten 217
Mlax Freiherr von Waldherg, Briefe von Jacob und Wilhelm Grimm, Karl
Lachroann, Creuzer und Joseph von Lassberg an F. J. Mone, II. : 225
Till.
H . Lftmmerhlrt, Rosaliea und Pasqua Kosa t
Fr. Ed. Schneegans, Frederi Mistral .M8
A. Hansrath, Luther als Dichter . .xS
H. Baasermann, Erziehung und Gesellschaft 78
Karl Schnmaeher, Zurrdmischen Keramik u. Geschichte Süd westdeutsch landa Dl
Anton Banmatark, Zur Chronologie des Bakchylides 125
Fr. Ed. Sehneegans, Die Abtei Th6leme in Rabelais' Gargantna . .143
K. Dossier, Giuseppe Gioachino Belli und die römische Dialektdichtung . .160
A. Hansrath, Luthers Thesenstreit 18 1
Richard Schröder, Germanische Rechtssymboük auf der Marcussäule . 2i8
Karl Schumacher, Zur ältesten Besiedelnngsgeschichte Badens . . . . 2ot^
Alexander Cartellieri, Die Machtstellung Heinrichs II. von England . . 26i)
Panl Hensel, Englische Zustände zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts . 1
Fritz SehöUf Aus neuerworbenen Korrespondenzen der Heidelberger Univerasi-
tätsbibliothek 17
Walther Arnsperger, Einfluss der kirchlichen Unionsversuche des 13., 14.
und 15. Jahrhunderts auf die philosophische Renaissance des Abendlandes 73
Moritz Cantor, Niclaus Koppernikus 90
F. T. Dnhn, Fundumstände und Fundort der ältesten lateinischen Sieininschrift
am Forum Romanum 107
Karl Yossler, Die Lyrik des Angelo PoÜziano 1:^1
k. T. DomaszewskI, Die Principia des römischen Lagers 141
Albert Krieger, Eine kaiserliche Brautwerbung in Kopenhagen 1697 .164
F. Ed. Schneegans, BaUsto Bonnet. Ein proVenzalischer Bauer u. Schriftsteller 182
Karl H ild, Leibniz als Politiker und Erzieher nach seinen Briefen an Boine-
bürg 201
Moritz Ganior, Carl Friedrich Gauss 234
Karl Schumacher, Die Handels- und Knlturbeziehungen Süd Westdeutschlands
in der vorrömischen Metallzeit 25B
Karl Helm, Die Legende von Erzbischof Udo vop^Magdeburg (Nachtrag) . 373
Dietrich Schäfer, Die Schlacht bei Lutter am Barenberge l
Karl Yossler, Pietro A ratio o's künstlerisches Bekenntnis 38
Karl Boehm, Die Mathematik der Natur 66
Karl Helm, Ein Tagebuch aus Matthissons Jugend 81
Reinhold SMg, Joseph von Görres' Briefe an Achim von Arnim .115
F* T« Dnhn, Der Zeus des Phidias 177
Walther Arnsperger, Die Entstehung von „Werthers Leiden"" .... 195
A* Y. Domaszewski, Der Truppensold der Kaiserzeit 21S
Albert Bftckström, üeber den Orosius-Codex F. v. I Nr. 9 in der Kaiserlichen
Oeffentlichen Bibliothek zu St. Petersburg 242
Richard Graf Da Moniin Eckart, Zum Gedächtnis Bernhard Erdmanns-
dörffers 1
Alfred Baasermann, Veltro, Gross- Chan und Kaisersage 28
Th. Leber, Willy Kühne 76
Karl YoHsler, Danre und die Renaissance 85
J. W'lle, Pfalzgräfin Elisabeth, Äbtissin von Herford lOS
J. Wulf, Karl Zan^^emeister (geb. 28. November 1837, gest. 8. Juni 1902) . 148
F. Ed. Schneegans, Mdistre Fran^ois Villoa löo
Alexander Cartellleri, Beiträgu zur Geschichte Albrechts von Hohenberg aus
dem Vatikanischen Archiv • ^^^
Alexander Cartellleri, Reiseeindrücke vom Grossen St. Bernhard aus dem
Jahre 11m8 177
Beinhold Steig, Zeugnisse zur Pflege der deutschen Litteratur in den Heidel-
berger Jahrbüchern 180
Briefe und Mannskriptsendongen sind an Professor Dr. Wille in Heidel-
berg (Bunsenstrasse 9), dagegen all<^ Sendungen den Tanschrerkehr l>etrefreod
an die UnlversitätB- Bibliothek in Heidelberg zu richten.
UniversitAti-Bachdruekttrei von J. Hörnfng in Heidelberg.
Inhalt der erschienenen Bände.
I« Seit«
Programm 3
Chronik des Vereins * 5
M. Cantor, A. Dürer als Schriftsteller 17
R« Schröder, Die Landeshoheit über die Trave 82
K* Hartfclder, Das Eatharinenfest der Heidelberger Artistenfakultät . . 52
A. Hansratli, Arnold von Brescia 72
F. y. Dnhn, Heinrich Schliemann 145
0. Kariowa, Die Kangklassen des Ordo salutationis sportularumque provinciae
Numidiae, insbesondere die coronati 1G5
A. Y* Domaszewskiy Beiträge zur Geschichte der Perserkriege . .181
— Die Entwicklung der Provinz Moesia .... 190
J. V. Pflngk-Harttung:, Keltische Bauwerke 201
A« T. Gntschmid f , Die Heidelberger Handschrift der Paradoxographen (Pal.
Gr. 398) 227
A. C. Clark, Die Handschriften des Graevius 2oS
A. T. Oechelhänser, Philipp Hainhofers Bericht über die Stuttgarter Kindtaufe
im Jahre 1616 254
G. Meyer, Die Verhandlungen des preussischen Abgeordnetenhauses über den
Erlass von Stempelsteuern für Fideikommisse 3P>()
B. Erdmannsdörifery Zur Geschichte der Heidelberger Bibliotheca Palatina 34i^
A. Hansrath, Festrede gehalten bei der Enthüllung des Scheffel-Denkmals zu
Heidelberg am 11. Juli 1891 352
II.
K. Zangemeister, Zur Geographie des römischen Galliens und Germaniens
nach den Tironischen Noten 1
F. Scholl, Risse und I^rüche in der Urhandschrift Plautinischer Komödien . 37
F. V« Duhn, Die Benutzung der Alpenpässe im Altertum 55
K* Schmnacher, Über den Stand und die Aufgaben der prähistor. Forschung
am Oberrhein und besonders in Baden \)ö
0. Kariowa, Zur Inschrift von Skaptoparene 141
J. Haller, Die Verhandlungen von Mouzon (1119). Zur Vorgeschichte des
Worroser Konkordats 147
R« Schröder, Arno, Erzbischof von Salzburg und das Urkundenwesen seiner Zeit 165
H. Basseriuann, Johann Arnos Comenius. Festrede, gehalten bei der Comenins-
Feier in Heidelberg . 172
M. Cantor, Zeit und Zeitrechnung l'JO
L« Leinme, Shaksperes König Lear . .212
J« V. Pflugk-Harttnng, Die Druiden Irlands 265
H. Buhl, Hugo Donellus in Heidelberg (1573—1579) 280
III.
K. Zaugemeister, Zur Geschichte der Neckarländer in römischer Zeit . . 1
Friedr. v. Weech, Ein Projekt zur Reform der Reichsjustiz aus dem 16. Jahrb. 17
J. V, Pflugk-Harttuiig, Die Schriften S. Patricks 71
Fr. y. Duhn,„Eine Bronze der früheren Sammlung Ancona 88
Ed. Heyck, Über die Entstehung des germanischen Verfassungslebens . . 10(>
G. Jellinek, Adam in der Staatslehre lo^y
A. v. Oechelhäuser, Zur Entstehung der Manesse-Handschrift .152
A. Y. Doinaszenski, Das deutsche Wort Braut in lateinischen Inschriften . 19Ü
R. Heinze, Magister Conrad Schades Streithändel mit der Stadt Heidelberg . l^r»
Ferd. Gerhard, Vom Hussenkriege 224
£d. Heyck, Zur Entstehungsgeschichte des germanischen Verfassungslebens . 2.'>1
Herrn. Wunderlich, Zur Sprache des neuesten deutschen Schauspiels . .251
Max Freiherr von Waldberg, Das Jaufner Liederbuch 260
IV.
Wilh. Erb, Über die wachsende Nervosität unserer Zeit l
Emil Kraepelin, Über geistige Arbeit 31
Fr. Grimme, Die Anordnung der grossen Heidelberger Liederhandschrift 53
Arthur Kleinsclimidt, Marianne, Gräfin von der Leyen lU
Hermann Wunderlich, Zur Sprache des neuesten deutschen Schauspiels II. 115
F. T. Duhn, Geschichtliches aus vorgeschichtlicher Zeit. Neue Entdeckungen
Luigi Pigorinis 143
A. Y. Domaszewski, Die Heere der Bürgerkriege in den Jahren 49 bis 42
vor Christus 157
Otto Kar Iowa, Das Testament des Veteranen Gaius Longinus Castor vom
Jahre 189 n. Chr 1S9
Karl Zangemei«)ter und Wilh. Braune, Bruchstücke der altsächsischen
Bibeldichtung aus der Bibliotheca Palatina 205
^s«
Ein neuer juristischer Papyrus der Heidelberger
Universitätsbibliotliek.
Mit Faksimile.
Von
G. A. Gerhard und 0. Gradenwitae.
I. Edition (mit Exkursen) von Oerhard.
Von den lateinischen Stücken unserer Sammlung wurde eines, das
Fragment aus einem Digestenkodex (P. 1272) kürzlich publiziert.*)
Gleichfalls litterarisch-juristischen Inhalt — merkwürdigerweise wieder
aus dem Erbrecht — bietet der P. 1000, den ich in Begleitung einer
Lichtdrucktafel im Folgenden mitteile. Bei der Lesung und Verarbeitung
des Textes berieten mich in liebenswürdiger Weise die Herren Professoren
Otto Gradenwitz und Franz Bühl in Königsberg. Ferner muss ich
Herrn Professor Deissmann hier und Herrn Dr. Crönert in Bonn
für gütige Durchsicht der Bogen und nützliche Winke Dank sagen.
Herr Prof. Gradenwitz hat auch diesmal die Freundlichkeit, der Edition
eine sachliche Erläuterung beizufügen (S. 179 ff.). In letzterer Beziehung
macht sich nun freilich der geringe Umfang und die schlechte Erhaltung
des Blättchens leider besonders schmerzlich fühlbar. Handgreiflich ist
dagegen sein Wert für das antike Buchwesen und für die Paläographie.
Bis jetzt hatte man auch in den ältesten neuerdings ans Licht ge-
tretenen juristischen Handschriften mit einer eigens zu erklärenden Aus-
nahme^) Kodizes^) erkannt. Unser 3 cm hoher und 7,4 cm breiter Pa-
pyrus, links ganz aussen Spuren einer Klebung zeigend und nur auf
dem Bekto der feinen Charta in der Richtung der Horizontalfasern be-
schrieben, erweist sich als ein mit dem Band erhaltenes unteres Ko-
Inmnenende aus einer Rolle.
NEUE I1EIDELB. JAHRnUECHER XII. 10
142 ^- ^' Gerhard und 0. Graden witz
Der derzeitige Stand der Frage ^RoIIe und Kodex' lässt eine
gedrängte Orientierung über den Ursprung der zweiten Buchform als
wünschenswert erscheinen.
Nicht neu ist die These, entsprechend seinem römischen Namen
sei der Buchkodex eine römische Erfindung und tauche bald nach Be-
ginn unserer Zeitrechnung auf.^) Man kann aber seinen Werdegang
noch schärfer verfolgen als seither geschah. Einen sicheren Ausgangs-
punkt fürs erste Jahrhundert liefern ein paar Epigramme Martials.^)
Als äquivalente Abart des den mannigfachen Zwecken des täglichen
Lebens dienenden Wachstafelkomplexes, der (codicüli) pugillares er-
scheint unter den Apophoräa (XIV 7) dessen darnach betitelte Nach-
ahmung aus Pergament, das (selbstverständlich ein Ganzes bildende)
Pergamentheft, die pugillares membranei. Damit identisch, bloss durch
die Dicke davon verschieden ist nun auch der litterarische Pergament-
kodex, aus dessen bekannten Exempeln, dem Homer, Virgil, Cicero,
Livius und Ovid im vierzehnten Buch (184. 186. 188. 190. 192) im
Verein mit einer vom Dichter selbst (I 2) angepriesenen analogen
Edition eigener Epigramme sicher hervorgeht, dass solche handlichen
und dabei sehr viel fassenden Bände damals nur erst als rare und be-
gehrte, darum aber auch recht teure ^) Extraausgaben vorkamen. Das
erste Beispiel (184) trägt die Überschrift: Hotnerus in pugillaribus
menibraneis.^) Genau wie der spätere (s. u.) dokumentiert also schon
dieser frühe gleich dem Notizheft als pugillares membranei bezeichnete
Pergamentkodex deutlich seine Abhängigkeit von den römischen Holz-
tafeln. Statt jener umständlichen Benennung genügte meist die einfache
nach dem Material. Der Virgil (186) heisst Vergilius in membranis
und ebenso die folgenden klar als Pergamentkodizes gekennzeichneten
Klassiker. Die Kodexform war also hinreichend charakterisiert durch
das Wort memhranae. Neben dem Plural begegnet uns im Text der
Epigramme (I 2. 3; XIV 186. 188) gleichwertig der Singular menibrana.
Das Verhältnis beider Formen ist etwa vergleichbar dem von codex
und codicilli. Die zum Diptychon, Triptychon etc. verbundenen tabulae
nennt man codeXy wenn man den durch sie gebildeten Holzblock be-
trachtet, aus dem sie durch Zerschneiden entstanden, codicilli dagegen
mit Rücksicht auf ihren Charakter als Teile. Ähnlich ist's mit dem
Pergamentkodex. Metnbrana nimmt ihn als Ganzes, metnbranae deutet
an, dass er ans Blättern besteht. Das scheint selbstverständlich, doch
ich musste es konstatieren, weil sich K. Dziatzko in seinen lehr-
reichen 'Untersuchungen über ausgewählte Kapitel des antiken Buch-
Ein neuer juristischer Papyrus der Heirlolberger Universitätsbibliothek 143
Wesens* unter membranae meist lose und unverbundene Einzelblätter
denkt, die nach seiner das moderne Zettelsystem aufs Altertum an-
wendenden Ansicht ebenso wie ihr vermeintliches Korrelat aus Papyrus,
die ;(dpTat (chartae) sogar fortlaufende litterarische Texte getragen haben
sollen.^) unsere Erklärung können wir gleich an einer Quin tili an-
stelle^) erproben. Die tneinbranae dienen da neben den cerae dem
litterarischen Entwurf, dem Mittelglied zwischen Schreibtafel und Buch.
Wenn nun dem Studenten empfohlen wird, in den menibranae wie in
den cerae jeweils die Seite gegenüber für nachträgliche Zusätze frei zu
lassen, so passt das klärlich nur auf ein festes Pergamentheft. Dieses
werden wir somit auch bereits da vorauszusetzen berechtigt sein, wo
wie bei Horaz '®) noch im ersten Jahrhundert v. Chr. von membranae
als Schriftstellerkonzepten die Bede ist. Doch zurück zum Pergament-
kodex mit dem fertigen Werk! Dass auch er vereinzelt mindestens zum
Anfang unserer Ära heraufreicht, lehrt uns eine Äusserung des der
ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts angehörigen Juristen G. Gassius
Longinus, die zitiert wird von ülpian. Als der Normen für Bücher-
vermächtnisse aufstellt, sieht er sich vor der Frage, ob unter den streng-
genommen nur Bollen bezeichnenden Titel libri auch die Eodizes fallen.
Wie Paulus'^) bejaht er sie, mit Berufung auf den Bescheid eines
älteren Juristen über membranae. Unter ihnen richtige litterarische
Pergamentkodizes zu verstehen wäre man schon hier dem allgemeinen
Gebrauche wie der Logik des Zusammenhangs schuldig. Jeden Zweifel
daran entkräften Ulpians eigene Worte in § 5, wo er sich anders als
in der einleitenden Definition der codier für sie selber jenes damals
noch keineswegs abgekommenen '') zwangloseren Namens bedient und
den libri im engeren Sinn, den zwar zu Ende geschriebenen, aber noch
Dicht zusammengesetzten und ausgestatteten Papyrusrollen die noch nicht
gehefteten Pergamentkodizes zur Seite setzt. ^') Die gewonnene Einsicht
in das Verhältnis der Begriffe libri und membranae als Termini des litte-
rarischen Buchwesens befähigt uns nun auch zu einem Urteil über jenen
vielbesprochenen Vers des zweiten Timotheusbriefes, in welchem
die Theologie ein Stück aus einem echten Schreiben des Apostels zu
erblicken geneigt ist.") Wenn man dort (4. 13) liest: Tov ^skovr^u,
Sv dzüdTtov kv Tpiüddt mipa KdpTicp^ ipj^o/uvoQ tpipe xdi rd ßtßXia^
fmXtara {de\ tuq pBpßpdvaq, so zerfallen die ßißXia (= libri) genannten
Schriftwerke augenscheinlich wieder in Papyrusrollen und Pergament-
kodizes. '^) Dieses früheste Zeugnis über den schon hier höher taxierten
christlichen Kodex aus dem ersten Jahrhundert ist um so wertvoller,
10*
144 0. A. Gerhard und 0. Gradenwitz
als es ihn durch den römischen Namen unverkennbar als Folgeerscheinung
des römischen Vorgangs erweist.
Auch im zweiten Jahrhundert fehlt es dem Pergamentkodex nicht
an Belegen. Nichtlitterariscb fungieren beispielsweise in den Sattel-
taschen untergebrachte membranulae als geschäftliche Journale beim
Juristen Q. Cervidius Scaevola,*^ und bei Qaius") hat fürs Haupt-
buch des Bankiers der codex als ebenbürtige Stellvertretung neben sich
die membranae. Bloss die den Einzelfall berührende Partie, so heisst es,
braucht der argeniarius vorzulegen, nicht totum codicem rationum iotasque
membranas. In diesem letzteren Ausdruck treten uns die membranae
wieder deutlich als geschlossene Einheit entgegen. Mehr interessiert
uns das wirkliche Buch. Gaius'^) bestimmt, dass das Eigentumsrecht
an einer Skriptur bedingt ist durch das am beschriebenen Stoff. Für
den kennt er die zwei gleichgeltenden Möglichkeiten der chartae (char-
tulae) oder libri und der membranae, d. h. der Papyrusrollen und der
Pergamentkodizes. Zugleich giebt er einen schätzbaren Vermerk über
deren etwaigen Inhalt, indem er die eventuell sogar in Goldschrift ge-
dachten Texte als ^Dichter oder Historiker oder Bedner' exemplifiziert.
Gerade solch einen Bednerpergamentkodex aus dem zweiten Jahrhundert
hat uns nun Ägyptens Boden schon thatsächlich wiedergeschenkt.
F. G. Eenyon setzt ein Doppelblatt des Britischen Museums mit einem
Stück von Demosthenes irepi itapanp^a^tiac, in jene Zeit. *^) Wenn also
selbst griechische Klassiker so zeitig als Pergamentkodizes auftreten,
so darf man ein Gleiches füglich um so eher erwarten von den Hand-
schriften römischer Jurisprudenz, für welche nach der landläufigen An-
sicht jene bequeme Buchform mit am frühesten zur Verwendung ge-
langte. Die erst seit ca. 294 mit dem Codex Gregorianus und seinen
Nachfolgern ins helle Licht rückenden Publikationen dieser Art (s. u.)
haben zweifelsohne auch mehr als einen Vorläufer gehabt. Für des
Papirius Justus Konstitutionensammlung vom Ende des zweiten
Jahrhunderts bleibt die Zugehörigkeit dazu trotz mangelnder Beweise
mindestens wahrscheinlich, *®) evident aber ist sie für die sieben Bücher
Entscheidungen von Trajans Zeitgenossen Neratius Priscus mit dem
charakteristischen Titel membranae}^) Ein Jahrhundert später hätte sich
das Werk codex genannt so gut wie die bekannten Bechtsbücher der
byzantinischen Epoche.
Im dritten Jahrhundert, in das wir damit Vorschauen, ist der Per-
gamentkodex naturgemäss immer weiter gedrungen. Dem ursprünglichen
Holzkodex macht er jetzt so starke Konkurrenz, dass schon bei Ulpian
Eiu neuer juristischer Papyrus der Heidelberger Uuiversitätsbibliothek 145
und Paulus (A. 11) das alte Wort für den Klotz die spezielle Material-
bedeutung völlig abgestreift und den allgemeinen Sinn der Eodexbuch-
form angenommen hat. Keichlicher strömen nun die Quellen Ägyp-
tens. Von den nachher besonders zu besprechenden — profanen wie
christlichen — Papyruskodizes des dritten Jahrhunderts sehen wir vor-
läufig ab. Der gleichzeitige Pergamentkodex ist wenigstens bereits ver-
treten durch Proben der Dreizahl carmen historia oratio. Es sind ein
Stück Odyssee (s. III/IV Amh. II 23), ein Fragment von einem lateini-
schen Historiker (s. III Oxy. I 30) und ein Blättchen aus des Demo-
sthenes zweiter Philippika (s. III **) Amh. II 24). Die litterarischen Zeug-
nisse ergeben ein Überhandnehmen der Kodexform vorerst nur für die
christlichen **) (seit 249) und für die juristischen**) Werke (seit 294 s.o.).
Über diese zwei Gebiete haben wir sorgfaltige Untersuchungen von Fach-
männern, und auch die übrige Geschichte des Kodex vom vierten Jahr-
hundert an kann als genügend erforscht gelten.*^)
Wir müssen aber noch einmal zurückkehren zum Problem seiner
Entstehung. Die Terminologie hatte uns, wie ich meine, untrüglich
gelehrt, dass der Pergamentkodex etwa mit dem Beginn der Kaiserzeit
auf römischem Boden aus dem Prinzip der Wachstafeln hervorwuchs.
Dieses Resultat ist noch weit entfernt von allgemeiner Anerkennung.
Die Mehrzahl der einschlägigen Litteratur hält jene Buchform für nicht-
römisch und für bedeutend älter. Eine vereinzelte ganz unbeweisbare
Hypothese, welche sie gar in den alten Orient hinaufschiebt und von
da allmählich zu den Hellenen dringen, durchs Christentum nachher
einen erneuten Verstoss machen lässt, können wir ohne Schaden über-
gehen.'*) Beachtung heischt dagegen die weitverbreitete Meinung, der
Kodex stamme von den Griechen. Zugrunde liegt ihr die Bücksicht
auf eine von Plinius aus Varro") zitierte, durch spätere Zeugnisse*®)
ergänzte antike Tradition, die Bivalität zwischen den zwei grossen
hellenistischen Bibliotheken habe in der ersten Hälfte des zweiten Jahr-
hunderts zur 'Erfindung der Membrane' in Pergamon geführt. Mit Recht
denkt man dabei an das Aufkommen einer feineren Technik, die den
längst bekannten Schreibstofif des Leders, die dt<pOipa zum wirklichen
'Pergament' machte. Das Wesen der Verbesserung findet man neben
der Glätte vor allem in der Möglichkeit der Opisthographie. Sie musste
auf jeden Fall ausgenutzt werden. Für die Rolle ging das nicht an.
Ihr Beschreiben auf beiden Seiten war wegen der praktischen Unbe-
quemlichkeit stets nur eine seltene Ausnahme. *®) So bot sich als ein-
ziger Ausweg die Vermutung, das neue Material sei schon damals ge-
146 ^' ^- Gerhard und 0 Gradenwitz
faltet worden zum Kodex. Der erste, dessen Gedankenfolge diese Richtung
einschlug, war der alte Isaak Vossius in seinen Bemerkungen zum
Gatull.'^) Noch Oe'raud (S. 126) bezeichnete das Ergebnis mit Recht
als une conjecture inginieuse qui ne s'appuie sur aucune preuve solide.
Anders die Neueren, bei denen es als zweifelsfreie Thatsache auftritt,
so in J. Marquardt's Privataltertümern,'') im Blassschen Abriss
des Buchwesens bei Iwan Müller, '') in Wattenbachs 'Schriftwesen
des Mittelalters* (' S. 113 f.). Kein Wunder also, dass auch andere
Gelehrte bei gelegentlicher Berührung der Frage den litterarischen Kodex
ohne weiteres der vorchristlich-alexandrinischen Zeit zuschreiben, so
ausser Land wehr '*) auch Roh de in seiner berühmten Rezension von
Birts Buchwesen '^) und C. Haeberlin.'^) Der gleichen Meinung huldigt
C. Wachsmut h, dessen Satz, Pentaden seien nur als Pergamentkodizes
denkbar, noch des Beweises bedarf,'^) und in einer Andeutung ü. von
Wilamowitz-Möllendorff.'^) Selbst Dziatzko (s. A. 8) bekennt
sich im Widerspruch mit dem eigenen Standpunkt zur frühen Ansetzung
der Kodexform. Die wäre ja durch seine 'von Pergamon aus ein-
gedrungenen* gleichmässig beschnittenen und opisthograph-kontinuier-
lichen einzelnen Pergamentblätter notwendig bereits involviert. Doch
vergessen wir nicht die Argumente, welche E. Rohde für seine An-
sicht geltend machte. Kodizes sollen erstlich schon für die Zeit
300 Jahre vor ihm bezeugt werden von Galen. '^) In Wahrheit spricht
jedoch die auch nach der Cobetschen Emendation noch verderbte und
missverstandeue Stelle, wie ich hier nicht weiter ausführen kann, ledig-
lich von Rollen. Als Rollen erweisen sich ferner bei genauer Prüfung
die zum Beweis herangezogenen reujnf^ des Aristeasbriefs, '^) und eben-
sowenig ist dann natürlich mit dem Vorkommen jenes bisher nicht
plausibel erklärten Wortes ^^) bei dem unter Augustus lebenden Antho-
logiedichter Krinagoras von Mytilene^^) anzufangen. Also der An-
nahme mangelt jegliche Stütze. Gegen sie erheben sich gewichtige
Gründe. Schon Birt (S. 53) wies treffend darauf hin, dass eine so
epochemachende Neuerung, wie sie der Pergamentkodex bedeutete, un-
bedingt wenigstens in einem neugeprägten Terminus ihre Spur hinter-
lassen haben müsste. Auch hätte es der praktische Sinn der Römer,
denen der Überlieferung zufolge thatsächlich Proben des pergamenischen
Fabrikats präsentiert wurden,^') gewiss schon damals nicht versäumt
sich die später bei Martial ob ihrer Vorzüge bewunderte Erfindung an-
zueignen. Wir^ehen, der aus der Pergamonanekdote abgeleitete Schlass
führt ad absurdum. Falsch war also wohl die Prämisse von der Opistho-
Ein neuer juristischer Papyrus der Heidelberger Universitätsbibliothek 147
graphie. Was uns über die neuartige Präparierung des Stoffes berichtet
wird/') widerstreitet keineswegs der Deutung, dass die Bucher des
Attalos als Rollen dem fundamentalen Prinzip des alexandrinischen Buch-
wesens treu blieben, und dass man sie entsprechend dem Rekto der
Papyrusvolumina nur auf der feiner behandelten helleren Fleischseite
beschrieb. Dass solche teuern Exemplare die Römer wenig zur Nach-
ahmung reizten, begreift sich leicht. Die übliche und weit wohlfeilere
Charta stand ihnen reichlich zur Verfügung. So geriet die Membran-
rolle aus Pergamon, von vereinzeltem Weiterleben abgesehen, schnell
wieder in Vergessenheit. Das Schicksal der Sache spiegelt sich auch
diesmal im Namen. In den Handbüchern^^) liest man, das Wort per-
gamena für membrana komme zuerst in einem Diokletianedikt von 301
vor, das nächste Mal bei Hieronymus. Dieser sowohl als Joh. Laurentius
Lydus und das aus ihm schöpfende Boissonadesche Anekdoten vei*sichern
aber nun, dass die Bezeichnung seit jener denkwürdigen Zeit, der sie
entsprungen, ununterbrochen^^) fortbestand. Bis ins zweite Jahrhundert
vermögen wir ihrer Spur auch noch wirklich zu folgen. Denn nach
R. Wünsch's Vermutung*^) war des Lydus Gewährsmann für diese Buch-
fragen Sueton. Archaisierende Neigung ist es wohl gewesen, die den
selten gewordenen Ausdruck wieder zu Ehren brachte und — ohne den
ihm von Hause aus anhaftenden Rollenbegriff — auf die Nachwelt ver-
pflanzte.
Bisher verstanden wir unter Kodex immer ausschliesslich den Per-
gamentkodex. Mit Fug und Recht. Zeigte sich doch die Kodexform
in den Anfangsstadien ihrer Entwicklung so unzertrennlich gerade mit
jenem Materiale verknüpft, dass memhranae zunächst für jedermann den
Kodex aus Pergament bedeutete so gut wie charta die Rolle aus Pa-
pyrus. Dem Papyruskodex, auf den wir nun unser Augenmerk rich-
ten, ist damit bereits sein Platz bestimmt. Er muss notwendig jünger
sein als der Pergamentkodex und ganz von ihm abhängig. Alle neuer-
dings dagegen geäusserten ZweifeH^) könnten wir schon jetzt mit gutem
Qrunde zurückweisen, auch ohne die triftigen Erwägungen, welche
unsre Position des weiteren verstärken. Zum unterschied von der die
Opisthographie bequem ermöglichenden und darum zum Gebrauche im
Kodex auffordernden Membrane wurde von der charta bekanntermassen
nur die sogenannte Rektoseite fürs Schreiben hergerichtet, während man
das Verso höchstens im Notfall benutzte. *®) In einem der ältesten Bei-
spiele des Papyruskodex aus dem dritten Jahrhundert steht der Ilias-
text in der That bloss auf einer Seite jedes Blattes. Erst nachträglich
148 ^* ^' Gerhard und 0. Gradenwitz
hat ein Teil der frei gebliebenen Seiten noch zur Aufnahme eines gram-
matischen Tryphontraktates gedient. ^^) Die Faltung des Doppelblattes
ferner, auf der der Kodex beruht und zu der sich das Pergament eben
hervorragend qualifizierte, vertrug der Papyrus schlecht. Fast überall
in den aus Ägypten kommenden Kodizes dieses Steifes sind die Bruch-
falten gerissen, so dass beispielsweise unter den 27 Blättern der Heidel-
berger Septuaginta ^^) und den 40 Blättern der koptischen Paulusakten ^^)
nur je zweimal ein Bogen mehr oder minder zusammenhielt. Hier liegt
die einfache Erklärung für die vielen Werke auf ^Einzelblättern', welclie
Dziatzkos bedauerlichem Irrtum Nahrung gegeben hatten. ^^) Noch ärger
als die Faltung that dem zarten Gewebe die nähende Heftung weh. Sie
zu bewerkstelligen, nahm man — bezeichnend genug — als Unterlage
wieder Falze von Pergament.*^) Noch in späterer Zeit wurden ja auch bis-
weilen geradezu unter die Papyrusdoppelblätter etwa zu äusserst und zu
innerst in der Lage infi Interesse festerer Dauer solche aus Pergament
gemischt.^) Der surrogative Charakter des Papyruskodex könnte sich
nicht deutlicher manifestieren. Die gleiche Sprache reden Fälle wie der,
dass die Kopten des fünften Jahrhunderts Papyrusurkunden aus fern
zurückliegender Zeit mit den vollgeschriebenen Rektoseiten aufeinander-
klebten, um Blätter zu gewinnen für einen Bibelkodex. ^^) Um sich die
Vorteile des kostspieligen Pergamentkodex zunutze zu machen, hat man
ihn also o£fenbar, wie sich das noch durch manche technische Einzel-
heit, z. B. das jeweilige Gegenüberstellen von Bekto und Rekto, Verso
und Verso entsprechend dem bekannten Verhältnis der Fleisch- und der
Haarseiten illustrieren lässt,^^) so gut es ging, in dem billigeren, wenn
auch minder haltbaren Chartamateriale nachgeahmt. Eigentlich selbst-
verständlich ist dies seit dem fünften Jahrhundert, wo die Buchrolle
ausser Gebrauch kam und man sich doch auch für litterarische Werke
noch immer zum guten Teil auf Papyrus angewiesen sah. Aber auch
für viel frühere Zeit wäre es keinesfalls wunderbar, am wenigsten im
Papyruslande Ägypten. Allein die Rücksicht auf Ulpian (A. 11), der
uns ja sicher für den Anfang des dritten und vielleicht sogar schon
fars Ende des zweiten Jahrhunderts als ausnahmsweise Substitute der
regelrechten Papyrusrollen (chartae) und Pergamentkodizes (mefnbranae)
neben den Pergamentrollen auch die Papyruskodizes bezeugt, hätte ver-
hüten sollen, dass man die Bedeutung der neuerdings zahlreich einlau-
fenden besonders christlichen Codices chartacei des dritten Jahrhunderts
so stark überschätzte und sich einbildete, ^die Frage über Rollen- und
Kodexformat' werde dadurch 'auf eine neue Basis gestellt'.^') Wohl-
Ein neuer juristischer Papyrus der Heidelberger Universitätsbibliothek ] 49
begreiflich erscheint es wie gesagt, dass gerade Ägypten den Papyras-
kodex frühe ausgiebiger als andre Provinzen des Imperiums verwandte.
Von christlichen Exempeln des dritten Jahrhunderts wie den Aoyta ^Irjaou
(Oxy. 1 1), einem Matthäus (Oxy. I 2), einem Johannes (Oxy. 11 208) und
einem unbestimmbaren theologischen Werke (Oxy. 11 210) abgesehen ist
in dieser Zeit auch schon die klassische Litteratur vertreten. Ausser
dem bereits erwähnten Londoner Homer (A. 49) gehören dahin eine
Pariser Homerparaphrase/®) ein andrer Epiker (Oxy. 11 214) und ein
Platonischer Gorgias aus Wien.^^) Ein beachtenswertes Kontingent stellt
der Papyruskodex auch zu den unten (S. 154 f.) aufgeführten, aus späteren
Jahrhunderten stammenden juristischen Stücken. Verhältnismässig der
grösste Prozentsatz an Papyrus entfällt im Ganzen auf die Bücher der
Christen. Ich will aus den relativen Zahlen einer beschränkten Auslese
beileibe keine sicheren Schlüsse ziehen. Aber wenn die 4itterarischen'
Eodizes, über die W. Crönert seit den letzten Jahren im Archiv zu
berichten hatte, neben 11 Pergamenten 9 Papyri zeigten, unter C. Schmidts
gleichzeitigen 'christlichen Texten' hingegen diese etwa um das Fünf-
fache überwogen (26 : 5), so ist das vielleicht doch mehr als ein blosser
Zufall. Das christliche Publikum war zumal in der Spätzeit zahlreicher,
aber weniger wohlhabend als der mehr und mehr zusammenschmelzende
Leserkreis der 'profanen' Autoren. Der Pergamentkodex blieb natürlich
auch für die Christen des Wunsches Ziel, das sich am ehesten in der
Bibliothek der Gemeinde erreichen Hess. Das vielzitierte Dorfkirchen-
inventar aus dem fünften oder sechsten Jahrhundert^^) weist 21 ßtßXia
depfidzivay aber nur drei yapxia auf. Bei der wichtigen ßoUe, die der
Papyruskodex vor unsern Augen in Ägypten spielt, erhebt sich die Frage,
ob denn solche Exemplare wirklich immer bloss geringe und unsorg-
fältige Privatabschriften waren und nicht unter Umständen auch neben
dem überlegenen Vorbild aus Membrane in den Handel gelangten. Ich
möchte die letztere Möglichkeit, die für junge Fälle wie den glossierten
Heidelberger Digestenkodex (A. 1) zur Wahrscheinlichkeit wird, in Er-
wartung weiterer Funde und Untersuchungen selbst für die frühere Zeit
mindestens nicht vorschnell verneinen. ^^)
Über die Entstehung des Kodex wären wir uns im allgemeinen
leidlich klar. Eine lohnende Aufgabe bleibt es nun noch, seine Ent-
wicklung im Anschluss an die Wachstafeln des näheren zu studieren.
Die Mittel dazu bieten neben den gar nicht so spärlichen Schriftsteller-
zeugnissen auf der einen Seite die erhaltenen litterarischen wie nicht-
litterarischen tabulae ceratae **) und auf der andern — je älter, je wert-
150 G. A. Gerhard und 0. Gradenwitz
voller — die gewiss noch mancher Bereicherung entgegensehenden Per-
gament- und Fapyruskodizes, deren unglückselige Scheidung nach dem
Material von den Verfassern der referierenden Kataloge erst neuerdings
glücklich überwunden ist. ^^) Unerlässlich ist eine treue und zuverlässig
eingehende Beschreibung der meistens ja leider fragmentarischen Stücke
durch die Herausgeber, dringend erwünscht die jeweilige Beigabe einer
Photographie. Auf ein paar Hauptpunkte darf ich vielleicht schon jetzt
in Kürze hindeuten. Von Interesse ist zunächst das Format und sein
allmählicher Wandel von der Pugillargrösse bei Martial zum stattlichen
Folianten des Mittelalters. Damit hängt zusammen die Bichtung
und Anordnung der Schrift. In den römischen Diptycha und Triptycha
läuft sie der Falzlinie parallel über die ganze aufgeschlagene Fläche.
Beim litterarischen Kodex trägt nach dem Prinzip der Buchrolle jede
Seite ihre senkrechte Kolumne oder deren mehrere. Daten und Auf-
schlüsse über diese scheinbar nebensächlichen Dinge versprächen Hilfe
bei der chronologischen Fixierung. Sodann die Lagen oder Hefte.
Unsre sichere Kenntnis einer bestimmten Kodexeinteilung gewöhnlich
in Quaternionen beginnt erst mit dem vierten Jahrhundert. **) Der vor-
aufliegende Zustand harrt noch der Erforschung, wenn auch schon ein
Beispiel Martials wie sein dicker Sammelband mit beiden Epen Homers ^^)
Zusammensetzung aus einer Mehrzahl von Faszikeln vermuten lässt
Vereinzelt steht jedenfalls ein merkwürdiger Papyruskodex des Hesiod
(s. IV) in Unionen da, d. h. Doppelblatt neben Doppelblatt gelegt. ^*)
Sonst scheint es gerade umgekehrt vielmehr eine beliebte Sitte vielleicht
aus der Frühzeit gewesen zu sein, möglichst viele Bogen in eine einzige
Lage zu stopfen und in ihr wenn th unlieb das ganze Werk oder Werk-
chen unterzubringen. Noch aus dem fünften Jahrhundert hat man ein
monströses Exempel dieser Art in den über vierzig ineinandergelegt zu
denkenden Doppelblättern unserer hiesigen Acta Pauli (s. A. 51), wo ein
wirkliches Zusammenklappen des unmässig starken Heftes kaum noch
angehen konnte. Ins dritte Jahrhundert gehört das mit ungefähr 25
Bogen gleichfalls bloss einen Faszikel bildende Johannesevangelium aus
Oxyrhynchos (II 208). Solch ein Evangelium in einem veoyoQ^ das übrigens
litterarischer ^') und bildlicher ^^) Analogien nicht entbehrt, mag einem
die für die Geschichte des Kanons nützliche Lehre geben, dass das Be-
stehen der Kodexform in einer bestimmten Zeit noch nicht gleich not-
wendig die Vereinigung mehrerer Schriften zu einem Kollektivbande zu
bedingen braucht. ^^) Weiter käme in Frage der Einband, über den
wir auch noch herzlich wenig wissen.''^) Der Klärung bedürfen ausser-
Ein neuer juristischer Papyrus der Heidelberger Universitätsbibliothek 151
dem die bis heute recht verworrenen Yorstellungeu vom Titel- und
Schmutzblatt und von der Paginierung.''*)
Wir wenden die vorausgeschickten Erörterungen auf unsere juristi-
sche Papyrusrolle an. Nach dieser ihrer Form muss sie spätestens ins
dritte Jahrhundert fallen. Ein gleiches Ergebnis liefert nun ferner die
Schrift.
Gerade von den Bechtsbüchern zeigten sonst schon die frühesten
Manuskripte durchweg die ünziale,^^) jene durch ihre allgemeine
Tendenz zur Bundung und die direkte Aufnahme einzelner kursiver
Elemente gekennzeichnete Majuskelart, deren merkwürdig plötzliches und
fertiges Auftreten ^') seit dem vierten Jahrhundert man mit dem gleich-
«
zeitigen Umsichgreifen des sie begünstigenden Pergaments als Schreib-
stoff zusammenbringen zu dürfen scheint. ^^) Voraus liegt dieser Epoche
der P. 1000 mit der in seinem Gebiete einzigen rustiken Kapitale.
In voller Blüte treffen wir die so genannte zwanglosere Gestaltung des
quadratischen Typus bereits in den Bollen aus Herkulaneum. Für die
Folgezeit geben uns die ägyptischen Funde neben einem äusserst in-
teressanten Buchbeispiel begonnener Unzialisierung ^^) bisher nur spär-
liche Proben von nichtlitterarischem Charakter. ''^ Ihr echter Gebrauch
war um 300 zu Ende und durch die aus ihr entwickelte Unziale ver-
drängt. Nur für wertvolle Elassikerhandschriften, vor allem Virgile
verwandte sie die Schreibertradition noch ein paar Jahrhunderte lang
weiter. Die Datierung solcher Zeugen des künstlichen Nachlebens ist
darum begreiflicherweise unsicher und vielumstritten. '''^) Schon etwas
plump und bequem, aber noch völlig rein erscheint die Schrift unseres
Fragmentes mit seinen mangels einer Liniierung entsprechend den Fasern
des Papyrus ziemlich ungleichmässig und ungerade verlaufenden, durch-
schnittlich ca. 3^401111 von einander abstehenden neun Zeilen und den
in der Höhe von ungefähr i^j^mm wie auch in der Form am ehesten
an die Schedae Vaticanae des Virgil ^®) erinnernden Buchstaben. Wort-
trennung haben wir nicht, von Satzzeichen ausser dem Punkt in der
Mitte nach den Abkürzungen (die unten besprochen werden) viermal
(Z. 2. 6. 8. 9) den Punkt nach oben, an einer Stelle (Z. 6) unverständ-
lich. Die der rustiken Kapitale eigene Scheidung von Haar- und Grund-
strichen ist insofern nur unvollkommen befolgt, als feiner bloss die
schräg aufwärts gehenden Linien von a tn n r x aussehen, die Senk-
rechten dagegen durch ungehörige Stärke auffallen. Als weiteres Charak-
teristikum kennt man die Kürze der Horizontalen. Sehr klein ist das
über der Mitte angebrachte Mittelstrichlein des e und f (Z. 5). Den
152 ^« A. Gerbard und 0. Gradenwilz
zirkumflektierteD, mitunter absetzenden Deckstrich oben haben bloss e
und U Bei i und dem von ihm kaum verschiedenen Z, wie es scheint,
auch bei f ist lediglich der Kopf verdickt. Den unteren Abschluss
bildet für a m etc. der auf eine Ecke gestellte quadratische Punkt an
der inneren Seite des Anfangsstrichs, e i l p t biegen einfach ihre hasta
unten nach rechts ein wenig um. Winzig und o£fen wie üblich ist der
obere Bogen von b p r. Auch der untere steht ganz frei beim 6. Ein-
mal (Z. 9 Abbreviatur) möchte man die Schleife von p für geschlossen
halten. Das r gleicht beinahe dem a. Der Bogen wird zur schwachen
Verdickung in dem gerade herunterführenden schrägen Abstrich. Wenn
wir noch bemerken, dass beim a (ähnlich m n r) der zweite Balken
den ersten nur unbedeutend überragt, f nach dem einen Exempel (Z. 5)
zu schliessen etwas unter die Zeile geht, von m der zweite und vierte
Strich parallel sind und der letztere vom dritten unter der Mitte ge-
tro£fen wird, die Mittellinie von n gekrümmt läuft und sein Endstrich
wie der des u sich gern zu einer abwärts reichenden Spitze verjüngt,
das regelmässige q (über dessen abweichende Form in der Abkürzung
s. u.) einen fast wagrechten Querstrich als Schluss hat, der Endpunkt
des seitlich schmal zusammengedrückten s zum isolierenden Absetzen
neigt, und das u nicht mehr die spitze t^-Gestalt bietet, so ist die Schrift
des Bruchstücks, in welchem die Buchstaben g hky z nicht vorkommen,
wohl genügend geschildert.
Ein Bätsei bleibt uns aber noch zu lösen. Was bedeutet das am
Ende von Z. 4 zweimal hintereinander jeweils mit einem (mittleren)
Punkte darnach, im zweiten Falle überdies mit einem schrägen Striche
aufwärts durch den Rumpf gebrauchte Zeichen, das ans unziale a er-
innert? Es ist augenscheinlich ein 9, nicht das sonst im Texte ange-
wandte kapitale, sondern das der altrömischen Kursive, kenntlich an
dem von der Spitze des ovalen Körpers kräftig und tief nach rechts
meist bis unter die Zeile geführten schiefen Schlussbalken, der später
seit dem zweiten Jahrhundert dank dem allgemeinen Wandel des kur-
siven Duktus allmählich vielmehr eine nach links rückwärts gekehrte
oder mindestens vertikale Bichtung annahm. ^^) In letzterer Gestalt ist
ja dann der Buchstabe nachmals in die Unziale übergegangen und aus
ihr in die noch heute übliche Minuskel. Was soll nun jene vereinzelte
Kursivform mitten in einem sonst konsequenten kapitalen Alphabet?
Sie giebt sich, was man nicht übersehen darf, als Abkürzung, deren
Deutung uns weiter unten beschäftigen wird. Schon jetzt aber ver-
muten wir in ihr den Repräsentanten eines alten und stereotypen juristi-
Ein neuer jaristiscfaer Papyrus der Heidelberger üniTersitätsbibliothek 153
sehen Notensystems, welches auch noch der Schreiber unserer Rolle im
Widerspruch mit seinem eigentlichen Typus befolgt zu haben scheint.
Über die diesem System zugrunde liegende Hand lässt sich vorsichtiger-
weise soviel sagen: sie war nicht streng kapital und hatte wenigstens
in gewissen Charakteren wie dem q Anleihen von der Kursive. Wenn
wir hinzunehmen, dass die wie schon erwähnt (A. 3) aus der ersten
Hälfte des dritten Jahrhunderts erhaltene juristische Bolle mit einem
Trajanmandat thatsächlich in vollkommen durchgeführter korrekter Kur-
sive geschrieben ist, so ergiebt sich für das vordiokletianische Rechts-
buch ein seltsames Nebeneinander von Kapitale, Kursive und vielleicht
einer aus beiden gebildeten Mischung. Ergänzt und illustriert wird dies
Resultat durch die lateinischen Rollenfunde aus Herkulaneum. Ihre
Zahl ist ja nur gering und eine Bestimmung des Inhalts der Fragmente
fast immer unmöglich. Aber in den davon hergestellten Reproduktions-
proben, besonders bei Sir Humphrey Davy, ^®) so mangelhaft sie sind,
finden wir was wir suchen. Sie bieten wirklich in mannigfacher Ab-
stufung die oben postulierten Übergangsformen von der Kapitale zur
Kursive. Man kann die Davyschen und die von Zangemeister- Watten-
bach mitgeteilten Beispiele zu einer förmlichen Skala ordnen, die von
der mehr oder minder scharf ausgeprägten rustiken Kapitale durch eine
kursive Elemente wie b d e q r s aufnehmende ^Semikursive' zur fertigen
Kursive herabführt. ®^) Wir sehen, die juristische Schrift der drei ersten
Jahrhunderte ist nur ein Sonderexempel für die gemeinlitterarische Ge-
wohnheit. Doch darf es im Hinblick auf die Frage der Abkürzungen
(s. 0.) immerhin als eine Eigentümlichkeit gerade jener Oattung be-
zeichnet werden, dass sie in der Regel dem unteren Ende der Reihe
näherstand und entsprechend ihrem praktischen Zweck von Natur zur
kursiven Beeinflussung neigte, so dass Rechtsbücher in echter Kapitale
wie unser Papyrus zu den Ausnahmen gehören mochten. Das über die
frühe juristische Schrift gefällte Urteil gewinnt an Wahrscheinlichkeit,
da wir den gleichen Zug in ihrer späteren Entwicklung wiederkehren
sehen. Der allzufreien, mitunter zügellosen Kursivierung der römischen
Buchhände gegenüber trat eine Reaktion ein mit dem Beginn der byzan-
tinischen Epoche. Je weniger produktiv sie selbst noch war, um so
lebhafter empfand sie für die sichtende und zusammenfassende Weiter-
überlieferug der alten Werke das Bedürfnis nach einer streng kalli-
graphischen Regelung der Schrift. Gewahrt wird der Charakter der
bloss etwas rundlicher geschliffenen Majuskel. Die kursiven Einflüsse
werden abgedämmt und endgiltig beschränkt auf wenige bestimmte
154 6. A. Gerhard und 0. Gradenwitss
Zeichen, vor allem d m q. So entsteht der Typus, den wir Unziale
nennen. Wie verhalten sich zu dieser Noroi die juristischen Manuskripte?
Die herkömmliche Behauptung, sie seien von Anfang an eine ausschliess-
liche Domäne der Unziale, hat zumal für die frühesten Beispiele aus
Ägypten eine sorgfältige Prüfung vonnöten. Da findet man denn eine
wirklich reine Unziale in vorjustinianischer Zeit bisher nur zweimal:
I. s. IV/V Pergamentkodex. Papinians Responsa in Berlin und
Paris. Text mit Litteratur jetzt in der Erüger-Mommsen-Studemund-
sehen Collectio librorum iuris anteiustinianei III (1890) S. 286 — 296.
Faksimile bei R. Dareste in der Nouvelle revue historique de droit
franfais et ötranger VII (1883) pl. I. II (am Schluss) zu S. 361ff.
II. s. V Papyruskodex. Scholia Sinaitica ad Ulpiani libros
ad Sabinum. Text mit Litteratur in der Collectio S. 267—282. Schrift-
probe (Latein ins Griechische gemischt) nach einer Gardthausenscben
Zeichnung bei 0. Lenel, Savigny-Zeitschr. II (1881) B. A. (am Schluss)
zu S. 233 flf.
Sonst macht sich besonders in dem einschleifigen b mit senkrecht
aufragender Hasta,^^) dem ähnlich emporgerichteten d,^^) dem m mit
geraderen und parallelen Schenkeln, oft auch dem bekannten stumpf-
winklig gebrochenen s gleich im vierten Jahrhundert eine erneute
Wirkung der Kursive geltend und erzeugt zusammen mit dem schon
etwas minuskelhaften Duktus eine frühe Art der gewöhnlich erst vom
fünften Jahrhundert an gerechneten®^) Halbunziale. Zwei Typen lassen
sich dann wieder scheiden. Den ersten aufrechten, meist kräftigen, der
uns beispielsweise auch in einem neuerdings gefundenen Papyruskodex
von Virgils Äneis®*) sowie in der zwölften Hand der Florentiner Pan-
dekten ®^) entgegentritt, repräsentieren :
III. s. V/VI Papyrusrolle (s. A. 2). 'Juristisch-litterarische Samm-
lung von Reskripten und vielleicht Juristenexzerpten* (Oradenwitz).
Amh. II 27. [Vgl. Seymour de Ricci, Revue des et. gr. XV 1902 S. 441.
445 f., dazu 0. Gradenwitz, Rescripte auf Papyrus I, Sav.-Z. XXIII
1902 R. A. S. 356-379.] Faksimile plate VL
IV. s. V/VI Papyruskodex. Schollen beim Text eines unbekannten
Juristen. Wessely Taf. X Nr. 24.
V. s. VI Pergamentkodex. Incerti auctoris de iudiciis fragmenta
Derolinensia, Text Collectio III S. 298 f. Faksimile in der ed.princ. bei
Mommsen, Monatsber. d. Berl. Ak. 1879 zu S. 503 I. II. Darnach Probe
bei Wess. Taf. XIX Nr. 43.
£m neuer juristischer Papyrus der Heidelberger Universitätsbibliothek 155
Leichter und liegend ist der Charakter der zweiten Gruppe, mit
der die englischen Papyrologen treffend die Schrift des Oxforder Bod-
lejanischen Hieronymus ^^) vergleichen. Hierhin gehören:
VI. s. IV Pergamentkodex. Wiener Fragment de formula Fabiana.
Text Coli III S. 299—301. Faksimile in der ed, princ. von L. Pfaff
und F. Hofmann Taf. I. II am Schluss von Band IV der Mitteilungen
F. Eainer (1888) zu S. 1 ff. Darnach Wessely Taf. XIX Nr. 43.
VII. s. IV/V Papyruskodex. Unbekannter Jurist. Amh. II 28
mit Faksimile pl. VI. Den Text nebst dem von Nr. III (Amh. II 27)
wiederholte Mommsen, Sav.-Z. XXII 1901 R. A. S. 195 ff.
VIII. 8. V Pergamentkodex. Paulus ad edictum Buch 32 (Dig.
XVII 2, 65 § 16 und 67 § 1). Grenf. II 107 S. 156 f. Nachträglich
bestimmt von V. Scialoja und P. Krüger. Vgl. die Litteraturangaben
bei Seymour de Bicci, Revue des et. gr. XV (1902) S. 432. Faksimile
bei P. Krüger, Sav.-Zeitschr. XVIII (1897) R.A. zu S. 224.
Wenn man nach dem zur Zeit vorliegenden Materiale schliessen
darf, überlässt sich also auch unter der Herrschaft der Unziale die
Schrift der Rechtsbücher mit am ersten ihrer Hinneigung zur geläufigen
Kursive. Dass daneben die strenge Norm nicht unbefolgt blieb, davon
zeugen ausser den schon angeführten Beispielen fast alle erhaltenen
Exemplare vorjustinianischer Jurisprudenz, obenan Gaius, Fragmenta
Vaticana und Codex Theodosianus. ®®) Mit verstärktem Eifer
drang man auf Einhaltung der korrekten Buchunziale seit der definitiven
Kodifikation des Justinian. Als Beweis dienen nicht allein die Digesten
aus Florenz, sondern auch ihre beiden Zeitpfenossen :
IX. s. VI/ VII Papyruskodex. Digesten in Pommersfelden. Re-
vidierter Text in Mommsens grosser Digestenausgabe I Additam. 2
S. 11*— 16* mit Nachträgen praef. S. LXXXXIl f. Faksimile Taf. 5—10
hinten in Band II und
X. s. VI/ VII Papyruskodex. Digesten in Heidelberg s. oben A. 1.
Aber selbst diese Musterkodizes sind von Lizenzen nicht ganz frei.
Was das Florentiner Manuskript betrifi't, so wurde die laxe Hand seines
zwölften Schreibers bereits erwähnt, r und namentlich s zeigen zumal
am Zeilenschluss wie z. T. im Veroneser Gaius ®®) so auch hier beispiels-
weise in der ersten®^) und fünften^*) Hand öfter die kursiven Formen.
Das Gleiche gilt vom Heidelberger Papyrus, ^*) und sogar in der grossen
schönen ünziale der Pommersfeldener Fragmente fand sich einmal (3 '.
19) jene abweichende Gestalt des s.^^)
156 G' A. Gerhard und 0. Gradenwitz
Es wird endlich Zeit, das Bruchstück selbst zu geben. Auf eine
Seite setze ich die getreue Kopie des Vorhandenen in Kapitale, rechts
gegenüber den Versuch einer geniessbareren modernen Umschrift (S. 158 f.).
Genauere Nachweise über Lesung und Ergänzung bieten die angefugten
Noten. Vorausbemerken muss ich, dass der Anfang der Kolumne unten
noch nahezu komplett vorliegt und für das Fehlende an ihrem Schluss
die mit Wahrscheinlichkeit supplierten Zeilen 5 f. nepotfi vel / prjonepoti
und 6 f. avfi veljpjroavi genügenden Anhalt schaffen. Die Zeile belief
sich darnach durchschnittlich auf ca. 22 Buchstaben.^)
Z. 1—4. Der erste Abschnitt des Textes gilt der Qarantierung der
Pflichtteilsquart für den Sohn. So klar dieser Gesamtsinn, so verwickelt
ist die Interpretation des Einzelnen. Einen Einschnitt bildet das Kolon,
das man in Z. 2 vor si minus wahrzunehmen meint. Von der voraus-
gegangenen positiven Hauptentscheidung bleiben uns in der Mitte der
Z. 1 und dem konjunktivisch ausschauenden Anfang von Z. 2 (niadeu
— set) anscheinend nur Reste eines schliessenden Nebensatzes. Wie der
etwa lauten mochte, kann man ungefähr schon aus der von Gradenwitz
(S. 182) zitierten Digestenstelle V 2. 8 § 6 (Ulpian) schliessen : Si quis
mortis causa filio donaverit quartam partem eins quod ad eum esset
perventurum, si intestatus pater familias decessisset, puto secure eum
testari. Indem ich m vor ad eu[m] mit Berufung auf Dig. XII 6. 61
(Scaevola) Tutores pupilli quibusdam creditoribus patris ex patri-
monio paterno solverunt als [patrimo- 1 nii paterjni deute, wobei
dann allerdings der erwünschte Gedanke der Intestatportion ^^) nicht
mehr gut unterzubringen ist, und mich fürs Übrige an Parallelen wie
Dig. XXXVI 1. 33 (Celsus) Rebellianus si caverit coloniae PhiUppensium,
si sirie liberis morietur, quantacumque pecunia ex hereditate deve
bonis meis ad eum pervenit, eam pecuniam omnem ad coloniam Philippen-
sium perventuram erinnere, schreibe ich unsere Partie ohne Anspruch
auf Sicherheit probeweise so: [filius accipiet quartam, j quantacumque
pars patrimo'lnii paterjni ad eufm perventu'\ra fuisjset. — Z. 2 — 4.
'Hat er weniger als die gesetzliche Quart bekommen', so wird vervoll-
ständigend beigefugt, 'dann ist sie ihm aufzufüllen*. Die Herstellung
der Prodosis wäre leidlich zuverlässig. Den Anfang si minus quafrla]
belegen die Worte des Paulus, welche Gradenwitz (S. 181) beibringt:
Sent. IV 5. 7 Filius iudicio patris si minus quarta portione const-
cutus sitj ut quarta sibi a coheredibus citra inofficiosi querellam impleatur,
Ein neuer juristischer Papyrus der Heidelberger Universitätsbibliothek 157
iure desideraf. Die Gruppe ssit *^) (Z. 3) vermag ich nur als [cejssit
'zuteil wurde' zu verstehen. Schwierigkeit macht der Nachsatz von
supplend . . . (Z. 3) bis quartam (Z. 4). Wie es eben bei Paulus hiess
quarta impletur, so entsprechend gewöhnlich qtiarta suppletur vgl. z. B.
Dig. XXXVIII 2. 44 § 1 legato ei servo^ per quem suppleretur debita
ei portio, Dig. XXXVIl 14. 21 % l id quod deest ad supplendam
debitam portionem . . . quaeri potest, Dig. XXXV 2. 94 respandit . . .
(filiam) ea quae ei data sunt accepturam, si modo ea quartam suppleant
etc. Die analoge Auffassung unserer Papyrusverse erweist sich, da wir
keinesfalls eine oblique Bede haben, durch den sichern Akkusativ quartam
in Z. 4 als ausgeschlossen. Er nötigt vielmehr zu der, soweit ich sehe,
sonst nicht nachweisbaren Verbindung : supplere in quartam^ So dachte
Prof. Gradenwitz früher an supplend[a] sun[t / in] quartam. Aber weder
dies noch sein zweiter Vorschlag supplendfo] succ[edit / in] quartam will
zu den überlieferten Spuren passen. Die letzten Buchstaben in Z. 3
scheinen vid zu sein, wodurch man auf die merkwürdige VITendung ge-
führt würde: supplend[u]s vid[eturlin] quartam. Von dem u zwischen
d und 8 im ersten Wort sollte man trotz des hier klaffenden Loches
Beste zu finden erwarten.
Z. 4—9. Die äusserlich ohne Interpunktion folgende zweite Hälfte
des Bruchstücks enthält die Bestimmung, ins Becht auf die Quart rücke
statt des nicht mehr lebenden Sohnes Enkel oder Urenkel ein. Zu
diesem, wie die Ausführungen von Prof. Gradenwitz lehren, keineswegs
selbstverständlichen und bedeutungslosen Satz sähe man demgemäss auch
gern einen logisch scharf absetzenden Übergang, vielleicht ein si vero ^^)
oder ein quod si.^^) Die Anknüpfung geschieht aber einfach mit sive:
^oder wenn der Sohn tot ist etc.'^^) Zum Überblick über den ganzen
Passus müssen wir vor allem das Gerüst seines Baues festlegen. Ich
finde bloss eine Möglichkeit. Nach der voraufgeschickten konditionalen
Angabe (sive Z. 4 f.) kommt der Hauptsatz mit cedä (Z. 5), ^wird zu-
teil, fällt zu* (vgl. Z. 3) als verbum finitum und quarta (Z. 7) als nach-
gestelltem Subjekt. Appositionen schliesst sich daran danda (Z. 7), um
mit seinem Adverbialausdruck pro portione (Z. 8) und dessen relativem
Anhängsel quam —• tenet (Z. 8 f.) die Übertragung der Quart auf die
Nachkommen genauer zu regulieren. Nun zum Einzelnen. Genug zu
denken giebt uns gleich der einleitende Bedingungssatz von sive (Z. 4)
bis filios (Z. 5), dessen Inhalt sein muss : 'wenn der Sohn nicht mehr
lebt*. Wie hatte das der Jurist ausgedrückt? Das nach dem Früheren
durch seine Mehrzahl befremdende Akkusativobjekt filios (Z. 5) gestattet
NRUE HRIDRLB. JAIIRBITRCHRR XII. ly
158 0. A. Gerhard und 0. Gradenwitz
P. Heid. 1000.
1 NIADEü
2 SETSIMINUSQUA
3 SSITSUPPLENDIISUID
4 QIJARTAMSIVEQQA
5 TFILIOSCEDBTNCIPOT
• • • — — — —
6 ONEPOTr-EXBONISAlT
7 ROAUIQUARTADANDA
8 1PR0P0ETC30NEQUAMA
9 SüCCESSIOPT[]NETISLIB
Ein neuer juristischer Papyrus der Heidelberger üniversitfttsbibliothek 159
P. Heid. 1000.
1
8
.]ni ad eu[m perventu-]
ra fuisjset. Si minus qua[rta]
ei ce]ssit, supplend[u]s vid[etur?]
in ?]quartam. Sive q(uis?) a[mise-]
ri]t filios, cedel n[e]pot[i vel]
pr]onepoti ex bonis av[i vel]
p]roavi quarta, danda [
i pro port[i]one, quam a[vita?]
9 successio p(atris?) l[e]net. Is lib[
160 ^- A- Gerhard and 0. Graden witjs
einen Bückscbluss aufs Zeitwort, von dem wir heute bloss noch spär-
liche Überbleibsel des t der Endung erblicken (vor filios). Es verbieten
sich dadurch naheliegende Konjekturen wie si . . . [decessijt filius (Qr.).
Man braucht ein Transitivum. Unter Berücksichtigung der Buchstaben-
spur zu hinterst in Z. 4, die zu n oder r, aber auch zu a stimmt, ver-
mute ich sive a[mise-lri]t filios. Vergleichen lässt sich z. B. Dig. V
1. 36 pr. humanuni est propter fortuitos casus dilationem accipi, veluti
quod pater litigcUor filiumvd filiam vel uxor virutn vel filius parentem
amiserit eqs. Nun fehlt noch das Subjekt. Es steckt in jenen beiden
vom Abkürzungspunkt gefolgten kursiven q (Z. 4), deren letztes schief
nach oben durchstrichen ist. Diese Proben einer altverschollenen Siglen-
art erregen unser Interesse und fordern auf zur Eonfrontierung mit den
späteren, bisher einzig bekannten Systemen der Unziale. W. Stude-
mund^^) machte einst die feine Bemerkung, manche Abbreviaturen
der vorjustinianischen Rechtsbücher schienen bloss auf die ünziale be-
rechnet und ihr geradezu auf den Leib geschnitten. Zum Beweis nannte
er die Durchkreuzung der vertikal unter die Linie reichenden Endschäfte,
wie sie bei p und q den unzialen Formen und nur diesen eignen. Wir
können jetzt thatsächlich Zeichen einer früheren z. T. kursiven Schrift-
stufe auf solche Kriterien hin prüfen. Die uns da gebotenen Buchstaben
sind zufällig auch wieder gerade p (Z. 9) und q. Dass die altertüm-
lichere Kürzungsweise selbst beim Gebrauch der gleichen Mittel wie
des Punkts hinten oder des Strichs oben öfters doch nach andern me-
thodischen Grundsätzen als die nachmalige Übung verfahren sein muss,
ist unten zu zeigen. In einem Falle aber glaubt man überdies ent-
sprechend dem verschiedenen Charakter auch eine verschiedene graphische
Notierung verwendet zu sehen. Während beim unzialen q der abbre-
viierende Strich die abwärts ragende hasta trifft (s. o.), durchschneidet
er von der zweiten kapital-kursiven Vertretung unseres Papyrus den
Rumpf, eine Erscheinung, die für ähnlich gebaute Buchstaben (vgl. z. B.
bdilnrst in Studemunds Gaius S. 258 ff.) auch in der Unziale
die Kegel bildet. Freilich tritt einer derartigen Auffassung des zweiten
g in Z. 4 ein schweres Bedenken entgegen. Bei der Deutung der zwei
das Subjekt des Satzes repräsentierenden und notwendig als Pronominal-
formen aufzulösenden q kommt, da ein quisquam gegen die Syntax ver-
stiesse, wirklich bloss quis in Frage: sive quis amiserit filios. Wir
hätten demnach das doppelte q als Dittographie des Schreibers und die
Auszeichnung des zweiten als Durchstreichung d. h. Tilgung zu be-
trachten. Das erste q wäre also = quis. Das stimmt nun allerdings
Ein neuer jaristischer Papyrus der Heidelberger Universitätsbibliothek 161
schlecht zu den bekannten natae. Sie geben quisy wo sie es überhaupt
abkürzen (der Veroneser Gaius z. B. vermeidet's), gar nicht durch den
einfachen Anfangsbuchstaben, sondern entweder als q^s*^^^) oder als
qs ^^^). Nur einmal ^^^) finde ich in diesem Sinn blosses q mit senk-
rechtem Strichlein über sich: q, das gewöhnliche Zeichen für qui.^^)
Das in unserem Papyrus für quis zu nehmende q mit folgendem Punkt
ist sonst regelmässig = que ^^) (vgl. bes. Gaius S. 290). Kommt noch
ein Strich darüber hinzu q. , so entsteht quae '^*) (Gaius S. 290). Unter-
strichenes q endlich, um die Liste voll zu machen, fungiert von Aus-
nahmen abgesehen als quam '^^) (Gaius S. 291) und, wenn der Strich
gehakt ist, als quod (Gaius S. 294). — Z. 5. Für die Gruppe nach
filiosj wo an erster Stelle nur noch ein Punkt vom Kopfe übrig ist,
ziehe ich der an sich möglichen, aber zum Beginn des Nachsatzes un*
brauchbaren konjunktionalen Erklärung [sjed et das erforderte Verb
cedet vor. Die von ihm regierten, der Fortsetzung (Z. 6 f.) ex bonis
avfi veljpjroavi quarfa gegenüber scheinbar durch eine unbegreifliche
Interpunktion abgegrenzten Dative n[e]pot[i vel j prjanepoti (Z.5f.) zeigen
anders als vorhin filios (Z. 5) wieder den Singular. In nepoti (Z. 5) ist
das e kaum mehr sichtbar, vom r in [pjroavi (Z. 7) nur noch das aller-
änsserste Ende. Eine ungewöhnliche Gestalt (verdickte Wendung nach
rechts) hat der vorhandene Gipfel des t. Quarta danda (Z. 7) verstehe
ich, wie bereits bemerkt, nicht als quarta danda est, sondern nehme
die beiden Wörter getrennt. — Ungewiss ist dann wieder wie das ganze
Verständnis so die Einzelrestitution der Bestimmungen zu danda. Dessen
verlorenes Objekt zunächst wird am Schluss von Z. 7 und am Anfang
von Z. 8 zu suchen sein, wo eine erhaltene Spur vielleicht auf i weist.
Statt ri entspräche eis besser der freilich auch ihrerseits rätselhaften
Verbindung pro portione (Z. 8). Am liebsten dächte man ja bei diesem
'Verhältnis' an eine Mehrheit der Enkel oder Urenkel, auf deren Köpfe
sich jene dem Vater oder Grossvater aus dem Nachlass des Grossvaters
oder Urgrossvaters gebührende Quart verteilt — nach Art von Stellen
wie Dig. XXXVI 1. 80 § 1 fidei . . heredum meorum committOj tUi
omnis substantia mea sit pro deposito sine usuris apud Gaium Seium
et Lucium Titium^ quos etiam^ si licuissetj curatores substantiae meae
dedissem remotis aliis, ut hi restituant nepotibm meis, prout quis eorutn
ad annos viginti quinque pervenerit, pro portione, vel si unus, ei
omnem. Doch damit verträgt sich weder die vorherige Einzahl des
nepos und pronepos noch auch der angeschlossene Relativsatz zu pro
portione. Die paar einigermassen sicheren Stücke in seinen Trümmern
162 0' A. Gerhard und 0. GradenwiU
legen es vielmehr nahe, unter der portio quam . . / successio . . tenet
(Z. 8 f.), dem Anteil, den das (für die Übertragung auf die Deszendenten
in Betracht kommende) Erbe (sc. von der gesamten Hinterlassenschaft
des Testators?) ausmacht, die Quart selber zu verstehen, so einfältig
hier auch eine derartige Selbstverständlichkeit klingt. Das durch den
kleinen Horizontalstrich überm Kopf und den folgenden Punkt trotz
seiner minder guten Erhaltung genügend als Abkürzung gekennzeichnete
p. (Z. 9) nach successio mit t[*]net zu p(er)t[i]net zusammenzunehmen
und an die zudem nicht ganz klare Stelle Dig. Y 4. 6 pr. (Ulpian)
Sorori quam coheredem fratribus quattuor in bonis patris esse plaeuit,
quinta portio pro portionibus (portione? Mommsen) quae ad eos
pertinuit cedetf ita ut singuli in quarta, quam antehac habere credebantur,
non amplius ei quintam conferant zu erinnern, müsste uns schon das
dabei unerklärliche quam abhalten. Wie lösen wir aber die Abbreviatur
auf? Keinesfalls wohl als Präposition, wofür auch der Punkt ungewöhn-
lich wäre. In dem uns geläufigen System bedeutet p mit Oberstrich
prae (Gaius S. 285), per wird durch den Unterstrich bezeichnet (S. 284).
Die Umschau nach einer anderweitigen Auskunft führt leicht auf successio
p(atris). Nicht unbedenklich wäre freilich auch daran der casus obliquus
und das Einzelstehen. Sonst kennt man höchstens Gruppen wie pf
= p(ater) f(amilias) (vgl. z. B. Gaius S. 283). Diesem p(atris) ent-
sprechend fiel mir dann auch für den Best eines a am Ende der Zeile 8
die Ergänzung afvitaj ein. Den Ausdruck avita successio liest man
z. B. C. XI 59. 7 pr. Quicumque defectum fundum patrimonialetn exer-
cuerit fertilem . . , . . defendat velut domesticum et avita successione
quaesitum eqs. Strenggenommen hätte man allerdings avita vel proavUa
successio zu erwarten, wie Prof. Gradenwitz mit Recht bemerkt. Ich
verweise dafür auf C. VI 52. 1 Per hanc iubemus sanctionem . . filios
etc. ... in liberos suos . . . hereditariam portionetn posse transmiitere
. . . : si quidem perindignum est fortuitas ob causas vel casus hutnanos
nepotes aut neptes^ pronepotes aut proneptes avita vel proavita suc-
cessione fraudari etc. Analog sollte es ja dann auch avita vel proavita
successio patris vel avi heissen. — Über den weiteren Verlauf des Textes
nach dem Kolon in Z. 9 lässt sich natürlich gar nichts ausmachen, nicht
einmal über die Vervollständigung der nach meiner Lesung vorhandenen
Buchstaben i$ Hbf- -J. Is lib[eroru7n?/ G., is leg[atorum'^J Gr.
£in neuer juristischer Papyrus der Heidelberger Universitätsbibliothek 163
Anmerkungen.
1) 0. Gradenwiiz, Glossirte Paulusreste im Zuge der Digesten, Savigny-Zeit-
Schrift XXIII (1902) R. A. S. 458 f. Die gleichnamige Hauptpublikation mit Faksi-
mile von G. A. Gerhard u. 0. Gradenwitz, Philo!. LXII (N. F. XVI) 1903 S. 95—124.
2) P. Amh. II 27 (s. V/VI) mit pl. VI vgl. oben S. 154. Weil da der Text
vertikal zu den Rektofasern einkolumnig transversa Charta verlief, so haben wir
nicht ein Beispiel der litterarischen, sondern vielmehr der noch im Mittelalter be-
folgten urkundlichen Rollenpraxis. Vgl. K. Dziatzko, Unters, über ausgew. Kap. des
antiken Buchw. (1900) S. 124 f., W. Wattenbach, Das Schriftwesen im Mittelalter
5 1896 S. 162 f., F. G. Kenyon, Palaeogr. etc. 1899 S. 20 f.
3) Einer Rolle (am linken Rand meint man auch noch Spuren einer voraus-
gegangenen Schriftkolumne zu gewahren) entstammt augenscheinlich das singulare
Stack in Buchkursive P. Fay. X S. 99 f. mit Faksimile auf pl. V s. oben S. 153,
welches 0. Piasberg, Wochenschr. f. kl. Ph. 18 (1901) Sp. 141 f. und G. Ferrini,
Rendir. d. R. 1. Lombarde 34 (1901) S. 1087 f. nach dem ülpianschen (1. 45 ad edic-
tum) Zitat in den Digesten (XXIX 1. 1 pr.) als ein Mandatum des Kaisers Trajan
bestimmt haben. Zur Rollenform passt hier das Alter. Das Verso zeigt griechische
Kursive etwa aus der Mitte des dritten Jahrhunderts. Höchstens bis in dessen
erste Hälfte, die Zeit Ulpians, darf man also mit der Vorderseite gehen.
4) Ausdrücklich vertritt diese Ansicht Dziatzko, R(eal)-E(nzyklop&die) iL d.
W. Buch 111 (1897) Sp. 948 u. Unters. S. 130 f. Minder bestimmt Mommsen, Sav.-
Zeitschrift X (1889) S. 349, Kenyon, Palaeogr. of greek Papyri (1899) S. 24. 112 f.
und Facs. of bibl. mss. in the Brit. Mus. (Lond. 1900), Text zu Taf. I. Der eng-
lische Gelehrte setzt das erste Aufkommen des Buchkodex ins zweite Jahrhundert,
also mindestens ein Säkulum zu spät.
5) Ihre erste richtige Erklärung und Verwertung für die Geschichte des Ko-
dex verdankt man H. Gcraud's noch immer nicht veraltetem Essai sur les livres
d€ins Vantiquite, particulierement chez les Boniains (Paris 1840) S. 132 f. 134.
Vgl. auch Dizatzko, R. £. 11 1 Sp. 948, Unters. S. 133 ff.
6) Tb. Birt's (Das antike Buchwesen etc. 1882 S. 70 ff.) paradoxe Behauptung,
Pergament sei billiger gewesen als Papyrus, halte ich für überwunden. Vgl.
bes. E. Rohde, Gott. gel. Anz. 1882 S. 1550, H. Landwehr, Phil. Anzeiger XIV
(1884) S. 367 f., P. Krüger, Sav.-Zeitschr. VIU (1887) R. A. S. 76 A. 2 (mit Be-
rufung auf Friedläoder), Tb. Zahn, Gesch. d. neutestam. Kanons I (1888) S. 71 f.
m. Ä. 2 (Verweis auf Beckers Gallus), W. Wattenbach, Schriftw. » S. 100 m. A. 1
(nach L. Fr., Lit. Centralbl. 1882 Sp. 1113 f.), K. Dziatzko, R. E. HI Sp. 944 und
Unters. S. 70 f. 130 f., R. Wünsch, R. E. III (1899) s. v. Charta Sp. 2191 f. —
Auf der Seite von Birt [vgl. qentralbl. f.) B(ibliotheksw.) 17 (1900) S. 561 f.]
stehen F. Blass, Iw. Müllers Handbuch I > (1892) S. 337, C. Haeberlin, C. B. 14
(1897) S. 6, F. G. Kenyon, Palaeogr. (1899) S. 113.
7) Mit Recht verlangt Birt S. 85 auch hier diesen Ausdruck (vgl. Dziatzko,
Unters. S. 185) statt der unbrauchbaren Vulgatlesart in pugiüaribus membranis,
8) Über die 'einzelnen' membranaet litterarisch wie nichtlitterarisch, s. S. 129 ff.
135 ff. Ob sie irgendwie äusserlich zusammenhängend zu denken sind, wird fast
immer unklar gelassen. Noch viel verhängnisvoller wirkt Dziatzkos falsche Definition
von Charta {j^dpvfjQ)^ die man bisher merkwürdigerweise allgemein ruhig hinnahm.
Als scheinbar positivstes Resultat des dritten Abschnitts BußkoQ. IldnupoQ. XdprTjg
164 0. A. Gerhard und 0. Gradeowitz
tritt in Kapitel V *Bachrolle und Chartablatt Das Aufkommen dee Pergamentkodex'
die aus ein paar missverstandenen Zeugnissen, besonders einem solchen des Galen
(s. A. 38) abgeleitete und ihrerseits einer Reihe von Stellen (deren Behandlung ich
mir vorbehalte) das Verständnis verschliessende Lehre auf, ^dpzrjQ {charta) sei
zum Unterschied von ßußkoQy der fertigen, beschriebenen oder unbeschriebenen
Papyrusrolle nur das einzelne Papyrusblatt oder -doppelblatt und habe neben jener
bereits erwähnten litterarischen Funktion fQr die fliegende Blättersammlung schon
frah vorwiegend Zweck und Bedeutung der Urkunde. Um mit der letzten Annahme
zu beginnen, so bietet sich, soweit ich sehe, ein wirklicher Anhalt fOr sie erst seit
der Zeit Justinians (vgl. z. B. Nov. 44. 2). Noch weniger hält die fflrs Verhältnis
von •j[dpTq(; und ßoßkoq im Buchwesen statuierte Regel Stich. Um das Einzelblatt
nach seiner technischen Seite statt nach dem Inhalt zu bezeichnen, brauchte man
Namen wie plagula (vgl. Plin. n. h. XIII 77, Birt S. 232, Dziatzko selbst S. 87 f.)
oder scheda (vgl. Birt S. 229 A. 2). Das Wort ydpvrfi oder Ovaria zeigt, wo es
nicht ganz allgemein dem Papyrus als Schreibmaterial gilt, seit alters durchweg den
von Dziatzko erst den 'späten Römern* (S. 44 f.) zugeschriebenen Sinn der Papyrus-
rolle, fQr den einem Belege auf Schritt und Tritt begegnen. Es ist ein höchst dan-
kenswertes, leider noch wenig gewürdigtes Ergebnis von Dziatzko (Unters. Kap. III),
dass nach der bloss etwas zu scharf gefassteo, in ihrer prinzipiellen Richtigkeit
aber durch die Geschichte des Terminus japvr^Q vollkommen bestätigten Angabe
Varros (Plin. n. h. XIII 69) das berahmte Fabrikat aus dem Mark des ägyptischen
Papyrus, von vereinzelten früheren Ausnahmen abgesehen, thatsächlich erst seit dem
vierten Jahrhundert bei den Griechen eindrang. So behielt denn der junge Ausdruck
noch lange ungeschwächt seine frische konkrete Beziehung auf jenen importierten
Stoff. XdpTTjQ (Charta) war und blieb die Rolle aas Papyrus und im Zweifelsfalle
bei pedantischer Scheidung eveotuell die leere (vgl. Ulpian, Dig. XXXII 52 § 4).
Wie steht's aber nun mit der ßoßXoQ, deren Sphäre Dziatzko natürlich ebenfalls un-
richtig umgrenzt hat? Der Gedanke an ihr wahrscheinlich wie beim liber ursprüng-
lich aus Baumbast gebildetes Material verschwand völlig, seit dieses selber durch
die neue Charta verdrängt war. Was an ßußXog noch weiterhin bis ins erste Jahr-
hundert unserer Zeitrechnung von Äusserlichem haftete, beschränkte sich auf den
Rollenbegriff. BfjßXoQ hiess generaliter die Buchrolle, mit charta^ der Papymsrolle
(ähnlich wie liher) nur insofern identisch, als diese eben immer das Hauptkontingent
zu ihr stellte, keineswegs aber notwendig daran geh mden, sondern mit gleichem
Recht auf andere Stoffe, pflanzliche oder tierische wie Leder und Pergament
(diifOipat) anwendbar. Je mehr so das Wort vom stofflichen Moment abstrahierte,
desto nachdrücklicher betonte es andererseits den Inhalt. Das fertige Beschrieben-
sein ist beim liber im Gegensatz zur Charta unerlässliche Bedingung (vgl. Ulpian
a. a. 0. § 4 f.). BißXoQ (liber) , ßtß?Jov nennt sich das litterarische 'Buch'. Un-
willkürlich stellte man sich darunter eine Rolle vor, solange die alleinherrsdite.
Aber die ausschlaggebende Idee des Schriftwerks war in dem Namen stark genug,
um schliesslich auch noch die Rücksicht auf die spezielle Buchform fallen zu lassen.
Er gewährt dem neben der Rolle später aufkommenden Kodex (s. d. Text) von An-
fang an willig Aufnahme in seinen Bereich und geht der thatsächlichen Entwick-
lung entsprechend am Ende ganz auf ihn über (s. u. A. 15). Xdp'OjQ hingegen hat
nicht allein seine Materialbedeutung bis tief in die byzantinische Epoche bewahrt,
sondern auch die Verknüpfung mit der Rollenform. Vgl. Gloss. Labb. (1606) S. 116
V<yref>v ort to pkv h o^rfipoLZi zerpdäo^ if olaadijTzoTe at/ifztffifxeuou
Ein neuer juristischer Papyrus der Heidelberger Universitätsbibliothek 165
xai de^^ofjtevoy tt^v diaOi^xTiu zdßooXXa Xij'eTac, rä 8k i^eiXyjnaza
ydp-coij adro rouzo )fäpT7j xaXeiTat xrL — S. 108 l'exo6u3oü/jL xudpTag' ij
ix j^aprwvj ^youu t^q iv elXrjzapiw diaOrjxrjQ diaxazopj.
9) Quint. I. 0. X 3. 81 f. lila quoque minora (sed nihü in studiis parvum
est) non sunt transeunda: scribi optime eeris, in quibus facülima est ratio de-
lendi, nisi forte visus infirmior membranarum potius usum exiget, quae ut
iuoant aciem, ita crebra relatume, quoad intinguntur calami, morantur manum
et cogitationis impetum frangunt. relinquendae autem in utrolibet genere contra
erunt taeuae tabeüae, in quibus libera adiciendo sit excuraio.
10) Die Stellen findet man bei Dziatzko, Unters. S. 131 f. Auch Ciceros (ad
Alt. XIII 24) bekannte di<pOipat gehören vermutlich hierher.
Paul. sent. III 6 § 87
Libris legatis tarn Char-
tas Volumina vtl membra-
nae et philyrae continetitur:
Codices quoque de-
bentur: librorum enim ap-
pdlatione non volumina
chartarum, sed scripturae
modus qui certo fine con-
cluditur aestimatur.
II) Ulpian Dig. XXXII 52 § 1 Librorum
appeüatione continentur omnia volumina sive in
Charta sive in membrana eint sive in quavie alia
materia: sed et si in phüyra aut in tüia (ut non-
nuUi conficiunt) aut in qiw alio corio, idem erit di-
cendum, quod si in codicibus sint membraneis
vel chartaceis vd eliam thoreis vd aUerius materiae
vd in ceratis codicülis, an debeantur, videamus. et
Oaius Cassius seribit deberi et membranas libris
legatis: consequenter igitur cetera quoque debebuntur,
si non adversetur voiuntas testatoris.
Übereinstimmend lauten also die Konsequenzen, welche die zwei grossen zeit-
genössischen Juristen aus dem fQrs Buchwesen schon lange üblichen Sprachgebrauche
ziehen. Dass ein Legat von *BQchern' (Itbri) auf jeden Fall s&mtliche Rollen, gleich-
giltig aus welchem Stoffe, umfassen muäs, ist ihnen von vornherein klar. Aber auch
auf die Kodizes dehnen sie den Titel aus, jeder in seiner Weise. Ulpian verfährt
praktisch und beruhigt sich bei der Autorität eines frdhen Growährsmanns. Paulus
möchte seinen Ausspruch theoretisch formulieren und durch eine logisch überzeugende
Definition erhärten. So erklärt er denn liber als äusserlich ein geschlossenes Ganzes
bildenden Schriftkomplex, der nicht abhänge von den seiner gewöhnlichsten Gestalt,
der Rolle aus Papyrus eigenen Besonderheiten des Materials und der Form. Wir
könnten uns keine schönere Bestimmung des Begriffes 'Buch' denken (s. A. 8). Wie
gross ein solches in einem Band enthaltenes *Buch' sei, ob und wieviele bekanntlich
ja ebenfalls libri oder ^Bücher' genannte Unterabteilungen es zähle, das bildet eine
Frage für sich, die in unserm Zusammenhang nicht nur ganz unwesentlich, sondern
geradezu unpassend erscheint. Jenes Urteil gilt so gut von einer Rolle oder einem
Kodex mit einem einzigen Gesang aus Homer (vgl. Ulpian a. a. 0. § 2) als von
einer Rolle oder einem Kodex mit allen 48 Büchern beider Epen, wie ihn Ulpian
(§1) ausdrücklich als einen liber rechnet. Man wundert sich, wie Birt (Buchw.
S. 100) und mit ihm Krüger (Sav.-Zeitschr. VIII (1887) S. 81 m. A. 4 f.) gegen die
letztere Aufstellung Ulpians aus des Paulus eben erläuterten einfachen W^orten eine
Polemik herausinterpretieren können. Anfechtbar scheint mir ihre Meinung, Paulus
habe .bei den 'Büchern' eines Testaments bloss an liber als Teilungsprinzip gedacht
und demgemäss etwa jenes volumen Homeri als 48 libri notiert. — Ebenfalls unzu-
treffend, wie ich meine, wird neuerdings Ulpians Zitat aus C. Cassius bebandelt: et
Oaius Cassius seribit deberi et membranas libris legatis. Obschon in der ganzen
lex überhaupt nur von eigentlichen Schriftwerken die Rede ist, und nach der gerade
darauf als Pointe abhebenden Argumentation Ulpians in diesen membranae not-
wendig der Begriff der Kodexform steckt, sucht man ihrer einzig möglichen, nach
166 G. A. Gerhard und 0. Gradenwitz
Salmasius bereits von Gcraud (S. 132), späterhin wieder von Rohde (S. 1548) ver-
tretenen Deutung als litterarische Pergamentkodizes um jeden Preis zu entgehen.
H. Landwehr (Anz. S. 372; Arch. S. 423 f.) will bei Cassius den die Buchform be-
treifenden Gegensatz zwischen libri und membranae ohne die geringste Berechti-
gung auf einen solchen des Stoffes (Papyrus und Pergament) hinausspielen. Birt
(S. 98) spricht unsern membranae den Charakter von 'Büchern' ab und billigt jetzt
(C. B. 17, 1000 S. 562) die im Wortlaut nicht begründete Dziatzkosche (Unters.
S. 133 f.) Auffassung als 'litterarische EntwQrfe'.
12) Noch im vierten Jahrhundert heisst es z. B. von der vielbesprochenen
Umschrift der Pamphileischen Bibliothek in Pergamentkodizes Hier. ep. 34 ("22
Sp. 448 Migne) Beatus Pamphüus Martyr . . . vd maxime Origenis libros im-
pefisius prosecutus Caesariensi Ecciesiae dedicavU: quam ex parte corruptam
Acacius dehinc et Euzoius eiusdem Ecclesiae sacerdotes in membranis instau-
rare conati sunt. Ein griechischer Vermerk in einer Wiener Handschrift des Phi-
lon fvgl. C. Haeberlin, C. B. VII 1890 S. 286) sagt vom gleichen Vorgang: "Eu^mog
^TtiaxoTZOQ iv acDfiariotQ (= in codicibus) dveuedaaro.
13) Dig. XXXII 52 § 5 Unde non male quae-
ritur, si libri legati sint, an contineantur nondum
perscripti. et non puto contineri^ non magis quam
vestis appellatiofie nondum detexta continetur, sed
perscripti libri nondum mäUeati vel ornati continC'
buntur: proinde et nondum conglutinati vel emen-
dati continebuntur : sed et membranae nondum
consutae continebuntur.
Bas. XLIV3,50§5(IV
S. 382 Heimbach) Aal riva
od Ttepti^ovTac Tai hjfd-
TCO Tibv ßtßkiiOVn €OQ
Tfi fi7^ Teksi(s}Q fpaipivTa,
et 3k kypdfpT] fjLi)^^ a/>-
patpa 3e tuoq elah ij
diKXfiipiaaz «, Tzeptzynif-
Tai. xac iffß^Tog yap h^-
yaTEOOfiiyT^Q tu. firjTtio 6-
fuvfliuTaod 7:sptiyo)^TUi,
Instruktiv ist wieder die Redeweise des Römers. Zunächst scheinen für ihn
bei der Frage nach der Technik der libri legati einzig Rollen in Betracht zu kom-
men und zwar nur solche aus Papyrus. Er sprach da eben a potiori. Sogleich aber
wird er seine Ungenauigkeit gewahr. Es giebt ja noch eine andre Art von /t6rf,
der er selber volle Gleichberechtigung einräumen musste. So nimmt er denn nach-
träglich auch auf die Kodizes, die membranae die gebührende Rücksicht. Aus
diesem Ergiinzungsverhältnis zwischen libri und membranae einen Kontrast von
^Bnch' und 'Nicht-Buch' zu machen (Birt S. 98) ist darum schwerlich angängig.
Für den Basilikenschreiber, den ich dem Ulpian gegenüberstelle, war jene Zwei-
teilung nicht mehr nötig. In seiner Zeit hatte man bloss noch Kodizes. Somit lies-
sen sich unter äusserlich in ihrer Herstellung nicht vollendeten Büchern oder Bän-
den nur ßtßXia ohne Heftung (äppaifo) oder ohne Einbanddecke {duap^istna)
verstehen. Dass entsprechend auch Ulpians membranae nondum consutae als noch
ungeheftete Pergamentkodizes zu erklären sind, hat sonst kein Gelehrter, der sich
auf die Worte einliess, verkannt. Wattenbach (Schriftw. » S. 175 f.) allein dachte
ans ^Zusammennähen von Membranen zu einer Rolle'.
14) Vgl. Encyclopaedia Biblica III (1902) Sp. 3586 u. d. W. Pardment.'
15) Man findet hier eine ganz ähnliche Erscheinung wie vorhin (A. 13) bei
Ulpian. Der Apostel verlangt seine Bücher zurück. Er braucht den in seiner
höheren inhaltlichen Bedeutung von Stoff und Form absehenden allgemeinen Aus-
druck (tu ßtßXia). Plötzlich tritt ihm aber nun die dem Worte doch anhaftende
Zweideutigkeit ins Bewusstsein. Gemeinhin dachte man, wo von ^Büchern' die Rede
Ein neuer juristischer Papyrus der Heidelberger Universitätsbibliothek 167
war, ausschliesslich an Rollen, in der Regel aus Papyrus. Für ihn selber hätte
eine derartige Auffassung seines Auftrags darum die unangenehmsten Folgen gehabt,
weil es ihm ja gerade auf den ungewöhnlich gestalteten Teil der Bücher, auf die
Kodizes in erster Linie ankam. So fügt er denn, um jedes Missverstäodnis zu ver-
hüten, weislich hinzu : fidXtaza [de] raQ fiSfißpdvaQ. Die von den meisten Hand-
schriften gebotene Partikel di^ an die sich die Gegner unserer Interpretation (Zahn,
Dziatzko s. u.) als vermeintliche Stütze anklammern, kann uns nur willkommen sein.
Wie in der Ulpianstelle (libri — sed et membranae) verstärkt sie den vom Sinn
erforderten Nachdruck der korrigierenden Anknüpfung. Wir sehen, die richtige Er-
klärung des Paulinischen Passus ist nur möglich auf Grund der Buchterminologie der
römischen Zeit. Eben darum gingen die späteren Kommentatoren wie Theodor von Mop-
sucstia und Theodoret (vgl. Zahn H S. 940 f.) so sehr in die Irre. Das Verhältnis
von Rolle und Kodex war für sie umgedreht. Mit dem Titel *Buch' verband man wie
noch heutzutage notwendig den Begriff der Klappform. Bißkiov bedeutete 'Perga-
mentkodex'. Wenn also der Pastoralbrief von ßtßXiuy offenbar als besondere Buch-
form, noch pzfxßpwjat unterschied, so blieb für sie bloss die natürlich verkehrte
Deutung als Rollen. Kaum zusagender finde ich die Ergebnisse der Neuzeit. Während
schon der alte Christian Gottlieb Schwarz (De omamefniis librorum et varia rei
librariae veterum supeVectüe äissertationum antiquariarum hexas, ed. J. Chr.
Lenschner, Leipzig 1756) mit vorurteilsfreier Logik das Rechte gefunden (IV 3
S. 129 ff.), plädieren die modernen Autoritäten des Buchwesens (Birt S. 88 f.. G.
B. 17, 1900 S. 562; Dziatzko, Unters. S. 136 ff.) eifrig für die m. E. entbehr-
liche Hypothese, des Apostels membranae seien keine ^Bücher', sondern nlcht-
litterarischen Charakters, etwa 'geschäftliche Aufzeichnungen'. Man verbaut sich da-
mit das Verständnis des neben den ßtßXia eindringlich genug redenden (s. den
Text) lateinischen Lehnworts. Vgl Dziatzkos Verlegenheit S. 138 A. 1 ; Thompson,
Palaeogr. ' S. 36. Eine Trennung des Paulus von seinen 'Notizheften' lässt sich
schwer glaubhaft machen. Dass er unter anderen Texten, deren Inhalt zu ermit-
teln uns versagt ist, ein paar teure Kodizes zeitweise zur Lektüre und Abschrift
an Mitchristen verlieh, erscheint in hohem Grade plausibel. Zum gleichen Resul-
tat wie Birt und Dziatzko gelangte auch Theodor Zahn's gelehrte und umsichtige
Untersuchung in einem Exkurs seiner 'Geschichte des neutestamentlichen Kanons'
II (1890) S. 938 — 942. Für ihn hat darum nichts andres herauskommen dürfen,
weil ihn die vorgefasste Meinung beherrscht, vor 220 habe der (neutestamentliche
Buchkodex nicht existiert (I S. 60 ff. bes. S. 76}. Früher kann er ihn deshalb nicht
brauchen, weil jener Anfangszeit noch der Kanon fehlte, dieser aber aus dem Sam-
melprinzip der Kodexform, wie er wähnt, sofort mit zwingender Naturnotwendigkeit
hervorgehen musste. Die Wahrheit dieser Folgerung hatte ihm andeutungsweise
bereits A. Harnack (Das neue Testament um das Jahr 200, Freib. 1889, S. 33 A.)
bestritten. Die vermeintliche Abhängigkeit des Kanons vom Kodex besteht nicht.
Erst als das Gefühl der Zusammengehörigkeit einer Schriftengruppe reif war, kam
für sie die äussere Vereinigung im Kodex in Frage. Bestehen konnte der lange vor-
her und er hat lange vorher bestanden. Das glauben wir durch unsre Darlegung zu
erweisen. Die hochentwickelte Technik der Kollektivbände bei Martial spottet jeder
Anzweiflung. Beachtung verdient dabei u. a. der Titelkupfer mit dem Porträt des Virgil
(XIV 186). Und jene Beispiele ragen nicht etwa vereinzelt. Hindurch durch die zwei
ersten Jahrhunderte verfolgen wir ohne Unterbrechung das Leben des Kodex. Geradezu
zu postulieren wäre schon für diese Epoche neben dem klassischen sein christlicher
wie juristischer (s. S. 144) Gebrauch. Um so weniger also sollte man dem die er-
wünschte Bestätigung bringenden klaren Zeugnis der Paulusstelle gegenüber die
168 G, A. Gerhard und 0. Gradenwitz
Augen verschlieBsen. — Eine eigenartige Parallele zu ihr finde ich nachtrfiglich in
den apokryphen Barnabasakten, weiche nach der Untersuchung von R. A. Lipsius,
Die apokr. Apostelgeschichten etc. II 2, Braunschw. 1884 S. 294 ff. (vgl. auch A.Har-
nack, Gesch. der altchr. Litt I 1, 1893 S. 139) ein Cyprier bald nach 485 verfasst
hat. Bei der Erzählung von dem bekannten Ttapo^üff/iog zwischen Paulus und
Barnabas in Antiochia (Act. XV 39) berichtet der verkappte Autor (^Johannes Mar-
kos'), wie unversöhnlich dort der Apostel aus Tarsos ihm selber grollte, weil er die
Mehrzahl der metnbran<ie in Pamphylien behalten. Act. apost. apocr. ed. Lipsius et
Bonnet II 2 (Bonnet) 1903 S. 294, 14 f.: ^ de mkXij Xutoj aÖTou ijv npoQ fiB
diä T() lyeiv /le rag nkeioug pefißpävag iv IlafiiptjXia (Bonnets ZusaU
xazaXiTTovza oder xazeff^xora ist unnötig). Unser spätes Machwerk zeigt also in
diesem von der Hauptgruppe der Handschriften (^ bei Bonnet, vgl. praef. S. XXVII)
unterdrückten (s. Lipsius a. a. 0. S. 276 f. m. A. 1) und auch vom Parisinus 1470
(vgl. Act. apost. apocr. ed. Tischendorf 1851 S. 66 f.) durch eine Randglosse ent-
schuldigten Abschnitt (§ 6 f.) wiederum Pergamentkodizes (Lipsius S. 381:
Pergamentrollen) in intimer Verknüpfung mit Paulus. Der Zug erinnert an die
Worte des Timotheusbriefs, erscheint aber in seinem Zusammenhang doch so selb-
ständig und bezeichnend, dass man an Benutzung einer eigenen Tradition glauben
könnte. Eine andre Frage ist es, was sich der Pseudonymus unter den hier allein-
stehenden menibranae dachte. Vermutlich Kodizes. Das wundermächtige Malthäus-
evangelium von Bamabae Hand (Act. Bam. § 15. 22. 24), dessen angeblichen Fund
die cyprische Kirche gerade damals gegen Antiochien ausspielte, und das nachher
der Kaiser bekam (Lipsius S. 291 ff.), hat mit seinen Holztäfelchen (l/ov ix Out-
V(üu ^6lü)V zä Ttzü^ia, vgl. Lipsius S. 293 f. u. A.A.) sicher diese Buchform gehabt.
16) Dig. XXXII 102 pr. Idem libro septimo deeimo digestorum, His verbis
Ugavit: 'uxori meae laterMa mea viatoria et quidquid in his eonditum erü^ quae
membranulis mta manu scriptis continebuntur nee ea sint exaeia cum moriar,
licet in rationea meas translata sint et cautiones ad actarem meum transtüUrim^
etc. Vgl. Dziatzko, Unters. S. 131.
17) Dig. II 13. 10 pr. Qaius libro primo ad edictum provinciaU, Argentarius
rationes edere iubetur ... § 1 Edi autem ratio ita inteUegüur, si a capite edatur,
nam ratio nisi a capite inspiciatur, intellegi non poteH: sciUoet ut non tatum
cuique codicem rationum totasque membranas inspiciendi deseribendique pO'
testas fiatj sed ut ea sola pars rationum, quae ad instruendum aJliquem pertineai,
inspiciatur et describatur.
18) Dig. XLI 1. 9 Gaius libro seeundo
rerum cottidianarum sive aureorum, — § 1
Litter ae quoque Ucet aureae sint, perinde
chartis membranisque cedunt, ae solo
cedere sdent ea quae aedificantur aut seruntur.
ideoque si in chartis membranisve tuis
Carmen veil historiam vel orationem
scripsero, huius corporis non ego, sed tu
dominus esse inteüegeris, sed si a me petas
tuos libros tuasve membranas necimpensas
scripturae sölvere velis, potero me defendere per
exceptionem doli mäli, utique si bona fide
eorum possessionem nanctus sim, § 2 Sed
non Uli litterae chartis membranisve
cedunt, ita solent picturae tahulis cedere etc.
Gai. inst. II § 77.
Eadem ratione prc^tum est,
quod in chartulis sive mem-
branis meis aUquis scripserit,
licet aureis litteris, meum esse,
quia litterae chartulis sive
membranis cedunt.
Itaque si ego eos libros easve
membranas petam nee impen-
sam scripturae solvam, per excep-
tionem doli malisummoveripotero.
§ 78 Sed si in tabula mea aliquis
pinxerit vduti imäginem, contra
probatur eqs.
Ein neuer juristischer Papyrus der Heidelberger Universitätsbibliothek 169
19) Add. MS. 34473. In der editio prineeps, The Journal of philology XXTI
(1894) S. 248 urteilte er über das Buch weit günstiger: The wrüing and spdling
are careful and the text good, so that it was probably a copy intended for com-
mereial circulation. Neuerdings (Palaeogr. 1899 S. 113f.) stempelt er es zur minder-
wertigen Privatabschrift: It is plainly not an elaborately written copy, There is
nathifig of the appearanee of an 'Edition de lux^ , , . It may weü have been regarded
OS an inferior dass of hook to the best papyrus MSS, of the period. Zu diesem
Urteil Kenyons vgl. auch A. 6.
20) Dass bisher die Entscheidung über diese Frage durchweg negativ ausfiel,
darf nicht wundernehmen, vgl. Birt, Buchw. S. 104 f., Mommsen, Sav.-Zeitschr. X
1889 R. A. S. 345.
21) Zweifelnd anerkannt wird die Thatsache von P. Krüger, Sav.-Ztschr. YIII
1887 R. A. S. 76 u. A. 2. Die unantik modernisierende inhaltliche Auslegung des
Titels membranae als intime, anspruchslose 'Notizen' (Birt S. 93 f.) oder *lose Ent-
würfe' (Dziatzko, Unters. S. 133 A. 5 a. E.) findet, wie ich glaube, auch an den
codicüli (nach den Erklärern = Testament) .genannten Schmähschriften des
Fabricins Vejento (Tac. Ann. XIV 50 zitiert von Birt, C. B. 17, 1900 S. 562 Haud
dispari crimine Fabricius Veiento conflictatiM est, quod mtdta et probrosa in patres
et sacerdotes composuisset iis libris qutbus nomen codicillorum dederat) keine
Stütze. Das Wort membranae hat im litterarischen Buchwesen seine festbestimmte
Bedeutung.
22) Dem dritten Jahrhundert weist W. CrOnert, Archiv II (1903) S. 361 das
Bruchstück zu, die Heransgeber selber (S. 24) dem vierten.
23) Vgl. bes. Birt, Buchw. S. 105 ff., Zahn, Gesch. d. neut.K. I (1888) S.69ff.,
Dziatzko, Unters. 8. 140 f. V. Schnitze, Rolle und Kodex. Ein arch&ologischer Bei-
trag zur Geschichte des Neuen Testamentes. Greifswalder Studien — Herm. Cremer
dargebracht. 1895 (vgl. Beer und Weinberger in Bursians Jahresb. 98 (1898) S. 194)
ist mir nicht zugänglich, s. auch Birt S. 122 m. A. 1.
24) S. Birt 8. 104, Dziatzko, R. E. III Sp. 948, Unters. S. 200 f. Dazu kommen
zwei schon öfter angeführte juristische Arbeiten. P. Krüger, Über die Ver-
wendung von Papyrus und Pergament für die juristische Lilteratur der Römer, Sav.-
Zeitschr. VIII (1887) S. 76- 85, bes. 8. 81 f., der den Wechsel der Buchform unter
allgemeinen Gesichtspunkten betrachtet, und Th. Mommsen, Die Benennungen der
Constitutionensammlungen, Sav.-Zeitschr. X (1889) R. A. S. 345 — 351, der in An-
knüpfung an einen früheren Aufsatz über die Holztafel im Archivwesen der Römer
(Sardinisches Decret: Herm. II (1867) S. 102—127, bes. S. 115ff.) den Kodex auf
die tabulae pvhlieae zurückführt. Die Eingliederung in die von uns skizzierte Ge-
samtentstehnngsgeschichte der Kodexform mnss diese isolierten Spezialergebnisse im
Einzelnen selbstverständlich ergänzend modifizieren.
25) Vgl. bes. Birt S. 113 ff., Dziatzko, R. E. HI Sp. 949. Unters. S. 141.
26) Landwehr, Pap. Berol. Nr. 163 etc. (Gotha 1883) S. 8, Phil. Anz. XIV 1884
S.373, Arch. f. Lexikogr. VI 1889 S.422f. 432. Dagegen schon Dziatzko, R. E. III
Sp. 946 f.
27) Plin. n. h. XIII 70 mox aemülatione circa bybliothecas regum Ptokmaei
et Eumenis, supprimente Chartas Ptoiemaeo, idem Varro membranas Pergami
tradit repertas. postea promiscue repatuit usus rei qua constat immortalitas
hominum, — Für 'viel älter als Eumenes' erklärt das Tergament' C. R. Gregory,
Textkr. des N. T. I 1900 S. 8.
170
6. A. Gerhard und 0. Gradenwitz
Boisson. Anecd. Gr. I S. 420
h 8k rizoXenaioQ l^iov * Apiarap-
jj^öu YpaiifJLaTtxoy (PjpßotfXeuadfisi/o]/
dTritrreUe TrpwTOQ ^dpTT^v eeg
'^PwfiTjv xdi i$eui(Teu auToog. y>0ovr^'
aag Sk z(p ^Aptardp^o) Kpdzr^q o ypuft-
fxauxoQ bizdpymv perä 'AzzdXofj rofj
ntpyaprjvoo
ix dappduov exa/te fiepßpd"
vag xa) knoirjfft tov ''Azzakov dTzo-
azEtkai wjzäg elg ^ Pwptjv
fWsv elg fi\frjfxr^v zoTj dTrotnsc"
kauzog pi/pt zoü vov Tzepyapy^-
vag zag pEpßpdvag xaXouaiy.
28) Lyd. de mens. ed. R. Wuensch
(1898) S. 14, 11—20 XP^'^^V ^^ ^^^■
pou o llzoXepalog arj/ißouXedovzog
adz<ji 'Apiazdpyotj zou ypappaztxoo
zijv 'Fwpalwu daTzdaaadai Ttpoaza-
ffiav Kpojzog ydpvrju dTroffzeiXag zi/v
'Pdfpr^u i^iutaeu. dvzeodnxtpeizat 8k
opcog Ttapd zou nepyapyjvou 'Az-
zdkoü, KpdzTjZog zou ypappazixou
fjPjaapiuou z^g <T7:ou8^g npog iptv
^ApuTzdpyou zoü duztziyyou adzou,
8ipiiaza yäp zä ix Tzpoßdzwv dno»
H(f<ig slg kenzov iffzede zo7g "^Po}-
paiotg zä kep'tpsua nap' auzolg
pipßpaua* elg purjprjv 8e zoü
dTToazedauzog izi xai uüu ' Piopalot
zä pipßpava Fle pyapTjvä xa-
Xoüavy.
29) Vgl. Wattenbach, Schriftw. ' S. 161 f. Zufrieden giebt sich mit der An-
nahme opisthographer Pergamentrollen Dziatzko, R. E. m Sp. 947.
30) CatuUm et in tum Isaaci Vossii öbservationes. Lond. 1684 S. 51 Primus
qui libros quadratos sive Codices tnembraneos fcuxre instituit, is ut ptUo fuü AU<dus
rex, cuius demum aetate innotuit facüior ratio emundandi peües ab utraque parte^
cum antea non nisi ab una parte conscriberentur, quemadmodum fit in vötuminOms.
Dass er selber die schwache Fundamentierung seiner These doch noch empfand,
zeigen seine sp&teren Worte: Caetemm quamvis codicum membraneorum, id est
librorum qtiadratorum usus ab Attalo demum incoeperit, non tamen cesaavit prior
ratio, quin potius non tantum Catuüi et Ciceronis seculo, sed et dliquamdiu posiea
totae, ut diximuSf bibliothecae e solis componebantur voluminibus, nuUa facta mem-
braneorum codicum mentione.
31) In der ersten Bearbeitung des Werkes (Becker- Marquardt V 2 [1867]
S. 398 f.) waren die Konsequenzen der Theorie für den Kodex als Sammelb&od noch
schärfer gezogen als jetzt in der neuen (Marquardt-Mommsen VII 2 * [Mau] 1886
S.819f.).
32) Den bezeichnenden Zusatz hat erst die zweite Auflage I > (1892) S. 336 f.,
vgl. I 1 (1886) S. 310 f.
33) Seine zwei teilweise genau übereinstimmenden, teilweise aber auch unver-
merkt kontrastierenden Aufsätze, die Rezension von Birts Buchwesen, Philol. Anzeiger
XIV 1884 S. 357— 377 (hierhergehörig S. 374f.) und die ^Studien über die antike
Buchterminologie', Abschnitt VI *Der Übergang von der Rolle zum Codex', Arch. f.
lat. Lexikogr. etc. VI 1889 S. 419—433 (bes. S. 429) scheinen mir nicht durchweg
einwandfrei.
34) Gott. gel. Anz. 1882 S. 1537—1563, jetzt in den »Kleinen Schriften' II
(1901) S. 428-448, vgl. bes. S. 1546 (bezw. 435). Rohde spricht da von Tergament-
roUen oder Pergamentcodices' der »grossen Bibliotheken (vornehmlich der pergame-
nischen)' allerwenigstens zu Varros Zeit.
Ein neuer juristischer Papyrus der Heidelberger Universitätsbibliothek 171
35) G. HaeberliD, Beitr&ge zur Kenntnis des antiken Bibliotheks- und Buch-
wesens III Zur griechischen Buchterminologie, G. B. Yll 1890 S. 271—302. — An-
hänger der Rohdeschen Anschauung vom 'ziemlich frühen Vorkommen Ton Membran-
handschriften für Litteraturwerke' (S. 283), obgleich uns aus der Vorchristlichen
Zeit nnd den ersten beiden Jahrhunderten unserer Zeitrechnung so wenig Material
zu Gebote steht' (S. 288), bescheidet er sich zu den wenig sagenden Vermutungen,
die unterste Schrift (Sallusts Historien ?) des K&mthener doppelten Pliniuspalimpsestes
reiche bis etwa ins dritte Jahrhundert (8. 281—283) und die *KodifizieTung' der
griechischen Anthologie sei im zweiten oder dritten Jahrhundert erfolgt (S. 287 f.).
86) G. Wachsmuth, Pentadenbände der Handschriften klassischer Schriftsteller,
Hh. M. 46 (1891) S. 329-331. Vgl. dazu Beer und Weinberger in Bursians Jahresb.
98 (1898 III) S. 194 f.
37) Gott. gel. Anz. 1900 S. 30: Rezension des zweiten Bands der Oxyrhynchos-
papyri. — Herrschend scheint die Ansicht von der koinzidenten Einfahrung des
Pergaments nnd der Kodexform auch bei den Theologen. Vgl. z. B. G. R. Gregory,
Textkr. des N. T. I 1900 S. 10 (vorsichtig) und Encyd. Bibl. 1902 Spr. 3586 (s. v.
Parchment); anders Deissmann ebenda Sp. 3557 (s. v. Papyri).
38) Galen, Gomm. I zu * ImzoxpdzofjQ xax' h^Tptiov ßtßXiov XVIII 2 S. 630
Eohn. td^Iq filv yap xai nduu nakaiiov ßtßXiwv [naXatä ßtßkia Gebet]
dveoptlv koTzoodaaav itph zptaxoamv iriov ytypapiiiva^ rä fihv bj^outsq
[ivovra Rohde] iu to7q ßißXioiQ^ rä 8k iv toIq ^äpTotq, rä 8k h
SiatpopotQ iftXupaiQy moTitp rä nap^ ijiüv iu TlepYdptp. Einen Schaden
fand man meist bloss in der schwierigen Gruppe iv 8ta(popotQ (pdipatQ und
brauchte zu seiner Heilung unbedenklich die Gobetsche (Mnemosyne VIII 1859
S. 436) Radikalkur: rä 8k h 8i<p0ipatQ^ welche jenen ungewöhnlichen Ausdruck
in die ganz gewöhnliche Verbindung von ^dprat und SifSipat^ d. h. Papyrus- und
Pergamentrollen yerwandelt. Die handschriftliche Verwechslung von 8t(p0ipai und
diaipopot hat der Holländer später (Mnemosyne N.S. III 1875 S.233f.) in der That
durch ein weiteres Galensches Beispiel (XVII 1 S.922) belegt, und einen dritten aus
Pittographie zu erklärenden Fall kann ich aus dem Aristeasbrief anführen. § 176
heisst es hier: napeXOovcwv 8k auv rolQ dnearaXpivoiQ 8wpotQ xai raiQ
8ta(p6poiQ 8i<p6ipatQ . . . iirrjpaira (o ßafftXeuQ) Tiepl rutv ßtdXiwVj und
jenes seltsame Adjektiv klammert Mendelssohn ein. Allein das Übel ist doch nur
weitergeschoben. Die raren ipMpai dürfen wir nicht als von einem itiolM einge-
schmuggelt über Bord werfen. Wir müssen suchen sie zu verstehen. Ich kann jetzt
nur kurz andeuten, dass man in diesen ipMpai die Nachfolger der alten ßfjßXoi^
d. h. Bastrollen vor sich hat. Die starben eben auch nach dem Eindringen der
Charta nicht völlig aus. Fürs dritte Jahrhundert bezeugt uns ihren vereinzelten
Gebrauch Ulpian (A. 11) und Martianus Gapella (II 136) gar noch fürs fünfte. Die
herrschende Ansicht freilich, welche ß6ß)MQ und Papyrus von Anfang an identifi-
ziert (vgl. A.8), weiss mit ^ex phüyra nichts Rechtes anzufangen. Sie wegzuschaffen,
scheut man nicht einmal das Experiment, der Stelle des Juristen Ulpian 'die Be-
weiskraft zu nehmen' (vgl. Landwehr, Arch. f. Lex. VI 1889 S. 224 f.). Die
so deutlich redenden *BasUtreifen' (phüyrae) beim Plinius (XIII 74) werden
hinauskoiyiziert (Birt, Buchw. S. 230. 243). Auch Dziatzko (Unters. S. 77)
bringt eine Änderung in Vorschlag. Von ßißXia h (f t X 6 p a t Q loar^tp
rä Ttap' ijfuv h nepydpw spricht nun Galen. Also in Pergamon kannte man
172 0. A. Gerhard und 0. Gradenwitz
ebenfalls noch im zweiten Jahrhundert n. Chr. die Rollen ans Bast. Di^ Nachriebt
von der Verwendung dieses weiteren Surrogats wird uns nach den attalidiscben
Antezedenzien (Pergament) gerade dort am wenigsten befremden. Sie macht uns
auch misstrauisch gegen das Bestreben der Gelehrten, die lehrreiche Überliefe-
rung zu dem selbstverständlichen Hinweis auf die pergamenische Proyenienz der
MemhranroUen umzubiegen. Abzuweisen wäre also, um von Marquardts (II ' S. 820
A. 2) unwahrscheinlichem Einfall ii/^e^^£/>eW<C fMpdiQ zu schweigen, ausser der
Cobetscheo Änderung auch Dziatzkos (Unters. S. 44 A. 4) umstellender Kompromlss
rä de iv (pMpatq xai dtipOipatq. Jener' gleichen Versuchung war vielleicht
schon irgend ein antiker Leser erlegen, der bei dem Wortlaut rä 8h iv ^dprosg
(zu dieser ungewöhnlichen Form vgl. Dziatzko, Unters. S. 44 A. 3) zä 3k iv
ipMpaiQj ioantp ra itap' ij/ilv iv flepYdptp stutzend neben den "jfdpzax
statt der ihm unklaren ipiküpai wie sonst die 8t<p6ipai erwartete und. das Substitut
auch hinschrieb. Nachher in den Text gedrungen, hätte sich 8t<pßipatQ vor
<pMpatQ ähnlich wie bei Aristeas (s. o.) vor 8t<p6ipaiQ zu dem wenigstens ausser-
lieh befriedigenderen 8ia<p6poiQ umgeformt. Vorhanden ist natdrlich auch die
Möglichkeit, dass unsre nachträglich verstammelte Partie nrspranglich etwa lautete:
rä 8e iv toIq ^dproiQy rä 8k iu 8tf0ipaiQ, (rä 8k iii) <pMpaiQ. Die Folge
wäre dann die gleiche wie oben (A. 11) beim Juristen Paulus (und ähnlich bei
Ulpian): tarn chartae vcHumina vel menibranae et phüyrae, — Es bleibt uns noch
immer der wahre Hauptfehler der Stelle in den Worten: rä pkv ij^oureg iu rolg
ßißXioigy rä 8k h zoJg ^^dproig, rä 8k h iptkopatg etc. Also drei Sorten
der TzaXatd ßißXia zählt uns der Autor auf: 1. ßtßXla, 2. jdpzai (Papymsrollen)
und 3. ipMpat (Bastrollen). Der unerträgliche Widersinn im vordersten Gliede der
Reihe springt sofort in die Augen. Für ßtßUov (noch mehr als ßißXog) ist uns
der alle besonderen Möglichkeiten ¥rie Papyrusrollen (j^dpTai)^ Bastrollen {iptXipai)^
Pergamentrollen {8t(p6ipat) umfassende allgemeine Oberbegriff der Buchrolle mit
litterarischem Inhalt nicht nur sonst zumal in der Kaiserzeit vorzOglich vertraut
(vgl. A. 8), er erscheint folgerichtig auch in den naXatä ßtßXia des Arztes selbst
Tä pkv (sc. ßißXia s. o. Cobets Lesung) ej^ovreg iv TOtg ßtßXiotg : in einem
Atem soll er neben j^dpzat und (ptXüpai als erste Unterart der ßtßXla wiede-
rum ßtßXia nennen ! Das ist undenkbar. Kein Wunder, dass die Hinnahme, ja
Ausbeutung eines derart verwirrten Passus durch fast alle Interpreten verhängnisvoll
gewirkt hat. Kopfzerbrechen machte der Kontrast zwischen ßißXla und ydpzai,
Fasste man die letzteren richtig als Papyrusrollen auf, so geriet man ins Gedränge
mit den ersten. Die^mussten sich denn wohl gar zu Codices ccrati stempeln lassen
(Marquardt). Wer umgekehrt die Papyrusrollen in den ßißXia suchte, fttr den
wurden die ydpzat Papyruskodizes (Rohde S. 15 i7) oder einzelne Papyrusblätter
(Birt, Buchw. S.503f., Dziatzko, Unters. S.44. 92. 133 A. 4. 136 A. 1). An Dziatzkos nn-
plausibler Vorstellung von den 'Einzelblättern' aus Papyrus {jdpzat) oder Per-
gament {ßiifOipai) trägt dieser illlusorische Beleg mit die Hauptschuld (vgl. A. 8).
Wie kam aber jene fatale Korruptel zustande und wie ist sie zu heben ? Die von Land-
wehr (Anz. S. 374 f. A. 7), dem einzigen, der den wunden Punkt erkannte, vorge-
schlagene Einrenkung des Satzes durch Vorausnähme der ßtßXia und Reduktion
der Antithese auf ^dpzat und fiXupat (s^ouzsg iv zo7g ßtßXiotg zä pkv iv
Ein neuer juristischer Papyrus der Heidelberger Universitätsbibliothek 1 73
TotQ ^dpzatgy TU 8k iu dtfOepivaiQ (ptkopaiQ sie) wäre kühn und pleonastisch
angeschickt zugleich. Ratsamer dOnkt es mir, nach dem eigentlichen Ausdruck für
die erste Form der *Bücher' zu fahnden, der heute durch die einst dem Verfasser
oder einem massgebenden Schreiber von vorher im Sinne gebliebenen und versehent-
lich nochmals in die Feder geflossenen ßißUa verdrängt ist. Zwei Parallelstellen,
die Cobet (Mnemos. 1S75 s. o.) aus Galen zitiert, bieten in verwandtem Zusammen-
hang als Eventualitäten von Textniederschriften jeweils )^dpTai, dtftiipat und
öikroi. Analog könnten in unserem Falle die izaXaiä ßißXia enthalten sein
rä peu — iv tuTq diXzoiQy ru dt iv toIq ydpzoiQ, zä dk iv [dta^opoco]
^UupaiQ oder zä 8k iu St^OipaiQ, {zä 8k kv) (piXopatq xzL
39) Rohde S. 1549 f., schon vorher Birt S. 107 m. A. 4, nachher Landwehr,
Anz. S. 373, Arch. S. 428. Man benutzte aus der Epistel für zeü^oq = codex nur
den einen bei Josephus (XII § 108 — 110) nicht genau wiedergegebenen Satz von
der fertigen griechischen Übertragung der vopoOeaia § 310 xaOwg 8k dvep^cü-
aOrj zä zeu^rj, (Tzdvzeg oi tepelg . . . elTiov. An Rollenform zu denken
hätte schon hier der damalige Usus des griechischen wie des jüdischen Schrift-
wesens verlangt Rein unmöglich aber war jeder Zweifel, wenn man die frühere
(§ 176 f.) Beschreibung der von den Delegierten mitgebraohten hebräischen Original-
manuskripte verglich. Nachdem diese des Aufrollens (ai/sXhaeiv) bedürfenden
8i<p6ipai (vgl. A. 38) mit ihren Futteralen (dvadi^paza), ihrem feinen, unsichtbar
zusammengefügten Pergament (opijv) und ihren Goldbuchstaben {ypuad^patpifi)
aufs unzweideutigste charakterisiert sind, steht zum Schluss auch von ihnen jener
fragliche Terminus zvj)(()g^ Der sonst fast wörtlich mit der Vorlage übereinstim-
mende Josephus (XII § 90 f.) nimmt statt dessen die weniger rare Bezeichnung
ßißXiov :
Jos. XII § 91 xeksitrag ok zä
ßtß Äux 8ouvat zolg im z^g zd^sojc^
zoze zoug dv8pag rjfT7:daazo.
Aristeasbr. § 179 xBXeoaag 8k
elg zd^tv d7:o8ouwit zä zs6j(rjy zo
ZTjvtxdrjza daTzaadpevog zoug äv8pag
eine.
Zu den beiden Aristeasstellen vgl. übrigens auch die zutreffende Bemerkung
von Zahn, Gesch. d. n. K. I S. 66 f.
40) Birt (S. 90 ff.) hat für zeuyog = codex eine ähnliche Grundbedeutung
angenommen, wie sie bei den mittelalterlichen Sammelkodcxnamen pandectes und
bibliotheca (vgl. Wattenbach ^ S. 152 ff. 156 f.) thatsäcblich feststeht: capsa oder
Rollenbehälter. Blass (Handb. I ' S. 338 u. A. 3) und Thompson (Palaeogr. ^ S. 55)
pflichten ihm bei trotz Rohdes (S. 1549 m. A.) Einwurf, dass *für zeu/og als capsa
jedes Zeugnis fehle'. Von der Birtschen Deutung sind auch die Vorschläge Land-
wehrs (Arch. S. 429 'grössere Raumeinheit' — trotz S. 428) und Dziatzkos (Unters.
S. 134 A. 2 'Hülle, Band') nur scheinbar verschieden. Hüten muss man sich vor
allem, dem Worte einen Kollektivbegriff zu vindizieren. Dass es im Gegenteil ur-
sprünglich eher einem kleinen Faszikel mit einer Piinzelschrift gilt (vgl. u. a.
J/evzdzsuyog und dazu Zahn S. 66), tritt gerade in den ersten christlichen Jahr-
hunderten deutlich hervor (s. auch A. 69). Nehme ich hinzu, dass zeuyog von Hause
aus *ein allgemeiner Ausdruck für Buch' (vgl. Wattenbach S. 152) ohne Ansehen
der Form war, so wird mir ein verengernder Übergang von dem allgemeinen Sinn
'Schreibzeug, Schreibmaterialien' zu dem spezielleren 'Schreibstoff, Schreibmaterial'
NEUE IIEIDELB. JAHRBUECHER XII. 12
174 ^* A. Gerhard und 0. Gradenwitz
wahrscheinlich, zumal ich Spuren einer analogen Entwicklung bei fpamLaTtiov
zu linden meine. Zahns (S. 67 A. 1) Auffassung von Teü^og (vgl. (Txeuog) als 'Ge-
rät, Werkzeug' (vgl. paratura, instrumentum = *Litteratur') krankt m. E. an allzu
ungreifliarer 'Weitschichtigkeit'.
41) Anthol. Pal. IX 239, Nr. XXIX S. 85 Rubensohn, v. 1 f. Oiß?.€0)^ ^ y^jj-
xEfiTj hypixibv hÄ Ttdyti rw8e \ Tzei^räq äfUfiY^Tcov epya <pip£i yapiTtov,
Auch die Interpretation dieser Verse stand im Bann des Irrtums, Tsuyog bezeichne
notwendig den Kodex. Für einen Pergamentkodex entschied sich in unserem Fall
Rohde (S. 1548 f.), Landwehr sagt der Papyrnskodex besser zu (Anz. S. 372 f.,
Arch. S. 428). Eben um jenem vermeintlichen Zwang zu entgehen, hatte Birt (S. 89 ff.)
seine Zuflucht zur Rollenschachtel genommen. Freier blickt erst Zahn (S. 67 A. 1)
mit der Erkenntnis, die fünf AnakreonbQcher 4n einem Bande' könnten 'eine zier-
lich geschriebene Papyrusrolle' gewesen sein.
42) Vgl. A. 28. dipfifiTa yap zä ix Ttpoßdrio)^ aTioHoaQ eeg hzzou
lazeike toIq '^ P(o/iaiocg za XtYupvja nap* adztng pipßpai^a (Lydus) —
e;if (hp/idzMif exa/ie pepfSpävag xat iTrocT^as ztw ^ Azzah)\f d7roaz£t/.at
fVjzaQ etQ ' PwuTjv (An. Boiss.).
43) Hippaza zä ix Tipoßdziov d7Ta$i(Tag eig ^STtzov vgl. A. 28. 42.
44) Birt, Buchw. S. 52, Marquardt * S. 819 A. 2, Blass I > S. 336, Thompson '
S. 36, Wattenbach ' S. 113 f. m. A. 2. Seit dem Ende der Republik brauchte man
den damals doch bereits mit dem Begriff der Kodexform verknüpften Namen mem-
branae daneben meist auch noch von jenen alten Pergament rollen. Membrnnas
Pergami repertas hörten wir ja z. B. Plinius aus Varro zitieren (A. 27). Die Kun-
digen wussten Bescheid. Einer ganz korrekten Bezeichnung wie volumina in mem-
brana bedurfte höchstens die Definition des Juristen (A. 11). Umgekehrt wurde das
ursprünglich nur den Lederrollen gebührende Wort di(p6ipai unbedenklich nicht
allein auf die Pergamentrollen (vgl. z. B. Galen A. 38 ; Thompson S. 35 f.), sondern
selbst auf die Pergamentkodizes übertragen. Ein vermutliches Beispiel aus Cicero
wurde oben (A. 10) angeführt. Ein andres aus Libanios giebt Birt, Buchw. S. 503.
45) Vgl. ausser den griechischen Stellen ( A. 28) Hier. ep. VII (22 Sp. 339 Migne)
Chartam defuisse non puto, Aegypto ministrante commercia. Et si alicubi PtoUh
maeiis maria clausisset, tarnen rex Ättalus membranas a Pergamo misercU, tU
penuria chartae pdlibus pef^saretur, Unde et Pergamenarum nomen ad hunc
usque dient, tradente sibi invicem posteritate, servatum est,
46) Berl. phil. Wochenschr. XXI (1901) Sp. 686 (Rezension von Dziatzkos
Unters.).
47) Besonders eifrig focht für die Gleichberechtigung des Papyrnskodex Land-
wehr, Anz. S. 368, Arch. S. 420, derselbe, der sich anderwSrts im direkten Gegensatz
dazu veranlasst sieht, Mie Membrane' als ^die Brücke' zu betrachten, 'über welche
das Kodexformat sich Eingang verschaffte'. Neuerdings geben U. v. Wilamowitz-
Möllendorff (Gott. gel. Anz. 1900 S. 30) und R. Wünsch (Sp. 690 s. A. 46) dem Ge-
danken an des codex chartaceus Selbständigkeit Raum.
48) Vgl. Schwarz a. a. 0. S. 140 (IV 7). N. Alianelli, Dei lü>ri presso % Ro-
mani. Cenni storici, Vortrag. Napoli 1866 S. 7. W. Crönert, Denkschr. betr. eine
deutsche Papyrusgrabung, Bonn 1902 S. 4. S. auch Kenyon, Paläogr. S. 19 f.,
Wilcken, Archiv I S. 366.
49) P. Brit. Mus. 126 in Kcnyons Classical Texts 1891 S. 81 ff. mit p1. VI,
vgl. dess. Verf. Palaeogr. S. 25. 105 f. 116. S. auch Birt, Buchw. S. 120 A. 8.
Ein neuer juristischer Papyrus der Fleidclberger Universit&tsbibliotbek 175
50) Vgl. meine Bemerkungen zu der im Druck befindlichen Ausgabe von Deiss-
mann (Heidelberg C. Winter) S. 3.
51) S. die eben erscheinende Publikation von G. Schmidt.
52) Kodizes anzunehmen traute er sich nur bei ^sicherer Faltung' (Unters.
S. 143 f.). Alle übrigen opisthographen Papyrusfragmente litterarischen Inhalts (ein-
seitig beschrieben ist bloss die Achmimer Homerparaphrase S. 218 Nr. 32 Haeberl.),
fQr welche die Herausgeber mit gutem Grund die gleiche Diagnose gestellt, zählte
er lieber seinen Bl&tterhaufen zu (S. 128 f.). Durch ein Versehen erscheint darunter
sogar die nachher (S. 145 ff.) von ihm ausdrQcklich als Ghartakodex anerkannte
Berliner 'Affrjvalwv floXiTeia (S. 34G Nr. 102 Haeberl.). BezOglich des Genfer
Menander (S. 127 f.) hat Dziatzko seinen Zweifel an der Kodexform im Nachtrag
(S. 206) noch selber eingeschränkt.
53) Proben bieten die Ascensio lesaiae der Sammlung Amherst (I 1 S. 2 mit
pl. III— IX) 8. Y/YI und die Heidelberger Septuaginta (A. 50) vgl. S. 3 f. u. Taf.55f.
54) Vgl. Schwarz S. 152 f. (IV 11); Wattenbach S. 105. 149 (Papier).
55) Vgl. ü. Wilcken, Die Achmtm-Papyri in der Bibliothöque Nationale zu
Paris, Sitznngsb. d. Berl. Ak. 1887 II S. 807.
56) Vgl die Aseensio lesaiae (A. 53) S. 2. Einen Stoss erfährt also das ver-
meintliche Sondergesetz des Papyruskodex (Abwechslung von Rekto und Verso).
Vergl. ausser meinen Notizen zur Heidelberger LXX — Ausg. S. 3 m. A. 5 W. Weinberger,
Bnrsians Jahresb. 106 (1900 III) S. 184. S. auch Dziatzko, Unters. S. 144 A. 1.
57) W. Weinberger, Zeitechr. f. öst. G. 52 (1901) S. 41. GrQndlich widerlegt
haben die Funde jedenfalls die schon in Dziatzkos Unters. (S. 143) vermiedene
Ansicht (Kenyon, Palaeogr. S. 24 f., W. Grönert, Denkschr. S. 4) von des Papyruskodex
später Entstehung und geringer Verbreitung. Vgl. Grenfell und Hunt, P. Oxy. II
S.2f.
58) 8. III/IV Hsg. von ü. Wilcken a. a. 0. (A. 55. 52) S. 816 ff. vgl. 809.
59) Hsg. von K. Wessely, Mitt P. R. II/III (1887) S. 76 ff., bei Haeberlin
S. 274 Nr. 71.
60) Grenf. U (1897) 111 S. 161 Z. 27 f. ßißiia depndrt{va) xa \ ofxoi(a}Q)
'/apxia y. Vgl. Haeberlin, G. B. 14 (1897) S. 475 f. Nr. 175, Dziatzko, Unters. 8. 137
A. 1, Delssmann, Heidelb. LXX S. 7 A. 3.
61) Es neigt dazu Dziatzko, Unters. S. 128. 143. 153, der sich (S. 128) auch
aber die technische Zusammensetzung der Papyrusdoppelblätter und die dadurch
ermöglichten Buchformate nicht klar ist. Vgl. meine Bemerkungen (A. 50) S. 4 f.
Über Foliohandschriften auf Papyrus s. W. Grönert, Beil. z. Allg. Ztg. 1903 Nr. 44
(24. Febr.) S. 351 f. -~ Fflr die allgemeine Frage nach den Schreibmaterialien dürf-
ten unsre Notizen zum Chartakodex genugsam erwiesen haben, dass Kenyons
(Palaegr. Kap. VI iht transüion to vellutn, vgl. dazu U. Wilcken, Archiv I S. 370)
Vorstellung, seit dem vierten Jahrhundert sei für litterarischc Zwecke der Papyrus
fast ausnahmslos und mit einem Schlag dem Pergamente gewichen, etwas zu weit
ging. Diesem Urteil mangelt m. E. eine rechte Schätzung des Wertverhältnisses
beider Stoffe (vgl. A. 6. 19). Was Kenyon (S. 25. 119) bloss den Kopten einräumen
wollte, gilt in Wahrheit nicht allein von allen christlichen Werken, sondern in ent-
sprechendem Massstab auch von der klassischen Litteratur — in andern Gegenden
(vgl. Birt, Bnchw. S. 121 ff.) sowohl als besonders in Ägypten.
62) Vgl. K. Zangemeister's Bearbeitung der Wachstafeln aus SiebenbQrgen
(CIL III 2) und Pompeji (IV Suppl. 1). Für griechische Ilolztafeln aller Art s. die
Angaben von W. Weinbergor, Burs. Jahresb. 98 (1898 III) S. 191 und 106 (1900 III)
S. 182.
12*
1 76 0. A. Gerhard und 0. Gradenwitz
63) Vgl. W. Crönert's und C. Schmidt's regelmässige Berichte im ArcB? far
Papyrusf. C. Hacberlin's ^Griechische Papyri', C. B. 14 (1897) S. 6 und M. Ihm'a
'Lateinische Papyri', C. B. 16 (1899) S. 341—357 (vgl. z. B. S. 348 A. 3) hatten die
Pergamente leider noch beiseite gelassen.
64) Vgl. Schwarz S. 155 ff. (IV 13), Wattenbach » S. 176 ff.
65) Ungegründet ist hier (XIV 184) Haeberlins Annahme von der Verteilung
des Homer auf zwei Bände: C. B. VI (1889) S. 482 m. A. 3.
66) Hsg. von C. Wessely, Hesiodi carminum fragmenta antiquissima, Stud.
z. Palaeogr. u. Papyrusk. I (1901) S. III ff. W. Crönert, Archiv f. Papyrusf. II (1903)
S. 347 spricht irrtümlich von einem Pergamentbuch.
67) Vgl. Birt, Buchw. S. 117 m. A. 6, Zahn, Gesch d. n. K. 1 S. 62 f. m. A 1.
68) S. Birt S. 122 f. A. 1, Zahn I S. 75 A. 2.
69) Zahn a. a. 0. wird dem Kodex als biblischem Einzelbuch nicht gerecht,
vgl. oben A. 40. Die zu seiner Anerkennung^ nötigenden Zeugnisse schwächt er ab. So
meint er z. B. bezüglich des vor 250 von den heiligen Handschriften üblichen Ter-
minus fi)^TiYpa(pa S. 69 A. 2 : 'Es hat nichts zu bedeuten, wenn der Ausdruck oft
so lautet, als ob die 'Abschriften' nur je ein biblisches Buch umfassten' etc. —
Wer vom Ausseren der frühen altchristlichen Bücher ein Bild gewinnen will, rauss
in Zukunft auch mit der Kodexform rechnen als wichtigem Faktor neben den Fragen
des Stoffes und der Schrift. Der letzteren Bedeutung für die Textgeschichte hat be-
reits Kenyon gelegentlich (Palaeogr. S. 92 f.) gewürdigt. Seine neueste interessante
Arbeit über den Gegenstand (Handbook to the textual criticism of the New Testa-
ment 1901, vgl. S. de Ricci, Revue des et. gr. XV 1902 S. 422) ist mir leider nicht
erreichbar. — Erwähnung verdiente noch ein naheliegendes Problem. Welche Stel-
lung nahm das altchristliche Bachwesen zum jüdischen ein P Eine überraschende
Antwort darauf gicbt Ludwig Blau in seinen anregenden 'Studien z. althebr. Buch-
wesen und zur bibl. Litteraturgeschichte' (25. Jahresb. der Landesrabbinerschule in
Budapest, 1902). Wie er selbst auf klassischem Gebiet die Scheidung der Gruppen
'Rolle— Papyrus' und 'Kodex — Pergament' beanstandet (S.38 f. 43) und den griechisch-
römischen Gebrauch des letzteren Stoffes auf orientalisches Master zurückführen
möchte (S. 82 f.), so behauptet er solchen Einfluss besonders nachdrücklich für die
Volumina der Christen (8. 43 ff.). Aus Pergament und jüdisch, nicht, wie man
glaubt, aus Papyrus und griechisch sollen die Rollen sein, die sich auf christlichen
Darstellungen finden. Schon unsere Nachweise über den unjüdischen christlichen
Kodex hätten die Hypothese widerlegt. Man kann sich aber auch diurch allgemeine
Erwägungen von ihrer Unhaltbarkeit überzeugen. Der Charakter des hebräischen
und der des urchristlichen Schrifttums sind grundverschieden. Dort haben wir einen
in konservativer Heiligung erstarrten Kanon mit übertriebener Betonung des for-
mellen Moments und peinlich minutiöser Regelung von Buchtechnik und Schrift,
hier aus der Fülle intensiven innerlich religiösen Lebens quellende und zunc'&chst
nur fürs praktische Bedürfnis der Gegenwart berechnete, zwang- und anspruchslose
Aufzeichnungen, die aufs Äussere keinen Wert legen und sich mit dem bescheiden-
sten Gewände begnügen. Für sie erschienen einzig passend die billigen und beque-
men Bücher der hellenistisch-römischen Welt, in deren Mitte der neue Glaube em-
porwuchs. Zu einer Nachahmung des schwerfälligen mosaischen Lederrollensystcms
bestand in den Anfängen des Christentums so wenig ein Anlass wie später, wo das
'neue Testament' selber der Kanonisierung verfiel. Griechisch sind also die chariae
der christlichen Bilder und übernommen von griechischer Kunst. Die Rolle ward
darin sicher auch dann noch geraume Zeit beibehalten, als daneben die Faltform
thatsachlich bereits festen Boden gewonnen hatte.
£iD neuer juristischer Papyrus der Heidelberger Universitätsbibliothek 177
70) Vgl. Schwarz S. 166 ff. (IV 17), Geraud 8. 138 f., Wattenbach S. 386 ff. 62,
s. auch Dziatzko, Unters. S. 109 A. 2.
71) Vgl. Schwarz S. 155 (IV 12), Geraud S. 141 f. S. auch z. B. Dziatzko,
Unters. S. 127 f. 129 A. 1, Birt, C. B. 17 (1900) S. 561 A. 1.
72) Bemerkt und durch Sammlung der Beispiele aufgezeigt von W. Stude-
mund, Ausg. von Seneca, Quomodo amicitia continenda sit und De vita patris
vor 0. Rossbach, l)e Senecae philos. libr, rec. et «w., Bresl. phil. Abb. II 3 (1888)
S. VI ff. A. Vgl. Blass, Handb. I * S. 325 und Dziatzko, Unters. S. 200 f.
73) Vergl. W. Wattenbach, Über die Hamiltonsche Evangelienhandschrift,
Sitzungsb. d. Berl. Ak. 1889 I S. 143—156 bes. S. 146.
74) Dziatzko, Unters. S. 200; ähnlich schon Wattenbach (A. 73) S. 146.
75 9. III Oxy. I 30 (Historischer Pergamentkodei, s. oben S. 145) mit pl. VIII,
darnach Wcss. Taf. XX Nr. 48. Vgl. Dziatzko, Unters. S. 200.
76) s. I Die Genfer Ärchives militaires (1900), ca. 143 Wess. Taf. V Nr. 9
(Wiener Soldatenmatrikel), a. 156 Wess. Taf. III Nr. 6 (Berliner Soldatenmatrikel),
8. ni Wess. Taf. XVI Nr. 23 (vgl. A. 77).
77) Als ter minus ante quem galt meist das Jahr 494 nach der subscriptio
des Codex Mediceus (Laur. 39, 1), Faksimile: Z(angemeister u.) W(attenbach),
Exempla T. 10, Palaeographical Society I 86, darnach Wess. Taf. XVII Nr. 38,
vgl. Thompson, Palaeogr. S. 188 f. Besonders lehrreich für die Schwierigkeit der
chronologischen Fixierung ist ein audrer der alten Kapital virgile, der sogenannte
Codex Romanus (Vatic. 3867). Faksimile: Z.-W. 11, Pal. See. I 113, darnach Wess.
Taf. XV Nr. 34, jetzt: Codices e Vaticanis selecti phototypice expr. iussu Lemm
PF. XIII, Vol. II Picturae ornamenta complura scripturae sjtecimina codicis
Vat. 356*7 etc. phototypice expr. consilio et ojjera curatorum biblioth. Vatic. Rom
1902. Nach den schwankenden Urteilen der P'rühcren (vgl. Dziatzko, Unters.
S. 181 f. 189 A. 5) hatte ihn C. Wessely noch 1901 ('Über das Alter der lateinischen
Kapitalschr. i. d. Fragm. Nr. 23 der Schrifttaf.' etc. : Stud. z. Palaeogr. und Papy-
rusk. I S. I f.) auf Grund jener mit griechischer Kursive vom Endo des dritten
Jahrhunderts zusammenstehenden Papyruskapitale (Tafel XVI Nr. 23 vgl. A. 76)
unter 'Lösung der Streitfrage um das Alter der eckigen Majuskelschrift' früh (s. III
— IV) ansetzen zu dürfen geglaubt. Inzwischen aber wurde er von L. Traube, Das
Alter des Codex Romanus des Virgil (Strena Ilelbigiana 1900 S. 307 — 314) wegen
gewisser Abkürzungen (Kontraktionen) fürs sechste Jahrhundert in Anspruch ge-
nonamen. Die römischen Herausgeber der phototypischen Reproduktion (s. o., praef.
S. lll f.) gingen wieder gerne um ein Jahrhundert weiter zurück.
78) Cod. Vatic. 3225 s. IV/V. Faksimile: Z.-W. 13, Pal. Soc. I 116 f., darnach
Wess. Taf. XVI Nr. 86. Neue vollständige Faksimilierung : vol. I (Rom 1899) der
eben (A. 77) erw&hnten päpstlichen Serie.
79) Vollzogen ist der Wandel schon in dem Brieffragment vom J. 167 bei
Grenfell II 108 S. 157 f. m. pl. V (darnach Wess. Taf. V Nr. 10). Vereinzelt er-
scheint die neue Form auch in dem Soldatenbrief des zweiten Jahrhunderts Oxy. I
32 S. 61 f. mit pl. VHI (darnach Wess. Taf. XX Nr. 50), durchweg a. 293 Grenf. II
110 S. 159 f. (Quittung) mit pl. V. Über ihr Vorkommen auf den Wachstafeln vgl.
Zangemeister, CIL III S. 965. Im Kampfe liegen beide Charaktere noch in dem in-
schriftlichen Diokletianedikt vom J. 301 (Pal. Soc. II 127, darnach Wess. Taf. VI
Nr. 13). Den älteren bieten im dritten Jahrhundert auch die bereits zitierten Stücke
Oxy. I 30 [Historiker, Kapitale mit unzialen (kursiven) Elementen, s. A. 75] und
Fay. X [mandatum Traiani, Kursive, s. A. 3].
80) Some observations and ex^ieriments on the papyri found in the ruins of
Herculaneum. Philosophical Transactions 1821 S. 191—208 mit pl. XIII. XVI. XVII.
178 6* A. Gerhard und 0. Gradenwitz
XVlIIa = pl. III. VI. VII. Villa bei Edward Edwards, Memoirs of libraries I
(Lood. 1859) zu S. 72. Vgl. Zangemeister, enarratio zu Taf. III der Ezempla S. 1,
Watteobach a. a. 0. (A. 73) S. 146.
81) Rnstike Kapitale: Davy XVI, Z.-W. 1. 2a. 3 (BtUum Actiacum, vgl.
jetzt die nach Hayters Stichen gefertigten besseren Tafeln A — U bei W. Scott,
Fragm. Herculancnsia, Oxf. 1885) — Somikursive: Davy Xllf. XVII a, Z.-W.
2b. Davy XVIIc — Kursive: Davy XVIII a. XVIIb, Fay. X.
82) Dieses zeigt beispielsweise auch der Turiner Codex Theodosianua Nr. X
bei Studemund (A. 72).
83) Begegnend auch in den oben (Nr. 11) erwähnten Frafftnenta Sinaitica.
84) Vgl. Thompson, Palaeogr. S. 199 f.
85) 8. V Oxy. I 31. Faksimile: pl. VIII, darnach Wessely Taf. XX Nr. 49.
86) Z.-W. Suppl. 54. Vgl. Thompson, Palaeogr. S. 199, Mommsen, grosse Di-
gestenausgabe I praef. S. XX VII.
87) Faks.: Pal. Soc. II 130, darnach Probe bei Wess. Taf. XX Nr. 46 (durch
ein Versehen mit 45 bezeichnet).
88) Erschöpfende Aufzählung bei Studemund (A. 72).
89) Z.-W. 24, bei Wessely Taf. XIX Nr. 40.
90) Taf. 1 in Band II der Mommsenschen Dig. — Bis Buch XIII (1. 7) reicht
bereits die neue italienische Lichtdrnckausgabe der Handschrift: lustiniani Au-
gusti Digestorum seu Pandectarum cod. Hör, olim Pisanua phototypice expr.
Vol. I fasc. I. II. A cura ddla commissione miniateriak per la riproduzione deüe
Pandette. Roma 1902.
91) Pal. Soc. II 108, darnach Wessely Taf. XVIII Nr. 39.
92) Als kursive 8 fasse ich jetzt lieber die Buchstabenreste am Ende von
Z. 27 und 28 der Vorderseite.
93) Vgl. Mommsen, Dig. I praef. S. LXXXXII.
94) Über die Zeilenlänge in juristischen Handschriften vergl. P. Krflger's Za-
sammenstellungen, Sav.-Z. VIII 1887 R. A. S. 83 f.
95) Vgl. die ülpianstelle oben, [ex bonis patris intestoH mortjui ? Gradenwits.
96) Auch vom zweiten a ist der untere Schlusspunkt erkennbar.
97) Vgl. z. B. Dig. XIX 1. 13 pr. (Ulpian) ait enim (lulianua), qui pecus
morboaum aut tignum vitioaum vendidit, ai quidetn ignorana fecU, id tatUum . .
praeataturwn etc., ai vero aciena reticuit et emptorem deeepü, omnia detrimenta
. . . praeataturum ei.
98) Vgl. z. B. Dig. XXXVI 1. 59 § 1 (Papinianus) fidei ßiarum meorum
cofumiUo, ut, ai quia eorum aine liberia prior dient auum obierit, partem auam
auperatUi fratri reatüuat, quod ai uterque aine liberia dient auum obierit, omnem
hereditatent ad nepiem nteam Claudiam pervenire volo,
99) Vgl. etwa Dig. XXXI 77 § 32 (Papinianus) A te peto, marUe, ai quid
liberorum häbueria, iüia praedia relinquaa, vel, ai non habueria, tuia aive weis
propinquia aut etiam libertia noatria,
100) A. a. 0. (A. 72) S. VIII A. g. E.
101) Notae Papianae et Einsidlenses in Tb. Mommsen's Notarum latercuU,
Keils Grammatici Lat, IV (1864) S. 327 q 48 — qs : Notae Magnonianae S. 298 q 11.
102) Notae Vaticanae S. 312 q 5.
103) Notae Lindenbrogianae S. 298 q 10.
104) Notae Lugdunenses S. 280 q 1, Notae Vaticanae S. 312 q 33, Studemunds
Gaius (1874) S. 292, Mommsens Fragmenta Vaiticana (Abb. Berl. Ak. 1859) S. 387.
105) Jßleich qui nur Notae Einsidlenses S. 327 q 47.
106) q • = qui allein Notae Magnonianae S. 298 q 14.
107) Als qui nur im Berl. Papinian (s.o.S.154), Monatsb. Berl. Ak. 1879 S. 515.
Ein Deuer juristischer Papyrus der Heidelberger Universitätsbibliothek 179
II. Juristische Bemerkungen von Gradenwitz.
Das vorstehend entzifferte und behandelte Fragnaent spricht von
einer quarta. Das Viertel spielt im römischen Erbrecht eine Rolle in
mehrfacher Hinsicht, es ist ein Bruchteil, welcher der freien Verfügung
des Testators entzogen und einem Berechtigten reserviert ist:
1. Als quarta Falcidia: Der Erblasser, dem mehrere Personen
teuer sind, kann nicht nur mehrere Erben auf Bruchteile einsetzen ; er
kann auch einen auswählen, der Vollerbe sein und den Anderen, dem
Testator nahestehenden, als Vermächtnisnehmern, Wertobjekto aus der
Erbschaft ausfolgen soll. Dann ist mit den Vermächtnissen der Erbe
beschwert, der Vermächtnisnehmer bedacht. Wird die Erbschaft durch
die Vermächtnisse ganz ausgeschöpft, so dass für den Erben nichts
bleibt, so ist das ein Missbrauch, der zur Folge haben wird, dass der
eingesetzte Erbe die Erbschaft ausschlägt, und es tritt dann der nächst-
berufene, eventuell der Intestaterbe an dessen Stelle. Dabei kann das
Becht verschieden reagieren: unser B.6.B. fasst die Vermächtnisse als
eine dem Erben als solchem obliegende Last und verpflichtet jeden
(auch den Intestat- oder, wie es ihn nennt, gesetzlichen Erben) die
Vermächtnisse zu tragen. Das römische Becht fasst die Vermächtnisse
als nur zu Lasten des Eingesetzten bestehend auf (a scripto herede =
von ihm weg, legatur), und lässt in Folge dessen die Vermächtnisse
ausfallen, wenn der eingesetzte Erbe ausschlägt und das Testament zum
testamentum destüututn wird. Es entsteht daher für das römische Becht
eine Schwierigkeit, die dem heutigen fremd ist: wenn der Erbe schier
die ganze Erbschaft an Vermächtnisnehmer weitergeben soll und also
auf die Bolle eines Testamentsvollstreckers herabgedrückt wird, so wird
er in den meisten Fällen die Erbschaft ablehnen : dann aber fallen nach
römischem Becht auch die Legate fort, und die übergrosse Sorge für
die Vermächtnisnehmer schafft das Gegenteil des Erstrebten. Gegen diese
Gefahr hat das römische Becht nach zwei, uns von Gaius II 224 ff.
überlieferten Anläufen eine Sicherung darin gefunden, dass die Lex
Falcidia (tit. D. 35, 2, vgl. Z. 4 d. Textes) dem Erben das Becht gab,
unter allen Umständen ein Viertel seines Erbteils für sich zu behalten,
und also die Legate nötigenfalls verhältnismässig zu kürzen. Wenn der
Testator 1000 im Vermögen hatte und 950 (etwa 570 + 380) an Ver-
mächtnisnehmer vergab, so behielt der Erbe 250 für sich und zahlte
nur 750 (450 + 300) aus.
180 G- A. Gerhard und 0. Gradenwitz
Diese Bestimmung der Lex Falcidia^) vom Jahre 40 vor Christus,
iu der Durchführung eine der schwierigsten des Privatrechtes, war noch
im gemeinen Kecht in Geltung. Das B.G. B. hat einen solchen Salz
nicht, denn es braucht ihn nicht, weil es, wie oben angeführt, die Ver-
mächtnisse als im Zweifel jedem Erben, auch dem gesetzlichen, auferlegt
ansieht. *)
2. Die Quart blieb den Kömern als geeignete Belastungsgrenze im
Sinne: Kaiser Antoninus Pius gestattete es, auch Unmündige zu adro-
gieren, was bis dahin wegen der Gefahr für des adrogandus Person und
Vermögen nicht zugelassen wurde. Da umgab er diese adrogatio mit
Sicherungen, und zu diesen gehörte, dass der adrogandus einen unent-
ziehbaren Anspruch auf den vierten Teil des Vermögens des adrogator
haben solle, wenn dieser stürbe, bevor der adrogatus das Alter der
Mündigkeit erreicht habe: quarta divi Pii: die quarta ist die Grenze,
bis zu der die freie Verfügung des adrogator reicht.
3. Als die Centumvirn ein Testament für lieblos und anfechtbar
erklärten, das den Nächsten nicht einen Teil des Vermögens liess,
wählten sie als Teil die quarta, und erst Justinian hat diese quarta
erhöht auf V« bezw. Va-
Für unsern Papyrus scheint auf den ersten Blick die quarta Fol-
cidia in Betracht zu kommen, deren Ergänzung Aufgabe des Richters
ist: allein schon das könnte nur durch die Einzelheiten eines Rechts-
falles erklärt werden, dass gerade der Sohn es ist, der, wenn er minus
quarta erhalten, zur Quart aufzubessern sein soll, und es zeigt auch die
Übertragung auf die Enkel und Urenkel, dass hier ein besonderes Familien-
erbrecht, nicht aber das allgemeine Recht eines heres in Frage kommt. Die
quarta divi Pii ist aber nicht nur dadurch hier unwahrscheinlich, dass
von Enkeln die Rede, da doch der adrogatusy um die quarta zu bean-
spruchen, vor der Geschlechtsreife den pater adrogator verloren haben
muss, sondern es würde auch wohl vom adrogatus, nicht lediglich vom
filiusj nepos u. s. f. die Rede sein, wenn dieser Fall in Frage käme.
Somit bleibt für unsern Papyrus nur die Annahme, dass er ein
Bruchstück aus einer Erörterung über die quarta des inoffiziösen Te-
1) Abwandhmgen der quarta Falcidia bei Uoiversalfideikommissen bietet
Paul. IV 2. 3.
2) § 2161 : Ein VermächtDis bleibt, sofern nicht ein anderer Wille des Erb-
lassers anzunehmen ist, wirksam, wenn der Beschwerte nicht Erbe oder Vermächt-
nisnehmer wird. Beschwert ist in diesem Falle derjenige, welchem der Wegfall des
zunächst iJeschwerten unmittelbar zu statten kommt.
Ein neuer juristischer Papyrus der Heidelberger Universitätsbibliothek 181
staments bietet, und es mag* hervorgehoben werden, dass die beiden
Heidelberger Stöcke, die Paulusreste (P. Heid. 1272) und unser Frag-
ment, von demselben Bechtsinstitut handeln.
Der kleine Ausschnitt zeriallt sachlich in zwei Teile, deren erster
sich mit der Frage beschäftigt, wie es zu halten sei, wenn der Sohn
zu wenig bekommen hat, der zweite überträgt die Bechte des wegge-
fallenen Sohnes auf den Enkel oder Urenkel nach dem Bechte der sog.
successio in stirpes. Wie wenig auch leider die Lesung vollständig und
lückenlos sein kann, so genügen doch die drei Worte minus, suppl ,
filius, um uns erkennen zu lassen, dass hier einem Sohne etwas, aber
nicht genügend hinterlassen ist, und dass er einen Anspruch zu haben
scheint auf Ergänzung bis zur Höhe der Quart.
Nun ist uns folgendes durch Justinian überliefert: 1. In Nov. 18c. 1.
hat er den Pflichtteil von V4 ^^^ Intestatportion auf V31 bezw. Va er-
höht. ^) Da unser Stück von einer quarta spricht, so muss es zeitlich
früher sein, als Justinians Novelle. 2. In C. 3, 28, 30 sagt er, die
Vorzeit habe auch dann auf Vernichtung des Testaments erkannt, wenn
einem Pflichtteilsberechtigten wohl etwas, aber nicht der ganze Pflicht-
teil ^hinterlassen sei. Nur wer ausdrücklich in seinem Testament Er-
gänzungen bis zur Höhe des Pflichtteils vorschrieb, habe sich salviert.
Er, Justinian, erklärt diese ausdrückliche Klausel für überflüssig, viel-
mehr solle allemal angenommen werden, wer etwas hinterlasse, wünsche,
dass es event. bis zum Betrage des Pflichtteils ergänzt werde. Mit
diesem Bericht Justinians wurde schwer vereinbart die Stelle Paul. sent.
IV 5, 7,*) welche bei unbefangener Betrachtung kaum eine andere
Deutung zulässt, als dass, mindestens schon zur Zeit der Lex Romana
Visigothorum, die gleiche Begel galt; ja, die Fassung dieser Stelle und
die Bezugnahme auf die Erbteilungsklage machen es wahrscheinlich,
dass sie, unverfälschter Paulus, das Becht der Severischen Zeit wider-
spiegelt. Nun ist unser Fragment in seinem ersten Teil geradezu eine
Parallelstelle zu der zitierten Paulusstelle, und man wird nicht mehr
zweifeln dürfen, dass der Bechtssatz, dessen Erfindung Justinian sich
zuschreibt, schon von länger her datiert. Dies muss im allgemeinen
den Kredit von Justinians derartigen Äusserungen mindern. Es ist für
die Kontinuität und stetige Entwickelung des Bechts eine erfreuliche
1) Auch im B.G.B. beträgt der Pflichtteil 'ji.
2) Filius iudicio patris si minus quarta portione consecutus sit, ut quarta
sibi a coheredibus citra inofficiosi quereüam impleatur^ iure desiderat.
I
■ I
182 C}. A. Gerhard und 0. Gradenwitz
Erscheinung, wenn die Zahl der Neueningen, die wir noch Justinian
zuschreiben, sich in etwas verringert. Zu Gute kommen muss dies im
Allgemeinen der nachklassischen Praxis, Justinian wird, was sich bei
den Klassikern noch nicht fand, einfach als seine That auszugeben sich
für berechtigt gehalten haben. Jedenfalls ist der Sinn des ersten Teils
unserer Stelle der: Wenn der Sohn weniger als den vierten Teil seiner
Intestatportion bekommen hat, so ist dies zu ergänzen bis zum Betrage
der quarta. Man kann für das Formelle vergleichen: D. 5, 2, 8, 6:
quartam partem eius quod ad eum esset perventurum, si intestatus pater
familias decessisset; den Versuch wörtlicher Restitution wage ich nicht.
Die Erörterung geht sodann über auf den Fall, wo nicht Söhne,
sondern Enkel oder Urenkel vorhanden sind, und das Pflichtteilsrecht
nicht dem Vater, sondern dem Qrossvater bezw. Urgrossvater gegen-
über in Frage kommt. Es ist klar, dass in diesem Falle mehrere Enkel
zusammen nur soviel beanspruchen können, wie ihr weggefallener Vat«r,
der Sohn des Testators, für sich allein gehabt hätte, und die Worte
pro portione der vorletzten Zeile scheinen auf dieses Verhältnis hinzu-
deuten, obwohl der Singular nepoti vel pronepoti Bedenken erregt.
Man kann zum Vergleiche heranziehen D. 5, 4, 6, pr. : Sorori, quam
coheredein fratribus quattuor in bonis matris esse placuit^ quinta portio
pro portionibus quae ad eos pcrtinuit cedet, ita ut singnli in quarta^
quam antehac habere credebantur, non amplius ei quintam conferant und
allgemeiner: Paul, IV 5, 6: Qnartae j^orfioius portio liberis . .praestanda
est. Hiernach würde in der zweiten Hälfte unseres Fragments die That-
Sache erläutert sein, dass Enkel und Urenkel nach dem sogen. Bepräsen-
tationsrecht in die Quart des einzigen Sohnes succedieren. So aufge-
fasst, ist die Äusserung klar, aber nüchtern; will man einen feineren
Fall destillieren, so könnte man an den von Justinian in C. 3, 28, 34 behan-
delten denken: ein Vater enterbt den Sohn, übergeht dessen Sohn und
setzt einen Fremden ein. Wenn nun der enterbte Sohn nach dem Vater
stirbt, aber bevor der eingesetzte Fremderbe sich entschieden und dem
enterbten Sohn die Möglichkeit gegeben hat, seinerseits die Quart an-
zustellen oder wenigstens vorzubereiten, so ist, streng genommen, der
Enkel übel dran; denn das Kecht auf die Quart vererbt sich nicht.
Wäre der Sohn vor dem Vater gestorben, so hätte der Enkel die Quart
aus eigenem Kecht. Wie die Dinge in diesem Fall liegen, hat der
Enkel die Klage nicht aus der Person des Vaters, denn sie vererbt sich
nicht, und nicht aus eigenem Recht, denn da hatte sie der Vater.
Diesem Zustand hat Justinian ein Ende gemacht, indem er die querelb
Ein neuer juristischer Papyrus der Heidelberger Universitätsbibliothek 183
dem Enkel auch fär diesen Fall gewährt, so wie sie dem Vater zustand.
Es wird aber schwer sein, die vorhandenen Reste mit diesem kompli-
zierten Thatbestande zu füllen, und es scheint, dass nichts andres ent-
halten war, als die Ergänzung einer allzu schmalen Portion für den
Sohn zur Quart und die Feststellung der Thatsache, dass Enkel und
Urenkel auch ihrerseits im Verhältnis ihrer Intestatportion an dem
benefidum der Quart teilnehmen.
Unser Fragment ist anderweitig nicht erhalten, soweit ich habe
nachforschen können. Was die Zeit der Entstehung betrifft, so würde
es wohl gleichzeitig mit der Paulinischen Stelle angesetzt werden können,
vorausgesetzt, dass sich quarta danda unterbringen lässt, und dies lässt
sich bewerkstelligen, sowohl wenn man mit Herrn Dr. Gerhard cjedei
quarta danda eis ergänzt, als auch wenn man sjed et quarta danda est
vorzieht.
Ulrich Yon Hutteus Streit mit den Strassburger
Karthäusern.
Von
Ifans Rott«
Im Sommer 1521 rückte Franz von Sickingen auf die Aufforderung
Karl V. gegen den Herzog von Bouillon, Robert von der Mark und gegen
das sie unterstützende Frankreich in den Krieg. Derweilen hatte Hütten
auf der Ebernburg, wo er sich bis Ende Mai aufgehalten, lange Weile
bekommen, und sein unruhiger Geist suchte sich nach den ungestümen
Angriffen mit der Feder jetzt gelegentlich auch mit dem Degen und in
handhafter That Luft zu verschaffen. Sowohl gegen Bucer, der Hof-
kaplan bei dem flauen Friedrich II. von der Pfalz geworden, als auch gegen
Kapito war er entrüstet, über diesen auf Grund des falschen Gerüchts,
er hätte unter anderm Namen gegen die evangelische Sache gepredigt.
In solcher Zeit der Thatenlosigkeit und persönlichen Unmuts kam ihm
eine Beleidigung der Strassburger Karthäuser eben recht.
Euch den Prior und Convent klage ich an, so etwa lautet sein Brand-
brief an die Strassburger Karthäuser, dass ihr mich einen Ketzer gescholten
und infamer Weise verleumdet habt, auch in schwerem Verdacht be-
findet „an etlich meyner biltnus contrafedt, die ausserhalb meins bevelchs
uff papier gedruckt, mir zu veracht, schmach und hon zu seuberung un-
reyniger ewers leibs orten gebrucht zu haben, sonder alle schäm, helung
und schwew^.^) Geld konnte der arme Bitter der deutschen Nation und
des jungen Evangeliums immer brauchen, und in den Klöstern war noch
viel totes Kapital zu holen bei nachdrücklicher Begründung des An-
spruchs. Persönlicher Stolz und angestammte Rauf- und Raublust, die
Freude am kühnen Wagen und die Begierde, den Lieblingen seiner ersten
1) Böcking, Ulrich von Huttena Schriften II. 84.
Ulrich von Huttens Streit mit den Strassburger Karthäusern 165
Jugendtagen, den Mönchen, denen er recht sein fahrendes Leben ver-
dankte, wieder reichlich zu vergelten, all dieses trieb ihn gern hinter
den Bettelkutten her. Der Handel ist bekannt durch Straussens Buch,
das sich auf die Akten aus dem Strassburger Stadtarchiv stützt, die
allerdings von dem sonst so verdienstvollen Ludwig Schneegans in nach-
lässiger Weise abgeschrieben und in Niedners Zeitschrift für die histo-
rische Theologie und später bei Boecking zum Abdruck gelangt sind.
Hierzu hat sich ergänzendes Material im Münchener Beichsarchiv unter
Neuburger Akten gefunden. Wahrscheinlich ist es noch der letzte Rest
aus der Sickingischen Beute, an der Ott Heinrich als Teilnehmer parti-
zipierte,*) und unter welcher nachgewiesener Massen sich ebenfalls Hutten-
schriften befanden. Die beiliegenden Dokumente enthalten namentlich
Korrespondenz Billikans aus den 30er und 40er Jahren. Den auf den
Earthäuserhandel bezüglichen Schriften liegt ein gleichzeitiges Volkslied
bei, welches diesen kühnen Streit Ulrichs von Hütten verherrlicht, das
deshalb schon wichtig ist, weil es Huttens: Ich habs gewagt, bereits
im Beim verwendet. Der Sänger, wahrscheinlich ein Knappe aus
Huttens Begleitschaft, wenigstens einer von den Gesellen, die zu einem
lustigen Handstreich stets willfährig waren und wohl ein paar Mönche
lim ihre Ohren bringen konnten, nennt sich am Schlüsse selbst, Hans
Breuning. Abgesehen von einem Bruder Brenning ist in den historischen
Volksliedersammlungen nur ein Georg Breuning zu entdecken, der sich
selbst einen Weber aus Augsburg bezeichnet. Der Hans Breuning dieses
frischen Eeiterliedchens hat kaum etwas mit diesem zu thun.
Am 24. Oktober 1521 hatte Hütten drei Schreiben zugleich abge-
sandt, an Gregorius, den Prior der Freiburger Karthäuser, der damals
zugleich Visitator der rheinischen Provinz war, an die Strassburger
Karthäuser und an den Bat zu Strassburg.
Die Antwort des Freiburger Priors liegt jetzt vor in einem Schreiben
vom 1. November 1521. Er spricht darin sein Bedauern aus wegen des
Vorfalles und verheisst eine genaue Untersuchung der darauf bezüglichen
Anklage Huttens.')
Die Strassburger melden am 4. November, dass sie die Karthäuser
bereits vernommen hätten und stellen baldige Antwort in Aussicht, da
der jetzige Bote schon verritten ist.') Diese erfolgte in den nächsten
1) Salzer, Beitr. zu einer Biogr. Ott Heinrichs S. 18.
2) S. das Schreiben im Anhang.
3) S. das Schreiben im Anhang.
186 Hans Rott
Tagen, da Ulrich von Hütten in seinem Schreiben an den Strassburger
Rat vom 13. November schon darauf Bezog nimmt. Nur nngern und
aus Freundschaft zu Strassburgs Bürgerschaft will er sich auf einen
Tag und eine zu vereinbarende Malstatt einlassen, weil er sich zu sehr
von der Wahrheit des ihm zugefägten Unrechts überzeugt hält. Vom
20. November an will er acht Tage lang auf der Burg Wartenberg
verweilen, um mit den Strassburger Gesandten über die Angelegenheit
mit den Earthäusern zu verhandeln.')
Strauss berichtet in seiner Biographie Huttens von dem weitern
Verlauf des Streites nur auf Grund des Entwurfes einer Übereinkunft
und zweier Briefstellen bei Gerbel ') und Erasmus. Letzterer spricht in
einem Brief an Luther vom 8. Mai 1524 nur de extorta a Garthu-
siensibus pecunia.*)
Sowohl der Vertrag zwischen Ulrich von Hütten und den Kart-
häusern als auch die einseitige Ehrenerklärung, von der bei Böcking
nur ein teilweiser Entwurf vorliegt, ist im Münchener Reichsarchiv vor-
handen. Zwischen den Strassburger Abgesandten, Claus Knicbis und
Hans Bock, und den Vertrauensmännern Huttens, Wolf von Waldeck,
Konrad Kolb von Wartenberg, Keinhart von Rotenburg, Siegfrid Horn-
eck von Heppenheim und Hans vom Oberstein, war auf der Burg
Wartenberg verhandelt worden. Darauf bestimmte der Rat Strassburgs,
dass seine Karthäuser verpflichtet würden, eine Abbitte zu leisten und
Ehrenerklärung zu thun, Hütten es ausserdem in keiner Weise ent-
gelten zu lassen, dass er gegen sie vorgegangen war. Als Schaden-
ersatz für die bei dem Handel aufgelaufenen Kosten wird den Kar-
thäusern die Summe von 2000 Gulden an gutem, gewichtigem Golde
auferlegt, die sie dem Steckelberger Ritter auf eigne Gefahr nach
Wartenberg entrichten müssen. Darauf folgte dann die fl^rmliche An-
erkennung und Abbitte der Schuld von der Strassburger Karthause, die
feierliche Anerkennung von Huttens Ehrenhaftigkeit und die Beschwörung
einer Urfehde für ewige Zeiten.
1) Datnm des Briefs ist der 21. November, nicht wie bei Böcking II. 88 der 20.
2) Hattenus Cartbusianos, quia imagine siio pro anitergiis usi sunt, iu doobns
millibns anreornm nummum mnitavit Böcking II. 91.
3) Böcking II. 409.
Ulrich TOD Huttena Streit mit den Strassburger Karthäusern 187
Die Beilagen.
München Reichs-Archiv. Neuburg.
Religions- und Eirchensachen
Nr. 25 fol. 2. l.Nov. 1521.
Dem Edlen vesten und Strengen Herrn Ulrichen von Hütten meinem
günstigen lieben Hern.
Edler vester Strenger gunstiger lieber Her mein willig dinst und
gepett euch zuvor. Ewer schreiben hab ich mit beschwertem traurigem
hertzen verlesen und ist mir solch untzymliche misshandlung und
schmehung sonder so von mines Ordenspersonen solte beschehen hertz-
lichen und trulichen leidt. Darumb wil ich durch selbs auch durch das
gemein capittel unsers ordens darin handeln, damit die schuldigen ge-
strafft werden dermassen als sich gepurt und solchs und dergleichen
hinfur zu vermideu not erfordert. Darumb strenger lieber her ist mein
demütig und ernstlich bitt, wollent in der sach nit gaben, Ewers Standes
und gntten leymut und gerücht schonen und die unschuldigen der schul-
digen nit lassen entgelten. Will ich mit sampt dem gantzen charthuser
Orden gegen E. Strengheit in müglicher weyss zuverdienen alltzeit gut-
willig sein. Datum in der carthuss zu Friburg uff aller heiigen tag
im jar nach Christi unser lieben Hern gepurt tusent funffhundert und
in XXI.
Bruder gregorius
prior der karthus zu Fryburg.
M. Reichs- Archiv. Neuburg.
Religions- und Eirchensachen
Nr. 25 fol. 2. 4. Nov. 1521.
Wir philips von Ramstein der meister und der Rat zu Strasburg
Embitten dem Ernvesten und hochgelerten Ulrichen von Hütten, zum
Steckelberg dem Jungern, was wir freunntschafft und guts vermögen.
Ewer schreiben Ir uns die geistlichen hern prior Schaffnern und convent
der carthuser bey unser stat gelegen beruven haben (sie !), wir alles inhalts
verlesen auch ernante heren boren lassen und als ewer bot wegevertig
und der antwurt nit erwarten mögen, wollen haruff für uns des gleichen
die hern für sich selbs unser beyder antwurt bey eyner botschafft in
kurtz euch nit verhalten, sonder zuschicken, das wir euch nit bergen
weiten, dan euch lieb und freuntschafft zubewisen sein wir wol geneigt.
Datum mondag post animarum anno XXI.
188 Hans Rott
M. Reichs-Arcbiv. Neuburg.
ReligioDS- und Kirchensachen
Nr. 25 fol. 24. I.Dez. 1521.
Vortrag zwischen Ulrichen von Hütten unnd den Carthusern zu
Strasburg uffgericht.
Zu wissen sey menigklich, nach dem als sich etzwas spann und Un-
willen erhaben zwischen dem hochgelärten und Edlen hern Ulrichen vom
Hütten zum Steckelberg dem Jüngern an eynem, und den wirdigen an-
dächtigen Prior Schaffener und Convent der Carthus bey Strasburg ge-
legen zum andern, umb etzliche schmähwort, so die gedachten Prior
Schaffener und etzliche des Convents, dem vorgenanten hern Ulrichen
vom Hütten hinterwerticklich zugelegt, nämlich das sie In eynen Ketzer,
und abgesonderten von der heyligen Christlichen Kirchen gescholten, In
auch gezigen, das er Inen zwen münich Ires Ordens, uss Irem Kloster
mit gewalt entfürt sölt haben, weytter, das auch die selbigen Carthuser
seyn her Ulrichs vom Hütten etzliche Contrafact und biltnüs. Im zu
wider, unzimlicher weys, und mit mercklicher unzucht geschmäht, des-
halb der itzgenennt her Ulrich, den Strengen Ernvesten fursichtigen und
weysen, meyster und rat zu Strasburg geschrieben, sich Inhalt der selbigen
schrifft beklagt, unnd dar uff seyn rachbegirig gemüt eröffnet. Darnmb
die von Strasburg genante Carthuser erfordern lassen, und nach dem
sie die Carthuser uff die schrifft vorhört, haben sie beyden Partheien
zu gut, als die jhenen, so Unwillen und widerwertikeyt gern, so vil an
Inen vorkommen wölten, an genanten vom Hütten das er Inen in ge-
melter sach eyner gütlichen Unterhandlung vorvolgen wolle, bitlich ge-
sinnen, das der offtgemelt her Ulrich vom Hütten Inen den von Stras-
burg zu eren und wolgefallen fruntlich bewilligt, und Inen alhier gen
Wartenburg maistat zu sollicher Unterhandlung ernannt, daruff itz ge-
melt meyster und rat zu Strasburg, den Strengen und Edlen hern Hansen
Bock ritter, und hern Clasen Kniebis altstät und ammeyster Ire rats-
fründ, uff zinstag nach sanct Katherin tag abzureyten bevolhen, die
auch soUichs gethan, und uff freytag sanct Andres abent gen Warten-
burg kommen, da sie dan die selbigen zeyt, uns die nachbenanten,
Wolfen marschalck von Waldeck, Chunrad Kolben von Wartenburg
ßeynhart von Rotenburg, Sifrid Hornecken von Heppenheym und Hansen
vom Obernsteyu, an alles geferd funden, welche wir als uns angezeygte
sach, durch bericht beyder der geschickten von Strasburg, und auch herr
Ulrichs vorstanden. Haben uns, als die fridens und eynikeyt begirig
riricb von Huttens Streit mit den Strassburger Karth&usem 180
weytterer Unterhandlung, zwischen den gemelten geschickt und dem ge-
nanten vom Hütten, Im beyden zu gut, und fordernus der sach, ange-
nommen, in der wir nach vil reden und gegenreden, auch vilflussiger
gehaltener handlung, in guter meynung, zwischen Inen nachvolgender
massen abgeredt und bethedingt, das die obgenenten Carthuser, sollen
gemelten vom Hütten, zu ewiger seyner unschult erkäntnus, mit Iren
brifen sigeln und genügsamen wistumb, seyner angetasten Eren, gerüchts,
und guten leumuts öffentlich und gegen iderman entschultigen, und alles
bezigs frey und ledig sagen und schreyben, sich auch vorter sollicher
Schmähung, injurien und aller ungebür gegen Im, gentzlich und gar zu
enthalten, gereden und Versicherung thun. Und dem nach benantem
vom Hütten, diser sach halben etzwas mercklicher Kost uffgelauffen,
ist weytter durch uns betheidingt, das die gedachten Prior Schaffener
und Convent, Im h«rn Ulrichen für den selbigen Kosten und was er
des schaden oder unrat entpfangen bette, zwey tausent gülden, an gutem
wichtigem reynischem golt, uff Iren Kosten und abentewer, uff das schloss
Hohenburg im Wasgawe, bey Wegelburg gelegen, vorschaffen, und zu
nebst hin zwischen sanct Thomas des heylichen zwelfbotens tag, mit
sampt obenangezeygter schrifftlichen entschultigung und besigeltem
wistumb, an weyttere Verhinderung, überreychen und behändigen. Doch
ist das alles und jedes, wie obgesch rieben, den gesandten von Strasburg,
hinter sich an die Carthuser zu bringen, gütlich zugelassen, der mass,
das die selbigen Carthuser, gedachten vertrag in genanter zeyt, zu oder
ab schreyben mögen. Und hat genanter her Ulrich vom Hütten uff
heut dato für sich, sollichs frey begeben und zugesagt (so anders sollichs
zu geschrieben) darbey zu bleyben. Und so sollichs also angenommen
würde, so sollen sie der und aller Spann, Irrung und Unwillens gantz
vortragen und gericht seyn, deshalb keyn teyl an das ander anspruch
oder forderung nymmer mer zu haben, noch zu gedencken. Es sol auch
als dan zu erkäntnus unnd bevestigung solchs Vortrags zwischen beyden
teylen, brief und sigel uffgericht und übergeben werden. Das haben
wir obgemelten fünff vom adel, in guter meynung also abgeredt, und
des zu urkund, zwen gleychlautende brief, eynen den geschickten von
Strasburg, den andern Im hern Ulrichen vom Hütten gegeben, und die
mit unser zweyer, meyn Chunrads Kolbens von Wartenburg, und meyn
Sifrid Hornecks von Heppenheym, angebornen insigeln versigelt, das dan
wir genanten zwen also beschehen, hiemit bekannt haben wollen. Datum
nff den ersten tag des monats Deceraber, im jar nach Christi unsers
hern gepurt tausent fünfhundert und im oyn und zwantzigsten.
MEDE HEIDELB. JAHKBUECIIER XII. ]^3
190 Hans Rott
M. Reichs-Archiv. Neuburg.
Religions- und Kirchensachen
Nr. 25 fol. 24. 12. Dez. 1521.
Vorschreybung der Garthuser, so sie her Ulrichen über sich haben
gegeben.
Wir Martinus Prior, Burchardus Schaifener unnd das gantz Convent
der Carthusen bey Strasburg gelegen, bekennen öflfentlich und für ider-
mann. Nachdem der Ernvest und hocbgelärt her Ulrich vom Hütten
zum Steckelberg der Jünger, uns bey eym Ersamen rat zu Strasburg
beklagt, das wir der Prior Schaffener und etzliche andere. In an seynen
Eren, ritterlichem herkommen, und gutem gerücht, angetast, gescholten,
und zu schmähen unterstanden, nämlich eynn Ketzer und der gleychen
nennendt, Im auch zu schmach und behönung seyne biltnus und contra-
fact, ungebürlicher weys, und mit Unzuchten schmälichen gehandlet,
noch mer In gezigen, als solte er uns zwey münich us unserm Kloster
mit frevelichem gewalt und gewoppeter handt entfürt haben, so haben
wir in bedenckung seyner her Ulrichs unschult. In für solche Im durch
uns angelegte schmach, iniurien, und was wir der gleychen wider In je
geredt oder gehandlet betten, unterthäniglichen umb gots willen, uns
das alles nach zu lassen und zu vorzeyhen gebeten. Das der genannt
vom Hütten uf das selbig unser ansuchen und bit, us miltem und barm-
hertzigem gemut, gethan und uns gutlichen und milticklich gewert,
darumb wir obgemelten Garthuser zu ewiger erkantnus seyner her Ulrichs
unschult öffentlich sagen und bekennen, das wir von Im anders nit dan
eym frommen redlichen und cristlichen ritterman wissen, auch nie er-
kannt haben, das er anders den eym christlichen vom adel wolgepürt
und gezimpt, gehandelt oder gewandelt solt haben. Wir haben auch
eygentliche Kuntschafb, und gewisse erfarnus, das er in dem die zwen
münich von uns kommen, gantz keyn Wissens gehopt, und ist die war-
heyt, das die selbigen zwen münich, an eynich seyn des vom Huttens
zuthun, hilf, ret, oder anregen, sich us unserm Kloster gethan, der
halben wir In auch solcher that, frey ledig sagen, und wollen In also
mit disem unserm offen brief, boy iderman entschultigt haben. Begeben
und vorzeyhen uns auch hirmit, in Kraft dis briefs, aller Zuspruch und
anforderung, so wir sampt oder sonder, solcher und aller anderer hand-
lung halb, wie die durch In her Ulrichen, bis uf datum des briefs,
zwischen Im und uns sich begeben, und geübt sindt, die selbig gegoD
Im her Ulrichen, und allen andern, so in disem handel vorwannt seya,
Ulrich von Hattens Streit mit den Strassburger Karth&usern 1$1
möchten nymmer zu ewigen tagen, in oder ausserhalp rechtes, zu eyfern
und anzutasten, weder durch uns selbs, oder durch andere von unser
wegen schaffen gethan zu werden, es sey heymlich oder öffentlich,
sonder wollen uns der selbigen gantz renuntiirt haben, und ruwig steen,
alles getreulich und\ungeverlich, und des auch zu weytterm gezeugnus
und urkund, haben wir den Erwirdigen und geystlichen hern Gregorium
Prior der Carthuser bey Friburg, und visitator der provintz Carthuser
Ordens am Reynstrom, gebeten, seyn und seyns convents insigel, neben
unser insigel unten an diso schrift zu trücken, das ich itzgenanter Ore-
gorius prior, von bit wegen also gethan und ist diso schrift gegeben in
der Carthusen bey Strasburg gelegen, uf Donderstag nach conceptionem
Marie, in dem jar nach der gepurt Christi unsers herrn tausent fünf-
hundert eyns und zwantzig.
M. Reichs-Archiv. Neuburg.
Religions- und Kirchensachen
Nr. 25 fol. 1.
Frisch ufF mit reycfaem schane
Ir werden reatter gut,
darzu ir krigsleat aUe,
und hapt eynn freyen mui
Ich hoff ea hab nit not,
der Hatten ist lebend worden,
das schafft an zweyfel got.
Man meynnt e3 war ent schloffen,
Ich sprach er ist nit weyt,
hat noch die angen offen,
und wartet seyner zeyt,
die wir erlebet han,
das weyss Carthuser orden,
den hat er gegriffen an.
Sie weiten in verachten,
die kugelbuben frech,
eynn arswisch aussm machen,
seht nun was Inn gebrech.
Ich meynnt sie wären gut,
80 scheynnt in diser Sachen,
dass treyben Qbermut.
Vil trinnken und vil essen,
darueber massig gan,
macht eynen offt vergessen,
das im stund besser an.
Der fflrbitz sollichs schafft.
Ich muss der schalkheyt Ineben,
Er hat sie wol gestrafft.
13*
192 Hans Rott: Ulrich von Huttens Streit mit den Strassburgcr Karthftasem
Hand viderruffen müssen,
all Ire böse wort,
man hat sie sehen bQssen,
Ir sflnd an eynem ort.
Zwcy tausent gülden gut,
hat er Inn abgenommen,
Ich lob das Edel blut.
Nun wöln wir vorter lassen,
Garthuser orden stan,
und lugen uff der Strassen,
wo komm eyn Curtisan,
darzu das betel gesind,
das sonder allen frommen
beraubt die weit geschwind.
Got frist den werden Hütten,
geh Im die hilfc seyn,
das er die bettelkutten,
mit Irem falschen scheyn,
treyb von der Cristenheyt,
die sie bis her betrogen,
verfüret weyt und breyt.
So wöln wir zu Im setzen,
all unser leyb und gut,
eyn schindlin mit Im netzen,
er hat eynn frischen mut,
und weys der Sachen grundt,
würt er drumb angezogen,
zu reden mit dem mund.
Ich weys der orden eynen,
US diser gleysnerey,
sol noch dorüber weynen,
deucht er sich noch so frey,
hab ich Inn offt gesagt,
fart schon Ir falsche zungen,
Der Hütten hats gewagt.
Wem dan nit ist zu raten,
dem ist zu helfen nit,
man solt die Ketzer braten,
umb Im vorkerten sit,
Es muss zu boten gau.
Hans Breuning hats gesungen,
wil selbs mit bänden dran.
f. • _
1 n 1 s.
Die spanische Litteratur
von ihren Anfängen bis zu den katholischen Königen.
Von
Pli. Aug. Becker.
Yorgoschichte.
In viereckiger Breite, die Südkante gegen Afrika vorgereckt, erhebt
sich die iberische Halbinsel im äussersten Südwesten Europas zwischen
dem mittelländischen Meer und dem atlantischen Ozean. Ihren Grund-
stock bildet eine ehrwürdige Scholle der paläozoischen Urfeste, deren
nordöstliche Abdachung in mächtigen Staffeln die Kreideanlagerungen
des früheren Mittelmeers trägt, während sie nach dem Ozean und dem
andalusischen Tiefland zu durch scharfe Bruchränder abgegrenzt wird.
Stark abgehobelte Faltenzüge aus der Karbonzeit, gleichaltrig mit Su-
deten und Vogesen, bedecken in flachem Bogen den Westen der Tafel,
und ein nordostwärts abschwenkender Ast derselben durchquert die breite
Fläche und zerlegt sie in zwei Plateaux; die einstmals zu mächtigen
Binnenseen aufgestauten Gewässer aus dem Innern mussten sich ihren
Weg zum Ozean in schmalen Rinnen durch das Bandgebirge bahnen.
Zwei jüngere Gebirgsketten, Pyrenäen und granadinische Terrasse, Zeit-
genossen unserer Alpen, haben sich dem alten Horste angegliedert und
den Bau der Halbinsel vollendet.
So liegt Spanien, abgeschieden für sich, an der Pforte des Ozeans,
wie eine Brücke zwischen Europa und Afrika, von jenem durch steile
Bergwände, von diesem durch eine felsige Meerenge getrennt, nur von
der Meerseite dem Verkehr geöffnet und deshalb auf die Beherrschung
des Meeres hingewiesen, aber ohne bequemen Zugang nach dem inneren
Hochland, und somit durch die Bodengestalt noch mehr als durch die
geographische Lage gegen die Aussen weit abgeschlossen.
194 Ph. Aug. Becker
Die Ureinwohner der pyrenäischen Halbinsel, die Iberer, sind der
indogermanischen Yölkerfamilie fremd; das zeigt uns die Sprache der
Basken, wenn diese wirklich, wie man vermutet, die Abkömmlinge jenes
Stammes sind, die letzten, die sich bis jetzt der Romanisierung ent-
zogen haben. Früh gesellten sich andere Völkergruppen zu ihnen. Wahr-
scheinlich vom Meere her drangen Kelten in das Land, setzten sich an
der Mündung des Tajo fest und verbreiteten sich über das zentrale
Hochland bis zum Quellgebiet der grossen Flüsse. Beide Stämme, Iberer
und Keltiberer, wie die Alten sie nannten, lebten in viele Völkerschaf-
ten vereinzelt ohne einheitlichen nationalen Zusammenschluss und setzten
fremden Eindringlingen und Eroberern keinen gemeinsamen Widerstand
entgegen. Im 12. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung entdeckten
phönizische Seefahrer das metallreiche 'Tarschisch' und legten längs der
Südküste Handelsplätze an. Griechische Ansiedler folgten. Zuletzt er-
schien Karthago auf dem Plan und versuchte nach dem unglücklichen
Ausgang des ersten punischen Krieges auch im Binnenland festen Fuss
zu fassen, um sich für den Verlust von Sardinien und Sicilien schadlos
zu halten. Hispanien wurde der Anlass und der Schauplatz des gewal-
tigen Entscheidungskampfes zwischen Karthago und Rom und fiel als
Preis dem Sieger zu.
Zwei Jahrhunderte fortgesetzter blutiger Kriege bedurften die Römer
zur vollständigen Unterwerfung der Halbinsel; erst unter Augustus
beugten sich die letzten Völkerschaften in den cantabrischen Bergen
ihrer Herrschaft. Dank der Empfunglichkeit der Ureinwohner und der
Mehrung der Kolonien ging aber die Romanisierung rasch vor sich.
Auch Spanien verspürte den kulturellen Aufschwung unter den ersten
Kaisern, und seine begabten Söhne warben in der Hauptstadt um Ruhm
und Erfolg. Einen Namen machten sich hier der Rhetor Porcius Latro
und der Grammatiker Hyginus; und noch heute feiern die Spanier die
beiden Seneca, Lucanus, Martialis, Quintilianus und Pomponius Mela,
den Geographen, als nationale Grössen. Mit Hadrian hörte jedoch der
Zuzug nach Lorbeer begieriger Spanier auf. Der despotische Druck der
Verwaltung ertötete auch in dieser Provinz Wohlstand und geistiges
Leben. Neue Regung brachte das Christentum, nach dessen Sieg auch
Spanien wieder Anteil nimmt an der Litteratur und selbst bahnbrechend
voranschreitet. Ihm entstammen Juvencus, der Vater der christlichen
Epik, Prudentius, der originellste und schöpferisch begabteste unter
allen christlichen Dichtern, und Orosius, der erste christliche Universal-
historiker.
Die spanische Litteratur von ihren Anfängen bis zu den katholischen Königen 195
Yor den Heimsuchungen der Völkerwanderung schützte der Grenz-
wall der Pyrenäen die iberische Halbinsel nicht. 409 brachen die ersten
Schwärme ein. Nur vorübergehend hausten die Yandalen im Land ; län-
ger trieben die unstäten Sueven ihr Verheerungswerk, bis sie stark zu-
sammengeschmolzen in der Bevölkerung Galiciens aufgingen. Bei der
vollkommenen Auflösung des weströmischen Beiches fiel Spanien schliess-
lich den Westgoten zu. Von allen Germanen waren diese, für die einst
Ulfilas die Bibel übersetzte, bereits am längsten und nachhaltigsten mit
der griechisch-römischen Kultur in Berührung, und ihre dauernde Nieder-
lassung in Gallien hatte sie dem römischen Wesen noch näher gebracht,
wie ihr Volksrecht zeigt, unter ihrer Botmässigkeit sank demgemäss
die Bildung nie so tief wie beispielsweise im Beiche der Franken, zu-
mal sie nach ihrem Übertritt vom arrianischen zum katholischen Glau-
ben der Geistlichkeit einen übermässigen Einfluss auf die Staatsleitung
einräumten. Jedes Jahrhundert hat wenigstens seinen Chronisten, und
zum Schluss begegnen wir noch Isidor von Sevilla, dem fleissigen
Sammler und belesenen Encyklopädisten. Dafür fehlen die kräftigen An-
sätze zu frischer Entwicklung; denn durch die Barbarei führte damals
der Weg zur Gesundung.
Die Schäden der römischen Wirtschaft abzustellen, verstanden die
Goten nicht, noch vermochten sie einen in sich gefestigten Nationalstaat
zu gründen. So genügten die zu einer Razzia ausgezogenen zwölf-
tausend Mann Täriks, um das wurmstichige Beich jählings zum Ein-
sturz zu bringen. Binnen dreier Jahre war Spanien bis zu den Pyre-
näen erobert, und nach den Wirren des Anfangs bildete sich unter den
Omaijaden ein unabhängiges Ebalifat, das an Machtentfaltung, mate-
rieller Blüte, Pflege der Kunst und Wissenschaft dem Beiche der
Abassiden nicht nachstand; als Sitz der Reichtümer und der Gelehr-
samkeit, des Gewerbefleisses und des Handels konnte sich Cördova stolz
mit Bagdad vergleichen. Auf Jahrhunderte blieb solchermassen der
grösste Teil der Halbinsel losgerissen von der romanisch christlichen
Welt ; arabische Sprache und arabische Bildung herrschten von den Ufern
des Tajo bis an die Meeresenge. Auch die alteingesessene Bevölkerung
dieser Gebiete bequemte sich den Eroberern an. Das kurze Auflodern
der religiösen Begeisterung, dessen Zeugen Eulogius nnd Älvarus wurden,
und das Wiedererwachen spanischen Nationalgefühls bei Renegaten wie
Christen führte im 9. Jahrhundert nach zeitweiligen Erfolgen nur zur
Beschleunigung ihres Untergangs und zur Überschwemmung des Landes
196 Pb. Aug. Becker
durch die Berberstumrae Afrikas, die Almoraviden xuerst und später die
Almobaden.
Die WiederbefreiuDg der spanischen Erde ging vom Norden aus.
Das baskische Navarra hatte sich nie völlig gebeugt. In den unweg-
samen Felsenschluchten Asturiens hielt sich auch eine kleine Schar
unter der Anführerschaft des Goten Pelayo. Diese feuerten ihre Lands-
leute an, das Joch der Fremdherrschaft abzuschütteln, und mit der Gunst
der Umstände drangen die Christen bis an den Duero vor und wussten
sich unter wechselnden Geschicken dort zu halten. Von der anderen
Seite überschritten die Franken, nachdem sie dem Vordringen der Un-
gläubigen bei Tours Einhalt geboten, die Pyrenäen und gründeten die
spanische Mark, die Wiege Cataloniens, mit Barcelona als Hauptstadt.
So entstanden und befestigten sich im Norden der Halbinsel christ-
liche Staaten, die bald vereinigt, bald geteilt, bald unter sich in Zwist
und zeitweilig von den Mauren in ihrer Selbständigkeit bedroht, doch
mit der Zeit siegreich hervorgingen und den Grund zu bleibenden Staaten-
gebilden legten. In dieser Zeit unaufhörlichen Bingens, täglicher An-
spannung und fortwährender Unsicherheit bildete sich der spanische
Nationalcharakter aus, so wie er sich im wesentlichen bis heute erhalten
hat; da wurden ihm jene Züge kriegerischer Ritterlichkeit, leicht ver-
letzbaren Ehrgefühls und leidenschaftlichen Unabbängigkeitssinnes, jener
empfindliche Nationalstolz und exklusive Glaubenseifer, aber auch der
auf Selbstachtung beruhende Freimut im Verkehr der verschiedenen Ge-
sellschaftsklassen unter einander zu eigen.
Das 11. Jahrhundert ist die ruhmvolle Heldenzeit der spanischen
Befreiungskriege. Die Begeisterung der Ereuzzüge belebte und steigerte
den Eampfesmut der Christen und führte ihnen, besonders aus Frank-
reich, Scharen von Bundesgenossen zu. Damals eroberte Fernando I.
Coimbra, und sein Sohn Alfonso VI, der Galicien, Asturien, Leon und
Navarra mit seinem Erbteil zum ^Kaisertum' Eastilien vereinigte, setzte
sich in Besitz von Toledo; das kleine Aragon stieg in die Ebene des
Ebro herunter und bereitete sich zum Sturm auf Zaragoza; die Grafen
von Barcelona bedrohten die Eüstenstädte, und der glorreiche Cid nistete
sich in Valencia ein. Auf der ganzen Linie drangen die christlichen
WaflFen siegreich vor. Nach langer Abgeschiedenheit trat jetzt Spanien
auch wieder mit der grossen mitteleuropäischen Gemeinschaft in Be-
rührung. Das gesunkene Elosterwesen zu heben, wendete sich Sancho
der Alte an Cluni und führte dessen Reformen in den ihm gehorchenden
Reichen ein. Von Rom unterstützt, grifif der französische Einfluss so
Die spanische Litteratur von ihren Anfängen bis zu den katholischen Königen 197
«
rasch um sich, dass Sanchos Enkel, Alfonso VI, die ererbte Liturgie
zu GuDsteu der gregorianischen abschaffen, und das Konzil von Leon
den Gebrauch der fränkischen Minuskel an Stelle der Nationalschrift
vorschreiben durfte.
Die Erhöhung der Bildung, welche die kirchlichen Reformen mit
sich brachten, zeigte ihre Früchte zunächst in der Neubelebung des
lateinischen Schrifttums. Die Chroniken mehren sich und fliessen wieder
reichhaltiger. Man verfasst Legenden, dichtet Aufschriften und Grab-
inschriften. Auch der Verherrlichung ruhmvoller Zeitereignisse, wie der
Thaten des Cid oder der Einnahme von Almeria, macht sich die latei-
nische Verskunst dienstbar. Besondere Erwähnung verlangt eine Prosa-
schrift, die Disciplina clericaUsj Gespräche eines Vaters mit seinem
Sohne, den er mit Sprüchen, Erzählungen und Gleichnissen über Freund-
schaft, Liebe, Frauentrug, Leben und Tod, Armut und Reichtum und
ewige Seligkeit belehrt. Es ist das Werk eines 1106 getauften Juden
von Huesca, Petrus Alfonsus, und deshalb von Bedeutung, weil es das
erste im Abendlande ist, das aus den Schätzen orientalischer Weisheit
schöpft und sich der später so bliebten Form der Bahmenerzählung be-
dient. Um dieselbe Zeit, gegen 1140, entstand in Santiago de Com-
postella die Fälschung des liher Jacobi, dessen viertes Buch die be-
rüchtigte ^Chronik Turpins* bildet, das älteste Zeugnis für das Hinüber-
dringen französischer Heldensage nach Spanien.
Wie die Erfahrung lehrt, musste die Neubelebung der Studien
schliesslich auch dem Volksidiom frommen. Denn, war man bislängst
für die Predigt und für Rechtsgeschäfte mit dem barbarischen Verkehrs-
latein ausgekommen, so blieb die jetzt angestrebte korrektere Latinität
dem Volke wie dem ungeschulten Adel unverständlich; das Bedürfnis
an seiner Statt die lebende Volkssprache zu gebrauchen, machte sich
u nah weislich fühlbar. Das geschah in Spanien dreihundert Jahre später
als in Frankreich. Das älteste Dokument, in dem die Vulgärsprache
entschlossen zur Verwendung kommt, ist das 1155 von Alfonso VII be-
stätigte Stadtrecht von Aviles in Westasturien, dem langsam ähnliche
Urkunden folgen.
Die spanische Sprache, die uns hier zum ersten Male entgegentritt,
ist die von den Römern nach Iberien gebrachte lateinische Sprache, wie
sie sich im Volksmund lebend erhielt und im Wechsel der Zeiten fort-
bildete. Seinen ererbten Wortschatz hat das Spanische dem Gang der
Geschichte gemäss um germanische und arabische Elemente vermehrt.
In seiner lautlichen Entwicklung gleicht es dem Italienischen durch die
198 Pb. Aug. Becker
Beinheit der Vokalkläuge und die Sonorität der Endungen, ist aber weiter-
gescbritten in der Verschleifung unbetonter Silben und Schwächung von
Konsonanten, und fallt unter den romanischen Schwestern durch seine
gutturalen Reibelaute und interdentalen Sibilanten auf. Was die Aus-
sprache betrifft, hat es die scharfe, genaue und leichtfliessende Lautung
der meridionalen Idiome, es fehlt ihm aber der melodische Schmelz des
Toskauischen.
Zur Zeit nun, da Spanien sich zu litterarischer Bethätigung in
seiner mündig gewordenen Landessprache anschickte, besass Frankreich,
dem die geistige Führung in Europa gehörte, eine in voller Blüte
stehende Poesie. Entzückte die Provence durch die zierlichen Liebes-
weisen seiner Troubadours, so fesselte und entflammte Nordfrankreich
die Gemüter mit seinen von Eriegslust und Vaterlandsliebe durchglühten
Heldengesängen und versuchte durch Werke belehrenden Inhalts auch
ernsteren Ansprüchen entgegenzukommen. Die altspanische Dichtkunst
bildete sich nun vollkommen unter französischem Einfluss, wenn auch
in ausgesprochen nationaler Bichtung aus. Von Anbeginn aber vollzog
sich eine eigentümliche Scheidung. Während sich in Eastilien gewisser-
massen aus dem Volke heraus eine nationale Epik nach französischem
Muster entwickelte, erblühte in Galicien die Lyrik im Geschmack der
Provenzalen und gewann solches Ansehen, dass selbst geborene Kastilier
lyrische Verse lange nur galicisch oder portugiesisch schrieben, was für
jene Zeit das gleiche bedeutet, da die portugiesische Sprache die Tochter
der galicischen Mundart ist. So bereitete sich litterarisch die Trennung
der beiden Völker vor, wie sie ethnologisch im Gegensatz von Sueven
und Goten begründet war und bald durch die politische Sonderexistenz
Portugals unausgleichbar werden sollte.
Die altkastilische Heldendichtang.
1150—1250.
Die erste Lebenserscheinung der spanischen Litteratur ist also die
kurze, aber kräftige Blüte der volkstümlichen Heldendichtung, der zwar
die üppige Entfaltung der französischen nicht beschieden war, die aber
dafür ihren heroisch-patriotischen Gehalt nicht so völlig von romanhafter
Erfindung überwuchert sah wie diese. Auch trennt keine so weite
Spanne die Ependichtung von der verherrlichten Heldenzeit, so dass
zwar nicht die historischen Einzelheiten, wohl aber das Gesamtbild ge-
treuer bewahrt erscheint. Die spanische Heldendichtung ist im engsten
Die spanische Litteratur von ihren Anfängen bis zu den katholischen Königen 199
Sinne kastilisch. Ihre Schöpfungen verkörpern jene Ideale der Bitter-
lichkeit, der Vaterlandsliebe und des trotzigen Freiheitssinnes, die die
ganze Nation im Zeitalter der Maurenkriege belebten und begeisterten.
Das musste ihnen eine ebenso tiefe als nachhaltige Einwirkung auf das
Volksgemüt sichern. Mochte darum auch der Gesang der jttglares früh
verstummen und die ersten, rohen und unfertigen Denkmale ihrer Muse
bald wieder in Vergessenheit geraten: die Gestalten, die sie geschaffen,
waren unvergänglich und lassen noch heute wie ehedem das Herz eines
jeden Spaniers höher schlagen.
Im Mittelpunkt der spanischen Heldensage steht der Cid, Ruy Diaz
de Bivar, in Wahrheit wie in der Dichtung ein unerschrockener Kämpe.
Sprosse eines edlen kastilischen Geschlechts, war ßodrigo unter Sancho II
durch seine Feldherrngaben zu hohem Ansehen emporgestiegen und be-
hielt es auch, als Sancho vor Zamora ermordet wurde und sein Bruder
Alfonso VI aus der Verbannung zurückkehrte und das Reich übernahm.
Der neue König gab ihm seine Base Ximena zur Frau; als er aber
festen Boden gefasst hatte, verbannte er den übermächtigen Vassallen.
Von da an führte Bodrigo das Leben eines Condottiere, zuerst im Dienste
des maurischen Herrschers von Zaragoza, dann auf eigene Faust, bis
ihm die Eroberung von Valencia gelang, in deren Besitz er sich bis
zu seinem Tode (1099) behauptete. Als seine Witwe sich genötigt sah,
diesen vorgeschobenen Posten aufzugeben, nahm sie seine Gebeine mit
und setzte sie in San Pedro de Cardefla vor Burgos bei, wo sie neben
ihm ruht.
Man kann sich den Eindruck denken, den das Glück dieses ver-
wegenen und verschlagenen Söldnerfürsten auf die Volksphantasie machen
musste, und wie sich seine in Wirklichkeit oft grausame und hinter-
listige Persönlichkeit im Andenken der Enkel verklärte. So treu als der
idealisierende Zug der Poesie es verträgt, spiegelt sich sein Bild im
ehrwürdigsten und ältesten Denkmal der spanischen Heldendichtung
wieder, im Poema del Cid, das um die Mitte des 12. Jahrhunderts ent-
standen sein mag und ein einzigartiges Beispiel dafür bietet, wie kaum
verblichene geschichtliche Erinnerungen unvermittelt in Heldensage um-
gesetzt werden.
Als Verbannten sehen wir den Helden sein Stammschloss verlassen;
seufzend betrachtet er die verwüstete Stätte. Kein gastlicher Gruss em-
pfingt ihn in Burgos, wo schon der Achtbrief des Königs eingetroffen
ist. Mio Cid niuss vor dem Thore im Zelte übernachten. Von allem
entblösst verschafft er sich das nötige Geld durch List, indem er den
200 Pb. Aug. Becker
Juden Bachel und Vida zwei trüglich mit Sand gefüllte Koffer ver-
pfändet. Beim Hahnenruf klopft er an der Pforte von San Pedro an;
denn er möchte dem Abt einen Yorschuss zum Unterhalt der Seinen
hinterlassen, dass dem Kloster kein Schaden erwachse. Tief bewegt be-
grüsät er dotla Ximena, und indem er seine beiden Töchterchen in seine
Arme schliesst, entringt sich seiner beklommenen Brust das Gebet:
«Gott gebe, dass ich euch beide noch mit eigener Hand vermählen und
eurer Mutter ihre Treue lohnen könne!'' Es sollte in Erfüllung gehen.
Schon sammelt sich, Haus und Hof verlassend, eine Schar von
Getreuen, entschlossen Gefahren und Gewinn mit dem Verbannten zu
teilen. An der Spitze von 300 Lanzen überschreitet Mio Cid den Ducro,
und der Erzengel Gabriel erscheint ihm im Traum und verheisst ihm
Glück zu seiner Fahrt. Gleich der erste Streifzug durch das Thal des
Henares gelingt glänzend; doch mag Ruy Diaz sich hier, in so grosser
Nähe seines ergrimmten Königs nicht festsetzen. Auch Alcocer am
Xalon, seine zweite Beute, bewährt sich nicht: durch die Mauren be-
lagert und vom Wasser abgeschnitten, rettet er sich nur dank einem
verzweifelten Ausfall, bei dem er die feindliche Übermacht auseinander
sprengt. Monatelang streift dann der Heimatlose im Berggelände umher,
nachts im Sattel, tags hinter Feldschanzen, und eine Stadt nach der
anderen bis hinunter zum Ebro muss sich zu einem Tribut verstehen.
Diese Erfolge rufen den alten Groll des Grafen Baymund Berengar
von Barcelona wieder wach; trotz aller Beschwörungen treibt er zum
Kampfe, wird geschlagen und gefangen, und es fallt dem Kämpen von
Bivar nicht leicht, den Störrischen, der im Missmut jede Speise aus-
schlägt, wieder versöhnlicher zu stimmen. Nun richtet der nimmermüde
Campeador sein Unternehmen gegen die Küstenstädte. Burriana und
Murviedro fallen in seine Gewalt, die Valencianer können das Feld vor
ihm nicht halten. Drei Jahre kriegt und haust er in jener Gegend
und zieht seine Kreise immer enger um die ratlose Stadt, die vergeb-
lich nach Hilfe späht. Der König von Marocco ist fern in Krieg ver-
wickelt. Valencia muss sich ergeben, und Ruy Diaz kann nun daran
denken, seine Frau und seine Töchter zu sich zu rufen und sie in sei-
nen Herrschersitz einzuführen.
Mit stattlichem Geleit werden die Frauen abgeholt, und kaum hat
den Rodrigo, der Cid, sie die herrliche Lage Valencias bewundern lassen
können, so bietet sich ihm die Gelegenheit, seine Tapferkeit vor ihren
Augen zu entfalten. Tusef von Marocco ist über das Meer gekommen
und bringt den Christen neue Reichtümer, wie der Held scherzend be*
Die spanische Litteratur von ihren Anfängen his zu den katholischen Königen 201
merkt. So glänzend wie der Sieg, so unermesslich ist die Beute. Bis-
her hatte Ruy Diaz es nicht yersäumt, nach jedem errungenen Erfolg
seinem Könige ein würdiges Geschenk zu übersenden. Zum Dank für
diese Anerkennung seiner Lehensoberherrlichkeit hatte Alfonso zuerst
das Zuströmen von Freiwilligen zu den Fahnen des Cid gestattet, dann
seiner Gemahlin das Geleite bis zur Grenze geben lassen und die Acht
zurückgenommen. Sein jüngster Sieg und Zuwachs an Macht veran-
lassen jetzt die Söhne des Grafen von Carrion um die Hand seiner
Töchter anzuhalten. Auf Wunsch des Königs begegnen sich die wieder-
versöhnten Sieger von Toledo und Valencia, Alfonso und sein Vassall,
an den Ufern des Tajo und verabreden die Verlobung, die im Palast
zu Valencia nicht vom Vater, sondern vom Abgeordneten des Königs
vollzogen und mit Prunk gefeiert wird.
Es war eine ungleiche Verschwägerung : denn der Mut war gerade
die hervorstechendste Eigenschaft der Jungherrn von Carrion nicht.
Das zeigte sich bald. Eines Tages bricht im Palast ein gefangener
Löwe aus; da verkriecht sich der eine unter dem Bette, der andere
hinter einer Weinkelter, während der Cid geraden Schritts auf das Tier
zugeht, es beim Genick packt und ins Netz zurückwirft. Zum Über-
druss erfolgt ein neuer Einfall der Maroccaner; die Infanten müssen
trotz ihres inneren Widerstrebens zum Gefecht ausreiten und sich nach-
her die unverdienten Lobsprüche ihres Schwiegervaters gefallen lassen,
die sie wie Hohn treffen. Sie beschliessen nach Carrion zurückzukehren
und erhalten beim Abschied abermals reiche Geschenke von Bodrigo,
der nichts ahnt von ihrer niederträchtigen Heimtücke. Denn Gewinn-
sucht war ihre einzige Triebfeder. Ein Anschlag auf den Mauren Aben-
galvon von Molina, den treuen Klienten des Cid, der ihnen das Geleite
über die Wasserscheide giebt, misslingt. Aber jenseits des Duero, im
Eichwaldgrunde von Corpes bleiben sie mit ihren Frauen hinter dem
Tross zurück, und nachdem sie ihnen die Kleider vom Leibe gerissen
und sie mit Sporen und Sattelgurt blutig geschlagen, geben sie sie den
Tieren und Vögeln des Waldes preis. Zum Glück hatte ihr Vater
einen seiner Neffen mitgeschickt, um rascher Nachricht von ihrer An-
kunft zu erhalten. Dieser schöpft Verdacht, kehrt unbemerkt um und
findet die Unglücklichen in der Einöde verlassen und halb entseelt.
Rasch ruft er sie zu sich und labt sie mit einem Trunk Wasser und
bringt sie zurück nach San Esteban, wo er sie pflegt, bis ihr Vater be-
nachrichtigt ist und sie abholen lässt.
202 Ph- Aug. Becker
Nicht minder als der Vater ist der König durch diese freche Ver-
letzung der von ihm betriebenen Ehen beleidigt. Auf die Klage des
Cid ladet er die Missethäter vor seinen Hof nach Toledo. In würdigem
Aufzug erscheint der gekränkte Held, und nachdem die Bichter ernannt
sind, fordert er zuerst die beiden Schwerter zurück, die er seinen Schwieger-
söhnen beim Abschied gab, dann die Dreitausend Mark Silber der Mit-
gift, und zum Schluss verlangt er Rechenschaft für den an seinen
Töchtern begangenen Schimpf. Stolze, herausfordernde Worte fallen von
beiden Seiten, bis ein dreifacher Zweikampf zwischen den Söhnen Gon-
zales von Carrion und drei Getreuen des Cid vereinbart ist. und da-
mit die Genugthuung vollkommen sei, treten die Infanten von Navarra
und Aragon hervor und bitten für sich um die Hand der beiden ver-
lassenen Frauen. An den ufern des Carrion findet der gerichtliche Zwei-
kampf statt und endet mit der gerechten Sühne.
So steigert sich die Dichtung, die etwas breit und fast im Ton
einer Biographie anhebt, zum Schlüsse zu einem leidenschaftlich packen-
den Drama. Für die Zeitgenossen brauchte die unverhältnissige Länge
der Einleitung eine Rechtfertigung nicht; in jenem Siegeszug des Helden
bis zur Einnahme von Valencia bejubelten sie ein Stück vaterländischer
Geschichte, einen der glorreichsten Momente ihrer nationalen Expansion.
Allein, die höhere Einheit der Handlung, wie sie die Poesie erfordert,
bringt erst die verhängnisvolle Vermählung mit ihren tragischen Folgen.
Wie uns diese Verwicklung den Helden menschlich näher rückt, so führt
sie auch die befriedigende Lösung herbei; denn von richtigem Gefühl
geleitet, hat der unbekannte Dichter die Bache des gekränkten Vaters
in würdiger Weise mit der Versöhnung zwischen König und Vassall zu
verbinden und diese geschickt vorzubereiten gewusst.
Der dichterischen Bedeutung des Poema del Cid thut es nun keinen
Abbruch, dass die Einzelheiten der Geschehnisse und vor allem die Haupt-
begebenheit selbst, die erste Vermählung der Töchter des Cids, nicht
geschichtlich sind. Denn der Wert eines Heldenliedes liegt ja nicht
darin, dass es uns eine Chronik ersetzen kann, sondern in der Anschau-
lichkeit und Lebhaftigkeit, mit denen es uns Leben und Sitten, Denken
und Fühlen vergangener Zeiten vor Augen führt; und wahrlich wenige
Dichtungen sind in gleichem Masse vom Zauber einer eigenartigen
Zivilisation durchwoben und geben uns so voll die Vision der Wirklich-
keit wie das alte Cidpoem. Fügen wir noch die schlichte Kraft der
Sprache, die die Unfertigkeit der Verskunst etwas ungelenk überwindet^
die plastische, oft dramatisch belebte Darstellung und die sympathische
Die spanische Litteratnr von ihren Anfangen bis zu den kathoh'schen Königen 203
Wärme der Erzählung hinzu, so muss man bekennen, dass Spanien an
dieser ersten Eingebung seiner Muse eine Perle ächter und unvergäng-
licher Poesie und einen wahren nationalen Schatz besitzt.
Schade ist es um den Verlust einer zweiten Ciddichtung, des Cerco
de Zamora (Belagerung Zamoras). Sie berichtete von der Reichsteilung
Fernandos I, vom Bruderkrieg unter seinen Söhnen, von der Flucht
Alfonsos nach Toledo und der Belagerung der Infantin Dofia ürraca
in Zamora, von der meuchlerischen Ermordung Sanchos durch Yellido
Dolfos, der Rückkehr Alfonsos und dem Eidschwur, mit dem ihn der
Cid und die Kastilier zwingen, seine Unschuld an der Ermordung seines
Bruders zu erhärten, — eine stolze Scene, die den nachhaltigen Groll
Alfonsos begreiflich macht.
Ein Denkmal des raschen Verfalls der Juglarpoesie ist der Rodrigo^
auch Grönica rimada oder Leyenda del Cid genannt, der uns
mit der Jugendgeschichte des Helden von Bivar auf Grund willkürlicher
Erfindung bekannt macht. Eine Privatfehde ist zwischen dem Grafen
Gomez de Gormaz und Diego Lainez ausgebrochen. Jener übereilt die
Hirten, dieser zur Rache die Wäscherinnen seines Gegners. In dem
zum Austrag des Zwistes verabredeten Waffengang erschlägt Diegos
kaum dreizehnjähriger Sohn Rodrigo den Grafen und macht seine zwei
Söhne zu Gefangenen. Diese giebt der Jüngling ihren Schwestern, die
in Trauerkleidern nach Bivar kommen, zurück; und bevor jetzt die
Fehde von neuem losbricht, begiebt sich Ximena, die jüngste, an den
Hof, um Sühne zu verlangen. Der König, Don Fernando, scheut sich
den Zorn der Kastilier zu reizen; da schlägt das Mädchen resolut den
rechten Ausgleich vor: man gebe ihr Rodrigo zum Manne! Dem Ge-
bote des Königs fügt sich Rodrigo, doch gelobt er seine Gemahlin erst
nach fünf siegreichen Schlachten zu sehen. Gelegenheit bieten ihm bald
Einfälle der Sarazenen, eine Herausforderung des Königs von Aragon
an Fernando, ein Aufruhr der kastilischen Grossen und zum Schluss die
Tributforderung des Königs von Frankreichs, des Kaisers und des Papstes,
die Rodrigo mit einem Einfall nach Frankreich erwiedert, wobei er den
Herzog von Savoyen an der Rhone schlägt und bis vor die Thore von
Paris dringt. Wie man sieht, ist der Stoff nicht ohne Interesse, allein
die dichterische Ausführung ist unbeholfen, von roher Komik durchsetzt;
und die Unbotmässigkeit des Helden gegen den König steht in ciuf-
fallendem Widerspruch mit seiner früheren idealen Auffassung.
Dem Sagenkreis vom Cid hat die altkastilische Heldendichtung
keinen zweiten von gleicher Bedeutung an die Seite zu stellen; doch
204 Ph. Aug. Becker
haben wir noch Kunde von zwei einzelnen Liedern, in denen die ferne
Erinnerung an uralten Familienzwist iHre poetische Verewigung gefunden
hat. Das eine, el Romanz del Infant Gardu, dem ein Vorfall aus dem
Jahre 1029 zu Grunde liegt, erzählte die verhängnisvolle Brautfahrt des
Erben von Kastilien, der die Schwester des Königs von Leon heimfahren
soll und vor dem Ziele dem Morderstahl des feindlichen Geschlechts der
Vela erliegt. Das zweite, la Estoria de los siete infantes de Lara^ spielte
am Ende des 10. Jahrhunderts und atmete die wildeste Leidenschaftlich-
keit. Ruy Velasquez Gemahlin, Doila Lambra, hegt einen tötlichen Hass
gegen den Schwager ihres Gatten, Gonzalo Gustioz, und dessen sieben
Söhne. Den Anlass gab ein Lanzenstechen bei ihrem Hochzeitsfest, bei
dem es von höhnischen Worten zu Thätlichkeiten kam und der jüngste
der Infanten, Gonzalo Gonzalez, ihren Bruder erschlug. Man versöhnt«
sich zwar und vertraute zur Befestigung der Freundschaft die Infanten
der Pflege ihres Oheims an. Aber bald ruft Doüa Lambras Rachsucht
eine neue Blutthat hervor, für die Ruy Velasquez trotz scheinbarer Ver-
söhnung unerbittliche Rache schwört. Unter falschem Vorwand sendet
er seinen Schwager an den Hof Almanzors mit einem Brief in arabischer
Sprache, auf den hin Gonzalo Gustioz in den Kerker geworfen, seine
Söhne in einen verabredeten Hinterhalt gelockt und nach tapferer Gegen-
wehr samt ihrem Erzieher getötet werden. Die acht Köpfe lässt Almanzor
waschen und ihrem Vater vorlegen, der sie erkennt und in namenlosem
Schmerz zu ihnen redet, als wären sie noch am Leben. Den Opfern
ersteht nach Jahren ein Rächer an Mudarra, dem unehelichen Sohn
Gonzales und einer Maurin. Seiner Sühneforderung sucht Ruy Velas-
quez vergeblich auszuweichen; Mudarra fangt ihn beim Morgengrauen
auf der Landstrasse ab und erdolcht ihn, und später, nach dem Tode
des verwandten Grafen von Kastilien, lässt er auch Do&a Lambra ver-
brennen. — Noch heute sieht man in der Kirche von Salas de Barba-
dillo die acht verdorrten Köpfe, an denen Sage und Dichtung haftet.
Wie nahe es auch lag, so haben die Spanier von französischen Epen-
stofifen doch nur wenig entlehnt, und nur solches, das der nationalen
Tendenz ihrer Litteratur entsprach. So gefiel ihnen Karls des Grossen
sagenhafte Jugendgeschichte, weil sie in Spanien spielt; aber die Roland-
sage musste sich eine merkwürdige Umgestaltung gefallen lassen. Karls
Zug über die Pyrenäen verletzte den spanischen Nationalstolz, und so
wurde Roncesvalles als eine nationale Heldenthat aufgefasst und als
Gegner Rolands und Rächer der bedrohten Unabhängigkeit ein Bernaldo
del Carpio erfunden, von dessen romantischen Lebensschicksalen zuerst
Die spanische Litteratur von ihren Anfängen bis zu den katholischen Königen 205
gelehrte Geschichtsfälscher und nach ihnen auch die Volkssänger manches
zu berichten wussteu.
Das sind die Erzeugnisse der volkstümlichen Heldendichtung Spaniens,
von denen wir verbürgte Kunde haben. Erhalten sind uns nur zwei Denk-
male in jüngerer Niederschrift, Poema del Cid und Rodrigo. Die übrigen
kennen wir hauptsächlich durch die Chronik Alfonsos X, die mit Vor-
liebe den Inhalt der cantares de gesta wiedergiebt und so zu einer un-
schätzbaren Fundgrube für die späteren Bomanzendichter wurde.
Die altkastiiische Kanstpoesie.
1200—1250.
Anfänglich hatte die Kirche die weltlichen Sänger einen Vorsprung
nehmen lassen. Auf die Dauer war es aber undenkbar, dass die Ver-
treterin der Schulbildung, die Geistlichkeit, sich von der werdenden
Litteratur fernhalten sollte. Natürlich ergriff sie deren Pflege im Inter-
esse der Kirclie, zur Erbauung und Belehrung des Volkes, und entnahm
ihre Stoffe auf gut Glück dem fertigen französischen und lateinischen
Vorrat.
Die ersten Versuche verraten noch grosse Unselbständigkeit und
unsicheres Tasten. Keclit linkisch ahmt ein Aragonier im Leben der
Ii. Maria Aegyptiaca, der reuigen Büsserin, die geparten Kurzzeileu
seiner franzosischen Vorlage nach ; im gleichen Ton erzählt ein kürzeres
Gedicht die ansprechende Legende vom guten Schacher, der
schon in der Wiege die Gnade des Heilands erfährt. Kastilien stand
auch nicht abseits, wie eine Bearbeitung des Streits zwischen Leib
und Seele zeigt, jener wirkungsvollen Vision, in der sich die gepeinigte
Seele und der verwesende Leib gegenseitig für ihre Verdammnis verant-
wortlich machen. Das einzige einigermassen selbständige Erzeugnis dieser
Vorbereitungszeit ist ein Gedicht vom Streit zwischen Wasser
und Wein, in das der Dichter, ein weitgereister Scholar aus Aragon,
eine seltsame Schilderung seiner ersten Begegnung mit der noch unbe-
kannten Geliebten eingewoben hat.
Auch das kirchliche Schauspiel entlehnte Spanien seinen nordöst-
lichen Nachbarn; doch hat es nur geringe Spuren hinterlassen. Eine
ungeübte Hand hat die Hälfte eines Weihnachtsspiels, Misterio de los
reges magos^ auf die Rückblätter einer Handschrift der Kapitelbibliothck
von Toledo aufgeschrieben. Von verschiedenen Weltgegenden kommen
die Weisen aus Morgenland zusammen, unschlüssig ob sie dem Wahr-
NEUE HEIDELB. JAHRBUECIIER XII. 14
206 ^^- Ang. Becker
zeichen des Sterns glauben und folgen sollen, und begeben sich dann
vereint zu Herodes ; dieser fordert sie auf nach der Anbetung des Kindes
zurückzukehren, und ruft in grosser Bestürzung die Schriftgelehrten zu-
sammen, die sich um das Bekenntnis herumzudrücken suchen : das alles
im freieren Bythmus der lateinischen Mysterien vorgetragen. Ein Stück
aus einem Ost er spiel, das Lied der Wächter am Grabe und ihr Ge-
spräch mit den Juden in derb volkstümlichem Ton, hat Berceo in eine
seiner Dichtungen eingelegt. Weitere Spuren fehlen. Wahrscheinlich
hörten auch in Spanien die Aufführungen in der Kirche bald auf, sie
fanden aber nicht wie anderwärts eine Fortsetzung auf dem Marktplatze.
Einen frischen Zug brachte Gonzalo de Berceo und seine Schule
in die geistliche Kunstdichtung. Gonzalo wurde unweit Näjera im Dorfe
Berceo geboren und im Kloster San Millan erzogen und lebte hier zwischen
1220 und 1240 als Diakon und Priester. Zum lateinischen Stilisten
nicht geschult genug, unternahm er es in einfacher, gemeinverständ-
licher Sprache für das Volk zu schreiben. In treuherziger Einfalt und
redseliger Weitläufigkeit, anschaulich, realistisch und lebendig, doch mit
wenig Phantasie erzählt er das Leben des hl. Dominicus von Silos, des
hl. Aemilianus, der hl. Aurea, den Martertod des hl. Laurentius, die
Zeichen des jüngsten Gerichtes, Marienwunder und die Klage der Jung-
frau am Kreuz nach lateinischen Quellen ; selber zusammengetragen hat
er nur die kürzeren Dichtungen zum Lob der Jungfrau und vom Mess-
opfer. Religiös wie die Stoffe sind Gesinnung und Stimmung des
Dichters: seine kindliche Frömmigkeit kommt mitunter zu innigem Aus-
druck, und bei der Beschreibung der übersinnlichen Welt teilt sich etwas
von seinem Entzücken seiner Darstellung mit. Nur einmal, vielleicht
in seiner Jugend hat Gonzalo einen weltlichen Vorwurf, die Alexander-
sage, gewählt und nach dem lateinischen Epos Gautiers von Chätillon
in der naiven Auffassung des Mittelalters behandelt. Für alle diese
Werke, zusammen mehr als 20000 Verse, bediente sich Berceo weder
der schwankenden' Langzeile der volkstümlichen Heldendichtung noch
der schlechtgemessenen Acht- und Sechssilber seiner geistlichen Vor-
gänger, sondern er machte sich eine bekannte Form der französischen
Didaktik, die einreimige Alexandriner- Vierzeile mit fester Silbenzahl und
reinem Reim, die cuaderna via, wie er sie nennt, zu eigen. Diese Reim-
weise gab auf zwei Jahrhunderte das Gewand ab, in das sich die spanische
Poesie kleidete.
Den Ruhm dieser Neuerung könnte möglicherweise der anonyme
Libro de Apolonio, eine schlichte Bearbeitung des weltberühmten Romans
Die spaniacbe Litteratar von ihren Anfängen bis zu den katholischen Königen 207
vom Könige von Tyrus, für sich beanspruchen. Jedenfalls machte das
Eunstepos in der neuen Gestalt sein Glück. Dem Alexandre folgte
die bald verschollene Übersetzung der französischen Fortsetzung der
Sage, ^das Pfauengelübde'. Besondere Beachtung verdient aber der Ver-
such, einen nationalen Gegenstand im Geschmack Berceos zu behandeln.
Diesen Versuch machte ein Mönch von San Pedro de Ärlanza. In
diesem Kloster ruhten die Gebeine des Grafen Fernan Gonzalez
(932 — 970), dem Kastilien seine Selbständigkeit verdankte, und den die
späteren Könige zu ihren Ahnen zählten. Diesem weihte der Mönch
sein Gedicht, einen wahren historischen Roman, indem er seine aus
Chroniken geschöpften, vagen Geschichtskenntnisse in Anlehnung an ge-
wisse Klostertraditionen und mit Hülfe hier und dort entlehnter Er-
zählungsmotive frei erfindend ergänzte. Gleich dem Alexander der Sage
wächst Fernan Gonzalez unbekannt auf, kämpft dann siegreich und unter
sichtbarem Beistand des Himmels gegen die Ungläubigen. Mitten in
seinen Erfolgen von Sancho von Navarra überfallen, besiegt er ihn, lässt
sich aber von dessen Schwester, der Königin von Leon, durch die Vor-
spiegelung einer Ehe mit ihrer Nichte überlisten. Doch Sancha, die
Nichte, erbarmt sich des Gefangenen und flieht mit ihm unter aben-
teuerlichen Gefahren durch unwirtliche Gebirgspfade, bis sie den Kasti-
liern begegnen, die sich ein Steinbild von ihrem Grafen angefertigt
haben und unter Voranführung desselben zu seiner Befreiung ausgezogen
sind. Nun gerät der König von Leon in Gefangenschaft, wird aber un-
klugerweise von Sancha freigegeben. Dann fällt wieder Fernan Gonzalez
in die Hände seiner Feinde: Sancha besucht ihn in Spielmannstracht
und tauscht die Kleider mit ihm. Jetzt muss der König von Leon
nachgeben ; Fernan Gonzalez hatte ihm früher Pferd und Sperber unter
der Bedingung verkauft, dass der Kaufpreis bei jeder Zahlungsverzöge-
rung verdoppelt würde. Da die Summe unerschwinglich gewurden ist,
muss der König die Unabhängigkeit Kastiliens anerkennen. — Auch
diese abenteuerlich romantischen Erfindungen des Mönchs von Arlanza
sind durch Vermittlung von Alfonsos Chronik in den Schatz der poe-
tischen Nationalerinnerungen Spaniens übergegangen.
Die altkastllische Prosa.
1250-1350.
Bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts vermochte die Prosa nicht
gleichen Schritt mit der Dichtkunst zu halten. Ihre Leistungen be-
schränken sich auf die ziemlich dürftigen toledaner Annalen, einige
14*
208 Ph. Aug. Becker
magere Geschlechtstafeln und, zum Schluss, Übersetzungen der Ge-
schichtswerke des Erzbischofs Rodrigo von Toledo und die 1241 von
Fernando III angeordnete Übertragung der lex Visigotorum, das sog.
fiiero juzgo (forum judicum), als Landesgesetz für die neugewonnenen
Gebiete. Mittlerweile bildete sich indessen in der königlichen Kanzlei,
die mehr und mehr die Volkssprache an Stelle der lateinischen einführte,
eine feste Tradition aus, die dem Eastilischen die Würde der offiziellen
Verwaltungssprache verlieh und es für die grossartige Schriftsteller-
thätigkeit Alfonsos X geschmeidig machte.
Alfonso X, den die Nachwelt den Weisen oder den Gelehrten
(el Sabio) genannt hat, ward 1230 geboren; als Infant erwarb er Waifen-
ruhm bei der Einnahme von Murcia, und 1252 übernahm er das Reich
von seinem Vater, Fernando III, dem Heiligen, in einer bis dahin nicht
erreichten Ausdehnung und Festigkeit; Leon endgiltig mit Kastilien
vereint; Friede mit Portugal und Aragon; Cördova, Sevilla, Xeres im
Besitz der Christen ; Murcia, Granada nnd Niebla im Vassallenverhältnis.
Seiner engeren Sphäre entsteigend, durfte Kastilien sein Wort in der
Weltpolitik mitreden. Allein, die blendende Verlockung der deutschen
Kaiserkrone, die den Sohn der Stauferin Beatrix bestrickte, ward für
ihn wie für das Land verhängnisvoll. Sie lähmte sein Wollen und seine
Thatkraft nach beiden Seiten, verwickelte sein Leben in eine Kette von
Empörungen, hinderte ihn die der Erfüllung so nahe gerückten hohen
Aufgaben seiner Nation zu verwirklichen, und liess ihn, nachdem der
Traum des Weltimperiums zerronnen war, 1284 im Zerwürfnis mit dem
eigenen Thronfolger sterben.
Früh erwachte in dem Prinzen die Liebe zur Wissenschaft, und er
blieb ihr sein Leben lang treu. Es ist sein Verdienst, durch Anregung
und eigenen Fleiss die Schätze arabischen Wissens und Dichtens seinem
Volke und durch dessen Vermittelung dem Abendlande in höherem Ma^^se
erschlossen zu haben. Bereits 1241 erwarb er Arbolays astrologisches
Stein buch und liess es übertragen. Noch als Infant ordnete er die Über-
setzung von Calila und Dimnaj der arabischen Bearbeitung des Pant-
schatantra, an. Am beharrlichsten förderte er die Sternkunde. Durch
jüdische Gelehrte liess er die astronomischen Tafeln des Ptolemäus revi-
dieren und bericlitigen, und lange dienten diese tablas alfonsis beim
höheren Unterricht als Grundlage. Auf seine Anordnung wurden die
Beobachtnngs- und Messinstrumente der Alten wieder hergestellt und
verbessert und eine Reihe von Schriften über ihren Bau und Gebrauch
aus dem Arabischen übersetzt oder, wo nichts vorhanden war, angefertigt.
Die spanische Litteratur von ihren Anfängen bis zu den katholischen Königen 209
Dabei bestimmte der gelehrte Fürst nicht nur die Wahl des Themas,
sondern verfugte über Kapiteleinteilung, verfasste Prologe, besserte sprach-
lich nach und Hess nötigenfalls eine minder gelungene Arbeit abermals
in Angriff nehmen. Den Intentionen seines Vaters folgend, bemühte
sich der König um die Vereinheitlichung der Gesetzgebung, konnte aber
gegen den Widerstand der kastilischen Bicoshombres nicht durchdringen.
Das zuerst kodifizierte Fuero real (Königsrecht) wurde seit 1255 mehreren
Städten verliehen; dann veranstaltete Alfonso eine Auslese des Besten
unter den bestehenden Bechtsgebräuchen, den Espejo de todos los dere-
chos (Spiegel aller Bechte) ; seine bedeutendste Leistung auf diesem Ge-
biete sind aber die mehr philosophierenden und stark von römischen
Grundanschauungen beeinflussten Stete PartidaSy die erst 1348 und nur
teilweise zur Geltung kamen, aber nicht ohne Einfluss auf Moral und
Staatslehre blieben. Durch die grossen lateinischen Geschichtswerke
eines Lucas von Tuy und Bodrigo von Toledo angeregt, unternahm der
Monarch eine Geschichte Spaniens (Historia de Espana), in der er die
Heimsuchungen des Landes, d. i. die römischen Verheerungen, den Adel
der Goten, die arabische Eroberung und den Befreiungskampf schildern
wollte, und die er in vier Büchern bis zu seinem Begierungsantritt
führte: eine wichtige Quelle für den jüngsten Zeitabschnitt, unpersön-
lich in der Darstellung, in lebendig ausdrucksvoller Sprache, sonst wenig
kritisch und daher für epische Berichte so empfänglich. Hieran schloss
sich das umfänglichere, wahrscheinlich unvollendete Unternehmen einer
Weltgeschichte (Grande y general Historia), Von dem auf Wunsch
des Vaters begonnenen. Septenario, der Absicht nach eine Encyklopädie
der freien und technischen Künste, hat sich nur der Anfang erhalten;
andere Übersetzungen, die Alfonso veranlasst haben soll, sind verschollen ;
das unter seiner Mitwirkung verfasste Buch vom Schach-, Würfel und
Brettspiel harrt noch der Veröffentlichung. Endlich besitzen wir auch
ein Liederbuch Alfonsos in galicischer Sprache, 428 Wundererzählungen
und Hymnen zum Lob der Jungfrau Maria. Wahrlich Achtung ge-
bietende Leistungen, weniger durch Originalität der Gedanken ausge-
zeichnet als durch Vielseitigkeit des Wissens und Bemühens, und noch
heute anziehend durch die Jugendfrische der urwüchsigen, malerischen
Sprache, die das beste Eigentum des Königs ist und sein sicherster
Titel auf Nachruhm.
Die litterarischen Neigungen wurden auch von anderen Mitgliedern
der königlichen Familie geteilt und gingen auf Söhne und Enkel als
Erbteil über. Alfonsos Bruder, don Fadrique, der sein unruhiges Leben
210 Ph. Aug. Becker
grösstenteils im Ausland verbrachte und es schliesslich als Emporer
verwirkte, liess in jungen Jahren die Apologensammlung des Sindibad
als *Buch von der Frauen Trug und List' (Libro de los enganos e assaya-
mientos de las mugeres) aus dem Arabischen übertragen. Alfonsos Sohn
und Nachfolger, Sancho IV (1284—95), der durch seine Thatkrait
manchen Schaden der letzten Regierung wieder heilte, liess Seneca catitra
la ira e la sana und Brunetto Latinis Libro del Tesoro übersetzen und
gab die Anregung zu einer umfassenden Erzählung der Kreuzfahrten,
la Gran conquista de Ultramar, in welcher die bekannte Krcuzzngs-
geschichte Wilhelms von Tyrus mit den provenzalischen und französischen
Dichtungen von Antiochia und Jerusalem nebst dem ganzen Epcncyklns
vom Schwanenritter verarbeitet, und so statt einer Geschichte ein statt-
licher Boman geschaffen wurde. Er selber verfasste ein Lucidiario in
Form von Gesprächen zwischen Lehrer und Schüler über lauter heikle
Fragen, bei denen Theologie und natürliche Erkenntnis in Widerstreit
liegen; und 1292 vollendete er im Lager vor Tarifa Lehren und Unter-
weisungen an seinen Sohn {Castigos y documentos que daba a su hijo)^
Frucht grosser Belesenheit, behaglich breit, in feierlich gehobener Rede,
mit Sentenzen und Beispielen gewürzt, doch weniger persönlich als man
erwarten sollte. Dieser Sohn, Fernando IV, erreichte nur ein Alter von
22 Jahren und hinterliess die Krone einem einjährigen Kinde, A 1 f on so XI,
der nach einer wirrenreichen Minorität die Zügel der Regierung kraft-
voll ergriff, das königliche Ansehen wieder herstellte, Algeciraz bezwang
und 1350 vor Gibraltar an der Pest starb. Ihm verdanken wir ein
Buch von der Hochjagd; seinen Schreiber Nicolas Gonzalez betraute er
mit der Bearbeitung der Trojanersage nach Benoit de Sainte-More; am
meisten machte er sich aber dadurch verdient, dass er die seit Alfonso X
schlummernde Historiographie wieder weckte, indem er seinen Kanzler
Fernan Sanchez de Tovar beauftragte, die Geschichte seiner Vor-
gänger und seiner eigenen Regierung niederzuschreiben. Den begabtesten
Schriftsteller aus königlichem Geblüt werden wir aber im Infanten don
Juan Manuel, einem Neffen Alfonsos X, kennen lernen.
Ihrem Wesen nach ist die Prosa dieses Zeitraums lehrhaft; beson-
derer Gunst erfreut sich dabei die Spruchlitteratur, jene sentenziöse
Verarbeitung griechischer Philosophenweisheit, welche die Araber dem
Abendlande vermittelten. Schon Alfonso X schöpft aus ihr, und unter
seiner Regierang wurden sowohl die 'Sittensprüche der Philosophen'
(L. de los buenos proverbios) des nestorianischen Arztes Honein ben
Ischak, des Vaters der Gattung, als Mobasschirs 'Aussprüche weiser
Die spanische Litteratur von ihren Anfängen bis zu den katholischen Königen 211
Männer', die vielbenutzten Bocados de oro, mit den ^Antworten des Philo-
sophen Secundus auf die Fragen Kaiser Hadrians' ins Spanische über-
setzt, auch vom ^Geheimnis der Geheimnisse*, brieflichen Katschlägen
des Aristoteles an Alexander, ein Auszug (Poridad de las poridades),
sowie das metaphernsprudelnde Fragespiel der Sklavin Teweddud {Teodor
la doficella). Das Beispiel selbständiger Verwertung dieser Spruchweis-
heit gab Sancho IV mit den Lehren an seinen Sohn. Zu Lebzeiten
dieses Königs entstand vermutlich die Blutenlese der nach Begriffsfächern
geordneten und mit Sprichwortern untermischten Flores de filosofia und
das *Buch von den Fürstenräten' (L. de los consejos y consejeros)^ dessen
Verfasser raaestre Pero Gomez Barroso 1345 als Kardinal in Avig-
non starb. Junger und ziemlich frei ersonnen ist der angeblich am Hofe
Fernandos III zusammengestellte Fürstenspiegel der 'Zwölf Weisen' (Doce
sabios) ; und noch später fällt das 'Buch der 34 Weisen', das meist ältere
Weisheit auffrischt. Auch von einer abendländischen Fabelsammlung,
den 'Narrationes' des Cisterciensers Odo von Sherington — eigentlich
nur Linienrisse von Fabeln mit scharf satirischer Anwendung — haben
wir eine Übersetzung, das sg. 'Katzonbuclf (L, de los gatos). Den
steigenden Einfluss des römischen Altertums vertritt die Fürstenlehre
^de regimine principum', die Aegidius Colonna, ein Römer, für seinen
Zögling, Philipp den Schönen von Frankreich, verfasste und der Beicht-
vater der Königin, fray Juan Garcia de Castrojerix, für don
Pedro, den Sohn Alfonsos XT, ins Kastilische übertrug und um zahl-
reiche Lehren und Beispiele vermehrte. Die Eingenommenheit des Mittel-
alters für moralische Betrachtungen und nicht minder für symbolische
Einkleidung und bildlichen Ausdruck Hess diesen Litteraturzweig kräftig
gedeihen. Die für Spanien charakteristische unmittelbare Übernahme
orientalischer Schätze überdauerte übrigens die Zeit Alfonsos X nicht,
und um die Mitte des 14. Jahrhunderts hörte die wirksame Pflege der
Sentenzen- und Apologenlitteratur überhaupt auf. Aber die Leser blieben
ihr noch lange treu, wie zahlreiche Handschriften und Wiegendrucke
bekunden ; ja das eine, oder andere läuft noch heute als Volksbuch um.
Auffallend geringfügig ist im Vergleich, was die geistliche Litte-
ratur in der Volkssprache leistete. Den Psalter verdolmetschte H e r m a n
el A lern an, und noch vor Ablauf des 13. Jahrhunderts folgten die
übrigen Bücher der Bibel. Die Wunder des hl. Dominions, bunte Anek-
doten, sammelte 1293 Pero Marin, Mönch von Silos und Priester.
Von den schlichten Traktaten, die der Bischof von Jaen, Pedro Pas-
cual, ein geborener Valencianer, während seiner Gefangenschaft in
212 Ph. Aug. Becker
Granada und vor seinem Martertode (1300) zur Stärkung seiner Leidens-
genossen, verfasste, fanden mehrere in spanischer Übersetzung Verbrei-
tung und sind teilweise nur in dieser erhalten. Endlich richtete Rabbi
Abner, nach seiner Bekehrung Alfonso von Valladolid, 1349 hochbetagt
gestorben, mehrere Streitschriften gegen seine früheren Glaubensbrüder.
Freiere Schöpfungen der Phantasie wagen sich im Anfang dieses
Zeitraums noch nicht unverhüllt hervor, sondern verbergen sich hinter
ernsteren Absichten. Sowohl die Umschreibung spanischer Heldenlieder
in Alfonsos Chronik wie die Auflösung französischer Epen in der Gran
conquista de Ultramar sind als Geschichte gemeint. In inniger Ver-
schmelzung des Erbaulichen mit dem Sentimental-romantischen vereinigt
eine Handschrift des 14. Jahrhunderts das Leben der hl. Maria Magdalena
und Martha, der hl. Maria Aegyptiaca, der hl. Katharina von Alexandrien
und die Eustachiuslegende — selbst nur fromme Romane — mit be-
liebten Varianten der spannenden Geschichte der getrennten und wieder
vereinigten Familie und des rührenden Themas der unschuldig verfolgten
Gattin : nämlich 'König Wilhelm von England* nach dem Roman Chre-
stiens von Troyes, Trincess Florencia von Rom' und 'Königin Sevilla'
nach zwei französischen Epen der Verfallszeit und die 'keusche Kaiserio'
nach einer Versnovelle Gautiers von Coincy. Ihren feierlichen Einzug
hielt aber die höfische Ritterdichtung unter allgemeinem Beifall mit der
Übersetzung des Prosaromans von Tristan, dem 1350 die bereits er-
wähnte Bearbeitung der Trojasage folgte.
In diese Zeit fällt auch der erste Versuch selbständiger Erfindung,
der Caballero Cifar, ein seltsames Stück Unterhaltungslektüre. Der
Roman spielt in Indien (Abessinien) und erzählt uns nach den Aben-
teuern des Titelhelden, der sich Frau und Kindern entführen sieht und
eben die Erbin von Menton geheiratet hat, als er jene wiederfindet, auch
die seines Sohnes Roboan, der Kaiser von Tigrida wird. Wir sehen
alleinstehende Frauen von mächtigen Nachbarn bedrängt; züchtige Erb-
töchter neigen dem fahrenden Ritter ihre Huld zu und bringen ihm
Kronen heim; dazwischen wird die Lebensweisheit der 'Flores de filo-
sofia' mit vollen Händen eingestreut. Ein versprechender Ansatz zu
populärer Komik, die Figur des Rüpels, der Cifar in den schlimmen
Tagen seines fahrenden Rittertums begleitet, wird zu früh fallen ge-
lassen. Am anziehendsten sind zwei Abstecher ins Zauberland der Feen :
Die Episode vom Ritter, den die Seefrau in ihr feuchtes Reich lockt
und zurückhält, bis er infolge einer Untreue den schönen Spuk zerrinnen
sieht, und die Fahrt Roboans nach den Inseln des Überflusses, deren
Die spaniscbe Litteratnr von ihren Anfängen bis zu den katholischen Königen 2 1 3
Herrschaft er mitsamt dem dort gefundenen Liebesglück durch nimmer-
satte Begehrlichkeit verscherzt.
Die Reihe der Prosaschriftsteller beschliesst don Juan Manuel
(1282—1348) mit ebenso viel Glanz, als sein Oheim Alfonso der Weise
sie eröffnete. Mitten in einem Leben voll Unruhe und ehrgeiziger Händel,
die ihm wiederholt die Waffen in die Hand drückten, und gerade in
den bewegtesten Jahren zwischen 1320 und 1335 fand der feinsinnige
Infant Muse zu ausgiebiger und vielfältigster schriftstellerischer Thätig-
keit. Umfängliche Geschichtswerke wie die Alfonsos mutete er sich
freilich nicht zu; er fertigte aber einen Auszug aus dessen Geschichte
Spaniens zum eigenen Handgebrauch, machte sich Aufzeichnungen für
die Folgezeit und entwarf eine Denkschrift über sein Familienwappen
und andere die Geschichte seines Hauses betreffende Fragen. Seiner
Liebe zu Kriegskunst und Waidwerk entsprangen das verlorene ^Buch
über Kriegsmaschinen' und das ^Buch von der Jagd', worin er die Falken,
ihre Arten, ihre Zucht und Pflege und Spaniens beste Reviere für Vogel-
beize schildert. Verschollen ist sein Liederbuch sowie eine Anleitung
zur Dichtkunst, die er schrieb. Seine übrigen Schriften huldigen der
lehrhaften Richtung der Zeit. Zwei seiner ersten Versuche, ein ^Buch
der Weisen' und ein ^Buch vom Rittertum' sind in Verlust geraten.
In anmutige Gesprächsform kleidet sich das ^Buch vom Ritter und
Knappen' (L. del caballero y del escudero): Auf dem Wege zum Hofe,
wo er den Ritterschlag empfangen soll, trifft der Knappe einen alten,
weltfremd gewordenen Ritter, der ihm schöne Lehren über Ritterpflichten
mitgibt, und auf der Rückfahrt kehrt der junge Ritter abermals in der
Einsiedelei des Alten ein und fragt ihn aus über Gott und Engel, Pa-
radies und Hölle, Firmament und Gestirne, Elemente und Geschöpfe,
Erde und Meer. Seltsamer ist die Einkleidung des 'Buchs der Stände'
(L. de los estados), das zuerst als 'Buch des Infanten' zur Rechtfertigung
seines Kampfes gegen den König entworfen war: Fern von der Welt
erzogen, erblickt ein junger Prinz plötzlich das Leiden der Menschheit
und will nun das Rätsel des Daseins und des Sterbens entschleiern und
lässt sich zu dem Behuf von einem christlichen Philosophen Auskunft
über die Wahrheit der Religionen und die Verfassung der christlichen
Staaten, ihre weltlichen und geistlichen Stände erteilen. Auch Lehren
für seinen Sohn und zwar selbst erprobte trug don Juan zusammen, und
da er auch die späteren Erfahrungen seines Lebens nachzutragen ge-
dachte, nannte er das Buch das 'unvollendete' (L, enfinido). Die letzte
Schrift des Infanten verteidigt den Glaubenssatz vom leiblichen Verbleib
214 Pi>. Aug. Becker
Marias im Himmel. Das vollendetste aber, was er der Nachwelt hinter-
lassen hat, ist das bis auf unsere Tage frisch und beliebt gebliebene
Buch vom Grafen Lucanor und seinem Rate Patronio, 51
Erzählungen mannigfaltigen Inhalts für alle Lebenslagen, Geschichte,
Fabeln, Anekdoten in losen Rahmen gefügt, mit etwas holprigen Reim-
sprüchen als Moral, recht ergötzlich, lebendig und frei vorgetragen, wie
das Wort im Gespräch vom Munde des Weltmannes fliesst, und so
schlicht und natürlich erzählt, dass don Jaime von Aragon es gar nicht
als gelehrte Leistung anerkennen wollte und durch seinen Tadel den
Verfasser veranlasste, 150 absichtlich verdunkelte Sprüche anzufügen,
um auch hierin seine Meisterschaft zu zeigen. Dieses bedeutsame Werk,
das die Prosalitteratur dieses Zeitraums abschliesst und krönt, behält
zwar äusserlich die lehrhafte Tendenz der Gattung bei und wahrt durch-
aus den Ernst im Vortrag; unbewusst bricht aber in Denkweise und
Stil die Persönlichkeit des Verfassers durch, und das verleiht eben jenen
Blättern ihre unverwelkliche Frische.
Zweite Phase der lehrhaften Kunstdichtang.
1300-1350.
Trotz der gesteigerten Regsamkeit auf dem Felde der Litteratur
blieb ihre Pflege auf enge Kreise beschränkt; daher kommt es, dass die
Entfaltung der Prosa zunächst einen Stillstand der Poesie nach sich zog.
Viel liegt aus der Zwischenzeit nicht vor: ein Leben des hl. Ilde-
fonso in der Weise Berccos aus den Jahren Fernandos IV von einem
Geistlichen, der als Pfründner von Ubeda auch eine Magdalenenlegende
reimte, und eine Strafpredigt gegen die Unbussfertigkeit der Welt, die
sich las palabras que dixo Salonwn betitelt: beides unbedeutend.
Ein ganzer Dichter erstand an der Grenzscheide unseres Zeitraums
in Juan Ruiz, dem Erzpriester von Hita, der sein Librod^buen amor
1330 vollendete, dasselbe jedoch 1348 im Gefängnis des Erzbischofs von
Toledo und noch später durch Einlagen erweiterte: ein eigenartig geniales
Dichtwerk. — Um seine Mitmenschen vor den Fallstricken der thörichten
Liebe zu warnen, doch auch zu ihrer Ergötzung erzählt Juan Ruiz seinen
Lebensroman. Denn, da er ein Mensch ist wie andere Sünder auch, hat
er vielfach geliebt und Liebe erfahren : nur bittet er, die Offenherzigkeit
seiner Beichte nicht misszuverstehen ; es kommt ja Alles auf die richtige
Deutung an. Zuerst verliebte sich also der Erzpriester in eine tugend-
hafte Frau, die ihm freundschaftlich wohlgesinnt war; als er ihr aber
Die spaDische Litteratur von ihren Anfängen bis zu den katholischen Königen 215
ein Liebesgedicbt zustellen lässt, bedeutet sie ihm mit einer treffenden
Fabel, dass sie ihm ebenso wenig traue wie anderen Männern; sie ge-
stattet ihm jedoch sein Liebesleid zu besingen. So abgewiesen versucht
er sein Glück bei einer minder heiligen ; der Freund, den er als Liebes-
boten verwendet, happt ihm den Bissen weg. Trotz dieser Misserfolge
kann Juan Buiz vom Lieben nicht lassen; er muss, erklärt er, unter
dem Stern der Venus geboren sein, und da hilft kein Widerstreben;
denn die Liebe ist gar mächtig, wenn auch voll Falsch. Also verliebt
er sich abermals in eine sittsame Schöne, sendet ihr auch viele Lieder,
doch sie will seinetwegen das Paradies nicht verscherzen. Da erscheint
dem Verschmähten Gott Amor selber im Traum, und kaum giebt er
sich zu erkennen, so überhäuft ihn der Dichter mit den bittersten Vor-
würfen, ihn, den Falschen, der die Männer entkräftet, der seine ver-
blendeten Diener misshandelt und alle sieben Todsünden im Gefolge
führt. Gelassen lässt Amor den Schwall der Schmähungen über sich
ergehen und antwortet, auf Ovid verweisend, mit guten Ratschlägen über
die Wahl der Geliebten und das Verhalten des Liebhabers mit gebüh-
render Betonung der Macht des Geldes, das gar in Rom allvermögend
ist. Beim Erwachen will es dem Dichter scheinen, als habe er diese
Lehren von jeher befolgt, und zwar ohne Nutzen, wie er auch nie in
seinem Leben eine Frau sah, wie Amor sie ihm schilderte. Diesmal fällt
Dun seine Wahl auf eine reiche Witwe, und hier webt der Erzpriester,
Wahrheit und Dichtung vermählend, eine ergötzliche Adaptation der
mittelalterlichen Komödie von Pamphilus in seine Erzählung ein. Er
begiebt sich zu Frau Venus, seinen Kummer vor ihr auszuschütten, und
empfängt von ihr neue Belehrung voll treffender Kenntnis des weiblichen
Herzens. Er fasst also Mut, redet seine Witwe auf der Strasse an, und
zum besseren Gelingen sichert er sich die Mitwirkung der gewiegten
Trotaconventos, die ihre Zwischenträgerdieuste meisterhaft verrichtet und
schliesslich die Liebenden in ihrer Wohnung zusammenführt. Das An-
stössige dieser Geschichte sucht der Dichter durch wohlgemeinte Mahn-
worte an das leicht verfuhrbare Geschlecht gut zu machen, worauf das
Sündenregister von frischem anhebt. Schon winkt ihm mit Hülfe der
Alten ein neuer Sieg, als er die Unentbehrliche durch ein unvorsichtig
Wort beleidigt und sich veranlasst sieht, zur Warnung für andere,
41 Spottnamen aufzuzählen, die man solchen Mittelspersonen nicht ein-
mal im Spass beilegen darf. Die schmollende Alte lässt sich zwar ver-
söhnen und renkt die gestörte Intrige wieder ein; aber der Tod kürzt
die Tage der Freude. Zur Zerstreuung unternimmt der Erzpriester in
216 Ph. Aug. Becker
den ersten Märztagen einen Ausflug ins Gebirge. Schnee und schlechte
Wege und unzarte Begegnungen mit derben Senninnen verderben ihm
die Laune nicht. Nachdem er sein Geld in Segovia verthan und auf
dem Heimwege seine Andacht in Santa Maria del Vado verrichtet, wird
ihm bei seiner Ankunft dofila Quarcsmas Fehdebrief zugestellt, worin sie
ihre Getreuen zum Kampf gegen don Carnal aufbietet, der seit einem
Jahre fast ihre Lande verwüstet. Beiderseits rüstet man zur Schlacht;
hier Hühner, Kapaune, Enten, Pfauen, Schinken und Schweinskeulen,
Lummelbratcn, Wildpret, u. s. w., dort Lauch, Sardinen, Aal, Hummer,
u. s. w. In der kritischen Nacht lässt sich don Carnal, durch unmäs-
sigen Genuss von Speise und Trank betäubt, überraschen und wird ge-
fangen gesetzt. Willig fügt er sich den auferlegten Bussübungen und
folgt am Palmsonntag seinem Beichtvater zur Messe, entweicht aber aus
der Kirche, verbirgt sich einige Tage im Judenviertel, und nachdem
seine erschrockene Feindin das Feld geräumt^ sammelt er neuerdings
seinen Anhang und hält seinen siegreichen Einzug im Verein mit don
Amor, dem alles in feierlicher Prozession entgegenzieht und um dessen
Bewirtung alle Stände sich streiten. Beim Dichter nimmt er sein Ab-
steigequartier und schlägt vor dessen Haus sein mit den Bildern der
zwölf Monate geziertes Zelt auf. Wieder beginnt Juan liuiz sein Liebes-
werben, Trotaconventos ihre Gänge; wieder waltet der alte Unstern.
Die erste Dame ist ganz unnahbar; die zweite ist williger, reicht aber
rasch einem Andei*n die Hand. Da rät ihm die Alte zu einer Nonne
und verschafft ihm auch Eingang bei ihr. Hier erwartet aber den losen
Verführer statt der Sinnenlust, nach der er bisher gejagt, die reine, die
veredelnde seelische Liebe; leider löst der Tod auch dies schöne Ver-
hältnis. Noch ein vergeblicher Versuch bei einer Maurin, dann schlägt
Trotaconventos' letzte Stunde und giebt dem Dichter Anlass zu einer
schönen Leichenrede, die er im besten Zuge abbricht, um vom Lob der
kurzen Predigten zum launige Lob der kleinen Frauen überzuspringen.
Als Liebesbote verwendet Juan Kuiz fortan seinen Burschen Huron, dem
abgesehen von vierzehn Hauptfehlern nur Gutes nachzureden ist: der
Erfolg lässt sich denken. — Mit einem Loblied zu Ehren der heiligen
Jungfrau enden, wie sie begannen, die Geständnisse des Erzpriesters von
Hita, die originellste Schöpfung der altkastilischen Poesie, ja eine der
genialsten des ganzen Mittelalters, ein Sittengemälde so anschaulich und
lebensvoll wie es je ein Dichter gezeichnet, von dessen Grund sich das Bild
einer ausgeprägten Individualität voll Lebenslust, voll drastischen Witzes und
schalkhaften Mutwillens abhebt, ein seltsames Gemisch frommerGläubigkeit
Die spanische Litteratar von ihren Anf&ngen bis zu den katholischen Königen 217
und krassen Leichtsinns. Mit diesem Werke erreicht die nationale Form
der lehrhaften Rahmenerzählung ihre Vollendung durch die innige Ver-
schmelzung der Einkleidung mit den eingestreuten Schwänken und Fabeln
zu einem einheitlichen Ganzen ; noch einmal macht sich der Einfluss der
sinkenden französischen Litteratur in den meisterhaft ausgeführten Tier-
fabeln und jener grossartig entworfenen Allegorie des Kampfes zwischen
Fasten- und Fleischzeit geltend; und zum ersten Male tritt uns eine
freiere, bcfweglichere Lyrik in den sanglichen Hirten-, Studenten- und
Marienliedern entgegen, die der Erzpriester in seine lose Beichte ein-
gewoben hat und die uns eine hohe Meinung von der vielseitigen Be-
gabung dieses Mannes einflössen.
Die Übergangszeit.
1350-1400.
Die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts gestaltete sich minder günstig
für die Pflege der Litteratur. Die gewaltthätige Regierung Pedros des
Grausamen stürzte Eastilien in Aufruhr und Bürgerkrieg, und zog es
hinein in die englisch-französischen Wirren und hinterliess der unechten
Linie der Trastamara, die die Krone an sich riss, Verwicklungen mit
den Nachbarstaaten und Schwäche im Innern. Und dreimal verheerte
der schwarze Tod das schwergeprüfte Land. Unter diesen misslichen
Umständen geriet das geistige Leben ins Stocken, und die Litteratur
trägt, soweit sie gepflegt wird, die Merkmale des Übergangs an sich.
Sie bleibt in der Hauptsache lehrhaft, strebt aber nach neuen Formen.
Dem Könige don Pedro widmete Rabbi Santo (Sem Tob) von
Carrion seine aus jüdischer Tradition und eigener Lebenserfahrung ge-
schöpften und in leicht fliessende kurzzeilige Reimsprüche gefassten
Proverbios morales, und setzte so an Stelle der dem Schweigen ver-
fallenen Sentenzenlitteratur eine neue Gattung, die im folgenden Jahr-
hundert auch Nachahmer fand. Dann erfuhr 1382 das alte Thema vom
Streit zwischen Leib und Seele erneute Behandlung, und um
die Wende des Jahrhunderts entstand die Bearbeitung eines hebräischen
Schachgedichts im Jargon der Sephardim, jener über die' Küsten-
städte des Mittelmeers zerstreut lebenden spanischen Juden, und das
Poema de Josi^ das die Schicksale des Erzvaters Joseph nach dem Koran
erzählt und das älteste Denkmal jener von den hispanisierten Mauren
(mudejares) besonders in Aragon gepflegten und meist in arabischer
Schrift aufgezeichneten Litteratur ist.
218 Ph. Aug. Becker
Die hervorragendste und bezeichnendste Gestalt dieses Zeitraumes
bleibt aber Pero Lopez de Ayala (1330 — 1407). Er entstammte
der baskischen Provinz Alava, trat schon unter Pedro dem Grausamen
hervor und wurde der vertrauteste Ratgeber der drei ersten Trastamara,
unter denen er die höchsten Reichswürden, seit 1398 die des Gross-
kanzlers von Kastilien bekleidete. Von schlanker Erscheinung, liebens-
würdig im Umgang, gewissenhaft und gottesfürchtig, in Staatsgescbäften
erfahren und ein tapferer Ritter, dabei dem Studium der Philosophie
und Geschichte aus Neigung ergeben, mit einem stärkeren Hang zum
schönen Geschlecht als einem so weisen Ritter geziemte: so wird er
uns von seinem Schwestersohn geschildert. Als Dichter versuchte sich
Ayala zuerst an Papst Gregors Betrachtungen über Hieb, und zwar in
der bereits altertümlich ercheinenden cuaderna via Berceos. Seine reife
Lebenserfahrung legte er dann im Rimado del palacio nieder, der in
Abständen zwischen 1378 und 1385 entstand und bis 1403 Zusätze er-
fuhr. Nach einer feierlichen Generalbeichte schildert er darin mit rück-
sichtslos energischen Pinselstrichen den Zustand der Zersetzung und
Fäulnis, der in Staat und Kirche herrscht. In einer Reihe lose gefugter
Skizzen, die von treffender Beobachtungsgabe, reicher Welterfahrung und
freimütiger Geradheit zeugen, führt er uns die verschiedenen Stände mit
ihren Gebrechen vor: allen voran das verweltlichte Papsttum, jetzt ein
Raub ehrgeizigen Haders, dann die herrsch- und habgierigen Prälaten,
den unwissenden, sittenlosen Klerus, die Umtriebe der jüdischen Finanz-
pächter, die Windbeuteleien der Kaufleute, die gewissenlosen Anwälte,
die harten und bestechlichen Richter, die treulosen Magistrate, die die
Einkünfte der Städte verschachern, u. s. w. Mit dramatischer Lebhaftig-
keit beschreibt er besonders die bitteren Erfahrungen des gealterten
Kriegsmannes bei Hofe und die Beschwerden der königlichen Stellung,
die fortwährende Belästigung, die täglichen Sorgen und die Zerfahren-
heit der Ratgeber. Mit dem Preis der Friedfertigkeit, der geordneten
Rechtspflege und der echten Herrschertugenden tönt die Dichtung aus;
den lyrischen Anhang bilden Klagen und Gebete aus Ayalas portugie-
sischer Gefangenschaft (1385) und wehmütige Betrachtungen über das
fortdauernde Schisma. So schreiten wir an Ayalas Hand durch eine
Galerie lebensvoller Originale, nicht minder reich als die des Erzpriesters
von Hita, vielleicht nicht so genial gezeichnet, aber durch höheren sitt-
lichen Ernst eingegeben und durch die markige Sprache gehoben. Auch
als Prosaschriftsteller machte sich der Grosskanzler verdient. Ihm ver-
dankt Spanien unter anderem die erste Livius-Übersetzung. Die seit
Die spaniscbe Litteratar Yon ihren AnfADgen bis zu den katholischen Königen 219
Alfonso XI ruhenden Reichschroniken nahm er wieder auf, und Niemand
war zu dieser Arbeit berufener als er, der an allen Zeitereignissen seit
1350 thätig beteiligt war. Seine Chronik, die er bis 1396 führte, zeichnet
sich durch die Fülle der Einzelheiten, den durchdringenden Scharfblick,
mit der er den Charakter don Pedros und die Entwicklung seiner krank-
haften Anlage analysiert, und eine eigenartige ungetrübte Sachlichkeit
aus, die von der rauhen Leidenschaftlichkeit der handelnden Personen
und der oft erschütternden Wildheit der Sitten grell absticht. Nach
Livius* Muster webt Ayala Beden und Briefe in seiner Erzählung ein,
ein Darstellungsmittel von zweifelhaftem Werte, mit dem jedoch die
Renaissance — und Ayala ist ihr Vorbote in Spanien — die Beflexion
in die Geschichtsschreibung einführte. Sonst schrieb der Grosskanzler
noch eine fabelhafte Genealogie seines Hauses und ein Buch von der
Falkenzucht.
Neben Ayala zeichnet sich Juan Fernandez de Heredia (I3I0
bis 96), aus altem aragonischen Geschlecht, seit 1377 Grossmeister des
Johanniterordens, als Freund der antiken Litteratur und der Geschichte
aus. Die Prachthandschriften seiner Bibliothek, die kostbarsten Denk-
mäler der älteren aragonischen Mundart, enthielten neben Eutropius,
Orosius und den Lebensbeschreibungen Plutarchs eine Geschichte Spaniens
in drei Bänden, Haytons Beschreibung des Orients, Marco Polos Reise-
bericht, eine Auswahl von Sittensprüchen, eine Geschichte des byzanti-
nischen Reiches, eine Chronik Moreas und 13 Lebensbilder berühmter
Eroberer, alles auf seine Veranlassung gesammelt und übersetzt. Here-
dias besonderes Interesse für den Orient brachte sein Beruf mit sich;
hatte er doch von Rhodos aus die Erwerbung Moreas für den Orden
mit allem Eifer betrieben.
Als Vertreter der Zeitgeschichte ist noch Juan de Alfaro zu
nennen, der die Regierung Juans I bis zur Niederlage von Aljubarrota
(1385) schildert. Grosse Vorliebe hatte die Zeit für handliche Geschichts-
abrisse, wir besitzen einen von Juan de Cuenca, dem Hofmarschall
der Königin Eleonora ; ein anderer verdankt sein Entstehen dem Bischof
von Bayona, Garcia de Eugui. Beachtenswert an dieser regeren
Thätigkeit ist besonders der Umstand, dass sich in diesen Jahrzehnten
Aragonier, ja Navarresen um die spanische Litteratur verdient machen.
Es ist ein Zeichen der Zeit: bald wird der Siegeszug der kastilischen
Sprache beginnen.
220 Ph. Atig. Becker
Das 15. Jahrhundert.
Die Poesie.
Noch vor Ablauf des 14. Jahrhunderts kam in der spanischen Litte-
ratur die längst vorbereitete Wandlung zum Durchbruch. An die Stelle
der bisher geübten gediegenen Lehrhafbigkeit trat eine zierliche, mit
Form und Inhalt spielende Unterhaltungspoesie. Wie ein Fieber griff
die Lust zu dichten und zu singen um sich und bemächtigte sich des
Hofes und aller Schichten des Adels. Dieser war nicht mehr das wür-
dige Bittertum der Maurenkriege, sondern hatte sich zu einer ehrgeizi-
gen, unruhigen Fendalaristokratie umgebildet, die ihre Freude an Glanz-
entfaltung, Frauendienst und Turnieren hatte und sich in prunkenden
Festlichkeiten überbot. Das Treiben und Sinnen dieser Gesellschafts-
kreise spiegelt sich in der Litteratur des 15. Jahrhunderts, insbesondere
in seiner Eunstdichtung wieder.
So lange die feinere Geselligkeit eines ritterlich-galanten Hoflebens
unbekannt war, fehlte Kastilien die wesentliche Vorbedingung zur Ent-
faltung einer eigenen Lyrik. Die Wenigen, die den Drang verspürten,
ihren Gefühlen in Versen Ausdruck zu geben, begnügten sich mit der
stammverwandten Mundart Galiciens, die unter der Ägide der bui^un-
dischen Dynastie zur Trägerin einer blühenden Poesie geworden war.
Bekanntlich schrieb Alfonso X seine Marienlieder galicisch; auch von
Alfonso XI besitzen wir ein solches Liedchen. Und so dichteten bis
1375 nicht nur Galicier wie der als Liebesmärtyrer durch Sage und
Dichtung verklärte Macias im westlichen Idiom, sondern gebürtige
Kastilier auch, wie der Stammvater der Mendoza, jener Pero Gon-
zalez, der bei Aljubarrota dem Könige sein Pferd überliess und ihn
mit Preisgabe seines eigenen Lebens rettete; oder derArchidiakonns
von Toro, der in einem humoristischen Testament die Teile seines
Körpers seinen Bekannten vermacht, die Haare einem Kahlen, die Füsse
einem Gichtbrüchigen und den Geist einem Stümper; oder Garci
Fernandez de Geren a, das verkommene Genie, der aus übel be-
ratener Habgier eine Maurin heiratete, dann Einsiedler wurde, nach
Granada floh, abschwor und die Schwester seiner Frau verführte, mit
einer Schaar Kinder zurückkam und im Elend verging. Auch der frucht-
barste unter den älteren Liederdichtern, der ob der spielenden Leichtig-
keit, mit der er reimte, vielbewunderte Alfonso Alvarez de Villa-
sandino schrieb zuerst portugiesische Verse auf die Maitressen Euri-
ques III, der ihn zum Bitter der Vanda machte; aber den Tod dieses
Die spanisclie Litteratur yon ihren Anfängen bis zu ien katholischen Königen 221
Königs (1379) beklagt er kastilisch, und fortan behauptet seine Mutter-
sprache den Vorrang. Formgewandt und ohne Adel der Gesinnung, wie
er war, fuhr er, so lange er lebte, fort neben eigenen Anliegen auf
Wunsch auch fremde Freuden und fremden Ärger zu besingen. Seine
Verse waren geschätzt; Sevilla bezahlte ihm vier Preislieder zu 100 Du-
blonen das Stück ; was er aber verdiente oder erbettelte, das verthat er
wieder im Würfelspiel. Gleichzeitig treten der gelehrt prunkende Pero
Ferrüz, ein Freund Ayalas, Ferran Manuel de Lande mit seiner
scharfen Zunge, Gomez Perez de Patifio mit seinem fröhlichen
Oleichmut, und Andere hervor, von denen wir nur kastilische Verse
kennen, und sie finden an der Königin- Witwe, Catalina von Lancaster,
eine wohlwollende Gönnerin, und an Juan Alonso de Baena, dem ge-
tauften königlichen Schreiber, ihren ersten Sammler.
Von ihrer Vorgängerin, der portugiesischen Hofpoesie, übernahm
die spanische Hoflyrik nicht nur die gangbaren Dichtungsgattungen
mit den geläufigen Vers- und Strophenformen, um sie in nationalem
Sinne auszugestalten, sondern den ganzen Schatz der von den Proven-
zalen ererbten konventionellen Empfindungen und Bedensarten. Denn
man erwarte von diesem höfischen Minnegesang keine spontane Äusse-
rung des Gefühls, keinen Aufschrei des Herzens oder Ausbrüche der
Leidenschaft : ihr Zweck ist gesellschaftliche Kurzweil, ihr Inhalt modische
Galanterie. Was der Trovador empfindet oder zu empfinden vorgiebt,
das wird ihm zum Thema für geistreiche Spitzfindigkeiten und kunst-
volles Reimgepränge, und die zur Schau getragene Liebesmystik ver-
deckt nur oberflächlich die Verwahrlosung der Sitten. Auch das Zeit-
gedicht trägt durchaus höfisches Gepräge; wir hören Loblieder auf Fürsten,
Freude an ihrer Wiege, Klage über ihrem Sarge ; vereinzelt richtet sich
die Büge gegen die Zeitverhältnisse; aber die erschütternden Tragödien
der Geschichte finden keinen Widerhall im Liede. Den Schleier des
Privatlebens lüftet mitunter das Schimpflied, ein Erbstück der Portu-
giesen, in dem sich Bosheit, Spottsucht oder persönlicher Groll entladen.
Das geistliche Lied, von jeher ein Sondergut der Kastilier, wird weiter
gepflegt. Die Lieblingsunterhaltung bildet aber das poetische Frag-
und Antwortspiel, bei dem es galt, das im Ernst oder Scherz aufge-
worfene Thema mit den gegebenen Beimen zu behandeln; viel Witz,
viel subtile Feinheit und schwerfällige Pedanterie sind daran vergeudet
worden. Das Überwiegen dieser Gattung vor der zum Gesang bestimmten
Lyrik und das hierin begründete Vorherrschen der Langzeile, des natio-
nalen verso de arte mayor {y) -.\jyj ±.yß\{\j) -kjkj j-\j^ verleiht der kasti-
NKUE HEIDELB. JAHRBUECHER XII. y^
222 ^h. Aug. Becker
lischen Hofdichtung den ihr eigenen Charakter als Eonversationspoesie
und bedingt anfänglich ihren geringeren rythmischen FormenreichtuiD.
Ein neues Element brachte Italiens wachsender Einiluss. Dieses
Land hatte sich im 14. Jahrhundert zur geistigen Vormacht aufge-
schwungen. Besonders machte Dantes grosse Figur Eindruck, wenn er
gleich in der Tiefe seines Wesens unverstanden blieb. Seine Bekannt-
schaft vermittelte Mifer Francisco Imperial, Sohn eines Juweliers,
in Genua geboren und erzogen, in Sevilla ansässig. Er bürgerte Allegorie
und Vision in Spanien ein. Die Geburt Juans II (1405) feiert er z. B.,
indem er sich in den Himmel verzückt stellt, wo er die Segenswünsche der
Planeten für das neugeborene Kind vernimmt. Ein andermal lässt er sich
vom Dichter der göttlichen Komödie durch die Bosenhaine des Paradieses
führen, wo er die sieben Tugenden mit ihrem Hofstaat erblickt und
Aufschluss über ihr Wesen erhält. Und Solches wirkte! Neben dem
herrschenden Tand musste in der That der Versuch einer durchgeführten
Fiktion und das Streben nach einer feierlichen, bildergeschmückten
Sprache den Begriff der Poesie heben.
Sollten wir nun die hohen und niederen Herrn alle nennen, die zu
dieser Frist der Muse huldigend nahten, und deren Versuche in den
zeitgenössischen Sammlungen zerstreut sind : so wäre neben nichtssagen-
den, auch mancher klangvolle Name anzuführen. Doch wozu Namen
aufhäufen, wo selbst die Begabteren nur zu oft blasse Nebelgestalten
bleiben? Etwas mehr Relief zeigt, um die Wende des Jahrhunderts,
Ferran Sänchez de Talavera, Ordensritter von Calatrava und
Comthur von Villarubia, ein Grübler, der in das frivole Reimspiel die
Frage wirft, ob es denkbar ist, dass Gott Menschen zur ewigen Ver-
dammnis geboren werden lasse, der das Nichts unseres Erdendaseins
und das Bangen vor der letzten Verantwortung wahrhaft empfindet und
in einem sinnigen Gespräch zwischen Ritter und Dame der irdischen
Liebe den Wert des höchsten Gutes abspricht. Jovialeres Temperament
hat der reimgewandte Franziskaner und Magister der Theologie, fray
Diego von Valencia de Leon, der eine seltsame Vertrautheit mit den
Courtisanen an den Tag legt, und frayNicoläs, der seinen gelehrten
Ordensbruder in Liebessachen um Rat fragt und nicht glauben will,
dass Ehebruch Sünde sei. Auf Imperiais Bahnen wandelt Ruy Paez
de Ribera, der von den vier Erzübeln der Menschheit, Alter, Krank-
heit, Verbannung und Armut, das letztere und schlimmste aus eigener
bitterer Erfahrung zu kennen scheint. Eindruck machen auch des Se-
villaners Gonzalo Martinez de Medina herbe Klagen über die
Die spanische Litteratur von ihren Anfangen bis zn den katholischen Königen 223
Not der Zeit, während uns Pero Gonzalez de Uceda durch necki-
schen Humor ergötzt, wenn er uns in seine bunte Traumwelt einführt
— glaubt er ja, er werde ob seines frommen Wandels auf den Stuhl
Petri berufen — oder der schwarzen Farbe den Preis vindiziert.
Am Hofe Juans II (1407—54) erlebte die Trovadorpoesie ihre gol-
denen Tage. Der schwache, aber kunstsinnige König reimte selber
behend, und um ihn drängte sich eine so rührige Schar, dass von 200
oder mehr namhaft bekannten Dichtern Verse erhalten sind. Ein neuer
Bereich eröffnete sich dem kastilischen Einfluss, als Fernando IV, ein
Oheim Juans II, auf Aragons Thron berufen wurde; sein Hof ward
alsbald der Sammelplatz aller Unzufriedenen. Zahlreiche kastilische
Edelleute begleiteten auch seinen Sohn, Alfonso V, bei der Eroberung
Neapels (1441) und setzten im Gefolge dieses hochherzigen Gönners der
Humanisten ihre poetischen Übungen fort. Dort war LopedeStüfliga,
navarrischer Herkunft, einer der ausgezeichnetsten Kitter der Zeit; Juan
de Duefias, ein einfacher Hidalgo, der die Gunst Juans II durch seinen
Freimut verscherzte und mit Schwert und Feder in den Dienst Aragons
übertrat; Diego del Castillo, der den Tod Alfonsos in einer Vision
mit schönen Versen betrauert; Juan de Tapia, der Galanterie und
Politik verquickt; Carvajales, der sich auch italienisch versucht, seine
Hirtenlieder um Siena und Bom spielen lässt, sonst der fruchtbarste und
farbloseste von allen. Sie und andere begegnen sich hier mit Aragoniern
und Catalanen, die sich auch gelegentlich der kastilischen Bede befleissen.
In diesem Kreise finden wir die zierliche und zu dauernder Beliebtheit
vorbestimmte Candon mit ihrer anmutigen Befrainform und die Bo-
manze zuerst in Übung. Beide Gattungen pflegt auch ein Dichter,
um dessen Namen sich eine Legende gebildet hat wie um den seines
Landsmannes Macias, den er so gern im Munde führt: Juan Bodrf-
guez del Padrön, von dessen Begabung uns drei Bomanzen, die in
den Volksmund übergingen, einen höheren Begriff geben als etwa seine
Strophen über die sieben Freuden der Liebe und die zehn Gebote Amor.«?,
die er mit der Antithese seiner eigenen Enttäuschungen würzt, und selbst
als seine geschmeidigen Eefrainweisen, wie sein Abschiedslied: 'Lebe
fröhlich, wenn Du kannst', oder jenes, wo er zu sterben wünscht, nur
um Macfas zu sehen, aber um nach drei Tagen wiederzukommen und
zu schauen, ob seine Geliebte sich grämt oder sich freut.
Am vollkommensten verkörpert die Bestrebungen der Zeit liligo
Lopez de Mendoza, Markgraf von Santillana (1398—1458),
einer der glänzendsten Vertreter des Hochadels und seit dem Sturze des
15*
024 t*h. Aug. Becker
allmächtigen Condestable Alvaro de Luna der angesehenste Magnat
Eastiliens. Die Liebe zur Poesie war in seiner Familie heimisch; wir
nannten seinen Grossvater; auch von seinem Vater, dem früh verstor-
benen Grossadmiral Diego Furtado haben wir graziöse Tanzweisen und
Pastorellen. Seine Mutter war eine Schwester Ayalas. Feingebildet,
geistreich und hochherzig veranlagt, übertraf lüigo Lopez seine Zeitge-
nossen an Vielseitigkeit der Kenntnisse und Kunstinteressen. Keiner
war so vertraut mit den Alten, den Italienern, auch Franzosen und
Catalanen, sowie den früheren Erzeugnissen der heimischen Litteratur
wie er; das zeigt sein Sendschreiben an dom Pedro von Portugal, die
erste Skizze einer spanischen Litteraturgeschichte. Seine poetischen
Werke sind zumeist Gelegenheitsprodukte im Gewände der Fiktion nach
dem herrschenden Zeitgeschmack. Den Tod des Catalanen Messen Jordi,
des sinnreichen Petrarkisten, feiert er mit dem Traumgesicht seiner
Dichterkrönung; die Niederlage der aragonischen Flotte bei Ponza dik-
tiert ihm die Comedieta de Ponza, eine danteske Vision, in der die
Mutter und die Gemahlinnen der gefangenen königlichen Brüder im Ge-
spräch mit Boccaccio die Katastrophe beklagen und zum Schluss Fortuna
auftritt, um die Freilassung der Vermissten zu verkünden; nach der
Verhaftung seines Vetters, des Grafen von Alba, tröstet er ihn mit dem
Diälogo de Bias contra Fortuna, worin er in treffend behender Wechsel-
rede und stellenweise mit wahrem dichterischem Schwung der stoischen
Verachtung des Schicksals und seiner Unbilden das Wort redet; beim
Sturz des Condestable macht sich sein lang verhaltener Ingrimm im
Dodrifial de privados Luft, in Gestalt einer Selbstanklage des gefallenen
Günstlings. Das populärste Werk Santillanas wurde sein Cmtüoquio,
100 dem Thronerben gewidmete Beimsprüche in gefallig fliessenden
Achtzeilen ; unter seinen kleineren Gedichten finden sich die ersten spani-
schen Sonette; alles andere übertreffen aber seine duftig schelmischen
Hirtenliedchen, darunter sein Meisterstück, la vaqtiera de Finojosa.
Leichte, harmonische Eleganz kennzeichnet seine Verse und das ganze
Wesen dieser fein organisierten Aristokratennatur.
Das bürgerliche Gegenstück zu Santillana ist Juan de Mona
aus Cördova, lateinischer Sekretär des Königs (1411—56). Er hatte
in Salamanca und Rom studiert und vertritt jene Richtung der Früh-
renaissance, die zielbewusst auf einen poetischen Kunststil hinarbeitete.
Die Rhetorik ist seine Muse, und zum Vorbild dient ihm sein schwul-
stiger Landsmann Lucanus. In seinen höfischen Liedern schwelgt er in
Übertreibungen und Metaphern, doch mit Anmut und echten Gefühl
Die spanische Litteratur von ihren Anfängen his zu den katholischen Königen 225
für rythmischen Wohlklang. Seine umfangreicheren Dichtungen um-
hüllt er selbstredend mit dem Schleier der allegorischen Vision. In
diesem Stil schildert er Santillanas Dichterkrönung auf dem Parnass
und entwirft er einen Dialog von den sieben Todsünden. Sein bleibender
Dichterruhm gründet sich aber auf die '300 Strophen' seiaes Labirinto,
in denen er den kühnen Versuch wagte, die ganze Anlage der göttlichen
Komödie nachzubilden mit frei erfundenem Bahmen und selbst ersonnenem
Detail. Zum Vorwurf wählte er die Wandlungen des Glücks. Von der
Vorsehung geführt, besucht er den Palast Fortunas und sieht dort die
drei Räder des Glücks, die der Vergangenheit und Zukunft ruhend, das
der Gegenwart von den Parzen getrieben, und in einem jeden sieben
Kreise nach dem Einfluss der Planeten; hier erscheinen ihm, Edle und
Verworfene vermengt, die Berühmtheiten der Vor- und Mitzeit ; die Zu-
kunft bleibt verhüllt. Freude an gelehrter Schaustellung, aber auch ein
patriotischer Gedanke leiten ihn beim Ausmahlen dieser historischen
Galerie; die gediegensten Seiten sind den Heldensöhnen Spaniens imd
seinen keuschen Frauen gewidmet. Allzuviel ßaum gönnt der devote
Hofpoet den Machthabern des Tages. Die notwendig ungleiche Inspi-
ration macht sich denn auch im Werte der Bilder fühlbar. Die Auf-
gabe ist für Monas Genius zu hoch. Schon infolge der verfehlten An-
lage bleibt seine allegorische Welt abstrakt, ohne plastische Bealität;
auch der Stil leidet an Ungleichmässigkeiten und übertriebenem Latinis-
mus. Gleichwohl hat er sein Ziel nicht ganz verfehlt. Manch anschau-
licher Vergleich nach Dantes Art ist ihm gelungen; stellenweise ent-
wickelt er wahre pathetische Kraft, und er kann sich rühmen, wie Wenige
zur Ausbildung einer gehobenen, von der Prosarede verschiedenen Dichter-
sprache beigetragen zu haben.
Etwas abseits steht Fernan Perez de Guzman, auch ein
Schwestersohn Ayalas, älter als Santillana, den er jedoch überlebte.
Früh mischte er sich in den poetischen Wettstreit und sang Minnelieder.
Mit den Jahren gewann aber die ernste Grundstimmung, die sich be-
reits in den schönen Versen auf den Tod des Grossadmirals Mendoza
(1404) kundgiebt, die Oberhand; sie herrscht in den Reimsprüchen
(Proverbios) und der langen Reihe aphoristisch gehaltener, moralisch-
religiöser Dichtungen, die der Weltmüde in der Einsamkeit seiner Herr-
schaft Batres zur Verherrlichung der Tugend verfasste. Ein würdiges
Denkmal setzte er sich im warm gefühlten Lobgedicht auf Spaniens
grosse Vergangenheit, los claros varones de Espana^ ein Geschichtsbild
in schwungvollen Memorial versen.
226 P^' Aug« Becker
Der Mitte des Jahrhunderts gehört wohl noch ein Denkmal an,
das ganz ausserhalb der Reihe fällt, eine freie Adaptation des älteren,
ursprünglich zur Aufführung bestimmten französischen Totentanzes
(danza general de la muerte), nicht ohne dichterischen Wert, mit einigen
spezifisch spanischen Figuren, deren Zahl durch spätere Einschaltungen
noch vermehrt wurde: jedenfalls ein rein litterarisches Denkmal; denn
bildliche Darstellungen des Todesreigens hat die pyrenäische Halbinsel
nicht hervorgebracht.
Die unglücklichen Zeiten, welche die traurige Regierung Enriques IV
(t 1474) heraufbeschwor, die wilde Anarchie, die hereinbrach, und der
Mangel eines Zusammenhalts, wie der Hof des verstorbenen Königs ihn
geboten hatte, hinderten nicht, dass Santillana und Juan de Mona Schule
machten, und dass eine Schar tüchtiger Geister ihren Fussstapfen folgte,
mit dem gleichen Luxus an allegorischen Fiktionen und gelehrten An-
spielungen, mit dem nämlichen Gefühl für sanglichen Wohllaut, mit
derselben Freude an gewichtigen Moralsätzen und hin und wieder auch
mit einer wahren, ungekünstelten Empfindung. Noch fehlt aber jenes
beharrliche Streben nach einem selbstgesteckten höheren Ziele, ohne
welches Schöpfungen von dauerndem Werte dem Zufall einer glücklichen
Stunde anheimgegeben sind. Eine solche Stunde schlug den beiden
Manrique. An Adel der Geburt, vielseitiger Begabung und persönlichem
Verdienst stand ihr Geschlecht dem eng verschwägerten Hause der Men-
doza kaum nach. Namhaftes leistete Gomez Manrique (1412—90),
in sententiösen Gedichten wie den Batschlägen an Diego Arias und der
edelgedachten Anrede an das junge Königspaar, Fernando und Isabel,
vor allem aber in seinen Klagen über das schlechte Regiment, in denen
er mit bitterem Sarkasmus die verkehrte Welt geisselt, wo man den
Blöden zum Schulzen macht, das Stroh aufspeichert und das Brot ver-
derben lässt, die jungen Olivenbäume verbrennt und die Dornsträuche
schont. Ihn übertraf sein Neffe, Jorge Manrique, der 1479 in
voller Manneskraft fiel, mit seinen feierlich ernsten Coplas auf den Tod
seines Vaters, in denen er dem Gefühl der Hinfälligkeit unseres Lebens
und aller menschlichen Grösse einen durch die eigene Trauer geweihten
und durch die tröstliche Zuversicht des Glaubens gemilderten Ausdruck
giebt und sich bis zu einem für die Zeit überraschenden, fast reinen
lyrischen Erguss beschwingt. Weiche und innige Wehmut spricht aus
den Liedern Guevaras, eines Freundes der Beiden, wenn ihm der
Frühling in Erinnerung bringt, mit welch schmerzlicher Gewalt die
Liebe ihn erfasste, als er die Geliebte im Grünen sich ergehen sah, so
Die spanische Litteratur von ihren Anfängen bis zu den katholischen Königen 227
dass es ihn hinuotertreibt zum Flussufer, das volle Herz auszuweinen,
oder wenn ein Besuch in den Tbälern der Sierra de Guadalupe die Jugend-
erinnerungen belebt, jetzt, wo alles, alles so verändert ist. Auch sonst
fehlt es nicht an schätzbaren Talenten. Den Hintritt Santillanas feiert
nach Gebühr mit vollem Apparat sein Sekretär, Diego de Burgos,
im Triumfo del Marquis, Von Pero Guillen de Segovia, der fast
erblindet im erzbischöflichen Palast zu Toledo alterte, liest man eine
schöne Paraphrase der Busspsalmen. Durch Beherrschung der Form
zeichnet sich der Hofbeamte Juan Alvarez Gate aus, ein Sohn
Madrids, der die poetischen Verirrungen seiner Jugend im Alter durch
geistliche Kompositionen wett zu machen suchte und sich auch einige
wohlgezielte Seitenhiebe auf die öffentlichen Missbräuche und die Fehl-
griffe des Königs nicht versagte. Der Boden war für die politische
Satire günstig; wohlweislich verschweigen aber die meisten Verfasser
ihre Namen. Man weiss nicht, wer das kühne und oft nachgeahmte
Hirtengespräch zwischen Mingo Revulgo (Dominicus Vulgus) und
Gil Arribato dichtete, das vom Elend der Gegenwart einen noch
trostloseren Ausblick in die Zukunft eröffnet, — nicht zu reden von
derberen Produkten voll Anzüglichkeiten, wie sie sich kaum ein Anton
de Montoro, der getaufte Flickschneider und keckste Spötter der Zeit,
erlaubte.
Auch die Kegierungszeit der katholischen Könige gehört der alten
Schule au; noch singen Trovadores jeden Rangs ihre flüchtigen Lieb-
schaften oder auch dauernde Neigungen, nimmer müde ihre Treue und
die ünerträglichkeit ihrer Pein zu beteuern. Oft entwickeln sie ent-
schiedenes Formtalent, so Diego Lopez de Haro, ein Muster ritter-
lich höfischer Art, und der Vizgraf von A Itamira, und Luis de
y i V e r 0 , und der nie verlegene Improvisator AlfonsodeCartagena,
ein jüngerer Verwandter des Bischofs von Burgos; auch dem Namen
einer Dichterin, Florencia Pinar, begegnen wir im Gedränge. Das
übliche Liebesgetändel mit seinen Übertreibungen und Zierereien veran-
schaulicht Puertocarreroin einem aus dem Leben gegriffenen und
überaus schlagfertig dialogierten Plauderstündchen. Frisch klingt auch
Bodrigo Cotas Gespräch zwischen einem Greis und Amor, der den
widerwilligen Alten mit süssen Reden bethört, um ihn dann machtlos
sich selbst zu überlassen. Nur von Liebeskummer weiss Garci Sän-
chezdeBadajoz zu singen; sein steter Gedanke ist der Tod aus
Liebe; er wird sterben und ordnet seinen Nachlass und schreibt die
Liebesmesse vor, zu der er sich aus Hiobs Klagen inspiriert; oder er
228 Pb- ^ug- Becker
träumt, dass er in einer Einöde verschieden ist, und wie Amor ihn sucht,
erzählt ihm die Nachtigall den Tod des Dichters und seine Bestattung
durch die Vögel, die ihm folgten; oder er besucht die Liebeshölle, wo
er die berühmten Dichter der Zeit ihre Qualen mit ihren pathetischsten
Versen besingen und beklagen hört. Befruchtend wirkte auf die Dich-
tung dieser Epoche der Aufschwung des mehrstimmigen Gesangs mit
seinem Zurückgreifen auf populäre Weisen ; von hier kam die Anregung
zu mannigfach neuen und oft recht glücklichen und leicht beschwingten
Verskombinationen. Daneben war die gelehrte Allegorie nicht ver-
gessen: Im Jahre 1500 sandte Diego Ouillen, der Sohn Peros, der
Königin Isabel aus Bom seinen Fanegirico, worin er die Grossthaten
ihrer Begierung mit möglichster Treue und poetischem Glanz als Vision
darzustellen viersuchte. Bis über die Schwelle des neuen Jahrhunderts
führt uns da& 1513 gedruckte Liederbuch eines aragonischen Magnaten,
Pedro Manuel de Urrea, mit Versen von zarter Anmut mitunter,
die aber im Grunde weder in das Leben des Dichters noch in das Treiben
der Zeit einen Einblick gewähren. Was die kastilische Hofdichtung
leisten konnte, das hatte sie geleistet. Sie verklang aber nicht lautlos
mit dem scheidenden Mittelalter, sondern sie blieb in der von Hernando
del Gastillo getroffenen Auswahl als Allgemeines Liederbuch
(Cancionero generale 1511) dauernd im Besitz des spanischen Volkes,
trotz aller Mängel ein lyrischer Liederschatz, wie ihn ziu: Zeit keine
andere Nation besass.
Die Wende des Jahrhunderts mit den Kämpfen um Granada und
der letzten Anstrengung zur Vertreibung der Mauren brachte Spanien
eine Neubelebung des religiösen Empfindens, deren Spuren auch in der
Poesie sichtbar werden. Mit andächtiger Innigkeit und beredter Wärme
und meist auf Bitten von Damen des höchsten Adels widmet der Minorit
fray Ambrosio Montesino seine leichtfliessenden Coplas dem Ge-
heimnis der Hostie, dem Leben des Täufers, den Martern des Heilands
oder dem Stifter seines Ordens, abwechselnd erzählend, betrachtend, er-
mahnend, lobend und anbetend. Die Kindheit Jesu und Stücke der
Leidensgeschichte, auch anderes, einen Kampf der Vernunft mit der
Sinnlichkeit, Tadel der schlechten Weiber und Lob der guten Frauen,
reimte ein anderer Franziskaner, fray IfiigodeMendoza, weckte aber
mit seiner vertrauten Kenntnis weiblicher Schwäche lebhaften Wider-
spruch in den Hof kreisen. Zu höherem Flug erhebt sich Juan de
P a d i 1 1 a, der Karthäuser, mit seinem Leben Christi in vier Gemälden,
gleichsam als Altarbild für die Kirche der Christenheit entworfen, ohne
Die spanische Litteratur von ihren Anfängen bis zu den katiiolischen Königen 229
jenen heidnischen Schmuck, dem der Verfasser in seiner Jugend nach-
gegangen war ; und noch mit 50 Jahren unternahm der ergraute Eloster-
mann in den doce triunfos de los doce Apöstolos (1518) eine Jenseits-
reise nach Dantes Art durch die zwölf Zeichen des Tierkreises, wo er,
von Paulus geleitet, die zwölf Apostel mit ihrem Gefolge von Heiligen
sieht und jeweils einen Blick aus der Höhe auf den vom Apostel be-
kehrten Weltteil und in die Abgründe der Hölle und des Fegefeuers
wirft : ein Gegenstück zu Monas Labyrinth, nicht unwürdig ihres floren-
tinischen Vorbilds, minder gedrängt und gehaltreich, doch von freiem
Fluss der Verse und kräftiger Sprache und mit etwas wie Virgilschen
Schwung in der Bede.
Das 15. Jahrhundert gehört der höfischen Eunstdichtung an. Mit
ihrer Betrachtung ist aber das poetische Schaffen dieser Epoche nicht
erschöpft; denn neben der Eunstpoesie lebte der Volksgesang. Wie in
andern Ländern weckte die Nationallitteratur des Mittelalters die schlum-
mernde Seele des Volks und gab ihr die %de zurück. Während die
gebildeten Stände ein Gebiet des Wissens um das andere far sich und
die Nationalsprache errangen, liess auch das Volk seine Stimme wieder
erklingen, und leicht fand es die berufenen Wortführer. Auf der Strasse
sangen Blinde, jüdische und maurische Tänzerinnen und nächtlich strei-
fende Studenten. Für solches Volk rühmt sich der Erzpriester von
Rita mehr Lieder geschrieben zu haben, als zehn Bogen fassen könnten.
Zwar fählte sich ein Eunstdichter wie Santillana weit erhaben über die
Verfasser jener regellosen Gesänge, an denen sich das niedere Volk und
die dienende Elasse ergötzten; doch waren die verschiedenen Eultur-
schichten der Nation sich nicht dermassen fremd, dass die Verallgemeine-
rung der Bildung im geistig regsamen, aber ungenialen 15. Jahrhundert
sich nicht auch in den breiten Massen fühlbar gemacht hätte. Die eif-
rige Pflege der Eunstpoesie und des Eunstgesangs wirkte auf die Volks-
lyrik; diese hob sich, und so kommt es, dass gerade im Zeitalter des
Humanismus und der Bückkehr zur Antiken die Volkspoesie sich allent-
halben der Beachtung der Gebildeten aufdrängt.
Lyrische Volksweisen tauchen um diese Zeit unter der Bezeichnung
von ViUancicos auf, kurze Liedchen, die mit der refrainartigen Wieder-
kehr ihres einleitenden Satzes deutlich auf ländliche Beigen als ihren
Ursprung hinweisen. Gern wahren diese ungezwungenen Gebilde den
Zug ländlicher Einfalt; viele sind Frauenlieder: Stossseufzer des ver-
liebten Mädchens, trotzige Geständnisse seiner erwachenden Neigung,
230
Pb. Aug. Becker
oder wohlgemeinte Ratschläge der Mutter; zart hingehaucht atmet aus
ihnen die innige Glut des leidenschaftlich bewegten Gemüts, bald auch
kichert neckisch die Laune dahinter. Noch manches andere Thema
sclilagen sie an; im allgemeinen hat sich aber in Spanien das lyrische
Volkslied nicht wie anderwärts zu bestimmten Gattungen und Gruppen
ausgestaltet, noch wird es durch eine scharfe Grenze von seinen kunst-
massigen Nachbildungen getrennt, gleich als ob es erst jetzt, unter der
Anregung der Kunstpoesie, von den Berghalden heruntergestiegen und
zu reicherer Entfaltung gelangt wäre, um dann selbst wieder das alternde
Kunstlied mit seinem duftenden Reiz zu erfrischen.')
Eigenartiger ausgeprägt zeigt sich das erzählende Volkslied in der
Romanze. Diese, das schönste litterarische Sondergut der spanischen
Nation, reiclit vermutlich in ihremürsprung auf das altkastilische Helden-
lied, wie der Juglar es vortrug, zurück. In Hinsicht der Form ist die
Verwandtschaft unverkennbar. Mit ihren trochäischen Achtsilbern und
ihrer durch das ganze Gedicht laufenden und nur die geraden Zeilen
bindenden Vokalassonanz stellt die Romanze gewissermassen eine aus
dem rezitativen Zusammenhang des Epos losgelöste Tirade dar, die, von
einer lyrischen Weise getragen, für sich weiterlebt. Auch will es schei-
nen, als fUnden sich unter den epischen Romanzen einzelne altertümliche
Stücke, die unvermittelt aus der Spielmannstradition herstammen. Doch
sind es nur geringe Überbleibsel; denn die spanische Nationalsage hat
eben um diese Zeit ein Stadium der Verdunkelung durchlaufen ; in Juan
de Menas Heldengalerie hat der Cid keinen Platz gefunden. Zu den
nationalen Erinnerungen traten wahrscheinlich früh Motive aus den im-
mer beliebter werdenden Ritterromanen, so Lancelots Anfrage beim Ein-
siedel nach dem weissfüssigen Hirschen:
I) Einige Beispiele aufs Geradewohl
1.
Steig binab zum Tbale, Mädchen!
Noch wars nicht Tag.
Mädchen mit den roten Flechten,
Steig hinab zu deinen Lämmern,
Wo sie gehn am Roggenfelde!
Noch wars nicht Tag.
2.
Wünsch dir nicht, Tochter,
Wünsch keinen Mann
Zu bleibendem Gram.
Fort ging mein Gatte
Zum Krieg an der Grenze,
Liess mich hier einsam
Zurück in der Fremde.
Wünsch dir nicht, Tochter,
Wünsch keinen Mann
Zu bleibendem Gram.
3.
In dem Schatten meiner Haare
Schlief mir der Geliebte ein.
Wecke ich ihn, oder nein? . .
Die spanische Litteratur von ihren Anfängen bis zu den katholischen Königen 231
Sage mir, Einsiedelmann,
Der hier führt ein frommes Leben,
Von dem Hirsch mit weissem Fusse
Kannst du mir nicht Auskunft geben ? —
Auch Zeitereignisse werden im Liede festgehalten, meist als Stim-
mungsausdruck der hauptbeteiligten Persönlichkeit, wie z. B. in jener
Klage Juans II über sein Missgeschick vor Albuquerque (1430):
Albuquerque, Albuquerque,
Wahrlich hoch soll mau dich halten,
Denn du birgst in dir die Söhne
Don Fernandos, die Infanten,
Die ich aus dem Reich Terwiesen
Und auf Jahr und Tag verbannte.
Stark und fest war Albuquerque,
Wählten es zum Widerstände.
Oh! don Alvaro de Luna,
Wie hast du mich schlecht beraten!
Sagtest mir, dass Albuquerque
Offen liege in dem Flachland.
Kam und sah die tiefen Gräben
Und die Türme längs dem Walle,
Drinnen Reichtum an Geschützen
Und an Fussvolk und an Reitern.
Und auf jenem stumpfen Turme
Sieht man die drei Banner wallen.
Eines für den Prinzen Heinrich,
Für Johann dort jenes andre.
Und das dritte für don Pedro,
Ihren Bruder, den verbannten.
Brach das Lager ab; denn Aussicht
Auf Erfolg war nicht vorhanden.
Dazwischen tauchen Gestalten auf, die weder Geschichte noch Sage
kennt, in deren Wonne und Pein sich das ganze leidenschaftliche Sinnen
und Sehnen des Volkes poetisch verdichtet; und schliesslich wachsen
allerlei Märchenelemente und allgemeine Liebesmotive hinzu, so dass
die Bomanze die Bedeutung des Volkslieds im weitesten Umfang ge-
winnt. Und wie beim echten Volkslied, das von Mund zu Munde wan-
dert, sind auch an alten Bomanzen nur wenige, besonders gedächtnis-
freundliche, und diese oft fragmentarisch und ihrem Zusammenhang ent-
fremdet erbalten; was neben dem über allen Anfangen geistigen Er-
zeugens schwebendem Dunkel deren geheimnisvoll romantischen Beiz
noch wesentlich erhöht.
Den Beiz des Ahnungsvollen, der ihnen so eigen ist, gewinnen die
Bomanzen vor allem durch jenes unmittelbare Eintreten in die volle
232 Ph. Aug. Becker
Handlung und jenes ungekünstelte Zusammendrängen der Situation in
ein einziges breitgemaltes Bild:
Schon verzagen die Franzosen,
Schon beginnen sie zu fliehn.
Doch ein Wort Bolands! und sie sammeln sich wieder, und bald
sprengt Marsilius in wilder Hast von dannen, Muhamed verleugnend,
der ihn verlassen hat. Wie ein Wetterleuchten zuckt hier das Gefecht
von Boncesvalles an unseren Augen vorüber. Aber das mystische Ge-
fühl des Halbdunkels wird noch verstärkt, wenn es sich nicht um eine
Scene aus einem grösseren Zusammenhang handelt, sondern um eine
Begebenheit für sich, die nicht als historisches Ereignis, sondern durch
ihren ergreifenden menschlichen Gehalt unser Mitgefühl erregt, die aber
gleichwohl an einen bestimmten Namen geknüpft erscheint und dem
sonst unbekannten Träger desselben eine intensivere Realität verleibt,
als ihm Leben und Geschichte geben könnten. Aus dem dunkelwogen-
den Hintergrund der Gefühle taucht leuchtend die repräsentative mensch-
liche Gestalt hervor, in der das ahnende Wünschen und Empfinden unseres
Herzens Form und Klarheit gewinnt: hierin liegt der bestrickende Beiz
der novellistischen Romanze. — Ist Graf Glaros eine Figur aus der
französischen Sage? Ist er nur der Held einer Situation, die zu späterem
Anspinnen reizte? Für den Eindruck der schönen alten Romanze:
nOraf, ihr seht mich tief bekümmert,
Dass ihr also sterben müsst,
Denn die Schuld, die ihr begangen,
Ist so schwer nicht, wie mich dünkt,"
bleibt dies gleichgültig; denn auch wir beurteilen den Fehltritt, zudem
ihn die Liebe getrieben, gleich nachsichtig und können es ihm lebhaft
nachempfinden : Lieber um der Frauen willen sterben, als sie immerdar
meiden ! Welch spontane Sympathie zieht uns auch zu jenen drei lieb-
lichen Schöpfungen des genialen Galiciers, Juan Rodriguez: zu Rosa
Florida, die sich von Hörensagen in Montesinos verliebt hat und ihm
nun alles hingeben möchte, ihre dreissig Schlösser am Meeresgestade,
ihre Schätze, ja ihren eigenen Leib, — oder zum Infanten Arnaldos,
der am Meeresufer jagt, da föhrt eine Galeere vorbei und der Schiffer
singt und die Prinzessin am Fenster hört den Sang und ruft ihre Mutter,
sie möge dem Liede der Sirenen lauschen, nicht der Sirenen, nein, des
Infanten Arnaldos, der aus Liebe zu ihr vergeht, — oder zu jenem
Mädchen, das im einsamen Bergpass ihren zudringlichen Begleiter von
sich zu scheuchen weiss, aber am Ziel der Reise seiner Blödheit spottet!
Die spanische Litteratur von ihren Anfängen bis zu den katholischen Königen 233
Und wie rührt — auch ohne Namen — die Klage des Oefangenen:
Mai ist's und Alles liebt, und er in seinem dunkeln Kerker hatte nur
einen Boten, der ihm Tag und Nacht ankündete, einen Vogel, und ein
Armbrustschütze hat ihm den erschossen ! Selbst das symbolische Thema
der verwittweten Turteltaube, die auf keinen grünen Zweig mehr ruhen,
kein klares Wasser mehr trinken will und die falschen Lockungen der
Nachtigall empört von sich abweist, erhält im leichten Gewand der
Romanze einen eigenen, herzgewinnenden Zauber:
Kühle Quelle, kühle Quelle,
Kühle Quelle, liebesklar,
Da wohin nach lindem Tröste
Ziehn die Yöglein allzumal . . .
Auch das erzählende Volkslied lenkte um die Neige des Jahrhun-
derts die Aufmerksamkeit der Kunstdichter auf sich ; vielfach wurden
die im Yolksmund umlaufenden Bomanzen überarbeitet, ergänzt und
erweitert, auch geistlich umgedichtet, oder sie dienten lyrischen Kunst-
romanzen zum Muster. Frei entfalteten sich — neben einigen glück-
lich getroffenen novellistischen Eomanzen — vorerst nur die religiöse
und ganz besonders die zeitgeschichtliche, die während der erneuten
Maurenkämpfe manche frohe Zeitung von den Erfolgen des christlichen
Heeres ins Land trug und für den heiligen Krieg begeisterte Streiter
warb.
Die Prosa,
An der Pflege der Prosa sind im 15. Jahrhundert dieselben Gesell-
schaftskreise beteiligt, die wir als Heger der Kunstdichtung kennen
lernten, der Hof, der Hochadel in seinen namhaftesten Vertretern, Mit-
glieder des ßitterstandes und einzelne Würdenträger der Kirche. Durch
den immer regeren Verkehr mit Italien und die nähere Berührung mit
dem europäischen Geistesleben auf den Konzilien zu Konstanz und Basel
geweckt und genährt, macht sich in diesen Ständen ein wachsendes Bil-
dungsbedürfnis fühlbar und äussert sich zunächst in Übersetzungen der
klassischen Autoren. Die Tradition der Ayala und Heredia pflanzt sich
fort in Enrique de Villena (1384—1434), dem schmächtigen Spros-
sen des aragonischen und kastilischen Königshauses, dem aller Ehrgeiz
zu keinem dauernden Erfolg verhalf und dessen vielfaltigem, aber ab-
strusem Wissen der feste Grund der Persönlichkeit fehlte ; im gelehrten
und beredten Bischof von Burgos, Alfonso de Cartagena (1384
bis 1456) aus einer selten hervorragenden Konvertitenfamilie, Vertreter
Spaniens beim Baseler Konzil und Verteidiger der päpstlichen Präro-
234 Ph. Aug. Becker
gativen; in Fernan Perez de Guzman; vor allen aber im Mark-
grafen von Santillana, der, selber der alten Sprache nicht besonders
mächtig, den Anstoss zu einer überaus geschäftigen Übersetzungsthätig-
keit gab, um von den Alten, in Ermangelung der Form, wenigstens den
Stoff und Inhalt zu besitzen. Seine Bibliothek enthielt die wichtigsten
lateinischen Schriftsteller in kastilischer Übertragung, die Dichter aller-
dings in Prosa und mehr paraphrasiert als übersetzt, dazu verschiedene
Kirchenväter, auch manches Griechische unter Vermittlung der italieni-
schen Humanisten, selbst von Dante einen Gesang, einige von Petrarcas
lateinischen Schriften, viel von Boccaccio, der an Geltung wächst, seine
gelehrten Sammelwerke vollständig, und dies und jenes von berühmten
Zeitgenossen ; stark treten die Franzosen zurück, und wenn Gowers *Con-
fessio amantis^ von England nach Spanien kam, so ist es Zufall und ge-
schah auf dem Weg über Portugal.
So wie es um die Zeit mit der Anfertigung derartiger Übersetzungen
und ihrer handschriftlichen Verbreitung noch stand, trug diese Vulgari-
sationsarbeit von vornherein den Stempel einer vornehmen Liebhaberei.
Berufsmässige Lateiner, die den Gebrauch des Latein ihrer Muttersprache
vorziehen, bleiben eine Minderheit. Erst unter den katholischen Königen
wird mit der Aneignung des klassischen Altertums und der Umgestal-
tung des Studienplans voller Ernst gemacht. Das altehrwürdige Sala-
manca, die neugegründete Hochschule von Alcalä de Henares und der
Hof selber werden zu Pflanzstätten des Humanismus, um dessen sieg-
reiche Verbreitung sich unter den Einheimischen besonders Antonio de
Nebrija (1444—1522), der Vater der spanischen Renaissance und zu-
gleich der Verfasser der ersten spanischen Sprachlehre, verdient macht,
an Ausländern ein Lucius Marineus Siculus und Petrus Martyr
Anglerius mit seiner rastlos stöbernden Neugier. Gleichzeitig ver-
breiten sich, von Deutschen errichtet und gehandhabt, die Druckerpressen
über die pyrenäische Halbinsel und ziehen die Schätze, welche bislier
die Bibliotheken hochsinniger Magnaten geziert haben, aus deren Dunkel
hervor und bringen sie auf den offenen Markt. Hiemit ist der Sieg
der neuen Richtung besiegelt, wenn auch Spanien seiner Anlage nach
niemals ein Land der Gelehrten werden konnte wie Italien.
Auf dem Gebiete der Geschichtschreibung vor allem hatte
sich die spanische Sprache eine Position gesichert, die nicht mehr zu
erschüttern war. Einzelne Versuche, die Welt- und die Nationalgeschichte
lateinisch zu stilisieren, fanden selber rasch Übersetzer und sind durch
die stattliche Reihe spanischer Darstellungen reichlich aufgewogen.
Die spanische Litteratur von ihren Anfängen bis zu den kathoh'schen Königen 235
Dem begreiflichen Ehrgeiz, die Ereignisse der Gegenwart für die Welt
der Gebildeten in der allgemeinen Verkehrssprache aufzuzeichnen, ent-
sprach zunächst der traurige Zustand des Beichs und das geringe Inte-
resse des Auslandes wenig; auch hier schaffte die glorreiche Wende des
Jahrhunderts erfreulichen Wandel.
Glänzend ist wiederum die Zeitgeschichte vertreten. Mit der Fort-
setzung der Beichschronik wurde Älvar Qarcfa de Santa Maria
(+ 1460) betraut, der sich redlich bemühte, den Fussstapfen Ayalas zu
folgen, aber nur bis 1420 das Amt versah. Er war ein Bruder jenes
Pablo de Santa Maria, der mit seinen drei Söhnen vom Judentum
übertrat, Bischof von Cartagena, Burgos und Grosskanzler wurde, der
selber zwei Abrisse der Weltgeschichte verfasste, einen in Versen und
einen in Prosa, und dem sein Zweitgeborener Alfonso auf dem Bischof-
sitz von Burgos folgte. Wahrscheinlich sah sich Alvar Garcia durch
die Spannung zwischen seiner Familie und dem Condestable zum Bück-
tritt vom Amte gezwungen. Seine Arbeit wurde bis zum Jahre 1435
von einem nicht unwürdigen Nachfolger, dessen Name unbekannt ge-
blieben ist, fortgesetzt, selbstredend im Geiste des thatsächlichen Leiters
der Politik, des Condestable. Für die Folgezeit kam es nur zu kargen
Aufzeichnungen vom Grossfalkenmeister Per o Carillo deAlbornoz,
denen der Erzieher des Kronprinzen, fray Lope de Barrientos,
Bischof von Cuenca ;ind Beichtvater des Königs, einiges beifügte. In
diesem Zustand kam die Chronik Fe man Perez de Guzman in die
Hände; er ordnete, kürzte und überarbeitete sie seinem eigenen politi-
schen Standpunkt gemäss und gab ihr im wesentlichen die Gestalt, in
der sie uns heute vorliegt, noch gern gelesen wegen ihrer klaren, ruhigen,
frischen und wahrheitsbeflissenen Darstellung, das bunte Spiegelbild einer
zerfahrenen, vielbewegten Zeit voller Bänken und Fehden, aufrührerischer
Umtriebe, politischer Ziellosigkeit und Zerrissenheit neben kühner Bitter-
lichkeit und glänzendem Festprunk. — Die wertvollste Ergänzung dieser
offiziellen Annalen lieferte FernanPerez deGuzman selber in seinen
'Qeschlechtsfolgen und Bildnissen' (Getieraciones y semhlanzas)^ einer
Beihe von 34 Charakterbildern, zu denen ihm Guido Colonnas trojanische
Geschichte die Idee gab, nicht regelrechte Lebensläufe, sondern Porträts
mit dem individuellen Belief der Persönlichkeit, wie sie im Leben vor
dem durchdringenden Beobachterblick des Verfassers erschien, äussere
Erscheinung, Temperament, geistige und moralische Anlagen bald in
knapper Skizze zusammengedrängt, bald behaglich ausgeführt und von
Betrachtungen begleitet, in denen ein lauterer, welterfahreuer und durch
286 ^Ii- Aug. Becker
Enttäuschungen geadelter Geist in stiller Besignation das Facit dieses
sturmdurchwühlten Zeitraums zieht : allesamt Kleinodien der spanischen
Prosa.
Nicht der König, nicht der jeder Energie entwöhnte Juan II war
es, der die königliche Gewalt ausübte und die Geschichte des Staates
lenkte, sondern sein schrankenlos allmächtiger Günstling Älvaro de
L u n a , der Gondestable, ein Bastard ohne Anhang, der als Page an den
Hof kam und die Gunst des Herrschers nur seiner überlegenen Persön-
lichkeit und staatsmännischen Begabung verdankte, der allein — Jahr-
zehnte hindurch — dem entfesselten Ehrgeiz der Feudalstände die Stirn
zu bieten vermochte, bis der König, schwach wie immer, ihn dem Groll
seiner Gegner preisgab (1453). Dem tragisch Gefallenen erstand in
einem unbekannten Anhänger ein Verteidiger, der uns vom Wesen und
Wirken und vom standhaften Ende dieses merkwürdigen Mannes ein
meisterhaft anschauliches Gemälde entwirft, mit einer sympathischen
Wärme, die seine wort- und sentenzenreiche Erzählung belebt und ihre
ergreifende Wirkung nicht verfehlt. — Schon einmal, im Jahr 1439,
war es den Grossen gelungen, die zeitweise Entfernung des Gondestable
durchzusetzen; damals kam es zwischen dem König und den Missver-
gnügten zu einem förmlichen schiedsrichterlichen Vergleich, bei dem
die llntscheidung in die Hände des Grafen von Haro, Pedro Fernandez
de Velasco, gelegt wurde; dieser hat dann s^ber in Seguro de
Tordesillas jene denkwürdigen und für die Zustände im Beich so
bezeichnenden Verhandlungen schmucklos und wahrheitsgetreu wieder-
erzählt. — Eigenartig anziehend und ein wertvolles Stück Sittenge-
schichte ist das Lebensbild, das GutierreDiazGamez im Victorial
von seinem Herrn, dem nie bezwungenen PetroNifio, späteren Grafen
von Buelna (1375—1454), entworfen hat; jung und für Ritterthaten
begeistert trat Gutierre in Niflos Dienst, begleitete ihn als Fahnenträger
und beschreibt als Augenzeuge seine thatenfrohe Laufbahn, die lustige
Jagd auf Corsaren bis in den Hafen von Tunis, die kühnen Freibeuter-
züge nach England und Jersey, das Liebesabenteuer mit der jungen
Frau des Admirals von Frankreich im Winterquartier von S^rifontaine,
und dann in der Heimat die verwegene und schliesslich glückliche Wer-
bung um die Infantin Beatrix von Portugal, mit deren Tod (1446) die
Erzählung endet, abenteuerlich wie ein Boman und vom Verfasser als
ein Lehrbuch echten Bittersinns mit allerhand Legenden und gelehrtem
Beiwerk verbrämt. — Nicht minder lehrreich für die Kenntnis der Zeit
und ihrer Sitten ist der Pa^ honroso, der von einem eigens hinznge-
t>ie spanische Litteratur von ihren Anfangen bis zu den katholischen Königen 23*^
zogenen Notarius aufgesetzte Bericht über den Waflfengang, den Suero
de Quinones im Jahre 1434 mit acht Gefährten unternahm, indem er
sich anheischig machte, seiner Dame zu Ehren 30 Tage hindurch die
Brücke von Orbigo bei Leon gegen Jeden zu verteidigen, bis 300 Lanzen
gebrochen wären.
Die Regierungsgeschichte Enriques IV schrieb von Amts wegen
Diego Enriquez del Castillo, Hofkaplan und Mitglied des könig-
lichen Bats; und beinahe hätte er es mit dem Leben gebüsst, als die
Grossen, welche den Infanten Alfonso, des Königs Bruder, auf den Thron
erhoben hatten, sich Segovias bemächtigten (1464) und er mit seiner
Chronik in ihre Hände fiel. Alle seine Aufzeichnungen wurden ihm ab
genommen, so dass er sie aus dem Gedächtnis ersetzen musste. Zum
Zeugen elender Zeiten berufen, rettet er sich durch eine gewisse zurück-
haltende und emphatische Würde, durch das Bewusstsein seiner Verant
wortung vor der Nachwelt und durch das Streben die inneren Zusammen-
hänge der Geschehnisse zu erfassen. — Zu ihrem Historiographen be-
stellte die Partei des kurzlebigen Infanten den lateinischen Sekretär des
Königs, Alfonso Fernandez de Palencia (1423 — 1492), der im
bischöflichen Palast zu Burgos aufgewachsen war und seine Bildung in
Italien, im Kreis der byzantinischen Flüchtlinge erworben hatte; dieser
hinterliess die Geschichte der Zeit in drei lateinisch geschriebenen De-
kaden, denen man ungewöhnlichen Freimut, ätzende Schärfe und lebens-
volle Porträts nachrühmt. Sein Alter verbrachte Palencia im Hause
des Herzogs von Medinasidonia in Sevilla mit der Fortsetzung seiner
Jahrbücher und mit gelehrten Arbeiten, einer Synonymensammlung,
einem spanisch-lateinischen Wörterbuch, einer Gesamtdarstellung der
spanischen Geschichte, und dergl. — Ohne offiziellen Auftrag schrieb
Diego de Valera (1412—1486). In jüngeren Jahren hatte dieser
seine Ritterkraft an fremden Höfen zur Schau getragen und darauf ge-
stützt auch zu Hause Einfluss erlangt; mehrmals Hess er in offenen
Briefen an die Herrscher ein kräftiges Wort vernehmen, verfasste auch
Moraltraktate, Abhandlungen über Wappenkunde, Hofamter, u. s. w.;
der Geschichte wendete er sich erst spät zu und schrieb zuerst die
Spaniens im Abriss (1481), die erste ihrer Art, die gedruckt wurde,
und vermutlich als Fortsetzung dazu das Memorial de diversas hazanas
über Enriques Regierung mit etwas weiterem Horizont, im wesentlichen
nach Palencia. — Derselben Regierung gedenkt Pedro de Escdvias,
Statthalter von Andüjar, in einer ähnlichen Gesamtgeschichte. Als
Quellen von Wert setzen um diese Zeit noch einige Lokalchroniken ein.
NEUE I1En>ELB. JAHRBUECIIRR XII. 10
238 Ph. Aug. Becker
Auch der neue Condestable Miguel Lucas de Iranzo, ein Mann
von niederster Geburt, der aber die Gunst Enriques nicht für sich aus-
beutete, sondern seine Thatkraft dem Grenzkrieg wider die Mauren zu-
wendete, fand in Juan de Olid einen Biographen, dem kein Detail
zu kleinlich ist. — Endlich gab Fernando del Pulgar in seinen
Claros varones de Castilla nach Guzmans Muster, ohne dessen spontane
Intuitionsgabe, doch mit gutem psychologischem Verständnis und sorg-
sam gefeiltem Ausdruck 24 mehr biographische Charakterbilder älterer
Zeitgenossen.
Fernando del Pulgar hatte schon ein reich erfülltes Leben hinter
sich, als ihn die Königin Isabel zu ihrem Historiographen berief (1482);
er ist der letzte Chronist alten Stils und schon nicht mehr ganz; mehr
als auf Fülle der Einzelheiten zeigt er sich nach dem Vorbild der Alten
auf kunstgerechte Gruppierung des Stoffs und Würde des Stils bedacht;
ein ausgesprochener Zug zum Rhetorischen bekundet sich im Obermass
der eingestreuten Beden und kennzeichnet auch seine Briefsammlung.
Pulgar führte sein Werk bis 1490; nach der Einnahme Granadas schrieb
er aber noch eine kurze Geschichte der maurischen Herrscher, sein letztes
Lebenszeichen. — Verschollen scheint das Werk seiner drei Nachfolger
im Amte. Hingegen besitzen wir von Andres Bernaldez, Pfarrer
von los Palacios und Kaplan des Erzbischofs von Sevilla, eine reich-
haltige, gut informierte, schlicht erzählende Chronik, die von 1488 bis
1513 reicht und an malerischer Fülle der Ereignisse und an umständ-
lichen Eingehen auf die Einzelheiten nichts zu wünschen übrig lässt. —
Ihre Herrscherlauf bahn begannen die katholischen Majestäten mit einem
Sieg über die Portugiesen bei Toro (1476), der als Vergeltung für die
Niederlage von Aljubarrota empfunden wurde; als solche wird er vom
Baccalaureus Palma in seiner Divina räribucion verherrlicht. Noch
manche Chronik liegt ungedruckt oder in seltenen Ausgaben in Biblio-
theken verborgen, andere sind verloren gegangen. Dass uns die Mehr-
zahl der Königschroniken zugänglich ist, verdanken wir der Sammlung,
die der Kämmerer Lorenzo Galindez de Carvajal 1517 veran-
staltete und für die sein Name die Erwähnung verdient.
Das rege Nationalgefühl der Spanier labte sich an den geschicht-
lichen Erinnerungen und liess eine Eeihe von Gesamtdarstellungen der
spanischen Geschichte entstehen. Zu wahren Volksbüchern, als welche
sie noch fortleben, wurden die 'Chronik von Fernan Gonzalez und den
Infanten von Lara', die 'Thaten des Cid\ und andere Auszüge aus
Alfonsos des Weisen Geschichte Spaniens, zu denen auch die ^Chronik
Die spanische Litteratur von ihren Anfängen bis zu den katholischen Königen 23 d
König Roderichs' (eigentlich Crönica sarracina) gehört, jenes Lügen-
buch eines sonst unbekannten Pedro de Corral, das die Geschichte
ganz zur Ritterdichtung travestiert, aber damit die Nationalsage um
ein neues Kapitel bereicherte, den Untergang des Qotenreiches. — Auch
die Nebenländer besinnen sich auf ihre Vergangenheit ; eine Chronik der
Könige von Aragon gab der Cistercienser fray Gualberto Fabricio
de Vagad; die Geschichte Navarras schrieb der unglückliche Prinz
Carlos de Viana (1421—1461), dem dieses Reich als mütterliches
Erbe zukam, der aber im Konflikt mit seinem Vater, Juan II von Ara-
gon, unterlag und starb. — Grosse Anziehungskraft übt endlich das
Beispiel- und Anekdotenmaterial der Geschichte als Substrat für mora-
lische Betrachtung; mit wechselndem Programm wird es verarbeitet
als * Warte der Chroniken' vom Erzpriester von Talavera, als *Meer
der Geschichten' von Guzman, als 'Spiegel der Geschichten' von Al-
fonso de Toledo, als 'Allgemeines Handbuch der römischen Ge-
schichten' von Alfonso de Ävila. Grossen Erfolg erntete Diego
Bodriguez de Almela mit seinem nach Sittenbegriffen geordneten
Valerio de las historias, der mehrere Auflagen kurz nach einander er-
lebte und lange als Muster der Sprache galt.
Fast ein Zufall scheint es, wenn Ausgangs des 15. Jahrhunderts
aus den Spaniern ein Volk von überseeischen Entdeckern und Welt-
eroberern wurde; denn bislängst waren sie aus ihrer natürlichen Abge-
schiedenheit kaum herausgetreten. Nicht etwa, dass ihnen der nötige
Wagemut fehlte: kastilische Ritter traf man überall im Ausland, auf
Turnierplätzen wie in Feldlagern. Kastilische Weltreisende sind eine
Seltenheit; und wenn sich einer findet und er seine Erlebnisse erzählt, so
geschieht es ganz im schlichten Ton der Chronik, meist mit nüchternem
Sinn und mit einer starken Beigabe kastilischen Selbstbewusstseins. —
Eine sonderbare Regung fürstlicher Eitelkeit bestimmte Enrique III
eine Gesandtschaft an den Eroberer Asiens, Timur-leng, zu schicken,
als er eben die Türkenmacht bei Angora zu Boden warf; da dieser die
Höflichkeit erwiderte, ging eine zweite Gesandtschaft ab, die den Ge-
waltigen in seiner Hauptstadt Samarkand aufsuchte und ihn dort in
seiner ganzen tatarischen Pracht bewundern durfte. Über diese Gesandt-
schaft, die von 1403—1406 unterwegs war, hat uns ihr Führer Ruy
Gonzalez de Clavijo oder dessen Begleiter fray Alonso Paez de
Santa Maria einen Bericht hinterlassen, der nicht blos kulturgeschicht-
lich von Wert ist, sondern an sich, trotz der eintönigen Tagebuchform
fesselt mit der arglosen Beschreibung des der Zersetzung entgegengehen-
16*
240 Pb. Aug. Becker
den byzantinischen Eeichs, des beschwerdevollen Ritts durch die end-
losen Hochflächen Innerasiens mit ihren buntbevölkerten Städten, der
ununterbrochenen Festlichkeit^ in Samarkand und der durch das nahende
Ende Timurs beschleunigten Bückkehr. — Im Jahre 1437 war es aber-
mals das Morgenland, das den Aragonier Pero Tafur anzog; aller-
dings wehrte ihm die Ungunst der Zeiten den Eintritt ins Binnenland,
er sah aber Genua, Venedig, Eonstantinopel, die heiligen Stätten des
Gelobten Landes und, mit einem Auftrag des Königs von Cypern, Cairo
und den Berg Sinai mit offenem Blick, als ein Mann von Welt; und
der ungesucht natürliche Ton, in dem er seine Erlebnisse erzählt, ver-
leiht seiner an interessanten Beobachtungen reichen Schilderung von
Land und Sitten einen sympathisch persönlichen Anstrich. — Auf die
richtige Fährte, auf das westliche Weltmeer wurde die spanische Nation
erst durch ihren imsterblichen Adoptivsohn, Cristöval Colon, den
Entdecker des neuen Weltteils, (1446—1506) hingelenkt. Aus den Be-
richten und Briefen dieses heldenmütigen Bahnbrechers spricht in
schlichter Einfachheit der klare, überlegene Geist und der ungebeugte
Wille, die ihn führten, sein offener Blick für Welt und Natur und nicht
minder der tiefe, fast mystische Glauben an die göttliche Sendung, aus
dem sein Geist den Schwung und die Ausdauer in Mühsal und Wider-
wärtigkeit schöpfte. Leider hat Columbus keine zusammenhängende Dar-
stellung seines Lebens und seiner Entdeckungsfahrten gegeben, und seine
wichtigsten Eingaben sind nicht einmal im vollständigen Wortlaut er-
halten: so sorglos hat Spanien seine Schätze bewahrt!
Auch auf dem Felde der didaktischen Prosa regt sich viel-
gestaltiges, wenn auch oft nur erst dämmerndes Leben. Noch einmal
finden wir den alten Stoff lehrhafter Unterhaltung, den Apolog, in neuer
Fassung im Exempelbuch des Archidiakonus von Valderas, demente
Sänchez de Bercial, (Exemplos por a h c) das die Fabeln zum
Gebrauch für den Prediger nach lateinischen Schlagworten ordnet und
mit kurzen Reimsprüchen einführt ; und neue Übersetzungen von 'Calila
und Dimna', vom 'Laienspieger des Engländers Johannes von Ho-
veden bezeugen die andauernde Beliebtheit der Gattung. Neu und
eigen in seiner Art, ein Ausbund schwerfälliger Gelehrsamkeit ist En-
rique de Villenas allegorisch-mythologischer Roman, 'die Zwölf Ar-
beiten des Herkules', katalanisch abgefasst, aber von ihm selber spanisch
umgeschrieben : ein Sittenspiegel für alle Ritter, worin die alte Sage
nicht nur umständlich erzählt, sondern Stück für Stück allegorisch ge-
deutet, dann historisch rationalisiert und schliesslich auf einen der zwölf
Die spanische Litteratur von ihren Anfängen^ bis zu den katholischen Königen 241
Stände der Welt, vom König bis hinab zu den Frauen, angewendet wird.
Nicht minder typisch vertritt die geistige Bichtung des Jahrhunderts
die Vision deleitahle des Baccalaureus Alfonso de la Torre vom
Collegium San Bartolome in Salamanca. Es ist ein gedrängter Lehr-
gang der freien Künste und Moralphilosophie im Rahmen einer allego-
rischen Vision: wir folgen dem Verstand in seinem Entwicklungsgang
durch die Behausungen der sieben Künste, bis ihn die Vernunft zur
Wohnung der Wahrheit führt, wo ihm durch den Hinweis auf die gött-
liche Weltordnung der Sinn des Weltratseis o£fenbart und die sieben
Tugenden vorgeführt werden. Das Buch wurde für denl^rinzen von
Viana auf Wunsch seines Erziehers geschrieben und zeichnet sich stellen-
weise durch poetisch beflügelten Schwung der Gedanken und Sprache
aus; es verschaffte dem Verfasser einen hervorragenden Platz in der
Schätzung seiner Zeitgenossen und erlebte mehrere Auflagen, ward in
fremde Sprachen übersetzt, ja 1623 brachte es ein Unberufener fertig,
dasselbe aus dem Italienischen ins Spanische zurückzuübertragen. Eine
allegorische Hülle gab auch Alonso de Palencia seinem Schriftchen
von der ^Vollkommenheit des militärischen Triumphes' : im Grunde eine
Stilübung wie die episch angehauchte 'Feldschlacht der Wölfe und Hunde',
mit der sich der zukünftige Historiograph nach seiner Bückkehr aus
Italien zu empfehlen trachtete. Er lässt Exercicio, einen Spanier,
Discrecion in Italien, ihrer Heimat, aufsuchen, um von ihr bei
Triumfo eingeführt zu werden. Es vermählt sich darin das Selbst-
gefühl des Spaniers mit der Bewunderung für die italienische Bildung
und für die noch im Verfallen so gewaltigen Überreste des Altertums,
und nicht übel lesen sich — unter dem gelehrt rhetorischen Apparat —
einige Skizzen vergleichender Völkerpsychologie. Das grösste Lob ver-
diente vielleicht unter allen Werken der schönen Prosa Juan de Lu-
cenas Dialog Vita beata, wenn er nicht eine einfache Übersetzung aus
dem Italienischen wäre; denn originell ist nur, dass der Verfasser das
Gespräch drei berühmten Landsleuten, Sautillana, Cartagena und Juan
de Mona, in den Mund legt.
Eine fruchtbare Anregung kam von Boccaccio. Nicht mehr ganz
jung hatte dieser für eine verschmähte Liebeswerbung im 'Corbaccio'
brutale Bache genommen. Diese Schrift brachte die nachfolgenden Ge-
schlechter lange in Aufruhr; zahllose Schriftsteller, Meister und Stüm-
per, hielten es für ihre Ehrenpflicht, eine Lanze für das beleidigte schöne
Geschlecht einzulegen, während andere noch Tadel auf Tadel häuften.
In Kastilien war es die Königin Maria selbst (f 1445), welche die Ver-
242 Ph- Aug. Becker
teidiger der Frauenehre aufrief und anfeuerte. In ihrenn Aufkrag schrieb
Alfonso de Cartagena ein Buch über berühmte Frauen, das in
Verlust geraten ist. Als Sühne für irgend einen Verstoss, der ihn vom
Hofe gebannt hatte, verfasste Kodriguez delPadrön seinen ^Triumph
der Frauen', worin er deren Überlegenheit mit 50 fein sophistischen
Gründen darthut, im Gewand einer anmutigen Verwandlungsfabel : durch
den Mund der Nymphe Cordiama, die als Quell zu den Füssen ihres
zur Erle gewandelten Aliso murmelt. Etwas später kam Älvaro de
Luna mit seinen ^berühmten und tugendhaften Frauen', biblische, heid-
nische und christliche Beispiele auf drei Bücher verteilt und mit einer
gefälligen Leichtigkeit erzählt, die der Feder des Gondestable Ehre macht.
Für die Erziehung der Infantin Isabel schrieb der Augustinermonch
Martin Alonso de Cördova einen ^Garten edler Jungfrauen', und
lange noch zieht sich der Streit in den Büchern dahin.
Alle Scheingründe und schönen Exempel verfingen aber nicht bei
Alfonso Martinez de Toledo, Erzpriester von Talavera, dem sati-
rischen Menschenkenner, dem kein ritterlich mystisches Gefühl den klaren
Scharfblick trübt. Er war Kaplan Juans II und hat verschiedenes ge-
schrieben; allein das 'Buch gegen die thörichte Liebe', das er 1438 im
40. Lebensjahr vollendete, der Corbacho ist unstreitig das originellste
Erzeugnis der Epoche. Wie der Erzpriester von Hita, gleich aufrichtig,
gleich drastisch, doch nicht so locker, predigt er die Verwerflichkeit der
irdischen Liebe. Als Schreckbild malt er die Laster der schlechten
Frauen mit einer kaustischen Verve, die ihresgleichen sucht; die alten
Beispiele von Frauenlist und Frauentrug kehren wieder in verjüngter
Frische und untermengt mit Beobachtungen und Schilderungen aus dem
Leben, sprudelnd von Natürlichkeit, dramatisch insceniert und von einer
Schalkhaftigkeit und Echtheit, die höchst ergötzlich sind; da erfahren
wir alle Geheimnisse der weiblichen Toilette, da sehen wir der Frauen
Eigennutz und Eigensinn, da hören wir ihr endloses Jammern um jede
Kleinigkeit, u. s. w. Auch der Männer wird gedacht und ihres Verhaltens
zur Liebe je nach ihrem Temperament, und da die Irregehenden sich
immer auf ihr Verhängnis berufen, so wird noch der blinde Zauber- und
Schicksalsglaube herb mitgenommen. So bunt der Inhalt, so leicht und
lebhaft ist die Darstellung. Mit seiner geisselnden Derbheit und wür-
zigen Unmittelbarkeit, seinem Realismus und seiner bodenwüchsigen
Sprache vertritt der Erzpriester von Talavera inmitten der gleissenden,
geistreich tändelnden Hofgesellschaft jene echt spanische, humoristisch
ironische Ader, die noch in diesem selben und vollends im folgenden
Die spanische Litteratar von ihren Anfängen bis zu den katholischen Königen 243
Zeitraum ihre reifen Früchte zeitigen sollte. — Nicht geringere Menschen-
kenntnis vereinigt mit mehr sittlichem Pathos Fernando de Tala-
vera (1428—1507), der erste Erzbischof und Apostel von Granada, in
den Traktaten 'über die tägliche Beschäftigung der Frauen' und *über
Kleidung, Schuhwerk und Nahrung', die er noch als Prior von Santa
Maria schrieb und von denen das letztere ein lebhaftes und kultur-
geschichtlich recht lehrreiches Bild der weltlichen Frivolität entwirft.
Bei aller schriftstellerischen Begsamkeit war für eine wissen-
schaftliche Litteratur im eigentlichen Sinn Spaniens geistiger
Horizont noch zu eng. Nur wenige Fragen erwecken wirklich Interesse.
Der hehren Vorschneidekunst widmet Villena seine succulente Arte
cisoria, eine Mine des Genusses und der Belehrung für Tafelfreunde.
Für Rechte und Vorrechte des Rittertums erwärmen sich Alfonso de
Gartagena und Juan Rodrfguez delPadron. Schicksalsglauben,
Traumdeutungen und die anderen Formen der Wahrsagerkunst behandelt
Lope de Barrientos in drei Traktaten als Direktive für den König
bei richterlichen Entscheidungen. Eine andere Zierde der salmantiner
Hochschule, Alfonso de Madrigal, El Tostado, von der Artisten-
fakultät, ein üniversaltalent, der über alles schrieb, liess auch spanisch
ein Buch Paradoxe, ein mythologisches Handbüchlein und einige Ab-
handlungen ('dass alle Menschen lieben müssen', *von Liebe und Freund-
schaft') u. dergl. zurück. Ein fruchtbarer Schriftsteller war gleichfalls
Buy Sänchez de Arevalo (1404 — 1470), Dekan von Sevilla und
Bischof von Zamora, der für Enrique IV einen ^Lustgarten der Prinzen'
und eine 'Summe der Politik, wie Städte errichtet und erbaut werden
sollen', schrieb. Zahlreiche Handschriften zeugen endlich von der Be-
liebtheit des Invencionario de todas las cosas del mundo
des Baccalaureus Alfonso de Toledo (1474), ein dickleibiges, ency-
klopädisches Repertorium aller Dinge, die das irdische sowohl als das
ewige Leben betreffen.
Besonderer Originalität erfreut sich die religiöse Litteratur noch
immer nicht; doch verspürt man nach langer Ebbe wieder steigende
Flut. Voran ging Pedro Gomez Barroso, von 1380—1390 Ver-
weser des Erzbistums Sevilla, mit Betrachtungen über die zehn Gebote,
den Glauben, die Sakramente, u. s. w., aus denen tiefer sittlicher Ernst
spricht. Unter Juan II mehren sich die Versuche: da begegnet uns
wieder unter anderen bekannten und unbekannten Namen Alfonso de
Gartagena, der für Perez Guzman eine Anleitung zum andächtigen
Gebet schreibt. Enrique dem IV. widmet der Dominikaner fray A 1 o n s o >
244 Ph. Aug. Becker
de San Critöval seinen Vegecio spiritualj eine Übersetzung des 'de
re militari' mit Ausdeutung auf den geistlichen Kampf. Auch eine
Frau ist zu nennen, Teresa de Cartagena, die zum eigenen Trost
in ihrer Taubheit die allegorische Arboleda de los enfermos schrieb,
indem sie sich vom Sturm der Leidenschaft auf die Insel der Ernied-
rigung verschlagen stellt, wo sie in einem schattigen Obstbaumgehölz
Schutz und Erholung findet; dieselbe verfasste auch für Qomez Manri-
ques Gemahlin, dofia Juana de Mendoza, eine Betrachtung über die
Wunder der Werke Gottes, unter den katholischen Königen erschienen
dann auch einige Erbauungsschriften im Druck ; die Frucht der wieder-
erwachenden Studien war aber auf diesem Gebiet eine auffallende Ab-
kehr vom Gebrauch der Volkssprache; die Theologie und die religiöse
Litteratur griffen zuerst wieder energisch zur lateinischen Sprache zurück.
Die ünterhaltungslitteratur, der wir uns zuletzt zuwenden,
vollendet in diesem Zeitraum ihren Klärungsprozess ; sie entwächst all-
mälig dem lehrhaften Scheinwesen und ringt sich langsam zu freier,
bewusster Gestaltungskraft durch. Zwei Richtungen gehen dabei neben
einander, verwandt im Geiste, aber ohne sich gegenseitig zu durch-
dringen : die eine ritterlich-phantastisch, begnügt sich vorerst noch mit
französischem Import; die andere, modern-sentimental, lehnt sich an
Italien an und macht schwache Versuche, Eigenes zu schaffen.
Einen unscheinbaren, aber zukunftbergenden Anfang machte Juan
Rodriguez del Padrön mit seiner Novelle J5^/ siervo libre de amor,
die trotz aller Formlosigkeit, Rhetorik und Allegorie etwas poetisch an-
ziehendes hat. Frei geworden von einer anfangs glücklichen, bald aber
nicht mehr erwiderten Liebe, verliert sich der Dichter in seinen trüben
Gedanken und wünscht den Tod herbei; da kommt ihm die schlicht
ergreifende Geschichte in den Sinn, wie der Königssohn Arlandier sich
in Liessa verliebt, ihr zu Ehren an vielen Höfen in Turnieren glänzt,
wie er für sie ein Schloss in einen Felsen hauen lässt und hier mit ihr
lebt, bis sein Vater sie entdeckt und die junge Frau töten lässt, und
er ihr in den Tod folgt. Es ist eine einfache Herzensgeschichte wie
Boccaccios Tiammetta', sentimental und etwas deklamatorisch wie diese;
verschleiert deutet sie eigene Erlebnisse des Dichters an und will auch
mit der eingelegten Erzählung nur seiner Gemütsverfassung zum Aus-
druck verhelfen; sie knüpft dabei an heimatliche Erinnerungen und
webt ihren Glanz um das Stück galicischer Erde, wo des Verfassers
Wiege stand. — Dieses Werkchen war es, das einige Jahrzehnte später
Diego de San Pedro für sein berühmtes Garcel de Amor zum
Die spanische Litteratur von ihren Anfängen bis zu den katholischen Königen 245
Muster diente. Oefesselt und gemartert muss Leriano als Gefangener
des Liebesgottes seufzen, bis die Königstochter Laureola sich erweichen
lässt und ihn durch ihre Gegenliebe erlöst; üie beiden Liebenden werden
beim König verleumdet, Leriano wird verbannt, Laureola zum Tode ver-
urteilt, doch von ihrem Geliebten befreit und heldenmütig verteidigt,
bis ihre Unschuld kund wird; jetzt aber weigert sie sich schamhaft,
ihm weiter Gehör zu schenken, und er lässt sich vor Verzweiflung
Hungers sterben. Dieses seltsame Amalgam von Allegorie und phan-
tastischer Sealität führt uns der Verfasser vor, als wäre er selber Zeuge
aller Vorfälle und teilnehmender Vermittler zwischen den Liebenden ge-
wesen; und wenn er selber auch später die Schrift als eine Jugendver-
irrung bereute: mit ihrer glühenden Liebesrhetorik fand sie Anklang
bis weit über die Grenzen des Landes hinaus und fuhr lange fort
fühlende Herzen zu bestricken. Sie machte auch Schule und rief mit
einer zweiten Novelle von ihm, dem Tratado de amores de Arnalie y
Lucenda, eine Beihe von Nachahmungen hervor: von Luis de Lucena
die Repeticion de amores^ Liebesbriefe mit einer Parodie der Schuldispu-
tationen in einem Kommentar über Verse des katalanischen Dichters
Torrellas; von Juan de Fl eres den Tratado de Grisel y Mirabella,
der die Frage: wer dem anderen mehr Anlass zum Fehlen gibt, der
Mann der Frau oder die Frau dem Manne, zu Ungunsten der Frau ent-
scheidet und in schadenfrohem Übermut demselben Torrellas, der schlimm
von den Frauen gesprochen hatte, einen entsetzlichen Tod durch schöne
Hände andichtet; von Juan de Segura den Proceso de cartaß de
amores und die Queja de Lucindaro contra Amor y su dama, zwei
späte Nachzügler der Gattung. Mehr kulturgeschichtliches als senti-
mentales Interesse erweckt die Cuestiön de Amor, ein Schriftchen von
etwas verschiedener Art, das uns nach Neapel führt und um die Frage,
wer am meisten leide: der die Geliebte verliert oder der hoffnungslos
liebt, eine eingebende Schilderung der Feste und kriegerischen Rüstungen
gruppiert, die der Schlacht bei Bavenna (1512) vorausgingen; die Ge-
sellschaft, in die uns der Erzähler einführt, ist jener eigenartige spanisch-
italienische Hofhalt, mit dem sich die verwitweten, entthronten oder
verstossenen Königinnen und Herzoginnen, Witwe, Töchter und Enkelin-
nen Fernandos I von Sicilien umgaben, und den zahlreiche Bande der
Verwandtschaft und Denkungsweise an das Haus der Borja knüpfte.
Als der wahre Ausdruck der Sinnesart der spanischen Nation können
unter den Schöpfungen der Phantasie im 15. Jahrhundert die Bitter-
bücher gelten. Allerdings haben diese ihren heimischen Boden nicht
246 Ph. Attg. Becker
in Spanien, doch schlugen sie hier sehr bald tiefe Wurzeln. Ihr Ur-
sprungsland ist Frankreich: von dessen höfischer Dichtung sind sie die
Ausläufer. Als erster kam, um 1350, der Tristan herüber, jene
glühende Verherrlichung der unwiderstehlichen, alle Schranken der Pflicht
und Treue durchbrechenden Liebe. Fast gleichzeitig erschien der Roman
von Troja mit seiner feinen Analyse weiblicher Wandelbarkeit. Nicht
lange, so las man auch Lancelot vom See, die Graalsuche,
Merlin und Joseph von Arimathia, diese wechselreichen, span-
nenden und von Wunderbarem gesättigten Musterproben fahrenden Ritter-
tums. Wie in keinem anderen Lande verkörperten sie das Ideal der
Zeit und ersetzten daher ohne Mühe die nationalen Erinnerungen in der
Gunst der höfischen Leser. Das beginnende 15. Jahrhundert fügte noch
einiges hinzu, die Geschichte von Tablante und Jofre, den ein-
zigen provenzalischen Arturroman, den es gibt, die jüngere katalanische
Erfindung von Paris und Yiana und den nur spanisch erhaltenen
Enrique fi de Oliva, der erzählt, wie Pipins Schwester Oliva infolge der
Ränke des Grafen Tomillas, des Vaters des Erzverräters Ganelon, Ver-
stössen wird und wie später ihr Sohn Enrique Jerusalem erobert, die
Erbin von Konstantinopel heiratet und seine Mutter rächt, — und ande-
res der Art. Mit der Verbreitung des Buchdrucks und der Aussicht auf
grössere Leserkreise gewann dann dieser Zweig der Übersetzungslitteratur
einen mächtigen Aufschwung; in buntem Gewirr übernahm man, was
das Nachbarland an neuen Drucken lieferte, Stücke der Earlsage wie
die Geschichte von Fierabras dem Riesen, alte Abenteuerromane und
Novellenbücher wie die sieben Weisen von Rom, Partonopeus
von Blois, Pontus und Sidonia, Melusina, Robert der
Teufel, jüngere Volkserzählungen wie die schöne Maguelona; den
Katalanen wird der vielgelesene Tirant lo blanch entlehnt, und um
die Wende des Jahrhunderts beginnt auch Italien seine reichhaltige
Volkslitteratur nach Spanien abzusetzen. Bereits hatte aber der spani-
sche Erfindungsgeist seine eigenen Wege gefunden.
Seit geraumer Zeit besass nämlich Spanien im Amadis de Gaula
seinen eigenen, selbsterdachten Erzählungsstoff. Schon Ayala kennt ihn
und wirft sich vor, seine Zeit damit vergeudet zu haben; öfter spielen
die älteren Hofdichter auf ihn an. Erst später geschieht einer portu-
giesischen Fassung Erwähnung als Werk Vasco Lobeiras, von dem
wir wissen, dass er 1385 am Vorabend von Aljubarrota zum Ritter ge-
schlagen wurde. Beide Fassungen sind verloren, die ältere kastilische
wie die portugiesische ; zum Druck kam der Roman in der Bearbeitung
Die spanische Litteratar von ihren Anfängen bis zu den katholischen Königen 247
des Ritters Garci-Ordoiiez de Montalvo, Gemeinderat von Medioa
del Campo, der um 1492 die drei schon vorhandenen Bücher stilistisch
überbesserte, den Schluss zu einem vierten erweiterte und als fünftes
die Tbaten Esplandians hinzufügte. In dieser Gestalt gelangte der
Atnadls zu seiner weltgeschichtlichen Bedeutung, aber nicht durch
Montalvos Verdienst, sondern dank dem Talent jenes Unbekannten, der
die Erzählung ersann.
Dieser Boman, der zum Urvater aller modernen Bomane werden
sollte, schliesst unmittelbar an die mittelalterliche Ritterdichtung an.
Der Schauplatz ist noch der klassische Boden des fahrenden Rittertums :
Bretagne, Wales, Schottland und England. Sein Verfasser hat sich aber
von dem für neue Erfindung zu eng gewordenen Rahmen des Arturhofes
und der Tafelrunde frei gemacht, indem er die Handlung um Jahrhunderte
zurückverlegte ; sie spielt kurz nach Christi Geburt auf der alten sagen-
freundlichen Erde, aber in neuer Umgebung, unter ganz verschiedenen
Voraussetzungen. — Frucht geheimer Liebe und bei der Geburt dem
Meere anvertraut, wird Amadis in Schottland als Doncel del mar
erzogen. Am Hofe erregt seine Anmut und sein Anstand allgemein
Gefallen, und er wird der kleinen englischen Königstochter Oriana
zum Pagen gegeben. Ihre freundliche Aufnahme und ausserordentliche
Schönheit entzünden im Herzen des zwölfjährigen Knaben eine Liebe,
die nichts mehr im Leben verdrängen wird. Auch Oriana ist ihm hold
und erwirkt ihm den Ritterschlag von König Perion von Gaula, der
um Hilfe gekommen ist. Amadis eilt nach Gaula; sein Schwert ent-
scheidet den Sieg, und im geretteten Königspaare findet der Jüngling
seine Eltern. Die jugendliche Thatenlust lässt ihn aber nicht ruhen;
sie führt ihn in die Nähe Orianas, an den Hof Lisuartes von Eng-
land. Doch auch hier bleibt er nicht müssig: kaum hat er mit seinem
wiedergefundenen Bruder Galaor den König und Oriana aus tötlicher
Gefahr befreit, so sucht er mit ihrem Urlaub neue Abenteuer, gewinnt
der enterbten Briolanja ihr Reich zurück, besteht die Proben der In-
sola firme im Garten der treuen Liebhaber; aber der eifersüchtige
Verdacht Orianas, die ihm ihre Nähe verbietet, stürzt ihn in Verzweif-
lung. Schwert und Rüstung wegwerfend, lebt er büssend in der Felsen-
klause der Peüa pobre; doch bald hört er, dass Oriana ihr Unrecht
einsieht, dass neue Gefahren drohen; unter dem Namen Beltenebrös,
den ihm der alte Klausner beigelegt hat, übertrifft er seine früheren
Thaten, verlebt mit Oriana auf ihrem Landschlösschen Miraflores Tage
der Wonne und ungetrübten Glückes, wendet abermals die Gefahr von
248 P^- Aug. Becker
Lisuartes Haupt, wird aber jetzt durch böse Neider im Unfrieden vom
Könige geschieden. Während Oriana in aller Heimlichkeit einem Knaben,
Esplandian, das Leben gibt, den ein Löwe raubt und ein frommer Ein-
siedel aufnimmt und erzieht: besucht Amadls als Caballero de la
verde espada Deutschland, Böhmen, Bumänien und Konstantinopel,
vollendet das höchste, das ein Einzelner leisten kann, und kehrt nach
Jahren zurück, um zu erfahren, dass Lisuarte seine Tochter Oriana, die
Erbin des Reichs, gegen alles Becht mit dem Kaiser von Rom ver-
mählen will. Er überfällt die Boten, entreisst ihnen die Geliebte und
steht nun in offener Fehde mit Lisuarte und seinen römischen Verbün-
deten; aber er hat sich so viel Freunde in Nah und Fern erworben,
dass er die zweitägige Feldschlacht siegreich besteht. Schon hat der
Einsiedel Nasciano, Esplandians Erzieher, begonnen die Gegner zu ver-
söhnen, als über Lisuarte ein alter Todfeind bricht, der ihn zu ver-
nichten hofft. In der äussersten Bedrängnis erscheint ihm Amadis noch
einmal als der Better, und bald schwindet auch der letzte Groll. Auf
der In sola firme ist allgemeine Hochzeitsfreude, und hier besteht
jetzt auch Oriana die Schönheitsprobe der Verbotenen Kammer*, wo-
mit aller Zauberspuk sein Ende findet.
So ungefähr verläuft der Herzensroman, der den Kern des Amadis
bildet, die Geschichte einer Liebe so heimlich und verborgen, dass bis
zuletzt kein Mensch etwas von ihr ahnt, und so standhaft und treu, dass
kein anderer Gedanke den Sinn des Helden erfüllen, keine fremde Ver-
suchung ihn bethören kann. Neu ist eben die Schilderung dieser keusch
sehnenden Liebe ; in einigen Scenen erhebt sie sich zu weicher, packen-
der Poesie und gewinnt noch an Belief durch den Gegensatz des stürmi-
schen Jugenddrangs, mit dem Galaor die Gunst jeder Gelegenheit im
Fluge erhascht. Doch fast noch mächtiger als die Stimme der Liebe
und der Sinne spricht im Herzen der jungen Bitter die Sucht nach Ehre,
der Trieb nach hohen Thaten, der sie von einer Gefahr zur anderen
treibt, wo nur ein Bedrängter Hilfe verlangt, wo ein Unrecht der Sühne
harrt, oder wo Trotz und Kampfgier den Fehdehandschuh bieten. Und
oft mag es scheinen, als verfolge die Erzählung keinen anderen Zweck,
als den Leser von Fährlichkeit zu Fährlichkeit, von Erstaunen zu Er-
staunen zu hetzen: so unermüdlich ist der Verfasser im Ersinnen stets
neuer Kombinationen. Mit seiner kurzweiligen Darstellungsweise führt er
uns in angenehmer Spannung durch den rastlosen Wechsel der Gescheh-
nisse, reiht Figur an Figur, und lässt uns keine Zeit, uns Gedanken zu
machen über diese seltsame Welt, wo Landstrassen und Waldpfade von
Die spanische Litteratur von ihren Anfängen bis zu den katholischen Königen 249
hilfesuchende» , botscbaftbriDgenden , verfolgten , leidtragenden und
Ränke ausheckenden Frauen und Fräulein wimmeln, wo jeder Thal-
grund, jeder Schlosshof lauernde Ritter birgt, wo Menschenleben nichts
gelten, wo Niemand sich um die Leichen kümmert, die der Zweikampf
auf Wege und Anger hinstreckt; wo das Becht, die öffentliche Sicher-
heit, ja das königliche Ansehen nur auf dem Schwert des fahrenden
Ritters ruhn, der jeder Gefahr die Stirn bietet, aber auch stets durch
das Mass der Bede dem stolzen Prahler gegenüber sich den Vorteil der
guten Sache sichert. Vielfach spielen Zauber, bedeutungsvolle Voraus-
sagen, geheimnisvolle Hilfe und Kettung in die Handlung hinein, doch
geben sie den schliesslichen Ausschlag nicht, sondern allein das gute
Schwert und das gute Becht des einen auserlesenen Bitters.
Von den glänzenden Erzählergaben seines ungenannten Vorgängers
hat Montalvo wenig geerbt; gleich fremd ist ihm der impulsive
Reckengeist wie die warme Sinnlichkeit des ersten AmadiSy dessen Schluss
er verwässert hat. In den Sergas de Esplandian verlegt er den Schau-
platz nach dem Orient und sucht das Vollkommenheitsideal seines Vor-
bilds zu übertrumpfen. Die Feder führt er nicht schlecht; aber zum
Romandichter fehlt ihm die anschauliche Eingebung und der Glaube an
die eigenen Schöpfungen. Ziel- und zusammenhangslos schleppt sich
die Handlung dem längst durchblickten Abschluss zu; selbst Carmela,
die in still verzichtender Liebe dienend dem Helden folgt, ist ein guter
Einfall, mehr nicht. Unverdient geniesst Montalvo den Buhm eines
anderen.
Das Drama.
Die Wende des 15. Jahrhunderts sollte endlich auch die spanische
Bühne neu erstehen sehen. Von dem aus der Liturgie hervorgegangenen
religiösen Schauspiel des Mittelalters war Spanien seiner Zeit nicht un-
berührt geblieben; es war aber eine ephemere Erscheinung. Seitdem
war es wieder still geworden ; von dramatischen Aufführungen verlautet
auf dem spanischen Sprachgebiet die ganze Zeit nichts mehr. Wohl
fahren die Kirchen fort, erbauliche Darstellungen aus der Erlösungs-
geschichte als blosse Geberdenspiele oder lebende Bilder zu pflegen,
und nicht minder liebte man es, Krönungstage, Einzüge von Fürstlich-
keiten und andere festliche Anlässe weltlicher Art durch öffentliche
Schaustellungen und vermummte Umzüge zu feiern. Hier konnte und
sollte die Entwicklung einsetzen: ein Drama gab es nicht, es lag aber
jederzeit nahe, diese stummen Bilder durch einen Spruch, einen Dialog,
einen Schein von Handlung zu beseelen. In der That schrieb Gomez
250 ^h. Aug. Becker
Manrique für die Nonnen des Klosters Calabazanos, dem seine Schwe«
ster vorstand, Verse für eine Weihnachtsvorstellung ganz primitiver Art,
mit kaum einem Ansatz von Handlung: Ein Engel zerstreut Josephs
Zweifel über die Herkunft des von Maria erwarteten Kindes, dann ver-
kündet die Engelschaar die Geburt des Heilands, Hirten und Engel eilen
das Kindlein anzubeten, mit ihnen huldigen ihm auch die Martern, die
seiner harren, und mit einem Schlummerlied tröstet der Chor den weinen-
den Säugling. Und noch einfacher sind die Sprüche für einen ver-
mummten Neujahrsglückwunsch, die sich gleichfalls unter Manriques
Werken finden.
Eine lebens- und entwicklungsfähige Gestaltung verlieh diesen rudi-
mentären Festvorstellungen Juan del Encina (1469—1534), eine
der bezeichnendsten litterarischen Gestalten dieser Zeit, gleich gewandt
und produktiv als Musiker wie als Dichter, ein geweckter Geist, dem
die anmutige Gefälligkeit der Verse, die sangliche Schmiegsamkeit der
Lieder, die Treffsicherheit des Dialogs, ein harmloser Humor und ein
echt volksmässiger Ton Naturgabe waren. Er war bei Salamanca zu
Hause, studierte hier, fand dann sein Fortkommen beim Herzog von
Alba, wirkte später in der päpstlichen Kapelle und kehrte nach einer
Beise nach Jerusalem in seine Heimat zurück, um seine Pfründen in
Ruhe zu geniessen. Seine ersten dramatischen Eklogen, die in der Haus-
kapelle von Alba de Tormes aufgeführt wurden, haben vom Drama nur
die lebhafte, einer Situation angepasste Wechselrede, noch nicht die ge-
schlossene Handlung : Gespräche sinds von Hirten vor der Anbetung der
Krippe, eine Unterhaltung zweier Einsiedler mit Veronica über den Tod
des Herrn, oder die Begegnung Josephs, Magdalenas und der Jünger
von Emaus am offenen Grabe; desgleichen für Faschings Ende fröh-
liche Gelage schmausender Hirten, eine Prügelscene zwischen Studenten
und Bauern, oder die Werbung eines Knappen um eine Dorfschöne und
umgekehrt die Hirten, die einmal das Herrenleben kosten möchten.
Encina spielte selber mit und führt sich gern selber ein, liebt auch
sonst zeitgemässe Anspielungen, die nicht immer zur heiligen Geschichte
reimen, und versteht es überhaupt, die geschichtliche Bedeutung und
die moderne Beziehung des Spiels in sinnige Verbindung zu bringen.
In Bom, fern vom heimischen Boden, lösten sich seine dramatischen
Versuche noch mehr von ihrer ursprünglichen festlichen Bestimmung;
die vornehm korrupte Gesellschaft, die sich in den Gemächern eines
Kardinals zusammenfinden mochte, suchte er durch pathetische Situa-
tionen im Geschmack der sentimentalen Novelle oder durch derberen
Die spaDische Litteratur von ihren Anfängen bis zu den katholischen Königen 251
Bealismus zu unterhalten, und sein geschmeidiges Talent erfasste, wie
früher den idyllischen, so jetzt den leidenschaftlicheren Ausdruck mit
sicherer Meisterschaft ; einen Fortschritt der scenischen Fügung bedeuten
aber auch diese Stücke kaum.
Obwohl Encinas Versuche nicht aus dem engen Rahmen der Pa-
läste Yor die grosse Öffentlichkeit gelangten, verbreiteten sie sich rasch
durch den Druck und regten zur Nachahmung an. Zu jedem grösseren
Hofhalt gehörten ständige Musikkapellen, und diese wurden die Heim-
stätte der neuen Kunst. Überall entpuppten sich dramatische Talente,
ein Francisco de Madrid, ein Martin deHerrera, ein Lucas
Fernändez aus Salamanca, der besonders die derb uaive Komik des
Hirtenlebens hervorkehrt, und Andere, und die meisten wendeten sich
auch an den Verleger. Nach Portugal verpflanzte der geniale Gil
Vicente die junge dramatische Kunst: 1502, bei der Geburt des Thron-
erben, trat er als Hirte verkleidet vor das Wochenbett der Königin,
einer spanischen Infantin, und trug ihr seine Huldigung in einem Mo-
nolog vor; der Versuch gefiel, man forderte mehr, und so fuhr Gil
Vicente 34 Jahre lang fort, den Hof mit Festspielen zu unterhalten,
teils in portugiesischer, teils wie beim ersten Anlass in kastilischer
Sprache. Lyrischer Schwung und launige Phantasie waren ihm eigen
und verleihen seinen sorglos naturwüchsigen Schöpfungen eine besondere
Anmut. Vervollkommnet hat er den unfertigen Bau der Bühnenspiele
eigentlich nicht, aber er hat ihren Bereich nicht unbedeutend erweitert :
bald lässt er das Hirtenspiel ganz in Symbolik aufgehen, bald führt er
moralische Allegorien ein, wie sie Frankreich liebte und pflegte, bald
greift er nach neuen Stoffen aus der biblischen und Heiligengeschichte,
der Mythologie und der Rittererzählung; vor allem aber bewährt er
seine komische Kraft an einer bunten Reihe lebensvoller Figuren, dem
Modepfäfflein, dem Hausgeistlichen des bettelarmen Edelmanns, dem
epikuräischen Einsiedel, dem grotesken Richter, dem schmachtenden Galan,
dem verführten und betrogenen Mädchen, der verliebten Alten, dem
jüdischen Heiratsvermittler, allerlei Zauberer-, Kuppler-, Zigeuner- und
Negervolk, deren Ton und Redeweise er in allen Färbungen und Ab-
stufungen ausdrucksvoll und malerisch wiedergibt.
In Rom selbst fand Encina einen Schüler und in mancher Hinsicht
überlegenen Rivalen an Bartolome de Torres Naharro, einem
Priester aus Estremadura, der durch Loskauf aus maurischer Gefangen-
schaft nach Rom kam und hier zwischen 1513 und 1517 im Gefolge
des Kardinals Carvajal lebte und dichtete. Für das Schauspiel besass
252 Ph. Aug. Becker
Torres Naharro mehr als nur ein instinktives Gefühl; das rege gewor-
dene Interesse am antiken Lustspiel und die verschiedenen Versuche der
Italiener eröffneten ihm das Verständnis für die Führung der Handlung
und der Bühnenwirkung, wie sie ihm auch die Einführung des Prologs
(meist eines Bauerntölpels), die Einteilung der Stücke in fünf Akte
oder jomadas und die Verwendung der Diener und Zofen als scherz-
haftes Gegenspiel ihrer Herrschaften nahe legten. Gross ist Nabarros
Eepertorium nicht, aber es ist selbständig, sei es, dass er sich an rea-
listischen Sittenschilderungen in losen Scenen (aus dem Soldaten- und
Werberleben der Zeit oder aus dem Treiben des Gesindes und Eüchen-
personals eines römischen Kardinals) verweilt, sei es, dass er eine rich-
tige Intrige zu flechten versucht, wie die vom leichtsinnigen Jüngling,
der eine doppelte Ehe eingeht und nun eine der beiden Frauen beseitigen
müsste, wenn ihm nicht ein jüngerer Bruder die überzählige abnähme,
oder die phantasievolle Liebeswerbung der Comedia Himenea mit dem
nächtlichen Stelldichein und dem über die Reinheit der Familienehre so
eifersüchtig wachenden Bruder, welche uns zum erstenmal ein Lieblings-
motiv der späteren Comedia, hier noch mit versöhnlichem Ausgang vor-
führt. Diese Stücke, die die spätere Entfaltung der spanischen Bühne
vorahnen lassen, sicherten Torres Naharro neben Encina einen mass-
gebenden Einfluss auf die Schauspieldichtung der Folgezeit; er lenkte
sie zuerst in die Fährten des Intrigenspiels.
Schon bei diesen ersten zagen Schritten des spanischen Dramas
macht sich aber bereits die Wirkung jenes einzigartigen Werks fühlbar,
das an Originalität und Bedeutung alles vorangehende und nächstfolgende
gewaltig überragt, jener Comedia de Calisto y Melibea oder der Celestina^
wie man sie prägnanter benennt, die eigentlich kein Drama ist und auch
nie zur Aufführung bestimmt war, die aber, was dramatischen Geist,
Ergründen und Entwickeln der Charaktere, naturwahre Sittenschilderung
und Trefflichkeit der Sprache anbelangt, eine Epoche in der spanischen
Litteratur bezeichnet. Wem wir diese geniale Schöpfung verdanken,
wissen wir nicht: denn der Anteil des Baccalaureus Fernando de
ßojas, der das unvollendete und von keinem Verfasser unterfertigte
Werk in Salamanca gefunden und während der Gerichtsferien in vier-
zehn Tagen zu Ende geführt haben will, ist unklarer und problematischer
denn je. Den Inhalt bildet ein leichtfertiger Liebeshandel mit tragi-
schem Ausgang. Seinem verflogenen Falken in einen fremden Garten
folgend, steht Calisto plötzlich vor Melibea und gesteht ihr unumwun-
den den überwältigenden Eindruck, den ihre Schönheit auf ihn macht;
sie weist den Vermessenen entrüstet zurück. Der junge Mann lässt sich
Die spanische titteratur von ihren Anfängen bis zu den katholischen Königen 25ä
nun von seinem Diener bereden, die Angelegenheit einer dienstfertigen
Alten, der stadtbekannten Gelegenheitsmacherin Celestina anzubefehlen;
diese findet in der That Mittel und Wege in das Haus Melibeas zu
kommen, ihr auf Umwegen die Botschaft zuzustellen und ihr das
Geheimnis ihrer Gegenliebe abzulocken. Auf ein Stelldichein an der
Hausthüre folgt eine nächtliche Begegnung im Garten ; beim Fortgehen
strauchelt Calisto, stürzt von der Leiter und bleibt mit zerschmettertem
Schädel liegen ; Melibea wirft sich in ihrer Verzweiflung vom Turm ihres
Hauses hinunter. Selben Tags war Celestina mit Calistos Dienern über
die Teilung des Zubringerlohns in Streit geraten und von ihnen erstochen
worden, und das Gericht hatte die Sühne ungesäumt vollzogen. Dies
die Handlung, deren Mittelpunkt und Seele unstreitig die Figur der
alten Kupplerin ist. In diesem verschlagenen und verworfenen Geschöpf,
das die menschliche Schwäche bis in ihre verborgensten Winkel durch-
späht und skrupellos ausbeutet, lebt der Geist der Erzpriester von Hita
und Talavera mit dämonischer Kraft wieder auf. Wie ehrbar weiss doch
die Alte überall aus- und einzugehen, wie kann sie so erfahren und
lebensklug reden, wie überlegen betreibt sie ihr vielgestaltiges Geschäft,
und wie unheimlich versteht sie jeden Vorteil zu ergreifen, jeder Gefahr
zu steuern und einen jeden in den Bannkreis ihrer Schlechtigkeit zu
ziehen ; wie satanisch umgarnt sie das junge Mädchen, indem sie selbst
ihre besten Regungen zu Hebeln ihres Falles macht, und wie muss ihr
auch alles zu statten kommen, die gutmütige Arglosigkeit der Mutter
so gut wie ihre strengeren Mahnungen zur Vorsicht. Mit so grellem
Realismus und solcher psychologischer Tiefe war noch kein Charakter
entwickelt, noch kein Sittenbild entworfen worden. Ein Drama ist die
Celestina nicht. Oft stockt nach dem glänzenden Anfang der Gang der
Handlung und geht episch und redselig in die Breite. Auch der Ausgang,
jener jähe Umschlag vom höchsten Jubel der Liebe zum tiefsten Jammer,
kann nur insofern als tragische Schuldsühne gelten, als die beiden jungen
Leute, in denen sich ja Jugend, Schönheit, Geburt und Reichtum eben-
massig vereinigten, um ein dauerndes Glück zu sichern, an sich erfahren
mussten, wie nichtig die Seligkeit ist, die nur auf der berauschenden Wonne
des irdischen Besitzes ruht. — Eine unbekannte Hand hat schon in den
ältesten Ausgaben unsere dialogisierte Frosanovelle um einige Scenen er-
weitert, welche die Nebenfiguren schärfer hervorheben und einige glückliche
Einfälle enthalten, aber zugleich das Unverhüllte nackter hervortreten las-
sen. Den Erfolg des Buches hemmte dies nicht; soviel Ausgaben hat keines
aus dieser Zeit erlebt, und auch das Ausland zollte ihm seineu Beifall.
NEUE HEIDELB. JAimBüECIIER XII. 17
Kaiser Heinrich TU.)
Von
Alexander Cartellieri.
Betrachtet man die politische Lage, in die Heinrich von Lützel-
barg als deutscher König und römischer Kaiser eintrat, so ist das Über-
gewicht Frankreichs in den allgemeinen Verhältnissen der Christenheit
entscheidend. Woher stammt dieses Übergewicht? Naturgemäss nur
daher, dass Frankreich die Stelle eingenommen hat, die das sinkende
deutsche Reich frei zu lassen genötigt wurde. Uie Kapetinger haben
die Erbschaft der Staufer übernommen. Denken wir an Philipp II.
August, dem in seinen jungen Jahren die gewaltige Persönlichkeit Karls
des Grossen vor der Seele stand, an die folgenreiche Niederlage des deut-
schen Beichsheeres bei Bouvines, an die umfassende Wirksamkeit Karis
von Anjou. Der Untergang der letzten Staufer in Apulien schuf Baum
für eine andere vorherrschende Dynastie und die innere Zerrissenheit
Deutschlands schuf Baum für ein anderes vorherrschendes Land. Deutsch-
land, der Zwietracht der Stande ausgeliefert, kam als Gesamtpersönlich-
keit in der auswärtigen Politik nicht mehr in Frage. Noch wagte man
nicht, es unmittelbar anzugreifen, aber es besass selbst keine Angriffs-
krafb mehr nach aussen. Es gab fortan keine deutsche Beichspolitik,
sondern nur Politik der einzelnen Erzbischöfe, Bischöfe und Fürsten.
Die leitende Persönlichkeit am Ende des 13. und Anfang des 14. Jahr-
hunderts ist zweifellos König Philipp IV. von Frankreich, genannt der
Schöne. Kann es gelingen, uns diesen Mann, der Jahre lang im Vorder-
1) Für den folgenden Versuch habe ich die neueren Schriften über Heinrich VIF.
und seine Zeit (Assmann -Viereck, Felsberg, Funck-Brentano, GregoroTius, Holtx-
mann, Hüffer, Israel, Kraussold, Lindner, Loserth, Masslow, Föhlmann, Sommerfeldt)
nach Möglichkeit benutzt und geprüft. Einer tieferen politischen Auffassung haben
vor allem Fonrnier, Langlois und Wenck vorgearbeitet.
Kaiser Heinrich VlI. 255
gründe der Weltbühne stand, lebendig zu vergegenwärtigen ? Es scheint
nicht so. Der beste französische Kenner der Zeit meint, man vermöge
nicht zn sagen, ob er ein grosser Mann war oder ob er alles nur ge-
schehen liess. Die Zeitgenossen hoben seine auffallende Schönheit her-
vor, bieten uns aber keine Gelegenheit, in sein Inneres zu blicken. Die
Ansicht des Volkes ging dahin, dass er von Natur schwach und lenk-
sam war und daher seinen Vertrauten allen Spielraum gewährte.
Wie dem auch sei, gab Philipp nur den königlichen Namen für
das her, was damals von Paris aus geschah, er bleibt doch im Mittel-
punkte. Nie wird man im einzelnen feststellen können, wie weit im
einzelnen der Anteil seiner vertrauten Eäte reicht. Es waren Männer
geringer Herkunft, dem Königtum noch mehr ergeben wie der Person
des Königs, Männer, deren Bibel das römische Recht, deren Ideal der
Absolutismus war, die in ihren Massnahmen kein Mittel scheuten und
an die Allgewalt dreister Lüge und geschickten Betruges glaubten.
Die Macht des französischen Staates hatte sich besonders deutlich
darin gezeigt, dass. der französische König es hatte wagen dürfen, das
Papsttum in der Person Bonifaz' VIII. so tief zu demütigen, wie nie
zuvor geschehen war. Neben dem Ereignis von Anagni verblasst die
Gefangennahme Paschalis IL in St. Peter durch Heinrich V. Vergeb-
lich hatte Bonifaz einmal die weitgehenden theoretischen Ansprüche der
Franzosen derb abgewiesen: sie fühlten sich doch als das herrschende
Volk der Welt. Der gehorsame Papst, das uneinige, durch jahrhunderte-
lange Kämpfe erschöpfte deutsche Reich konnten ihnen nichts anhaben.
Wohin liefen die feinen, meist vergoldeten Fäden der französischen Politik
nicht? Ein Enkel Karls von Anjou regierte in Neapel, ein anderer
gewann Ungarn. Die Königin von Frankreich vereinigte Navarra mit
der Krone. Frankreich und England waren seit Anfang des Jahres 1308
durch Heirat verbunden und gönnten sich in ihrem endlosen Streite eine
Pause. Deutsche Reichsfürsten am Rhein, desgleichen andere in Savoyen
und der Dauphine bezogen regelmässige Jahrgelder vom Könige. Der
gefährliche Kampf der Krone gegen die reichen flandrischen Städte war
durch den Frieden von Athis vorläufig beigelegt. Kurz, Philipp nahm
damals durchaus die Stellung eines Oberherrn des Abendlandes ein und
ihm fehlte nur der kaiserliche Name, um das allgemein kund zu thun.
Papst war Klemeus V., der als Kardinal nie hervorgetreten war, ein
Gaskogner, der seine Erhebung allein dem Willen Frankreichs verdankte.
Ihm gegenüber besass Philipp zwei starke Druckmittel, von denen er ganz
nach Belieben Gebrauch machte: den Prozess gegen das Andenken des
17*
256 Alexander Cartellieri
Bonifaz und den gegen die Templer. Man kann kaum sagen, welcher
für das Papsttum gefahrlicher war. In dem einen Falle handelte es
sich darum, vor der Öffentlichkeit die Wahrheit der fürchterlichen Be-
schuldigungen darzuthun, die gegen die Sitten und die Orthodoxie des
verstorbenen Bonifaz vorgebracht worden waren. Die andere Sache war
die der Templer, die als Grosskapitalisten sich glühenden Hass zugezogen
hatten, die durch ihre Reichtümer die Begehrlichkeit der Leute des Königs
erweckten, die endlich durch ihre Qeheimnisthuerei und ihr hochfahren-
des Wesen zu vielem bösen Gerede Anlass boten. Aber nach der ganzen
Anschauung der Zeit, nach den Verdiensten, die sich die Templer um
das heilige Land erworben hatten, durfte kein Statthalter Christi sich das
Gericht über den Orden aus den Händen winden lassen, wollte er nicht
seine klägliche Schwäche aller Welt offenbar werden lassen.
Betrachten wir die Persönlichkeit Elemens', so sehen wir freilich
bald, dass er nicht der Mann war, mit den Ministern Philipps des
Schönen fertig zu werden. Immer kränklich, ängstlich darauf bedacht,
dass das Klima einer Residenz ihm bekomme, litt er dauernd an £nt-
schlusslosigkeit, aus der er sich nur gelegentlich aufraffte, um gleich
wieder zu erschlaffen. Seine, wie man zugeben wird, schwere und beim
Einfluss Nogarets im Rate Philipps nicht ungefährliche Aufgabe ging
dahin, sich der Übermacht Frankreichs zu erwehren und durch eine Politik
der kleinen Mittel, besonders Familienbündnisse, ein Gleichgewicht der
grossen Staaten herzustellen. Fortwährend regt er zu Verhandlungen an,
lässt sie fallen, wenn die Schwierigkeiten zu gross werden, greift aber-
mals darauf zurück, wenn sich eine Möglichkeit eröffnet. Bonifaz stürmte
leidenschaftlich auf sein Ziel los : Klemens schleicht sich zaghaft heran.
England hat unter Eduard IL, dem herzlich unbedeutenden Sohne
eines hochbedeutenden Vaters, nachweislich nicht in die Geschicke Hein-
richs VII. eingegriffen. Wir richten deshalb gleich den Blick auf ünter-
italien, auf die Landschaften, die seit den Tagen der normannischen
Eroberung den allernachhaltigsten Einfluss auf die Gestaltung der all-
gemeinen Politik gehabt haben. Am Anfang des 14. Jahrhunderts dauerte
noch die durch die sizilianische Vesper geschaffene Lage an. Sizilien
und Neapel blieben getrennt und einander feindlich, jedes Land stets
bereit, das andere zu bekämpfen. In Sizilien regierte Friedrich, durch
seine Mutter ein Enkel Manfreds ; in Neapel seit Mai 1309 Robert, ein
Enkel Karls von Anjou, ein Fürst, dessen Geist und Gaben von den
Mitlebenden gepriesen wurden.
Kaiser Heinrich VII. 257
Das waren die leitenden Persönlichkeiten, in dem Augenblicke, da
Heinrich Graf von Lützelburg deutscher König wurde und als solcher
seinen Blick auf das höchste weltliche Amt in der katholischen Christen-
heit richtete.
Am 1. Mai 1308 war König Albrecht von ruchloser Mörderhand
gefallen. Philipp der Schöne ergriff sofort die günstige Gelegenheit, auch
das Kaisertum seinem Willen zu unterwerfen. Seinem Bruder Karl von
Valois, den man Karl ohne Land nannte, weil es ihm bei all seinen
weitschweifenden Plänen und Kriegsthaten in der Ferne nicht gelungen
war, ein Beich zu gewinnen, gedachte er die deutsche Krone zuzuwen-
den. Das konnte aber nicht auch die Absicht Klemens' sein. Frank-
reich besass, wie man zu sagen pflegte, von altersher das Studium, be-
herrschte neuerdings das Sacerdotium. Durfte man ihm noch das Im-
perium überlassen? Dann hätte sich niemand mehr der französischen
Übermacht erwehren können. Klemens unterstüzte daher die Bewerbung
Karls nur lau und das französische Gold allein, das Philipp spendete,
genügte auch nicht, die deutschen Kurfürsten zu gewinnen. Balduin
von Lützelburg, seit kurzem Erzbischof von Trier, stellte seinen Bruder
Heinrich auf und es gelang ihm, den Mainzer Peter von Aspelt durch
grosse Versprechungen zu sich herüberzuziehen. Heinrich erschien vor
allem ganz ungefährlich, nicht, wie König Albrecht, imstande, durch
bedeutende Hausmacht die Fürsten unter seinen Willen zu zwingen.
Seine engen Beziehungen zu Philipp konnten ihn nach Lage der Dinge
nur empfehlen. So wurde er am 27. November 1308 gewählt und am
6. Januar 1309 gekrönt. Seine Erhebung erscheint als Gegenwirkung
gegen eine straffe Herrschergewalt, die etwa bei einem Habsburger zu
fürchten gewesen wäre.
Die Grafschaft Lützelburg gehörte nicht nur in Deutschland, son-
dern auch in den lothringischen Gebieten zu den minder bedeutenden.
Niemals hatten sich die Grafen in allgemeinen Angelegenheiten hervor-
gethan. Der neue König wurde wirklich aus dem Winkel geholt.
Er war damals 32 Jahre alt, 8 Jahre jünger als Philipp IV., blond,
schlank, mittelgross, bedächtig in der Rede und wortkarg, von Herzen
fromm und gottergeben, ein treuer Gatte, wohlgeübt im Waffenhand-
werk, aber friedliebend, von ritterlichen Idealen erfüllt, in welscher
Sitte herangewachsen, neben der französischen Sprache, die in seiner
Kanzlei benuzt wurde, der lateinischen mächtig, ein Mann, der sich in
seiner Heimat durch strenge Kechtspflege einen Namen gemacht hatte.
Im Gericht zeigte sich der Graf unerbittlich gegen Räuber und I^aud-
258 Alexander Cartellieri
Streicher. TJDangefocliten zog der Kaufmann mit seinen Warenballen
durch Lützelburgisches Gebiet; ohne einer Wache zu bedürfen, konnte
er sein Nachtlager auch im Walde oder auf der Haide aufschlagen.
Von Philipp IV. hatte der lützelburgische Graf den Kitterschlag er-
halten, ihn mehrfach begleitet, ihm den Lehenseid geschworen. Konnte
Philipps eigener Bruder die Kaiserkrone nicht erlangen, so musste
Philipp sie dem Vasallen am ehesten gönnen.
Darum hat dieser auch gleich nach seiner Erhebung, früher noch
als dem Papste, dem mächtigen Nachbar vornehme Gesandte geschickt
mit ungemein freundschaftlichen Beteuerungen. Philipp erwiderte sehr
höflich, aber nicht ohnen einen leisen Zug von Ironie. Der Papst wurde
in seinem Verhältnis zu dem neuen deutschen Könige bestimmt durch
die Furcht vor Philipp, den zu reizen er vermeiden musste. Er erkannte
Heinrich, wie Philipp ihm später vorwarf, allzu eilig an. Damals reifte
in der Umgebung des Papstes der Plan, die Kurie von der so überaus
drückenden Abhängigkeit von Frankreich dadurch zu befreien, dass durch
eine Heirat ein gutes Verhältniss zwischen Deutschland und Neapel her-
gestellt würde. Ein Kardinal Gaetani, der treu das Andenken Bonifaz'
hoch hielt, knüpfte damit an die Bichtung an, die die päpstliche Po-
litik in den letzten Jahren des Bonifaz zu Albrecht hin genommen hatte.
Robert sollte das Opfer bringen, seinen Absichten auf Ober- und Mittel-
italien zu entsagen. War er doch bestrebt, daselbst festen Fuss zu
fassen und gewissermassen eine Landverbindung zwischen seiner Graf-
schaft Provence und Neapel herzustellen. Heinrich sollte ihn durch
das Königreich Arelat entschädigen, das schon oft, weil doch dem un-
mittelbaren Bereiche der deutschen Macht entrückt, als Tauschgegenstand
ins Auge gefasst worden war. Robert als Graf der Provence besass
ja schon einen Teil des Landes als Reichslehen.
Es gehörte kein grosser Scharfblick dazu, um in dem Vorschlage
die Spitze gegen Frankreich zu erkennen. Robert musste sich darauf
gefasst machen, dass er durch die Verbindung mit Heinrich seinen
Vetter an der Seine vor den Kopf stiess. Die französische Politik hatte
seit der Erstarkung des Königtums nie versäumt, auf jede Weise ihren
Einfluss in den ihr kulturell nahe stehenden burgundischen Landen aus-
zubreiten. Ein Königreich Arelat unter dem Szepter eines Kapetingers
Hess Gefahren befürchten, wie sie sich später in burgundischer Zeit ver-
wirklicht haben.
Für das beste Mittel, das Zustandekommen eines ihm unerwünschten
deutsch-neapolitanischen Bundes zu hindern, hielt Philipp, auch von
Kaiser Heinrich VII. 259
seiner Seite freundschaftliche Verhandlungen mit dem Lützelburger an-
zuknüpfen. Beiderseitige Bevollmächtigte setzten einen Vertragsentwurf
auf (1310 Juni 26, Paris), dem nur noch die Bestätigung der Herrscher
fehlte. Es handelte sich darin neben der Herstellung eines dauernden
Friedens zwischen beiden Reichen und der Verhinderung aller Übergriffe
für die Zukunft hauptsächlich um die Grafschaft Burgund, die der
letzte Pfalzgraf Otto V. (Ottolein) 1295 im Vertrage zu Vincennes unter
schnöder Missachtung der Rechte des Reiches an Philipp verkauft hatte.
Ottos Tochter Johanna heiratete Philipps gleichnamigen Sohn, den spä-
teren König Philipp V. den Langen, und Philipp IV. übernahm sofort
die Verwaltung als Vertreter seines Sohnes. Wenn Heinrichs Gesandte
jetzt die Belehnung des jungen Philipp zugestanden, so lag darin um
so mehr ein wesentliches Entgegenkommen, als dem Grafen Otto in-
zwischen ein Sohn geboren worden war, dem naturgemäss die Grafschaft
von rechtswegen gehörte.
Beide Herrscher rechneten damals mit Veränderungen in den Grenz-
landen. Denn sie verpflichteten sich, wenn einer von ihnen irgend einen
Statthalter ^- Heinrich nennt auch einen König — an den Grenzen
des anderen Reiches einsetze, so werde er ihn schwören lassen, sich zu
dem anderen freundlich zu stellen oder sich mit ihm zu verbinden.
Hierin mag man noch einen Niederschlag des Arelatischen Planes er-
kennen.
Zur selben Zeit aber, da Philipp freundschaftlich mit Heinrich ver-
handelte, ging er sehr unfreundlich gegen ihn vor. Wie er schon früher
die Wirren in Toul zur Ausbreitung seines Einflusses in den lothringischen
Landen benutzt hatte, so marschierten Ende Juni 1310 seine Truppen
unter dem Befehle seines Sohnes Ludwig gegen den Erzbischof Peter
von Lyon, der es gewagt hatte, die französische Garnison zu vertreiben,
und brachten in einem kurzen Feldzuge die Stadt in ihre Gewalt. Damit
wurde die Vereinigung der Stadt und der Westhälfte des Erzbistums
Lyon mit der Krone Frankreich zur Thatsache.
Heinrich nahm aber auf diese Störungen des Bündnisplanes zunächst
keine Rücksicht. Ihn drängte es, nach Süden zu ziehen und die Kaiser-
krone zu erwerben. Später mochte sich Gelegenheit genug finden, an
dem Franzosen Vergeltung zu üben. Ende Oktober 1310 überschritt er
den Mont-Cenis.
unendlich oft ist über die Verhältnisse geschrieben worden, die er
in der Lombardei vorfand, besonders im Anschluss an die berühmten
260 Alexander Carteliieri
Briefe Dantes.^) Heinrich selbst hat einmal, im Mai 1313, die Zu-
stände Oberitalieus geschildert. Während der kaiserlosen Zeit hätten
alle Gemeinden und Städte die kaiserlichen Rechte an sich gerissen und
seien dann infolge andauernder innerer Kriege einer Gewaltherrschaft
anheim gefallen, die zahlreiche Bürger in die Verbannung getrieben und
sie ihrer Güter beraubt hätte, so dass diese in der Fremde betteln und
sterben mussten. Thatsächlich zerfleischte das blühende Land sich selbst
im nie enden wollenden Bürgerkriege der Ghibellinen und der Guelfen.
Italien war unfähig, sich allein staatliche Ordnung zu geben. Es be-
durfte, genau so wie mehrfach vorher und später, einer eisernen Faust,
die zum allgemeinen Besten den Frieden gewaltsam herstellte. Heinrich
kam in der redlichsten Absicht, wie er selbst sagte: „Non pro parte,
sed pro toto". Er wollte immer gerecht und unbefangen über den Par-
teien stehen, überall den Frieden herstellen und die Verbannten zurück-
führen. Aber es versteht sich, dass die gründliche Durchführung dieses
hohen Grundsatzes nur dann möglich gewesen wäre, wenn Heinrich über
eine gewaltige Streitmacht verfügt hätte, hinreichend, um jeden Wider-
stand zu brechen. Es begleitete ihn aber nur eine verhältnismässig ge-
ringe Truppenzahl, und die Italiener, die sich ihm anschlössen, verfolgten
naturgemäss ihre selbstsüchtigen Ziele. Dass der König vielfach so jubeln-
den Empfang fand, bedeutet nicht viel. Das Volk hatte seit zwei Menschen-
altern keinen Kaiser mehr in seiner Mitte gehabt. Nur hohe Siebziger
konnten den grossen staufischen Kaiser noch von Angesicht zu Angesicht
gesehen haben. Die Erinnerung an die furchtbaren Kämpfe zwischen
Staat und Kirche, die die letzten Jahre Friedrichs II. erfüllt hatten, war
erloschen. Gerade weil die Menge nicht mehr viel von dem Kaisertum
wusste, verband sie überschwängliche Vorstellungen mit dem glänzenden
Namen, und als diese keine Erfüllung finden konnte, fühlte sie sich
später um so bitterer enttäuscht. So erklären sich die anfängliche Be-
geisterung und der bald darauf erfolgende Umschlag der Stimmung un-
gezwungen. Schon im Februar 1311 kam es in Mailand zu einem Auf-
stande, der blutig niedergeschlagen werden musste, und erst nach vier-
monatiger Belagerung konnte Brescia bezwungen werden, während die
günstige Gelegenheit, rasch nach Rom vorzudringen, verpasst war.
Inzwischen hatte die Stellung des Papstes zu Heinrich sich ver-
ändert. Die französisch gesinnten Kardinäle, die mit der Hinneigung
1) Die Gründe, die F. X. Kraus gegen die Echtheit anführt, sind wenig über-
zeugend. Vorläufig schien es aber doch empfehlenswert, von einer Verwertung der
Briefe in diesem Zusammenhange abzusehen. Auch hier dürfte die Zeit der Ver-
unechtungen bald durch die Zeit der Bettungen abgelöst werden.
Kaiser Heinrich VII. 261
Elemens' zu dem Lützelburger gar nicht einverstanden waren, zeigten
Philipps Vertreter Nogaret den Weg, der zum französisch-kurialen Ein-
vernehmen führte. Philipp brauchte nur in Sachen des Bonifazprozesses
nachzugeben. So geschah es. Philipp verzichtete darauf, seine äussersten
Forderungen durchzusetzen, die darin gipfelten, dass des verstorbenen
Papstes Gebeine ausgegraben und verbrannt wurden. Dafür gab Elemens
Befehl, dass alle Vcrdammüngsurteile, die Bonifaz gegen den König von
Frankreich geschleudert hatte, aus den Registern der Kurie ausgetilgt
werden sollten. Nogaret wurde mit einer ganz nichtssagenden Busse
belegt. Die Bullen vom 27. April 1311 besiegeln den Triumph des
nationalen französischen Königtums über das weltbeherrschende Papsttum.
Ein zynischer Verächter des geistlichen Standes, wie es vorher kaum einen
gegeben hat, der Mann von Anagni, ging straflos aus. Aber damit nicht
genug. Wenige Tage später erfolgte die politische Gegenleistung des
Papstes, der sich verpflichtete, Heinrich nie zu erlauben, das Arelat an
jemand anders abzutreten als an die römische Kirche selbst. Er sah
also vorläufig davon ab, das angiovinisch-lützelburgische Bündnis, dessen
Preis ja das Arelat war, weiter zu fördern, entsagte anscheinend den
Bestrebungen der Kardinäle, Frankreich ebenbürtige Gegner zu erwecken
und es dadurch im Schach zu halten. Um so grössere Mühe gab er
sich jetzt, die Verhandlungen zwischen Deutschland und Frankreich zum
glücklichen Ende zu führen. Der Grund liegt zu Tage. Brach ofTene
Feindschaft zwischen ihnen aus, so musste er, schon aus Bücksicht auf
seine persönliche Sicherheit, die Partei Frankreichs ergreifen und sich
als Werkzeug Philipps gebrauchen lassen. Dann aber hatte Heinrich,
wenn er die kaiserliche Gewalt in Italien aufrichtete, allen Anlass, die
päpstliche Macht zu brechen oder womöglich dem französischen Papst
ebenso einen frei gewählten allgemeinen Papst gegenüberzustellen, wie
früher zur Zeit Friedrichs des Botbarts Frankreich sich gegen den deut-
schen Papst aufgelehnt hatte. Auf Klemens* Wunsch besiegelte Philipp
den Pariser Entwurf vom Jahre vorher. Auch Heinrich that es, aus
Ehrfurcht gegen den Papst, aber unter Wahrung der Rechte des Reiches.
Auch strich er in seiner Vollziehungsurkunde die Bestimmung, wonach
er den Prinzen Philipp mit Burgund belehnen sollte. Darob geriet
König Philipp in grosse Entrüstung und machte dem Papste bittere
Vorwürfe, der wieder Heinrich sein Missfallen nicht verhehlte (1311
Dezember 18).
In solch schwieriger Lage bemühte sich Klemens, jenen älteren Plan
der deutsch-neapolitanischen Verbindung doch wieder auf die Tagesord-
262 Alexander Cartellieri
nung 7.11 bringen. Schon wurden Eoberts Freunde in Florenz von leb-
hafter Besorgnis erfüllt. Robert hatte allen Grund, Heinrichs Misstrauen
nicht rege werden zu lassen. Denn unmöglich konnte es ihm verborgen
bleiben, dass König Friedrich von Sizilien mit jenem Anknüpfung suchte.
Welche Gefahr dem Königtum des Anjou drohte, wenn Friedrich zu
den Waffen griff, war klar. Die Tage der sizilianischen Vesper standen
überall noch in frischer Erinnerung. Für Heinrich aber bedeutete, so
lange er nicht Kaiser war und in Rom erst Einlass heischte, Roberts
Freundschaft mehr als die Friedrichs. Darum war er bereit, seine
Kaiserkrönung durch die Ehe seiner Tochter mit Roberts Sohn zu er-
kaufen.
Wieder aber hatte sich die Gruppierung der Mächte verschoben,
Robert seinen Anschluss an seinen sozusagen natürlichen Bundesgenossen
und Verwandten, den französischen König, vollzogen. Er verlangte,
Heinrich solle mit Frankreich gute Freundschaft halten und stellte auch
sonst Bedingungen, die Heinrich keinesfalls annehmen konnte.
Das gute Schwert des Lützelburgers musste entscheiden. Wild
tobte der Kampf in den Gassen der ewigen Stadt zwischen den Deutschen
und den Truppen Roberts, die unter dem Befehle von Roberts Bruder
Johann standen. Die Kaiserkrönung (29. Juni 1312) erreichte Heinrich,
freilich nicht in Sankt-Feter, sondern im Lateran, freilich nicht durch
den Papst, sondern durch dessen Kardinäle. So bescheiden Heinrichs
Grafentum, so bescheiden sein Königtum gewesen, so bescheiden liess
sich auch sein Kaisertum an. Doch genügte ihm die keineswegs glän-
zende Errungenschaft, um seinen späteren Massregeln den Rechtstitel
zu geben, den er bis dahin schmerzlich vermisst hatte, weil dieser in
den Anschauungen vieler Zeitgenossen an den kaiserlichen Namen ge-
bunden war. Die theoretische, geschichtlich begründete Abwendung vom
Kaisergedanken wurde damals erst versucht.
Für den Kaiser Heinrich war die Zeit des Zuwartens, des vor-
sichtigen Hinziehens vorbei. Er ging scharf gegen Robert vor, zunächst
allerdings nur mit Frozessakten, die dem Feinde im eigenen Lande
Sehwierigkeiten bereiten sollen. Das Verlöbnis der Kaisertochter mit
dem sizilischen Thronfolger wurde festlich begangen, die Einmischung
des Papstes in den Streit mit Robert unter Hinweis auf juristische
Gutachten abgewiesen, Robert selbst wegen Hochverrat vorgefordert,
aller Reichslehen entkleidet und schliesslich zum Tode verurteilt. Im
Verein mit Friedrich von Sizilien gedachte Heinrich das Königreich
Neapel zu Lande und zu Wasser anzugreifen. Ein wohlunterrichteter
Kaiser Heinrich VII. 263
Chronist wie Villani zweifelte nicht an dem Erfolge. Robert würde, so
berichtet er, gar nicht versucht haben, Widerstand zu leisten, sondern
nach der Provence zu Schiff entflohen sein.
Mit Klemens zu brechen, lag für Heinrich kein Grund vor. Auch
der Papst, der mit dem Siege des Kaisers rechnen musste, zögerte, die
äussersten Schritte zu thun und wählte die mildeste Form in seinen
Kundgebungen. Denn nicht er und Heinrich sind diesmal die geschwo-
renen Gegner, sondern Heinrich und das Haus Eapet in seinen beiden
Vertretern, nicht Kaisertum und Papsttum, sondern Kaisertum und
französisches Königtum. Es war klar, dass Philipp gegen den immer
gefährlicher werdenden früheren Schützling eiferte. Wie hätte Klemens
solchem Drängen widerstehen können ? Er verbietet jedermann, ohne
Unterschied des Banges, bei Strafe des Bannes, einen Angriff auf Neapel,
vermeidet aber Heinrich mit Namen zu nennen. Der Kaiser lässt sich
nicht beirren : der erhoffte Sieg über Apulien soll ihm der verheissungs-
volle Anfang der heiss ersehnten Wiederherstellung der alten Kaiser-
macht überhaupt sein. Von Pisa holt er zum vernichtenden Schlage
gegen Bobert aus. Friedrich erfüllte treulich seine Bundespflicht, spendet
namentlich das notwendige Geld. Da wird Heinrich, so plötzlich wie
mancher seiner Vorgänger im römisch-deutschen Kaisertum, am 24. Au-
gust 1313 vom Tode hin weggerafft. Das grosse Unternehmen stockt,
das Heer zerstreut sich.
Deutlicher vielleicht als die Trauer der Ghibellinen um den Ver-
storbenen zeigt uns die masslose Freude der Guelfen, was man alles
von Heinrich erwartete oder fürchtete. Weil man an einen natürlichen
Tod des Mannes, der das Abendland in Atem hielt, nicht glauben wollte,
neigte man dazu, in ihm das Opfer einer Vergiftung zu sehen.
Merkwürdig berührt es, wenn nur wenige Monate nach Heinrichs
Tode der Papst, dem jetzt keine Wahl mehr blieb, die Verurteilung
Roberts durch den Kaiser für ungiltig erklärte und sie unter einem
Hinweis auf seine zweifellose Überordnung über das Kaisertum aufhob.
Dürfte man darauf hin von einem Siege des Papstes über das Kaiser-
tum in der Person Heinrichs sprechen? Sicher nicht. Das wäre eine
an der Oberfläche haftende Betrachtung. Der Papst blieb, was er vor
Heinrich gewesen, der Gefangene des Königs von Frankreich, und dieser
wurde durch Heinrichs Tod von einer grossen Gefahr befreit.
Die Laufbahn, die Heinrich zurückgelegt hat, ist vornehmlich im
Verhältnis zu dem hohen Ziele, das er sich gesteckt hatte, so kurz, dass
es besonders schwer fällt, sein Wollen und Können gerecht einzuschätzen.
264 Alexander Cartellieri
Aber der Versuch mnss gemacht werden, schon einmal deswegen, weil
es den Anschein hat, als passe der Massstab, mit dem bisher gemessen
worden ist, nicht recht zu der zu messenden Persönlichkeit.
In Heinrichs Adern rollte karolingisches Blut.*) Auch in seiner
Auffassung des Kaisertums möchte eine Erinnerung an die Karolinger
zu finden sein, die bis auf ihre entarteten Sprossen hinunter den Blick
nicht von dem magischen Glänze des Imperiums wenden konnten. In
der langen Reihe der römischen Kaiser deutscher Nation nimmt Hein-
rich von Lützelburg dadurch eine besondere Stellung ein, dass er den
Kaisergedanken in voller Reinheit, ohne Nebenabsichten verkörperte, dass
er ihn ohne Hausmacht durchzusetzen suchte, nur gestützt auf die über-
zeugende, werbende Krnft dieses Gedankens, eines friedebringenden, ord-
nungschaffenden, den Menschen wohlgefälligen Kaisertums im Sinne
Dantes.
Er war kein Phantast, er jagte nicht Hirngespinnsten nach. Der
Kaisergedanke war damals noch eine sehr reale Macht. Frankreich schien
auf dem besten Wege, die Schwäche Deutschlands für sich auszunutzen,
und ein römisches Reich französischer Nation lag vielleicht nicht ausser-
halb des Bereiches der Möglichkeit. Frankreich war dem Ziele, das
schon den Vorfahren Philipps vorgeschwebt hatte, der Weltherrschaft,
nahe. Es ist die weltgeschichtliche That Heinrichs, dass er Frankreich
auf dem Wege zum Ziele hemmte, nicht sehr lange, aber doch lange
genug. Denn da Philipp der Schöne als der für die ganze Generation
massgebende Mann bald nach ihm starb, Philipps Nachfolger weniger
bedeutend waren oder auch nur minder gut beraten wurden, war für
Frankreich die günstige Gelegenheit vorbei und kehrte so bald nicht
wieder. Wenige Jahre hernach begann der Zwiespalt der beiden West-
mächte, der zu dem sogenannten hundertjährigen Kriege führte. Frank-
reich kam an den Rand des Verderbens, schien einmal aus der Reihe
1) Kaiser Heinrich VII. war durch seine Mutter Beatrix ein Enkel jenes Bal-
duin von Avesnes und Beaumont, der die grosse Hennegauische Chronik zusammen-
stellen Hess und vielleicht auch an dem genealogischen Teil mitarbeitete. Am An-
fang des abgekürzten Textes, den Eervyn de Lettenhove in den Istore et Chroniques
de Flandre 2 (1880), 555 abgedruckt hat, findet sich die Heirat der Tochter Karls
des Kahlen, Judith, mit Balduin I. Eisenarm, Grafen von Flandern. Balduin von
Avesnes war ein Urenkel der Margarete, Gemahlin des Grafen Balduin V. von
Hennegau, und diese wieder eine Urenkelin Roberts des Friesen (f 1093), der in
geradem Mannesstamm auf Balduin Eisenarm und in weiblicher Linie auf Gisela,
Tochter Kaiser Ludwigs des Frommen, zurückgeht. Ausserdem stammte Balduins V.
von Hennegau ürgrossvater durch Richilde von Hennegau von Kaiser Lothar L,
Balduins Y. Urgrossmutter, Ida von Löwen, von Karl dem Einfältigen ab.
Kaiser Heinrich VII. 265
der grossen Mächte ausgelöscht zu werden. Es vergingen Jahrhunderte,
ehe ein König von Frankreich wieder eine Weltstellung einnahm gleich
der Philipps des Schönen.
Es wäre nicht richtig, im Hinblick auf Heinrichs Unternehmen da-
von zu sprechen, die Zeit der Weltmonarchie sei schon durch die Zeit
der nationalen Monarchien abgelöst gewesen, Heinrich habe scheitern
müssen, weil er ünzeitgemässes ins Auge fasste. Der nationale Gesichts-
punkt verdient bei der Würdigung des Kaisertums immer die sorgfäl-
tigste Erwägung, aber hier liegt die Sache anders. Zwar war der eigent-
liche Gegner Heinrichs, des Kaisers, Philipp, der König von Prankreich.
Aber nicht Frankreich erwehrte sich der aus der Theorie Kraft schöp-
fenden Übermacht des Kaisertums, sondern Heinrich stützte sich auf
den Kaisergedanken, um die thatsächliche Übermacht Frankreichs ab-
zulehnen. Auch in Italien fand Heinrich, der Bomane, nicht etwa natio-
nalen Widerstand, sondern die Stimmung für und gegen ihn entsprang
Parteirücksichten. Nicht als Fremder oder Nordländer, sondern als Herr
und Gebieter wurde er bekämpft, und seine heftigsten Feinde in Florenz
riefen Robert von Anjou herbei, uneingedenk des übelen Rufes, in dem
die Franzosen seit der Vesper standen.
Man kann kaum sagen, dass Heinrich VIT. sich ein unerreichbares
Ziel gesteckt hatte, als er nach Italien aufbrach, um das Kaisertum zu
erneuern. Er wurde, wie einst Heinrich VI,, in der Blüte der Jahre,
inmitten verheissungsvoUer Wirksamkeit, voll grosser Entwürfe und festen
SiegesbewusstseiAs, durch den Tod hinweggerafft. Hier wie so oft bei
dem Werturteil über die deutschen Kaiser muss man vermeiden, nur in
den Menschen liegende Gründe für das Misslingen des Gewollten zu
suchen. Daneben hat eine andere Auffassung einzugreifen, die dem Spiel
des Zufalls, dem Walten des Schicksals den gebührenden Platz einräumt,
eine Art Katastrophentheorie. Unvorhergesehene, unerforschliche, nicht
auf Thun und Lassen der Menschen zurückzuführende Ereignisse haben
die deutschen Kaiser, auch einen Heinrich VIL, gehindert, das römische
Kaisertum, dessen Recht und Anspruch sie unbefangen für sich ver-
langten, so zu erneuern, wie sie es beabsichtigten. In erster Linie sind
unter diesem Gesichtspunkte zu nennen der vorzeitige Tod der Herrscher,
das rasche Aussterben ganzer Geschlechter, wodurch zu den überaus ver-
derblichen Minderjährigkeitsregierungen und Thronstreitigkeiten Anlass
gegeben und wilder Parteihader entfesselt wurde. Man vergleiche damit
die regelmässige Erbfolge im Hause der Kapetinger. Durch elf Gene-
rationen, wenn man vom Sohne Hugo Kapets an rechnet, ging die Krone vom
266 Alexander Cartellieri: Kaiser Heinrich VIT.
Vater auf den Sohn über, während in Deutschland das sächsische, frän-
kische, schwäbische Haus — überdies hatte Lothar keinen Sohn — aus-
starb. In der Genealogie liegt ein Schlüssel zur deutschen Geschichte.
Heinrich konnte gar nicht anders, denn nach Süden ziehen. Nur der
Süden vermochte ihm die reichen Geldmittel zu bieten, deren er be-
durfte, um Truppen zu werben und den Partikularismus seiner unbot-
mässigen Fürsten zu brechen. Heinrich musste die Kaiserkrone ge-
winnen, weil sonst Philipp keinen Augenblick gezögert hätte, sich selbst
oder einen der Seinen damit zu schmücken. Was war aber für die
deutsche Königsmacht gefährlicher als ein französisches Kaisertum ? Dass
Heinrich vor allem deutsche Politik trieb, war schon durch die Selbst-
sucht seiner kurfürstlichen Wähler gänzlich ausgeschlossen. Dass aber
jede Stärkung des Kaisertums der Zentralisation Deutschlands zugute
kam, ist sicher. Der Weg zur deutschen Einheit führte über Born.
Das änderte sich erst dann, als die politische Macht der Kurie durch
die Keformation wesentliche Einbusse erlitten hatte, als eine Macht sich
innerhalb Deutschlands bilden konnte, die auf den Papst keine Rück-
sicht zu nehmen brauchte.
Heinrichs Politik weist keine eigenartigen Züge auf. Er folgt den
Fussstapfen der grossen Staufer. Seine Persönlichkeit ist es vor allem,
die seine kurze Regierung anziehend macht. Man darf sagen, dass er
während der kurzen Spanne Zeit, die ihm gegönnt war, das Notwendige
nach bestem Wissen gethan und die Rechte des Kaisertums trotz aller
Ungunst der Zeiten gewahrt hat, so gut er konnte. Nicht an ihm lag
es, dass er keine dauernden positiven Erfolge für das Kaisertum und
damit für Deutschland erzielte. Ein jäher Schicksalsschlag, sein vor-
zeitiger Tod, vereitelte alles. Aber er lebt doch nicht nur als ein Mann
reinen Sinnes und grosser Zwecke in der Geschichte fort. Dadurch dass
er sich dem Übergewichte Frankreichs zur rechten Stunde entgegen-
gestemmt hat, ist ihm in der Verflechtung der europäischen Angelegen-
heiten seine Stelle angewiesen.^)
1) Für diejenigen, die Rankes Weltgeschichte (9, 1, 28) nachschlagen, erlaabe
ich mir die Bemerkung, dass ich die Stelle (^Oder dürfte man sagen** — .vereitelt
worden**) nach Abschluss meines Versuches selbst mit einiger Überraschung nach-
las. Bei der Arbeit hatte ich mich bewusst nicht daran erinnert. Übrigens weiss
jeder Verehrer Rankes, wie schwer es ist, zu einer allgemeinen Ansicht zu kommen,
die er nicht schon irgend wo wenigstens angedeutet hat.
P. Heid. 1000.