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Full text of "Neue Heidelberger Jahrbücher"

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HEDE 
BEIDELBEßHEB  JAHHBtlGHER 


HERAUSGEGEBEN 


VOM 


HISTORISCH-PHILOSOPHISCHEN  VEREINE 


zu 


HEIDELBERG 


JAHRGANG  XI 


■  •  • 


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HBIDEL.BBRQ 

VKRLAG    VON   G.  KOESTER 

1902 


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•  • 


Inhalt  der  erschienenen  Bände. 


'•  Seite 

Programm S 

Chrom'k  des  Vereins 5 

M.  Cantor,  A.  Dürer  als  Schrifisteller 17 

R.  Schröder,  t)ie  Landeshoheit  über  die  Trave 32 

K«  Hartfeldi^r,  Das  Katharinenfest  der  Heidelberger  Artistenfakultät  52 

A.  Uaasratb,  Arnold  von  Brescia 72 

F.  ▼•  Bahn,  Heinrich  Schliemann 145 

0*  KarloHtty  Die  Rangklassen  des  Ordo  salatarionis  sporuilarumque  provinciae 

Numidiae,  insbesondere  die  coronati 1G5 

A.  T«  DomaszewskI,  Beiträge  zur  Geschichte  der  Perserkriege  .181 

—  *    Die  Kntwickiung  der  Provinz  Moesia  .      .      .190 

J.  V*  Pflugk-Hartinng,  Keltische  Bauwerke         .201 

A«  T*  Ootsehmid  f ,  Die  Heidelberger  Handschrift  der  Paradoxographen  (Pal. 

Gr.  398) 227 

A»  €•  Clark,  Die  Handschriften  des  Graevius 238 

A*  T.  Oechelliftnsery  Philipp  Hainhofers  Bericht  Über  die  ätuttgnrter  Kindtaufe 

im  Jahre  1616 254 

CT.  Hejer,  Die  Verhandlungen  des  preussischen  Abgeordnetenhiuses  über  den 

Erlass  von  Stempelsteuern  für  Fideikommisse 336 

B.  Erdmannsdörfl'erJ  Zur  Geschichte  der  Heidelberger  Bibliotheca  Palatina  349- 
A.  Hansrath,  Festrede  gehalten  bei  der  P^nthüllung  des  Scheffel-Denkmals  zu 

Heidelberg  am  11.  Juli  1891 352 

If. 

K*  Zangelneister,  Zur  Geographie  des  römischen  Galliens  und  Germaniens 

nach  den  Tironischen  Noteu 1 

F«  SehÖHy  Bisse  und  Brüche  in  der  Urhandschrift  Plautinischer  Komödien   .  37 

F.  T.  Bahn,  Die^enutzung  der  Alpenpässe  im  Altertum 55 

K.  *8eharaaeher,  Über  den  Stand  und  die  Aufgaben  der  prähistor.  Forschung 

am  Oberrhein  und  besonders  in  Baden 93 

0*  Karlowa,  Zur  Inschrift  von  Skaptoparene  .                        141 

J.  Haller,   Die  Verhandlungen  von  Mouzon  (1119).    Zur  Vorgeschichte  des 

Wormser  Konkordats 147 

B«  Sebröder,  Arno,  Erzbischof  von  Salzburg  und  das  Urkundenwesen  seiner 

Zeit 165 

Hy  Bassermann,  Johann  Amos  Comenius.  Pestrede,  gehalten  bei  der  Comenius- 

Feier  in  Heidelberg 172 

M«  Cantor,  Zeit  und  Zeitrechnung 190 

L»  Lemme,  Shaksperes  König  Lear 212 

J«  y.  Pflugk-Harttnng,  Die  Druiden  Irlands 265 

H.  Buhl,  Hugo  Donellus  in  Heidelberg  (1573—1579)  . 280 

111. 

K.  Zangemeister,  Zur  Geschichte  der  NeckarlSnder  in  römischer  Zeit    .      .  1 
Frledr«  v«  Weech,  Ein  Projekt  zur  Reform  der  Rcichsjustiz  ans  dem  16.  Jahr- 
hundert       17 

J.  T.  Pflugk-Harttnng,  Die  Schriften  S.  Patricks 71 

Fr«  T.  Bnhn,.,Eine  Bronze  der  früheren  Sammlung  Ancona 88 

Ed.  Heyck,  Über  die  Entstehung  des  germanischen  Verfassungslebens  .106 

0.  Jellinek,  Adam  in  der  Staatslehre 135 

A.v.  Oechelhänser,  Zur  Entstehung  der  Mancsse-Handschrift      .  .152 

A.  Y«  Böniaszewski,  Das  deutsche  Wort  Braut  in  lateinischen  Inschriften      .  19:! 

R.  Heinze,  Magister  Conrad  Scliades  Streithändel  mit  der  Stadt  Heidelberg  .  199 

Ferd,  Gerhard,  Vom  Hussenkriege 224 

£d..]|eyek$  Zur  Entstehungsgeschichte  des  germanischen  Verfassungslebens  .  231 

Herrn«  Wunderlich,  Zur 'Sprache  des  neuesten  deutschen  Schauspiels      .      .  251 

Max  Freiherr  von  Waldberg,  Das  Jaufner  Liederbuch 200 


INHALT. 

Seite 

Biehard  Oraf  Da  Moalin  Eekart,  Zum  Gedächtnis  Bernhard  Erdmanns- 

dörffers 1 

Alfred  Bassenuann,  Veltro,  Gross-Ghan  und  Eaisersage 28 

Th.  Leber,  Willy  EQhne 76 

Karl  Yossler,  Dante  und  die  Renaissance 85 

J.  Wille,  Pfalzgräfin  Elisabeth,  Äbtissin  von  Herford 108 

J.  Wille,  Karl  Zangemeister  (geb.  28.  November  1837,  gest.  8.  Juni  1902       .  143 

F.  Ed.  9elineegaiiis  Maistre  Fran^ois  Yillon 153 

Alexander  Cartellieri,  Beiträge  zur  Geschichte  Albrechts  von  Hohenberg  aus 

dem  Vatikanischen  Archiv                              173 

Alexander  Cartellieri,  Reiseeindrücke  vom  Grossen  St.  Bernhard  aus  dem 

Jahre  1188 177 

Belnhold  Steig,  Zeugnisse  zur  Pflege  der  deutschen  Litteratnr  in  den  Hei- 
delberger Jahrbüchern 180 


Zum  Gedächtnis  Bernhard  Erdmannsdörifers. 


Von 

RichRrd  Graf  Dn  Monlln  Eekart. 


Die  schönste  Stätte,  die  man  im  deutschen  Lande  den  Toten  geweiht, 
ist  der  Heidelberger  Friedhof.  Sonnig  und  ernst,  mild  und  erhebend 
sind  die  Abhänge  des  friedevollen  Hügels,  von  dessen  Höhe  das  Auge 
hinausschweifb  in  das  duftumwobene  weite  Thal  des  Rheines,  dessen  silbernes 
Band  sich  in  den  Fernen  sanft  verliert.  Dort  hat  die  Buperto-Carola 
schon  eine  Reihe  ihrer  besten  Söhne  geborgen:  die  langen,  schattigen 
Gänge  des  wipfelum rauschten  Hains  sind  eine  Ehrenhalle  der  lieben, 
alten  Hochschule  geworden.  Und  dort  haben  wir  am  3.  März  dieses 
Jahres  auch  Bernhard  Erdmannsdörffer  am  lichten  Abhang  des  , Bühels^ 
zur  letzten  Rast  gebettet,  einen  «pMerin  et  voyageur*  im  schönsten  Sinne 
des  Wortes.  Nicht  wandermüde  hat  er  Pilgerhut  und  Wanderstab  bei 
Seite  gelegt,  den  Lebensfrohen  nahm  ein  schöner  sanfter  Tod  mit  sich 
fort,  ein  schönes  Leben  hat  schön  geendet.  Sein  Tod  war  wie  ein  Ge- 
schenk der  ^ayat^Tj  TO'/yf'y  an  die  er  sein  Leben  lang  frohen  Sinnes 
geglaubt. 

Nicht  als  ob  das  Leben  ihm  still  und  friedlich  und  sonder  Sorgen 
dahin  geflossen  wäre.  Auch  er  hat  des  Leids  sein  wohl  gemessenes 
Teil  zu  tragen  gehabt  und  sein  Werdegang  war  innerlich  und  äusserlich 
kein  leichter.  Aber  er  besass  jene  starke  Seele,  jenen  frischen  Willen, 
der  nach  der  Höhe  weist  und  führt. 

Er  wurde  am  24.  Januar  1833  zu  Altenburg  geboren.  Es  ist  ein 
eigenartiger  Zufall,  dass  sein  Geburtstag  mit  dem  Jahrestage  der  Geburt 
des  grossen  Friedrich  zusammenfiel.  Es  hat  ihm  die  Stimmung  des 
Festes  oft  gehoben.  Er  konnte  sich  freuen,  wenn  man  davon  sprach. 
Die  Jugend  im  Yaterhause  war  ihm  still  und  gleichmässig  dahingeflossen. 
Zahlreiche  Geschwister  wuchsen  mit  ihm  empor.  Die  Familie  soll,  wie 
er  wohl  selbstjdes  öfteren   erzählte,  aus  dem  bayrischen  Franken  in 

NRUE  HEIDRLB.  JAHRBUECHER  XI.  1 


2  Richard  Graf  Du  Moulin  Eckart 

das  Altenburgische  eiDgewandert  seiu.  Auf  seinen  Beisen  nach  Nürnberg 
ging  er  wohl  selbst  in  seiner  freundlichen,  humorvollen  Weise  den  Spuren 
ihrer  Herkunft  nach.  Zeit  seines  Lebens  hat  er  denn  auch  einen  wahren, 
treuen  Familiensinn  bewahrt.  Durch  die  Mutter  war  er  mit  dem  Histo- 
riker Zinkeisen  verwandt. 

Nach  Vollendung  der  Gymnasialstudien  bezog  er  Ostern  1845  die 
Universität  Jena.  Die  Wahl  dieser  Hochschule  mag  ihm  nicht  leicht 
geworden  sein.  War  doch  dort  auf  der  Lobedaburg  sein  älterer  Bruder 
als  Fürstenkellerianer  auf  der  Mensur  gefallen  und  der  Schatten  dieses 
in  jugendlicher  Kraft  so  jäh  geendeten  Lebens  konnte  sich  zwischen  ihn 
und  die  Freuden  des  Studentenlebens  wohl  stellen.  Er  hat  selten,  ja 
fast  nie  von  dem  tragischen  Ereignisse  gesprochen.  Aber  es  zeigte  von 
seiner  Energie,  dass  er,  freilich  nach  langem  Schwanken,  in  die  Burschen- 
schaft Teutonia  eintrat,  der  er  Zeit  seines  Lebens  ein  treuer,  warmblütiger 
Anhänger  geblieben  ist.  Das  Schwanken  hatte  seine  Ursache  in  den  Familien- 
verhältnissen, in  „seiner  Armut",  wie  er  selbst  sagt,  „die  ihn  ernst  daran 
mahnte,  seine  Zeit  ernst  zu  benutzen,  da  er  ohnehin  ein  weites  Feld  zu 
durchlaufen  hatte''.  Aber  die  Poesie  des  Burschenlebens  zog  ihn  unwider- 
stehlich an.  Mit  jungen  Augen  erkannte  er  den  Renaissancezug,  der 
durch  dasselbe  geht  und  allen,  die  es  genossen,  ein  treuer,  lieber  Be- 
gleiter bleibt.  So  schrieb  er  denn  damals  in  sein  Tagebuch  ein:  .Die 
Poesie  des  Studentenlebens  will  ich  in  vollen  Zügen  aus  dem  Born  des 
jugendlich  elastischen,  frischen  Lebens  des  Burschen  schöpfen.**  Aber 
seine  Freude  blieb  auch  jetzt  mehr  innerlich ;  er  hat  den  Hieber  ritter- 
lich geschwungen,  doch  ein  Führer  im  Streit  ist  er  nie  gewesen.  Und 
dennoch  fand  er  an  dem  teutonischen  Treiben  in  Jena  warmes  Gefallen 
und  gerne  hat  er  davon  in  späteren  Jahren  geplaudert.  Sonst  sah  er 
ernst  ins  Leben  und  die  Wissenschaft  zog  ihn  von  Anfang  mächtig  an. 
Sie  beschäftigte  ihn  sichtlich  mehr  als  die  engeren  und  weiteren  Sorgen 
der  Burschenschaft,  der  er  sich  ihrer  »republikanischen  Gesinnung" 
wegen  angeschlossen.  Er  hatte  sich  der  klassischen  Philologie  zugewen- 
det: dabei  war  aber  damals  eine  eingehendere  Beschäftigung  mit  Ge- 
schichte und  Philosophie  notwendig  verbunden.  Das  ward  sein  Schicksal. 
Sofort  vertiefte  er  sich  in  die  griechische  Geschichte  und  fand  den  Lehrer, 
der  ihm  bald  das  gesamte,  vaste  Gebiet  derselben  eröffnen  sollte,  um 
ihn  dann  auf  die  deutschen  und  insbesondere  auf  die  brandenburgischen 
Dinge  hinzulenken.  Fast  gleichmässig  wandte  er  auch  der  Philosophie 
seine  Neigung  zu.  Es  hat  denn  in  der  That  wenig  Historiker  gegeben, 
die  über  eine  so  tiefe  und  gründliche  philosophische  Bildung  verfügten 


Zum  Gedächtnis  Bernhard  ErdmaimsdÖrffers  3 

wie  Bernhard  Erdmannsdörffer.  Da  vor  wenigen  Jahren  jener  Kampf 
gegen  Karl  Lamprecht  und  seine  Methode  losbrach,  hat  er  trotz  seiner 
ablehnenden  Haltung  gegenüber  derselben  dessen  philosophische  Grund- 
lage stets  rähmlich  hervorgehoben. 

Am  Ende  des  dreijährigen  Studiums  konnte  er  mit  einer  Disser- 
tation ,De  prytaniis  atticis^  promovieren.  Die  Arbeit  stand  völlig  unter 
dem  Einflüsse  Gustav  Droysens,  dem  er  im  Laufe  des  Studiums  sich 
immer  enger  angeschlossen  hatte.  Die  Burschentage  aber  gingen  zu 
Ende.  Die  Wirklichkeit  trat  ernst  an  den  jungen  Gelehrten  heran.  Aber 
die  Versuchung,  sich  durch  den  Eintritt  in  die  Lehrerlauf  bahn  den  Unter- 
halt zu  sichern,  überwand  er  rasch.  Er  besass  die  Kraft,  das  Leben 
mit  festem  Schenkelschlusse  souverän  zu  traktieren.  Sein  ganzes  Streben 
ging  nach  höheren  Zielen  und  ihnen  opferte  er  die  sicheren  Aussichten. 
Zunächst  nahm  er  eine  Hauslehrerstelle  an.  Sie  führte  ihn  in  die  Familie 
Moltke.  Das  Gut  derselben  in  Ostpreussen  war  freilich  öde  und  einsam, 
aber  der  Geist  des  Hauses  ein  schöner  und  anregender.  Er  that  ihm 
nach  dem  teutonischen  Treiben  der  Burschenjahre  in  doppeltem  Sinne 
gut  und  die  Frau  des  Hauses  ist  ihm  eine  warme  mütterliche  Freundin 
gewesen.  So  bedeutete  die  Zeit  des  „Hausmeiertums''  für  ihn  keinen 
Stillstand,  sondern  war  reich  an  neuen  Anregungen.  Noch  in  den  letzten 
Tagen  seines  Lebens  hat  ihn  ein  Brief  eines  seiner  Zöglinge  erfreut,  der 
ihm  von  den  tiefen  Eindrücken,  welche  die  „Deutsche  Geschichte''  auf 
ihn  gemacht,  sprach.  Damals  aber  drängte  es  Erdmannsdörffer  nach 
dem  Süden  und  er  löste  seine  Beziehungen,  um  andere  einzugehen  und 
eine  Stelle  in  Venedig  anzunehmen.  Er  hatte  den  Weg  über  Triest 
gewählt.  Im  Stellwagen  legte  er  die  lange  und  Öde  Heise  über  den 
Karst  zurück.  Er  hat  mir  selbst  einmal  den  tiefen  und  bleibenden  Ein- 
druck geschildert,  den  das  Meer  auf  ihn  geübt,  da  er  plötzlich  auf  der 
Höhe  die  von  der  Morgensonne  bestrahlte  Adria  weitgedehnt  vor  sich 
in  der  Tiefe  liegen  sah.  In  tiefster  Weise  regte  ihn  dann  der  sonst  wenig 
erfreuliche  und  erspriessliche  Aufenthalt  in  Venedig  an.  Der  Zauber  der 
Lagunenstadt,  der  ihm  wie  einst  Platen  entgegenwinkte,  musste  ihm 
manche  öde  Stunde  des  leidigen  Hauslehreramtes  in  einer  deutschen 
Kaufmannsfamilie  ersetzen.  Indessen  fand  er  doch  Zeit,  in  den  trau- 
lichen Bäumen  der  Bibliothek  von  San  Marco  zu  arbeiten  und  den  mittel- 
alterlichen Beziehungen  der  Bepublik  mit  Deutschland  forschend  nach- 
zugehen. So  entstand  gleichsam  als  Gelegenheitsschrifb  eine  Abhandlung 
,De  commercio  quod  inter  Venetos  et  Germaniae  civitates  aero  medio 
intercessit".    Er  hat  selbst  die  Entstehungsweise  charakterisiert:    ,Da 

1* 


4  Richard  Graf  Du  Moulia  Eckart 

es  mir  jüngst  yergönnt  war,  einige  Monate  in  Venedig  zu  weilen,  schien 
mir  nichts  lieber,  als  die  zahlreichen  und  in  höchstem  Grade  wert- 
vollen Gescbichts-  und  Litteraturdenkmäler,  die  in  der  Bibliothek  von 
San  Marco  und  in  dem  alten  venezianischen  Archiv  verwahrt  werden, 
wenigstens  teilweise  kennen  lernen  zu  dürfen.  . . .  Und  da  es  nun  zu 
geschehen  pflegt,  dass  Beisende  all  das,  was  sie  in  der  Fremde  geschaut 
oder  vernommen  oder  gefunden  und  das  auf  das  Vaterland  Bezügliche 
nach  Hause  bringen,  so  habe  denn  auch  ich  mein  Augenmerk  vorzüg- 
lich darauf  gerichtet,  die  Spuren  der«  vaterländischen  Geschichte  in 
jenen  zahlreichen  Denkmälern  zu  verfolgen."  Es  war  ein  Griff  ins 
Volle  und  er  hat  späteren  Forschern  mit  seinen  Besultaten  den  Weg 
gewiesen.  Die  kleine  Arbeit  machte  Aufsehen  und  wurde  als  ein  neuer 
und  gelungener  Versuch  begrüsst,  in  diese  Zeit  und  in  diese  Verhältnisse 
lichtvolle  Ordnung  zu  bringen.  Wenn  ich  nicht  irre,  war  es  einer  der 
Herausgeber  des  „Drkundenbuchs  zur  Staats-  und  Handelsgeschichte 
Venedigs  in  seinen  Beziehungen  zu  Byzanz  und  der  Levante^,  Thomas, 
der  im  Hinweis  auf  Erdmannsdörffers  Schrift  ein  gleiches  Werk  für  die 
Beziehungen  Venedigs  und  Deutschlands  anregte.  .  Der  Verfasser  dieser 
Schrift^,  meinte  er,  «würde  zu  jenen  Männern  zählen,  welche  hiefür  Ge- 
schick und  Sinn  mitbrächten^  ^). 

In  der  That  haben  während  seines  Aufenthalts  in  Venedig  Verhand- 
lungen geschwebt,  ihn  für  ein  ähnliches  Unternehmen  zu  gewinnen.  Aber 
er  lehnte  ab,  da  er  es  mit  seinen  patriotischen  Grundsätzen  nicht  ver- 
einbaren konnte').  Auch  in  der  Gelzerschen  Zeitschrift  hat  er  von  Ve- 
nedig aus  einen  Aufsatz  veröffentlicht.  So  war  es  ihm  nicht  beschieden, 
auf  diesem  Arbeitsgebiete  weiter  zu  schaffen.  Indessen  hat  er  es  nie 
völlig  aus  dem  Auge  verloren.  Noch  im  Jahre  1888  hat  er  über  den 
Fondaco  dei  Tedeschi  in  Heidelberg  einen  Vortrag  gehalten.  Und 
er  hatte  die  Freude,  als  Vorstand  der  badischen  historischen  Kommission 
das  epochemachende  Werk  Schultes  unter  seiner  Ägide  abgeschlossen  zu 
sehen,  das  im  Jahre  1890  sein  Vorgänger  in  diesem  Amte,  Eduard  Winkel- 
mann, angeregt  hatte. 

Inzwischen  war  Erdmannsdörffer  nach  Deutschland  heimgekehrt  und 
hatte  sich  mit  dieser  Arbeit  noch  im  Jahre  1858  in  Jena  habilitiert. 
So  sehen  wir  ihn  zum  zweiten  Male  an  der  kleinen  thüringischen  Uni- 
versität, der  er  jedoch  bereits  im  Herbste  1859  für  immer  Lebewohl 
sagte,    um  Hilfsarbeiter   der   Münchener   historischen  Kommission   zu 

1)  S.  Sybel,  Ilist.  Zeitschrift,  3.  Hd.  191  f. 

2)  Ich  verdanke  diese  Mitteihmg  ITerrn  Archivrat  Dr.  Karl  Obser  in  Karlsruhe. 


Zum  Gedächtnis  Bernhard  Erdmauiisdöi-ffers  5 

werden.  Seine  Aufgabe,  die  Edition  der  Beichstagsakten  vorzubereiten, 
führte  ihn  nach  seinem  Italien.  Er  hat  dieser  arbeitsreichen  Zeit  stets 
mit  dankbarer  Freude  gedacht.  Und  als  er  vor  wenig  Jahren  Mitglied 
der  historischen  Kommission  geworden,  da  sagte  er  wohl,  dass  er  nun 
in  seinen  alten  Tagen  dahin  zurückgekehrt  sei,  wo  er  als  junger  Historiker 
seine  Laufbahn  begonnen.  Zunächst  wandte  er  sich  ins  Toskanische  und 
hat  längere  Zeit  am  florentinischen  Archiv  gearbeitet.  Er  hat  sich  mit 
seiner  ganzen  Warmblütigkeit  in  die  italienischen  Verhältnisse  eingelebt : 
er  war  bald  mit  Land  und  Volk  verwachsen.  Vergangenheit  und  Gegen- 
wart wirkten  in  gleicher  Weise  auf  ihn  ein  und  so  ist  ihm  der  Geist 
der  Benaissance  in  einer  Weise  aufgegangen  wie  wenigen  Deutschen. 
In  ihm  schlummerte  ein  tiefes,  künstlerisches  Empfinden.  Das  ist  dort 
in  schönster  Weise  geweckt  worden.  Es  war  kein  doktrinäres  Geniessen, 
dem  er  sich  hingab.  Unmittelbar  wie  sein  ganzes  Empfinden,  wirkten 
Natur  und  Kunst  in  gleicher  Weise  auf  ihn  ein.  Dann  sah  er  Bom. 
Er  gewann  das  päpstliche  Bom  mit  all  seinen  Schäden  wahrhaft  lieb 
und  er  hat  späterhin  wohl  manchmal  die  Wandlung  beklagt,  welche  die 
,Boma  sempre  viva''  seit  1870  erlitten.  Die  Stadt  war  ihm  zu  modern 
geworden,  er  vermisste  den  «aerugo  nobilis*  der  früheren  Tage.  Nicht 
als  ob  er  dem  Einigungsdrange  des  italienischen  Volkes  nicht  mit 
wärmster  Sympathie  gefolgt  wäre.  Wie  konnte  er  warm  werden,  wenn 
er  von  Cavour  erzählte,  von  dem  Jubel,  mit  dem  das  Volk  dem  Manne 
seines  Vertrauens  zujauchzte,  von  dem  Eindrucke,  den  er  auf  ihn  selbst 
gemacht.  In  Bom  und  Turin  hatte  er  Gelegenheit  genug,  das  Werden 
und  Drängen  des  neuen  Italien  zu  beobachten.  Er  hatte  Gelegenheit, 
mit  einer  Beihe  der  bedeutendsten  Persönlichkeiten  Italiens  bekannt  zu 
werden.  Und  doch  lebte  er  bei  all  dem  weit  mehr  der  Vergangenheit 
als  der  Gegenwart.  Eine  andere  Welt  war  ihm  aufgegangen,  der  Geist 
der  Benaissance  erfüllte  ihn  mit  seiner  ganzen  Kraft.  Aber  die  Beception 
von  That  und  Werk,  von  Geist  und  Form  war  doch  keine  einseitige, 
war  frei  von  jedem  doktrinären  Zuge.  Im  Gegenteil.  Sie  schlug  all  die 
Saiten  an,  die  in  Erdmannsdörffers  Geist  und  Seele  längst  vorhanden 
gewesen  und  hat  sie  lediglich  harmonisch  gestimmt.  So  ward  der  Klang 
zum  vollen  Akkord,  der  Leben  und  Schaffen  durchdrang.  Indem  ihm 
nun  gerade  durch  diese  Wechselwirkung  die  Geschichte  in  ihrer  vollen 
Bedeutung  erschien  und  das  grosse  Geheimnis  von  der  Macht  der  Per- 
sönlichkeit aufging,  gewannen  all  die  Gestalten  der  Periode  Leben. 
Man  muss  es  beklagen,  dass  er  denselben  nicht  nachgegangen,  dass 
der  wissenschaftliche  Niederschlag  ein  äusserlich  geringer  gewesen  ist. 


6  Richard  Graf  Du  Moulin  Eckart 

Freilich  wer  sein  kleines  Eolleg  über  die  Renaissance  gehört,  der  hat 
aus  demselben  den  tiefsten  Eindruck  mit  ins  Leben  genommen.  Und 
auch  der  Vortrag,  den  er  im  Jahre  1896  vor  den  allerhöchsten  badischen 
Herrschaften  im  Karlsruher  Schlosse  gehalten,  hat  deutlich  bewiesen, 
wie  tief  er  in  den  Oeist  der  Epoche  eingedrungen.  Aber  darin  liegt 
nicht  die  Bedeutung  dieser  einzigartigen  Lehrzeit:  alles  was  Erdmanns- 
dörffer  geschaffen,  trägt  den  Stempel  dieser  engen  geistigen  Verbindung. 
Die  abgeklärte  Kraft  seiner  historischen  Kunst  ist  daraus  unmittelbar 
hervorgegangen.  Als  er  von  seiner  wissenschaftlichen  Wallfahrt  heim- 
kehrte, war  er  fertig,  hatte  er  die  Lehrjahre  abgeschlossen.  Vielleicht, 
wenn  er  in  der  Stille  der  Thüringer  Universität  Zeit  und  Stimmung  ge- 
funden hätte,  würde  er  sich  dieser  Periode  mit  seiner  ganzen  Kraft  ge- 
widmet haben. 

Zunächst  hatte  er  auch  von  dieser  italienischen  Reise,  neben  der 
reichen  Ausbeute  für  die  historische  Kommission,  eine  eigene  Arbeit 
mitgebracht,  die  wie  die  kleine  Abhandlung  aus  Venedig  das  Zeichen 
des  „Oenius  loci'  an  der  Stirne  trug  und  doch  die  Beziehung  zur  vater- 
ländischen Geschichte  festhielt.  Die  Grundlage  zu  derselben  hatte  ihm 
ein  Fund  im  Turiner  Staatsarchive  gegeben.  So  erschien  denn  im  Jahre 
1862  dieser  „Beitrag  zur  Vorgeschichte  des  dreissigjährigen  Krieges"  — 
eine  Episode,  welche  die  Stellung  des  Herzogs  Karl  Emanuel  L  von 
Savoyen  zur  deutschen  Kaiser  wähl  von  1619  behandelte.  Das  Buch 
zeigt  bereits  die  Vorzüge  seiner  Schreibart  in  schönem  Lichte.  In  kurzen, 
prägnanten  Strichen  wird  der  Hintergrund  gezeichnet,  die  allgemeine 
Situation  gegeben,  der  Leser  in  medias  res  geführt.  Dann  aber  holt  er 
weiter  aus.  Stets  unter  dem  angegebenen  Gesichtspunkte  wird  nun  ein 
Stück  der  Geschichte  Savoyens  vorübergefährt.  Wie  lebendig  ist  das 
Alles.  Wie  klar  sind  die  Situationen  gezeichnet,  aus  denen  fest  und 
deutlich  die  Charaktere  sich  herausheben.  Kein  Zweifel,  er  schrieb  unter 
den  grossen  Zeiteindrücken ;  hatte  er  doch  den  Boden  Italiens  unter  den 
Schritten  der  Weltgeschichte  dröhnen  hören.  Es  war  bezeichnend,  wenn 
er  über  die  Ereignisse  des  Jahres  1615  sagte:  «Aus  dem  gänzlichen 
Verfall,  worin  alle  nationalen  Kräfte  des  übrigen  Italiens  schon  seit  ge- 
raumer Zeit  lagen,  ragte  dieser  kurze  Feldzug  um  Asti  wie  eine  grosse 
patriotische  Heldenthat  hervor;  man  fühlte  für  einen  Augenblick  den 
drückenden  Alp  des  spanischen  Übergewichts  von  sich  abgewälzt,  man 
wies  auf  Karl  Emanuel  als  den  künftigen  Befreier  Italiens,  als  das  leben- 
dige Zeugnis  hin  für  das  noch  immer  geltende  Wort  Petrarca's: 

Che  Tantico  valore 
Neir  italici  cor  non  e  ancor  morto! 


Zum  Gedächtnis  Benihard  Krdmannsdörifers  7 

Es  war  das  erste  Mal,  dass  das  Haus  Savoyen,  wenn  ein  neuerer 
Ausdruck  erlaubt  ist,  in  Italien  moralische  Eroberungen  machte.^ 

Die  historische  Analogie  ist  überhaupt  eine  der  wirksamsten  Charak- 
terisierungsmittel Erdmannsdörffers  gewesen.  Aber  nur  in  diesem  Sinne 
zur  farbenreichen  Charakteristik  hat  er  sie  verwendet,  nicht  etwa,  um 
daran  irgend  welche  Folgerungen  allgemeinerer  Art  zu  knüpfen.  «Die 
Natur  jener  Dinge  sowohl^,  so  sagt  er  selbst  am  Schlüsse  seines  Buches, 
«wie  die  selbständige  Lebendigkeit  der  neben  der  überlieferten  Formel 
frei  sich  bewegenden  geschichtlichen  Entwickelung  widersetzt  sich  dem^. 

Im  unmittelbaren  Zusammenhang  mit  obigem  Werke  nenne  ich  eine 
weitere  Arbeit  Erdmannsdörffers,  obwohl  sie  erst  einige  Jahre  später 
entstanden  ist:  ,Zur  Geschichte  und  Geschichtsschreibung  des  dreissig- 
jährigen  Krieges.^  Die  Veranlassung  boten  ihm  die  Werke  Fr.  von 
Hurters  und  M.  Kochs  über  den  zweiten  und  den  dritten  Ferdinand. 
Es  ist  interessant,  wie  er  Koch  gleich  bei  dem  ersten  Bande  das 
Yisir  abreisst  und  ihm  ohne  Gnade  den  verdienten  Todesstoss  ver- 
setzt. Nicht  minder  wichtig  ist  zu  seiner  eigenen  Beurteilung,  wie 
er  Droysen  und  Häusser  gegen  die  gehässigen  Angriffe  Kochs  in  Schutz 
nimmt,  und  die  Droysen'sche  Methode  klar  und  eingehend  würdigt: 
„Gerade  bei  der  Schilderung  der  genannten  Keichsversammlungen  hat 
Droysen  das  grosse  Verdienst,  zum  ersten  Male  auf  den  Kern  der  Sache 
eindringend,  in  wirklicher  politischer  Verständlichkeit  die  Natur  jener 
Verhandlungen  dargelegt  zu  haben.  Man  kann  bei  dem  von  ihm  ein- 
geschlagenen Verfahren  wohl  leicht  an  eine  Grenze  kommen,  wo  die 
Sicherheit  der  Interpretation  schwankt,  wo  die  Kombination  der  wahr- 
haft wirksamen  Zusammenhänge  sich  der  exakten  Beweisführung  entzieht 
und  eine  allerdings  nur  subjektive  ist;  an  diesem  Punkte  ist  eine  Mei- 
nungsverschiedenheit berechtigt.*'  Um  so  schärfer  aber  fertigt  er  die 
Eampfweise  Kochs  ab,  wie  dessen  «moralisierende^  Methode:  «Die  Dar- 
stellung wird  zum  Plaidoyer,  und  indem  auf  der  einen  Seite  alles  oder 
möglichst  vieles  geheiligt  oder  wenigstens  entschuldigt  wird,  auf  der 
andern  Handlungen  und  Motive  überall  in  das  Licht  tiefster  moralischer 
Verwerflichkeit  gestellt  werden,  so  drückt  man  damit  den  grossen  Gang 
der  Geschichte  herunter  zu  einem  armseligen  Kampfspiel  zwischen  hosen 
Buben  und  zwischen  verkannten  und  misshandelten  Ehrenmännern;  ein 
Spiel,  um  das  es  sich,  wenn  es  nichts  weiter  wäre,  nicht  sonderlich 
lohnen  würde,  sich  viel  zu  kümmern."  Doch  dabei  bleibt  er  nicht 
stehen.  Vielmehr  giebt  er  in  einer  glänzenden  Einleitung  ein  vortreff- 
liches Resume    über  die   bisherige  historiographische   Behandlung  der 


8  Hichard  Graf  Du  Moiüin  Eckart 

grossen  Eriegszeit  und  weist  zu  gleicher  Zeit  den  Weg,  wie  man  zu 
^einer  gemeinsamen  und  wissenschaftlich  zu  begründenden  Basis  für 
die  Beurteilung  der  Ereignisse  und  Personen  gelangen  könnte^.  Denn, 
meinte  er,  ,es  liesse  sich  wohl  eine  Geschichte  des  dreissigjährigen 
Krieges  denken,  die  weit  entfernt  von  der  kühlen  Gleichgiltigkeit,  die 
man  einer  solchen  Betrachtungsweise  etwa  vorwerfen  möchte,  vielmehr 
voll  des  teilnehmendsten  Interesses  für  die  Erscheinung  als  geschicht- 
liches ganzes,  ebenso  weit  entfernt  wäre  von  dem  feindseligen  Dualismus, 
welcher  jetzt  die  Anschauungen  trennt.^  »Sie  würde,  das  grosse  Ganze 
der  Erscheinung  fest  im  Auge  behaltend,  von  selbst  auf  die  Analogie 
verwandter  Beihen  von  Ereignissen  gelenkt  werden,  und  aus  ihrer  Rich- 
tung des  Urteils  über  Zustände  und  Personen,  über  notwendige  Zu- 
sammenhänge und  persönliche  Verantwortlichkeit  ergeben,  welche  uns 
weit  hinwegführen  würde  von  der  falschen  Feindseligkeit,  womit  wir 
die  eine  Partei  darstellen,  ebenso  wie  von  der  vorzugsweise  in  jener  be- 
gründeten sympathisierenden  Parteinahme  für  die  andere/  „Denn  eben 
in  der  Verneinung  jener  falschen  Identifizierung  würde  sie  beruhen ;  aber 
vielleicht  wäre  auf  diesem  oder  einem  ähnlichen  Wege  dahin  zu  ge- 
langen, dass  über  diese  so  wichtige  Periode  die  historische  Wahrheit 
nicht  mehr,  wie  bisher,  eine  andere  diesseits  und  eine  andere  jenseits 
des  Erzgebirges  und  des  Mains  wäre.*  Bedeutungsvolle  Worte,  wie  denn 
das  kleine  Expose  bleibenden  Wert  hat  und  auch  noch  für  künftige  Gene- 
rationen gewissermassen  als  Wegweiser  dienen  kann.  Aber  für  Erdmanns- 
dörffer  bedeutet  es  eine  innere  Wandlung.  Indem  er  den  Speer  schützend 
über  den  angegrifTenen  Lehrer  hält,  ist  er  bereits  über  ihn  hinausge- 
schritten, hat  er  sich  den  Standpunkt  der  ruhigen  Betrachtung  bereits 
gewonnen.  Unmerklich,  pfadsuchend  hatte  er  sich  Ranke  mehr  und  mehr 
genähert,  den  er  vor  allen  anderen  Historikern  zuerst  erkannt  hat  in 
seiner  innersten  und  tiefsten  Bedeutung.  Doch  davon  später.  Die  Grund- 
sätze, die  er  für  Behandlung  des  dreissigjährigen  Krieges  aufgestellt, 
er  hatte  sie  sich  für  seine  gesamte  Geschichtsauffassung  und  Geschichts- 
schreibung zu  eigen  gemacht.  War  doch  auch  in  seinem  äusseren  Leben 
eine  starke  Wandlung  vor  sich  gegangen.  Da  er  von  seiner  Südlands- 
fahrt nach  Jena  heimgekehrt,  fand  er  seinen  Lehrer  Droysen  dort  nicht 
mehr  vor.  Schon  im  Jahre  1858  hatte  dieser  einen  Ruf  nach  Berlin 
erhalten  und  dorthin  rief  er  alsbald  den  Schüler,  um  ihm  einen  Teil  der 
Arbeiten  zur  Geschichte  des  grossen  Kurfürsten  zu  übertragen.  So  kam 
Erdmannsdörffer  aufs  Neue  mit  Droysen,  aber  auch  mit  Max  Duncker  in 
Berühning,  dem  er  gleichfalls  Zeit  seines  Lebens  ein  warmes  und  getreues 


Zum  Gedächtnis  Bernhard  Erdmannsdörffcrs  9 

Gedenken  bewahrt  hat.  Doch  versäumte  er  es  nicht,  den  «akademischen 
Zusammenhang"  zu  wahren  und  so  bot  ihm  sein  »Karl  Emanuel'  eine 
willkommene  Habilitationsschrift  für  die  dortige  Universität.  Die  Publi- 
kationsthätigkeit  für  den  politischen  Teil  der  Urkunden  und  Aktenstücke 
zur  Geschichte  des  grossen  Kurfürsten  nahm  ihn  nun  Jahre  lang  in  An- 
spruch. Der  erste  Band  ist  bereits  im  Jahre  1864  erschienen  und  Hess 
deutlich  die  Selbständigkeit  seines  Systems  erkennen.  Art  und  Weise 
der  Gruppierung,  die  Auswahl  des  Wichtigen  aus  der  Unmasse  des 
Materials  zeigen  das  sichere  und  klare  Auge  des  Forschers,  das  stets 
auf  das  Ganze  gerichtet  ist,  aber  auch  die  Bedeutung  des  Details  er- 
fasst.  Die  Einleitungen  zu  den  einzelnen  Abschnitten  beweisen,  wie  sehr 
er  den  Stoff  beherrschte,  wie  sich  bei  der  trockenen  Editionsarbeit  Stein 
auf  Stein  fügte  zu  einem  selbständigen  Bau,  wie  sich  ihm  Ereignisse 
und  Charaktere  in  voller  Klarheit  zeigten.  Er  hat  ein  gutes  Stück 
seiner  Lebenskraft  dem  Werke  geweiht.  Doch  fand  er  glücklicherweise 
auch  noch  Zeit  zu  anderer  Thätigkeit.  Seit  1864  hatte  er  die  Geschichts- 
vorträge an  der  Kriegsakademie  übernommen,  wo  er  einen  dankbaren 
und  anhänglichen  Kreis  von  Zuhörern  fand.  Noch  in  seinen  Heidelberger 
Zeiten  hatten  ihn  seine  alten  Schüler  von  der  Kriegsakademie  aufge- 
sucht und  bei  ihm  gehört. 

Zu  gleicher  Zeit  scheint  er  eifrig  journalistisch  thätig  gewesen  zu 
sein  und  in  den  Feuilletons  der  Berliner  Zeitungen  ist  so  mancher  kleine 
Aufsatz  vor  Allem  litterärgeschichtlicher  Natur  verborgen.  Viel  An- 
regung gewährte  ihm  der  Verkehr  mit  jüngeren  Kollegen,  mit  denen  er 
sich  in  dem  .Selbstmörderklub"  zusammengefunden  hatte.  Er  hat  in 
den  letzten  Zeilen,  die  er  geschrieben,  in  dem  Nachruf  auf  Alfred  Boretius 
in  seiner  reizvollen,  liebenswürdigen  Art  von  diesem  Kreise  geplaudert. 
Kam  er  doch  gerne  auf  diese  Jahre  des  Wartens  und  der  Arbeit  zu 
sprechen,  wo  er  mit  den  Genossen  froher  und  trüber  Stunden  gewisser- 
massen  eine  Gegenfakultät  gegründet  hatte.  Nicht  blos  Julian  Schmidt, 
welcher  der  intellektuelle  Urheber  des  Namens  dieser  akademischen 
«Camorra'  war,  auch  andere  sahen  mit  Interesse  und  selbst  mit  Neid 
auf  diesen  angeregten  und  anregenden  Kreis  junger  Gelehrter.  Vor  Allem 
gab  ja  die  Konfliktszeit  Anlass  genug  zu  heftigen  Diskussionen.  Erd- 
mannsdörffer  hat  stets  mit  innerster  Befriedigung  betont,  dass  er  schon 
damals,  trotz  seiner  Beziehungen  zu  dem  „verfehmten^  Max  Duncker, 
der  Bismarck  geradezu  hasste,  die  hohe  Bedeutung  des  angefeindeten 
Mannes  richtig  erkannt  habe.  Die  tiefe  Verehrung  für  den  Giganten, 
das  Empfinden  und  Erkennen  seiner  Grösse  ist  ein  Grundzug  von  Erd- 


10  Richard  Graf  Du  Moulin  Eckart 

mannsdörffers  Wesen  geworden.  Gerade  in  jenen  Jahren  hat  er  an 
seinem  Waldeck  gearbeitet,  in  welchem  er  im  Gegensatz  zu  Pufendorf 
und  der  ganzen  preussischen  Geschichtstradition  das  Verdienst  des  einstigen 
brandenburgischen  Staatsmanns  klar  und  mutig  dargestellt  hat.  Unwill- 
kürlich drängt  sich  der  Vergleich  auf  zwischen  den  Tagen  des  grossen 
Kurfürsten  und  dem  Sturze  des  gewaltigen  und  so  verdienstvollen  Staats- 
mannes, zwischen  E.  Werk  und  der  Stimmung,  die  ihn  im  Jahre  1892 
als  Führer  und  Sprecher  der  badischen  Wallfahrer  nach  Friedrichsruh 
geführt  hat.  Freilich  hier  die  gewaltige  Erregung  des  echten,  deutschen 
Mannes,  dem  kein  Laster  schlimmer  schien  als  der  Undank,  damals  der 
kühl  und  kühn  besonnene  Historiker,  der,  wie  Gothein  so  schön  sagt, 
von  der  Überzeugung  durchdrungen  war,  dass  man  seine  Sache  und 
seinen  Helden  nie  besser  lobt,  als  wenn  man  auch  den  Gegnern  volle  Ge- 
rechtigkeit widerfahren  lässt. 

Noch  im  Jahre  1864  erschien  in  den  preussischen  Jahrbüchern  eine 
Studie  ^zur  Gründungsgeschichte  der  preussischen  Akademie  der  Wissen- 
schaften^. Eine  Kritik  über  den  Leibnitz-Jablontzky 'sehen  Entwurf  einer 
Instruktion  für  die  Mitglieder  der  zu  gründenden  Societät  hatte  ihm  die 
Veranlassung  dazu  gegeben.  Wenn,  wie  er  selbst  im  Nachruf  für  Bo- 
retius  erzählt,  bei  den  „Selbstmördern"  die  „Knauserigkeit*^  der  Begie- 
rung  mehrfach  besprochen  worden  ist,  so  hat  der  kleine  Aufsatz  ge- 
wissermassen  einen  humorvollen  Hintergrund.  Denn  er  zeigt,  wie  sehr 
nach  dem  Sturze  Danckelmanns  die  missmutigen  Beamten  allen  Neue- 
rungen gegenüberstanden,  wie  gefährlich,  bedenklich  und  überflüssig  in 
ihren  Augen  die  Historie  war.  Und  so  bringt  Erdmannsdörffer  den 
klassischen  Ausspruch  des  Gutachtens :  „Von  der  reformatione  religionis 
ist  so  viel  schon  geschrieben,  dass  nichts  mehr  nötig*^,  in  klaren  und 
höchst  wahrscheinlichen  Zusammenhang  mit  der  bureaukratischen  Ant- 
wort, die  im  Jahre  1709  ein  Mitglied  der  Akademie,  das  sich  über  die 
üble  Lage  der  Wissenschaften  beklagt,  erhalten  hat:  „Le  Roy  ne  vous 
paye  point  pour  faire  des  livres".  Der  Aufsatz  aber  ist  ein  wahres 
Kabinetsstück  historischer  Betrachtung  und  seiner  eigenartigen  Publi- 
kationsweise. So  zeigt  er  ein  einzelnes  Aktenstück  ^in  dem  Zusammen- 
hang einer  ganzen  Partei  und  Zeitrichtung,  in  dem  Zusammenhang  eines 
der  wesentlichsten  Elemente  des  preussischen  Staatslebens* ,  das  „auf 
anderen  Gebieten  fördernd  und  belebend* ,  hier  „in  seinem  retardierenden 
Charakter'  auftritt,  „beschränkend  und  beschränkt*'. 

Droysens  Publikation  ^das  Testament  des  grossen  Kurfürsten''  gab 
ihm  Gelegenheit,  zu  dieser  interessanten  Frage  gleichfalls  das  Wort  zu 


Zum  Gedächtnis  Bernhard  Erdmannsdörffers  11 

ergreifen.  Er  verbindet  damit  ein  interessantes  Expose  über  die  preus- 
sische  Memoirenlitteratur,  die  sich  zu  Anfang  des  siebzehnten  Jahrhun- 
derts aus  der  ,  Atmosphäre*^  des  Berliner  Hofes  entwickelt.  Dieser  war 
ein  Mittelpunkt  geworden,  , nicht  wo  die  grossen  Interessen  der  Zeit 
entschieden  werden,  aber  wo  sie  alle  nachklingen  und  kämpfend  sich 
kreuzen,  und  die  Entscheidungen,  die  hier  im  engern  Kreis  fallen,  sind 
nicht  ohne  Wichtigkeit  für  das  Ganze".  Ihn  interessiert  dieses  Treiben : 
aber  wenn  er  ihm  nachgeht,  so  ist's  um  anderer  Zwecke  willen,  und 
mit  Freuden  konstatiert  er  von  dem  grossen  Kurfürsten  und  seinem 
Testament,  dass  ^dieses  grosse  Andenken  jetzt  wieder  in  lauterer  Klar- 
heit vor  uns  stehf.  Es  sind  die  Ereignisse  des  grossen  Sommers  1866, 
die  in  dem  Schluss werte  nachklingen:  „Ein  anderes  farwahr,  als  was 
jene  Tradition  trübsten  Ursprungs  ihm  andichtete,  ist  das  Vermächtnis, 
welches  der  grosse  Kurfürst  seinem  Hause,  dem  preussischen  Staate, 
und  der  deutschen  Nation  hinterlassen  hat,  und  wir  heutigen  preisen 
uns  glücklich,  dass  wir  jetzt  so  recht  mitten  in  der  Testamentsvoll- 
streckung stehen.* 

Wahrlich  nicht  weniger  freudig,  aber  noch  weit  klarer,  erkannte 
er  die  Zeichen,  die  verkündeten,  dass  sich  die  Zeiten  erfüllten.  Dabei 
schritt  die  Bearbeitung  der  Urkunden  und  Aktenstücke  stetig  vorwärts. 
Bereits  im  folgenden  Jahre  (1867)  konnte  der  zweite  Band  der  poli- 
tischen Verhandlungen  erscheinen,  der  eine  Fülle  neuer  Kenntnisse 
brachte:  hartes  Ringen  des  Kurfürsten  in  den  Cleveschen  Angelegen- 
heiten, politische  Enttäuschungen  in  dem  Verhältnis  zu  Holland,  das 
erst  durch  Karl  Gustav  von  Schweden  zur  Allianz  mit  Brandenburg 
gedrängt  wurde.  Dazu  die  leidigen  Friedensverhandlungen  zu  Münster 
und  Osnabrück.  Mit  aller  Zähigkeit  hielt  Friedrich  Wilhelm  an 
dem  ungeteilten  Besitze  von  Pommern  fest.  Er  war  nahe  daran,  mit 
dem  Kaiser  und  sogar  den  evangelischen  Fürsten  zu  zerfallen.  Dazu 
kam  das  Projekt  Oxenstiernas,  ihn  mit  Christine  zu  vermählen,  und 
durch  die  Hoffnung  auf  ihre  Hand  zur  unbedingten  Abtretung  zu  ge- 
winnen. Alles  vergeblich.  Die  Umstände  waren  stärker,  er  musste  nach- 
geben. Aber  auch  sein  Streben,  durch  eine  bewaffnete  evangelische 
Mittelpartei  den  Frieden  zu  erzwingen,  scheiterte. 

Indessen  war  Erdmannsdörffer  die  Publikation  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  nur  Mittel  zum  Zweck.  Während  kleinere  Talente  an  solchem,  an 
und  für  sich  schon  dankenswertem  Werke  volles  Genügen  finden  und 
ihre  ganze  Kraft  dafür  einsetzen,  hat  er  vor  allem  daraus  produktive 
Anregungen  empfangen.     Eine  ganze  Reihe  von  grösseren,  zweifellos 


12  Richard  Graf  Du  MouUn  Eckart 

bahnbrechenden  Arbeiten  scheint  er  beim  Durcharbeiten  der  staubigen 
Akten  konzipiert  zu  haben.  So  wollte  er  den  Rheinbund  behandeln  und 
den  Schleier,  der  über  dem  Verhältnis  Cromwells  zu  Deutschland  lag, 
lüften.  Zunächst  aber  bewegte  er  sich  im  engeren  Kreise,  um  sich 
ge Wissermassen  mit  der  bisherigen  preussischen  Historiographie  und 
ihren  Maximen  auseinanderzusetzen. 

Im  Sommer  1869  erschien  sein  Buch  „Graf  Georg  Friedrich  von 
Waldeck.  Ein  preussischer  Staatsmann  im  siebzehnten  Jahrhundert*^ 
Man  erwartete  eine  Biographie,  welche  die  Idealgestalt  des  grossen  Kur- 
fürsten in  gesteigertem,  ja  vielleicht  forciertem  Glänze  zeigen  sollte. 
Nichts  von  alledem.  Erdmannsdörifer  vollzog  vielmehr  mit  kühnem  Schritt 
den  Bruch  mit  der  alten  Tradition.  Der  junge  Gelehrte  war  über  seinen 
Lehrer  und  Leiter  mächtig  emporgewachsen.  Er  erwies  sich  gewisser- 
massen  als  einer  der  grössten  Methodiker  der  Geschichtsschreibung.  Es 
war  an  und  für  sich  eine  That,  eine  Gestalt  zum  Leben  zu  erwecken, 
die  man  gewissermassen  in  das  Fundament  des  Denkmals  des  grossen  Kur- 
fürsten eingemauert  hatte :  obschon  seine  Tbätigkeit  auf  die  höchsten  Ziele 
gerichtet  war,  ^obschon  dieser  westfälische  Reichsgraf  einer  der  fähigsten 
und  energischsten  politischen  Köpfe,  welche  die  zweite  Hälfte  des  sieb- 
zehnten Jahrhunderts  in  Deutschland  aufweist^ ;  ,|Obschon  derselbe  über 
hundert  Jahre  vor  dem  Fürstenbunde  Friedrichs  des  Grossen  im  wesent- 
lichen die  gleichen  Ideen  gehegt  und  an  ihrer  Verwirklichung  gearbeitet 
hat*'.  Nicht  genug.  Erdmannsdörifer  konnte  feststellen,  dass  dieser  Graf 
von  Waldeck  vielleicht  der  Erste  gewesen,  welcher  den  allgemeinen  Beruf 
des  preussischen  Staates  erkannt  und  ein  System  politischer  Bestrebungen 
auf  den  Glauben  an  die  Zukunft  desselben  gebaut  hat,  auf  den  Glauben 
an  diesen  Staat,  „von  dessen  Erhaltung  und  Vergrösserung  ich  das  Ziel 
meines  Vaterlandes  abhängig  erkenne".  Dies  zu  zeigen,  war  Erdmanns- 
dörffers  Intention,  die  er  völlig  und  mit  Glück  ausgeführt  hat.  Aber 
er  hat  doch  noch  unendlich  mehr  gethan.  Ich  sage  nicht  zu  viel,  wenn 
ich  behaupte,  dass  dieses  Buch  einen  Markstein  in  der  Entwickelung  der 
deutschen  Historiographie  bedeutet.  Polybius  sagt  einmal:  «Uns,  die 
wir  Geschichte  schreiben,  ziemt  es,  die  vorwaltenden  politischen  Gedanken, 
wodurch  die  EntSchliessungen  bestimmt  werden,  dem  jedesmaligen  Staats- 
oberhaupte zuzuschreiben ;  es  ist  die  Sache  der  Leser,  sich  selbst  hinein- 
zudenken, in  wie  weit  es  wahrscheinlicher  sein  mag,  dass  diese  Gedanken 
und  Erwägungen  das  Eigentum  derer  sind,  die  dem  Fürsten  zur  Seite 
stehen."  Erdmannsdörffer  fand  nun,  dass  man  dieser  Maxime,  die  ge- 
wiss jeder  seiner  Kollegen  perhorrescierte,  in  der  Praxis  nicht  allzufeme 


Zum  Gedächtnis  ßernhard  Erdmannsddrffers  13 

stand.  Nicht  blos  Pufendorf  hatte  .in  der  feierlich  monumentalen  Weise 
seiner  Geschichtsschreibung  und  mit  der  sicheren  stilvollen  Grossartig- 
keit, die  ihm  eigen,  den  grossen  Kurfürsten  als  eigentliches  und  einziges 
Subjekt  des  Staates  in  die  Mitte  gestellt,  alles  auf  ihn  bezogen,  alles 
ihm  beigelegt,  alles  von  ihm  ausgehen  lassen,  so  dass  neben  ihm  alle 
anderen  wirkenden  Kräfte  nur  als  Werkzeuge  des  allein  handelnden  Staats- 
subjekts erschienen/ 

Nicht  blos  bei  Pufendorf  war  diese  seltsame  Maxime  wahrzu- 
nehmen. Auch  die  späteren  Generationen  blieben  gleichsam  daran 
haften  und  übten  im  Geiste  des  Polybius  diesen  «Übertragungsprozess^. 
Dies  war  um  so  auffallender,  als  die  originalen  Quellen  in  ihrer  Be- 
schaffenheit nichts  hatten,  was  zu  jener  Übertragung  in  allen  Fällen 
gezwungen  hätte.  Bis  hieher  durchgedrungen,  konnte  seine  Kritik  vor 
dem  Lehrer  und  Freund  nicht  stehen  bleiben.  So  sprach  er  es  denn 
offen  aus:  .Ich  habe  hiebei  vornehmlich  die  jüngste  Darstellung  dieser 
Dinge  in  Droysens  Geschichte  der  preussischen  Politik  im  Auge,  die  so 
bedeutendes  für  die  Kenntnis  jener  Zeit  geleistet  hat,  der  ich  aber  ge- 
rade in  der  Auffassung  dieses  Grundverhältnisses  nicht  beizupflichten  ver- 
mag/ Kein  Zweifel,  der  Abbau  der  reichen  Schätze  preussischer  Ge- 
schichte war  von  einer  falschen  Seite  aus  geschehen.  Die  ganzen  Lager 
waren  dadurch  gefährdet.  So  wies  denn  Erdmannsdörffer,  indem  er  den 
ersten  Schlag  in  das  Geäder  that,  die  richtige  Stelle,  wo  der  neue,  sichere 
Schacht  gegraben  werden  musste.  Der  Gang  in  die  Tiefen  der  Forschung 
aber  war  ihm  eine  Aufgabe  der  Decentralisierung ;  es  kam  ihm  darauf 
ao,  Jenen  far  die  gesamte  deutsche  Geschichte  so  entscheidenden  Ent- 
stehungs-  oder  wenn  man  will,  Schöpfungsprozess  auseinanderzulegen  in 
seine  einzelnen  Akte  und  in  die  Wirkungssphären  der  einzelnen  daran 
mitarbeitenden  Kräfte.  Der  leidenschaftliche  Verehrer  fiismarcks  sah  die 
Grundlage  der  vollen  Erkenntnis  in  der  Geschichte  des  preussischen  Be- 
amtentums. Ist  diese  Arbeit  gethan,  dann,  meinte  er,  „wird  ein  Blick 
sich  aufthun,  über  ein  mannichfaltiges  und  bewegtes  Leben  hin ;  die  Beib- 
nngen  der  Persönlichkeiten,  der  allgemeinen  Ansichten,  der  auf  sie  ge- 
gründeten Parteien  wider  einander  würden  sich  wahrnehmen  lassen ;  vieles, 
was  sich  uns  jetzt  als  unvermittelte  Inspiration  eines  einzelnen  giebt, 
wird  dann  vielleicht  als  das  sehr  vermittelte  Besultat  mannichfaltigster 
Zusammenwirkungen  erscheinen,  —  aber  das  Gesamtbild  der  Vorgänger 
wird  ein  innerlich  möglicheres  sein,  als  es  irgend  eine  Erklärung  auf  dem 
W^e  einer  alles  durchdringenden,  alles  überschauenden,  alles  gleichsam 
mechanisch  am  Faden  lenkenden  absoluten  Staatsgenialität  zu  geben  ver- 
mag^.   Aber  gerade  durch  die  Darlegung  des  wahren  Verhältnisses  der 


14  Richard  Graf  Du  Moulin  Eckart 

treibenden  Kräfte,  würde  „auch  dem  Bilde  des  Kurfürsten  Friedrich 
Wilhelm,  der  in  Mitten  ihrer  aller  steht,  sein  rechtes  Licht  zu  Teil 
werden*. 

Kein  Zweifel:  es  war  eine  That  von  hoher  Bedeutung,  die  Erd- 
mannsdörSer  hier  vollbracht.  Es  ist,  als  ob  er  den  Geist  des  Konsti- 
tutionalismus von  jedem  Parteigewande  entkleidet,  in  seiner  ganzen  Rein- 
heit in  die  Geschichtswissenschaft  als  neues,  leitendes  Moment  eingeführt 
hätte.  Was  die  Völker  begehrt,  in  heissem  Kampfe  sich  errungen,  es 
war  längst  vorhanden  in  jener  grossen  Arbeitsteilung  der  Männer,  die  doch 
nur  die  ,salus  publica*  als  .ultima  ratio'  im  Auge  hatten.  Mit  diesem 
Schritte  war  er  in  die  Reihen  der  führenden  Geister  der  deutschen  Ge- 
schichtsschreibung getreten.  Seine  Arbeit  an  den  Urkunden  und  Akten- 
stücken hatte  somit  neben  der  reichen  Ausbeute  aus  den  Archiven,  der 
Wissenschaft  als  solcher  einen  hohen  Fortschritt  gebracht.  Durch  Werk 
und  That  hat  er  nicht  blos  befreiend  gewirkt,  die  Fesseln  der  Tradition 
abgestreift,  sondern  auch  die  Unklarheit,  die  nebelhafte  Verschwommen- 
heit, die  damals  noch  auf  einzelnen  Gebieten  der  deutschen  historischen 
Forschung  lag,  wenigstens  teilweise  verscheucht.  Er  selbst  fand  sich 
auf  dem  richtigen  Wege,  und  zwar  auf  dem  Wege  zu  Ranke  und  wir 
dürfen  sagen,  mit  Ranke,  —  den  gerade  die  zünftigen  Schüler  des 
Meisters  nicht  zu  finden  vermochten. 

Aber  noch  andere  Momente  seines  Sinnens  und  Schauens  sollten 
in  dieser  Periode  reifen.  Er  hatte  einen  vollen  berauschenden  Blick  in 
das  Zauberland  der  Renaissance,  einen  vollen  Trunk  aus  ihrem]  ver- 
jüngenden Quell  gethan.  Das  wirkte  sein  ganzes  Leben  lang  nach :  aber 
er  war  zu  sehr  der  Jünger  Göthescher  Weltanschauung,  als  dass  er  sich 
nicht  auch  mit  diesem  .Geiste'  auseinandergesetzt  hätte. 

Noch  im  selben  Jahre  wie  der  „Waldeck*  erschien  in  den  „Preussi- 
schen  Jahrbüchern*  eine  Abhandlung  von  seltener  Eigenart:  .Das  Zeit- 
alter der  Novelle  in  Zellas*.  Der  Titel,  so  berechtigt  er  ist,  lässt  den 
weitumspannenden  Inhalt  dieser  in  hohem  Grade  interessanten  Studie 
kaum  ahnen.  Und  doch  steht  sie  mit  den  beim  Waldeck  gewonnenen  An- 
schauungen für  die  Geschichtsschreibung  in  gewissem  Zusammenhang. 
Er  geht  hier  noch  einen  Schritt  weiter.  Er  nennt  seine  Arbeit  „einen 
kleinen  Ausschnitt  aus  der  grossen  Aufgabe  der  vergleichenden  Erkenntnis 
der  geschichtlichen  Erscheinungen".  Zweck  war  ihm,  .zu  erweisen,  wie 
auf  dem  Grunde  analoger  kulturgeschichtlicher  Voraussetzungen  —  hier 
im  Altertum,  ^^^  ™  Mittelalter  —  eine  Anschauung  von  Welt  und 
Leben  ersteht,  zu  deren  eigenstem  Wesen,  neben  vielen  anderen  gleich 


Zum  Gedächtnis  BerDhard  Erdroannsdörffers  15 

charakteristischen,  gleich  notwendigen  Ztigen,  es  gehört,  jenes  leichte 
Genre  fast  unbewusster  Dichtung  —  der  Novelle  —  hervorzubringen." 
In  glänzender  Parallelstellung  der  Strömungen  der  Ereuzzüge  und  der 
Periode  der  „sieben  Weisen^  versteht  er  es  auf  breit  gezeichnetem  histo- 
rischem Hintergrunde  eine  litterarische  Bewegung  mit  wenigen  Hilfsmitteln 
zu  rekonstruieren,  die  ihm  gewissermassen  unter  den  Händen  wachsen,  so 
dass  Stein  auf  Stein  passt.  Dies  geschieht  aber  im  engsten  Zusammenhang 
mit  der  geschichtlichen  Entwickelung.  Hat  er  im  Waldeck  die  Schäden  einer 
falschen  historischen  Tradition  enthüllt,  so  zeigt  er  hier  mit  einer  gewissen 
Freude  das  Ineinanderfliessen  von  „Wahrheit  und  Dichtung',  diese  Weise 
des  poetischen  Schaffens,  die  dann,  ,,heimisch  geworden  in  dem  Geiste 
der  Nation*^  von  hier  an  weiter  bildet  und  weiter  dichtet  in  allen  Zeiten, 
so  dass  sie  auch  m  den  Epochen  gesicherterer  historischer  Überlieferung 
immer  neben  dieser  herschreitet,  gleichwie  ein  liederreicher  geschmückter 
Sänger  neben  einem  würdigernsten  Festzuge*. 

Die  Studie  vereinigt  alle  Vorzüge  Erdmannsdörffer*schen  Schaffens : 
vor  Allem  aber  bietet  sie  eine  Fülle  methodischer  Winke.  Von  wenigen 
Werken  können  wir  mit  gleichem  Rechte  wie  von  dieser  reizvollen  Studie 
sagen:  ,,Das  ist  Kulturgeschichte." 

Inzwischen  war  er  „spät  genug''  zum  ausserordentlichen  Professor  in 
Berlin  ernannt  worden.  Aber  die  grosse  Zeit  fand  ihn  am  richtigen  Platze. 
Da  die  deutschen  Kolonnen  über  den  Rhein  zogen,  litt  es  ihn  nicht  da- 
heim in  den  leeren  Hörsälen,  er  stellte  sich  gleich  anderen  Gelehrten  zur 
Verfügung  der  Armeeleitung  und  trat  als  Führer  einer  freiwilligen  Ver- 
pflegungskolonne den  Marsch  nach  Frankreich  an.  Da  man  hinter  dem 
Sarge  des  Verblichenen  das  Kissen  mit  den  Ordenszeichen  trug,  da  ist 
es  manchem  wohl  aufgefallen,  dass  kein  preussischer  Orden  dasselbe  zierte, 
ausser  dem  eisernen  kreuze,  das  er  sich  in  jenen  grossen  Tagen  erworben 
hatte.  Es  war  Erdmannsdörffers  Art,  dass  er  im  politischen  und  natio- 
nalen Leben  nur  dann  aus  der  Stille  seiner  Objektivität  hervortrat,  wenn 
es  galt,  Farbe  zu  bekennen,  wenn  es  der  ,Mühe  wert  war*.  Er  sprach 
gern  von  jener  Campagne  in  Frankreich,  nicht  von  sich  und  seinen  Aven- 
türen,  sondern  von  den  grossen  und  gewaltigen  Eindrücken,  die  er  dort 
gewonnen. 

Das  Friedensjahr  brachte  auch  ihm  den  ersehnten  Ruf.  So  kam  er 
an  Noordens  Stelle  nach  Greifswald,  das  ihm  den  ganzen  Segen  einer 
kleineren  und  eigentlichen  „universitas  litterarum''  bot,  „die  frei  von  den 
zerstreuenden,  trennenden  Einflüssen  der  Hauptstadt  in  festem  Zusammen- 
halt und  wahrer  Kollegialität  einen  ausgesprochenen  Charakter  hat  und 


16  Bichard  Graf  Du  Moulin  Eckart 

verbreitet."  Vor  allem  mit  Immanuel  Bekker,  der  gleich  ihm  den  Weg 
nach  Heidelberg  gefunden,  verband  ihn  eine  Freundschaft  fär's  Leben. 
Dazu  kamen  andere,  vor  Allem  der  leider  zu  früh  verstorbene  Rudolph 
Scholl,  der  im  April  1872  nach  Greifswald  berufen  worden  war.  Ein 
anregender  Kreis!  Aber  auch  Fäden,  fein  wie  Spinneweben,  die  schon 
in  Berlin  geknüpft  worden  waren,  spannen  sich  weiter.  Freilich  konnte 
er  die  Geliebte  erst  nach  Heidelberg  heimführen. 

Seine  Lehrthätigkeit  befriedigte  ihn  im  hohen  Masse.    Jetzt  konnte 
er  eigentlich  erst  mit  seiner  ganzen  Erfahrung  richtig  hervortreten.   Aber 
dieses  Hervortreten  war  wie  das  Erscheinen  seiner  Bücher  ein  Ereignis. 
Denn  was  er  seinen  Schülern  bot,  —  zu  diesen  gehörte  sein  künftiger 
Schwager,  Max  Lenz,  —  das  war  die  voUerfasste,   vollbegriffene,  voU- 
geklärte  Banke'sche  Methode.   Bis  dahin  war  noch  keiner  in  die  eigent- 
lichen Tiefen  derselben  vorgedrungen.    Erdmannsdörffer   war  auf  seine 
eigene  Weise  zu  derselben  gelangt  und  konnte,  der  ohne  sie  gereift  und 
geworden,  sie   mit  voller  Wahrheit  und  Durchsichtigkeit  bieten.    Wir 
dürfen  sagen,   er  war  der  erste  der  sogenannten  Jung-Ilankianer.     Ich 
überlasse  einer   berufeneren  Feder,  dieses  näher  zu  erörtern  und  auszu- 
führen.  Aber  Erdmannsdörffers  Bild  wäre  unvollständig,  würde  man  nicht 
gerade  diesen  Grundzug  seiner  akademischen  Lehrthätigkeit  stark  betonen. 
Der  fünfundsiebzigste  Geburtstag  Kaiser  Wilhelms  I.  gab  ihm  am 
22.  März  1872  Gelegenheit  bei  der  akademischen  Festfeier  über  «Be- 
standene Versuchungen  in  der  preussischen  Geschichte**  zu  sprechen.    Es 
war  gleichsam  eine  historische  Revue,  die  er   von  dem  neugewonnenen 
politischen  Standpunkte  aus  mit  Genugtbuung  bethätigen  konnte.    „Das 
Spiel  des  Lebens  sieht  sich  heiter  an,  wenn  man  den  sichern  Schatz  im 
Busen  trägt.^    So  pries  er  es,  „einen  Erfolg,  wenigstens  als  eine  heil  volle 
Wendung,  dass  Friedrich  Wilhelm  IV.  seiner  Zeit  die  Kaiserkrone  ab- 
gelehnt und  so  das  Kaisertum  nicht  mit  hineingezogen  worden  in  die 
Trübsal  der  politischen  Niederlagen  Preussens  von  1850  an,  und  dass  es 
unversehrt  blieb  von  dem  Missgeschick  und  von  der  Schuld  jener  Jahre.^ 
Aber,  —  sagt  er,  „ein  gescheitertes  Streben  um  den  höchsten  Preis  ruht 
als  schwer  niederdrückende  Last  auf  dem  Leben  des  Einzelnen,  aber  un- 
endlich schwerer  auf  dem  Leben  eines  Staates,  und  der  Spruch:  „dass 
in  grossen  Dingen  auch  schon  das  Wollen  genug  sei^  ist  nicht  für  das 
politische  Leben  geschrieben".  —  In  Greifswald  hatte  er  durch  Zufall  jene 
Handschrift  des  Kleist'schen   „Prinz  von  Homburg*  gefunden,  die  ihm 
Gelegenheit  zu  einer  reizvollen  litterar-historischen  Studie  in  den  „Preus- 
sischen Jahrbüchern"  gegeben. 


Zum  Gedächtnis  Bernhard  ErdmannsdÖrffers  17 

Doch  hier  war  seines  Bleibens  nicht  l&nger.  Schon  das  folgende 
Jahr  führte  ihn  nach  Breslau,  wo  er  in  Richard  Röpell  einen  liebens- 
würdigen und  kongenialen  Kollegen  fand. 

Aber  auch  in  der  schlesischen  Hauptstadt  sollte  er  kurze  Zeit  wirken. 
Kaum  hatte  er  seine  Vorlesungen  begonnen,  als  sich  ihm  eine  nach  jeder 
Richtung  hin  angenehme  Aussicht  nach  Heidelberg  eröffnete.  —  Treitschke 
hatte  dem  Rufe  an  die  Berliner  Universität  Folge  geleistet  und  war  nun 
selbst  eifrig  bemüht,  den  Nachfolger  zu  finden.  Das  war  unter  den  da- 
maligen wenig  erquicklichen  Verhältnissen  keine  leichte  Aufgabe.  Aber 
der  gleichfalls  erst  vor  Kurzem  nach  Heidelberg  berufene  Eduard  Winkel- 
mann arbeitete  Treitschke  dabei  ehrlich  in  die  Hände.  Wiederholt  riet 
er  Erdmannsdörffer,  der  mit  Maurenbrecher  und  Noorden  an  erster  Stelle 
vorgeschlagen  wurde,  anzunehmen.  Er  hoffte  in  ihm  eine  kräftige  Unter- 
stützung zu  finden,  ^den  Sinn  für  ernstere  Thätigkeit  zu  beleben*.  Die 
preussische  Regierung  Hess  es  an  ernsten  Bemühungen,  Erdmannsdörffer 
zu  halten,  nicht  fehlen.  Aber  dieser  hatte  Gründe  genug,  dem  Rufe  nach 
Heidelberg  dennoch  Folge  zu  leisten  und  so  gab  er  denn  sein  Jawort. 
Am  25.  Januar  erhielt  er  seine  Ernennungsurkunde  für  Heidelberg. 
Treitschke  orientierte  ihn  in  seiner  warmblütigen  Weise  über  die  dortigen 
Verhältnisse.  Er  war  hoch  erfreut  über  die  so  glückliche  Wendung 
der  Dinge:  .Natürlich*,  schrieb  er,  «ist  es  mir  eine  Freude  gewesen, 
Ihnen  zu  zeigen,  wie  sehr  ich  Sie  schätze,  obgleich  es  dessen  unter 
uns  Mädchen  kaum  bedurfte*.  „So  glaube  ich  Ihnen  sicher  eine  schöne 
Thätigkeit  versprechen  zu  können,  und  wie  wichtig  ist  es  doch,  dass  die 
Nene  Geschichte  auf  der  ersten  süddeutschen  Universität,  die  zudem 
einen  halb  internationalen  Charakter  hat,  in  guten  Händen  liege !  Dazu 
das  herrliche  Land;  ich  werde  das  Heimweh  nach  dem  Westen  nie  los 
werden.*  .Aber'',  schliesst  er  das  Schreiben,  »ich  hielt  es  für  meine 
Pflicht,  einem  solchen  Rufe  aus  Preussen  mich  nicht  zu  versagen ''.  Doch 
auch  die  Schwierigkeiten  verhehlte  er  ihm  nicht.  Da  waren  vor  Allem 
die  wenig  erquicklichen  kollegialen  Verhältnisse,  auf  die  hier  nicht  näher 
eingegangen  werden  soll.  Aber  auch  als  Dozent,  so  meinte  Treitschke, 
würde  er  keinen  leichten  Stand  finden.  .Die  Studenten  sind  überaus 
verwöhnt  in  ihren  Ansprüchen  an  die  Form  des  Vortrages.*  Aber  .unsere 
Studenten  sind  besser  als  ihr  Ruf,  fleissige  Kollegienbesucher  und  naiv 
empftnglich*. 

Nun  lag  freilich  nichts  näher  als  der  Vergleich  des  neuen  Histo- 
rikers mit  seinen  Vorgängern,  mit  Schlosser  und  Gervinus,  mit  Häusser  und 
Treitschke.    Erdmannsdörffer  schreckte  nicht  davor  zurück,  ihn  selbst  an- 

KEUE  HSEDELB.  JAmiBUECHER  XI.  '2 


18  Hichard  Graf  Du  Moulln  Eckart 

zustellen.  In  seiner  Antrittsvorlesung  gab  er,  wie  Gothein  erzählt,  eine 
geistreiche  Skizze  derselben.  Er  huldigte  ihnen  und  brach  kurzweg  mit 
ihrem  System.  Dazu  gehörte  Mut  und  Entschlossenheit.  Man  muss  Heidel- 
berg kennen,  Studenten  und  Bürgerschaft,  wie  sie  mit  grenzenloser  Ver- 
ehrung an  Häusser  und  Treitschke  gehangen,  wie  hier  noch  das  Bild 
Schlossers  und  Gervinus  in  der  Tradition  fortlebt,  nachdem  ihre  Bücher 
längst  tot  sind.  Aber  Schüler  im  wahren  Sinne  des  Wortes  hatte  doch 
keiner  dieser  grossen  Vier  erzogen,  auch  Häusser  und  Treitschke  nicht, 
und  so  war  gerade  durch  Erdmannsdörffer  der  Lehrstuhl  ernsterer,  wenn 
auch  nicht  minder  anregender  Lehrthätigkeit  wieder  gewonnen  worden. 
Seine  Antrittsrede  wirkte  freilich  etwas  abkühlend.  Aber  gerade  das  ge- 
reichte dem  Fache  selbst  zum  Segen.  Die  Zeit  hatte  an  Häusser  und 
Treitschke  ihre  Forderungen  gestellt,  vor  Allem  letzterer  musste  der 
Herold  sein  der  grossen  politischen  Gedanken.  Jetzt  galt  es  vielmehr, 
die  Gemüter  zu  beruhigen  und  zu  neuer  ernster  Arbeit  heranzuziehen. 
Und  bald  erkannte  man  die  Eigenart  des  neuen  Lehrers,  der  eine  Reife 
und  Klarheit  zur  Schau  trug,  wie  keiner  der  Vorgänger  sie  besessen  hatte. 
Nicht  mehr  so  viele  lauschten  auf  ihn,  diese  aber  sahen  in  ihm  nicht 
blos  den  glänzenden  Bedner,  der  er  trotz  allen  gewesen,  sondern  den 
Meister  —  der  wie  die  anderen  nicht  blos  blendende,  leuchtende  Farben 
hatte,  sondern  auch  scharfe,  künstlerisch  vollendete  Linien  zu  ziehen  wusste. 
Und  doch  ist  keiner  seinen  Vorgängern  mehr  gerecht  geworden  als  ge- 
rade Erdmannsdörffer.  Die  Feier  des  hundertsten  Geburtstages  Friedrich 
Christoph  Schlossers  am  17.  November  1876  gab  ihm  Gelegenheit,  das 
Bild  des  hervorragenden  Gelehrten  in  vollem,  wir  dürfen  hinzusetzen,  in 
völlig  richtigem  Lichte  zu  zeigen:  „Erst  fünfzehn  Jahre  sind  verflossen,*' 
sagte  er,  „seitdem  die  Bürger  dieser  Universität  und  die  Bürger  dieser 
Stadt  an  dem  Grabe  Schlossers  standen;  weithin  in  allen  Kreisen  des 
Vaterlandes  leben  und  wirken  noch  zahlreiche  Männer,  die  einst  zu  seinen 
Füssen  gesessen  und  manchem  heutigen  und  früheren  Bewohner  Heidel- 
bergs steht  noch  das  Bild  der  markigen,  imposanten  Greisengestalt  vor 
der  Seele,  mit  den  scharfgeschnittenen  Zügen,  mit  dem  glänzenden,  streng 
blickenden  einem  Auge,  das  ihm  geblieben,  wie  sie,  in  den  letzten  Zeiten 
schwankend  aber  ungebeugt  durch  die  Strassen  der  Stadt  und  auf  den 
einsameren  Spaziergängen  der  Umgegend  einherschritt.  Dennoch  lässt 
sich  nicht  verkennen,  dass  unser  heutiges  Denken  in  historiscb-wissen- 
scbafblicher,  unser  heutiges  Empfinden  in  nationaler  und  politischer  Be- 
ziehung, unsere  heutige  Beurteilungsweise  der  Welt  und  dem  Leben  gegen- 
über der  Art  Schlossers  doch  schon  gänzlich  ferne  gerückt  ist^.     Aber 


Zum  Gedächtnis  Bernhard  Erdmannsdörffers  10 

wie  plastisch  zeichnet  er  dann  den  Werdegang  des  eigenartigen  Mannes, 
die  .zürnende  Dantegestalt, ^  die  man  dahinschreiten  sah  durch  das  In- 
ferno der  Fürstenhöfe  des  achtzehnten  Jahrhunderts,  deren  Einfiuss  st&rker 
gewesen  ,auf  den  Mut  und  die  Gesinnung  des  Kampfes  und  der  Vernich- 
tung des  Alten,  als  auf  die  Ideen  der  Wiedergeburt  und  der  Neubegrün- 
dung^.  „So,*"  schloss  er,  ^steht  Schlosser  da  als  einer  der  wirkungs- 
reichsten historisch-politischen  Lehrmeister  unseres  deutschen  Bürgertums 
in  einer  entscheidungsvoUen  Periode  seines  Kampfes  um  sein  Recht.  Diese 
Periode  können  wir  heute  als  abgeschlossen,  diesen  Kampf  als  siegreich 
beendet  betrachten.  Es  werden  Zeiten  kommen,  wo  die  Leistungen  des 
Mannes  für  die  wissenschaftliche  Erforschung  und  Darstellung  der  Ge- 
schichte vielleicht  noch  weniger  als  zum  Teil  schon  jetzt  den  fortge- 
schrittenen Ansprüchen  der  historischen  Methode  und  Technik  genügen 
werden.  Aber  dieses  Verdienst  darf  und  wird  ihm  nicht  vergessen  wer- 
den und  vornehmlich  auch  in  diesem  Sinne  lassen  Sie  an  dem  heutigen 
Tage  der  Erinnerung  in  der  Huldigung  uns  einigen: 

Ehre  seinem  Gedächtnis  !** 
Treitschke  ist  er  bis  zu  seinem  Tode  menschlich  und  wissen- 
schaftlich in  trautester  Weise  nahe  geblieben.  Er  hatte  seine  helle 
Freude  an  dem  starkmutigen  Manne,  er  liebte  ihn  mit  seinen  starken 
Seiten  wie  mit  seinen  Schwächen,  die  ja  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
natumotwendig  mit  ersteren  verknüpft  waren.  Er  sollte  jedoch  bald  ge- 
nug Gelegenheit  finden,  seine  Anschauungen  öffentlich  mit  der  ganzen, 
ihm  eigenen  Bitterlichkeit  zu  bekunden.  Der  im  Jahre  1882  erschienene 
zweite  Band  der  deutschen  Geschichte  hatte  einer  Beihe  von  mehr  oder 
minder  berufenen  Kritikern  Gelegenheit  gegeben,  über  das  Buch  herzu- 
fallen. Yor  allem  Baumgarten  hatte  vierzehn  Tage  nach  dem  Erscheinen 
des  Werkes  jene  nach  jeder  Bichtung  unqualifizierbare  Kritik  über  das- 
selbe in  der  „Allgemeinen  Zeitung'^  veröffentlicht.  Mit  Becht  trat  nun 
Erdmannsdörffer  für  den  aufs  Tiefste  verletzten  Freund  und  Kollegen  ein. 
Er  betonte  in  einem  glänzenden  Aufsatze  in  den  „Grenzboten'  mit  Becht, 
dass  weder  in  Frankreich  noch  in  England  ein  hervorragendes  nationales 
Werk  einen  solchen  Empfang  erfahren  könnte.  „Diesem  Manne, **  schrieb 
er,  „und  diesem  Buche  ist  öffentlich  Unbill  geschehen  und  da  kein  anderer 
es  that,  habe  ich  mich  veranlasst  gesehen,  dies  hier  auszusprechen  und 
zu  begründen.*^  Und  indem  er  ihn  rechtfertigte  gegenüber  den  Vorwürfen, 
die  man  wegen  seiner  ungenügenden  Methode  und  wegen  seines  ^preus- 
sischen  Partikularismus '^  gegen  ihn  erhoben,  hat  er  zugleich  mit  wenigen 
Strichen  eine  glänzende  Charakteristik  Treitschke's  gegeben,   die   von 

9* 


20  Richard  Graf  Du  Moulin  Eckart 

bleibendem  Werte  ist,  aber  auch  nicht  minder  bedeutungsvoll  ffir  Erd- 
mannsdörffers  Auffassung  von  Mann  und  Werk.  ^Nun  ja/  sagt  er, 
„es  wird  niemand  in  Treitschke  einen  Historiker  erkennen  wollen  von  der 
Strenge  und  Kühle  Ranke*scher  Objektivität,  welche  ich  für  meinen  Teil 
allerdings  als  das  Höchste  und  Reinste  verehre,  was  die  deutsche  Wissen- 
schaft auf  dem  Oebiete  historischer  Leistung  zur  Anschauung  gebracht 
hat,  deren  Anwendbarkeit  auf  alle  Objekte  aber  wenigstens  nicht  er- 
wiesen ist.  Es  ist  wahr,  neben  vielen  anderen  beneidenswerten  Gaben 
haben  die  Götter  diesem  Manne  etwas  heisseres  Blut  verliehen  als  in  den 
Adern  der  meisten  anderen  fliesst.  Es  ist  ein  leidenschaftlicher  Zug  in 
seinem  Wesen,  nicht  allein  in  seinem  Darstellen  und  Urteilen,  sondern 
schon  in  seinem  Sehen  und  Erkennen.  Leidenschaft  kann  den  Blick  trüben, 
sie  kann  ihn  auch  schärfen  zu  höher  gesteigerter  Erkenntniskraft,  und  in 
leidenschaftlichen  Naturen  wird  sie  bald  in  der  einen,  bald  in  der  anderen 
Richtung  wirken.  Es  liegt  mir  fern,  zu  leugnen,  dass  nicht  auch  bei 
Treitschke  die  ungünstige  Wirkung  erkennbar  sei ;  er  ist  stark  und  heftig 
in  seinem  Für  und  in  seinem  Wider,  er  kann  auch  ungerecht  sein  und 
ist  es  vielleicht  bisweilen*.  ffAber,"  fährt  er  nach  Aufzählung  einiger 
Beispiele  hiefür  fort,  „man  wolle  doch  solche  Fündchen  nicht  masslos  auf- 
bauschen. Und  entspringt  nicht  andrerseits  aus  jener  leidenschaftlichen 
Bewegtheit  des  Naturells  gerade  auch  das  Beste,  was  uns  an  dieser  Ge- 
schichtsschreibung erfreut,  die  warme  und  erwärmende  Lebhaftigkeit  der 
Darstellung,  die  stets  präsente  Fülle  konkreter  anschaulicher  Lebensbilder, 
die  sprechende  Natürlichkeit  der  Charakterschilderungen,  das  hinreissende 
Pathos  bei  der  Entwickelung  der  grossen,  allgemeinen,  idealen  Gesichts- 
punkte? Das  mag  dem  einen  wertvoller  erscheinen  als  dem  anderen, 
aber  man  muss  es  doch  stehen  lassen,  und  wir  sollten  uns  freuen,  dass 
in  der  Reihe  unserer  zahlreichen  lebenden  deutschen  Historiker  —  nach 
Antlitz  und  Artung  trotz  aller  Schuleinheit  eine  recht  bunte  Reihe  — 
dieser  Mann  steht  als  eine  bedeutende  und  eigenartige  Erscheinung,  welche 
die  Liebe  der  Jugend  besitzt  und  die  Achtung  des  Alters  verdient,  und 
sollten  uns  damit  zufrieden  geben,  dass  nicht  allen  Bäumen  eine  Rinde 
wächst."  So  standen  sie  in  guten  und  bösen  Tagen  zu  einander.  Als 
Treitschke  im  Jahre  1891  zu  erblinden  drohte  und  in  Heidelberg  Heilung 
suchte  und  fand,  war  ihm  das  Erdmannsdörffer^sche  Haus  eine  Stätte 
des  Trostes  und  der  Ermunterung  in  Zeiten  grenzenloser  Qual  und  Span- 
nung, die  dann  freilich  nachliess,  so  dass  er  noch  die  Kraft  fand  zu 
seinem  fünften  Bande.  Auch  diesen  hat  Erdmannsdörffer  in  glänzender 
Weise  gewürdigt.    Er  schloss  die  Besprechung  mit  den  Worten:   «Den 


Zum  Gedächtnis  Bernhard  ErdmannsdÖrffers  21 

wahrhaft  tragischen  Teil  der  Aufgabe  hat  Treitschke  noch  vor  sich.  Er 
wird  in  dem  folgenden  Bande  die  Geschichte  der  Revolution  von  1848 
schreiben,  die  noch  ungeschrieben  ist.  Keinem  litterarischen  Ereignis  der 
nächsten  Jahre  auf  dem  Gebiete  der  deutschen  Geschichtsschreibung 
blicken  wir  mit  grösserer  Spannung  entgegen;  man  möchte  alle  guten 
Geister  beschwören,  dass  sie  dem  Verfasser  helfend  und  schützend  zur 

Seite  stehen." Nun  sind  sie  beide  dahin.    Aber  diese  Besprechung 

hat  auch  für  ErdmannsdÖrffers  theoretische  Entwickelung  eine  ganz  be- 
besondere Bedeutung.  Mit  Becht  hatte  er  auf  die  Meisterschaft 
Treitschkes  in  der  psychologischen  Charaktermalerei  hingewiesen.  Vor 
allem  die  Darstellung  Friedrich  Wilhelms  IV.  schien  ihm  in  diesem 
Sinne  «ein  Kunstwerk  der  erlesensten  Art^.  Nun  stand  er  damals,  da 
er  (He  Besprechung  schrieb,  noch  völlig  unter  dem  freudigen  und  be- 
friedigenden Eindruck,  den  die  Abhandlung  Dilthey's  „Ideen  über  eine 
beschreibende  und  zergliedernde  Psychologie''  auf  ihn  gemacht  hatte. 
Sein  Briefwechsel  mit  dem  befreundeten  Philosophen,  den  demnächst  der 
Berufenste  zu  solcher  Aufgabe,  Max  Lenz  mit  den  kleinen  Schriften  ver- 
öffentlichen wird,  kann  uns  interessante  Aufklärung  darüber  geben,  in 
wie  weit  die  Beiden  über  die  wichtige  Frage  vorher  ihre  Gedanken  ausge- 
tauscht haben.  Jedenfalls  stand  Erdmannsdörffer  nicht  an,  die  bedeuten- 
den Ausführungen,  die  darauf  hinweisen,  «dass  auf  einem  gewissen  Teil 
ihres  Urteils  historische  und  psychologische  Forschung  sich  aufs  Nächste 
berühren  und  sich  gegenseitig  die  Hand  reichen  sollten''  für  seine  Wissen- 
schaft dankend  zu  acceptieren.  Glaubte  doch  auch  er  ,an  die  Möglichkeit 
und  die  Notwendigkeit  einer  Methode'^,  «welche  feste  Kegeln  für  Men- 
schenbeobachtung und  für  ästhetische  oder  historische  Menschendarstel- 
lung enthielte''.  Etwas  Neues  war  ihm  der  Wink  nicht,  konnte  er  dem 
Schöpfer  der  «deutschen  Geschichte  seit  1648"  nicht  sein.  Aber  so  deut- 
lich ausgesprochen  war  er  bisher  noch  nicht  und  mitten  in  dem  theo- 
retischen Streite  jener  Tage  war  ihm  dieser  Weckruf  von  einem  anderen, 
wenn  auch  innerlich  tief  verwandten  Arbeitsfelde  herüber  doppelt  erfreu- 
lich. So  sagte  er  denn:  „Man  bemüht  sich  heutzutage  vielfältig,  der 
Historie  neue  oder  vermeintlich  neue  Aufgaben  und  Ziele  zuzuweisen, 
erweitertes  Arbeitsgebiet  und  entsprechend  veränderte  Methoden  von  ihr 
zu  fordern.  Ich  zweifle  nicht,  dass  diese  Bemühungen  noch  viele  wert- 
volle Resultate  zu  Tage  fördern  werden  und  zum  Teil  schon  gefördert 
haben ;  die  Wissenschaft  wird,  wie  ich  überzeugt  bin,  reichlichen  Gewinn 
von  jenen  kulturhistorischen  und  wirtschaftsgeschichtlichen  Anregungen 
davontragen,  wenngleich  ich  mich  nicht  zu  dem  Glauben  bekennen  kann. 


22  Richard  Grat  Du  Moulin  Eckart 

dass  sie  eine  völlige  Verschiebung  des  Schwerpunktes  und  eine  wesent- 
liche Umgestaltung  der  Aufgabestellung  in  der  Geschichtswissenschaft 
im  Oanzen  zur  Folge  haben  werden.  Aber  wenn  man  darauf  ausgeht, 
Lücken  und  Mängel  in  dem  Betrieb  der  Historie  zu  konstatieren,  so  lässt 
sich  wohl  auch  noch  auf  andere  hinweisen,  und  ich  habe  dabei  nament- 
lich die  Dürftigkeit  der  psychologischen  Fundamentierung  im  Auge/  Es 
war  die  Hand  des  Meisters,  welche  nun  mild  und  sicher  den  Finger  an 
eine  wunde  Stelle  legte  und  die  Heilung  nur  „von  der  Hilfe  einer  psycho- 
logischen Beweisführung*  erwartete.  Diese  Betrachtungen  haben  ihn  dann 
in  der  Folge  noch  weitergeführt  und  bei  den  Arbeiten  für  seinen  ,Mira- 
beau*  tauchte  ihm  selbst  der  Gedanke  auf,  eine  „Psychologie  des  Pla- 
giats'' zu  schreiben. 

Doch  wir  sind  weit  den  Zeitläuften  vorangeeilt.  Wichtiges,  Tief- 
bewegendes im  Leben  Erdmannsdörffers  gilt  es  nachzutragen.  Da  er  den 
Ruf  nach  Heidelberg  annahm,  hatte  er  vor  Allem  auch  die  Möglichkeit 
im  Auge,  endlich  die  Geliebte  heimführen  zu  können.  So  hat  er  sich 
denn  im  Jahre  1875  mit  Anna  Lenz,  der  Schwester  seines  Schülers  ver- 
mählt. Mit  ihr  zog  ein  lichter  Geist,  eine  sonnige  Natur  in  sein  Haus 
ein  und  bis  in  seine  letzten  Tage  zitterte  und  flimmerte  die  Erinnerung 
an  die  Zufrühgeschiedene  in  Geist  und  Seele  nach.  Wohl  Mancher  ist 
vor  dem  schlichten  Grabstein  auf  dem  Heidelberger  Friedhof  gestanden 
und  hat  den  Sinn  der  drei  Buchstaben :  DNM  nicht  zu  enträtseln  vermocht. 
Es  waren  die  Worte  des  italienischen  Dichters,  die  sie  einst  zusammen- 
gelesen und  die  auf  die  Gattin  tiefen  Eindruck  gemacht: 

„Dolce  nella  memoria^^ 

Im  Sinne  dieser  Worte  hat  er  später  gelebt,  da  er  mit  Lorbeer- 
zweigen, die  er  in  der  Vaucluse  Petrarcas  gepflückt,  das  Bild  der  Teuren 
bekränzte.  Und  in  diesem  Geiste  hat  auch  die  zweite  Gattin,  eine  nahe 
Verwandte  des  Lenzischen  Hauses,  die  Kinder  erzogen,  die  jene  ihm  ge- 
gegeben. 

Inzwischen  hatte  Erdmannsdörffer  dem  grossen  Unternehmen,  dem 
er  so  lange  Zeit  seine  besten  Kräfte  geweiht,  den  letzten  Tribut  bezahlt 
und  die  weiteren  Bände  der  „Urkunden  und  Aktenstücke'  veröffentlicht. 
Aber  damit  war  sein  Interesse  an  der  grossen  Persönlichkeit  Friedrich 
Wilhelms  nicht  erloschen.  Auch  den  weiteren  Veröffentlichungen  seiner 
Mitarbeiter  und  Nachfolger  folgte  er  mit  Aufmerksamkeit  und  Sympathie. 
Die  Besprechungen,  die  er  den  weiteren  von  Th.  Hirsch  herausgegebenen 
Bänden  gewidmet,  zeugen  davon.  Aber  er  selbst  hat  noch  eine  Reihe 
von  Aufsätzen  zur  Geschichte  dieses  Zeitraums  geliefert.     So  erschien 


Zum  Gedächtnis  Bernhard  Erdmannsdörffers  23 

im  Jahre  1878  in  der  Zeitschrift  für  preussische  Geschichte  die  Ab- 
handlung aber  , Louise  Henriette  von  Orleans*.  Ein  lebenswahres,  scharf 
gezeichnetes  Bild  der  Gattin  des  grossen  Kurfürsten,  ein  „achter  Erd- 
mannsdörfifer^.  Freilich  er  zeigte  sie  „in  einem  anderen  Lichte,  als  in 
dem  sie  gewöhnlich  gesehen  zu  werden  pflegte.  Die  weiteren  Zuge,  die 
man  in  dem  Bilde  an  dieser  Stelle  sonst  gern  erblickte^  mussten  „ver- 
schwinden.* Es  blieb  an  der  Brautfahrt  nach  dem  Haag  nichts  übrig 
von  der  Romantik  sehnsuchtsvoller  Jugendliebe.  ,Es  ist  bei  diesem 
Werben  um  die  Braut  schwierig  und  hart  hergegangen,  wie  überall 
sonst  in  dem  Leben  und  Wirken  des  grossen  Fürsten.  Aber^,  so  schloss  er 
die  Studie,  „die  Verklärung  der  späteren  glücklichen  Jahre  liegt  über  dem 
rauhen  Anfang*.  Inzwischen  hatte  er  1878  in  dem  „Neuen  Plutarch*  eine 
scharfe  und  pointierte  Biographie  des  „Grossen  Kurfürsten^  gegeben,  nach- 
dem er  schon  früher  in  den  preussischen  Jahrbüchern  eine  wertvolle,  klä- 
rende Abhandlung  über  die  Schlacht  von  „Fehrbellin*  veröffentlicht  hatte. 
Aber  schon  beschäftigten  ihn  wieder  zwei  neue  grosse  Aufgaben: 
seine  „Deutsche  Geschichte  vom  westfälischen  Frieden  bis  zum  Begierungs- 
antritt Friedrichs  des  Grossen  1648—1740,  und  die  ,  politische  Korre- 
spondenz Karl  Friedrichs  von  Baden.*^  Die  „Deutsche  Geschichte*  ist 
der  volle  Niederschlag  seines  Könnens  und  seiner  Kraft.  Mag  immerhin 
dem  zweiten  Bande  das  stete  Drängen  des  Verlegers  einigen  Abbruch 
gethan  haben  —  das  ganze  ist  ein  grosses  historisches  Kunstwerk,  reif 
und  schön,  geschlossen  und  von  krystallischer  Klarheit.  Wie  herrlich 
der  Eingang:  man  hört  die  Friedensglocken  läuten,  man  lauscht  dem 
Jauchzen  des  müden  Geschlechts  über  das  Ende  der  namenlosen  Qual, 
und  doch  durch  den  klaftertiefen  Brandschutt  sieht  man  die  Keime  neuen 
Lebens  spriessen.  Und  wie  geht  er  inmitten  dieser  zersplitterten  Periode 
den  nach  oben  strebenden  Zügen  nach.  Nichts  ist  verzeichnet,  Licht 
und  Schatten  mit  staunenswerter  Sicherheit  und  Klarheit  aufgesetzt. 
Dazu  die  Meisterschaft  der  Charakteristik,  der  Gruppierung,  die  zu- 
gleich alles,  selbst  scheinbar  Geringfügiges  in  die  richtige  Beleuch- 
tung setzt.  Er  hatte  eben  die  ganze  Periode  bis  ins  tiefste  durchdrungen, 
durchschaut  und  durchdacht :  oben  auf  der  heiteren  Höhe  seines  Gartens 
in  dem  rebenumwölbten  Gang,  seinem  „Philosophenweg^  hat  er  auf-  und 
abwandelnd  einen  grossen  Teil  des  Werkes  entworfen,  die  einzelnen  Ge- 
stalten geschaffen.  In  der  That  —  das  Ganze  ist  wie  aus  Stein  ge- 
hauen und  dennoch  durchdrungen  von  echtem,  historischem  Leben.  Streng 
abgegrenzt  ohne  Rückblick  und  Ausblick,  gleichsam  aus  sich  heraus  sich 
entwickelnd  und  dennoch  getragen  von  voller  dramatischer  Folgerichtig- 


24  Richard  Graf  Du  Moulin  £ckart 

keit  wirkte  es  mit  uoruittelbarer  Kraft.  Und  doch  wie  weist  der  Schluss 
in  die  ZukuDft,  auf  Preussen,  «den  gliederlosen,  stammeD,  regungslosen 
Riesen '^  hin:  «Wenn  das  Wort  gesprochen  wird,  das  ihn  belebt!  Wenn 
der  Funke  springt,  der  ihm  die  Qlieder  löst! 

Ein  neues  Zeitalter  bricht  an.  Sein  stolzestes  Denkmal  ist  die  po- 
litische Korrespondenz  Friedrichs  des  Grossen.  Wir  lesen  die  ersten 
Blätter,  und  es  ist  uns,  als  hörten  wir  das  Bauschen  eines  emporsteigenden 
Vorhangs,  und  vor  unseren  Augen  eröffnet  sich  der  Ausblick  auf  eine 
unermessliche  Bühne,  voll  sich  drängender  Gestalten  —  von  weltweiter 
Perspektive. " 

Mit  Recht  war  dem  Werke  im  Jahre  1894  der  Verdunpreis  zuer- 
kannt worden.  Diese  Entscheidung,  die  Sybels  Werk  aber  die  Begrün- 
dung des  deutschen  Reichs  trotz  des  Vorschlags  der  Kommission  unbe- 
rücksichtigt liess,  erregte  ja  im  ersten  Augenblick  Befremden  und  Er- 
staunen. Aber  bald  sah  man  ein,  dass  sie  durchaus  berechtigt  war,  dass 
Erdmannsdörffers  Werk  des  Preises  völlig  wert  war.  Die  Nachricht 
hievon  traf  ihn  bereits  auf  einer  Erholungsreise  nach  Italien,  die  er  bis 
nach  Sizilien  ausdehnte.  Es  war  ein  lang  gehegter  Wunsch,  den  er  sich 
jetzt  erfüllte.  Freilich  hat  er  den  Plan  einer  Orientreise  nie  völlig  auf- 
gegeben, aber  der  Aufenthalt  auf  der  wunderbaren  Insel  hat  ihm  doch 
eine  tiefe,  innere  Befriedigung  bereitet. 

Inzwischen  waren  auch  die  beiden  ersten  Bände  der  ^Politischen 
Korrespondenz*^  Karl  Friedrichs  von  Baden  erschienen.  Mit  wachsendem 
Interesse  hatte  er  sich  dieser  von  der  badischen  historischen  Kommission 
im  Jahre  1883  gestellten  Aufgabe  hingegeben.  Die  Anregung  war  keines- 
wegs von  ihm  ausgegangen,  sondern  von  Eduard  Winkelmann.  Aber  er 
unternahm  selbst  einen  Teil  der  Archivreisen  nach  Wien  und  nach  Paris, 
von  deren  Erfolgen  er  gerne  erzählte.  Vor  Allem  Paris  machte  auf  ihn 
tiefen  Eindruck.  Er  hat  späterhin  vielen  seiner  Schüler  geraten,  die 
französische  Hauptstadt  zu  besuchen  und  hier  ihren  historischen  Ge- 
sichtskreis zu  erweitern.  Das  Werk  war  im  gewissen  Sinne  eine  That. 
Wenn  er  auch  die  Bearbeitung  der  späteren  Bände  in  die  erprobten 
Hände  seines  Schülers  und  Freundes  Obser  niederlegte,  da  ihm  die  Be- 
handlung der  rheinbündlerischen  Periode  widerstrebte,  so  hat  doch  gerade 
er  schon  durch  die  beiden  ersten  Bände  die  Notwendigkeit  jener  Ent- 
Wickelung  nachgewiesen  und  jener  sittlichen  Entrüstung,  mit  der  man 
deutscherseits  diesen  Zeitabschnitt  zu  behandeln  pflegte,  die  Basis  ent- 
zogen. Die  Vorarbeiten  zu  der  umfassenden  Publikation  hatten  ihm  die 
Anregung  zu  seiner  Rektoratsrede  „Aus  den  Zeiten  des  deutschen  Fürsten- 


Zum  Gedächtnis  Bernhard  Erdmannsdörffers  25 

bundes*^  gegeben,  in  welcher  er  ninit  freudigem  Stolze'  darauf  hinwies, 
ndass  an  jenen  denkwürdigen  letzten  Versuchen,  das  alte,  deutsche  Reich 
und  seine  Verfassung  noch  einmal  zu  regenerieren  in  Anknüpfung  an 
die  Kontinuität  seiner  Geschichte  und  an  die  vielleicht  noch  lebensfähigen 
Elemente  in  ihr,  der  badische  Staat  und  sein  Fürstenhaus  einen  auf- 
richtig gemeinten,  von  wahrem  Patriotismus  beseelten  ehrenvollen  An- 
teil gehabt  haben.*^  ^ 

Im  übrigen  hat  er  der  grossen  Publikation  bis  zum  Schlüsse  sein 
Interesse  bewahrt.  So  veröffentlichte  er  als  Neujahrsblatt  für  1893  die 
„Reiseberichte  eines  österreichischen  Kameralisten  über  das  badische  Ober- 
land im  Jahre  1785^  und  noch  in  seinem  letzten  Jahre  hat  er  noch  ein- 
mal «seinem  Reitzenstein^  sich  zugewendet  und  für  die  Anfänge  von 
dessen  Wirksamkeit  einen  interessanten  Beitrag  geliefert.  So  hat  er 
seiner  neuen  badischen  Heimat  und  dem  Genius  loci  treulichst  den  Tribut 
geleistet.  In  diesem  Zusammenhange  dürfen  wir  auch  seine  kleinen  Bei- 
träge zur  Goethe-Biographie  betrachten,  die  er  in  den  „Neuen  Heidel- 
berger Jahrbüchern*  veröffentlicht  hat.  Die  beiden  kleinen  Kabinets- 
stücke  bilden  eigentlich  einen  Torso.  Er  hatte  noch  einige  weitere  Stu- 
dien gleicher  Art  im  Auge.  Vor  Allem  hatte  ihn  der  Argwohn  interes- 
siert, mit  dem  man  in  der  Hofburg  zu  Wien  Goethes  Rei^e  nach  Italien 
betrachtete  und  dieser  Sängerfahrt  unbedingt  politische  Bedeutung  hei- 
lten zu  müssen  glaubte.  Nicht  minder  fein  ist  das  Bild,  das  er  von 
dem  italienischen  Zeitgenossen  Goethes,  dem  Vittorio  Alfieri,  dem  Schöpfer 
der  neuen  italienischen  Tragödie  gegeben  hat.  Auch  die  geistvolle  Ver- 
quickung  der  Persönlichkeit  mit  der  historischen  Entwickelung  des  Volkes 
kommt  vortrefflich  heraus.  So  zeigt  er  ihn  als  „eine  starke  vollmänn- 
liche Natur  in  einem  verkommenen  schwächlichen  Zeitalter*^,  als  «einen 
Propheten  der  Freiheit,  deren  Namen  ausgelöscht  und  vergessen  war,^  als 
den  „hochgesinnten  Patrioten,  dessen  dämmernde  Ideen  einer  nationalen 
Wiedergeburt  Italiens  den  Ausgangspunkt  bilden  für  die  neuere  Geschichte 
dieses  Landes  und  seines  Volkes*. 

In  dem  .Zeitalter  der  Novelle  in  Hellas"  hatte  Erdmannsdörffer  es 
als  eine  Sache  von  nicht  geringem  Interesse  bezeichnet,  die  Biographie 
der  «Novelle  von  den  drei  Ringen*  zu  erzählen.  Er  ist  selbst  auf  den 
Gedanken  zurückgekommen  und  hat  diese  Biographie  in  einem  feinen 
und  weitsichtigen  Vortrage  niedergelegt,  der  im  Jahre  1897  gehalten, 
freilich  noch  der  Drucklegung  harrt. 

Im  Jahre  1894  hatte  sein  Schwager  Max  Lenz  jene  bedeutsame  Ab- 
handlung über  ,  Marie  Antoinette  im  Kampfe  mit  der  französischen  Re- 


26  Richard  Graf  Du  Moulin  Eckail 

volution^  veröfifentlicht.  Er  war  mit  den  Resultaten  nicht  völlig  einver- 
standen, so  sehr  ihn  die  Gedankengänge  des  ihm  geistig  und  persönlich 
in  so  trauter  Weise  nahestehenden  Historikers  interessierten.  Er  hegte 
wohl  eine  Zeitlang  die  Absicht,  seine  eigene  Auffassung  der  anderen  «all- 
zuscharfen'  gegenüberzustellen.  Daraus  hat  sich  dann  der  Plan  ent- 
wickelt, den  .Mirabeau*  für  die  „Monographieen  der  Weltgeschichte^  zu 
schreiben,  der  ihn  mehr  und  mehr  fesselte.  Aber  es  lag  in  seiner  Ver- 
anlagung, dass  er  hiebei  mehr  anderen  Spuren  in  Mirabeaus  Charakter 
nachging  und  so  ist  es  denn  zu  jener  nach  mehr  als  einer  Seite  interes- 
santen Auseinandersetzung  nicht  gekommen.  Denn  an  dem  Funkte,  wo 
er  zu  der  Frage  Stellung  nehmen  musste,  bricht  er  ab.  Die  Frage  blieb 
ungelöst.  Vielleicht  ist  dies  der  Einheit  des  Buches  zu  Oute  gekommen. 
Denn  in  der  That,  auch  dieser  Mirabeau  ist  ein  Kunstwerk  von  seltener 
Eigenart.  Aber  auch  hier  noch  ein  methodisches  Weitergehen,  eine 
methodische  Betrachtung  von  höchstem  Interesse,  die  er  zu  einer  „Psycho- 
logie des  Plagiats*'  verarbeiten  wollte.  Die  Grundzüge  hiezu  hat  er  in  dem 
kleinen  Vortrag  niedergelegt,  den  er  bei  der  Historikerversammlung  im 
Haag  (1898)  über  „Mirabeau  und  Mauvillon^  gehalten  hat. 

Inzwischen  war  er  nach  dem  Heimgange  Eduard  Winkelmanns,  dem 
er  eine  warme  und  von  feiner  Charakteristik  zeugende  Gedenkrede  ge- 
halten, Präsident  der  badischen  historischen  Kommission,  und  bald  da- 
rauf Mitglied  der  Berliner  und  Münchener  Akademie,  sowie  der  Münchener 
historischen  Kommission  geworden.  Besonders  die  letztere  Ernennung 
hat  ihn  ipnig  erfreut  und  er  hat  ihren  Arbeiten  das  wärmste  Interesse 
gezollt.  Alljährlich  kam  er  nun  in  den  Pfingsttagen  zu  den  Sitzungen 
derselben  nach  München.  Hier  hatte  ihn  Liliencron  bewogen,  für  die 
„Allgemeine  deutsche  Biographie^  den  Artikel  „Beust"  zu  übernehmen. 
So  knüpfte  er  denn  nach  dem  Schlüsse  des  Hauptwerks  die  alten  Be- 
ziehungen zu  demselben  wieder  an,  für  das  er  in  früheren  Jahren  eine 
Reihe  der  wertvollsten  Artikel  über  die  Zeitgenossen  des  Grossen  Kur- 
fürsten geliefert  hatte.  Auch  in  der  Biographie  des  so  Hartgescholtenen 
hat  er  mit  der  ganzen  Feinheit  seiner  Arbeitsweise  ein  Bild  geschaffen, 
das  über  dem  Für  und  Wider  der  Parteien  diesseits  und  jenseits  des 
Mains,  diesseits  und  jenseits  des  Erzgebirges  steht.  Er  sandte  es  mir 
mit  einem  herzlichen  Briefe,  in  welchem  er  schrieb:  „So  hilft  man  sich 
von  einer  kleinen  Arbeit  zur  anderen  weiter,  zu  Grösserem  fehlt  mir  der 
Mut.« 

Die  Beschäftigung  mit  der  neuesten  Zeit  hatte  nun  doch  eine  stark 
politische  Veranlassung:  den  Sturz  des  Fürsten  Bismarck.    Er,  der  die 


Zum  Gedächtnis  Bernhard  Erdinaunsdorffers  27 

Gänge  der  Geschichte  mit  so  heiterer  Buhe  betrachtete,  der  das  „sine 
ira  et  studio''  sein  Leben  lang,  so  weit  einem  Menschen  von  Fleisch 
und  Blut  dies  überhaupt  möglich  ist,  durchgeführt,  er  fühlte,  wie  in 
jenen  traurigen  Tagen  seine  politische  Leidenschaft  geweckt  wurde  durch 
den  jähen  Zorn  über  die  namenlose  Undankbarkeit,  mit  der  man  dem  ge- 
waltigen Schöpfer  der  deutschen  Einheit  sein  gigantisches  Werk  vergolten 
hatte.  Es  war  ein  echter,  ehrlicher,  hellauflodernder  ,furor  teutonicus^, 
der  ihn  nun  erfasste  und  veranlasste,  in  die  politische  Arena  herabzu- 
steigen. Kühn  und  unerschrocken  hat  er  nun  den  Kreuzzug  gepredigt 
und  es  gehörte  zu  den  stolzesten  Momenten  seines  Lebens,  da  er  mit 
den  Tausenden  des  badischen  Landes  jene  Wallfahrt  nach  Kissingen  an- 
trat und  in  Zeiten,  da  andere  furchtsam  schwiegen  und  in  armseliger 
Scheu  sich  zurückhielten,  dem  Kanzler  in  feurigen,  begeisterten  Worten 
das  Gelöbnis  der  Treue  und  unauslöschlicher  Dankbarkeit  darbrachte. 
Seine  Rede  in  Kissingen,  an  dem  heissen  Nachmittag  des  24.  Juli 
1892  war  in  der  That  eine  bedeutsame,  gewaltige  Kundgebung,  die 
nicht  blos  in  den  Herzen  der  Teilnehmer  fortleben  wird.  Nicht  minder 
stolze  und  trutzige  Worte  hat  er  an  jenem  1.  April  1897  in  Heidelberg 
gesprochen,  da  wir  das  Denkmal  Bismarcks  enthüllt.  Bei  diesen  Gelegen- 
heiten ist  die  tiefe,  innere  Verwandtschaft  mit  Treitschke,  dieses  heisse 
Feuer  politischer  Leidenschaft  in  hellen  reinigenden  Flammen  mächtig 
zu  Tage  getreten. 

Nun  ist  es  auch  bei  ihm  erloschen.  Bismarcks  Tod  hatte  ihm 
Schweninger  mit  den  Worten  telegraphiert:  „Gönnen  wir  dem  Einzigen 
die  Buhe!««  Auch  von  Bernhard  ErdmannsdörflFer  dürfen  wir  sagen: 
«Gönnen  wir  dem  Einzigen  die  Kühe!''  Alle  aber,  die  ihn  kannten  und 
ihm  nahe  gestanden,  werden  hinzufügen: 

„Dolce  nella  memoria!' 


Veltro,  Gross-Chan  und  Kaisersage. 


Von 

Alfred  BasBermanih 


Unter  den  vielen  Rätseln,  die  uns  Dante  in  seiner  Gommedia  zu 
raten  aufgibt,  bat  die  gebeimnisvoUe  Gestalt  des  grossen  Retters,  der 
da  kommen  soll,  immer  in  erster  Reihe  das  Interesse  der  Ausleger  in 
Anspruch  genommen.  Und  mit  Recht.  Denn  diese  mystische  Hoffqung, 
die  aus  dem  Jammer  und  der  Verderbnis  der  Gegenwart  zu  einer  ge- 
läuterten glücklichen  Zukunft  emporstrebt,  die  Hoffnung  auf  den  V  e  1 1  r  o, 
den  Windhund,  der  die  nimmersatte  Wölfin  in  die  Hölle  zurückjagen 
wird'),  auf  den  Gottgesandten,   den  apokalyptischen   DXV,  den   Dux, 

])  Inf.  1  V.  49.        E  cFuna  lupa,  che  di  tutte  brame 
Sembiava  carca  tieUa  sua  magrezza^ 
K  molte  genti  f^  giä  viver^grame. 

V.  94.        Che  questa  bestia,  per  la  quäl  tu  gride, 
Non  lascia  altrui  pasaar  per  la  sua  via, 
Ma  tanto  lo  impedisce  che  Vuccide, 

Ed  ha  natura  st  malvagia  e  ria 
Che  mai  non  empie  la  bramoM  voglia, 
E  dopo  ü  pasto  1ha  piü  fatne  ehe  pria. 

MoUi  8<m  gli  animdli  a  cui  s^ammoglia 
E  piü  aaranno  ancora,  infin  che  ü  Veltro 
Verra,  che  la  farä  morir  di  doglia. 

Questi  non  ciberä  terra  ne  peltro, 
Ma  sapienza  e  amore  e  virtute, 
E  sua  nazion  sarä  tra  ftltro  e  feltro, 

Di  queU^  umik  Italia  fia  saJute, 
Per  cui  inort  la  vergine  CammtUa, 
Eurialo  e  Turno  e  Niso  di  ferute, 

Questi  la  caccerä  per  ogni  vUla, 
Fin  che  Vavrä  rimessa  neW  infemo^ 
La  onde  invidia  prima  dipartiUa, 


Alfred  Bassermann:  Veltro,  Gross-Chan  iind  Kaisersage.  29 

der  die  Hure  —  die  entartete  Kirche  —  und  den  Riesen  —  den 
französischen  König  —  tödten  wird  ^),  gehört  zu  den  mächtigsten  Grund- 
tönen  des  Gedichts.  Aber  bis  jetzt  hat  keiner  der  vielen  Versuche  zur 
Aufhellung  des  Dunkels,  worein  der  Dichter  seine  Weissagung  gehüllt 
hat,  eine  allgemeinere  Anerkennung  zu  erringen  vermocht*).  Mein 
eigener  Erklärungsversuch,  den  ich  in  meiner  Übersetzung  des  Inferno  ^ 
unternahm,  hatte  keinen  besseren  Erfolg;  ja  er  fand  ganz  besonders 
wenig  Anklang.  Die  Kritiker  beachteten  ihn  kaum  oder  lehnten  ihn 
jedenfalls  ab,  und  Kraus  nannte  ihn  geradezu  , einen  zwar  sehr  alten, 
aber  darum  nicht  weniger  verfelilten  Einfall  **  ^).  Gleichwohl  blieb  ich 
TOD  der  Triftigkeit  meiner  Ansicht  fiberzeugt,  und  jetzt,  fast  zur  gleichen 
Zeit,  wo  mich  Pochhammer  in  seiner  Übersetzung  der  Divina  Com- 
media  ^)  mit  der  unerwarteten  Zustimmung  erfreut  hat,  er  halte  „dies 
sechshundertjährige  Dante-Rätsel^  durch  meine  Deutung  für  gelöst,  bin 
ich  auf  ein  neues  Beweisstuck  aufmerksam  geworden,  das  mir  geeignet 
scheint,  nicht  nur  meine  Deutung  des  Veltro  zu  stützen,  sondern  die 
ganze  Vorstellungsgruppe,  aus  der  der  Veltro  hervorgewachsen  ist,  in 
helleres  Lichs  treten  zu  lassen. 


Puig.  20.  V.  10.        MaUdetta  sie  tu,  antica  lupa. 

Che  piü  dt  tutte  Vcdtre  bentie  hat  preda, 
Per  la  tua  fame  senza  fine  cupa! 

0  cid,  nel  cui  girar  par  che  si  creda 
Le  condizion  di  quaggiii  irMtnutarai, 
Quando  verra  per  cui  queata  disceda? 

1)  Prg.  33  V.  S7.    Non  aarä  tutio  iempo  senza  reda 

Vaquüa  che  lasciö  le  penne  cU  carro, 
Per  che  divenne  mostro  e  poscia  preda; 

Ch*io  veggio  eertamente,  e  perö  il  narro, 
A  darne  iempo  giä  steUe  propinque, 
Sicure  d^ogni  intoppo  e  d*ogni  sbarro, 

Nel  quäle  un  Cinquecento  diece  e  cinque, 
Messo  di  Bio,  anc^derä  la  fuja 
Con  quel  gigante  che  con  lei  delinque. 

2)  cf.  Scartazzini,  Leipziger  Commentar  zu  den  Stellen  Inf.  1  V.  100  und 
Prg.  33  V.  48.  —  Derselbe,  Enciclopedia  Dantesca,  Milano  1896—99  zu  den  Ar- 
tikeln «Cinquecento  diece  e  cinque*  und  „Veltro".  —  Kraus,  Dante,  Berlin  1897 
p.  468  ff.  und  p.  734  ff. 

3)  Dante'B  Hölle,  Heidelberg  1892  p.  20—24. 

4)  Lit.-Blatt  für  german.  u.  rom.  Philologie  1893  p.  257. 

5)  Pochharomer,  Dante's  göttliche  Komödie  in  deutschen  Stanzen  frei  be- 
arbeitet, Leipzig  1901  p.  XLY. 


30  Alfred  ßassermami 

In  meiner  Inferno-Übersetzung  war  ich  auf  Grund  der  bekannten 
Ausführungen  Dantes  in  seiner  Schrift  De  Monarchia  ^)  zunächst  zu  der 
Auffassung  gelangt,  dass  Dante  mit  dem  Veltro  nur  seinen  idealen 
Weltkaiser  gemeint  haben  könne,  dem  er  dort  die  Aufgabe  zu- 
gewiesen hat,  als  allmächtiger  und  darum  wunschloser  Herr  der  Erde 
Friede,  Gerechtigkeit  und  Freiheit  aufrecht  zu  erhalten  und  dadurch 
das  Menschengeschlecht  in  den  Hafen  der  zeitlichen  Glückseligkeit  zu 
lenken.  Dieser  erste  Schritt  wird  von  vielen  anderen  Erklärern  in 
gleicher  Weise  gethan.  Dann  wirkt  aber  meist  der  Nachsatz  der  Veltro- 
Beschreibung  verwirrend  „«  sua  nazion  sarä  tra  fdtro  e  feltro,'*  das  von 
Vielen  als  geographische  Bestimmung,  von  Anderen  noch  willkürlicher 
gedeutet  zu  den  manchfachsten  Auslegungen  verleitete').  Mich  ver- 
anlasste eine  Stelle  bei  Villani  zu  einer  anderen  Deutung.  Dieser 
schreibt,  wo  er  von  dem  ersten  Auftreten  der  Tartaren  berichtet,  V. 
cp.  29:  „Ällora  si  congregarano  insietne  e  fecero  per  divina  visione 
loro  Imperadore  e  signore  uno  fabbro  di  pavero  stato,  che  avea  nome 
Cangius,  il  quäle  in  su  uno  povero  felfro  fu  levato  Imperadore; 
e  come  egli  fu  fatto  signore,  fu  soprannomato  Cane,  doh  in  loro  lin- 
guaggio  Imperadore,**  Das  Zusammentreffen  der  Wortgruppen 
feltro,  Cane  (=  Hund)  und  Imperadore  bei  Villani  und  feltro, 
Veltro  (=  Hund)  und  der  Weltkaiser  bei  Dante,  schien  mir  zu 
auffallend,  um  zufallig  sein  zu  können,  und  da  sich  mir  in  Marco 
Polo 's  Schilderungen  vom  Reich  der  Tartaren  und  ihrem  Gross-Chan 
das  Bild  eines  Weltherrschers  von  ebenso  staunenswerter  Machtfülle  als 
Weisheit  und  Regententugend  bot,  so  kam  ich  zu  der  Vermutung,  dass 
diese  Vorstellung  vom  Gran  Cane  der  Tartaren,  der  auf 
schlichtem  Filz  zum  Kaiser  erhoben  wurde,  auch  in 
Dantes  Bild  vom  Veltro  Eingang  gefunden  h a b e ,  wobei  ich 
aber  ausdrücklich  hervorhob,  dass  Dante  natürlich  nicht  den  wirklichen 
Dschingischan  der  Geschichte  vor  Augen  hatte,  sondern  nur  eben  jenen 
gewaltigen,  weisen  und  gerechten  Weltherrscher,  wie  ihn  die  Kunde  aus 
dem  fernen  Asien  schilderte^). 


1)  cf.  meine  Inferno- Übersetzung  p.  16  ff. 

2)  cf.  die  S.  29  Anm.  2  angeführten  Stellen  bei  Scartazzini  und  Kraus. 

3)  Die  Spur  einer  Ähnlichen,  wenn  auch  in  Einzelheiten  abweichenden  Auf- 
fassung findet  sich  schon  in  dem  Commentar  Boccaccio's,  der  sie  aber  auch  nicht 
versteht  und  kopfschüttelnd  bei  Seite  schiebt  (Comento  ed.  Milanesi,  Florenz  186J 
I.  p.  194):  Alcuni  aJtri  accostandosi  in  ogni  cosa  aüa  predetta  oppenione,  danno 
del  tra  feUro  e  fdtro  una  esposiiione  assai  peUegrina,  dicendo  sh  estimare  la  di- 
mostrazione  di  questa  mutazione,  ciot  dd  pertniUarsi  %  costumi  degli  uomini,  e  gU 


Veltro,  6ro88-Chan  und  Kaisersage  31 

Noch  ausfuhrlicher  als  bei  Villani  findet  sich  die  Erzählung  von 
der  Filzdecke  bei  der  tartariscben  Kaiser- Wahl  in  derHistoriaorientalis 
des  armenischen  Prinzen  und  späteren  Prämonstratenser-Mönches  Hai- 
thonus^),  die  Villani  selbst  als  Quelle  anführt.  Die  Stelle,  die  in 
mehrfacher  Beziehung  wichtig  ist  und  uns  noch  weiterhin  beschäftigen 
wird,  lautet  (cp.  16): 

Quufnque  istae  septem  Tartarorum  nationes  starent  sub  obedientia 
mcinot'um,  ut  superius  est  expressunty  accidit,  quod  quidam  homo  senex, 
paupeTf  faber  ferrarius '),  visionem  vidit  in  somnOy  militem  videlicet  totum 
aWum,  armatum  et  super  albo  equo  sedententy  qui  ipsunt  nomine  proprio 
appellavit  et  dixit:  Changie,  voluntas  Dei  immortalis  esty  qtwd  tu  Tar- 
tarorum sis  Rectory  et  Dominus  super  istas  ncUiones  Moglorsiy  et  quod 
per  te  a  Servitute  vicinorumy  in  qua  steterunt  diutius,  liberentur:   Et 

appetUi  da  avarizia  in  liberälüä,  doversi  comineiare  in  Tartariay  awero  neue 
imperio  di  meezo,  laddove  estimano  easere  adunaie  le  maggiori  riccheeze  e  rndti- 
tudini  di  iesori,  ehe  oggi  in  dlcuna  aUra  parte  sopra  la  terra  si  aappiano,  E  la 
rtigione  con  la  quäle  la  loro  oppenione  fortificano,  h,  che  dieono  essere  antico  costume 
degV  imperadori  de^  Tartari  (U  magnificenze  d^  quali  e  le  riccliezze  appo  noi  sono 
incredibÜi)  morendo,  essere  da  cUeuno  de*  loro  servidori  portato  sopra  un*  asta, 
per  la  eontrdda,  dove  muore,  una  pezza  di  feltrOy  e  colui  che  la  porta  andar  gri- 
dando:  eeco  cid  che  ü  cotale  imperadore  che  morto  hy  ne  porta  di  tutti  i  suoi  tesori: 
e  poichk  questa  grida  h  andata,  in  questo  feltro  inviluppano  il  morto  corpo  di 
qwUo  imperadore;  e  cosi  senza  alcun  ältro  ornamento  ü  sepeüiscono,  E  per  questo 
dieon  eosi:  questo  veUro,  eioi  edlui  ehe  prima  dee  dimostrare  gli  effetti  di  questa 
eostdlasioney  nascerä  in  Tartaria  tra  feUro  e  feUro,  cioh  regnante  alcuno  di  questi 
imperadori,  ü  quäle  regna  tra  fdtro  adoperato  nella  morte  del  suo  predecessorcy 
e  queüo  che  si  dee  in  lui  nella  sua  morte  adoperare,  —  Ich  vermute,  dass  noch  ein 
Zweiter  aus  der  Reihe  der  alten  Commentatoren  diese  Deutung  auf  den  Gross-Chan 
gekannt  hat,  wenn  er  sie  auch  ebenso  ablehnte  wie  Boccaccio.  In  Vemons  Ausgabe 
des  Benvennto  Rambaldi  I.  p.  58  steht  bei  der  ErkUrung  des  Veltro  zu  lesen: 
Nee  minus  ridieulum  videtur  quod  alii  dicunt,  quod  autor  hie  loquitur  de  magno 
anno.  «Anno"*  giebt  keinen  Sinn  und  scheint  mir  verschrieben  oder  verlesen  für  „cano" 
oder  «cane**.  —  Die  von  Boccaccio  erwähnte  Lanze  mit  dem  Filz  kehrt  auch  im  Reise- 
bericht des  Johannes  de  Piano  Carpini  (1246)  bei  der  Schilderung  der  tarta- 
riscben Toteübräuche  wieder  (Recueil  de  voyages  et  de  m^moires,  publik  par  la 
soci^  de  g^ographie.  Paris  1838.  Bd.  IV  p.  282):  Quando  aliquis  eorum  infirmatur 
ad  mortem,  ponitur  in  statione  ejus  una  hasta,  et  circa  ülam  filtrum  circumvoi- 
vitur  nigrum, 

l)Haithoni  Armeni  Historia  Orientalis,  quae  eadem  et  de  Tartaris  in- 
scribitnr.   1671,  herausgegeben  von  Andr.  Müller. 

2)  Dieser  mehrfach  überlieferte  Zug,  Dachingis-Chan  oder  Temudschin  sei  ein 
Sehmied  gewesen,  wird  von  d'Ohsson,  Histoire  des  Mongols,  Amsterdam  1852 
Bd.  I.  p.  36  Anm.  2  wie  folgt  erklärt:  Le  nom  de  Temoutschin^  qui  significj  en  mongol^ 

le  meiUeur  fer a  it^  confondu  acec  celui  de  Temourdjiy  qui  veut  dire, 

en  turCy  forgeron,  ce  qui  a,  sans  doute,  fait  croire  que  Tschinguiz-Khan  avait 
txerei  ce  mHier. 


32  •  Alfred  Bassermann 

dominabuntur  vicinis  eorum,  et  vectigalia^  quae  praestare  cansueverant, 
redpient  ab  eisdetn.  Changius  fuit  mcigna  jocunditate  repletuSj  audiens 
verbum  Dei:  Et  narravit  visionemj  quam  viderat^  univerm.  Sed  Dtices 
et  majores  istorum  noluerunt  credere  tnsioni:  imo  senem  quodammodo 
deridebant.  Nocte  vero  sequenti  praedicti  duces  viderunt  militem  album 
et  visionemf  sicut  senex  Changius  omnibus  reseraverat:  et  praeceptum  fuit 
eis  ex  parte  Dei  immortalis,  quod  obedirent  Ckangio  et  sua  mandata 
facerent  ab  omnibus  observari.  Undt  praedicti  Duces  et  majores  Septem 
nationum  Tartarorum  congregatis  populis  fecerunt  fieri  obedientiam  et 
reverentiam  Ckangio  superius  nominato  tanquam  eorum  Domino  naturali. 
Post  haec  vero  sedem  suam  statuerunt  in  medio  ipsorum, 
et  extendentes  quoddam  filtrum  nigerrimum  super  terram 
desuper  sedere  fecerunt  Changium^  et  Septem  Duces  ma- 
jores elevantes  illum  posuerunt  in  sedem  cum  magno  tripu- 
dio  et  clamorCf  et  vocaverunt  eum  Cham  primum  Impera- 
torem,  solennem  reverentiam  cum  genuflexionibus  eidem 
tanquam  imperatori  et  domino  facientes.  De  tali  vero 
solennitate ;  quam  Tartari  fecerunt,  qui  eorum  primum 
iniperatorem  et  Dominum  posuerunt,  et  de  filtro  nemo 
debeat  admirari,  quoniam  forte  pulchriorem  pannum, 
super  quo  ipsum  ponerent,  non  habebant:  Aut  erant  for- 
sitan  ita  rüdes,  quod  melius  vel pulckrius  facere  ignora- 
bant.  Sed  de  hoc  an  non  posset  aliquis  admirari,  quod 
cum  praedicti  Tartari  acquisiverunt  multa  regna  et 
divitias  infinitas  (quoniam  dominium  Asiae  tenent  et 
opes,  et  usque  ad  confines  Hungariae  dominantur)  nee 
propter  hoc  voluerunt  antiquam  consuetudinen  relin- 
quere,  sive  modum:  imo  oportet,  quod  confirmatione  im- 
peratoris  Tartarorum  ille  modus  totaliter  teneatur, 
quem  eorum  veteres  ab  initio  tenuerunt.  Et  ego  in  confir- 
matione imperatoris  Tartarorum  bis  personaliter  in- 
te rfuL 

Die  Verwendung  der  Filzdecke  hat  man  sich  hiernach  also  in  der 
Weise  zu  denken,  dass  der  designierte  Chan  sich  darauf  setzte  und  die 
sieben  Wahlfürsten  dann  am  Rand  anfassten  und  den  Chan  i  n  der  Filz- 
decke auf  den  Thronsessel  hoben.  Beachtenswert  ist  auch,  welches 
Gewicht  Haithon  darauf  legt,  dass  der  schlichte  alte  Brauch  auch  in 
den  späteren  Zeiten  des  Glanzes  beibehalten  worden  sei,  ein  Zug,  der  sich 
besonders  gut  dem  Bild  des  Veltro  einfügt :  der  Weltkaiser,  den  Dante 


Veltro,  Gross-Chan  und  Kaisersage  33 

erwartet,  bat  Dicht  wirklich  arm  zu  sein,  sondern  gerade  die  schranken- 
lose Fülle  seiner  Macht  und  seines  Besitzes  soll  es  ja  sein,  die  ihn 
wunschlos  macht,  sodass  er 

nan  ciberä  terra  ni  peltrOf 
Ma  sapienza  e  amore  e  virtute. 

Das  sind  die  Dokumente,  auf  die  sich  bisher  meine  Deutung  des 
Teltro  gestützt  hatte.  Neuerdings  bin  ich  nun  auf  ein  weiteres  Beweis- 
stück gestossen,  durch  das  meine  Auffassung  eine  überraschende  Be- 
stätigung und  Ausgestaltung  erfährt.  Es  ist  die  Schrift  des  Johannes 
von  Hildesheim  de  gestis  ac  trina  beatissimorum  trium  regum 
translatione ').  Die  Legende,  die  schon  Goethes  Interesse  erregte*), 
ist  zwischen  1364  und  1375  verfasst  und  berichtet  von  den  heiligen  drei 
Königen,  von  ihrem  Leben  und  Sterben  und  von  den  Schicksalen  ihrer 
Gebeine  mit  vielen  anmutigen  und  merkwürdigen  Abschweifungen  bis 
zur  Ankunft  der  heiligen  Reliquien  in  Köln.  Als  Hauptqnelle  will  der 
Verfasser  chaldäische  und  hebräische  Bücher,  die  in  Accon  in's  Fran- 
zösische übersetzt  worden  seien,  benutzt  haben;  Anderes  habe  er  aus 
sonstigen  Schriften,  aus  eigener  Wahrnehmung  und  aus  mündlichen 
Berichten  geschöpft.  Für  eine  Reihe  von  Stellen  ist  die  Benutzung  des 
Haithonus  unzweifelhaft^);  für  andere  hat  Zarncke  auf  den  Zu- 
sammenhang mit  den  Erzählungen  vom  Priester  Johannes  hingewiesen^); 
die  mündlichen  Berichte  mag  der  Verfasser  in  Avignon  und  Rom  ver- 
nommen haben,  wo  er  sich  nachgewiesenermassen  aufgehalten  hat  und 
wo  die  weitausgreifenden  Beziehungen  der  Curie  auch  das  Morgenland 
dem  Blicke  näher  rückten. 

Im  44.  Kapitel  nun  kommt  Johannes  von  Hildesheim,  nachdem  er 
die  Nestorianer  und  ihre  Ketzerei  erwähnt  hat,  folgendermassen  auf  die 
Tartaren  zu  sprechen^): 

1)  Erwähnt  bei  Grimm,  Deutsche  Mythologie,  4.  Au8g.  II.  p.  800  Anm.  Mir 
lag  sie  in  der  Ausgabe  von  Köpke  vor  (Mitteilungen  aus  den  Handschriften  der 
Ritter-Akademie  zu  Brandenburg  a.  H.  1878.  Progr.  Nr.  55),  wo  sich  auch  ausfQhr- 
liche  Angaben  Ober  das  Werk  und  seinen  Verfasser  finden. 

2)  Sftmtl.  Werke,  Stuttgart  1895  Bd.  36  p.  192  ff. 

3)  So  die  Arche  Nohae  auf  dem  Berggipfel  Hai  th  on  cp.  9.  —  Joh.  v.  Hilde sh. 
cp.  41,  das  Land  der  Finsternis  Hamsem  Haithon  cp.  10.  —  Joh.  v.  Hilde  sh. 
1.  c,  wo  nur  der  Name  Heysensis,  Henyssen,  Henysseni  lautet,  sowie  die  hier  noch 
naher  ea  besprechende  Stelle. 

4)  Abhandlungen  der  philol.-hist.  Klasse  der  sächs.  Gesellschaft  der  Wissen- 
acbaften  VIII.  (1883)  p.  117  f. 

5)  Ich  gebe  den  Text,  wie  ihn  Köpke  nach  Yergleichung  der  Brandenburger 
Handschrift  mit  zwei  alten  Drucken  hergestellt  hat. 

NEUE  HEIDELB.  JAHRBUECHER  XI.  3 


34  Alfred  Bassermatiii 

Unde  anno  domini  M^CC^LXVlII^deus  homines  rüdes  et  vües, 
qui  in  istorum  Nestorinorum  terris  pastores  (erant),  contra  hos  Nesto- 
rinos  incitant  [wohl  incitat],  qui  se  Tartaros  vocaverunt  et  sibi  fahr  um 
in  capitaneum  elegerunt^  qui  tunc  potenter  eruperunt  et  omnes  terras  et 
regna  Nestorinorum  destruxerunt  et  ipsos  juvenes  et  senes  absque  aliqua 
misericordia  interfecerunt  et  deleverunt,  et  omnes  eorum  civüates  et  vilUis 
et  castray  terras  et  regna  ceperuntj  in  quibus  nunc  Tartari  habitant  et 
regnant.  Et  ceperunt  Cambalech  et  in  XXX  (diebus)  oppugnant  Bai- 
dachf  in  qua  fuit  Sarracenorum  calipha  successor  Machotnefi  in  eorum 
lege,  sicut  papa  successor  sancti  Petri  et  ita  per  omnia  ei  obediverunt. 
Et  ^sum  caüpham  fame  occiderunt  et  postmodum  Sarraceni  calipham 
non  habuerunt  nee  habent  usque  in  praesentem  diem.  Et  etiam  oppug- 
naverunt  Thauris  et  (hae)  tres  civitates  sunt  meliores  et  ditiores  quam 
totum  regnum  Soldani.  Nam  de  fortitudine  et  pulchritudine  civitatis 
Cambalech^)  et  divitiis  nuUus  plene  potest  enarrare;  et  Baldach  est 
civit4Mf  quae  ab  antiquo  Babylonia  (magna  vocabatur,  in  qua  fuit  turris 
Babel,  Sed  est  a  loco,  quo  quondam  Babylonia)  stetit  propter  paltides, 
bestias  et  vermes  periculosas  ad  dimidium  miliariae  translata.  Et  civitas 
Thauris*)  ab  antiquo  Susis  vocabatur  in  qua  regnabat  Ahasverus  rex, 
et  in  ipsa  civitate  in  templo  Tartarorum  est  arbor  arida, 
de  qua  plurima  narrantur  in  universo  mundo,  quae  ultra 
modum  cum  stipetidiariis  et  armigeris  custoditur  et  aliis  diversis  seris, 
foTis  et  muris  est  quam  multipliciter  serata  et  inclusa,  nam  ab  antiquo 
in  Omnibus  partibus  orientis  fuit  consuetudinis  et  est^ 
quod  si  quis  rex  vel  dominus  vel  populus  tam  potens 
efficitur,  quod  scutum  vel  clipeum  suum  potenter  in 
illam  arborem  pendet,  tunc  Uli  regi  vel  domino  in  Omni- 
bus et  per  omnia  obediunt  et  intendunt;  sed  si  aliquis  rex  ml 
dominus  vel  populus  illam  civitatem  bene  caperet  et  oppugnaret  et  in 
illam  arborem  scutum  vel  clipeum  pendere  non  posset,  tunc  ipsis  non 
obedirent.  Et  ipsam  civitatem  (omnes)  ibidem  maxime  defendunt  quo- 
usque  violenter  ab  ipsa  depellantur.  Nam  ad  obtinendam  totam  terram 
aliqua  civitatis  nim  Thauris  non  quaeritur  circumvallare ;  et  nunc 
dominus  Tartarorum  in  Ulis  partibus  magnus  canis  im- 
perator  Cathagiae  vocatur,  et  nunc  non  est  potentior 
maior  et  ditior  dominus  in  toto  mundo,  Nam  deus  sibi  brevibus 


1)  Peking  cf.  Le  livre  de  Marco  Polo  ed.  Pauthier,  Paris  1865  J.  p.  265. 

2)  oder  Tavris,  heute  Taebris,  wichtiger  Stapelplatz  der  Tom  schwarzen  Meer 
nach  Persien  fahrenden  Karawanenstrasse,  cf.  Pauthier  I.  p.  59. 


Veltro,  Gross-Chan  nnd  Ralsersage  35 

femporibus  terras^  provinciaSj  gentes  et  regna,  quibus  natus  (iratus)  fuit 
dominus,  tradidit  et  stdjecit  prapter  peccata  earum,  Nam  ipse  idem 
imperator  «w6  se  habet  et  regnat  in  omnibus  regnis,  proviniciis  et  terris, 
in  quibus  Nabuchodonosor,  Darius,  Arphaxat,  Ahasverus  et  Romani  in 
Oriente  ab  antiquo  regnabant.  Et  ipse  imperator  Tartarorum 
multum  favet  in  terris  et  regnis  suis  Christianis  et  fides 
Christiana,  quae  in  omnibus  praedictis  terris  per  infedeles  et  haereticos 
et  Nestorinos  fuit  abolita  et  oblita,  nunc  per  fratres  minores  et  Augusti- 
nenses  et  praedieatores  et  alios  doctores  de  novo  incipit  reflorere. 

Die  Stelle  geht  von  der  Tradition  aus,  die  wir  schon  kennen,  der 
erste  Kaiser  der  Tartaren  sei  ein  Schmied  gewesen ;  auch  weiterhin 
finden  sich  wieder  Anklänge  an  Haithonus;  bei  dem  Hungertod  des 
Ehalifen  kehren  sogar  fast  die  gleichen  Worte  wieder ') ;  an  Marco  Polos 
Auffassung  erinnert  die  Gestalt  des  allmächtigen  christenfreundlichen 
Gross-Chans.  Dazwischen  aber  treffen  wir  auf  ein  überraschendes  neues 
Element:  den  dürren  Baum  als  Grund  der  Weltherrschaft 
des  Gross-Chans').  Dieser  dürre  Baum,  an  dem  der  Schild  des 
Herrschers  aufgehängt  wird,  ist  ein  hervorstechender  Zug  der  mittel- 
alterlichen Eaisersage,  und  es  leuchtet  ein,  dass  seine  Erwähnung 
im  Zusammenhang  mit  dem  Tartaren-Eaiser  für  meine  Deutung  des 
Veltro  aufs  Schwerste  ins  Gewicht  fallen  muss.  Aber  uni  die  ganze 
Tragweite  zu  ermessen,  ist  es  erforderlich  auf  das  Wesen  dieser  Über- 
lieferung näher  einzugehen. 

Die  Eaisersage  hat  eine  lange  vielverschlungene  Geschichte,  die 
aber  durch  eine  Reihe  eingehender  Arbeiten  —  namentlich  seitdem  das 
neue  Eaiserreich  erstanden,  wendete  sich  das  Interesse  dieser  Frage 
wieder  zu  —  im  Grossen  und  Ganzen  jetzt  klar  vor  uns  liegt'). 


1)  Haithon  cp.  26,  nee  unquam  üaliphus  postea  exstetit  in  Baldach. 

2)  Dass  der  dQrre  Baum  in  Thauris  steht,  ist  der  Descriptio  Orientalium  par- 
tinm  des  FraDiiskaDerbniders  Odoricns  de  Foro  Julii  (f  1331)  eDtnommen,  der 
fast  mit  den  gleichen  Worten  erzählt:  De  ista  contrata  recedens  me  transtuU  Thau- 
ris, eivitatem  magnam  et  regalem  que  Susis  antiquitus  dicebatur.  In  ista  ut  dicitur 
est  Arbor  Sicca,  in  una  moschäa  et  [=  id  est]  in  una  ecclesia  Sarracenorum. 
(Yiile,  Cathay  and  tbe  way  thither,  London  1866.  Appendix  I.  p.  II.)  Doch  ist 
Ton  den  sagenhaften  Zflgen  dort  nichts  erwähnt 

3)  Ans  der  reichen  Litteratur  cf.  insbesondere  Wächter,  Friedriche,  Ersch 
nnd  Grober  Encyk).  1849.  XLIX  p.  273  ff. —  Mass  mann,  Eaiserchronik,  Qaedlin- 
bnrg  und  Leipzig  1854.  III.  p.  lltSff.  —  Voigt,  die  deutsche  Kaisersage,  Sybels 
hlBtor.  Zeitschr.  1871.  XXYI,  p.  131  ff.  —  Zezschwitz,  der  Kaisertraam  des  Mittel- 
alters, Leipzig  1877;  Vom  römischen  Kaisertum  deutscher  Nation,  Leipzig  1877.  — 
V  Alter,  die  Secte  von  Schwfthisch-Hall  und  der  Ursprung  der  deutschen  Kaiseisage, 

3* 


36  Alfred  Bassermann 

Ihre  ersten  Keime  reichen  zurück  in  die  christlichen  Weis- 
sagungen vom  Ende  aller  Dinge,  in  die  Weissagung  des 
zweiten  Thessalonicher  Briefs  (cp.  2  V.  3  ff.)  vom  Kommen  des  Anti- 
christ und  in  die  der  Apokalypse  (cp.  11,  13  u.  17)  vom  Tier  des  Ab- 
grunds. Als  letztes  der  vier  Weltreiche  Daniels  (cp.  7)  vor  dem 
Kommen  des  Menschensohns  galt  das  römische.  Es  musste  also  zum 
Schluss  ein  letzter  grosser  römischer  Kaiser  und  der  Anti- 
christ zusammentreffen.  Zunächst  als  Gegensätze  gedacht,  verschmolzen 
sie  in  der  mächtigen  Gestalt  des  Nero  in  eine  einzige  geheimnisvolle 
Vorstellung.  Wie  sich  das  Volk  von  Rom  nach  ihm  als  dem  letzten 
rechten  Kaiser  aus  dem  Julischen  Hause  zurücksehnte,  sein  Grab  noch 
lange  mit  Blumen  schmückte  und  seine  Auferstehung  erhoffte,  so  war  er 
für  die  Christen,  die  unter  ihm  gelitten  hatten,  das  Tier,  das  gewesen 
ist  und  nicht  ist  und  wiederkommen  wird  aus  dem  Abgrund^).  Seit 
Constantins  Bekehrung  trat  dann  der  letzte  Kaiser  als  Herr  der 
Christenheit  dem  Antichrist  wieder  feindlich  gegenüber,  und  urie  der  Sitz 
des  Kaisertums  von  Rom  nach  Byzanz  verlegt  war,  so  suchte  man  auch 
den  Antichrist  unter  den  Heiden  und  Juden  des  Ostens,  und  den  ganzen 
Schauplatz  des  letzten  Dramas  dachte  man  sich  im  Morgenland.  Als 
weiteres  Element  kam  die  Vorstellung  vom  Kreuz  Christi  hinzu,  das 
namentlich  seit  seiner  Auffindung  durch  die  Kaiserin  Helena  in  Ostrom 
eine  besondere  Verehrung  genoss,  und  in  H  e  r  a  k  1  i  u  s ,  der  durch  glänzende 
Siege  Jerusalem  von  der  Herrschaft  der  Perser  befreite  und  das  geraubte 
Kreuz  dorthin  als  demütiger  Pilger  zurückführte,  verwirklichte  sich  noch 
einmal  das  Ideal  des  mächtigen  christlichen  Kaisers ').  Darnach  gestaltete 
sich  die  Urvorstellung  der  Kaisersage  folgendermassen :  W e n n 
das  Ende  der  Dinge  herannaht,  führt  ein  letzter  (byzan- 
tinischer) Kaiser  das  Reich  noch  einmal  auf  die  Höhe 
der  Macht,  besiegt  die  Heiden  und  befreit  Jerusalem. 
Dann  aber  legt  er  auf  Golgatha  Scepter  und  Krone 
am  Fuss    des   Kreuzes    nieder,    das    mit    diesen    Reichs- 


Zeitschr.  für  KirchengeBch.  1880.  IV.  p.  360.  —  Haflssner,  die  deutsche  Kaiser- 
sage, Progr.  Bruchsal  1883.  —  Fulda,  die  Kiifh&usersage,  Sangershausen  und  Leip- 
zig 1889.  —  Grauert,  zur  deutschen  Kaisersage,  hist.  Jahrb.  1892  p.  100  ff.  — 
Schröder,  die  deutsche  Kaisersage,  Heidelberg  1893.  —  Kampers,  Kaiser- 
prophetieen  n.  Kaisersagen,  hist.  Abhdig.  herausg.  von  Heigel  und  Grauert  1895  VIIL 

1)  Sueton,  Nero  cp.  57.  —  Augustia,  de  civitate  Dei  XX.  cp.  19.  — Voigt 
I.e.  p.  143.  —  Döllinger,  Christentum  und  Kirche,  Regensburg  1868  p.  285 ff., 
425  ff. 

2)  Zezschwitz,  Kaisertum  p.  57  f. 


Veltro,  Gross-Ghan  und  Kaisersage  37  1 


insignien  in  den  Himmel  entrückt  wird.  Hierauf  brechen 
Gog  uud  Magog  los,  der  Antichrist  kommt  und  herrscht 
seine  Zeit,  bis  er  gestürzt  wird,  Christus  in  den  Wolken 
erscheint,  und  der  jüngste  Tag  beginnt. 

Diese  Vorstellung,  die  uns  in  den  Methodius-Weissagungen 
(zwischen  676  und  678)  überliefert  ist'),  hat  dann  im  Abendland,  den 
veränderten  Verhältnissen  entsprechend,  zunächst  insofern  eine  Umbildung 
erfahren,  dass  an  Stelle  des  byzantinischen  Kaisers  ein  Frankenkönig 
tritt,  der  das  zerrüttete  römische  Reich  noch  einmal  zusammenfasst  als 
maximu8  omnium  regum  et  tUtimus  und  dann,  postquam  regnum  suum 
fideUter  gubemaveritj  ad  ultimum  Hierosolymam  veniet  et  in  monte  Oliveti 
sceptrum  et  coronam  suam  deponet.  So  in  der  für  die  Königin  Oerberga, 
die  Gemahlin  des  Karolingers  Ludwig  IV  (d*Outremer)  vor  954  ver- 
fassten  Schrift  des  späteren  Abtes  Adso  von  Moutier-en-Der*). 

Und  wieder  zweihundert  Jahre  später  spiegelt  sich  abermals  der 
politische  Umschwung  in  der  Sage  wieder,  und  der  deutsche  Kaiser 
rückt  ein  in  die  Vertretung  der  christlichen  Welt  beim  Ende  der  Dinge. 
Ihm  ist  diese  Rolle  in  dem  merkwürdigen  Ludus  de  Antichristo^) 
übertragen,  und  zwar  lässt  das  überraschend  sicher  geführte  und  von 
einem  frischen  Patriotismus  durchwehte  Drama  deutlich  erkennen,  dass 
der  Kaiser,  der  den  Frankenkönig  mit  dem  Schwert  demütigt,  von  den 
Königen  Griechenlands  und  Jerusalems  sich  huldigen  lässt  und  den 
König  Babylons  von  Jerusalem  zurückschlägt,  kein  anderer  ist  als  F  r  i  e  d- 
rich  Barbarossa  in  der  Fülle  seiner  Herrschermacht. 

Mit  der  Spaltung,  die  der  Kampf  der  Staufer  mit  den  Päpsten  im 
dreizehnten  Jahrhundert  in  die  politischen  Anschauungen  brachte,  kam 
ein  eigentümliches  Schwanken  auch  in  die  Vorstellungen  der  Kaisersage, 
während  sich  gleichzeitig  die  politische  und  persönliche  Rich- 
tung immer  schärfer  herausarbeitete.  Die  dämonische  Gestalt  Fried- 
richs II.  war  wie  keine  andere  angethan,  in  gleicher  Weise  bei  den 
Anhängern  des  Kaisertums  wie  bei  denen  des  Papsttums  die  äussersten 
Erwartungen  zu  erwecken  und  zu  verkörpern,  und  als  er  nun  aus  der 
Fülle  seiner  Macht  und  Thätigkeit  heraus  wider  alles  Voraussehen  durch 


1)  Döllinger,  der  Weissagungsglaube  und  das  Prophetentiim,  Riehls  hist. 
Taschenbuch  1871  p.  304.  -  Gutschmid,  Sybels  histor.  Zeitschr.  1879  XLI  p.  149 ff. 
—  HaflBsner  J.  c.  p.  21  f.  —  Schröder  1.  c.  p.  8. 

2)  Migne,  Patr.  lat.  Gl.  p.  1295.  —  Meyer,  der  Ludus  de  Antichristo,  Sitz- 
nngsberichte  der  pbilos.-philolog.-hist.  Klasse  der  bayr.  Akademie  der  Wissenschaften 
1882  I.  p.  4f.  —  Schröder  I.e.  p.9f. 

3)  cf.  die  citierten  Abhandlungen  von  Zezschwitz  und  Meyer. 


38  Alfred  Bassermaim 

einen  jähen,  zudem  von  seiner  Umgebung  noch  einige  Zeit  verheimlichten 
Tod  dahingerafft  wurde,  so  war  es  ganz  natürlich,  dass  die  Welt  an 
diese  Thatsachen  nicht  glanhen  mochte.  Wie  einst  von  Nero  so  hiess 
es  auch  von  Friedrich,  er  sei  nicht  gestorben,  sondern  halte  sich  nur 
verborgen  und  werde  einstens  wiederkommen,  und  dieser  Gedanke  war 
so  lebendig,  dass  wiederholt  falsche  Friedriche  auftreten  und  in 
weiteren  Kreisen  Glauben  finden  konnten ').  Und  ganz  von  selbst  ver- 
wuchs diese  Vorstellung  mit  der  eschatologischen  Kaisersage.  Aber  sie 
bekam  dabei  zweierlei  Gestalt.  Die  Hoffnung  der  Kaiserpartei  lieh 
Friedrichs  Züge  dem  letzten  Kaiser,  der  vor  dem  Ende  der  Welt  des 
Beiches  Herrlichkeit  noch  einmal  aufrichten  sollte;  der  Hass  und  die 
Furcht  der  Päpstlichen  sah  ihn  als  Antichrist  wiederkommen  und  das 
Mass  seiner  Frevel,  mit  denen  er  bei  seinen  Lebzeiten  die  Kirche  heim- 
gesucht hatte,  voll  machen  *).  Dabei  wurde  aber  die  Thätigkeit  Friedrichs 
von  beiden  Auffassungen  doch  in  gewisser  Beziehung  ähnlich  gedacht: 
beide  erwarteten  von  ihm  ein  scharfes  Vorgehen  gegen  Kirche 
und  Geistlichkeit;  nur  war  dies  eben  in  den  Augen  der  Kaiser- 
lichen ein  höchlich  gebotenes  heilsames  Beformwerk,  in  den  Augen  der 
Päpstlichen  eine  teuflische  frevelhafte  Verfolgung  des  heiligen  christlichen 
Glaubens.  Die  päpstliche  Seite  dieser  Auffassung  wurde  hauptsächlich 
ausgebildet  und  verbreitet  durch  die  Lehren  und  Weissagungen  der 
Joachiten,  der  franziskanischen  Anhänger  des  Abtes  Joachim  von 
Floris  (t  1202),  der  kaiserliche  Gedanke  fand  seinen  scharfen  Ausdruck 
in  der  Secte  der  Ketzer  von  Schwäbisch-Hall'). 


1)  Jan  Enenkels  Weltchronik,  Vers  895 if.  Zeitschr.  fQr  deutsches  Alter- 
tum V.  p.  292.  —  Johannis  Vitodurani  Cbrooicon,  ed.  von  Wyss,  Archiv  für 
Schweizer  Geschichte  XI.  p.  10.  —  Chronik  des  Salimbene  (Monum.  hist.  ad.  prov. 
Pannensem  et  Placentinam  pertinentia  III)  p.  57f.,  107,  166,  307  f.  —  Jamsilla, 
Muratori  Scr.  VIII.  p.  589.  —  Schröder  I.  c.  p.  Uff.  —  Brosch,  die  Friedrichsage 
in  Italien,  Sybels  hist.  Zeitschr.  XXXV.  p.  17  ff.  bezweifelt  zwar  das  Vorhandensein 
einer  wirklichen  Volkssage  in  Italien,  aber  Salimbene  und  Jamsilla  weisen  mindestens 
die  Elemente  und  Vorbedingungen  auf,  aus  denen  die  Sage  sich  gebildet  hat 

2)  Dieser  Umstand  kann  zur  Erklärung  der  sonst  so  seltsamen  Mitteilung  in 
dem  Dante-Comnientar  des  Petrus  Allegheiii  (Florenz  1846  p.  41)  dienen,  von  Einigen 
werde  der  Veltro  auf  den  Antichrist  gedeutet.  Es  ist  eben  die  kirchliche  Kehrseite 
zu  der  kaisertreuen  Auffassung  der  Staufer-Er Wartung. 

3)  Schröder  I.  c.  p.  17 ff.  —  Fnr  die  Wirkung  von  Friedrichs  II  Tod  in 
Italien  cf.  besonders  die  angeführten  Stellen  des  Salimbene.  —  Fra  Dolcinos 
Lehren  haben  eine  gewisse  Ähnlichkeit  mit  den  oben  erwähnten  Ghibellinischen  Er- 
wartungen, kommen  aber  um  deswillen  hier  nicht  in  Betracht,  da  er  nicht  auf  die 
Wiederkehr  Friedrichs  II.,  sondern  auf  den  lebendigen  Friedrich  von  Aragonien  seine 
Kaiserhoffnungen  setzt;  cf.  Muratori  Scr.  IX  p.  485.  u.  453. 


Yeltro,  OroBS-Cfaan  und  Kaisersage  39 

Dieser  kirchlich-politische  Zwiespalt  machte  sich  auch  noch  in 
anderer  Weise  in  der  WeiterbilduDg  der  Kaisersage  geltend.  Adsos 
Weissagung,  die  den  letzten  Kaiser  in  einem  karolingischen  Franken- 
könig erwartet  hatte,  war  auch  später,  als  bei  diesem  Geschlecht  nicht 
mehr  die  Kaiserwürde  war,  nie  ganz  in  Vergessenheit  geraten.  Im 
Entechrist  (yom  Ende  des  zwölften  oder  Anfang  des  dreizehnten  Jahr- 
hunderts^) ist  es  auch  noch  der  Vranchin  chunic  einer^  der  kommen 
soll,  und  bei  Jordanus  von  Osnabrück  (1280)^)  finden  wir  wieder  eine 
in  Deutschland  verbreitete  Weissagung  erwähnt,  „es  werde  aus  den  Karl- 
ingen, das  heisst  aus  dem  Stamm  des  Königs  Karl  und  dem  Haus  des 
Königs  von  Frankenland  ein  Kaiser  erweckt  werden  mit  Namen  Karl, 
der  Fürst  und  Herrscher  von  ganz  Europa  sein  und  Kirche  und  Beich 
reformieren  werde,  aber  nach  ihm  werde  es  keinen  anderen  Kaiser  mehr 
geben.**  In  diesem  letzten  Bericht  ist  zugleich  jener  anderen  Weis- 
sagung gedacht  von  „dem  sündigen  Spross  aus  dem  Samen  des  Friedrich 
mit  Namen  Friedrich,  der  die  Geistlichkeit  in  Deutschland  und  selbst 
die  römische  Kirche  tief  erniedrigen  und  heftig  bedrängen  werde".  Aber 
beachtenswert  ist  es,  dass  doch  auch  von  Karl  eine  Beformation  der 
Kirche  erwartet  wird,  die  eben  damals  selbst  von  den  päpstlich  Gesinnten 
als  wünschenswert  anerkannt  wurde.  Nachdem  sich  nun  das  Papsttum 
im  Kampf  mit  den  Staufern  mehr  und  mehr  gewöhnt  hatte,  sich  auf 
den  französischen  König  als  seinen  berufenen  Yertheidiger  gegen  die 
Ansprüche  des  Kaisers  zu  stützen,  bis  es  schliesslich  in  das  vollkommene 
Schutz-  und  Abhängigkeitsverhältnis  der  Avignonesischen  Zeit  hinüber- 
g^litten  war,  so  knüpfte  die  französisch-päpstliche  Bicht- 
u  n  g  an  diese  Karls-Sage  an  und  übertrug,  mit  ausgesprochen  nationaler 
Tendenz  einem  König  von  Frankreich  mit  Namen  Karl  die 
Bolle  des  letzten  Kaisers,  während  ihm  ein  deutscher  Fried- 
rich aus  F  riedrichs  II.  Geschlecht  als  Antichrist  gegenüber 
gestellt  wurde.  Dieser  Friedrich  werde  zuerst  Alles  verwüsten,  die  Welt 
im  Bunde  mit  drei  falschen  Päpsten  in  Verwirrung  bringen  und  selbst 
den  König  Karl  gefangen  setzen;  dann  aber  werde  dieser  von  Gott 
wunderbar  befreit,  von  dem  „sancto  Angelico  pastore"  mit  Uebergehung 
der  deutschen  Kurfürsten  zum  Kaiser  gekrönt,  gemeinsam  mit  dem 
Papst  die  Kirche  reformieren  und  das  gelobte  Land  wiedergewinnen, 
worauf  die  Bekehrung  der  Juden,  Griechen  und  anderen  Ungläubigen 

1)  Schröder  I.e.  p.  11.  —  Hoffmann  Yon  Fallersleben,  Fundgruben 
II,  110. 

2)  Schröder  I.e.  35  f. 


40  Alfred  Bassennann 

beginnt.  Diese  französische  Deutung  der  Eaisersage,  die  schon  in  einer 
Weissagung  des  Franziskaners  J e a n  de  la  Bochetaillade  von  1356 
anklingt^)  und  in  der  Schrift  des  Bruders  Telesphorus^)  von 
Cosenza  zu  Ende  des  vierzehnten  Jahrhunderts  die  vorstehende  scharfe 
Prägung  erhalten  hat,  rief  in  Deutschland  eine  entschiedene  Beaktion 
hervor,  die  Vision  des  Gamaleon^),  deren  Inhalt  uns  in  einer  Predigt 
des  Johann  Wünschelburg  von  Amberg  zu  Anfang  des  fünfzehnten 
Jahrhunderts  überliefert  ist.  Diese  Prophezeiung  bildet  das  volle  Wider- 
spiel der  französischen.  Die  Bollen  der  beiden  Kaiser  sind  geradezu 
vertauscht.  Der  Kaiser  „de  campo  lilii*'^  also  der  französische,  in  rotem 
Qewand,  mit  blutigem  Schwert,  wird  besiegt  und  getödet  von  dem  deut- 
schen „de  Alamania  alta,  id  est  Bheno*',  nachdem  der  Patriarch  von 
Mainz  zum  deutschen  Papst  gekrönt  worden  ist;  Born  und  der  päpst- 
liche Stuhl  geraten  in  Missachtung;  die  geistlichen  Güter  werden  ein- 
gezogen und  die  Priester  totgeschlagen.  Es  ist,  wie  Zezschwitz^)  treffend 
sagt,  ein  Weissagungskrieg  zwischen  der  Friedrichs-  und  Karls-Sage, 
und  wenn  die  beiden  uns  vorliegenden  Fassungen  auch  beträchtlich 
später  sind  als  Dante,  so  haben  sie  für  uns  doch  um  deswillen  besondere 
Bedeutung,  weil  sie  die  Elemente  der  päpstlich-französischen  Gegner- 
schaft des  Kaisers  klar  entwickelt  zeigen,  die  im  Keim  schon  in  den 
früheren  Stadien  vorhanden  sind  und  die  wir  auch  bei  Dante  wiederfinden 
werden. 

Während  in  der  Wirklichkeit  der  Partei  des  Karl  der  Sieg  ver- 
blieb, behauptete  auf  dem  Gebiet  der  Sage  die  Gestalt  Friedrichs  den 
Vorrang,  vielleicht  gerade  darum,  weil  sich  in  ihr  eine  unerfüllte  Sehn- 
sucht des  Volkes  verkörperte,  und  die  mittelalterliche  Phantasie,  die 
sich  mit  Vorliebe  in  mystische  Träume  versenkte  und  ihr  Sehnen  und 
Hoffen  in  das  Gewand  von  Prophetenweisheit  kleidete,  wurde  nicht  müde, 
den  Mythus  immer  reicher  auszugestalten. 

In  der  zum  Jahr  1348  von  Johannes  von  Winterthur*) 
berichteten  Fassung  der  Sage  findet  nicht  nur  der  Hass  gegen  die 
Pfaffen  einen  hochgesteigerten  Ausdruck :  die  Geistlichen  wird  der  Kaiser 
so  grausam  verfolgen,  dass  sie  ihre  Tonsuren,  wenn  sie  sonst  nichts 

1)  V.  Bezold,  zur  deutschen  Kaisersage,  Sitzungsb.  der  philos.-philol.-hist. 
Kl.  d.  bayr.  Akad.  d.  Wisseosch.  1884  p.  564 f.  —  Kampers,  bist.  Jabrb.  1894  p.  796. 

2)  Y.  Mosheim,  Ketzergescbicbte,  p.  347fF.  —  v.  Bezold  I.e.  p.  565  ff.  — 
Kampers,  Kaiserprophetieen  p.  167 f.  u.  235 f. 

3)  V.  Bezold,  I.e.  p.  570f.  und  604  f.  —  Schröder  I.e.  p.  37f. 

4)  Kaisertraum  p.  25. 

5)  Johannis  Vitodurani  Chronieon,  1.  c.  p.  249  f.  —  Sehröder  I.  e.  p.  20f. 


Veltro,  Gross-Chaii  und  Kaisersage  41 

zum  Bedecken  haben,  mit  Kuhmist  zustreichen,  damit  man  die  Glatze 
nicht  sieht;  sondern  daneben  klingen  auch  soziale  Reform-Ideen  an: 
arme  Mädchen  und  Frauen  verheiratet  er  mit  reichen  Männern  und 
umgekehrt;  Nonnen  und  Beguinen  lässt  er  Ehemänner  nehmen,  Mönche 
Ehefrauen;  Unmündigen,  Waisen  und  Witwen  verschafft  er  wieder,  all 
was  ihnen  genommen  worden,  und  Jedermann  lässt  er  sein  volles  Recht 
werden.  In  dem  Schlussakte  aber,  dem  Zug  nach  dem  heiligen  Land, 
finden  wir  zum  ersten  Mal  neben  dem  Oelberg  den  dürren  Baum  ge- 
nannt: nachdem  Friedrich  die  Eaisergewalt  wieder  übernommen  und 
gerechter  und  ruhmreicher  geführt  als  ehedem,  wird  er  mit  grosser 
Heeresmacht  über  See  gehen  und  auf  dem  Oelberg  oder  am  dürren 
Baum  dem  Reich  entsagen. 

Der  dürre  Baum')  ist  seitdem  ein  ständiger  Zug  in  der  Kaiser- 
sage, wobei  sich  nur  insofern  eine  Schwankung  zeigt,  dass  er  bald 
lediglich  als  Stätte  genannt  wird,  wo  der  Kaiser  dem  Reich 
entsagt  und  die  Insignien  niederlegt,  wie  bei  Johannes  von  Winter- 
thur,  bald  auch  als  Symbol  der  Weltherrschaft  erscheint,  an 
dem  die  siegreiche  letzte  Heerfahrt  ihr  Ziel  findet  und  an  dem  in  der 
Regel  der  Kaiser  zum  Zeichen  seines  vollkommenen  Sieges  seinen  Schild 
aufhängt,  worauf  der  Baum  neu  ergrünt.  In  dieser  Auffassung  finden 
wir  den  Baum  besonders  entschieden  betont  in  einem  ebenfalls  um  die 
Mitte  des  vierzehnten  Jahrhunderts  entstandenen  Meisterlied*), 
welches  weissagt,  dass  in  der  Zeit  der  höchsten  Verderbnis  und  Zwie- 
tracht der  Kaiser  Friedrich  kommt, 

der  her  und  auch  der  tnilt; 

Er  vert  dort  her  durch  Ootes  willen; 

An  einen  dürren  pawm  so  henkt  er  seinen  schilt. 

Nach  der  Fahrt  über  Meer  wiederholt  es  dann  nochmals: 

Er  vert  dort  hin  zum  dürren  patvtn  an  alles  underhap ; 
Dar  an  henkt  er  seinen  schilt,  er  grünet  unde  pirt. 
So  wirt  gewun  daz  heilig  grabp, 
Daz  nymmer  swert  darumb  getzogen  unrt; 

worauf  die  letzte  Strophe  noch  das  sieg-  und  segensreiche  Walten  des 


1)  Wächter  I.e.  p.  279.  —  Fulda  I.e.  p.  lYflf.  —  Haüssncr  1.  c.  p.  2>f. 
—  ZezBchwitz,  Kaisertum,  p.  163  fr. 

2)  Äretln,  Beiträge  zur  Geschichte  und  Litteratur,  IX  (1807)  p.  1134.  — 
Schröder  I.e.  p.  31  ff. 


42  Alfred  Bassermann 

Kaisers  nach  aussen  und  innen,  namentlich  auch  gegenüber  Pfaffen  und 
Klöstern  schildert  und  mit  der  Verheissung  schliesst: 

Wann  daz  geschihtj  so  kumen  uns  gute  Jar. 

Ehe  wir  der  Kaisersage  weiter  folgen,  haben  wir  die  Herkunft  dieses 
dürren  Baumes  näher  zu  betrachten. 

In  der  ersten  Version,  als  Stätte,  wo  der  Kaiser  dem  Reich  ent- 
sagt, ist  der  dürre  Baum  offenbar  lediglich  an  Stelle  des  Kreuzes  ge- 
treten, an  dem  nach  der  früheren  Überlieferung  der  letzte  Kaiser  Scepter 
und  Krone  niederlegt,  und  diese  Vertauschung  findet  ihre  einfache  Er- 
klärung durch  die  Legende,  die  das  Kreuzesholz  mit  dem 
Paradiesesbaum  verknüpft^).  Darnach  ist  von  dem  Baum  der 
Erkenntnis  ein  Spross  oder  ein  Samen  aus  dem  Paradiesesgarten  heraus 
auf  die  Erde  gelangt  und  da  zu  einem  Baum  erwachsen.  Gewöhnlich 
lautet  die  Sage  so,  dass  S  e  t  h ,  der  Sohn  Adams,  zum  Paradies  zurück- 
kehrt, um  dort  einen  Tropfen  Oel  der  Barmherzigkeit  für  seinen  Vater 
zu  erbitten  und  dass  ihm  der  Erzengel  an  der  Pforte  diesen  zwar  ver- 
sagt, ihm  statt  dessen  aber  den  Spross  gibt  mit  dem  Bedeuten,  dass 
wenn  der  neue  Baum  Frucht  trage,  die  Schuld  gesühnt  werde,  die  durch 
die  Frucht  des  Paradieses-Baums  in  die  Welt  gekommen  sei.  Das 
Reis  wird  auf  das  Grab  Adams  gepflanzt,  und  der  Baum,  der  daraus 
erspriesst,  bleibt  fruchtlos,  bis  sein  Holz  zu  dem  Kreuz  verwendet  wird, 
das  den  Erlöser  zu  tragen  hat,  und  dieser  ist  die  verheissene  Frucht 
der  Versöhnung. 

Dieser  symbolische  Kreuzesbaum  fliesst  dann  aber  zusammen  mit 
einem  wirklichen  Baum,  der  einstmals  im  Thal  Mambre  bei  Hebron 
gestanden  hat^.  Er  war  offenbar  ein  uraltes  Heiligtum,  dessen  Ver- 
ehrung sich  lange  erhalten  hat.  Constantin  hat  ihn  in  seinem  Glaubens- 
eifer umhauen  lassen,  aber  der  unverwüstliche  Stamm  schlug  aus  der 
Wurzel  wieder  aus.  Flavius  Josephus  scheint  von  zwei  verschie- 
denen Bäumen  bei  Hebron  zu  sprechen.  Einmal  (Antiqu.  I.  10,  4)  nennt 
er  die  ogygische  Eiche,  bei  .der  Abraham  gewohnt  habe,   nicht 


1)  MuBsafia,  Sulla  leggenda  del  legno  della  Croce,  Sitzungsberichte  der 
philos.-hist  Klasse  der  k.  Akademie  der  Wissenschaften,  Wien  1870  LXIII,  Jahr- 
gang 1869  p.  165 if.  —  W.Meyer,  die  Geschichte  des  Kreuzholzes  vor  Christus, 
Abhandlungen  der  philos.-philol.  Klasse  der  bayr.  Akademie  der  Wissenschaften. 
Manchen  1882  XVI.  p.  101. 

2)  Sepp,  Jerusalem  und  das  heilige  Land,  Schaff  hausen  1863.  I.  p.  502  ff.  — 
Bovenschen,  Johann  von  Mandeville  und  die  Quellen  seiner  Reisebeschreibung, 
Zeitschr.  der  Gesellsch.  für  Erdkunde,  Berlin  1888,  XXIII.  p.  238  f. 


Yeltro,  GrosB-Chan  und  Kaisersage  43 

weit  von  der  Stadt  Hebron,  und  dann  wieder  (bell.  IV.  9,  7)  eine  sehr 
grosse  Terebinthe,  die  der  Sage  nach  von  Erschaffung  der  Welt 
Bestand  gehabt  habe,  sechs  Stadien  von  Hebron  entfernt.  Die  spätere 
Überlieferung  dagegen  kennt  daselbst  nur  einen  Baum,  eben  den,  unter 
welchem  Abraham  gewohnt  hatte,  .im  Hain  Mamre,  der  zu  Hebron  ist '). 
Über  seine  Bezeichnung  schwanken  die  Berichte;  gewöhnlich  wird  er 
eine  Eiche  genannt.  Arculf  (um  690)  schildert  ihn  als  einen  Stumpf 
von  zwei  Mannshöhen  und  ringsum  angehauen  von  den  Pilgern,  die  sich 
Spähne  des  heiligen  Holzes  mitnahmen').  Zugleich  aber  verehrte  man 
in  Hebron  die  Begräbnisstätte  von  Adam,  Abraham,  Isaac 
und  Jacob'),  und  da  auf  dem  Grab  Adams,  wie  wir  gesehen  haben, 
das  Reis  des  Paradiesesbaumes  gepflanzt  worden  ist,  so  verband  sich 
eben  der  aus  diesem  erwachsene  Baum  mit  der  ogygischen  Eiche  zu 
Mambre  zu  ein  und  derselben  Vorstellung,  die  wir  dann  in  der  Kaiser- 
sage wiederfinden.  Sehr  merkwürdig  ist  in  dieser  Beziehung  eine 
Stelle  in  der  Beisebeschreibung  des  Johann  vonMandeville(l  356), 
der  noch  weiterhin  für  uns  wichtig  werden  wird.  Seinen  Bericht  über 
das  Thal  Mambre  und  den  dürren  Baum  stellt  er,  wie  dies  auch  sonst 
seine  Gepflogenheit  ist,  aus  anderen  Schriftstellern  zusammen;  ausser- 
dem fügt  er  aber  unverkennbare  Züge  der  Eaisersage  bei,  die  er  aus 
den  in  seiner  Zeit  lebendigen  Prophezeiungen  geschöpft  haben  mag^). 
Wo  er  auf  Hebron  und  Mambre  zu  sprechen  kommt,  erwähnt  er  zu- 
nächst unter  anderen  biblischen  Keminiscenzen,  dass  Adam  und  die 
Erzväter  dort  begraben  seien,  und  fährt  dann  fort^): 

Und  als  da  vorgesagt  ist^  wie  in  dem  thale  Mamhre  ein  herg 
lyt  der  auch  Manibre  heisset,  IJff  demselben  herg  stet  der  dürre  ei- 
lende bäum  den  sie  heyssen  Trip  ^,  aber  ivir  heissen  inn  seges  bäum  ^), 

1)  Moses  I,  q).  13,  18  a.  cp.  18,  Iff.  —  Bovenschen  1.  c. 

2)  Migne,  Patrol.  lat.  88  p.  798. 

3)  Petras  Comestor,  Migne,  Patrol.  lat.  198  p.  1093.  —  Sepp,  1.  c.  p.  4d9. 

4)  Bovenschen  1.  c.  p.  240. 

5)  Von  der  erfarang  des  strengen  Ritters  Johannes  von  monta- 
ville.  Strassburg  1507.  Buch  I.  cp.  30.  Ich  eitlere  schon  hier  nach  der  deutschen 
Uhersetzung  des  Otto  von  Diemeringen,  da  ich  im  weiteren  Verlauf  der  Unter- 
suchung genötigt  bin,  mich  gerade  an  diese  zu  halten. 

6)  Andere  lesen  Dirpe,  Petrus  Comestor  1.  c.  B&ffi  Dirpsi,  Odoricus  de 
Foro  Julii  ed.  Laurent,  Leipzig  1864.  cp.  XLVI:  Sarraceni  dicunt  eam  dirp.  In 
Simrocks  Ausgabe  des  Mandeville  (Volksbücher  XIII)  p.  41  Sirpe.  cf.  dazu  eine 
Bemerkung  bei  Sepp  1.  c.  p.  506,  wonach  Sirpu  das  persisch-tQrkische  Stammwort 
Serw,  die  Cypresse. 

7)  Segetbaum,  wofOr  bei  Simrock  1.  c.  Siegesbaum  steht,  ist  wohl  auf  arbre 
see  zorQcksnfQhren. 


44  Alfred  Bassermann 

unnd  ist  einn  eichbaum,  TJnnd  mann  meint  er  sy  gestandenn  votm 
angand  der  welt^  unnd  der  tcaa  vor  gottes  martcr  grün  utid  gepletert. 
Aber  da  Gott  an  dem  Krütz  gestarb  do  dorret  er,  unnd  auch  ander 
bäum  me  durch  alle  weit,  und  füllt  inenn  das  hertz  inwendig  und 
fielen  in  die  ryndeu  abe.  Unnd  also  ist  der  selb  bäum  noch  dürre 
und  on  alles  laube,  Man  findet  in  wissagung  geschriben,  es  solle  ein 
Fürst  kotnen  uss  niderland  mit'  vil  christenn  der  soll  die  selben  land 
gewinnen  der  sol  lassen  mess  singenn  under  dem  selbenn  dürren  bäum, 
unnd  so  sol  er  wider  giüne  pleiter  überkommen  unn  frucJUber  werden, 
unnd  umm  des  tounders  willen  sollefit  alle  jüden  und  heyden  Christen 
werden,  darttmb  erbuttet  man  im  gross  er  umid  hüttct  sin  gar  wole. 
Auch  hat  derselbe  bäum  grosse  Krafft  und  tugent  und  ist  gut  für  deti 
fallenden  siechthum,  unnd  audi  iver  sin  ein  wenig  by  im  trcit  des 
pferd  mügenn  nit  zu  rehe  werden. 

Die  Verbindung  des  dürren  Baumes  mit  der  Kreuzessage  ist  aber 
keineswegs  eine  vollkommene.  Wir  finden  vielmehr,  dass  die  Vorstellung 
des  darren  Baumes  ein  selbständiges  Leben  hat.  Einerseits  erscheint 
er  uns  losgelöst  vom  Christentum.  Denn  anch  die  Sage  der  Araber 
kennt  einen  dürren  Baum,  von  dem  sie  berichtet,  dass  er  wieder  erblüht 
sei,  als  der  Prophet  an  ihm  geruht  habe^).  Andererseits  losgelöst  von 
Mambre  und  Adams  Grab.  Gerade  unser  Johannes  von  Hildesheim 
verlegt  ihn  nach  Thauris,  und  bei  ihm  ist  auch  besonders  scharf  der 
Zug  hervorgehoben,  dass  der  Besitz  dieses  Baumes  die  Weltherrschaft 
verleiht:  quod  si  quis  rex  vel  dominus  vel  populus  tam  potens  efficitur, 
quod  scutum  vel  clipeum  suum  potenter  in  illam  arborem  pendet^  tunc 
Uli  regi  vel  domino  in  omnibus  et  per  ofnnia  obediunt  et  intendunt. 

Mir  scheint  hier  eine  Stelle  bei  ifarco  Polo  den  Weg  zu  weisen. 
Als  er  auf  seiner  Reise  zum  Gross-Chan  in  das  östliche  Persien  kommt, 
berichtet  er*):  Et  y  a  un  grandisme  piain  ou  est  VArbre  Solque, 
que  nous  appelons  VArbre  See,  et  vous  dirai  comment  il  est  fait.  11 
est  grans  et  gros,  et  Vescorche  est  d'une  part  vert  et  d'autre  blanche  et 
fait  ricy  si  eomme  les  chastiaus;  mais  il  est  vuit  dedens.  II  est  jaunes 
comme  bois  et  moult  fort;  et  n'a  ntd  arbrepres,  ä  plus  de  cent  mille;  mais 
que  d'une  part  il  a  arbres  bien  ä  dix  milles.     Et  illec  se  dient,  ceux 

1)  Ockley,  Geschichte  der  Saracenen,  deutsch  von  Arnold,  Leipzig  u.  Altona 
1745.  I.  p.  354f.  —  Zezschwitz,  Kaisertum  p.  48  u.  166. 

2)  Le  livre  de  Marco  Polo,  ed.  Pauthier,  Paris  1865.  I.  p.  95 f. 


Veltro,  Gross-Chan  und  Kaisereage  45 

de  Celle  contr^^^  fu  la  bataille  d' Alixandre  contre  le  roy 
Daire^). 

Statt  arbre  solque,  was  Pautbier  aus  dem  Arabischen  als  „hoch- 
stämmig, breitästig  und  langdauernd'  erklären  will,  geben  Andere  an 
dieser  Stelle  Varhre  seul,  arbor  Bola^  wieder  Andere  Valbero  del  sole, 
arbar  soliSj  wohinter  sich  wohl  die  richtige  Lesart  arbre  sol  verbirgt^). 
An  zwei  andern  Stellen,  wo  Pautbier  selbst  nicht  mehr  solque  liest,  wird 
der  Baum  erwähnt  um  die  Lage  von  Oertlichkeiten  zu  bestimmen,  bei 
Aufzählung  der  persischen  Provinzen  (royaumes)  L  p.  66 :  Tous  ces  roy- 
aumes  sant  vers  midiy  fors  un  seulement:  c'est  Tunocaifiy  qui  est  pres 
de  V arbre  seul;  und  gegen  Ende  des  Buchs,  beim  Bericht  über  den 
Krieg  zwischen  Abaga  von  Persien  und  Gaidu  von  Turkestan,  II.  p.  730  f. 
Abaga,  le  seigneur  du  Levant,  tenoit  maintes  provinces  et  ferres  quijoig- 
noient  au  roy  Catdu,  Et  c'estoit  vers  VArbre  seul,  que  le  livre 
Alixandre  appelle  Arbre  sec,  duquel  je  vous  ai  conti  ci  arrieres. 
M  Abaga  y  envoia  son  filz  Argon  pour  ce  qu'il  ne  receust  domage  de 
ses  homines  et  grant  quantitS  de  gern  ä  cheval  de  l' Arbre  sec  jusques 
au  flun  de  Jon  (=  Gihon,  Oxus).  Und  wieder  an  zwei  anderen 
Stellen  (IL  p.  748  und  749),  wo  der  Baum  einfach  arbre  seche  genannt 
ist,  finden  wir  in  seiner  Nähe  das  Standquartier  Qhazems,  der  von  seinem 
Vater  Argon  mit  dem  Schutz  der  Grenze  —  also  wohl  der  Pässe  — 
betraut  ist. 

Wo  der  dürre  Baum  des  Marco  Polo,  der  offenbar  wirklich  existiert 
hat  und  der  Beschreibung  nach  eine  Kiesen-PIatane  gewesen  zu  sein 
scheint,  zu  suchen  sei,  ist  zweifelhaft.  Pauthier  möchte  ihn  im  Thal 
des  Oxus  annehmen.  Doch  scheint  dem  die  dritte  der  oben  angeführten 
Stellen  (II.  p.  730  f.)  zu  widersprechen,  wo  der  Arbre  sec  als  Grenzpunkt 
eines  Gebiets  dem  Oxus  gerade  entgegengesetzt  ist.  Von  Marsden  und 
Ynle  wird  er  aus  einleuchtenderen  Gründen  im  Süden  des  Easpischen 


1)  Za  bemerken  ist,  dass  Odoricus  nach  einem  italienischen  Text  (wieder- 
gegeben bei  Ynle,  Cathay  App.  II.  cp.  2)  bei  Erwähnung  der  Stadt  Thauris,  wo  ja  der 
dürre  Baum  nach  der  einen  Lesart  stehen  soU  (cf.  oben  S.  34  Anm.  2  u.  S.  85  Anm.  2) 
schreibt:  Poi  veni  in  Persia  neUa  citade  ch*  h  detta  Taurisio,  e*n  qudla  via,  passai 
Ü  fiume  Rosso  (nach  Yule  I.e.  p.  301  vermutlich  der  Araxes,  Aras),  ove  Ales- 
sandro  isconfisae  il  Be  d^Asia  Dario,  also  die  gleiche  Beziehung  auf 
Alexander  und  Darius,  wie  bei  Marco  Polo,  wenn  auch  der  von  diesem  gemeinte 
Banm  nicht  bei  Thauris  gesucht  werden  kann. 

2)  Über  die  ganze  Frage  des  Arbre  Sec  cf.  Marsden,  The  travels  of  Marco 
Polo,  London  1818  p.  109 ff.  —  Yule,  The  book  of  Ser  Marco  Polo,  London  1871 
I.  p.  CXXXVII  f.,  119  if.,  II.  p.  397  f.  und  Cathay  I.  p.  47  f. 


46  Alfred  Basäennann 

Meeres  gesucht,  zwischen  Damghan  und  Bostam,  an  jener  Stätte  westlich 
des  alten  Hekatompylos,  wo  zwar  keine  hataiüe  d'Alixandre  contre 
le  roy  Daire  stattfand,  wo  aber  Alexander  auf  die  Leiche  des 
ermordeten  Darius  stiess  und  die  Erbschaft  seines 
Reiches  antrat^).  Auch  sonst  fand  Marco  Polo  die  Erinnerung  an 
den  grossen  Welteroberer  im  Orient  noch  lebendig,  so  an  der  Porte- 
de-fer,  dem  Passe  bei  Der  beut,  dessen  Befestigung  von  der  Tradition 
Alexander  zugeschrieben  und  mit  der  Sage  von  Gog  und  Magog  in  Ver- 
bindung gebracht  wurde'),  in  Balkh,  dem  alten  Baktra,  wo  von  der 
Hochzeit  Alexanders  mit  einer  Tochter  des  Darius  erzählt  wurde,  wohl 
in  Verwechslung  mit  der  thatsächlich  dort  gefeierten  Vermählung 
Alexanders  mit  Roxane,  der  Tochter  des  Baktrer-Fürsten  Oxyartes'), 
in  Badachschan,  der  Qebirgslandschaft  zwischen  Oxus  und  Paro- 
pamisus,  wo  Alexander  als  der  Stammvater  des  einheimischen  Fürsten- 
geschlechts der  Zulcarniain  galt,  der  „ Zweigehörnten ",  wie  sie  sich 
wohl  nach  dem  mit  den  Widderhörnern  des  Ammon  geschmückten 
Alexanderbild  der  griechischen  Münzen  nannten^). 


1)  Droysen,  Geschichte  Alexanders  des  Grossen,  Gotha  1898  p.  2541 

2)  Pauthier  1.  c.  I.  p.  40f.  —  Yule,  Marco  Polo,  I.  p.  50ff.,  wo  erwähnt 
ist,  dass  die  von  Derbent  ausgehende  Kaukasische  Mauer  auch  Sadd-l-Iskandar, 
Alexanders  Wall  heisst. 

3)  Pauthier  1.  c.  I.  p.  1. 109  ff.  —  Droysen  1.  c.  p.  321. 

4)  Ein  Held  Zülearnain  oder  Dulkamein  findet  sich  auch  von  arabischen  und 
persischen  Schriftstellern  genannt  und  selbst  der  Koran  (Sur.  XVill.  Vers  82 — 98) 
thut  seiner  eingehend  Erwähnung.  Zwischen  neueren  Gelehrten  ist  lebhaft  gestritten 
worden,  ob  unter  diesem  Kamen  überhaupt  Alexander  zu  verstehen  sei  oder  ein 
anderer  Held  des  Morgenlandes  (Graf,  Ueber  den  »Zweigehörnten*  des  Koran, 
Zeitschr.  der  deut  morgenl.  Ges.  YlII.  p.  442  ff.  —  Protokoll  der  Gen.- Vers.  1.  c.  IX. 
p.  290.  —  Redslob  1.  c.  p.  214 ff.  —  Beer  1.  c.  p.  785 ff.  —  Flttgel,  1.  c.  p.  794 ff. 
—  Roth  1.  c.  797 ff.  —  Heinemann  Vogelstein,  Adnotattones  quaedam  ex  lit- 
teris  orientalibus  petitae  ad  fabulas,  quae  de  Älexandro  Magno  circumferuntur.  In- 
auguraldissertation, Breslau  1865  p.  27  ff.).  Doch  scheinen  mir  die  aufgeworfenen 
Zweifel  nicht  erheblich  gegenüber  der  ebenso  ungezwungenen  wie  altverbreiteten 
Deutung  des  Dulkamein  auf  Alexander,  die  Marco  Polo  jedenfalls  lebendig  gefunden 
hat.  Wenn  aber  Beer  1.  c.  p.  791  ff.  erklärt,  dass  Dulkamein  nach  der  jüdischen 
Tradition  zur  Zeit  Muhammeds  als  ein  kriegerischer  Messias  vom  Stamme  Josephs 
aufzufassen  sei,  als  der  Vorläufer  des  wahren,  friedlichen  Messias  aus  dem  Stamme 
Davids,  als  der  „Kriegsgesalbte**,  «der  durch  mancherlei  abenteuerliche  Züge  und 
Grossthaten  sich  auszeichnen,  die  Völker  —  insbesondere  zaletzt  den  ,Gog  und 
Magog'  —  bezwingen,  aber  auch  mit  hoher  sittlicher  Kraft  und  Würde  begabt  sein 
werde,  so  dass  der  jüngste  Tag  und  das  ewige  Gericht  mit  ihm  in  Verbindung  ge- 
dacht wurden"",  so  haben  wir  darin  nicht  einen  Gegensatz  zu  Alexander  zu  erblicken, 
sondern  vielmehr  schon  die  beginnende  Verschmelzung  der  Gestalt  des  hellenischen 
Welteroberers  mit  der  des  letzten  Kaisers  der  Kaisersage,  der  sich  ja  gerade  als 
weltlicher  Messias,  « Kriegsgesalbter "  darstellt. 


Veltro,  6ro88-Chan  und  Kaisersage  47 

Der  dürre  Baum  zeigt  sich  also  bei  Marco  Polo  mit  fest  einge- 
wurzelten Erinnerungen  an  Alexander  im  Zusammenhang,  und  zwar  wird 
unter  den  Baum  die  Walstatt  verlegt,  auf  der  die  Ent- 
scheidung über  die  Herrschaft  des  Orients  gefallen 
ist"*").  Schon  Zezschwitz^)  hat  darauf  hingewiesen,  dass  Alexander 
durch  die  mittelalterliche  Vorstellung  mit  dem  eschatologischen  Welt- 
kaiser in  eine  gewisse  Verbindung  gebracht  worden  ist,  dass  er  sich 
nach  Gottfried  von  Viterbo')  bei  dem  Zug  nach  Jerusalem  vor 
dem  wahren  Qotte  ähnlich  wie  der  letzte  Kaiser  zu  einer  Art  Reichs- 
übergabe demütigt.  Doch  das  ist  ein  hebräisches  Element  in  der 
Alexandergeschichte'),  wie  es  sowohl  beiFlavius  Josephus  (Antiqu. 
XI.  8)  als  auch  im  Pseudocallisthenes  (11.24  und  43)  bei  der 
Schildenmg  von  Alexanders  Begegnung  mit  dem  Hohen  Priester  der 
Juden  zu  Tage  tritt,  und  vom  dürren  Baum  ist  in  diesem  Zusammen- 
hang nirgends  eine  Spur  zu  finden.  Wohl  aber  finden  wir  eine  solche 
ao  einer  ganz  anderen  Stelle,  ohne  Beziehung  auf  Palästina  und  den 
«wahren  Gott',  in  dem  ebengenannten  spätgriechischen  Alexanderroman 
des  Pseudocallisthenes  und  dessen  Bearbeitungen,  nämlich  die 
Vorstellung  eines  zauberstarken  Baumpaares  am  östlichen  Ende  der  Welt, 
bedeutsam  hervorgehoben  und  mit  der  Frage  der  Weltherrschaft  aufs 
Engste  verknüpft.  Ausführlich  finden  wir  diese  Episode  in  dem  Brief 
Alexanders  an  Aristoteles,  der  in  die  Gruppe  der  phantastischen 
Berichte  gehört,  die  aus  jenem  Roman  hervorgegangen  sind^).  Dort 
erzählt  Alexander,  wie  er  nach  Besiegung  des  Perus  durch  diesen 
ad  Hercfdis  TJberique  irophaea,  in  arientis  ultimis  oris  geführt  worden 
sei.  Dann  zieht  er  weiter  bis  zum  Meer  in  der  Absicht,  wenn  möglich 
den  Ocean,  der  den  Erdkreis  umfliesst,  zu  befahren,  und  erregt  dadurch 
die  Bewunderung  der  Eingeborenen,  weil  es  ihm  vergönnt  sei,  die  ge- 
heiligten Male  des  Hercules  und  des  Liber  zu  überschreiten.    Fernerhin 


*)  Die  Schrift  von  Kampera,  Alexander  der  Grosse  und  die  Idee  des  Welt- 
imperiuma  in  Propbetie  und  Sage  (2.  und  3.  Heft  der  „Stadien  und  Darstellungen 
ans  dem  Gebiete  der  Geschichte**,  Herder'scher  Verlag,  Freiburg  i.  Br.),  die  erst  er- 
schien, während  ich  meine  Arbeit  druckfertig  machte,  konnte  fflr  dieselbe  nicht  mehr 
benutzt  werden. 

1)  Kdsertum,  p.  61  u,  177  ff. 

2)  Pistor-Struve,  S.  S.  Rer.  Germ.  11.  p.  162,  164. 

3)  cf.  Weismann,  Alexander  vom  Pfaffen  Lamprecht,  Frankfurt  1850,  11. 
p.  493  ff.  sowie  das  am  Schlüsse  der  Anm.  4  8.  46  Gesagte. 

4)  Juli  Valeri  Alexandri  Polemi  Res  Gestae  Alexandri  Macedonis  etc.  ed. 
Kahler,  Leipzig  1888  p.  204  ff.  —  cf.  auch  Zacher,  Pseudocallisthenes,  Forschungen 
zur  Kritik  und  Geschichte  der  Ältesten  Alexandersage,  Halle  1867  p.  106  f. 


48  Alfred  Bassennann 

(p.  205)  gelangt  or  ad  Silvas  Indarum  ultimaSy  und  auf  dem  wei- 
teren Zug  besteht  er  —  was  hier  nebenbei  bemerkt  sein  mag  —  den 
nächtlichen  Sturm  mit  dem  Schneefall  und  den  feurigen  Wolken,  auf 
den  Dante  beim  Feuerregen  seines  Inferno  (14.  31)  anspielt.  Dabei  wird 
wieder  des  Hercules  und  des  Liber  gedacht,  die  vielleicht  dem  Menschen 
zürnen  möchten,  der  sich  vermessen,  ihre  Male  zu  überschreiten  (p.  208). 
Bei  der  Höhle  des  Liber  sodann  fleht  er  die  Gottheit  an,  ihn  als  König  des 
ganzen  Erdkreises  mit  den  höchsten  Siegeszeichen  nach  Macedonien  zu- 
rückkehren  zu  lassen,  bleibt  aber  unerhört.  Auf  dem  Weitermarsch 
endlich  begegnen  ihm  zwei  Greise,  die  ihm  von  den  Bäumen  der 
Sonne  und  des  Mondes  erzählen  (p.  209):  Videbis,  rex,  inquiunty 
quicunque  es,  duas  arbores  Solis  et  Lunae  Indice  et  Graece 
loquenteSf  quarum  unum  virile  robur  est  SoliSy  alterutn  femininum  Lunaty 
et  ab  hiSy  quae  tibi  instent  bona  ant  malay  nosse  poteris.  Darauf  sucht 
er  mit  einer  auserlesenen  Schaar  die  Bäume  auf  und  findet  sie  in  einem 
behüteten  Hain  von  duftenden  Balsambäumen,  von  deren  Harz  sie 
sammeln  (p.  212),  ebenso  wie  späterhin  (p.  215)  bemerkt  wird,  dass  die 
fast  dreihundertjährigen  Priester  des  Haines  nur  von  Balsamharz  und 
Weihrauch  sich  nähren.  Die  Wunderbäume  werden  wie  folgt  geschildert 
(p.  212):  In  media  antem  lud  sacratae  illae  arbores  eranty  similes  cy- 
pressis  generibus  frondium,  Hae  pedum  aUae  centum  erant  arboreSy 
quas  bebrioras  Indi  appellant.  Und  als  er  staunend  äussert,  dieselben 
müssten  vom  vielen  Regen  so  hoch  gewachsen  sein,  so  versichert  der 
Priester,  nunquam  in  his  locis  pluviam  neque  feram  aut  ullam 
avem  aut  ullurn  adire  serpentetn;  terminos  vero  antiquiius  ab  In- 
dorum  maioribus  consecratos  Soli  et  Lunae  adßrmabat,  idem  quod 
in  eclipsi  solis  et  lunae  veluti  uherrimis  lacrimis  sacrae  arbores 
commoveantur  de  deorum  suorum  statu  timetUes.  Nunmehr  befragt 
er  die  Bäume,  denen  es  zu  sprechen  gegeben  ist,  wann  jeweils  der 
Schein  ihres  Gestirnes  ihren  Wipfel  bestrahlt.  Abends  antwortet  ihm 
der  Sonnenbaum  (p.  213):  Invicte  bellis  Alexander,  ut  consuluisti, 
unus  eris  dominus  orbis  terrarum,  sed  vivus  amplius  in  patriam 
non  revevterisy  quoniam  fata  tua  ita  de  capite  tuo  stafuerunt ;  Nachts 
verkündet  ihm  der  Mondbaum,  dass  er  im  kommenden  Jahre  in  Babylon 
durch  Verrat  sterben  werde,  und  bei  Tagesanbruch  wiederholt  noch 
einmal  der  Sonnenbaum  seine  Verheissung:  Tu  enim  etsi  breve  superest 
tempuSy  dominus  tarnen  orbis  terrarum  eris.  Am  Schluss  des  Briefes 
aber  erwähnt  Alexander  noch,  dass  er  in  ultima  India  ultra  Liberi 
et  Herculis  trophaea  seine  eigenen   habe  errichten  lassen   et  in   eis 


Veltro,  GrosM-Cban  und  Kaisersage  49 

Victorias  atque  itinera  nostra  describere  ....  quaeque  miraculo 
fxUura  sunt  .  .  .  posteris  saeculia^), 

lo  den  späteren  Bearbeitungen  der  Alexander  -  Sage  sehen  wir 
diese  Episode  dann  wiederholt,  wie  denn  der  Pseudo-Eallisthenes  be- 
ziehungsweise dessen  lateinische  Versionen  die  Hanptquelle  der  mittel- 
alterlichen Alexander-Erzählungen  gebildet  haben,  und  die  Hauptzüge 
sind  so  treu  bewahrt,  dass  wir  unsere  Betrachtung  auf  diese  ursprüng- 
liche Vorlage  beschränken  können'). 

Zwei  Elemente  in  dieser  Erzählung  scheinen  mir  für  unsere  Unter- 
suchung wichtig  zu  sein.  Wir  haben  auf  der  einen  Seite  am  äussersten 
Band  des  Erdkreises  das  Tropaion,  das  Bacchus  und  Hercules  zum 
Zeichen  der  letzten  Vollendung  ihrer  Welteroberung  aufgestellt  haben, 
und  das  Alexander  mit  dem  seinen  noch  überbietet.  Und  auf  der  an- 
deren Seite  haben  wir  das  schicksalverkündende  Baumpaar  der  Sonne 
und  des  Mondes,  das  dem  Alexander  die  Herrschaft  der  Welt  bestätigt. 
Wenn  wir  demgegenüber  uns  vergegenwärtigen,  welche  Rolle  die  Eaiser- 
sage  dem  Arbre  sec  zuweist,  so  finden  wir  darin  eben  diese  beiden  Ele- 
mente wieder:  das  Tropaion  des  Bacchus  und  des  Hercules 
ist  darin  mit  dem  herrschaftverheissenden  Baumpaar 
zu  einer  Vorstellung  zusammengewachsen,  und  der 
Kaiser,  der  seinen  Schild  am  dürren  Baum  im  Morgen- 
lande   aufhängt,    errichtet    sich    nur    auch     wieder    ein 

1)  Weniger  ausfahrlich  findet  sich  die  Episode  der  Bflume  auch  in  Jalius 
Yalerius  in.  cp.  24;  doch  ist  zu  erwähnen,  dass  dort  der  Hain,  entsprechend  dem 
griechischen  Original  des  Pseudocallisthenes  (ed.  MoUer,  Paris  1846)  Lib.  III. 
17),  ausdrücklich  als  Paradies  bezeichnet  ist  (Ko  ergo  cum  venissemus,  ducor  in 
quendam  loeum  arboribus  consitum  vd  amoenissimis.  Hunc  Uli  paradisum  voci- 
tavere)j  womit  allerdings  zunächst  nur  ein  Baumgarten  gemeint  sein  mag.  Eine 
andere  Variante  bietet  Pfiendocallisthenes  II.  cp.  44,  wonach  der  Schauplatz  geradezu 
in  das  Gebiet  und  die  Stadt  des  Helios  verlegt  ist  und  ihm  die  Bäume  geheiligt 
sind,  aus  denen  Alexander  das  unsichtbare  todverkflndende  Orakel  vernimmt. 

2)  Li  Romans  d'Alixandre  par  Lambert  li  Tors  et  Alexandre  de  Bernay  ed. 
Michelant,  Stuttgart  1846  p.  IX,  über  die  Säulen  des  Hercules  u.  Liber.  p.  312,  316, 
317;  über  die  sprechenden  Bäume  p.  351-356  (besonders  p.  354  V.  18:  sires  sera 
de  V  mont  et  de  venin  moros),  —  Meyer,  Alexandre  le  Grand  dans  la  litt^rature 
fran^aise,  Paris  1886  II.  p.  Iflf.,  171  f.,  185  f.,  215  f.  —  cf.  auch  Yule  1.  c.  —  Für 
die  Säulen  des  Hercules  ist  noch  beachtenswert  eine  Stelle  aus  der  Beschreibung 
Asiens  in  Brünette  Latinis  Tr6sor  (ed.  Chabaille,  Paris  1863)  p.  158  Outre^les 
Bautriens  est  Fände,  une  vik  des  Sogdianiens,  oü  Alixandres  fist  la  tieree  Älixandre, 
por  demostrer  la  fin  de  ses  cdeures,  Ce  est  li  leus,  oii  premierement  Liber  et  puis 
HereuUs  et  puis  Semiramis  et  puis  Cyre  firent  autel  por  eigne  que  ü  avoient  la 
terre  eonquise  jusqua  lä,  et  que  plus  avant  n^avoit  point  de  gent,  Par  enqui  se 
iome  la  mer  de  Seite  et  cele  de  Caspe  en  Oceane, 

NEUE  HEIDELB.  JAHRBUECHEK  XI.  4 


50  Alfred  ßassermann 

äusserstes  Siegeszeichen  am  Rande  des  Erdkreises,  und 
dass  diese  Beziehung,  die  sich  als  Hypothese  uns  aufdrängt,  auch  that- 
sächlich  vorhanden  ist,  dafür  spricht  eben  Marco  Polo,  bei  dem  ein 
wirklicher  im  fernen  Osten  (nicht  in  Palästina)  stehender  Arbre  sec,  der 
zudem  höchst  wahrscheinlich  als  arbor  solis  bezeichnet  ist,  zweimal  aus- 
drücklich mit  Alexander  in  Verbindung  gebracht  wird.  Es  wäre  dies 
sonach  ein  rein  weltlicher  oder  wenigstens  ein  unchristlicher  Bestandteil 
der  Sage,  der  dann  erst  nachträglich  mit  der  christlichen  Überlieferung 
vom  Baum  des  Seth  und  dem  Ereuzesstamm,  an  dem  der  letzte  Kaiser 
seine  Insignien  niederlegt,  verschmolzen  wird.  ^) 

Diese  Verschmelzung  können  wir  sehr  deutlich  in  einer  Er- 
zählung beobachten,  die  den  Arbre  sec  im  fernen  Indien  mit  dem  Baum 
des  Seth  ausdrücklich  identifiziert,  aber  gerade  durch  ihre  auflAllige 
Absichtlichkeit  verrät,  dass  hier  zwei  ursprünglich  verschiedene  Dinge 
gewaltsam  —  vielleicht  gerade  im  Interesse  des  christlichen  Glaubens 
—  vereinigt  werden  sollten.  Die  in  einer  Handschrift  des  vierzehnten 
Jahrhunderts  erhaltene  Erzählung ')  berichtet  von  einem  Ritter,  der,  mit 
anderen  Christen  aus  der  Gefangenschaft  der  Saracenen  entkommen,  nach 
langer  Reise  nach  Indien  gelangt,  wo  sie  von  dem  christlichen  Herrscher, 
dem  Presbyter  Johannes,  der  uns  weiterhin  noch  begegnen  wird, 
freundlich  aufgenommen  und  bewirtet  werden.  Dann  heisst  es  weiter: 
Tandem  rogaverunt  cum,  ut  arborem  sie  com,  de  qua  multum 
saepe  loqui  audieranf ,  liceret  videre.  Quibus  dicebat:  ,,Non  est 
appellata  arbor  sicca  recto  nomine,  sed  arbor  Seth,  quoniam  Seth, 
filius  Adae,  primi  patris  nostri,  eam  plantavit".  Et  ad  arborem 
Seth  fecit  eos  ducere,  prohibens  eos,  ne  arborem  transmearent,  sed 
f si  ?J  ad  patriam  suam  redire  desiderarent.  Et  cum  appropinquassent, 
de  pulcritudine  arboris  mirati  sunt;  erat  enim  magnae  immensitatis 
et  miri  decoris.  Omnium  enim  colorum  varietas  inerat  arbori,  con- 
densifas  folioriim  etfructuum  diversorum;  diversitas  avium  omnium, 
quae  sub  coelo  sunt,  Folia  vero  invicem  se  repercutieniia  dulcissi- 
mae  melodiae  modulamine  resonahant,  et  aves  amoenos  cantus  ultra 
quam  credi  potest  promebant ;  et  odor  suavissimus  profudit  eos,  ita 
quod  paradisi  amoenitate  fuisse  [Hier  und  im  Folgenden  muss  der 
Text  verderbt  sein].     Et  cum  admirantes  tantam  pulcriludinem  as- 


1)  cf.  auch  Kam  per 8,  Kaiserpropbetieen  p.  105. 

2)  Mitgeteilt  in  Zarncke's  zweiter  Abhandlung  Ober  den  Priester  Johannes 
(Abhdlg.  d.  Sachs.  Ges.  d.  Wiss.  philol.-histor.  Kl.  VIII.  1883),  p.  127. 


Veltro,  Gro88-Ghan  und  Kaisersage  51 

picerent,  unus  sociorum  aliquo  eorum  maior  aetate^  cogitans  [cogitavit] 
intra  se^  quod  senior  esset  ety  si  inde  rediret,  cito  aliquo  casu  mori 
passet.  Et  cum  haec  secum  cogitasset,  coepit  arborem  transire  et, 
cum  transissetj  advocans  socios,  jussit  eos  post  se  ad  locum  amoe- 
nissimum,  quem  ante  se  videbat  plenum  deliciis  sibi  paratum/estinare, 
At  Uli  retogressi  sunt  ad  regem,  scilicet  presbiterum  Johannem.  Quos 
donis  amplis  ditavit,  et  qui  cum  eo  morari  voluerunt  libenter  et 
hanorifice  detinuit.     Alii  vero  ad  patriam  reversi  sunt. 

Diese  Erzählung  enthält  noch  einen  anderen  Zug,  der  für  uns  von 
Wichtigkeit  ist  und  das  Band  zwischen  dem  Paradiesesbaum  Alexanders 
und  zwischen  der  Kaisersage  noch  fester  schlingt,  den  Zug,  wie  der  Alte 
sich  unerwartet  von  seinen  Genossen  trennt  und  geheimnisvoll  bei  dem 
Baume  zurückbleibt.  In  der  Kaisersage  hat  sich  aus  jenen  ersten  apo- 
kalyptischen Motiven  heraus  als  ein  Hauptzug  die  Vorstellung  entwickelt, 
dass  der  Kaiser,  geheimnisvoll  entrückt,  eine  Zeit  lang 
im  Verborgenen  warte,  um  dann  gewaltig  wiederzu- 
kehren und  seine  Aufgabe  zu  vollenden.  Ursprünglich  ist  es 
der  böse  Kaiser,  der  Antichrist,  Nero  und  Friedrich  II.  in  der  päpst- 
lichen Beleuchtung  der  joachitischen  Weissagungen,  dann  aber  auch  der 
gute  Kaiser,  der  Retter,  von  dem  die  Heilung  und  das  Heil  der  Welt 
erwartet  wurde.  Namentlich  bei  Friedrich  II.  acceptierte  auch  die 
kaisertreue  Fassung  der  Sage  diesen  Zug  und  bildete  ihn  liebevoll  aus, 
wobei  offenbar  auch  Bilder  aus  dem  germanischen  Oöttermythus,  die 
noch  in  der  Tiefe  der  Volksseele  schlummerten,  leise  aber  machtvoll 
aufdämmernd  sich  darein  verwebten.  Ehe  aber  diese  Entrücknng  am 
Kyffhäuser,  am  üntersberg  und  anderen  dem  Wodan  geweihten  Stätten ') 
festgelegt  wurde,  tritt  sie  zunächst  in  der  Weise  auf,  dass  der  Kaiser 
nur  überhaupt  in  geheimnisvoller  Weise  verschwindet,  „verloren  geht'' 
und  sich  verborgen  hält,  bis  seine  Zeit  gekommen  ist,  und  dieses  Ver- 
schwinden und  Verlorengehen  des  Kaisers  Friedrich  finden  wir  in  merk- 
würdigen Zusammenhang  gebracht  mit  dem  Priester  Johannes,  in 
dessen  Beich  die  Sage  auch  den  Paradiesesbaum  verlegt.  Dieser  fabel- 
hafte Priesterkönig  im  fernen  Morgenland,  mit  dem  die  Phantasie  des 
Mittelalters  nicht  müde  wurde  sich  zu  beschäftigen  und  den  sie  in  einem 
ihm  zugeschriebenen  und  in  einer  Beihe  von  Varianten  und  Verarbeitungen 
auf  uns  gekommenen  Briefe,  der  vielfach  an  die  Alexandersage  anklingt, 
mit  den  überschwänglichsten  Zügen    von   Macht    und  Reichtum  aus- 


1)  cf.  Fulda  I.e.  p.  29  ff. 


52  Alfred  BassermDim 

stattete^),  schickt  nach  einer  ümdichtiing,  die  von  Oswald  dem 
Schreiber  zu  Königsberg  in  Ungarn  zwischen  1350  und  1400  verfasst 
ist '),  an  Kaiser  Friedrich  ein  Beihe  wunderkräftiger  Geschenke :  ein  un- 
verbrennbares  Salamanderkleid,  eine  Flasche  Wassers  vom  Jungbrunnen, 
der  das  Leben  um  dreihundert  Jahre  verlängert  und  einen  Ring  mit 
drei  Edelsteinen,  von  denen  der  erste  die  Fähigkeit  gibt  unter  dem 
Wasser  zu  leben,  der  zweite  unverwundbar  macht,  der  dritte  unsichtbar. 
Und  wie  nun  Friedrich  von  dem  Papst  in  Bann  gethan  wird  und  überall, 
wo  er  sich  aufhält,  den  Gottesdienst  unterbrochen  sieht,  so  entschliesst 
er  sich  gegen  die  Osterzeit  diesem  Ärgernis  ein  Ende  zn  machen.  Er 
nimmt  die  Zauberkleinodien  zu  sich,  reitet  auf  die  Jagd  und  verschwindet 
plötzlich  den  Augen  seines  Gefolges: 

Der  Keiser  bereit  sich 

mit  9inem  jaged  ioeidlich. 

Niemant  wüst  under  yn 

sinen  mut  noch  ainen  sinn, 
1310    Die  eäd  wat  die  legt  er  an, 

dye  man  yme  sand  von  Indian, 

und  die  fleschen  er  älaam 

mit  dem  prun  darunder  tiam, 

der  do  schmackhaft  was: 
1315    uff  ein  gut  ros  er  do  sas, 

mit  yme  ritten  etlich  herren. 

Do  er  kam  in  den  waU  verren, 

sin  vingerlin  nam  er  yn  die  hant: 

an  dem  geiaid  er  verschwant, 
1320    das  man  den  edelen  keiser  her 

sind  gesaeh  nyemer  mer. 

Also  ward  der  hochgeporn 

Keiser  Friderich  do  verlorn. 

Wo  er  darnach  ye  hin  kam 
1325    Oder  ob  er  den  end  da  nam, 

das  kund  nyemand  gesagen  mir; 

oder  ob  yne  die  wilden  tir 

vressen  haben  oder  zerissen, 

es  kan  die  warheit  nyemand  wissen; 
1330    oder  ob  er  noch  lebentig  sy, 

der  gewissen  sin  wir  fry 

und  der  rechten  warheit. 

yedoeh  ist  uns  geseit 

von  pawren  solh  mer^ 


1)  cf.  Zarncke,  der  Priester  Johannes,  AbhandluDgen  der  s&chs.  GesellBchafi 
der  WiBseoBchafteD,  philol.-histor.  Klasse  YII  (1879)  p.  827  u.  VIII  (1876)  p.  1. 

2)  Heidelberger  Handschrift  Pal  Germ.  844  fol  150a  ff.  —  Zarncke  1.  c.  I. 
p.  1004. 


Veltro,  Grofis-Chan  und  Kaisersage  53 

1335    das  tr  dla  ein  waler 

sich  oft  by  yne  hob  lassen  sehen, 

und  hob  yne  offenlich  verjehen, 

er  siäl  noch  gewaltig  werden 

aUer  Eomscken  erden^ 
1340    er  süU  noch  die  paffen  stören 

und  er  wol  noch  nicht  uf  hören, 

noch  mit  nichten  lassen  abe, 

nur  er  pring  das  heüge  grabe 

und  darzu  das  heüig  lant 
1345    wieder  in  der  cristen  hant, 

und  wol  sines  schiltes  last 

hahen  an  den  dorren  ast. 

Das  ich  das  für  ein  warheit 

sag,  das  die  paaren  haben  geseit, 
1350    das  nym  ich  mich  nicht  an, 

wan  ich  sin  nicht  gesehen  han. 

Ich  han  ys  auch  zu  kein  stunden 

noch  nyndert  geschriben  funden, 

Wan  das  ichs  gehört  han 
1355    von  den  alten  pauren  an  wan. 

Aber  das  der  hochgeborn 

Keiser  Fridrich  ward  verlorn 

(usus  und  auch  cUda, 

das  sagt  die  Bomsch  cronica. 

Der  Dichter  hebt  also  selbst  einen  gewissen  Gegensatz  seiner 
Quellen  hervor.  Man  ist  versucht,  in  der  Komischen  Cronica  eine 
Aufzeichnung  der  joachitischen,  antikaiserlichen  Weissagungen  zu  ver- 
muten'), während  die  mündliche  Überlieferung  der  pauren  die  ghi- 
bellinische  Gestalt  der  Sage  wiedergiebt  und  zugleich  in  dem  geheim- 
nisvollen Waller  ein  Anklang  an  den  Wanderer  Wodan  wohl  nicht 
abzuweisen  ist*). 

Für  unsere  Untersuchung  ist  ausserdem  aus  dem  Gedicht  Oswalds 
des  Schreibers  hervorzuheben,  dass  es,  ebenfalls  im  Anschluss  an  den 
Presbyter-Brief),  im  Palast  des  Priesters  Johannes  auch  einen  wunder- 
baren Baum  beschreibt,  aus  dem  beständig  ein  mit  seltsamen  Kräften 
begabtes  Harz  traüft,  eine  unverkennbare  Beminiscenz  an  die  Sonnen- 


1)  Zu  beachten  ist  auch  die  ÜbereinstimmuDg  mit  Jan  Enenkel,  der  bei 
dem  Gerücht  Ober  Friedrichs  Fortleben  gleichfalls  auf  Welschland  verweist,  und 
andererseits  der  Umstand,  dass  auch  die  Novelle  antiche  (ed.  Biagi,  Florenz  1880 
p.  4}  den  Kaiser  Friedrich  mit  dem  Brief  des  Priesters  Johannes  und  den  drei  Edel- 
steinen, deren  einer  unsichtbar  macht,  in  Verbindung  bringen,  was  beides  gegen 
Broschs  Ansicht  ins  Gewicht  fällt  (cf.  oben  p.  38  Änm.  1.). 

2)  cf.  Schröder  1.  &  p.  48. 

3)  Zarncke  I.  p.  922,  1023. 


54  Alfred  Bassennann 

und  Mond-Bäume,  bedeutsam  für  uos,  wenn  auch  nur  erst  in  sehr  loser 
Verbindung  mit  Kaiser  Friedrich. 

Während  hier  nun  der  Kaiser,  der  geheimnisvoll  verschwindet,  um 
dereinst  als  Sieger  und  Retter  wiederzukehren,  noch  in  einer  ziemlich 
entfernten  Beziehung  zu  dem  Herrscher  des  Ostens  und  dessen  wunder- 
kräftigen Schätzen  sich  darstellt,  tritt  in  einem  anderen  Beispiel  das 
Motiv  der  Entrückung  in  Verbindung  mit  dem  Morgenlande  und  der 
Alexandersage  ungleich  schärfer  zu  Tage.  Dasselbe  ist  bisher  für  die 
hier  zu  erörternden  Fragen  wenig  nutzbar  gemacht  worden,  scheint  mir 
aber  eine  eingehende  Betrachtung  zu  verdienen. 

Die  Sage  von  dem  entrückten  Helden,  der  nach  langer  Abwesen- 
heit in  der  Zeit  der  höchsten  Not  als  Better  wiedererscheint,  hat  sich 
auch  an  einen  Paladin  Karls  des  Grossen  geheftet,  an  Ogier  oder 
Holger,  den  Dänen,  dessen  rätselhafte  Oestalt  eine  der  anziehend- 
sten in  jenem  ganzen  Sagenkreise  ist  und  dichterisch  auch  die  manch- 
fachste  Weiterbildung  erfahren  hat^). 

In  den  früheren  Epen,  die  ihn  besingen,  bildet  das  Reich  Karls  des 
Grossen  den  Schauplatz  seiner  Thaten,  und  zwar  ist  bezeichnend  für 
ihn,  dass  er  nicht  nur  als  ein  gewaltiger  Streiter  gegen  die  Ungläub- 
igen erscheint,  sondern  auch  als  der  leidenschaftliche  Widersacher  des 
Königs  Karl.  Verursacht  wird  diese  Feindschaft  dadurch,  dass  Ogiers 
Sohn  Bauduinet  durch  Karlot,  den  Sohn  Karls  beim  Schachspiel  er- 
sehlagen wird.  Ogier  geht  als  Rebell  zu  Dosier  (Desiderius)  nach 
Italien  und  wirft  sich  nach  der  Niederlage  der  Longobarden  in  das 
Schloss  Gastelfort.  Dort  verteidigt  er  sich  sieben  Jahre  lang  auf  das 
Hartnäckigste  unter  den  manchfachsten  Wechselfällen,  und  als  er  allein 
noch  von  den  Verteidigern  übrig  und  durch  die  Not  auf's  Äusserste 
gebracht  ist,  giebt  er  das  Schloss  auf,  bricht  durch  und  entkommt  seinen 
Verfolgern.  Dann  wird  er  von  Turpin  schlafend  getroffen  und  gefangen 
genommen,  von  Karl  zum  langsamen  Hungertod  verurteilt,  aber  von 
Turpin  heimlich  am  Leben  erhalten.    Der  Heidenkönig  B  r  e  h  i  e  r  nutzt 


1)  Grimm  1.  c.  II.  p.  803.  —  von  der  Hagen,  Museum  far  altdeutsche  Lite- 
ratur und  Kunst,  Berlin  1809.  I.  p.  269  ff.  —  Lorentz  in  Ersch  und  Grubers  Allg. 
Encyclopftdie  der  Wissenschaften  und  KQnste,  III.  Section,  II.  Teil  p.  299  f.  — 
Grässe,  Sagenkreise  p.  340  ff.  —  Dunlop,  Geschichte  der  Frosadichtungen,  deutsch 
von  Liebrecht,  Berlin  1851  p.  139  ff.  —  G.  Paris,  Histoire  poStiqne  de  Charlemagne, 
Paris  1865,  137  f.,  249 f.,  305 ff.,  330  ff.  —  L.  Gautier,  Les  ^popees  fran^aises, 
Paris  1878—92.  IL  p.  300,  450,  553;  III.  p.  52  ff.,  240ff.  —  Voretzsch,  Über  die 
Sage  von  Ogier  dem  Dänen,  Halle  1891.  —  Renier,  Ricerche  sulla  leggenda  dl 
Uggeri  11  Danese  in  Francia,  Turin  1891. 


Veltro,  GroBB-Chan  und  Kaisersage  55 

das  Verschwinden  Ogiers,  macht  einen  Einfall  in  Frankreich  und  bringt 
Karl  in  die  äusserste  Not.  Trotzdem  es  bei  Todesstrafe  verboten  ist, 
Ogiers  Namen  zu  nennen,  ruft  die  Ritterschaft  Karls  laut  nach  ihm, 
als  ihrem  Retter;  Karl  lässt  den  Todtgeglaubten  aus  dem  Kerker  holen, 
und  nachdem  Ogier  seiner  Rache  auf  den  Einspruch  des  heiligen  Michael 
entsagt  und  sich  mit  Karl  versöhnt  hat,  unternimmt  er  den  Kampf, 
tödet  Brehier  und  erringt  einen  vollkommenen  Sieg  über  die  Heiden. 

Wir  finden  hier  schon  fast  alle  Hauptmomente  der  Kaisersage  bei- 
sammen: wir  haben  nicht  nur  den  Retter,  der  im  Augenblick  der 
höchsten  Not  erscheint  und  die  Christenheit  zum  entscheidenden  Sieg 
fuhrt,  wir  haben  auch  das  Leben  im  Verborgenen,  das  diesem  letzten 
siegreichen  Auftreten  vorhergeht,  das  Gerücht  von  seinem  Tod  und  zu- 
gleich den  allgemeinen  Glauben,  dass  er  der  berufene  Retter  sei ;  ausser- 
dem aber  haben  wir  auch  den  scharfen  Gegensatz  zu  König  Karl,  wie 
er  aus  bereits  vorhandenen  Keimen  sich  entwickelnd  in  dem  ,Weis- 
sagungskrieg^  der  naehstaufischen  Zeit  so  ausgeprägt  hervortritt.  Aber 
die  dichtende  Sage  arbeitet  weiter.  .Es  ist,  als  ob  ihr  das  Motiv  der 
Entrückung  und  Wiederkehr  des  Helden  in  der  alten  Fassung  nicht 
mehr  deutlich  genug  gewesen  wäre;  sie  spinnt  das  Leben  Ogiers 
weiter  und  wiederholt  jene  Motive  mit  stärker  herausgearbeiteten 
Kontrasten. 

Nachdem  Ogier  den  Einbruch  der  Saracenen  von  der  Christenheit 
abgewehrt  und  die  von  ihm  befreite  englische  Königstochter  zur  Gattin 
genommen  hat,  findet  er  doch  keine  Rast  zu  Hause.  Er  fasst  den 
Entschluss,  selbst  in's  Morgenland  zu  ziehen  und  dort  die  Heiden  zu 
bekämpfen  und  zu  bekehren.  Mit  seinen  Vettern  und  einer  Heerschaar 
macht  er  sich  auf  die  Fahrt  und  durchzieht  als  Sieger  den  ganzen 
Osten.  Reich  um  Reich  wird  zur  Huldigung  gezwungen;  aber  in 
keinem  nimmt  er  selbst  die  Krone ;  er  setzt  seine  Begleiter  einen  nach 
dem  anderen  als  Herrscher  ein  über  die  getauften  Völker;  er  selbst  ist 
der  Gotteskämpfer,  den  es  nicht  nach  weltlicher  Macht  gelüstet, 
sondern  der  nur  das  eine  Ziel  verfolgt,  die  Heidenschaft  fär  das  Christen- 
tum zu  gewinnen.  So  zieht  er  weiter  und  weiter  durch  die  abenteuer- 
lichsten Länder,  die  erfüllt  sind  von  Wundern  aller  Art.  Schliesslich, 
nachdem  der  ganze  Osten  siegreich  durchzogen  und  seine  Aufgabe  damit 
erfüllt  ist,  kommt  er  nach  Avalen,  in  das  Reich  der  Fee  Morgan e, 
die  ihn  schon  längst  in  Liebe  erwartet.  Er  lebt  bei  ihr,  zusammen  mit 
König  Artus,  ihrem  Bruder,  in  ewiger  Jugend,  ohne  der  Heimat 
zu  gedenken  und  den  Lauf  der  Zeit  zu  gewahren.    Nach  zweihundert 


56  Alired  Bassermann 

(bei  Anderen  dreihundert)  Jahren  kommt  die  Christenheit  wieder  in  Not. 
Sanct  Michael  wird  zu  Morgane  geschickt,  wie  Hermes  zu  Ealypso,  mit 
Gottes  Befehl,  ihren  Liebling  nach  Frankreich  zu  entlassen.  Er  zieht 
hin  und  vollbringt  sein  Retteramt,  angestaunt  als  Fremder  in  einer 
fremden  Zeit.  Dann  aber  verrät  er,  dem  Verbot  Morganens  zuwider,  wo 
er  gewesen,  und  trennt  sich  treulos  von  dem  Ring  der  ewigen  Jugend, 
den  ihm  die  Fee  geschenkt.  Plötzlich  gealtert  und  der  Hoffnung  auf 
Rückkehr  nach  Avalen  beraubt,  legt  er  sich  hin  um  zu  sterben.  Aber 
im  letzten  Augenblick  erscheint  Morgane  und  entführt  ihn  heim  nach 
Gastel  Plaisant  auf  Avalen.  Sie  muss  ihn  aufbewahren,  bis  die  Christen- 
heit, die  er  sechsmal  gerettet,  wieder  seiner  bedürfe.  Wenn  er  zum 
siebten  Mal  seines  Amtes  gewaltet,  wird  Gott  ihn  noch  drei  Jahre  auf 
Erden  lassen  und  dann  in  das  Paradies  aufnehmen  ^). 

Diese  Züge  aus  der  Feenwelt  des  König  Artus  zeigen  sich 
der  Ogier-Sage  in  der  Alexandriner- Version  des  vierzehnten  Jahrhunderts 
beigemengt,  aus  der  sie  dann  auch  in  den  Prosaroman  übergehen*). 
Nicht  unerwähnt  darf  bleiben,  dass  in  dem  Alexander-Roman  von 
Lambert  li  Tors  die  Säulen  des  Hercules,  hornes  Arcus,  einmal 
auch  hornes  Ar  tu  geschrieben  werden'),  dass  also  unter  dem  König 
Artus,  den  Ogier  in  der  seligen  Insel  am  Rand  der  Erde  trifft,  auch 
Hercules  verborgen  sein  mag,  dessen  Säulen  in  der  Nähe  des  irdischen 
Paradieses  stehen. 

Für  uns  ist  von  hervorragender  Wichtigkeit  die  Darstellung  dieses 
zweiten  Teils  der  Ogier-Sage,  wie  sie  in  die  Reisebeschreibung  des 
Johannes  von  Montevilla  oder  John  Mandeville,  den  wir 
oben  beim  Baum  im  Thale  Mambre  schon  zu  erwähnen  hatten,  ver- 
arbeitet ist.    Das  Buch  ist  allerdings  erst  um  die  Mitte  des  vierzehnten 

1)  In  Dänemark  finden  wir  Ogier  als  den  Nationalhelden  Holger  in  die  Tiefe 
entrückt,  in  einem  Berg,  einer  Höhle,  dem  Schlosskeller  von  Kronborg  schlafend,  bis 
sein  Land  einen  Retter  braucht,  so  wie  ihn  Andersens  Märchen  noch  schildern.  In 
welchem  Verhältnis  die  dänische  Sage  zu  der  Karolingischen  steht,  ist  noch  nicht 
genftgend  aufgehellt  Doch  ist  Ogiers  Beiname  »der  Däne""  wohl  nicht  nur  als  »eine 
blosse  dichterische  Erfindung**  (Voretzsch  1.  c.  p.  119)  zu  erklären.  Jedenfalls  zeigt 
dieser  Zug  der  dänischen  Sage  die  gleiche  Weiterbildung  des  ursprOnglichen  Ge- 
dankens, wie  die  EntrQckung  in  Kyffhäuser  und  Untersberg  bei  der  Kaisersage,  ein 
Stadium,  das  aber  schon  jenseits  unserer  Untersuchungen  liegt  Grimm  I.  c.  — 
G.  Paris,  Revue  critique  d'histoire  et  de  litterature,  V.  p.  103  ff.  —  Das  dänische 
Hauptwerk,  Pio,  sagnet  om  Holger  danske,  Kopenhagen  1869  war  mir  nicht  zu- 
gänglich. 

2)  Renier,  I.e.  p.  44ff. 

3)  Meyer,  Alexandre  le  Grand  II.  p.  171  ff.,  216  f. 


Veltro,  Gross-Cban  iind  Kaisersage  57 

Jahrhunderts  geschrieben,  es  ist  aber,  von  wenigen  Partien  abgesehen, 
die  auf  eigenen  Reiseerlebnissen  des  Verfassers  in  Ägypten  zu  beruhen 
scheinen,  nichts  weiter  als  eine  grosse  Compilation  aus  schon  vor- 
handenen Werken  Anderer').  Es  ist  dem  Verfasser  des  Mandeville 
Jean  de  Bourgoigne  schwer  verübelt  worden,  dass  er  sein  ausser- 
ordentlich vielseitiges  Wissen  so  schmählich  missbraucht  hat,  sich 
gänzlich  zu  Unrecht  den  Ruhm  eines  grossen  Reisenden  zu  verschaffen 
und  die  Welt  auf  Jahrhunderte  hinaus  zu  mystificieren ').  Aber  wir 
müssen  ihm  doch  auch  Dank  wissen  für  sein  ungeheuerliches  Plagiat, 
das  uns  gerade  durch  die  grosse  Belesenheit  des  Mannes  ein  umfassen- 
des Bild  davon  giebt,  wie  sich  das  Wunderland  des  Orients  in  den  ge- 
bildeten Köpfen  des  vierzehnten  Jahrhunderts  spiegelte,  und  dadurch 
als  eine  wahre  Fundgrube  für  den  Dante-Commentator  sich  erweist. 
Mehr  Schwierigkeiten  scheint  auf  den  ersten  Blick  der  Umstand  zu 
bieten,  dass  in  dem  französischen  und  englischen  Text  der  Reisebeschreib- 
ung, wie  er  uns  heute  vorliegt,  diese  Anklänge  an  Ogier  vollkommen 
fehlen  und  nur  in  der  lateinischen  Fassung  sowie  in  der  deutschen 
Übersetzung  des  Otto  von  Diemeringen  sich  finden').  Gleich- 
wohl scheint  es  mir  nicht  angängig,  deshalb  die  Ogier-Elemente  ein- 
fach als  spätere,  dem  Original  fremde  Zusätze  auszuscheiden.  Wir 
finden  nämlich  —  was  meines  Wissens  noch  nicht  beachtet  worden  ist 
— ,  dass  alle  diese  Ogier-Stellen  Mandevilles  unverkennbar  und  grossen- 
teils  wörtlich  übereinstimmen  mit  den  Berichten  über  Ogier,  welche  die 
Chronik  des  Jean  des  Preis,  dit  d*Outremeuse,  genannt  „Ly 
myreur  des  hisiors*)^  anfüllen.  Dieser  Jean  des  Preis  aber,  ein  bischöf- 
licher Notar  zu  Lüttich,  war  eng  befreundet  mit  jenem  gelehrten  Arzt 
Jean  de  Bourgoigne,  dit  ä  la  Barbe,  der  die  Rolle  des  fahren- 
den Ritters  Johann  von  Mandeville,  Grafen  von  Montfort  bis  auf  sein 
Todbett  so  täuschend  durchführte,  und  wurde  von  ihm  sogar  zum 
Testamentsvollstrecker  ernannt  (Jean  de  Bourgoigne  starb  in  Lüttich 
1372,  Jean   des  Preis  1400^).    Unstreitig  wirft  diese  persönliche  Be- 


1)  cf.  Bovenschen,  Johann  von  Maadeville    und  die  Quellen  seiner  Reise- 
beschreibuog,  Zeitschrift  der  Gesellschaft  für  Erdkunde,  Berlin  1888  XXIII  p.  177  ff. 

2)  Boven sehen  1.  c.  passim. 

3)  Zarncke,  Priester  Johannes  II.  p.  128  ff. 

4)  Herausgegeben  von  Borgnet  und  Bormans  in  der  Collection  de  chroni- 
ques  Beiges  inedites,  Brüssel  1864—1887. 

5)  cf.  Bormans,  Introdaction  zum  Myreur  p.  CXXXIII.  —  Bovenschen 
L  c  p.  197  ff. 


58 


Alfred  Bassermann 


Ziehung  der  beiden  Schriftsteller  ein  besonderes  Licht  auf  die  Über- 
einstimmungen in  ihren  Werken  und  lässt  sie  uns  doppelt  auffällig  er- 
scheinen. 

Wir  geben  zunächst  zwei  solche  übereinstimmende  Stellen,  die  wir 
aus  dem  tiefsten  Orient,  aus  ^dem  Land,  wo  der  Pfeffer  wächst'', 
herausgreifen. 


Mandeville  II.  cp.  8*). 

Item  von  jndia  der  grossen  stai  zu 
der  zückt  man  von  Cana  und  kompt  zu 
der  stat  gen  Sarque,  die  eine  edle  gutt 
8t(U  ist,  und  darin  sint  vü  Christen  lüte 
und  auch  vil  kirchen^  die  Oggier 
hat  Jossen  buwen,  do  er  das  selbige 
Land  gewan.  Von  Sarque  zücht  man 
durch  das  mere,  und  damoeh  so  kom- 
ment  mann  durch  Lorwe,  das  ist  das 
lande  do  der  pfeffer  wachsset 
und  do  man  in  buwet  und  ist  zu  wissen, 
das  niergen  in  der  gantzen  wdt  kein 
pfeffer  wcichsset  dann  (Ulein  do.  Er 
wachsset  wöl  achtzehen  tagreise 
lang  und  im  gewUd  und  strut  do  er 
wachsset  do  buwet  derselbe  Oggier 
zwo  grosse  stet  do  er  diegewan  und 
heisset  eyne  noch  Flandrie,  wan 
er  gab  ir  den  namen  einer  anen 
zu  eren,  die  was  sines  vatters  Gotfrids 
mutterj  und  hiess  Flandrimia  und  was 
des  Dorichus  von  Mentz  tochter  gewesen. 
Die  ander  etat  heisset  Floranse 
nach  syner  mutter  dije  hyess 
Florentina,  und  hyess  ir  mutter 
Vicrisa,  und  was  syn  ane oder  gross- 
frawe  des  känigs  Bdleprons  von  un- 
gern eeliches  wybe  und  was  florentina 
Sampsonis  dochter,  ßen  man  nennet  der 
Uwe,  und  wm  berchten  Schwester  die 
künig  Karolus  gebare. 

Die  Zusammengehörigkeit  der  beiden  Stellen  ist  unverkennbar, 
wenn  auch  bei  Mandeville  Ogiers  Stammbaum  etwas  anders  angegeben 
ist  als  bei  Des  Preis.  Übrigens  finden  sich  an  anderen  Stellen  des 
Myreur  (II.  p.  434,  IIL  p.  2  f.)  die  meisten  der  von  Mandeville  auf- 
geführten Verwandten  Ogiers  gleichfalls  genannt.   Ausserdem  lässt  diese 


Jean  des  Preis  III.  p.  57. 

Apres  vinrent  en  Viele  que  ons  ap- 
pelle  üanal.  Apres  vinrent  ä  Sarc- 
que  qui  syet  en  la  moyene  Indre,  oü 
Us  Sarazins  se  sont  rendus  ä  Ogier  et 
pris  baptesme.  Et  furent  lä  main- 
tes  eglises  ediffiees,  oii  ü  mist  des 
moynes  et  des  rdigieux  christiens,  et  y 
sont  encors,  et  les  nome-ons  encore  les 
eglises  Danois.  Apres  sont  ventui  ä 
Lombe  unc  grand  pays,  oti  il  at 
grandz  forestz  et  plusseurs,  et 
tient  ehis  paiis  X  Vllljoumies  de  Umgs, 
et  n'y  avoit  vilhes,  eiteis  ne  castelz.  Et 
vint  ä  Combar  sur  la  nviere  d^Argins, 
oü  Ogier  fondat  II  eiteis,  et 
nommat  Vune  Flandrine  et  Flo- 
rentine  Vautre;  et  les  nommat 
ensy  apres  ses  deux  grandames: 
la  mere  de  son  pere  et  la  mere  de  sa 
mere,  et  encore  y  sont  les  dictes  eiteis. 
Et  y  croist  ly  poivre  tout  ensy  que 
des  roisins  aux  troicques;  che  semble 
vigne  saulvaige. 


1)  Über  die  Quellen  zu  dieser  Stelle  cf.  Bovenschen  1.  c.  p.  286. 


Veltro,  Gross-Chan  und  Kaisersage  59 

Stelle  auch  erkenoen,  dass  die  deutsche  Fassung  dem-  Französischeu  ent- 
nommen ist;  denn  der  ungewöhnliche  Ausdruck  Crrossfrawe  für  «Abne^ 
ist  nichts  weiter  als  eine  Übersetzung  der  bei  Des  Preis  gebrauchten 
Bezeichnung  grandames.  Die  gleiche  Übereinstimmung  findet  sich  fast 
allenthalben,  wo  in  den  beiden  Bachern  von  Ogier  und  seinen  Orient- 
fahrten die  Bede  ist,  sodass  kein  Zweifel  darüber  entstehen  kann,  dass 
ein  mehr  als  zufälliges  Zusammentreffen  vorliegt^).  Dass  dasselbe 
wirklich  bis  auf  die  beiden  Freunde,  den  Verfasser  des  Myreur  und  den 
des  Mandeville  zurückgeht,  scheint  mir  noch  dadurch  bestärkt  zu  werden, 
dass  nicht  nur  bezüglich  der  Ogiersage,  sondern  auch  an  Stellen,  die 
ebenso  im  französischen  und  englischen  Mandeville  enthalten  sind,  sich 
Übereinstimmungen  mit  Jean  des  Preis  erkennen  lassen ').  Wie  dieser 
Zusammenhang  des  Näheren  zu  denken  ist,  ob  beide  Schriftsteller  die 
gleiche  Quelle  benutzt  haben,  ob  einer  dem  anderen  entlehnt  hat,  ob 
beide  sich  gegenseitig  ausgeholfen  haben,  ist  schwer  zu  sagen.  Ich 
möchte  vermuten,  dass  das  Letztere  der  Fall  ist,  dass  die  eigentliche 
Geschichtserzählung  von  Jean  des  Preis  herrührt,  während  die  Aus- 
schmückung mit  geographischen  Einzelheiten  von  Jean  de  bourgoigne 
aus  dem  Schatze  seiner  Belesenheit  beigesteuert  sein  mag.  Vielleicht 
liesse  sich  die  Sache  auch  so  erklären,  dass  Jean  des  Preis,  der  als 
Testamentsvollstrecker  in  Besitz  des  Nachlasses  seines  Freundes  kam, 
die  von  ihm  gesammelten  Stücke  der  Ogier-Sage  nachträglich  in  den 
Mandeville  verarbeitet  und  seinerseits  die  phantastischen  Schilderungen 


.  58 

» 

II 

.     7 

.  58 

» 

n 

,    8 

,58 

n 

m 

,    8 

.  58,59 

1* 

« 

.    9 

1)  Es  seien  hier  nur  einige  der  auffälligsten  Beispiele  noch  namhaft  gemacht: 
Herkunft  des  Priesters  Johannes  Myreur  III.  p.  52  Mandeville  IV  cp.  4 
Mäuse  so  gross  wie  Hunde  „  « 
Jungbrunnen  „  „ 
Witiren?erbrennung,  Weintrinken  der  Frauen  „  „ 
Grab  des  heiligen  Thomas  in  Mabaron  « 
Die  Bäume,  die  Mehl,  Wein,  Honig  und  Gift 

tragen  „         .     «  62  „  „      *  12 

und  viele  andere.  Die  Fassung  bei  Jean  des  Preis  scheint  der  Mandevilles  gegen- 
über manchmal  etwas  abgekürzt,  ein  Umstand,  der  aber  für  die  Frage  der  Priorität 
nicht  in  Betracht  kommt,  sondern  darin  seine  Erkiftrung  findet,  dass  gerade  für  den 
Teil  der  Chronik,  der  diese  Stellen  enthält,  bei  der  Publikation  nur  eip  Manuskript 
in  abgekürzter  Fassung  zur  Verfügung  stand,  cf.  III.  p.  1  und  Band  der  Introduction 
von  Bormans  p.  V. 

2)  Schon  Bovenschen  I.e.  p.  213  Anmerkung  hat  dies  bezüglich  der  vita 
Adae  und  der  Legende  vom  Kreuzesholz  (Myreur  I.  p.  317—324,  Mandeville  cp.  2 
bczw.  I.  cp.  3)  bemeikt  und  auf  eine  mögliche  Wechselbeziehung  hingewiesen,  wäh- 
rend er  die  Ogier-Steilen,  da  sie  im  französischen  und  englischen  Texte  fehlen,  nicht 
beachtet  bat. 


60  Alfred  Bassermann 

des   Orients   aus    dem    Mandeville    in    seine    eigene   Chronik    einge- 
flochten bat. 

Sicher  scheint  mir  dagegen,  dass,  wie  wir  im  Mandeville  eine 
Mosaikarbeit  von  Lesefrüchten  vor  uns  haben,  ebenso  auch  Jean  des 
Preis  in  seiner  Chronik  nur  Entlehntes  zusammengearbeitet  hat,  aller- 
dings mit  dem  Unterschied,  dass  er  kein  Hehl  daraus  macht,  sondern 
stolz  darauf  ist,  Gewährsmänner  zu  haben.  Bei  aller  Leichtgläubigkeit 
und  Kritiklosigkeit  zeigt  er  sich  überall  vom  besten  Willen  beseelt,  die 
zuverlässigsten  Quellen  aufzusuchen  und  sie  gewissenhaft  wiederzugeben, 
sodass  sein  Herausgeber  Bormans  (Introd.  CLXV)  mit  Becht  von  ihm 
sagen  kann :  Pour  le  fond  Jean  d/Outremeuse^  malgr^  les  fahles^ 
tnalgre  les  absurditis  accumulees  dans  son  Myreur^  n'y  a  rien  mis 
du  sien.  Tont  ce  qu'il  rapporte,  il  Va  trouve  ailleurs,  et  c*est  en 
toute  sincerite  quHl  peut  dire:  chu  que  je  n'ay  troveis,  si  m'eti 
tairay  *). 

Was  Jean  des  Preis  über  Ogier  berichtet,  scheint  er  der  Haupt- 
sache nach  aus  der  für  uns  verlorenen  Chronik  des  lütticher  Bischofs 
Hugues  de  Pierrepont  (um  1214),  Ul  chronique  des  Vavassours, 
geschöpft  zu  haben,  für  die  er  immer  eine  besondere  Wertschätzung 
bekundet,  die  er  für  Ogier  aber  geradezu  als  klassisches  Dokument  be- 
trachtet, da  der  Bischof  den  zurückgekehrten  Ogier  im  Jahre  1214  selbst 
gesehen  und  nach  Ogiers  eigener  Erzählung  seine  Geschichte  aufge- 
zeichnet habe^).  Ein  merkwürdiges  Zusummentreffen  darf  hier  nicht 
unerwähnt  bleiben,  dass  nämlich  fast  um  die  gleiche  Zeit,  da  Bischof 
Hugues  den  wiedergekehrten  Ogier  gesprochen  haben  will,  im  Jahre 
1210  auch  die  Weltchronik  des  Alberich  von  Trois-Fontaines 
von  dem  Auftreten  eines  greisenhaften  Bitters,  der  sich  für  Ogier  aus- 
gab, berichtet^).    Damit  ein  solcher  falscher  Ogier  auftreten  konnte, 


1)  Gautier  giebt  keine  Gründe  für  seine  entgegengesetzte  Meinung  (Epop.  III, 
p.  553  Anm.):  „11  reste  k  oerire  une  etude  decisive  sur  les  sources  de  Jean  d'Outre- 
meuse:  l'une  des  principales  k  coup  sür  a  ete  son  imagination. 

2)  Bormans,  [Introd.  p.  XVI,  XCV  ff.,  CLVI;  Myreur  I.  p.  2,  V.  p.  123, 
131  f.,  161.  —  Als  mit  diesem  Bericht  des  Bischofs  von  Lüttich  übereinstimmend 
nennt  Jean  des  Preis  noch  die  Aufzeichnungen  des  Ahtes  Enguerrand  von  St. 
Denis  und  des  Abtes  S|eguin  von  Meaux  en  Brie,  die  auch  an  der  Chronique  des 
Yavassouis  mitgearbeitet  zu  haben  scheinen.   Y.  p.  136. 

3)  Pertz  SS.  XXIII.  p.  891.  A  partibus  Hispaniarum  venit  hoc  tempore  quidam 
valde  senio  confectus  miles  grandevus,  qni  se  dicebat  esse  Ogerom  de  Dacia,  de  quo 
legitur  in  historia  Karoli  Magni,  et  quod  mater  eins  fueric  fiUa  Theodorici  de  Ar- 
denna.  Hie  itaque  obiit  hoc  anno,  ut  dicitur  in  dyocesi  Nivernensi,  villa  que  ad 
sanctum  Patricium  dicitur,  prout  illic  tarn  clerici  quam  layci  qui  viderunt  retulerunt. 


Veltro,  Gross-Chan  irnd  Kaisersage  61 

musste  jeden  Falls  schon  eine  Sage  vorhanden  sein,  die  den  Gedanken 
der  wunderbaren  Wiederkehr  des  Helden  nach  langem  Fernsein  dem 
Volke  vertraut  gemacht  hatte. 

Ausserdem  finden  sich  im  Myreur,  worauf  schon  Bormans  (Introd. 
p.  XVIII)  aufmerksam  macht,  an  einer  ganzen  Reihe  von  Stellen,  die 
sich  auf  Ogier  beziehen,  die  unverkennbaren  Spuren  von  Versen*). 
Ob  darin  Bruchstücke  der  (verlorenen)  Geste  cT  Ogier,  zu  der  sich  der 
gleiche  Verfasser  bekennt,  zu  erblicken  sind,  wie  Bormans  annimmt, 
möchte  ich  bezweifeln,  da  die  meisten  dieser  Stellen,  so  die  leicht 
humoristische  Episode,  wo  sich  der  hungerige  Ogier  bei  den  Pilgern  durch 
einen  Imbiss  zum  Kampfe  stärkt  und  deren  Bewunderung  ebenso  durch 
seinen  Appetit  wie  durch  seine  Taperkeit  erweckt,  oder  etwas  weiter, 
wo  er  sich  auf  seinem  Ross  Broiefort  über  den  Fluss  gerettet  hat  und 
nun  Karl  höhnt,  weil  er  nicht  folgen  kann  (III  p.  252),  oder*  die  stim- 
mungsvolle Schilderung  seiner  heimlichen  Ausfahrt  (IV.  p.  41),  oder  der 
mächtige  Schluss  (V.  p.  137)  von  einer  volkstümlichen  Frische  und 
dichterischen  Kraft  sind,  die  auffallend  abstechen  gegen  die  sonstige 
Vortragsweise  des  Jean  des  Preis,  wie  sie  sowohl  in  seiner  Chronik  als 
auch  in  seiner  Geste  de  Lüge  hervortritt. 

Eine  in  der  Chronik  versteckte  Reimspur  ist  für  uns  noch  von 
einem  besonderen  Interesse.  Als  Ogier  sich  heimlich  auf  seine  letzte 
Fahrt  gemacht  hat  und  von  seinem  Sohn  Beuve  vergeblich  gesucht 
worden  ist,  heisst  es :  et  li  novelle  se  vat  espadant  que  Ogier  est  perdus, 
ans  fie  seit  qu'il  est  devenus.  Die  Stelle  erinnert  überraschend  an  die 
Verse  Oswalds  des  Schreibers: 

Also  ward  der  hochgeporn 
Keiser  Friderich  do  verlorn, 

ebenso  wie  überhaupt  die  Gestalt  Ogiers  mit  dem  sagenhaften  Kaiser 
Friedrich  mehr  und  mehr  ähnlich  geworden  ist.  Dass  aber  die  Ogier- 
Sage  diese  Entwickelung  genommen  hat,  ist  nicht  die  zufällige  Laune 
eines  einzelnen  Schriftstellers  gewesen,  sondern  das  Gesetz  ihres  Orga- 
nismus, der  eben  diese  Keime  in  sich  barg,  das  Gesetz,  nach  dem  eine 
jede  Sage  wächst  und  wird, 

Wenn  Jahre  lang  durch  Länder  und  Geschlechter 
Der  Mund  der  Dichter  sie  vermehrend  wälzt. 


1)  über   die  Versspuren   in   den  Prosa-Romanen   cf.  Gautier,  Epopees  II 
p.  442  ff. 


62  Alfred  Bassermann 

Es  scheint  mir  hiernach  als  sicher  angenommen  werden  zu  können, 
dass  die  Ogier-EIeraente  in  dem  deutschen  Mandeville  nicht  willkürliche 
Zuthaten  des  Uebersetzers  Otto  von  Diemeringen  sind'),  sondern  auf 
ältere  über  das  Original  des  Mandeville  hinaufreichende  Quellen  zurück- 
gehen, und  wenn  wir  auch  nicht  behaupten  können,  dass  sie  gerade  in 
diesem  Ori^nal  enthalten  gewesen  seien,  wie  es  aus  der  Hand  des  Jean 
de  Bourgoigne  hervorgegangen  ist,  so  haben  wir  doch  zum  Mindesten 
das  Recht  ~  und  das  ist  das  Wichtige  für  uns  —  sie  als  Zeugnis  für 
die  Anschauung  der  älteren,  Dante*schen  Zeit  in  Anspruch  zu  nehmen. 

Die  Anspielungen  auf  Ogier  finden  sich  allenthalben  eingeflochten, 
wie  die  fingierte  Beise  von  Land  zu  Land  fortscheitet.  Aber  einmal 
benutzt  der  Schreiber  die  Gelegenheit,  die  ganze  Ogier-Sage,  in  einem 
kurzen  Auszug  zwar,  aber  im  Wesentlichen  nach  Jean  des  Preis,  uns 
vorzuführen.  Die  Stelle  ist  in  ein  Kapitel')  eingefügt,  das  von  Java 
handelt  und  dessen  sonstiger  Inhalt  wieder  dem  Odoricus')  entnommen 
ist.    Sie  lautet: 

Der  Künig  von  Jana  (=  Java)  hat  gar  ein  köstlichen  palast 
darin  er  tvonet.  Dann  alle  staffelen  dar  uff  man  in  den  palast  geet, 
sint  eflich  guldin  ctlich  silberin^  und  die  esterich  sint  gefierteilt  von 
gold  und  von  silber  gegen  einander  sind  die  muren  inwendig  alle  über- 
zogen mit  guldin  und  silberin  blettem.  In  denselben  blettern  sint  auch 
vil  ritterlicher  tluii  gewirkt  und  geschrieben.  In  dtm  obersten  sah 
steet  Oggiers  leben  und  sine  stryt  gar  werckliclien  gebildet  und  er- 
graben, wie  er  auss  Frankrich  in  dasselbe  Land  kommen  ist  und  wie 
er  alle  land  gewan  von  Rom  untz  gen  Indien*),  ivie  ihn  die  Göttin 
frow  Jana  (==  Morgana)  also  verzaubert^  das  er  nit  st^erben  möcht, 
und  das  er  noch  ob  zweyhundert  joren  uss  hidien  gen  Franckrich  käme, 
und  dan  er  nitt  änderst  wisste  dann  das  er  nitt  mee  dann  eyn  jor  uss 
gewesen  wer,  und  du  er  gen  Franckrich  kam,  da  verwundert  er  sich 
das  sich  die  letd  also  gar  verändert  hetten  in  eim  jor  wan  er  sach 
niemande  do  de7i  er  kante.  Auch  ston  an  den  muren  vil  grosse  stryt 
die  etwen  geschehen  sind   von  dem  grossen  Fürsten  Hector  Alexander 


1)  Von  der  Hagen,  1.  c.  p.  270.  —  Simrock,  Volksbücher  XIII.  p.  XIII. 

2)  Bach  II  cp.  11. 

3)  cp.  21.  cf.  Yule,  Cathay  App.  I.  p.  XVII. 

4)  Auch  dieser  Zug  bat  sein  Vorbild  im  Myreur,  wo  IV.  p.  52  ff.  erz&hlt  wird, 
wie  im  Gaste!  Plaisant  die  Wände  des  Saales  mit  den  Geschichten  der  Helden  aus- 
gemalt sind  und  bei  der  Ankunft  Ogiers  auf  einen  Wink  Morganens  mit  dessen 
Thaten  sich  schmücken. 


Veltro,  6ro88-Cfaan  and  Kaisersage  63 

Hercules  Keyser  Karoten  und  von  vil  anderen  slrytbar  Fürsten,  das 
doch  unglich  üt  den  Dingen  die  Oggier  gethon  haty  tcan  wer  zu 
synen  eytten  nitt  Christen  was  den  betewang  er  von 
nffgang  der  sunnen  biss  eum  nidergang  der  sunnen. 
und  noch  hüt  des  tages  haben  die  herren  indien  inne 
die  von  Oggiers  linien  harkomen  sint.  Auch  sind  in  dem 
landt  Jana  vil  mee  Christen  stet  dann  in  allen  anderen  Künigrichen 
sint,  die  wir  bys  har  genennet  haben.  Man  liset  auch  in  detnselben 
sal,  wie  Oggier  lang^  Künig  Karlen  gefangener  was,  und  lag  zn  Ileche^) 
in  der  stai  Alabien,  und  tvie  er  ledig  ward.  Do  Künig  Josore  inn 
Franchrich  zog,  do  Hess  in  Küttig  Kardus  ledig,  darumb  das  er  den 
Künig  Josore  bestreute,  und  do  half  im  Oggier  und  ertötet  den  Künig 
Josore  vor  der  statt  Laon*).  Und  do  er  ledig  wart  do  zoch  er  wider 
die  Iheiden  wan  er  het  in  der  gefencknuss  gelobt  und  unserm  hetren 
got  verheissen,  umrd  er  ledig,  er  u?6lte  alle  uncristen  lüte  durchwehten, 
und  do  Oggier  anfing  zu  ziehen  wyder  die  heyden  und  tvider  die  un- 
Christen  lüte  do  kam  er  in  Künig  Josores  vatters  lafid,  den  er  ertötet 
het,  Derselhe  Josores  votier  hiess  Künig  Bereiher.  Und  da  der 
horte  das  Oggier  in  syn  Tjand  was  kamen  da  legt  er  an  mit  den 
münchen  die  da  templer  heissen,  das  sy  im  dem  Oggier  verrieten  und 
gefangefi  geben.  Aber  das  geschähe  nit  und  Oggier  gewann  das  land 
und  damoch  alU  ander  land  die  nit  Christen  waren.  Und  nannte 
sich  selber  gottes  kempffer.  Wann  er  stryt  nit  umb  lüt 
noch  umb  land  oder  herschafft  zu  gewinnen.  Denn 
allein  darumb  das  er  möcht  die  menschen  zu  Christen- 
glauben bringen.  Etliche  in  denselben  landen  meinen, 
Oggier  lebe  noch  und  sy  an  enden,  do  götliche  lüt  wonen 
und  solle  noch  herwiderkomen  alle  lande  zu  rechter  or- 
denunge  setzen. 

Das  Charakteristische  an  dieser  Qestalt  des  Ogier  ist,  dass  er,  wie 
schon  Von  der  Hagen  treffend  sagt,  sich  uns  als  ein  christlicher 
Alexander  darstellt.  Sein  Zog  durch  das  Morgenland  ist  ein  Alexander- 
zug mit  der  ganzen  Ausstattung,  die  ihm  das  Mittelalter  verliehen  hat. 

■  9 

1)  Mekka,  so  auch  Myrenr  V.  p.  122  Meck.  Es  scheint  hier  eine  Vermengung 
der  beiden  Ton  Jean  des  Preis  erw&hnten  Gefangennahmen  Tonsuliegen,  III.  p.  267  ff. 
dorch  Torpin  und  III.  p.  340  durch  Isoreit  mit  Hilfe  der  Templer. 

2)  Der  Heidenkönig,  der  bei  Laon  von  Ogier  beeiegt  wird,  ist  im  Myrenr  (III. 
p.  280  ff.)  nicht  Josore,  sondern  Brehier,  entsprechend  der  ChoTalerie  Ogier,  während 
Brehiera  Sohn  Isoreit  erst  bei  der  zweiten  Gefangennahme  Ogiers  auftritt. 


64  Alfred  Bassermann 

Ogier  durchzieht  alle  jene  phantastischen  Länder  und  erfährt  und  besteht 
die  Wunder  und  Gefahren  der  Wüste,  der  Wildnis  und  des  Meeres,  deren 
Schilderung  seit  Pseudo-Callisthenes  und  Julius  Valerius  wie  ein  üppiger 
Tropenwald  die  Siegesbahn  des  hellenischen  Götterjünglings  dichter  und 
dichter  umwuchert.  Unter  diesen  Abenteuern  nun  ist  für  uns  von  her- 
vorragender Wichtigkeit,  dass  Ogier,  wie  Alexander,  zu  den  Bäumen 
der  Sonne  und  des  Mondes  kommt  und  dass  Mandeville  mit  diesem 
Besuch  die  Sage  von  Ogiers  Wiederkunft  in  Zusammenhang  bringt.  Die 
Stelle  lautet,  IV.  cp.  1 1 : 

Und  gen  syt  ist  ein  wüste  aool  XV  tagreisen  vom  wasser.  Do 
stundf  ein  boum  ^)  ihr  heisset  der  siinnen  und  des  mones  bäum  als 
man  mir  saget.  Darzu  mag  nieman  hörnen.  Den  thuf  priester  Johan 
mit  pf äffen  verhütten,  die  werden  hy  -fier  oder  fünffliundert  joren  alt, 
wan  des  Baumes  krafft  gibt  lang  leben ,  und  treit  baisam ,  und 
wachsset  auch  in  aller  Welt  kein  baisam  dann  do  und  zu  Babüonia  .... 
Man  saget  auch  in  den  selben  landen  das  Oggier  by 
den  selben  boumen  were  und  sich  spyset  mit  dem  baisam 
und  do  von  lebte  er  so  lang,  und  meinen  er  lebe  noch 
und  solle  har  wider  zu  inen  komen. 

Das  irdische  Paradies,  zu  dem  der  Myreur  (III.  p.  67)  Ogier  gleich- 
falls gelangen  lässt,  finden  wir  bei  Mandeville  (IV.  cp.  13)  nur  mit 
Alexander  in  Verbindung  gebracht.  Dafür  bietet  Mandeville  hier  eine 
bemerkenswerte  Angabe  über  die  Säule  des  Alexander: 

Und  man  meinet  auch  das,  das  der  grosse  Alexander  also  nahe 
zu  dem  paradise  kommen  sey,  das  er  die  muren  gar  wol  gesehen  habe, 
aber  er  kerne  nicht  in  das  paradise.  Doch  so  satzt  er  syn  zeychen 
dahyn  als  fer  er  kommen  was,  Geleiche  als  Hercules  thet  uff  dem 
hyspanier  möre  gegen  der  sunneti  undergang.  Das  zeichen  das  Ale- 
xander  sats  gegen  der  sunnen  uffgang  by  dem  paradise  das  heisset 
Alexanders  gades,  und  das  andere  heisset  hercules  gades*).  Und  das 
sint  grosse  steine  si'den  die  stöndt  uff  höhen  bergeti   zu  einer  eivigen 


1)  Die  von  Zarncke  (II.  p.  153)  wiedergegebene  Handschrift  hat  hier  rich- 
tiger den  Plural  entsprechend  dem  Aristotelesbrief,  ebenso  Jean  des  Preis  (III. 
p.  67),  der  sagt:  Et  puia  sont  venua  atix  deux  arbres  que  ons  dist  de  la  lune  et 
de  8oUal,  qui  parlont  ä  Alixandre  de  Machidoine;  de  leur  fruiet  mangnat  Ogier 
(useis  et  del  saincte  balme  aussy. 

2)  Hier  sind  also  die  Säulen  des  Herkules,  die  die  Alexandersage  im  fernsten 
Osten  annimmt,  zwar  an  ihre  klassische  SteUe  versetzt,  erscheinen  aber  doch  noch 
im  Zusammenhang  mit  den  Säulen  Alexanders. 


Veltro,  Gross-Chan  und  Kaisersag)?  g5 

hezeichnung   oder  hedeutunge    das  niemant  füre    dieselben   siilm   hyn 
amskommen  sol. 

Dies  gleiche  Verbot  haben  wir  aber  oben  in  jener  Legende,  die  den 
Baum  des  Seth  mit  der  arbor  sicca  identisch  erklärt,  mit  diesem  Banm 
verbunden  gesehen  (prohibens  eos  ne  arborem  transmearent),  was 
wieder  auf  eine  Verschmelzung  des  Baumes  mit  der  Säule  in  der 
späteren  Vorstellung  hinweist.  Und  andererseits  finden  wir  auch  die 
Bäume  der  Sonne  und  des  Mondes,  zu  denen  Ogier  kommt,  ebenso  in 
dem  Gebiet  des  Priesters  Johannes  wie  die  arbor  sicca  der  Legende, 
während  der  aus  Alexanders  Brief  an  Aristoteles  herstammende  Zug,  dass 
die  Bäume  gehütet  werden,  auch  bei  dem  dürren  Baum  der  Kaisersage 
wiederkehrt  *). 

Auf  diesem  Alexander-Zug,  der  bis  an  den  äussersten  Grenzpfahl 
der  Erde  führt,  sehen  wir  nun  Ogier  in  dem  Mass,  wie  er  ein  Reich 
nach  dem  anderen  erobert,  jeweils  aus  der  Zahl  seiner  Begleiter  neue 
Könige  einsetzen,  sodass  zum  Schluss  in  allen  Ländern,  die  er  durch- 
zogen hat,  neue  christliche  Dynastien  von  Ogiers  Gnaden  herrschen.  Die 
wichtigsten  unter  diesen  und  für  uns  von  besonderer  Bedeutung  sind  der 
Priester  Johannes  und  der  Gross-Ghan.  Beide  Gestalten  spielen 
auch  sonst  in  der  Vorstellung  des  mittelalterlichen  Abendlandes  eine 
grosse  Rolle  und  zwar  der  Art,  dass  sie  nicht  nur  die  Phantasie  der 
Dichter  und  Geschichten-Erzähler  beschäftigten,  sondern  auch  in  die 
Erwägungen  der  Politiker  als  beträchtliche  Faktoren  Eingang  fanden  *). 
Über  das  Wesen  der  Beiden  herrschte  die  grösste  Unklarheit  und 
Schwankung  in  der  mittelalterlichen  Auffassung.  Bald  werden  die  beiden 
Namen  als  die  von  bestimmten  einzelnen  Personen  aufgefasst,  bald  als 
typische  Bezeichnungen,  als  Herrschertitel.  Bald  erscheinen  beide  un- 
abhängig von  einander,  Priester  Johannes  als  der  Herr  von  Indien,  der 
Chan  als  derjenige  der  nördlicher  gelegenen  Länder  von  China  bis 
Vorder-Asien.  Bald  treten  sie  in  Gegensatz  zu  einander:  der  Chan 
überwindet  den  Priester  Jobannes  und  tritt  Kraft  des  Rechts  der  Er- 
oberung an  seine  Stelle;  oder  aber  der  Priester  Johannes  erscheint  als 

1)  S  im  rock,  Yolksbacher,  Kaiser  Friedrich,  genannt  Barbarossa,  II.  p.  239. 

,  welebes  Baumes  aMe  Sultane  noch  fleissig  hüten  lassen.    Das  ist  wahr, 

dass  des  Baums  gehütet  wird,  und  sind  Hüter  dazu  gestiftet;  welcher  Kaiser  aber 
seinen  Schild  daran  hängen  soll,  das  weiss  Gott. 

2)  Ausser  Zarncke  I.e.  cf.  auch  d'Avezac,  Vorrede  zu  Johannes  de  Piano 
Carpini  in  Recueil  de  Voyages  et  de  M^moires  IV.  p.  547 if.  —  d'Ohsson,  Histoire 
des  Mongols  I.  p.  62  Anin.  1.  —  Pauthicr,  Marco  Polo  1.  p.  176.  —  Yule,  Cathay 
p.CXXlI,  146  f.,  174  ff. 

NKUE  HKIDRLB.  JAHRRIIRCHKK  XI.  ^ 


66  Alfred  I3as9eiinann 

der  Vorfahre  des  Chan,  \mä  dieser  übernimmt  als  Erbe  zugleich  die 
Macht  und  den  Titel  des  Priesters  Johannes.  Immer  aber  sieht  das 
Abendland  in  den  beiden  Gestalten  machtvolle  Bundesgenossen,  die  von 
Osten  gegen  die  Sarazenen  heranziehend  den  Kreuzbeeren  im  Kampf 
um  das  heilige  Land  Luft  machen.  Dabei  werden  sie  entweder  geradezu 
für  Christen  gehalten  oder  doch  als  Freunde  des  Christentums  betrachtet, 
deren  Bekehrung  zum  rechten  Olauben  zu  erwarten  stehe. 

Im  deutschen  Mandeville  wird  nun  diese  Mischung  noch  bunter 
und  die  Beziehung  zum  Abendland  zugleich  noch  enger,  indem  aus  dem 
Myreur^)  der  Zug  herübergenommen  wird,  dass  der  Priester  Johannes 
und  der  Gross-Chan  ursprünglich  auch  zwei  von  Ogier  zu  Königen  ein- 
gesetzte Genossen  seiner  Fahrt  sind,  die  zwei  mächtige  Dynastien 
gründen. 

Buch  IV.  cp.  4  wird  darüber  folgendermassen  berichtet: 

Und  da  man  zalt  von  goties  gehurt  achtlmndcrt  und  sechzehn 
jarCf  da  soch  Oggier  von  Denmarken  in  dieselben  latide  und  gewan 
Kalhaia  und  Indien  und  die  landt  mit  einander'  an  derselben  gegne,  und 
was  er  getran  das  gab  ei'  synen  f runden  und  denen  die  im  gehx>rsame 
dienste  iheten.  Und'  alle  die  haben  sythar  das  la^idt  ingeh<hU  Also 
isl  der  adel  und  die  hefTsrhaft  ye  von  einem  an  den  andern  kommen. 
Bier  ist  zu  merJcen,  wie  der  nnm  Priester  Johan  uffkomcn  ist 
des  ei'sten.  Oggier  der  h>et  ein  frnnd  der  hicss  Künig  Godebueh  von 
Friessland,  der  het  einen  sün  der  hiess  Johannes.  Derselbe  Johannes 
der  lag  alle  ,zf/t  in  der  kirchen  und  bettet  vil  und  was  gar  andechtig 
und  fhet  auch  viel  gutter  priesterliche  werck.  Und  darumh  das  er 
also  geistlich  und  als  vil  in  der  Mrchen  was,  da  was  er  ander  letitcn 
ein  spot^  und  da  gäbe  man  ihm  den  namen  prieste)*  Johan.  Nun  fugt 
es  sich  das  dei*selbe  Johannes  gar  ein  manlich  that  begi^mge  dai'umb 
im  syn  vetter  Oggier  hold  und  geneigt  ward  und  im  die  land,  die  er 
gewonnen  hette,  befalch  und  schied  Oggier  von  den  landen  und  behielt 
*  priester  Johan  die  selben  land  und  beliebe  im  auch  der  namc  den 
auch  alle  syne  nachkommen  noch  heut  d^s  tages  haut  und  also  ward 
der  spot  zu  einem  ei-nst  Das  hab  ich  gelesen  in  den  selben  landefi  in 
den  a'önicken  die  da  ligoit  in  derselben  stat  Nyse  in  unser  frairen 
münster,  und  ich  glaub  nit  änderst  dan  das  der  name  daselbst  har 
sy  kotnmefi.  Aber  etliche  sagen  e^  were  eins  malcs  vor  zyten  ein  fru- 
mer  Kimig  von  indien  dem  fiel  in  den  syn   er  wolle  die  Christenheit 

1)  III.  p.  52,  r>3,  HG. 


Vehro,  Gross-Chan  und  Kaiser^a^e  67 

besdien  etc.,  wobei  er  dann  durch  den  Anblick  christlichen  Oottesdienstes 
bestimmt  wird,  Christ  zu  werden  und  den  Namen  Priester  Johannes 
anzunehmen.  Doch  glaub  ich  das  erste  bas  trau  ich  hab  es  in  den 
hüchern  gelesen  *). 

Dass  der  Gross-Ghan  von  Ogier  sein  Geschlecht  herleitet,  wfkrd  bei 
Schilderung  seines  Hofhaltes  erwähnt  (III.  cp.  2) : 

Und  alles  volck  das  m  tisch  dienet  das  redet  nitt  ee  das  der  Can 
viit  im  redet  on  allein  die  farenden  leut  die  gedieht  machen  oder  niitre 
mere  bringen  oder  nütce  spijl  machen  und  was  sy  von  got  oder  von 
heyliger  Int  wunder  und  alten  historien,  von  Oggiers  strytten  sagen, 
das  hört  er  gern,  Wan  er  meint  er  sy  von  Oggiers  gcschlrcht 
kommen,  und  alle  land  seyn  von  Oggier  an  in  rüren. 

Im  Übrigen  sind  Priester  Johannes  sowohl  wie  der  Chan  bei  Mande- 
ville  mit  den  gleichen  Eigenschaften  ausgestattet,  die  ihnen  auch  sonst 
im  Mittelalter  beigelegt  wurden.  Priester  Johannes  ist  der  vollkommen 
christliche  Priester-Ffirst ,  begabt  mit  Frömmigkeit  und  Herrscher- 
tugenden, voll  Macht  und  Majestät,  in  der  schimmernden  Pracht  seiner 
fabelhaften  Schätze,  so  wie  er  in  jenem  überladenen  Pbantasiestück  seines 
Briefes  an  Kaiser  Emanuel  den  kindlichen  Gemütern  des  Mittelalters  ge^ 
schildert  wurde  und  den  unersättlichen  Hörern  in  immer  neuen  Bearbei- 
tungen und  Ausschmückungen  wiederholt  werden  konnte :  Si  potes  dinu- 
merare  Stellas  caeli  et  harenam  maris,  dinumera  et  dominium  nostrum 
et  potestatem  nostram  *).  Der  Gross-Chan  weist  die  Züge  auf,  mit  denen 
auch  Marco  Polo,  Haithon,  Johannes  de  Piano  Carpini  und  Andere  ihn 
schildern.  Er  ist  der  mächtige  Herrscher  eines  unermesslichen  Beiches, 
ein  Freund  der  Christen,  wenn  auch  selbst  ein  Heide  und  in  allen 
Stücken  ein  weiser  und  glücklicher  Regent.  Es  ist  ^as  Bild,  wie  ich 
es  bereits  in  dem  Excurs  zu  meiner  Inferno-Übersetzung  entworfen  habe. 
Doch  treten  einzelne  Züge  noch  schärfer  hervor. 

Im  II.  Buch  cp.  11  heisst  es  am  Schluss: 

Item  der  Künig  von  Jana  i*it  also  mechtig  das  er  dick  hat  gc' 
kriegt  mit  dem  herren  der  do  heisset  der  grosse  hundt,  den  man 
gewonlich  nennet  Can^  also  wil  ich  in  auch  nennest  hie  nodi  in  dysem 
buch  durch  kürtzung  willen.     Der  Can   ist  der  öberst  und  der  mech- 


1)  Die  erat«  Nameoserkl&rung  schUesst  sich  eng  an  den  Myrear  III.  p.  52  n.  6G 
an.  Über  die  Abweichung  des  englischen  und  franzJVsischen  Textes,  der  nur  die 
zweite  Erklftning  enthält,  cf.  Zarncke  11.  p.  132  ff. 

2)  Schluss  des  Briefes,  cf.  Zarncke  I.  p.  924. 


b* 


68   '  Alfred  Bassermann 

tif/est  Keiser  den  die  sunne  vbersclmnd.  Er  meynet  auch  es  »y  kein 
ander  herre  dan  er,  und  got  sy  heisre  im  hytiiel  und  er  uff  der  erden. 
Doch  hat  in  der  Kimiy  von  Jana  etwan  übt^^unden. 

Die  Stelle  beweist  ausser  der  Schätzung  der  Macht  des  Chan,  dass 
die  in  dem  Namen  liegende  Nebenbedeutung  Hund  dem  Mittelalter 
wohl  bewusst  war. 

Auch  der  Verwendung  des  Filzes  bei  dem  Volk  des  Chan  wird 
wieder  Erwähnung  gethan  (III.  cp.  5) : 

An  vil  etulen  desselbcfi  lands  hat  das  folck  kein  andr^'  hüser  dan 
die  vmi  ^viltzen  yemacIU  sint  die  riclUeM  ay  uff^  uff  sfangen  und 
wotient  darundep'  und-  fiirent  sy  mit  in  an  die  ende  da  man  ir  not- 
türfftig  ist  zu  reisen  oder  zu  anderen  Sachen,  yelieh  als  man  hie  thnt 
mit  dem  yezelten^).  Und  tviewol  das  der  grosse  Can  synen 
ersten  ursprunck  gehebt  hat  von  dem  Jand  und  auch  da 
von  geborn  ist,  so  ist  er  doch  selten  da,  mm  e^  ist  ein  bössrs 
land,    tjr  wonet  gewoiUichen  in  Kathay  da.s  ist  ein  gut  land. 

Bemerkenswert  ist  ferner  die  Wendung,  mit  der  Mandeville  auf 
den  Gebrauch  des  Papier-  und  Ledergeldes  beim  Gross-Ghan  zu  sprechen 
kommt  (III.  cp.  7) : 

Die  Can  achten  nit  vil  uff  goldt  silber  oder  edel 
g  est  ein.  Ks  sy  dan  das  sy  es  in  ander  landt  senden  oder  frenibdm 
gesten  scJ^nckeu  tvöllcn,  Buw  und  palast  zieren  iröllen  oder  ir  soldner 
damit  atissrichtsn,  oder  umb  knuffmanschafz  venvechselen,  Darumh  ist 
kein  mimtz  in  iren  landen  von  gold  oder  silber.  Aber  sy  hand  ein 
zeicJmi  mit  ir  geschrifft,  das  seldechi  man  uff  leder.  So  aber  leder 
fheUr  ist  so  schlecht  man  es  uff  bappyr  als  hie  uff  gold  oder  silber. 

Und  in  der  bestimmtesten  Weise  wird  dem  Gross-Chan  die  Be- 
deutung eines  Weltherrschers  zuerkannt,  wenn  im  Anschluss  an  die  Be- 
nifung  des  Cangius  zum  Kaiser  über  die  sieben  Tartarenstämme,  die 
mit  dem  Traumgesicht  des  weissen  Reiters  getreu  nach  Haithon  erzählt 
ist,  seine  Eroberungen  mit  den  Worten  charakterisiert  werden  (III.  cp.  4) : 
Also  hub  er  an  zu  stritten  und  die  land  an  sich  ziehen  als  vor 
zytten  der  gross  Alexander,  die  Römer  und  Oggier. 

1)  cf.  Johannes  de  Piano  Carpini  cp.  II  §  IV  (Recuell  de  Voyages  et  de 
memoires  IV.  p.  616) :  StatUmes  hahent  rotundas  in  modum  tentorii  praepareUas, 
de  virgia  et  baculis  subtüibus  factas,  Supra  vero  in  media  rotundam  habent  fe- 
nestram  unde  lumen  ingreditur,  et  ut  passit  fumus  exirei  quia  »emper  in  media 
ignem  faeiunt  Parietes  aulem  et  tecta  filtro  sunt  coaperta:  astia  etiam  de  filtro 

sunt  facta et  quocunque  vadunt,  sive  ad  bellum  sive  alias,  semper 

iüas  deferunt  secum. 


Veltro,  Gross-Chan  iind  Kaisersage  69 

Immer  wieder  finden  wir  eine  Mischung  der  verschiedenartigsten 
Elemente.  Aber  gerade  die  Art,  wie  sie  darcbeinandergähren,  fährt  uns 
recht  vor  Augen,  wie  phantastisch  und  nebelhaft  und  doch  zugleich  be- 
ruckend und  gewaltig  das  Bild  war,  das  die  abendländische  Christenheit 
von  jenem  Herrscher  des  Ostens  sich  geschaffen  hatte. 


Wenn  wir  nun  Halt  machen  und  den  langen  Weg  zurückblicken 
nach  der  Stelle  des  Johannes  von  Hildesheim,  von  der  wir  ausgegangen 
sind,  so  glaube  ich,  dass  der  innerste  Zusammenhang  jener  Sage,  der 
Gross-Chan  der  Tartaren  habe  seinen  Schild  an  dem 
dürren  Baum  im  Tempel  2uThauris  aufgehängt  und  sich 
damit  der  Weltherrschaft  versichert,  nun  deutlich  vor  uns 
liegt.  Dieser  Gross-Chan  ist  nicht  der  Schrecken  des  Abendlandes,  wie 
er  sich  dem  späteren  Blicke  darstellt,  sondern  der  mit  allem  Zauber  des 
Geheimnisvollen  umwobene  Herrscher  des  Ostens,  von  dem  die  Christen- 
heit die  entscheidende  Hülfe  im  Kampf  gegen  die  Ungläubigen  erhofft, 
der  für  die  träumende  Phantasie  geradezu  zu  dem  für  das  Ende  der 
Tage  prophezeiten  mystischen  Weltherrscher  emporwächst.  Denn  als 
dieser  bekundet  er'  sich  durch  die  symbolische  Handlung,  dass  er  seinen 
Schild  am  dürren  Baum  aufhängt.  Die  Brücke  aber  zwischen  dem 
Gross-Chan  und  dem  letzten  Kaiser  schlägt  die  Alexander-Sage  und  die 
Ogier-Sage.  Die  Alexander-Sage  enthüllt  uns,  dass  die  tiefsten  Gedanken 
der  Kaisersage  weit  über  diese  hinaufreichen  und  verweist  das  Haupt> 
motiv,  dass  die  Si^eslaufbahn  des  Welteroberers  an  den  Wunderbäumen 
ihre  tragisch  gestimmte  Vollendung  und  Besiegelung  findet,  in  den 
fernsten  Osten  des  Erdkreises.  Die  Bäume  weissagen  dem  Alexander 
die  Weltherrschaft  und  einen  frühen  Tod  und  legen  damit  in  uns  schon 
den  verborgenen  Keim  des  Gedankens,  dass  der  Held,  der  sein  Leben 
nicht  ausgelebt  habe,  auch  nicht  unwiederbringlich  gestorben  sein  könne. 
In  der  Ogier-Sage  sodann  vereinigen  sich  alle  wesentlichen  Elemente 
der  christlichen  Kaisersage  und  der  Alexandersage.  Auf  der  einen  Seite 
ist  Ogier  vollkommen  der  Kaiser  der  Kaisersage,  der  Gotteskämpter  — 
messo  di  DiOj  ist  man  versucht  zu  sagen  —,  in  dessen  Hand  das  Heil 
der  Christenheit  liegt,  der  eine  Zeit  im  Verborgenen  lebt,  um,  wenn  die 
Not  am  höchsten  gestiegen  ist,  als  Ketter  zurückzukehren.  Auch  seine 
erbitterte  Fehde  mit  König  Karl  entspricht  ganz  dem  scharfen  Gegen- 
satz, in  dem  Kaiser  Friedrich  zum  Lilienkaiser  sich  zeigt.  Auf  der 
anderen  Seite  wird  auch  bei  ihm,  ebenso  wie  bei  Alexander,  das  Schwer- 


70  Alfred  Bassermann 

gewicht  der  ganzen  Sage  nach  dem  Osten  verlegt;  die  gleichen  Er- 
oberungszüge führen  zu  dem  gleichen  Ziele,  den  Wünderbäumen ;  er  ist 
ein  christlicher  Alexander,  nur  einer,  der  nicht  stirbt,  der  im  fernen  Osten 
geheimnisvoll  weiterlebt  und  dereinstens  sieghaft  wiederkommen  wir^. 
Mit  Ogier  wird  dann  die  Qestalt  des  Gross-Chans  in  Verbindung  ge- 
bracht, der  sein  Geschlecht  und  seine  Herrschaft  von  ihm  herleiten  soll 
und  mit  dem  christlichen  Priesterkönig  Johannes,  dem  Lehnsmann 
Ogiers,  zu  einer  Person  verschmilzt,  und  diesen  Gross-Chan  sehen  wir 
schliesslich,  siegreich  von  Osten  nach  Westen  gewendet,  seinen  Schild 
gleich  dem  Kaiser  der  Kaisersage  an  dem  dürren  Baum  zum  Zeichen 
der  Weltherrschaft  aufhängen. 

Wenn  wir  aber  diese  Ideen  zu  Dantes  Zeit  lebendig,  sehen  —  und 
wenn  Johannes  von  Hildesheim  und  Jean  des  Preis  und  Jean  de  Bour- 
goigne  auch  erst  fünfzig  Jahre  nach  Dantes  Tod  geschrieben  haben,  so 
schöpfen  sie  doch  alle  ans  schon  vorhandenen  Quellen  und  liefern  gerade 
das  Zeugnis  dafür,  dass  diese  Ideen  schon  früher  bestanden  haben  — , 
so  scheint  es  mir  unabweisbar,  aus  ihnen  heraus,  im  Zusammenhang 
mit  den  in  meinem  früheren  Deutungsversuch  beigebrachten  Gründen, 
in  jenem  geheimnisvollen  allmächtigen  Herrscher,  der  sich  den  «gro  ssen 
Hund*  nannte,  der  auf  einem  Teppich  von  Filz  zum  Kaiser  erhoben 
wurde,  der  in  einem  Lande  mit  Hütten  von  Filz  „seinen  Ursprung 
Unite  und  geboren  wnrde'^  —  e  i<ua  nazion  sarä  tru  feltro  e 
feltro,  —  der  Gold,  Silber  und  Edelgestein  ^^nit  viel  achtet 
—  questi  non  ciberä  terra  nk  peltro  —  und  der  durch  das  Auf- 
hängen des  Schildes  dem  Kaiser  der  Kaisersage  gleichgestellt 
wird,  das  Vorbild  des  Dante'schen  Windhunds  zu  erblicken, 
auf  den  diese  Schilderung  zum  Teil  fast  wörtlich  passt,  dem  der  Dichter 
die  gleiche  geheimnisvolle  Erwartung  voraufgehen  lässt  und  dem  er  die 
gleichen  Aufgaben  zuweist,  wie  seine  Zeit  jenem  Weltkaiser. 

Während  so  unsere  Stelle  aus  Johannes  von  Hildesheim  die  Deutung 
des  Veltro  auf  den  Gross-Chan  bestätigt,  trägt  sie  andererseits  auch 
dazu  bei,  den  Zusammenhang  des  von  Dante  erwarteten  Retters  mit 
dem  Kaiser  der  Kaisersage  schärfer  ins  Licht  zu  rücken  *).  Der  Veltro 
kann  nicht  anders  als  auf  den  Weltkaiser  gedeutet  werden,  und  ausser- 
dem erweist  er  sich  mit  dem  Dux  des  irdischen  <  Paradieses  un- 
trennbar verbunden.    Beide,  Veltro  und  Dux,  geben  nur  verschiedene 


1)  Auch  Kraus,  Dante  p.  475  u.  735  weist  auf  den  Zusammenhang  der  Eaiser- 
sage  mit  der  Veltro-Idee  hin,  kann  sieb  aber  nicht  entschliessen,  daraus  die  volle 
Konsequenz  zu  ziehen.    Entschiedener  Qrauert,  bist.  Jahrb.  1896  p.  815 ff. 


Veltro,  Gross-Chan  und  Kaisersage  71 

Bilder  der  gleichen , Gestalt,  Beide  betonen  nur  verschiedene  Eigenschaften, 
verschiedene  Aufgaben,  die  insgesammt  dem  einen  letzten  Kaiser  zuge- 
wiesen wurden.  Die  Stelle  vom  Veltro  kehrt  mehr  die  allgemein 
menschliche  Seite  des  Betters  hervor:  er  soll  die  WOlfin  der  Habgier 
in  die  Hölle  zurückjagen,  er  soll,  aus  schlichten  Verhältnissen  hervor- 
gegangen, nicht  nach  irdischem  Besitz  trachten  und  in  Weisheit,  Liebe 
und  Tugend  seines  Amtes  walten.  Es  sind  dies  die  sozialen,  wirtschaft- 
lichen Ansprüche,  deren  Erfüllung  die  Kaisersage  von  ihrem  Kaiser 
erwartet,  wenn  sie  von  ihm  weissagt,  er  werde  die  gute  Zeit,  gute  jar 
wieder  heraufführen,  in  dem  Gewand  der  Armut  auftreten  und  der 
Helfer  der  Witwen  und  Waisen  und  des  kleinen  Mannes  sein.  Die 
Prophezeihung  von  Dnx  hat  dagegen  mehr  die  politischen  Aufgaben  des 
Ketters  zum  Gegenstand :  anciderä  la  fuja  Con  quel  gigante  che  con 
lei  delinque.  La  fuja  ist  anerkanntermassen  die  Kirche  in  ihrer  Ver- 
derbtheit und  der  Biese  der  König  von  Frankreich,  der  mit  ihr  im 
Bunde  steht.  Wir  haben  aber  gesehen,  dass  die  Züchtigung  der  frevel- 
haften Pfaffen  und  die  Niederwerfung  des  französischen  Königs  die  zwei 
heissesten  Hoffnungen  sind,  denen  das  Ghibellinentum  in  der  Kaisersage 
Worte  leiht.  Veltro  und  Dux  sind  also  nicht  zwei  ver- 
schiedene Gestalten  der  Dante'schen  Apokalypse,  son- 
dern eine  einzige,  der  alleinige  Träger  seiner  Hoff- 
nungen und  zwar  der  gleiche  Better,  den  die  Volksphan- 
tasie  in  dem*Kaiser  der  Kaisersage  ersehnte. 

Diese  Erkenntnis  führt  uns  aber  noch  einen  Schritt  weiter  und  zeigt 
uns  unweigerlich,  dass  noch  ein  anderes  Element  der  Kaisersage  in 
Dantes  Vision  Eingang  gefunden  hat:  der  albero  mistico  ist 
seiner  Herkunft  nach  offenbar  nichts  anderes  als  der 
dürre  Baum  der  Kaisersage^). 

Als  Beatrice  mit  dem  Triumphzug  der  Kirche  zu  dem  Baum  in- 
mitten des  Paradieseswaldes  gekommen  ist,  heisst  es  (Prg.  32,  37): 

Jo  sentit  mormorare  a  tutti:  „Adatno!^^ 

Pol  cemhiaro  una  inanta  dispogliata 

Di  fiori  e  d'altra  fronda  in  ciascun  ramo. 

La  coma  sua^  che  tanto  si  dilata 
Piü  quanto  piii  i  su,  fora  dagVIndi 
Nei  boschi  lor  per  altezza  ammirata, 

1)  Mussafia  hat  am  Schluss  seines  Aufsatses  Sulla  leggenda  del  legno  della 
Croce  (Sitzungsberichte  der  k.  Akademie  der  Wissenscbafteo,  philos.-histor.  Klasse, 
Wien  1869,  Bd.  63  p.  196)  den  Gedanken  gestreift,  ebenso  Yule,  Marco  Polo  I.  p.  125. 


72  Alfred  Bassermaan 

Bei  der  Deutung  des  Baumes  hat  es  immer  Schwierigkeiteo  ge- 
macht, dass  er  in  erster  Linie  offenbar  der  alte  Baum  der  Erkenntnis 
ist,  wahrend  sich  im  weiteren  Verlauf  die  zwingende  Notwendigkeit 
ergiebt,  ihn  als  das  Symbol  des  römischen  Reiches  und  des  Kaisertums 
aufzufassen^).  Wie  Dante  zu  diesem  Doppelsinn  kommen  konnte,  wird 
verständlich,  wenn  wir  uns  erinnern,  dass  schon  in  der  Sage,  die  ihm 
das  Motiv  des  Baumes  gab,  die  beiden  Elemente  gemischt  sind.  Soweit 
der  albero  mistico  sich  als  Erkenntnisbaum  darstellt,  kehrt  er  eben 
die  Bestandteile  hervor,  die  er  vom  Baum  des  Seth  und  von  der  Legende 
des  Kreuzesholzes  überkommen  hat  ^.  Als  Symbol  des  römischen  Reichs 
und  des  Kaisertums  geht  er  dagegen  auf  die  Sonnen-  und  Mondbäume 
„in  den  fernsten  Wäldern  der  Inder^')  zurück,  die  dem  Alexander  die 
Weltherrschaft  verheissen.  Doch  während  in  der  ausgebildeten  Kaiser- 
sage das  religiöse  Element  durch  das  politische  in  den  Hintergrund 
gedrängt  wird  und  der  Kaiser  nicht  mehr  —  vor  einem  Höheren  zurück- 
tretend —  die  Reichsinsignien  an  dem  Kreuzesstamm  niederlegt,  sondern 
seinen  Schild  als  Siegeszeichen  an  dem  Stamm  aufhängt,  dessen  Besitz 
die  Herrschaft  der  Welt  bedeutet,  hält  Dante  an  dem  doppelten  Cha- 
rakter des  Baumes  fest,  und  während  derselbe  im  ganzen  Verlauf  der 
Vision  das  römische  Reich  zu  vertreten  hat,  so  tritt  doch  entschieden 
die  Idee  des  Erkenntnisbaumes  in  den  Vordergrund,  wenn  das  Neu- 
erblühen des  Baumes  nicht  durch  das  Aufhängen  des  Kaiserschildes 
bewirkt  wird,  sondern  dadurch,  dass  der  Greif  (=  ChrisUis)  das  Deichsel- 
holz des  Kirchenwagens  (=  das  Kreuz)  wieder  an  den  Baum  fügt 
(Prg.  32,  49) : 

E  volto  al  tefno  cWegli  avea  tiratOj 
Trasselo  al  pie  della  vedova  frasca; 
E  quel  di  lei  a  lei  lasciö  legato^ 

ein  Symbol,  hinter  dem  dann  allerdings  der  weitere  Sinn  sich  birgt,  dass 
der  päpstliche  römische  Stuhl  (=  die  Deichsel)  durch  Christus  an  das 


1)  Scartazzini,  com.  Lips.  II.  p.  730ff.  bes.  p.  732.  —  Philalethes  II. 
p.  321.  —  Döllinger,  Akad.  VortrSge,  NOrdlingen  1888  I.  p.  88. 

2)  So  erzählt  Francesco  da  Buti  (Pisa  1858—62)  II.  p.  785  bei  ihm  aus- 
führlich die  Geschichte  von  Seth  und  dem  Öi  der  Barmherzigkeit. 

3)  Man  wird  deshalb  auch  in  Dante's  Hinweis  auf  die  Wälder  der  Inder  iu 
der  oben  angeführten  Stelle  nicht  sowohl  einen  Anklang  anVirgils  Georg.  II,  122  fr., 
worauf  gewöhnlich  verwiesen  wird,  als  vielmehr  an  den  Aristotelesbrief  (1.  c.  p.  205  ff.) 
zu  erblicken  haben.  Eine  auffallende  Ähnlichkeit  besteht  auch  zwischen  der  Schilde- 
rung der  divina  foresta  (Prg.  28,  1—21)  und  dem  Paradies  des  Priesters  Johannes 
mit  dem  Baum  des  Seth  (cf.  oben  p.  50). 


Veltro,  Gross-Chan  und  Kusersage  73 

römische  Kaiäertam  gebunden  wird  und  diesem  dadurch  Segen  bringt. 
Dante  hat  eben  mit  dieser  Sage  auch  den  Absichten  seiner  Dichtung 
entsprechend  frei  geschaltet,  wie  wir  ihn  es  mit  vielen  anderen  über- 
kommenen Vorstellungen  seiner  Zeit  ebenfalls  thun  sehen.  Aber  die 
Wurzel  zu  seinem  Paradiesesbaum  liegt  unstreitig  in  der  Kaisersage. 

Schliesslich  haben  wir  noch  des  spezifisch  'germanischen  Ele- 
ments in  der  Kaisersage  zu  gedenken,  an  das  auch  eine  Anzahl 
von  Zügen  der  Dante'schen  Vision  seltsam  anklingen.  Die  Entscheidungs- 
schlacht, die  der  Kaiser  am  Ende  der  Tage  auf  der  Walstatt  am  dürren 
Baum  zu  bestehen  hat,  ist  bekanntlich,  und  mit  guten  Gründen,  mit 
der  nordischen  Götterdämmerung  in  Verbindung  gebracht  worden^). 
Der  entrückte  und  wiederkehrende  Kaiser  ist  der  Wanderer  Wodan, 
der  dürre  Baum,  der  nach  dem  Sieg  neu  ergrünt,  die  Weltesche 
Yggdrasil,  die,  vom  Brand  der  Götterdämmerung  verdorrt,  bei  der 
Wiedergeburt  der  Welt  von  Neuem  ausschlägt.  Auf  dieser  Weltesche 
horstet  aber  nun  nach  dem  germanischen  Mythus  ein  Adler,  und  unter 
ihren  Wurzeln  lagert  der  Lindwurm  Nidhöggr')  und  das  Gleiche 
finden  wir  bei  Dantes  Paradiesesbaum,  wenn  der  Adler  zweimal  aus 
seiner  Krone  niederfährt  und  wenn  sich  am  Fuss  des  Baumes  die  Erde 
öffnet  und  der  Drache  heraufsteigt  (Prg.  32,  112,  124  und  130) '). 
Ebenso  erinnert  es  an  germanische  Vorstellungen,  wenn  der  Hauptfeind, 
den  der  Veltro  zu  bekämpfen  hat,  unter  dem  Bild  der  Wölfin  er- 
scheint (Inf.  ly  101  und  Prg.  20,  15),  gleichwie  der  Fenrirwolf  bei 
der  Götterdämmerung  der  Gegner  Wodans  ist^). 

Durch  die  Persönlichkeit  wie  durch  die  Dichtung  Dantes  geht  ein 
starker  germanischer  Zug,  der  uns  gemahnt,  dass  die  Sonne  Italiens  zu 
seiner  Zeit  aus  dem  Blut  der  Aldigherii  noch  nicht  ausgetilgt  hatte, 
was  deren  Ahnherr,  der  wohl  als  deutscher  Gefolgsmann  eines  Kaisers 
über  die  Alpen  gezogen  war,  von  nordischem  Wesen  mitgebracht  hatte  ^). 
Mag  sein,  dass  die  Frau,  die  in  Dantes  Erinnerung  steht,  wie  sie 

....  iraendo  alla  rocca  la  chioma 
Favoleggiava  con  la  sua  famiglia 
Dei  Troiani,  di  Fiesole  e  di  Homa,  (Par.  15,  124) 

1)  Grimml.  c.  II  p.  798ff.  —  Fulda  I.e.  p.  20,  28  f.,  38  f.—  Schröder  I.e. 
p.  45  if. 

2)  Grimm  1.  c.  II,  p.  664  f.,  III.  p.  237  f. 

3)  Bei  dem  Fuchs,  der  zusammen  mit  Adler  und  Drachen  am  Fuss  des  Baumes 
genannt  wird,  Hesse  sich  auch  an  das  Eichhorn  Ratatösker  denken,  das  Zwietracht 
stiftend  zwischen  Adler  und  Schlange  der  Weltesche  hin  und  her  läuft  (Grimm  1.  c). 

4)  Grimm  1.  c.  II.  p.  608. 

5)  Kraus  l  c.  p.  25.  —  Carducci,  Topera  di  Dante,  Bologna  1888  p.  46f. 


74  Alfred  Bassermann 

auch  ooch  Märchen  zu  erzählen  wusste,  die  in  dem  Lande  der  Weltescbe 
und  der  Götterdämmerung  ihre  Heimat  hatten. 

Die  Parallele  zwischen  der  Kaisersage  und  dem  nordischen  Mythus 
drängt  sich  unwillkürlich  auf,  und  sie  wird  noch  zwingender  durch  den 
Zug  der  Bergentrückung,  den  wir  namentlich  in  späteren  Fassungen  der 
Sage  finden  und  der  sie  an  einzelnen  Orten  wenigstens  an  unzweifelhafte 
Wodansberge  anknüpft^).  Dem  ist  aber  dann  der  gewichtige  Einwand 
entgegengehalten  worden,  dass  die  ersten  Spuren  des  dürren 
Baumes  unfraglich  nach  dem  Morgenlande  weisen'),  und 
unsere  Untersuchungen  haben  uns  ja  über  Palästina  und  Marnbre  hinaus 
noch  viel  weiter  nach  Osten  geführt,  bis  in  das  fernste  Indien,  bis  zu 
den  Trophäen  des  Liber  und  des  Hercules  und  bis  zu  den  Bäumen  der 
Sonne  und  des  Mondes.  Könnte  nicht  aber  vielleicht  dort  auch  die 
Lösung  des  Widerspruchs  zu  finden  sein,  könnten  wir  nicht  dort  in  der 
Wiege  der  Menschheit  auch  die  Wiege  dieser  Sage  haben?  Im  tiefsten 
Grund  gefasst  ist  es  ja  doch  eine  Ursage,  der  Kampf  des  Lichts 
mit  der  Finsternis,  die  zeitweilige  Verdrängung,  Überwältigung  des 
Lichts  durch  die  bösen  Gewalten,  die  Ahnung  von  seiner  geheimnis- 
vollen Fortdauer  und  seine  siegreiche  lebenerneuende  Wiederkunft. 
Schon  der  Name  der  Sonnen-  und  Mondbäume  deutet  auf  den  kos- 
mischen Charakter  der  Sage,  noch  mehr,  wenn  von  ihnen  er- 
zählt wird,  qtiod  in  eclipsi  solis  et  lunae  veluti  tiberrimis  lacrimis 
sacrae  arbores  cmnmoveantur  de  deorum  suorum  statu  timenf-es 
(Aristot.  Brief  p.  212).  Auch  die  Trophäen  des  Liber  und  des  Her- 
cules weisen  denselben  Weg:  der  Gott  wie  der  Halbgott  sind  Personi- 
fikationen der  stets  ringenden  und  immer  wieder  siegenden  Sonnenkraft. 
Und  Alexander  ist  ahnungsvoll  in  die  gleichen  Fussstapfen  getreten,  als 
er  sich  zum  Sohn  des  Sonnengottes  Ammon  erklären  liess.  Auf  die 
gleiche  GriAididee  geht  der  nordische  Mythus  zurück,  und  Kampf, 
siegreicher  Kampf  des  Lichtes  mit  der  Finsternis  ist  auch  der  innerste 
Kern  des  christlichen  jüngsten  Gerichtes.  So  mag  denn  auch  der  Baum, 
der  als  dem  Licht  geweiht  in  den  drei  Mythen  wiederkehrt,  auf  die 
gemeinsame  Quelle  zurückgehen,  aus  der  die  drei  geflossen  sind'). 

Vielfach  werden  in  der  Volksseele  die  grossen  Gedankengänge  sich 
wiederholen.     Sie  kann   von   den   gleichen   Schauern   der  Nacht  und 


1)  Grimm  1.  c.  IL  p.  795  flF.  —  Fulda  1.  c.  p.  25  ff. 

2)  Haussner,  Progr.  p.  23  u.  41. 

3)  cf.  Grimm  1.  c.  II.  p.  667,  wo  auch  eine  Verwandtschaft  der  Weltesche  mit 
den  Säulen  des  Hercules  vermutet  wird. 


Veltro,  Gross-Chan  und  Kaisersage  75 

der 'Sehnsucht  nach  dem  Licht  erfasst  werden,  wenn  sie  Sommer  und 
Winter,  Entstehen  und  Vergehen  in  der  Natur  erlebt;  wenn  sie  Ver- 
suchung und  Sünde  und  Busse  und  Erlösung  in  sich  selbst  durchmacht; 
wenn  sie  eine  Heldengestalt,  in  der  sie  sich  selbst  verkörpert,  mit  den 
feindlichen  Mächten  kämpfen  und  ihnen  erliegen  sieht  und  die  Sehnsucht 
nach  der  Glückseligkeit  im  Herzen  behält,  die  jener  Heros  angestrebt 
hat.  Das  Gleichartige  aber  zieht  sich  an,  und  wenn  nach  tausend 
Jahren  die  Menschheit  diesen  gewaltigen  W^iderstreit  wieder  einmal  er- 
lebt, so  wird  dieses  neue  Erlebnis  mit  der  Erinnerung  des  früheren  — 
sei  es  nun  ein  ureigenes  oder  fremd  überkommenes  —  zu  einem  einzigen 
Gebilde  von  Vorstellungen  zusammenschmelzen.  Und  so  kann  sich  über 
die  alte  Sonnensage  des  Ostens  die  nordische  Götterdämmerung  legen 
und  das  Weltende  der  Christen,  und  den  Seligkeit  und  Gesittung  spen- 
denden Triumphzug  des  Gottes,  um  dessen  Mund  doch  immer  die  Trauer 
wohnt,  kann  das  Volk  wiederfinden  in  den  Thaten  des  göttergleichen 
Heldenjünglings,  dem  die  Herrschaft  der  Welt  beschieden  war  und  eine 
kurze  Spanne  Daseins.  Die  Erinnerung  kann  noch  einmal  aufleben, 
wenn  ein  glänzender  Herrscher  des  Reiches  Herrlichkeit  gegen  die  feind- 
lichen Gewalten  in  grandiosem  Kampfe  hochhält  und  sie  jählings  mit 
sich  hinab  nimmt  in  sein  frühes  Grab.  Und  all  die  Glücks-Sehn- 
sucht kann  sich  schliesslich  zusammenfassen  in  der  Erwartung  eines  ge- 
waltigen Helden,  der  von  Osten  heraufziehen  soll,  sieghaft  und  segen- 
spendend wie  das  Urbild  der  ganzen  Sage,  die  Sonne.  So  hat  sich  Schichte 
auf  Schichte  gelegt,  und  sie  alle  sind  zusammengewachsen  zu  dem  einen 
gewaltigen  Gebilde  der  Kaisersage,  der  geheimnisvollsten  und  vieldeu- 
tigsten Sage  des  Mittelalters.  Was  Wunder,  dass  wir  sie  als  einen 
Hauptfaktor  wiederfinden  in  dem  Gedicht,  das  so  vieldeutig  ist  wie  kein 
zweites,  und  zwar  als  Kern  seines  berühmtesten  Geheimnisses,  des  Rätsels 
vom  Veltro. 


Willy  Ktihne. 


Von 

Th.  Leter.**) 


Hochgeehrte  Versammlung! 

Sechzehn  Monate  sind  dahingegangen,  seit  uns  Willy  Kühne  durch 
den  Tod  entrissen  wurde,  seit  wir  den  Verlust  des  bahnbrechenden 
Forschers  und  hochverdienten  akademischen  Lehrers  zu  beklagen  haben, 
der  eine  der  ersten  Zierden  unserer  Hochschule  gewesen  ist. 

Sein  Name  wird  in  der  Wissenschaft  fortleben  und  sein  Gedächt- 
nis in  zahllosen  dankbaren  Herzen  lebendig  bleiben.  Darum  hat  auch 
der  Gedanke,  dem  teuren  Entschlafenen  ein  seiner  würdiges  Denkmal 
zu  setzen,  in  den  weitesten  Kreisen  freudigen  Anklang  gefunden.  Freunde, 
Anhänger  und  Schüler,  nicht  nur  in  Deutschland,  sondern  auch  im  Aus- 
lande, haben  sich  in  grosser  Zahl  zur  Ausführung  dieses  Gedankens  ver- 
einigt. Ein  hervorragender  Künstler  hat  es  übernommen,  Kühne's  Bild- 
nis in  Erz  zu  formen;  er  hat  ein  Kunstwerk  geschaffen,  welches  die 
geliebten  Züge  in  edler  Auffassung  wiedergibt  und  der  Nachwelt  über- 
liefern wird. 

Heute  sind  wir  nun  hier  an  der  Stätte  zusammengekommen,  wo 
Kühne  so  viele  Jahre  hindurch  gelebt  und  gewirkt  hat,  um  dieses  Denk- 
mal zu  enthüllen,  welches  der  Dankbarkeit  und  Verehrung  für  ihn  einen 
bleibenden  Ausdruck  geben  soll.  Auch  die  zahlreiche  Beteiligung, 
welche  unsere  heutige  Feier  gefunden  hat,  spricht  laut  fai:  das  hohe 
Ansehen,  in  welchem  Kühne's  Leistungen  stehen,  und  für  die  treue  An- 
hänglichkeit, die  ihm  über  das  Grab  hinaus  bewahrt  worden  ist. 

Mir,  als  einem  seiner  ältesten  Freunde,  ist  die  ehrenvolle  Auf- 
gabe geworden,  die  Gedanken  und  Empfindungen,  welche  die  Stifter 
dieses  Denkmals  beseelen,  heute  bei  dessen  Enthüllung  in  Worte  zu 
fassen.  So  gerne  ich  mich  dieser  Aufgabe  unterzogen  habe,  die  mir 
Gelegenheit  gibt,   auch  meinerseits  zu  bezeugen,  wie  viel  ich  dem  ge- 

*)  Qedäcbtnisrede,  gehalten  bei  der  EnthQllnng  seines  Denkmals  im  physio- 
logischen Institat  zu  Heidelberg,  am  20.  Oktober  1901. 


Th.  Leber:  Willy  Ktüine  77 

liebten  Freunde  verdanke,  der  mir  schon  früh  auf  dem  Weg  der  Forsch- 
ung ein  Vorbild  nnd  ein  Führer  war  und  der  mir  seine  Freundschaft 
in  allen  Wechseln  des  Lebens  stets  unverändert  bewahrt  hat,  so  sehr 
muss  ich  um  Nachsicht  bitten,  wenn  es  mir  nicht  gelingen  sollte,  dieser 
Aufgabe,  so  wie  ich  es  wünsche,  gerecht  zn  werden.  Die  berufensten 
Fachgenossen  haben  schon  Kühne's  Lebenswerk  in  warm  empfundenen 
Nachrufen  gewürdigt  und  uns  auch  seine  Persönlichkeit  in  lebendigem 
und  fein  nuanciertem  Bilde  geschildert,  so  dass  ich  fürchten  muss,  in 
Form  und  Inhalt  dahinter  zurückzubleiben.  —  Es  würde  nicht  im  Sinne 
des  Entschlafenen  sein,  wenn  ich  seine  wissenschaftlichen  Leistungen  in 
längerer  Bede  und  in  allen  Einzelheiten  darlegen  wollte.  Ich  will  mich 
darauf  beschränken,  indem  ich  seinem  Entwickelungsgange  zu  folgen 
versuche,  aus  der  reichen  Fülle  seiner  Arbeiten  das  Wichtigste  hervor- 
zuheben, um  auch  Denjenigen  von  Ihnen,  welche  seinem  Fache  femer 
stehen,  von  seiner  Stellung  in  der  Wissenschaft  und  von  der  Bedeu- 
tung seiner  Entdeckungen  eine  Vorstellung  zu  geben.  —  Seine  edle 
nnd  liebenswürdige  Persönlichkeit  steht  Ihnen  Allen  noch  so  lebhaft 
vor  der  Seele,  dass  es  einer  eingehenden  Charakterisierung  derselben 
wahrlich  nicht  bedarf.  Auch  empfinde  ich  lebhaft,  wie  sehr  die  künst- 
lerische Begabung  zu  solcher  Schilderung  mir  abgeht.  Von  dem  Ver- 
luste des  zu  früh  dahingeschiedenen  Freundes  schmerzlich  bewegt,  ver- 
mag ich  dem  Bilde,  welches  von  ihm  in  meinem  Herzen  fortlebt,  nur 
in  kurzen,  schlichten  Worten  Ausdruck  zu  verleihen. 

Es  war  von  vornherein  sicher,  verehrte  Anwesende,  dass  Kühne's 
Denkmal  nur  hier  in  Heidelberg,  an  dieser  Stätte  seines  langjährigen 
Wirkens  und  Schaffens,  aufgestellt  werden  könnte.  Hat  doch  Eöhne 
anserer  Universität  seit  1871,  also  fast  dreissig  Jahre  hindurch,  an- 
gehört und  ihr  somit  nicht  viel  weniger  als  die  Hälfte  seines  ganzen 
arbeitsreichen  Lebens  gewidmet.  In  Hamburg  1887  geboren  und  nach 
seinen  Neigungen  und  Anlagen  zum  Grossstädter  wie  geschaffen,  auch 
als  Jüngling  lange  und  gern  in  grossen  Städten  verkehrend,  hat  er  sich 
doch  in  unserer  idyllischen  Musenstadt  rasch  eingelebt  und  hat  hier 
volle  Befriedigung  gefunden.  Hier  lernte  er  das  Glück  kennen,  unge- 
stört durch  Zerstreuungen  und  zeitraubende  Geschäfte  sich  in  wissen- 
schaftliche Arbeit  zu  vertiefen  und  dem  Ziel  seines  Denkens  und  Stre- 
bens,  der  Erforschung  der  Lebensvorgänge,  voll  und  ganz  sich  hinzu- 
geben. Diese  Befriedigung  würde  aber  nicht  so  vollkommen  gewesen 
sein  ohne  das  überaus  glückliche  und  harmonische  Familienleben,  welches 
ihm  hier  erblühte  und  das  ein  so  stetiges  und  ungetrübtes  war,  wie  es 


78  'fh.  I^^>er 

wenigen  Menschen  bescbieden  ist.  Die  Zufriedenheit  mit  dieser  arbeits- 
reichen, schaffensfreudigen  Forscherthätigkeit  hat  ihn  auch  später  nie- 
mals verlassen,  und  so  ist  er  unserer  Universität  trotz  verlockender  An- 
erbietungen bis  an  sein  Lebensende  treu  geblieben.  Eine  schwere  Krank- 
heit, deren  Anfänge  viele  Jahre  ^zurücklagen,  hat  seine  Kräfte  allzufrüh 
gebrochen  und  nachdem  er  die  Schwelle  der  Sechziger  nur  wenige  Jahre 
überschritten  hatte,  seinem  Leben  vor  der  Zeit  ein  Ziel  gesetzt. 

Kühne  war  ein  Mann  von  glänzenden  Geistesanlagen,  die  schon  in 
früher  Jugendzeit  hervortraten.  Eine  glückliche  Unabhängigkeit  seiner 
äusseren  Verhältnisse  gestattete  ihm,  seiner  Neigung  zu  naturwissen- 
schaftlichen Studien  ungehindert  nachzugehen  und  sich  unter  der  Leitung 
der  bedeutendsten  Naturforscher  und  Biologen  seiner  Zeit  für  seine  Lebens- 
aufgabe vorzubereiten.  Als  17jähriger  bezog  er  1854  die  Universität 
Göttingen,  wo  besonders  Wöhler  den  tiefsten  und  nachhaltigsten  Ein- 
fluss  auf  ihn  ausübte.  In  der  Schule  dieses  hervorragenden  Chemikers, 
welchem  zuerst  die  künstliche  Darstellung  einer  von  dem  Tierkörper 
gebildeten  komplizierten  organischen  Verbindung,  des  Harnstoffs,  ge- 
lungen ist,  begründete  sich  in  ihm  das  Streben,  tiefer  in  die  chemischen 
Vorgänge  des  Lebens  einzudringen,  und  den  Stoffwechsel  des  Körpers 
mit  exakten  chemischen  Methoden  zu  erforschen.  Dem  weiteren  Aus- 
bau einer  anderen  Entdeckung  Wöhler's  auf  verwandtem  Gebiete  ist 
schon  1857  eine  Arbeit  von  ihm  und  Hallwachs  gewidmet.  Dieser 
Arbeitsrichtung  ist  Kühne  sein  ganzes  Leben  hindurch  treu  geblieben 
und  ihr  hat  er  wohl  den  grössten  Teil  seiner  Erfolge  verdankt. 

Mit  19  Jahren,  auf  Grund  einer  Dissertation  über  künstlich  erzeug- 
ten Diabetes  bei  Fröschen,  zum  Doktor  promoviert,  setzte  er  seine 
Studien  zunächst  in  Jena  fort,  dann  in  Berlin  unter  Du  Bois  Eeymond, 
welcher  kurz  zuvor  durch  bahnbrechende  Arbeiten  in  der  Nerven-  und 
Muskelphysiologie  seinen  Ruf  begründet  hatte.  Hierauf  begab  er  sich 
zu  einem  mehrjährigen  Aufenthalt  nach  Paris,  wohin  ihn  besonders  die 
grossen  Entdeckungen  Claude  Bernard*s  zogen.  Bei  diesem  vorzüglichen 
Experimentator,  der,  wie  unter  anderem  sein  Zuckerstich,  die  künstliche 
Erzeugung  von  Diabetes  durch  Verletzung  eines  ganz  bestimmten  Gehirn- 
teils, zeigt,  auch  in  die  chemischen  Vorgänge  des  Lebens  tiefe  Blicke 
zu  thun  verstand,  bat  Kühne  einen  grossen  Teil  seiner  Virtuosität  in 
der  experimentellen  Physiologie  erworben,  wie  er  denn  auch  dieses  seines 
Lehrers  stets  mit  dankbarer  Anhänglichkeit  gedacht  hat. 

Schon  früh  bekundete  Kühne  seine  Meisterschaft  in  der  mikro- 
skopischen Forschung.    Eine  glänzende  Probe  davon  geben  seine,  schon 


Willy  Kahne  79 

mit  22  Jahren  begonnenen  und  dann  eifrig  fortgefuhi-ten  Arbeiten  über 
die  Endigungsweise  der  Nerven  in  den  quergestreiften  Muskeln.  Zwar 
hatten  schon  lange  Zeit  vor  ihm  verschiedene  Beobachter  für  niedere 
Tiere  mit  Bestimmtheit  angegeben,  dass  das  Ende  der  motorischen 
Nervenfaser  mit  der  Muskelfaser  in  direkte  Berührung  trete;  diese  An- 
gaben konnten  sich  aber  keinen  Eingang  verschaffen,  weil  der  gleiche 
Nachweis  für  höhere  Tiere  nicht  gelingen  wollte  und  weil  gerade  bei 
Wirbeltieren  die  Untersuchungen  zu  durchaus  abweichenden  Annahmen 
über  die  Endigungsweise  der  Muskelnerven  führten.  Da  gelang  Kühne 
zuerst  bei  Insekten,  und  dann  auch  bei  Wirbeltieren  der  sichere  Nach- 
weis, dass  die  Nervenfaser  in  das  Innere  des  Muskelschlauches  eindringt, 
und  einige  Jahre  später,  in  denen  dieser  Gegenstand  inzwischen  auch 
von  zahlreichen  anderen  Forschern  aufgenommen  und  gefördert  worden 
war,  konnte  er  auch  die  erste  genauere  Schilderung  der  Art  und  Weise 
dieser  Nervenendigung,  in  der  sogenannten  Nervenendplatte,  folgen 
lassen.  Hierdurch  war  erst  für  die  experimentell  gefundene  Thatsache, 
dass  der  Reizungsvorgang  von  der  Nervenfaser  auf  die  Muskelfaser  über- 
tragen wird,  ein  Verständnis  gewonnen. 

Bald  nachher  hat  er  durch  seine  berühmt  gewordene  Beobachtung 
der  freien  Bewegung  eines  mikroskopisch  kleinen  Würmchens,  einer 
Nematode,  im  Inneren  einer  Muskelfaser  den  Nachweis  zu  liefern 
vermocht,  dass  der  Inhalt  des  Muskelfaserschlauches  eine  flüssige  Be- 
schaffenheit besitzt,  was  für  die  noch  immer  ungelöste  Frage  vom  Zu- 
standekommen der  Muskelkontraktion  von  fundamentaler  Bedeutung  ist. 

Wohl  mit  durch  Du  Bois  Reymond  angeregt,  aber  in  Fragestellung 
und  Ausführung  durchaus  selbständig  und  eigenartig  sind  Kühne's 
experimentelle  Untersuchungen  auf  dem  Gebiete  der  Muskelphysiologie, 
durch  welche  er  die  Frage,  ob  die  Muskelfaser  eine  eigene,  von  der 
Übertragung  durch  den  Nerven  unabhängige  Irritabilität  besitzt,  welche 
so  lange  ein  Gegenstand  des  Streites  gewesen  war,  in  positivem  Sinne 
entschieden  hat. 

In  Wien,  wo  er  nach  der  Pariser  Zeit  einen  kürzeren  Aufenthalt 
nahm,  ist  er  von  den  dortigen  hervorragenden  Physiologen,  Ernst  Brücke 
und  Karl  Ludwig,  besonders  zu  dem  ersteren  in  nähere  Beziehungen 
getreten. 

Im  Jahre  1860  hatte  ihm  Virchow  eine  Assistentenstelle  am  patho- 
logischen Institut  in  Berlin  übertragen,  an  welchem  er  die  Leitung  der 
chemischen  Abteilung  übernahm ;  hierdurch  eröffnete  sich  ihm  ein  selb- 
ständiger Wirkungskreis,  in  welchem  er  bald  auch  eine  fruchtbringende 


80  Th.  Leber 

Lehrthätigkeit  entwickelte.  Die  nahen  Beziehungen  zu  dem  Begründer 
der  Cellularpathologie  mussten  ihn  auf  Probleme  aus  dem  Gebiete  der 
Zellenlehre  hinlenken,  in  deren  Wahl  und  Bearbeitung'  er  aber  wieder 
völlig  original  und  bahnbrechend  dasteht.  Man  hatte  durch  Schieiden 
und  Schwann  in  der  Zelle  den  Elementarorganismus  des  pflanzlichen 
und  tierischen  Körpers  kennen  gelernt,  und  Virchow  hatte  den  gros- 
sen Schritt  gethan,  diese  Erkenntnis  auf  die  Pathologie  zu  über- 
tragen nnd  dafür  fruchtbar  zu  machen.  Kühne  nahm  jetzt  die  an 
diesen  Elementarorganismen  sich  abspielenden  Lebensvorg&nge  zum 
Qegenstand  seiner  Untersuchung.  Die  Frucht  dieser  Studien  ist  sein 
Buch  über  das  Protoplasma  und  die  Kontraktilität ,  das  mit  einer 
staunenswerten  Fülle  von  Beobachtungsmaterial  die  Kontraktilit&ts- 
erscheinungen  im  Tier-  und  Pflanzenreich  behandelt  und  die  Beding- 
ungen ihres  Auftretens  zu  ergründen  sucht.  Charakteristischer  Weise 
bildet  einen  der  wichtigsten  Abschnitte  desselben  eine  chemische 
Untersuchung,  der  Nachweis  einer  spontan  gerinnenden  Substanz  in 
den  Muskeln,  welche  auch  die  Ursache  der  Totenstarre  abgibt,  des  von 
ihm  sogenannten  Myosin's,  eine  Untersuchung,  durch  welche  er  eine 
Hypothese  Brücke's  über  die  Entstehung  der  Totenstarre  bestätigt  hat. 

Seine  Vorlesungen  über  physiologische  Chemie  wurden  von  Kühne 
1868  zu  einem  ausgezeichneten  Lehrbuch  ausgearbeitet,  welches  den 
Stoif  ganz  von  der  physiologischen  Seite  aus  auffasst  und  durch  die 
Klarheit  der  Darstellung  und  die  Menge  der  darin  niedergelegten 
Beobachtungen  noch  heute  von  Wert  ist. 

Auf  dem  Gebiete  der  Pathologie  ist  Kühne  trotz  der  durch  seine 
Berliner  Stellung  gegebenen  Anregung  nur  ausnahmsweise  als  Forscher 
thätig  gewesen.  Zu  erwähnen  ist  hier  seine  Arbeit  über  die  chemische 
Natur  der  durch  die  sogenannte  amyloide  Degeneration  der  Körper- 
organe entstehenden  Substanz,  bei  deren  Isolierung  er  sich  mit  Er- 
folg der  von  ihm  erfundenen  Verdauungsmethode  bediente.  Er  wusste 
sich  weise  zu  beschränken,  auch  liess  ihm  Virchow  in  seinen  Arbei- 
ten völlig  freie  Hand.  Kühne  hat  Virchow  die  grosse  Liberalität 
nie  vergessen,  mit  welcher  ihm  dieser  die  Mittel  des  Institutes  zu  seinen 
besonderen  Forschungen  zur  Verfügung  stellte.  So  gestaltete  sich  seine 
Abteilung  mehr  zu  einem  kleinen  physiologischen  Institute,  in  welchem 
unter  seiner  Leitung  alle  möglichen,  mikroskopischen,  chemischen  und 
experimentellen  Arbeiten,  aber  vorzugsweise  nicht-pathologischen  Inhaltes, 
ausgeführt  wurden.     Mit    herzgewinnender  Freundlichkeit   hat  damals 


Willy  Knhne  81 

Kähne  auch  mich  als  jungen  Anfänger  in  sein  Laboratorium  aufgenom- 
men und  in  seinen  persönlichen  Verkehr  hineingezogen. 

In  dieser  Berliner  Zeit  wurde  Kühne  der  Mittelpunkt  eines  Kreises 
jugendlicher  Fachgenossen ,  welche  in  zwanglosem  geselligem  Vor- 
kehr ihre  wissenschaftlichen  Ansichten  und  Ergebnisse  austauschten 
und  an  fremder  Arbeit  oft  scharfe  Kritik  übten.  Die  abendlichen 
Zusammenkünfte  waren  durch  sprühenden  Humor  gewürzt  und  eine 
gewisse  Exklusivität  hielt  die  Gesellschaft  bei  aller  Formloßigkeit  eng 
zusammen.  Viele  aus  diesem  Kreise  haben  später  an  Universitäten 
gewirkt,  nicht  wenige  als  hervorragende  Forscher  und  Gelehrte;  gar 
manche  weilen  aber  nicht  mehr  unter  den  Lebenden.  Von  den  Heim- 
gegangenen nenne  ich  aus  Kühne's  Zeit:  Lücke,  Radxiejewski,  K.  Hüter, 
F.  Boll,  J.  Cohnheim,  K.  Westphal,  W.  Preyer. 

Kühne  folgte  schon  1868  einem  Ruf  an  die  Universität  Am- 
sterdam, wo  er  aber  in  den  gänzlich  geänderten  Lebensverhältnissen 
nicht  heimisch  wurde.  Um  so  mehr  musste  er  1871  die  Berufung 
nach  Heidelberg,  als  Nachfolger  von  Helmholtz,  an  die  Universität, 
wo  damals  noch  Bunsen  und  Kirchhoff  wirkten,  als  ein  Glück  em- 
pfinden. Das  ganz  nach  seinen  Angaben  eingerichtete  physiologische 
Institut  wurde  bald  eine  Stätte  regster  wissenschaftlicher  Arbeit,  zu 
welcher  er  zahlreiche  jüngere  Kräfte  anzuregen  wüsste. 

In  der  Heidelberger  Zeit  wurden  zunächst  die  schon  in  Berlin  be- 
gonnenen Untersuchungen  über  die  Pankreasverdauung  wieder  aufge- 
nommen, welche  ihn  zur  Reindarstellung  des  Fermentes  der  Bauch- 
speicheldrüse, von  ihm  Trypsin  genannt,  führten  und  über  dessen 
Wirkung  auf  die  Eiweisskörper  näheren  Aufschluss  gaben.  Für  die 
nngeformten  Fermente  wählte  er  den  neuen  Namen  Enzyme,  um 
auch  durch  die  Bezeichnung  die  fermentativ  wirkenden  chemischen 
Substanzen  von  den  in  gleicher  Weise  wirksamen  niederen  Organismen 
scharf  zu  trennen. 

Bald  mussten  aber  diese  Untersuchungen  eine  Weile  zurücktreten, 
da  die  Entdeckung  BolPs,  dass  die  Netzhaut  des  Auges  eine  durch 
Licht  ausbleichbare  rote  Färbung  besitzt,  welche  im  Leben  fortwäh- 
rend zersetzt  und  wieder  erneuert  wird.  Kühne  zu  einer  vier  Jahre 
hindurch  fortgesetzten  Reihe  bewunderungswürdiger  Untersuchungen 
Anlass  gab,  welche  so  recht  seine  Meisterschaft  in  der  experimen- 
tellen Forschung  und  seine  Beherrschung  der  chemischen  und  physi- 
kalischen   Hilfsmittel    darthun.      Er    fand,    dass    die    rote    Färbung 

NEUE  HEIDELB.  JAHRBUECHER  XI.  6 


82  Th.  Leber 

nicht,  wie  Boll  anfangs  annahm,  eine  Lebenseigenschaft  der  Netzhaut 
ist,  sondern  bei  Abscbliiss  des  Lichtes  nach  dem  Tode  ebenso  wie  im 
Leben  erhalten  bleibt.  Er  wies  nach,  dass  sie  nicht  auf  einem  Inter- 
ferenzvorgang beruht,  sondern  von  einem  roten  Farbstoff,  dem  Seh- 
purpur herrührt ,  dessen  schwierige  Trennung  von  den  damit  durch- 
tränkten Gewebselementen,  den  Stäbchen  der  Netzhaut,  ihm  gelungen 
ist;  er  zeigte,  dass  durch  die  Einwirkung  des  Lichtes  auf  den  Seh- 
purpur den  Pbotographieen  vergleichbare  Bilder  äusserer  Gegenstände 
auf  der  Netzhaut  zu  Stande  kommen ,  die  trotz  ihrer  Vergänglichkeit 
sich  objektiv  demonstrieren  lassen,  die  sogenannten  Optogramme.  Er 
hat  damit  für  die  photocheroische  Theorie  der  Lichtempfindung  eine 
feste  Basis  geschaffen.  Seine  Hypothese,  dass  die  Zersetzungsprodukte 
des  Sehpurpurs  chemisch  reizend  auf  die  Endorgane  des  Sehnerven  in 
der  Netzhaut  einwirken,  macht  es  verständlich,  wie  das  Licht  eine  Er- 
regung des  Sehnerven  bewirken  kann,  obwohl  dieser  Nerv  gegen  die 
direkte  Einwirkung  des  Lichtes  vollkommen  unempfindlich  ist  Frei- 
lich stehen  der  Annahme  dieser  Hypothese  noch  gewisse  Bedenken  ent- 
gegen, weshalb  Kähne  selbst  sie  nicht  als  sicher  erwiesen  betrachtet  hat. 

Nach  Abschluss  dieser  Arbeiten  wendete  sich  Kühne  wieder  der 
Untersuchung  der  durch  das  Trypsin  erzeugten  Spaltungsprodukte  der 
Eiweisskörper  zu.  Die  dabei  erlangten  Besultate  sind,  abgesehen  von 
ihrer  Wichtigkeit  für  die  Lehre  von  der  Verdauung,  von  besonderer 
Bedeutung  fär  die  schwierige  Aufgabe  der  Zukunft,  die  Erforschung 
der  chemischen  Konstitution  der  Eiweisskörper,  welche  jetzt  schon 
ernstlich  ins  Auge  gefasst  werden  darf. 

In  der  letzten  Zeit  seines  arbeitsreichen  Lebens  hat  sich  Kühne 
wieder  mit  der  Kontraktilität  des  Protoplasmas  beschäftigt  und  na- 
mentlich deren  Abhängigkeit  von  der  Gegenwart  von  Sauerstoff  in  ein- 
gehendster Weise  studiert.  So  sehliesst  sich  das  Ende  seiner  wissen- 
schaftlichen Laufbahn  harmonisch  den  fundamentalen  Untersuchungen 
seiner  Jugendzeit  an. 

Zahlreiche  Fragen  hat  Kühne  zur  Entscheidung  .gebracht,  in  an- 
deren einen  Fortschritt  angebahnt,  der  auf  lange  Zeit  hinaus  für  wei- 
tere Forschungen  bestimmend  sein  wird.  Erstaunlich  ist  die  Menge 
einzelner  Thatsachen  und  Erfahnmgen,  die  er  in  seinen  Arbeiten  ange- 
häuft hat,  und  die  als  sicherer  Besitzstand  in  die  Wissenschaft  über- 
gegangen sind.  Die  Zuverlässigkeit  seiner  Beobachtungen  und  die  Ge- 
wissenhaftigkeit seiner  Untersuchung  auch  in  nebensächlichen  Einzeln- 


Wfliy  KOkm  g3 

beiten  waren  so  gross,  dass  ihm  Irrtumer  in  seiner  langen  wissenschaft- 
lichen Laufbahn  kaum  vorgekommen  sind.  Seine  Wahrheitsliebe  war 
auch  das  Motiv,  das  ihn  an  Oegnern  scharfe,  zuweilen  vernichtende 
Kritik  üben  liess,  wenn  er  sie  auf  unrichtigen  Wegen  fand  oder  wenn 
sie  berechtigten  Ansprüchen  zu  nahe  traten. 

Kühne  war  eine  künstlerisch  angelegte  Natur;  diese  Anlage 
hat  ihn  aber  nie  dazu  verführt,  gewagten  Spekulationen  Raum  zu 
geben,  oder  aus  den  gefundenen  Tbatsachen  mehr  ableiten  zu  wollen, 
als  wozu  sie  berechtigten.  Seine  künstlerische  Ader  war  für  ihn  die 
Quelle,  ans  der  sein  Oeist  immer  neue  und  unerschöpfliche  Hilfsmittel 
herzuleiten  vermochte  zur  Bewältigung  der  Aufgaben,  welche  er  sich 
gesetzt  hatte.  Darum  wird  seinen  Arbeiten  ihr  Wert  verbleiben,  auch 
wenn  die  Wissenschaft  vielleicht  über  manche  heute  geltenden  Ansichten 
und  Theorieen  hinweggeschritten  sein  wird. 

Als  Lehrer  verstand  es  Kühne,  seine  Zuhörer  durch  lebhaften 
und  inhaltreichen  Vortrag  zu  fesseln  und  zu  wissenschaftlichem  Denken 
anzuregen.  Er  sprach  schnell  und  brachte  eine  Menge  von  Tbatsachen, 
so  dass  der  Anfanger  zuweilen  Mühe  hatte  zu  folgen,  um,  so  mehr 
wurde  derjenige,  welchem  es  um  die  Sache  ernst  war,  für  seine  Auf- 
merksamkeit durch  den  Inhalt  der  sorgfältig  ausgearbeiteten  und  von 
zahlreichen  Versuchen  erläuterten  Vorlesungen  belohnt.  Im  Labora- 
torium war  Kühne  unermüdlich,  denen,  die  tiefer  in  seine  Wissenschaft 
eindringen  wollten,  die  Wege  dazu  zu  zeigen  und  zu  ebnen. 

Wer  aber  das  Glück  gehabt  hat,  ihm  näher  zu  treten  und  in 
freundschaftlichem  Umgang  die  Fülle  seines  Geisteslebens  und  den 
herzgewinnenden  Zauber  seines  Wesens  kennen  zu  lernen,  dem  wird  die 
Erinnerung  an  diese  gottbegnadete  Persönlichkeit  voll  heiterer  Lebens- 
lust und  voll  warmer  Begeisterung  für  alles  Schöne  und  Grosse  zeit- 
lebens im  Herzen  lebendig  bleiben.  Seine  Freude  am  geselligen  Ver- 
kehr, sein  Drang,  sich  auszugeben  und  mitzuteilen,  seine  geistvolle,  von 
feinen  Bemerkungen  übersprudelnde  Unterhaltung,  sein  sicheres  Urteil 
in  Sachen  der  Wissenschaft,  sein  Interesse  und  Verständniss  für  alle  her- 
vorragenden Erscheinungen  in  Litteratur  und  Kunst,  seine  Freundlich- 
keit und  Herzensgüte,  seine  Bereitwilligkeit  zu  raten  und  zu  helfen, 
wo  er  es  mit  den  reichen  Schätzen  seiner  Erfahrung  nur  immer  ver- 
mochte, werden  allen,  die  ihm  nahe  standen,  stets  unvergesslich  sein. 

Ein  Freundschaftsverhältnis  von  seltener  Innigkeit,  das  er  noch 
in  späteren  Jahren  geschlossen  hat,  zu  einem  Manne  von  ähnlichen 
Anlagen    und   gleicher   Bedeutung  wurde   jäh    durch  den  Tod  unter- 

C* 


84  Th.  Leber:  Willy  Kühne 

brochen.  Ich  weiss  aus  seinem  eigenen  Munde,  wie  hoch  er  den  Ver- 
kehr mit  Victor  Meyer  geschätzt  nnd  wie  schwer  ihn  der  Verlust  dieses 
Freundes  betroffen  hat,  den  er  nur  wenige  Jahre  überleben  sollte. 

Ein  hervorragender  Biologe,  ein  glänzender,  an  Erfolgen  reicher 
akademischer  Lehrer,  ein  für  alles  Schöne  und  Oute  begeisterter  Mensch, 
ein  warmherziger  Freund,  so  lebt  Kühne  in  unserer  Erinnerung  und  in 
unseren  Herzen  fort.  Sein  Lebenswerk  aber  wird  weiter  wirken,  so  lange 
es  eine  physiologische  Wissenschaft  geben  wird.  Sein  Andenken  soll 
unter  uns  in  Ehren  bleiben. 


Wenn  wir  nun  die  Hülle  von  diesem  Denkmal  fallen  lassen,  so 
bleibt  mir  nur  noch  übrig,  dasselbe  im  Namen  der  Stifter  dem  Nach- 
folger Kühne's,  dem  jetzigen  Direktor  des  physiologischen  Institutes, 
Herrn  Professor  Kossei,  als  Eigentum  des  Instituts  zu  übergeben.  Wie 
derselbe  in  der  Wissenschaft  die  Tfaditionen  Kühne's  hochhält  und 
weiterführt,  so  wird  er  auch,  dessen  sind  wir  sicher,  sein  Denkmal  gern 
in  seinen  Schutz  nehmen  und  in  Ehren  halten. 


Dante  und  die  Benaissance. 


Von 

Karl  ToBsler. 


Da»  Werk  Dantes  steht  an  der  Qrenze,  wo  sich  Mittelalter  und 
Renaissance  berühren,  es  ist  darum  zu  erwarten,  dass  sich  Anschau- 
ungen und  Elemente  aus  der  vorhergehenden  sowohl  wie  aus  der  fol- 
genden Kulturepoche  darin  aufweisen  lassen. 

Welches  sind  nun  die  Keime  einer  neuen  Zeit  bei  Dante,  wo  liegen 
sie  verborgen,  was  ist  schon  renaissancemässig  in  seinem  Werk  und 
was  ist  noch  mittelalterlich  daran?  Dies  die  Frage,  die  wir  uns  vor- 
legen. 

Es  wäre  vielleicht  das  Nächstliegende,  zuerst  die  Begriffe  Mittel- 
alter und  Renaissance  genau  gegen  einander  abzugrenzen  und  den  all- 
gemein gewonnenen  Massstab  auf  den  besonderen  Fall  Dante  zu  über- 
tragen ;  aber  ich  hoffe,  der  umgekehrte,  i  n  duktive  Weg  soll  uns  besser 
zum  Ziele  führen,  mit  dem  Vorbehalte  jedoch,  dass  wir  ihn  zuweilen 
verlassen  dürfen.  Sämtliche  Strömungen  jener  Übergangszeit  vereinigen 
sich  in  der  allseitigen  Schöpfung  Dantes,  und  wenn  wir  ihnen  Stuck  für 
Stück  nachgehen,  so  müssen  uns  die  einen  nach  vorwärts  drängen  und 
die  anderen  werden  zurückfluten  ins  Mittelalter. 

Die  politische  Stellung  Dantes  —  um  von  dieser  zuerst 
zu  sprechen  —  lässt  sich  bereits  nicht  mehr  kennzeichnen  mit  den 
Scblagworten  der  Zeit:  Quelf  und  Ohibelline.  In  gueltiscber  Familie 
und  Bürgerschaft  ist  der  junge  Dichter  aufgewachsen,  denn  mit  den 
Ghibellinen  war  es  in  Florenz  zu  Ende  seit  dem  Untergang  des  Staufen- 
bauses  (1268)  und  unter  guelfischem  Banner  ist  er  zu  Kampfe  geritten 
bei  Campaldino  und  Caprona  (1289).  Nach  der  Spalbmg  seiner  Partei 
in  schwarze  und  weisse  Guelfen  bat  er  sich  den  letzteren  zugesellt  und 
als  weisser  Guelfe  musste  er  im  Jahre  1302  in  die  Verbannung  ziehen. 
Der  heisse  Wunsch,  in  die  Vaterstadt  zurückzukehren,  die  moralische 


86  Karl  VoBsler 

Unbedenklichkeit,  mit  der  die  schwarze  Partei  ihre  Wege  zur  Herr- 
schaft wählte,  ein  angeborener  aristokratischer  Instinkt,  ein  glähender 
ethischer  Hass  gegen  das  Gemeine,  und  schliesslich  wohl  auch  Er- 
wägungen philosophischer  Ali;  haben  den  verbannten  Dichter  immer 
mehr  und  mehr  zu  gbibellinischen  Idealen  hinübergedrängt. 

Es  kann  nun  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  für  die  Entwicke- 
lung  der  italienischen  Städte  das  Guelfentum  den  Fortschritt  bedeutet. 
Man  darf  in  ihm  nicht  etwa  eine  päpstliche  oder  klerikale  Partei  im 
heutigen  Sinn  des  Wortes  vermuten.  Die  Qnelfen  erstreben  zunächst 
nur  die  Autonomie  ihrer  Stadt;  dabei  steht  ihnen  die  feudale  Kaiser- 
herrschaft im  Wege  und  so  pflegen  sie  sich  vorzugsweise  den  Papst  als 
den  natürlichen  Feind  des  Kaisers  zum  Bundesgenossen  zu  nehmen.  Es 
sind  antikaiserliche  Partikularisten,  die  keinen  fremden,  keinen  germa- 
nischen Herren  wollen,  und  ohne  ihren  Sieg  ist  die  italienische  Städte- 
kultur und  die  Benaissance  nicht  denkbar. 

Ebenso  müssen  die  schwai'zen  Quelfen  wieder  den  weissen  gegen- 
über als  die  Träger  des  Fortschrittes  bezeichnet  werden.  Ihnen,  den 
Schwarzen,  gehört  die  revolutionäre  Kraft  der  sogenannten  arti  minori 
(niederen  Zünfte),  ihnen  der  bessere  politische  Instinkt,  ihnen  jene  kühne 
Entschlossenheit,  die  keine  moralischen  Bedenken  kennt  und  grausam 
genug  ist,  ihre  Siege  auszunützen.  Sie  sind  die  ersten  Vollstrecker 
jenes  machiavellistischen  Geistes  der  Renaissance.  Man  höre  ihren 
Spottvers  auf  die  edelgesinnte,  aber  unpraktische  aristokratische  Partei 
der  unterlegenen  Weissen: 

Color  di  cener  fatti  sou  li  Biauclii 
K  vauuo  scguitando  la  natiu-a 
Degli  aiiimati  che  si  noniau  grauchi, 
Clie  pur  di  uotte  preiidou  lor  pastura. 

Di  gioriio  staiiuo  ascoBi  c  iion  soii  fraiichi 
K  seniprc  della  inortc  haimo  piiura 
DcUo  leoii  per  tema  uoii  li  abliRuulii 
Che  uou  perdauo  omai  hi  forfattura: 

Che  furon  Guelti  ed  or  soii  Giiibelliui, 

Da  ora  luiianti  siau  detti  ribeili, 

Ncmici  del  Comuii  conic  gli  Uberti  .... 

Auf  Dante  Alighieri  passen  diese  Verse  nicht.  Ihm  ist  die  „asch- 
farbene^ Furcht  etwas  Fremdes.  Dennoch  gehört  er  zur  geschmähten 
Partei  der  Unterlegenen,  denen  die  Geschichte  Unrecht  gegeben  hat. 
In  zwei  hervorragenden  Individuen  verkörpern  sich  die  Extreme  beider 


Dante  und  die  Renaissance  87 

Parteien:  der  unbeugsame  Qhibelline  Farinata  degli  Uberti  auf  der 
Rechten :  ein  adelsstolzer  Bitter,  wie  ihn  Dante  gezeichnet  hat,  und  ein 
gesinnungstüchtiger  Patriot,  dem  seine  Stadt  doch  immer  höber  steht 
als  das  Parteiinteresse;  und  der  ruhelose,*  ehrgeizige  Aufwiegler  Gorso 
Donati  auf  der  äussersten  Linken,  wie  ihn  Dino  Gompagui  beschreibt: 
„Uno  cavaliere  della  somiglianza  di  Catellina  romano,  ma  piu  crudele 
di  Jui,  gentile  di  sangue,  hello  del  corpo,  piacevole  parlatore,  adorno 
di  belli  costumi,  sottile  dingegno,  con  Tanimo  sempre  intento  a 
malfare  ....  molto  avere  guadagnö,  e  in  grahde  alteza  sali.  Costui 
ftt  messer  Corso  Donati,  che  per  sua  superbia  fu  chiamato  il  Barone; 
che  quando  passava  per  la  terra,  molti  gridavano:  «Viva  il  Barone^; 
e  parea  la  terra  sua.  La  vanagloria  il  guidava,  e  molti  servigi  facea.' 
Dieser  Donati  ist  schon  der  Benaissancemensch  mit  vorwiegend  ästhe- 
tischer Bildung,  der  aber  keine  Ideale  mehr  in  der  Politik  vertritt, 
sondern  nur  den  eigenen  Vorteil. 

Eben  der  Abscheu  vor  solchem  Mangel  an  Idealität,  vor  so  mate- 
riellem und  räcksichtslosem  Eigennutz  ist  es,  der  Dante  zurückgetrieben 
bat  von  der  fortschrittlichen  Partei,  in  die  er  hineingeboren  wai-,  zurück 
zu  den  mittelalterlichen  Träumen  des  Kaisertums.  In  der  Politik  ist 
er  retrospektiv. 

Am  Tage,  da  er  Florenz  als  Verbannter  verlässt,  tritt  er  aus  den 
Schranken  der  heimatlichen  Stadtpolitik  heraus  und  wird  Weltbürger. 
9N0S  autem  cui  mundus  est  patria,  velut  piscibus  acquor.'^  Und  nun  — 
wahrscheinlich  in  den  letzten  Jahren  seines  Lebens  —  fühit  er  das 
grosse  Gebäude  der  Weltmonarchie  auf  und  beweist  in  den  drei  Büchern 
seines  „De  Monarchia'  der  Reihe  nach 

1.  die  moralische,  soziale  und  politische  Notwendigkeit  der  Uni- 
versalmonarchie, 

2.  das  göttlifche,  natürliche  und  historische  Anrecht  des  römischen 
Volkes  auf  die  Weltherrschaft, 

3.  die  durch  den  Dualismus  in  der  menschlichen  Natur  und  im 
ganzen  Weltsystem  begründete  strenge  Scheidung  der  weltlichen  Herr- 
schaft von  der  geistlichen,  und  die  direkte  göttliche  Herkunft  der  kai- 
serlichen sowohl  als  der  päpstlichen  Gewalt. 

Die  Grundgedanken:  feudale  Weltmonarchie,  Kontinuität  zwischen 
römischem  und  germanischem  Kaisertum  und  Von-Gottes-Gnadentum 
erweisen  sich  ohne  weiteres  als  mittelalterlich.  Das  wichtigste  mo- 
derne Element  pflegt  man  darin  zu  sehen,  dass  die  weltliche  Herr- 
schaft von  der  päpstlichen  emanzipiert  wird.  Dennoch  glaube  ich  nicht. 


88  Karl  Vossler 

dass  man  das  ,De  Monarchia^  etwa  io  Eine  Entwickluugsreihe  setzen 
darf  mit  jener  historisch  -  kritischen  Schrift  des  Humanisten  Lorenzo 
Valla  gegen  die  Donatio  Constantini.  Es  ist  sehr  zu  beachten,  dass  die 
Emanzipation  bei  Dante  einb  unvollständige  ist.  Der  Schlusssatz  des 
Buches  beweist  es  aufs  Beste.  Nachdem  Dante  die  Unabhängigkeit 
des  Kaisers  (Caesar)  vom  Papst  (Petrus)  erwiesen  hat,  fügt  er  hinzu: 
«Quae  quidem  veritas  .  .  .  non  sie  stricte  recipienda  est,  ut  romanus 
princeps  in  aliquo  romano  pontifici  non  subjaceat:  cum  mortalis  ista 
felicitas  quodammodo  ad  immortalem  felicitatem  ordinetur.  lila  igitur 
reverentia  Caesar  utatur  ad  Petrum,  qua  primogenitus  filius  debet  uti 
ad  patrem,  ut  luce  paternae  gratiae  illustratus,  virtuosius  orbem  terrae 
irradiet.  Cui  ab  illo  solo  praefectus  est,  qui  est  omnium  spiritualium 
et  temporalium  gubernator.*  Damit  bleibt  nun  doch  dieCivitas  terrena 
der  Civitas  Dei  untergeordnet.  Der  Kaiser  ist  der  von  Gott  eingesetzte 
und  beauftragte  und  vom  Stellvertreter  Christi  väterlich  bestrahlte  Hirte, 
der  seine  Schäfchen  der  ewigen  Weide  entgegen  zu  treiben  hat.  Im 
Grunde  steht  Dante  auf  demselben  Boden  wie  Thomas  von  Aquino. 

Aber  der  A  n  s  a  t  z  zur  Befreiung  des  weltlichen  Standes  ist  gemacht, 
die  historische  Priorität  des  Kaisertums  vor  dem  Papsttum  wird  sehr 
scharf  betont,  und  dem  Staat  werden  seine  eigenen  Zwecke,  seine 
eigenen  Aufgaben  gesetzt:  Herstellung  einer  friedlichen  politischen 
und  sozialen  Ordnung,  materielle  Gluckseligkeit  (I,  5):  „Patet,  quod 
genns  humanum  in  quiete  sive  tranquillitate  pacis  ad  proprium  suum 
opus,  quod  fere  divinum  est  liberrime  atque  facillime  se  habet.  Unde 
manifestum  est,  quod  pax  universalis  est  Optimum  eorum,  quae  ad 
nostram  beatitudinem  ordinantur.*  Dieser  Friede,  diese  Glückseligkeit 
ist  nötig,  damit  das  Menschengeschlecht  seiner  grossen  gemeinsamen 
Arbeit  der  Kultur,  der  „Civilitas  humani  generis*^  obliegen  könne. 

Mag  diese  Kultur  auch  schliesslich  in  transzendentalen  Zielen 
gipfeln,  das  Woii  ist  ausgesprochen:  Aufgabe  des  Staates  ist  die  För- 
derung der  Kulturarbeit. 

Die  Stützen  einer  solchen  KuUurmonarchie,  fuhrt  Dante  weiter 
aus,  sind  ethischer  Natur:  Gerechtigkeit,  Freiheit  und  Liebe,  Prinzi- 
pien, denen  zuvörderst  der  Monarch  sich  zu  unterwerfen  hat:  „Non  onim 
cives  propter  consules,  nee  gens  propter  regem;  sed  e  converso  con- 
sules  propter  cives ,  rex  propter  gentem  ....  quamvis  consul  sive  rex 
respectu  viae  sint  domini  aliorum,  respectu  autem  termini  aliorum 
ministri  sunf  Die  Maxime  könnte  ebensogut  von  Friedrich  dem 
Grossen  stammen. 


Dante  und  die  Renaissance  89 

So  erhebt  sieb  Dantes  Geist  vom  Gedanken  des  mittelalterlichen 
Gottesstaates  ym  den  modernsten  Ideen  vom  Kulturstaat.  Sind  diese 
Gedanken  aber  etwa  renaissancemässig  ?  Finden  wir  sie  etwa  bei  Ma- 
chiavelli  oder  Guicciardini  fortgesetzt?  Keineswegs!  Ganz  abgesehen 
davon,  dass  die  Staatslehre  der  Renaissance  auf  empirischer,  nicht  wie 
diejenige  Dantes  auf  deduktiver  Grundlage  ruht,  besteht  meines  Wis- 
sens ihr  eigentlichstes  Kennzeichen  in  einer  scharfen,  grausamen  Schei- 
dung von  Politik  und  Moral.  Die  Politik  der  Renaissance  ist  die  Kunst 
des  Herrschens  und  hat  Selbstzweck;  die  kulturelle  Aufgabe' des  Staats 
wird  vernachlässigt,  die  Regierung  will  nicht  beglücken,  sondern  sich 
behaupten,  sich  verstärken,  sich  ausdehnen.  Militär  und  Diplomatie 
vielmehr  als  Bärgerglück  und  Bürgerfleiss  sind  ihre  festesten  Grund- 
lagen. —  Ein  Vorläufer  der  Renaissance  ist  Dante  also  in  seiner  poli- 
tischen Theorie  so  wenig  wie  in  seiner  Praxis. 

Wie  steht  es  in  Theologie  und  Religion?  Kein  ernstlicher 
Danteforscher,  mag  er  auf  katholischer  oder  protestantischer  Seite  stehen, 
wird  mehr  an  der  strikten  Orthodoxie  des  Dichters  zweifeln  wollen.  In 
der  philosophischen  Theologie  sogar  noch  viel  strenger  als  im  Stiaats- 
recht  hält  sich  Dante  innerhalb  der  Thomistischen  Lehre.  Wohl  hat 
man  versucht,  in  seiner  geistigen  Entwicklung  eine  vorübergehende  Pe- 
riode des  Zweifels  nachzuweisen  auf  Grund  einiger  Stellen  im  .Gast- 
mahl* und  in  den  letzten  Gesängen  des  .Purgatorio*,  aber  der  Versuch 
muss  als  misslungen  bezeichnet  werden.  Im  Gegenteil,  gerade  diejenige 
Zeit,  in  der  das  „Gastmahl*  entstanden  ist  und  in  der  man  einen  An- 
fall von  Skepsis  zu  erkennen  glaubte,  erweist  sich,  je  mehr  man  der 
Sache  auf  den  Grund  geht,  als  der  mittelalterlichste  Moment  im  Leben 
des  Dichters.  Gerade  damals  hat  ihn  die  Scholastik  vollständig  ge- 
fangen genommen,  gerade  damals  hat  er  sich  am  heissesten  bemüht, 
den  Mysterien  des  Glaubens  auf  vernunftmässigem  Wege  beizukommeu. 
Ein  leidenschaftlicherer  Thomist  als  damals  ist  er  nie  wieder  gewesen. 
Sogar  den  Unsterblichkeitsbeweis  der  Seele  will  er  noch  auf  philo- 
sophischem Wege  antreten. 

Aber  zu  einer  Trennung  von  Wissenschaft  und  Glauben,  wie  sie  um 
jene  Zeit  durch  den  Skotismus  erreicht  wird,  ist  Dante  auch  später 
niemals  gekommen.  Die  Stelle  in  Purgatorio  XXXIII,  82—90,  lässt 
sich  in  diesem  Sinne  nicht  interpretieren.  Der  Dichter  fragt  seine  geist- 
liche Führerin :  „Aber  warum  fliegt  Euer  liebes  Wort  so  hoch  über 
meine  Sehkraft,  dass  ich,  je  mehr  ich  mich  anstrenge,  um  so  mehr  es 
verliere?"   „Weil  du,  sagte  sie  mir,  nur  jene  Schule  kennst,  der  du 


90  Karl  Vossler 

gefolgt  bist,  und  nun  siehst  du,  wie  wenig  ihre  Lehre  meinem  Worte 
folgen  kann,  und  wie  Euer  Weg  von  dem  göttlichen  Weg  eben  soweit 
entfernt  ist,  als  die  Erde  abliegt  von  jenem  Himmel,  der  am  raschesten 
kreist'.  Mit  «jener  Schule '^j  glaubeich,  kann  doch  wohl  nur  die  Scho- 
lastik gemeint  sein,  und  es  soll  hier  ein  Gradunterschied,  aber  kein 
Wesensunterschied  zwischen  Vernunft  und  Offenbarung  bezeichnet  werden. 

Etwas  ganz  anderes  aber  als  einen  Anflug  von  Zweifel  kann  uns 
diese  Stelle  im  Verein  mit  einigen  anderen  aus  den  letzten  Teilen  der 
, göttlichen  Komödie*  lehren  (besonders  Par.  XXIX,  85 ff),  nämlich  dass 
der  Dichter  sich  mehr  und  mehr  einer  mystischen  Erfassung  der  Religion 
zuzuneigen  begann.  An  Stelle  des  Baisonnements  tritt  mehr  und  mehr 
die  Offenbarung,  ohne  dass  jedoch  der  Boden  der  «filosofici  argomenti* 
und  des  ,intelletto  umano*  (Par.  XXVI,  25  u.  46)  je  vollständig  ver- 
lassen würde.  Eine  erste  Ankündigung  dieses  Gesinnungswechsels  haben 
wir  wohl  schon  in  dem  Sonette  XXIV:  „Parole  mie  che  per  lo  mondo 
siete**  zu  erkennen. 

Thomas  von  Aquino,  der  Scholastiker,  und  Franz  von  Assisi,  der 
Mystiker,  das  sind  die  Pole,  zwischen  denen  Dantes  religiöse  Welt  sich 
bewegt.  Im  Mannesalter  nähert  er  sich  mehr  dem  Ersteren,  am  Abend 
seines  Lebens  sucht  er  Frieden  bei  dem  Letzteren.  Es  würde  uns  viel 
zu  weit  führen,  den  Eintluss  der  franziskanischen  Mystik  auf  Dantes 
Werk  in  ihrem  ganzen  Umfang  zu  studieren. 

So  viel  ist  sicher,  dass  er  einen  Jeden  der  beiden  ,  Kirchen fürsten^ 
(Principi)  in  seiner  Eigenart  erkannt  und  den  Keim  des  Gegensatzes, 
der  in  ihnen  lag,  geahnt  hat. 

Phi*.  XI,  37.   1/un  fü  tutto  scratico  iu  iirdore, 
Kaltro  per  sapieiiza  in  terra  fuo 
Di  chcrubica  luce  uuo  splcndorc. 

Aber  es  ist  auch  eben  so  sicher,  dass  er  den  Gegensatz,  der  sich 
notwendigerweise  immer  stärker  herausbilden  musste,  zwischen  diesen 
beiden  Kichtungen  bedauert,  dass  er  ihn  verwischt  und  ausgesöhnt 
wissen  möchte.  Es  gehört  nicht  zu  Dantes  Art,  denselben  Gedanken 
zu  wiederholen,  hier  jedoch  kann  er  sich  nicht  genug  thun  in  der  Ver- 
sicherung, dass  beide,  Dominikaner  und  Franziskaner,  im  Grunde  doch 
nur  ein  und  demselben  Ziele  zustreben: 

Par.  XI,  40.   Dell'  un  dirö,  pero  che  cVambedue 

Si  dice  l^un  pregiando,  quäl  chHiom  prende, 
Perch6  ad  un  line  für  l^operc  suc. 


Dante  und  die  Renaissauce  91 

und  im  Däcbsten  Gesänge  Vers  34  wieder: 

Deguo  e  ehe  dov'  ü  l*un  I'altro  siudiic«. 
Si  che  com'  elli  ad  una  militaro, 
Cosi  la  gloria  loro  insieme  luca. 

Um  die  Einigkeit  der  Beiden  recht  eindringlich  darzutbun,  wird 
das  Lob  des  hl.  Franz  dem  Dominikaner  Thomas  von  Aquino,  und  das 
Lob  des  hl.  Dominikus  dem  Franziskaner  S.  Bonaventura  in  den  Mund 
gel^t. 

Aber  eine  unerbittliche  Logik  fahrte  die  beiden  immer  weiter  aus- 
einander, so  dass  Dantes  Stellungnahme  zur  Entwicklung  der  Dinge 
auch  hier  wieder  eine  konservative  und  retrospektive  genannt  werden 
muss.  Und  auch  hier  wieder,  wie  im  politischen  Getriebe,  ist  es  vor- 
wiegend ein  moralischer  Affekt,  ein  ethischer  Hass,  der  Abscheu  vor 
der  Entartung  beider  Mönchsorden,  der  ihn  zurückdrängt  zu  vergangenen 
Idealen. 

Wie  tief  Dantes  Theologie  und  Beligion  noch  im  Mittelalter 
wurzeln,  zeigt  ein  rascher  Vorblick  auf  Petrarca.  Ffir  diesen  hat  das 
Dogma  überhaupt  keine  Bedeutung  mehr.  Seine  ganze  Religion  ist  nur 
Mystik  und  Ethik,  wird  von  einem  tiefen  asketischen  Bedürfnis  getragen 
und  findet  ihren  besten  geistlichen  Katgeber  in  dem  hl.  Augustin.  Neben 
dieser  subjektiven  und  persönlichen  Religion  nimmt  sich  Dantes  Be- 
kenntnis doch  noch  recht  scholastisch  und  im  schlechten  Sinne 
, katholisch*  aus. 

Man  kann  nun  darüber  streiten,  ob  die  mystische  Verinnerlichung 
der  Religion  überhaupt  schon  als  Renaissance  zu  bezeichnen  sei. 
Die  Frage  ist  im  Grunde  nur  ein  Zank  um  Worte.  Dass  die  franzis- 
kanische Mystik  eine  Vorbereitung  zu  neuen  Zeiten  bedeutet,  wird  kein 
ernsthafter  Historiker  in  Abrede  steRen.  Mit  dem  Worte  Renais- 
sance aber  bezeichnen  wir  doch  wohl  nur  die  ästhetische  und  anti- 
christliche Seite  jener  Bewegung,  die  aus  der  Zersetzung  der  mittel- 
alterlichen Geselischaftsbande  und  des  Gottesstaates  zur  Freiheit  des 
Individuums  führt.  Die  Mystik  kann  daher  nur  dann  als  Benaissance- 
element  bezeichnet  werden,  wenn  sie  das  Individuum  vom  Priester  be- 
freit, sobald  sie  aber  zur  Weltverneinung  zurückführt,  wirkt  sie  doch 
nur  als  mittelalterliche  und  hemmende  Kraft. 

Und  nun  zeigt  sich  das  Wunderbare,  dass  der  Zukunftsmensch 
Petrarca  in  einem  Punkte  wieder  viel  mittelalterlicher  fühlt,  als 
Dante.  Der  Sänger  Lauras  hat  sich  ein  Einsiedlerleben  zuweilen  künst- 
lich geschaffen,  er  liebäugelt  mit  dem  Gedanken  ins  Kloster  zu  gehen, 


92  Karl  Vossler 

er  quält  sein  krankes  eitles  Herz  mit  grausamer  Selbstanalyse,  und  der 
Schmerz  ist  ihm  Wollust.  —  Dass  Dante  je  die  Absicht  gehabt  habe, 
hinter  Klostermauern  zu  fliehen,  ist  wohl  behauptet  worden,  aber  lässt 
sich  doch  nicht  erweisen.  Und  wenn  er  in  seinen  letzten  Jahren,  wie 
es  nicht  unwahrscheinlich  ist,  unter  die  Tertiarier  des  Franziskaner- 
ordens gegangen  ist,  so  darf  man  daraus  erst  recht  nicht  auf  eine  weit- 
flQchtige  Gesinnung  schliessen.  Askese  liegt  seinem  ungebrochenen 
Gefühlsleben  fern. 

Trotzdem  feiert  er  mit  aufrichtiger  Bewunderung  die  freiwillige 
Armut  der  Franziskaner  als  die  wahre  Nachahmung  Christi.  Wir 
kommen  damit  zu  seinem  moralischen  System.  —  So  wie  er  es  in 
der  9 Divina  Commedia*  dargestellt  hat,  ist  es  sicherlich  kein  streng  ein- 
heitliches. Aber  wir  müssten  zu  sehr  ins  Weite  gehen,  wenn  wir 
in  jedem  einzelnen  Fall  die  massgebenden  Grundanschauungen  er- 
weisen wollten,  die  den  Dichter  zu  seinen  jeweiligen  Anordnungen 
der  Laster  und  Tugenden  geführt  haben.  Hier  dürfte  sich  der  Kürze 
halber  ein  deduktiver  Weg  empfehlen.  Wir  bezeichnen  also  a  priori  als 
mittelalterliche  Moral  diejenige  mit  theokratischer  Grundlage,  in  der 
der  Mensch  sich  seinem  Gotte  opfert;  als  Benaissance-Moral,  sofern  es 
überhaupt  eine  solche  giebt,  die  rein  menschliche  und  individualistische, 
die  ihren  Richter  nur  im  eigenen  Gewissen  findet,  als  moderne  Moral 
die  soziale,  in  der  der  Mensch  sich  seinem  Nächsten  opfert. 

Indem  nun  Dante  in  aller  politischen  und  sozialen  Ordnung  einen 
göttlichen  Willen  erblickt,  so  miiss  sich  seine  Moral  in  manchen  Punkten 
mit  unserer  modernen  Sittenlehre  berühren,  ohne  dass  sie  nötig  hätte, 
dabei  ih^en  mittelalterlich  theokratischen  Boden  zu  verlassen.  Wenn 
also  z.  B.  der  Dichter  die  Mörder  Cäsars  zu  unterst  in  die  Hölle  steckt« 
so  werden  wir  Modernen  ihm  verhältnismässig  gerner  unsere  Zu- 
stimmung geben  als  die  Renaissance,  die  ja  thatsächlich  gerade  dieses 
Urteil  wiederholt  gerügt  hat. 

Ähnlich  verhält  es  sich  nun  auch  mit  der  Askese  der  Mönche  und 
Eremiten.  Ihr  kontemplatives  Leben  wird  zwar  höher  geschätzt,  als  das 
gemeinnützige  Wirken  gerechter  und  gütiger  Fürsten  —  und  darin  ist 
Dante  mittelalterlich  —  aber  hinter  der  ganzen  Lobpreisung  solcher 
Askese  steckt  ein  kirchenpolitischer  und  modern  sozialer  Gedanke: 

Chb,  (luautiuiquc  la  Cliiesa  giiarda,  tiitto 
£  deUa  gente  che  per  Dio  domanda, 
Nou  di  parenti,  uc  d'altro  piü  brutto, 

SO  predigt  der  Stifter  von  Montecassino. 


Dante  und  die  Benaissanco  03 

Die  neuesten  Forschungen  von  Fr.  X.  Kraus  haben  es  sehr  wahr- 
scheinlich gemacht,  dass  Dante  eine  fieform  der  Christenheit  gerade 
von  dieser,  von  asketischer  Seite  erwartete,  und  dass  er  in  recht  enger 
Fühlung  mit  der  strengen  franziskanischen  Richtung  des  Ubertino 
da  Casale  stand.  Er  befürwortet  also  die  Askese  in  der  Hauptsache 
nur  als  Mittel  zu  dem  hohen  sozialen  Zweck  einer  reinen,  von  Welt- 
raachtsgedanken  unverfälschten  katholischen  Kirche.  Es  ist  durchaus 
kein  Zufall,  dass  die  schlimmsten  Invektiven  gegen  die  verweltlichte 
Geistlichkeit  jener  Zeit  immer  den  kontemplativen  und  asketischen 
Geistern  dee  Paradieses  in  den  Mund  gelegt  werden.  —  So  vermengen 
sich  hier  aufs  Eigentümlichste  die  mittelalterlichen  Anschauungen  mit 
den  allermodernsten  Bestrebungen  eines  idealen  Katholizismus. 

Mittelalterlich  ist  freilich  der  ganze  Untergrund  dieser  Moral  mit 
ihrer  ewigen  Verdammnis  und  ihrer  grundsätzlichen  Ausschliessung  des 
gesamten  Heidentums  vom  Wege  des  Heils.  Man  darf  die  wenigen 
sporadischen  Durchbrechungen  dieses  Systemes  nach  der  Richtung  der 
Renaissance  hin,  nicht  sehr  hoch  anschlagen.  Wenn  der  Selbstmörder 
Cato  nicht  in  der  Hölle  büsst  und  die  persönliche  Sympathie  des 
Dichters  in  vollstem  Masse  für  sich  hat,  so  bleibt  ihm  trotzdem  der 
Weg  zur  Reinigung,  verschlossen  und  er  verdankt  die  Ausnahmestellung 
nur  dem  politischen  Glaubensbekenntnis  seines  Sängers.  Trajan  verdankt 
seinen  Platz  im  Himmelreich  einer  viel  verbreiteten  mittelalterlichen 
Volkssage,  und  der  Trojaner  Ripheus  verdankt  ihn  wohl  einem  allego- 
risch ausgelegten  Virgil-Yers.  Solche  Ausnahmen  hätte  auch  ein  we- 
niger kühner  Geist  des  Mittelalters  sich  erlauben  dürfen. 

Viel  bedeutungsvoller  weist  ein  anderes  Element  auf  die  Renais- 
sance hin:  die  Na  turmoral  bei  Dante  (Par.  VIII,  142): 

E  86  il  mondo  laggiü  ponesse  mente  ~ 
AI  fondamento  che  natura  pone, 
Segiiendo  hii,  avria  buona  la  gente. 

„Und  wenn  nur  immer  unten  eure  Welt 
Den  Grund,  den  die  Natur  gelegt  hat,  ehrte, 

So  wtV  es  mit  dem  Menschen  wohl  bestellt.^ 

• 

Die  Heimat  dieser  Naturmoral  liegt  in  dem  irdischen  Paradies,  im 
goldenen  Zeitalter,  von  dem  die  Alten  sangen.  Etwas  Neues  ist  die 
„lex  naturalis^  aber  doch  nicht,  denn  schon  die  Scholastik  hat  sie  auf- 
genommen und  mit  der  theokratischen  Moral  in  Einklang  zu  bringen 
versucht.  So  durfte  denn  auch  Dante  ein  grünendes  irdisches  Paradies 
getrost  auf  den  Gipfel  seines  theologischen  Berges  der  Läuterung 
pflanzen.     Aber  er  ahnte  nicht,    dass  diese  glückliche  Erde,  die  er  mit 


94  Karl  Vossler 

Lethe  getränkt  und  für  seine  mittelalterlichen  Triamphzfige  von  Staat 
lind  Kirche  zubereitet  hatte,  dass  dieses  verlassene  Eden  über  ein  Kurzes 
wieder  von  einem  tollen  und  lachenden  Haufen  lebendiger  Menschen 
erobert  werden  sollte.  —  Er  steht  eben  auch  hier  wieder  unserer  neuen 
und  ernsten  sozialen  Moral  viel  näher  als  dem  naturlichen  Sittenkodex 
eines  Rabelais. 

Wir  kommen  zum  dritten  und  wichtigsten  Punkte:  Dantes 
Stellung  in  der  Litteratur. 

Boccaccio  erzählt  uns,  dass  Dante  ursprünglich  im  Sinn  gehabt 
habe,  sein  göttliches  Gedicht  in  lateinischer  Sprache  abzufassen.  Wir 
werden  diesem  Zeugnis  nicht  ohne  weiteres  Glauben  schenken,  aber: 
,,se  non  e  vero,  h  ben  trovato^,  denn  so  wie  die  Verhältnisse  damals 
lagen,  musste  ein  Dichter,  der  so  hohe  philosophisch-theologische  Prob- 
leme im  Busen  wälzte,  sein  geeignetstes  Ansdrucksmittel  Und  sein 
würdigstes  Publikum  in  der  grossen,  internationalen  lateinischen  Litte- 
ratur suchen.  Und  wenn  nun  dieser  Dichter  gar  einem  Volke  angehörte, 
das,  wie  die  Italiener,  noch  kaum  seit  hundert  Jahren  eine  eigene 
Litteratur  aufzuweisen  hatte,  und  zwar  eine  Litteratur,  die  in  jeder 
Landschaft  der  Halbinsel  wieder  ein  anderes  Gesicht  zeigte,  eine  andere 
Mundart  redete,  andere  Ziele  verfolgte  und  doch  dabei  ihre  Abhängig- 
keit von  französischen  Mustern  fast  nirgends  verleugnen  konnte.  Wohl 
hatte  das  leuchtende  Vorbild  des  Bosenromanes  da  und  dort  einem 
Toskaner  den  Mut  gegeben,  die  philosophische  Dichtung  auch  mit  italie- 
nischer Zunge  reden  zu  lassen,  aber  Werke,  wie  der  ^Tesoretto^,  des 
Brünette  Latini  oder  die  nlntelligenza^  des  fraglichen  Dino  Compagni, 
waren  wenig  geeignet,  zur  Nachfolge  aufzumuntern.  In  der  That  war 
diese  Vorarbeit  zunächst  für  Dante  verloren,  und  er  musste  sich  den 
kühnen  Glauben  in  seine  Muttersprache  erst  selbst  durch  langjähriges 
Bemühen  von  neuem  erwerben,  bevor  er  ihn  bethätigen  konnte  in  einem 
Werke,  das  der  kaum  erstandenen  italienischen  Dichtung  mit  einem 
Schlage  den  ersten  Platz  eroberte  in  der  ganzen  Litteratur  des  Abend- 
landes -    die  lateinische  mitgerechnet. 

Das  stille  Bingen  unseres  Dichters  gegen  die  mittelalterlichen 
Vorrechte  des  Lateins  lässt  sich  stufenweise  verfolgen.  In  seinem  Jugend- 
werk, der  «Vita  nuova*^,  vertritt  er  noch  den  Standpunkt,  dass  die  vul- 
gäre Litteratur  sich  auf  den  Gegenstand  der  Liebe  zu  beschränken  habe, 
denn,  sagt  er,  diese  junge  Kunst  sei  nur  durch  die  Liebe  ins  Leben 
gerufen,  indem  der  Sänger  seiner  Herrin,  die  nicht  Lateinisch  konnte, 
sich  verständlich  machen  wollte.    An  dem  ersten  Zwecke,  der  das  Lied 


r>ante  und  die  Henaiasanco  95 

geboren  hatte,  sollt'  es  auch  fernerhin  gefesselt  bleiben.  Aber  in  gleichem 
Masse  wie  die  Liebe  mit  dem  Dichter  des  „dolce  stil  nuovo^  zu  philo- 
sophischen Höhen  hinaufwächst,  so  strebt  auch  die  Sprache  aus  ihrer 
Beschränkung  empor  und  breitet  ihre  guten  Rechte  über  neue  Stoff- 
gebiete. 

Die  zweite  Geliebte  des  Dichters  nach  dem  Tode  seiner  irdischen 
Beatrice  wird  jetzt  die  Philosophie,  und  auch  sie  besingt  er  in  italie- 
nischen Ganzonen,  aber  ,,weil  das  Lied  keiner  einzigen  Yulgärsprache 
würdig  wäre,  in  offenen  Worten  von  meiner  neuen  Herrin  zu  singen,  und 
weil  die  Leser  nicht  reif  gewesen  zum  unmittelbaren  Eintritt  und  zum 
Glauben  in^  die  nackte  Wahrheit'  (Convivio  III,  3),  deshalb,  sagt  der 
Dichter,  habe  er  sich  des  allegorischen  Schleiers  bedient.  So  warm  und 
30  leidenschaftlich  er  im  , Convivio*  seine  Muttersprache  verteidigt,  zur 
philosophischen  Dichtung  wird  ihr  doch  erst  bedingimgsweise  und  auf 
dem  Umweg  über  die  Allegorie  der  Zugang  erschlossen.  Während  aber 
noch  andere  Zeitgenossen,  wie  Francesco  da  Barberino,  ihren  Kommen- 
tar zur  allegorischen  Dichtung  in  lateinische  Prosa  verhüllten,  will 
Dante  nun  aus  drei  Gründen  sich  der  Vulgärsprache  bedienen:  1)  weil 
die  zu  erklärenden  Lieder,  denen  der  Kommentar  doch  nur  zu  dienen 
hat,  ebenfalls  italienisch  geschrieben  sind,  2)  weil  all  seinen  Lands- 
leuten  der  Schatz  des  Wissens  gehören  soll  und  3)  weil  er  sie  liebt,. 
diese  wunderbare  Sprache  seiner  teuren  Heimat.  Wie  aus  einem  brennen- 
den Hause  die  Flammen  durch  die  Fenster  schlagen  und  hell  den' 
inneren  Brand  verkünden  (Conv.  I,  12),  so  wollte  Er  seine  leuchtende 
Liebe  zum  heimatlichen  Laut  bekennen. 

Und  nun,  in  einem  dritten  Werke,  macht  er  sich  daran,  die  ge- 
schmähte Sprache  des  „si'^  zu  läutern  und  vor  Entartung  zu  bewahren. 
Es  scheint  mir  ausser  Zweifel  zu  stehen,  dass  das  ganze  „De  vulgari 
eloquentia*^  von  einer  sprachreformatorischen  Tendenz  getragen  ist.  Wäre 
das  geniale  Buch  nicht  nur  ein  Bruchstück,  so  müsste  die  Absicht 
seines  Verfassers  noch  klarer  zu  Tage  treten.  Schon  als  er  den  ersten 
Teil  des  ^^Gastmahls**  schrieb,  trug  sich  Dante  mit  dem  Plan  des  „De 
vulgari  eloquentia^,  und  schon  damals  steht  ihm  der  Grundgedanke  be- 
stimmt vor  Augen,  nämlich :  Die  Vulgärsprache  ist  einer  fortwährenden 
Veränderung  und  Verderbnis  ausgesetzt;  es  ist,  wie  er  später  ausführt, 
der  göttliche  Fluch,  der  seit  dem  Turmbau  zu  Babel  ewig  fortwirkt 
und  alle  lebendigen  Idiome  in  tausend  Äste  auseinanderjagt  und  sie  in 
einem  unaufhaltsamen  Fäulnisprozesse  zersetzt.  Dem  Unheil  zu  steuern, 
haben  die  Gelehrten  etwas  Dauerhaftes   künstlich   geschaffen:  die  un- 


96  Karl  Vossicr 

verwüslliche  Orammatica,  das  ewig  gleiche  Latein,  ein  Yolapük  des 
Mittelalters.  Und  nun  scheint  mir,  möchte  Dante  etwas  Ähnliches  mit 
der  italienischen  Sprache  vornehmen :  ihren  litterarischen  Idealtypus  für 
die  ganze  Halbinsel  fixieren,  sie  vor  der  Zersplitterung  und  Verderbnis 
der  Dialekte  erretten  und  hoch  über  alle  landschaftlichen  Schranken  zu 
einer  gemeinitalienischen  National-  und  Kunstsprache  erheben.  So  sehen 
wir  mit  Staunen,  wie  er  ein  Programm  verficht,  das  erst  zweihundert 
Jahre  nachher  in  der  Hochrenaissance  des  Klassicismus  wieder  auf- 
tauchen und  seine  Verwirklichung  im  Cinquecento  finden  sollte:  das 
«Vulgare  illustre,  cardinale,  aulicum  et  Curiale,  quod  omnis  Latiae  civi- 
tatis est,  et  nullius  esse  videtur,  et  quo  ronnicipia  vulgaria  omnia 
Latinorum  mensurantur,  ponderantur  et  comparantur.'  Mittelalterlich  ist 
die  Grundanschauung  von  der  er  ausgeht,  wenn  er  glaubt,  dass  dieser 
Idealtypus  eine  aprioristische  Existenz,  erhaben  über  alle  Mundart  führe, 
und  dass  man  nur  rückwärts  den  Strom  der  unheilvollen  Sprachent- 
wicklung hinanzusteigen  habe,  um  zu  ihm  zu  gelangen.  Aber  das  Ziel 
selber  ist  modern,  es  ist  dasjenige  des  Klassizismus. 

Durchaus  im  Einklang  mit  dieser  Sprachreform  steht  auch  das 
grosse  ästhetische  Vorbild,  das  hier  zum  ersten  Male  der  vulgären  Kunst 
gewiesen  wird:  die  Antike.  „Bisher**,  heisst  es  in  jener  benihmten 
stelle  des  De  vulgari  eloquentia,  „verdienten  die  vulgären  Dichter  aller- 
dings wohl  den  Namen  Poeta,  von  den  grossen  Poeten  aber,  d.  h.  den 
klassischen  (hoc  est  regularibus),  unterscheiden  sie  sich  doch,  denn 
diese  haben  in  erhabener  Sprache  und  nach  regelrechter  Kunst  ge- 
schaffen ...  die  Modernen  aber  nach  dem  Zufall;  je  näher  wir  darum 
die  Alten  nachahmen,  desto  regelrechter  werden  wir  dichten*^.  Das 
klingt  den  Worten  nach,  schon  fast  wie  hohler  Formalismus  der  Spät- 
renaissance, aber  wir  müssen  uns  hüten,  das  unangenehme  Oefühl,  das 
uns  aus  langjähriger  Übersättigung  an  antikisierenden  Machwerken  er- 
wachsen ist,  auf  diesen  ersten  Sehnsuchtsruf  nach  einer  neuen,  harmo- 
nischeren Kunst  zu  übertragen. 

Der  also  geläuterten  Sprache  wird  nun  auch  ein  weiteres  Stoff- 
gebiet erschlossen.  Bisher  war  die  Liebe  und  ihre  philosophische  Ver- 
klärung unter  dem  Schleier  der  Allegorie  der  einzige  sangbare  Gegen- 
stand für  Dante  gewesen.  Nun  setzt  er  aber  das  ganze  Stoffgebiet  des 
vulgären  Dichters  mit  den  drei  Funktionen  der .  menschlichen  Seele  in 
Verbindung,  sodass  der  anima  vegetalis  das  Gebiet  des  utile  entspricht, 
der  anima  animalis  das  delectabile  und  der  anima  rationalis  das  hone- 


I)ante  und  die  Renaissance  97 

stnm.   Die  höchsten  Oegenst&nde  dieser  drei  Oebiete  sind :  Waffenrahm, 
Liebe  nnd  Tagend.    (De  vnlg.  eloq.  II,  2.) 

Die  theologischen  Stoffe  bleiben  also  auch  zur  Zeit  des  ,De  vulgari 
eloquentia'  noch  immer  ausgeschlossen.  Es  ist  darum  gar  nicht  so  un- 
wahrscheinlich, dass  Dante  sich  eine  2teit  lang  mit  dem  Gedanken  ge- 
tragen habe,  die  „göttliche  Komödie'^  in  lateinischer  Sprache  zu  ver- 
fassen. Aber  gerade  so,  wie  im  „Gastmahl*  das  italienische  Lied  des 
Dichters  auf  dem  Weg  der  Frauenhuldigung  sich  zur  Philosophie  er- 
heben konnte,  so  darf  nun  schliesslich  auch  die  italienische  Terzine  sich 
dem  höchsten  Gotte  nähern  durch  die  gnädige  Fürsprache  einer  an- 
gebeteten Frau.  Und  damit  ist  das  Italienische  in  all  seine  Bechte  ein- 
gesetzt. Auf  den  theoretischen  Kampf  folgt  der  grosse  praktische  Sieg. 
Die  „Divina  Commedia''  ist  das  erste  Denkmal  der  modernen  italienischen 
Nationallitteratur,  und  alles  was  dahinter  liegt,  ist  noch  provinzial. 

Kaum  aber  hatte  sich  Dante  aus  dem  mittelalterlichen  Easten- 
vorurteil  des  Lateins  herausgerungen,  und  noch  arbeitete  er  an  den 
letzten  Gesängen  seines  grossen  Gedichts,  da  sollte  ihm  eine  ganz  neue, 
fremdartige  Anschauung  in  den  Weg  treten.  Ein  junger  Gelehrter, 
Giovanni  del  Yirgilio,  der  aus  Padua,  der  Wiege  des  Humanismus 
stammte,  ging  mit  dem  Dichter  eine  poetische  Korrespondenz  ein.  Er 
fordert  ihn  auf,  in  lateinischer  Sprache  zu  singen  und  ein  Heldenepos 
politisch-historischen  Charakters  zum  Gegenstand  zu  nehmen,  anstatt 
dem  unverständigen  Volk  in  seiner  minderwertigen  Sprache  so  schwer- 
verständliche, theologische  Dinge  preiszugeben.  Denn  mit  Latein  nur 
sei  der  wahre  Weltruhm  zu  gewinnen: 

Si  te  ÜEuna  juvat,  parvo  te  limite  septtun 
Non  contentus  eris,  nee  Yulgo  judice  tolli. 

Dieser  vorwitzige  junge  Mann  ist  aber  nicht  etwa  ein  Nachzügler 
des  Mittelalters,  nein,  er  spricht  von  Weltruhm,  von  Foetenkrönung, 
von  dem  berühmten  Albertino  Mussato  und  er  bedient  sich  der  klass- 
ischen Form  virgilischer  Eklogen.  Er  ist  ein  begeisterter  Humanist,  dem 
die  ganze  „Divina  Gommedia^  schon  etwas  zopfig  vorkommt.  Man  hat 
nun  freilich  gezweifelt,  ob  diese  Korrespondenz  auch  wirklich  noch  zu 
Lebzeiten  des  Dichters  verfiasst  sei,  oder  ob  sie  nicht  etwa  ein  blosses 
demonstratives  Scheingefecht  bedeute,  das  erst  einige  Jahre  nach  Ali- 
ghieris Tod  von  humanistischer  Seite  gegen  das  stärkste  Bollwerk  der 
vulgären  Dichtung  unternommen  wurde.  Für  unsere  Zwecke  ist  eine 
Entscheidung  dieser  Frage  nicht  nötig,  denn  soviel  steht  fest,   dass  es 

NEUE  HEIDELR.  JAHRBUECHER  XI.  7 


d8  Karl  Vossler 

schon  im  2.  und  3.  Jahrzehnt  des  Trecento  humanistisch  gesinnte 
Männer  gab,  die  sich  stolz  von  der  kaum  erstandenen  Vnlgärsprache 
abwandten  und  den  besten  Teil  ihrer  Geisteskraft  auf  klassische  Studien 
und  lateinischen  Stil  warfen,  und  zu  diesen  gehören  sogar  die  hellsten 
Köpfe  des  Jahrhunderts:  Mussato,  Petrarca,  Salutati,  Niccoli,  Bruni 
und  wie  sie  alle  heissen.  Sie  hatten  den  Standpunkt  des  ersten  Ver- 
teidigers der  Vulgärsprache  auf  ihre  Weise  schon  wieder  überholt  — 
freilich  ohne  zu  ahnen,  dass  ihre  Enkel  nach  langem  Suchen  wieder 
ein  allermodemstes  Programm  in  dem  vergessenen  ,De  vulgari  eloquentia^ 
finden  würden. 

So  hat  Dante  mit  einem  genialen  Schwung  frisch  aus  dem  Mittel- 
alter heraus  die  ganze  Generation  der  Humanisten  überholt  und  stellt 
sich  den  sprachlichen  ünitariern  des  16.  Jahrhunderts  an  die  Seite. 

Mit  der  Befreiung  der  Sprache  geht  natürlich  die  Befreiung  des 
vulgären  Dichters  Hand  in  Hand.  Im  Mittelalter  ist  der  „Bimatore*' 
oder  „Dicitore  per  rima^  in  seinen  Stoffen,  seinen  Formen  und  seinem 
Hörerkreise  kastenmässig  beschränkt,  seis  nun,  dass  er  als  ritterlicher 
Troubadour  in  der  Canzone,  oder  als  volksmässiger  Spielmann  im  Epos, 
oder,  wie  der  Franziskaner  Mönch  als  „Spielmann  Gottes^  (giuUare 
del  Signore)  in  der  Laude,  oder  als  Kleriker  im  Lehrgedicht  und  in  der 
Chronik  sich  bewegte.  Den  ersten  Schritt  zur  Befreiung  hat  Guido 
Guinizelli  schon  vor  Dante  gethan,  indem  er  die  sinnliche  Liebe  des 
affektierten  Kitters  zur  geistigen,  transzendentalen  Liebe  des  ernsten 
philosophisch  gebildeten  Bürgers  erhob.  Eine  Kunst  für  Alle  ist  aber 
auch  diese  neue  Lyrik  des  „dolce  stil  nuovo*  noch  nicht.  Trotz  ihrem 
tiefen  und  allgemein  menschlichen  Gehalte,  der  sie  uns  noch  heute  sym- 
pathisch macht,  bleibt  sie  noch  immer  gelehrt,  exklusiv  und  stark  kon- 
ventionell. In  dieser  halb  modernen,  halb  mittelalterlichen  Strömung 
bewegt  sich  der  grösste  Teil  von  Dantes  Dichtung  während  seiner  ganzen 
Jugendzeit;  bis  er  endlich  in  der  „Divina  Gommedia*^  ein  Werk  schafft, 
das  den  Interessen  und  Ansprüchen  aller  Gesellschaftsklassen  Genüge 
thut,  in  dem,  um  ein  berühmtes  mittelalterliches  Wort  zu  gebrauchen, 
das  Lämmeben  waten  und  auch  der  tiefgründigste  Elephant  noch  schwim- 
men kann ;  also  nicht  bloss  das  erste  Kunstwerk  italienischer  National- 
litteratur,  sondern  auch  das  erste  von  allgemein  menschlicher  Bedeu- 
tung. Die  Kluft  zwischen  Laie  und  Kleriker  ist  überbrückt  und  mit 
der  neuen  Kunst  zugleich  entsteht  ein  neues  Publikum. 

Wenn  nun  aber  die  unmittelbar  folgende  Epoche  sofort  eine  zweite 
Scheidewand  zwischen  Vulgus  und  Humanist  aufrichtete,  so  musste  die 


t)ante  und  die  Kenaissanc«  9d 

Hochrenaissance  doch  wieder  darauf  bedacht  sein,  eine  Ausgleichung  des 
geistigen  Niveaus  herzustellen,  wie  sie  eben  schon  Dante  bewerkstelligt 
hatte.  Also  auch  hier  wieder  steht  sein  Qenie  einerseits  dem  Mittel- 
alter und  andererseits  den  entlegeneren  modernen  Jahrhunderten  viel 
näher  als  der  unmittelbar  folgenden  Zeit.  So  erklärt  es  sich,  dass  er 
gerade  bei  den  gebildetsten  Männern  des  ausgehenden  14.  und  angehen- 
den 15.  Jahrhunderts  in  einige  Missachtung  geriet,  während  er  seine 
ungeteilten  und  wärmsten  Bewunderer  in  niederen  Kreisen  suchen  musste, 
bei  dem  jungen  Boccaccio,  dem  biederen  Sacchetti,  dem  bildungsdurs- 
tigen Giovanni  Gherardi  da  Prato,  dem  fröhlichen  Antonio  Pucci  und 
schliesslich  bei  dem  niederen  Klerus,  den  Minoritenpredigem. 

Das  grosse  künstlerische  Mittel,  dessen  sich  Dante  bedient,  um 
zwischen  Laie  und  Klerus  die  Brücke  zu  schlagen,  um  das  Übersinn- 
liche begreiflich,  das  „Unbegreifliche*  zum  „Ereignis*^  zu  machen,  das 
grosse  Mittel  ist  die  Allegorie.  Also  doch  ein  vorwiegend  mittelalter- 
liches Yerfiihren,  das  seine  eigentliche  Wurzel  in  jenen  philosophischen 
Lehren  des  Mittelalters  hat,  die  man  als  „Bealismus^  und  «Konzep- 
tualismus*  bezeichnet.  Wie  Thomas  von  Aquino,  so  ist  auch  Dante 
Konzeptualist,  die  Universalia  sind  für  ihn  Vorstellungen,  Conceptus 
von  realer  Existenz,  also  auch  künstlerisch  darstellbar.  So  hat  z.  B. 
Giotto  in  der  ünterkirche  S.  Francesco  zu  Assisi  die  Verbindung  der 
Armut  mit  dem  heiligen  Franz  allegorisch  dargestellt,  und  so  hat  Dante 
denselben  Gegenstand  gesungen  in  den  Versen:  Paradies  XI,  55 ff. 

Non  era  ancor  molto  lontan  dall'  orto, 

Ch'  ei  cominciö  a  far  senür  ia  teira, 

Della  siia  gran  virtate  alctin  conforto; 
Chö  per  tal  donna  giovinetto  in  guerra 

Del  padre  corse,  a  cui,  com'  alla  morte, 

La  porta  del  piacer  nessun  dissera; 
Ed  innanzi  aUa  soa  spirital  corte, 

Et  coram  patre  le  si  fece  unito; 

Poscia  di  di  in  dl  Famo  piti  forte. 
Questa,  privata  del  primo  marito, 

Mille  Cent'  anni  e  piü  dispetta  e  scura 

Fino  a  costoi  si  stette  senza  invifo. 

Die  malerische  Darstellung  ist  gelungen,  weil  eben  die  Armut 
sinnlich  verkörpert  wurde  in  einem  zerlumpten  Weib  mit  strengem, 
hohläugigem  Blick ;  die  Verse  Dantes  dagegen  —  gestehen  wir  es  offen 
—  sind  herzlich  unpoetisch.  Vielleicht  der  einzige  gelungene  Zug  in 
der  ganzen  Erzählung  ist  das  Anschauliche:  «dispetta  e  scura  si  stette 
senza  invito.*  Im  Übrigen  ist  die  Armut  bei  Dante  eine  Frau,  die  seit 

7* 


•  4  • 


100  Karl  Vossler 

Christus  unverheiratet  bleiben  musste,  weil  ihr  eben  niemand  gerne  die 
Thore  des  Vergnügens  öffnet  —  und  dam-it  basta.  Fast  an  sämtlichen 
Stellen  der  „Divina  Commedia*,  die  künstlerisch  misslungen  sind  —  und 
es  giebt  deren  vielleicht  mehr  als  unsere  moderne  Danteschwärmerei 
sich  zugestehen  möchte  —  ist  es  immer  wieder  die  leidige  Allegorie, 
die  nicht  gehörig  verkörpert  und  individualisiert  werden  konnte.  Die 
lebendigsten  allegorischen  Figuren  aber,  wie  Virgil,  Gharon,  Gato  und 
Dante  selber  hören  eben  auf  reine  Allegorien  zu  sein  in  demselben  Augen- 
blick, wo  ihr  künstlerisches  Leben  beginnt.  Es  sind  lebendige  Indi- 
viduen, die  so  zu  sagen  erst  nachträglich  ihren  symbolischen  Wert  be- 
kommen, so  dass,  streng  genommen,  das  Persönliche  an  ihnen  ihre 
abstrakte  allegorische  Bedeutung  trübt.  Ein  logischer  und  wissenschaft- 
licher Kopf  des  Mittelalters,  wie  es  Gecco  d*Ascoli  war,  hat  diesen 
Widerspruch  erkannt  und  von  seinem  Standpunkte  aus  auch  mit  Becht 
getadelt:  die  allerlebendigsten  Gestalten  der  bildnerischen  Phantasie 
sind  für  ihn,  den  Vertreter  der  unverfälschten  Didaxis,  Allotria. 

Qui  non  se  canta  al  modo  delle  rane, 
Qui  non  se  canta  al  modo  del  poeta, 
Che  finge  immaginando  cose  vane;  .  .  . 
Non  vego  U  conte  che  per  ira  et  asto 
Ten  forte  l'arcevescovo  Rugero 
Prendendo  del  so  ceffo  fero  pasto; 
Non  vego  qui  squadrare  a  Dio  le  fiche; 
Lasso  ]e  zanze  e  tomo  su  nel  vero: 
Le  favole  me  fo  sempre  nimiche. 

Für  den  Künstler  freilich  liegt  der  Hauptwert  des  Gedichtes 
gerade  in  diesen  Allotria. 

Dante  befindet  sich  in  einem  höchst  gefährlichen  Dualismus  zwi- 
schen schafTender  Phantasie  und  abstrahierender  Beflexion.  Nur  ein 
Oenie  von  so  elementarer  Kraft  wie  er  konnte  siegreich  daraus  hervor- 
gehen. Diese  Leistung,  die  künstlerische  Überwindung  der  Allegorie, 
wird  man  aber  nicht  als  renaissancemässig  oder  modern  bezeichnen 
dürfen.  Sie  ist  allerpersönlichstes  Verdienst,  ein  Ausfluss  von  Dantes 
leidenschaftlicher  Phantasie,  die  auch  im  Jenseits  ihre  irdischen  Er> 
innerungen  und  ihr  ungefüges  Qefahlsleben  nicht  los  werden  will.  Es 
ist  das  allgemein  Menschliche  und  allgemein  Künstlerische  in  dem  Ge- 
dicht und  das  hat  ihm  durch  alle  Jahrhunderte  hindurch  ein  ewiges 
Leben  gesichert.  Benaissancemässig  wäre  vielmehr  die  Vermeidung 
die  Abschaffung,  aber  nicht  die  Überwindung  der  Allegorie  gewesen. 
Denn  in  der  Renaissance  verwendet  man   die  Allegorie  höchstens  noch 


4        • 


;  •  •  •  • 

,  •  •  •  • 


Dante  und  die  Renaissance  101 

als  nachtragliche  Interpretationsmethode,  wie  Cristoforo  Landino,  oder 
als  ornamentales  Beiwerk,  wie  Polizian  getban  hat,  aber  nicht  mehr  als 
Grundprinzip  des  künstlerischen  Schaffens. 

Eine  andere  Seite  in  der  ästhetischen  Wirkung  der  göttlichen  Ko- 
mödie muss  jedoch  als  spezifisch  mittelalterlich  bezeichnet  werden :  die 
logisch  genaue,  festgefügte  Ebenmässigkeit  des  kolossalen  Gebäudes  der 
drei  Reiche,  die  Monumentalität,  die  sichere  hierarchische  Ordnung,  die 
bis  ins  letzte  durchgeführt,  nach  unseren  Begriffen  wohl  leicht  ins  Pein- 
liche, Kleinliche  und  Kindische  ausarten  müsste,  wenn  nicht  der  tiefe 
Ernst  mittelalterlicher  Überzeugung  eine  göttliche  Bedeutung  auch  im 
Geringfügigsten  noch  gewahren  liesse.  Sogar  die  äussere  Form  der 
3  mal  33  Gesänge,  plus  einem  „Proemio*^,  um  das  Hundert  voll  zu 
machen  und  die  Terza  rima  selbst,  ist  jedenfalls  nichts  anderes  als  die 
logische  Schöpfung  Überzeugungstreuester  Zahlensymbolik.  Sobald  man 
sich  mit  der  Scholastik  bekannt  gemacht  hat,  wird  man  auch  die  Gross- 
artigkeit dieses  Systemes  wieder  geniessend  empfinden. 

Das  Traumhafte  der  ganzen  Vision  des  Jenseits  ist  also  logisch 
ausgebaut  und  bekommt  den  Wert  einer  Thatsache.  Ohne  die  Beihülfe 
des  Glaubens  aber  wäre  auch  die  kräftigste  Phantasie  der  Welt  nicht 
im  Stande  gewesen,  eine  so  greifbar  schauerliche  Hölle  zu  schaffen. 
Wie  kläglich  ist  z.  B.  die  Illusion  der  Petrarkischen  Triumphzüge  an 
der  inneren  Skepsis  ihres  Verfassers  gescheitert.  Petrarca  fühlte  zu 
sehr,  dass  seine  Triumphe  nur  ein  unmassgebliches  Traumgesicht  seien 
und  darum  hat  er  sich  nicht  die  Mühe  genommen,  sie  den  logischen 
und  physischen  Gesetzen  der  Einbildungskraft  zu  unterwerfen.  Weil 
der  Glaube  fehlte,  fehlt  auch  die  Evidenz.  Ist  nun  aber  der  grösste 
Dichter  der Benaissance,  Ario st,  nicht  auch  ein  Skeptiker  gewesen  und 
hat  er  nicht  trotzdem  die  märchenhafte  Welt,  an  die  er  selbst  nicht 
glaubte,  zur  klarsten  Evidenz  gestaltet?  Gewiss,  aber  nur  dadurch  hat 
er  es  vermocht,  dass  er  jeglichen  Ernst  der  Überzeugung  bei  Seite 
lässt,  und  das  künstlerische  Schaffen  als  ein  ergötzliches  Spiel  betreibt. 
Wenn  Dante  sich  leidenschaftlich  mit  den  Schatten  seiner  Hölle  zankt, 
so  steht  Herr  Lodovico  lächelnd  über  den  Kindern  seiner  Phantasie  und 
hat  die  unartigen  gerade  so  lieb  wie  die  artigen.  Der  blutige  Ernst 
Alighieris  musste  dem  ebenmässigen  Formenkünstler  der  italienischen 
Benaissance  manchmal  wie  etwas  Fremdartiges,  Unheimliches,  Groteskes, 
Barbarisches,  Pedantisches  und  Lächerliches  erscheinen.  Erst  nachdem  der 
letzte  Mensch  des  guten  Geschmacks  begraben,  und  das  liebliche  Pro- 
gramm arkadischer  Ergötzung  zu  Ende  gespielt  war,  konnte  die  Donner- 


102  Karl  Voasler 

stimme  Alighieris  wieder  einem  lebendigen  Echo  in  der  erschütterungs- 
und  rührungsbedürftigen  Brnst  des  modernen  Pablikums  begegnen. 

Hat  nun  aber  nicht  doch;  mass  man  fragen,  das  von  Dante  selber 
proklamierte  Ideal  der  antiken  Kunst  eine  Spur  renaissancemässigen 
Schönheitsgeföhls  in  seinen  Werken  hinterlassen?  Müsste  man  nicht 
blind  sein,  um  seine  Begeisterung  für.  Virgil  zu  verkennen  ?  Beweisen 
es  nicht  zahlreiche  Stellen,  dass  er  sogar  die  stilistische  Formvollendung 
virgilianischer  Ausdrucksweise  empfand?  Und  haben  nicht  die  neuesten 
Untersuchungen  von  Edward  Moore  eine  Kenntnis  der  antiken  Litte- 
ratur  bei  Dante  erwiesen,  die  far  jene  Zeit  schon  sehr  beträchtlich  ist? 
—  Gewiss,  und  all  diese  Elemente  sind  unbedingt  als  Zeichen  des  nahen- 
den Humanismus  zu  deuten. 

Dennoch  wäre  es  ein  grosser  Irrtum,  die  klassische  Bildung  Dantes 
als  etwas  bisher  nie  Dagewesenes  zu  preisen.  Es  gab  vor  ihm  und 
neben  ihm  in  Italien  und  besonders  in  Frankreich  eine  Reihe  von  Män- 
nern, die  ihm  an  klassischer  Gelehrtheit  zum  Wenigsten  gleich  standen, 
wenn  nicht  gar  überlegen  waren.  Und  man  täusche  sich  nicht,  gerade 
das,  worauf  es  ankommt :  die  Auffassung  und  Beurteilung  des  Altertums 
überhaupt  ist  bei  ihm  noch  eine  durchaus  mittelalterliche.  Die  ganze 
unendliche  Kulturarb,eit  der  Römer  hat  in  seinen  Augen  noch  keinen 
eigenen  Wert  und  ist  nur  eine  Vorbereitung  auf  die  Kunft  Christi ;  im 
Kaisertum,  nicht  in  der  Republik  erreicht  sie  ihren  Höhepunkt  und  in 
der  Person  des  Papstes  erst  ihre  Existenzberechtigung.  Dieser  Gedanke 
ist  mit  unzweideutiger  Prägnanz  ausgedrückt  in  den  Versen :  Inferno  II, 
16  ff.  Der  Dichter  spricht  hier  von  Aeneas,  dem  Stammvater  Roms, 
der  zum  ersten  Mal  eine  Fahrt  in  die  Unterwelt  gethan  habe,  ähnlich 
wie  sie  nun  Dante,  von  Virgil  geleitet,  unternehmen  soll,  und  sagt: 

Per6,  86  PawerBario  d'ogni  male 

Cortese  i  fii,  pensando  l'alto  effetto 

Che  uscir  dovea  di  lui,  e  il  chi  e  U  quale, 
Non  pare  indegno  ad  uomo  dintelletto: 

Ch'  ei  fu  deir  alma  Roma  e  di  suo  impero 

Neil'  empireo  del  per  padre  eletto; 
La  quäle  e  il  quäle  —  a  voler  dir  lo  vero  — 

Für  stabiliü  per  lo  loco  santo 

ü'  siede  il  successor  del  maggior  Piero 
Per  questa  andata,  onde  gli  däi  tu  vanto, 

Intese  cose  che  furon  cagione 

Di  8ua  vittoria  e  del  papale  ammanto. 

Der  Sinn  ist:  «Wenn  darum  Qott,  der  Feind  alles  Bösen,  dem 
Aeneas  die  Fahrt  nach  der  Hölle  gnädig  gestattete,  und  wenn  wir  die 


Dante  und  die  Renaissance  103 

hohen  Folgen,  die  von  Aeneas  ausgehen  sollten  (nämlich  das  kaiserliche 
und  päpstliche  Rom),  bedenken,  so  scheint  das  dem  verständigen  Men- 
schen eine  wohlberecbtigte  und  würdige  Sache.  Denn  Aeneas  wurde  in 
dem  empireischen  Himmel  zum  Vater  der  grossen  Roma  und  ihrer  Herr- 
Schaft  auserwählt.  Beide,  Rom  und  die  Weltherrschaft,  wurden  in 
Wahrheit  bestimmt  zu  dem  heiligen  Sitze,  wo  der  Nachfolger  Petri 
thront.  Und  durch  diese  Unterweltsfahrt,  die  du,  Virgil,  dem  Aeneas 
nachrühmst,  erfuhr  er  Dinge,  die  zur  Ursache  seines  Sieges  und  des 
Papsttums  geworden  sind.** 

Also  noch  immer  die  grosse  mittelalterliche  Zweckskette,  die  von 
Aeneas  bis  zum  Papste  herauffährt.  Ein  ähnliches  Gewichtsverhältnis 
zwischen  Antike  und  Christentum  drückt  sich  in  der  von  Edward  Moore 
ermittelten  Statistik  aus.  Der  englische  Gelehrte  zählt  in  sämtlichen  Werken 
Dantes  etwa  200  Bezugnahmen  auf  Virgil,  100  auf  Ovid,  je  50  auf  Cicero 
und  Lukan,  je  10  bis  20  auf  Horaz  und  Livius  —  die  alle  zusammen  reich- 
lich überwogen  werden  durch  500  Bezugnahmen  auf  die  Bibel  allein ') 
—  von  der  mittelalterlichen  Eirchenlitteratur  gar  nicht  zu  reden. 

Nicht  einmal  das  durchgehende  Nebeneinander  biblischer  und  antiker 
Darstellungen  in  den  allegorischen  Gruppen  und  auf  den  Reliefs  im  Pur- 
gatorium  darf  als  Renaissanceelement  aufgeführt  werden.  Es  ist  lange 
erwiesen,  dass  dieser  Parallelismus  die  ganze  bildende  Kunst  des  Mittel- 
alters beherrscht  und  in  der  allegorisch-symbolischen  Auffassung  des 
Altertums  seine  Wurzel  hat. 

Wenn  aber  auch  die  Grundanschauung  eine  mittelalterliche  bleibt, 
so  erhebt  sich  doch  die  künstlerische  Ausführung  oft  genug  zu  echt 
modernem  Klassizismus.  Mit  anderen  Worten:  Dante  hat  den  eigenen 
Wert  der  Antike  theoretisch  nicht  erkannt,  aber  die  eigene 
Physiognomie  der  Antike  hat  er  künstlerisch  gefühlt  und  wie- 
dergegeben. 

Das  zeigt  sich  zunächst  negativ  in  seinem  ablehnenden  Verhalten 
gegen  den  Ritterroman. 

Das  zeigt  sich  positiv  in  seinem  Stil,  in  der  festen  Struktur  des 
gegliederten  Ausdrucks,  in  dem  kunstreich  gehandhabten  Enjambe- 
ment, in  der  freieren  Rhythmisierung  der  Phrase. 

Es  zeigt  sich  in  der  Wiedergabe  antiken  Wesens  und  Gebahrens, 
z.  B.  in  jener  berühmten  Schilderung  des  Limbns  der  berühmten  Männer. 
Hier  hat  der  Held  und  Denker  des  Altertums  die  mittelalterliche  Ver- 
kleidung, die  ihm  Benott  de  Salute  More  und  andere  Franzosen  ange- 

1)  £.  Moore,  Studies  in  Dante.    First  Series,  Oicford  1896. 


104  Karl  VosBler 

legt  hatten,  beiseit  geworfen  und  steht,  wies  ihm  gebährt,  in  rein  ver- 
klärter Menschlichkeit  vor  uns. 

Genti  v'  eran  con  occhi  tardi  e  gravi 
Di  grande  autoritä  ne'  lor  sembiaati;         « 
Parlavan  rado  con  voci  soavi  .... 

Vidi  i]  maestro  di  color  che  sanno 
Seder  tra  filosofica  famiglia. 
Tutti  lo  miran,  tutti  onor  gli  fanno. 

Unwillkürlich  streift  der  Oedanke  zu  Baphaels  Parnass  und  Schule 
von  Athen.  Es  ist  derselbe  Qeist  der  Benaissance,  der  über  jenen  Bil- 
dern schwebt. 

und  dasselbe  zeigt  sich  in  der  flammenden  Kede  des  ülixes,  der 
Haus  und  Familie  vergisst  und  seine  Leute  zum  „tollen  Fluge"  hinaus- 
jagt, den  fremden  Ocean  zu  erforschen. 

Considerate  la  vostra  semenza: 

Fatti  non  foste  a  viver  come  bniti, 

Ma  per  seguir  virtate  e  conoscenza!  (Inf.  XXVI,  118.) 

„Bedenket,  dass  ihr  Mensch-geboren  seid, 
Und  nicht  geschaffen,  wie  das  Vieh  zu  leben, 
Erkenntnis  suchen  sollt  und  Tüchtigkeit!** 

Das  ist  die  grosse  Maxime  der  ßenaissance,  die  Wiederentdeckung 
des  Menschen  —  und  wieder  dringt  unser  Geist  nach  vorwärts:  zu 
Cristoforo  Colombo.  Diese  Ideenassoziationen  sind  so  naheliegend,  dass 
sie  sich  wiederholt  den  Litterarhistorikern  aufgedrängt  haben. 

Die  Spur  antiker  Kunst  zeigt  sich  endlich  in  der  Art  wie  die 
Naturschilderung  verwertet  wird.  Dantes  Naturgefahl  ist  kein  modern 
sentimentales,  wie  es  sich  bald  schon  bei  Petrarca  findet.  Die  Land- 
schaft, sofern  sie  sich  bei  Dante  nicht  mit  der  Vaterlandsliebe  verbindet 
—  und  auch  dieser  Zug  dürfte  antik  sein  —  wirkt  vorzugsweise  auf 
seine  Phantasie,  nicht  auf  sein  Qemüt.  Er  verwendet  sie  zur  Voran* 
schaulichung  seiner  Höllenräume  und  seines  Läuterungsberges  und  sieht 
mit  einem  klareren  topographischen  Auge  als  der  moderne  Dichter,  dem 
die  bewegte  Seele  den  .Blick  fars  Gegenständliche  verschleiert.  Hierin 
steht  er  der  Antike  und  besonders  dem  Homer,  den  er  nicht  gekannt 
hat,  am  nächsten. 

Selten  nur,  besonders  in  der  prachtvollen  Steincanzone  ^lo  son  ve- 
nuto  al  punto  della  rota*^  (Canzoniere  XI),  bricht  doch  schon  ein  mo- 
dernes Naturgefuhl  heraus.  Die  winterlich  erstarrte  Aussenwelt  wird 
hier  durch  fünf  Strophen  hindurch  in  Gegensatz  gebracht  zur  glühen- 
den Liebesqual  in  der  Brust  des  Dichters,  und  dennoch  werden  die  bei- 


Dante  iind  itie  Renaissance  105 

den  Kontrastempfiadungen  auf  einen  gemeinsamen  Grandakkord  der 
Melancholie  gestimmt.  Das  Motiv  ist  dem  mittelalterlichen  Minnesang 
entnommen,  aber  kein  Troubadour  und  selbst  kein  Walther  von  der 
Vogelweide  hat  es  mit  solcher  Kunst  erfasst,  mit  solchem  Gefühle  ver- 
tieft. Derartige  Kundgebungen  eines  modernen  Empfindens  sind  jedoch 
vereinzelt  und  oft  noch  kaum  erkennbar. 

Alles  zusammengenommen  ist  Dante  der  Erste,  der  in  künstlerischer 
Weise  antike  Elemente  in  die  Yulgärlitteratur  eingeschmolzen  hat.  Seinen 
unmittelbarsten  Nachfolger  fand  er  dabei  in  Boccaccio  —  mit  dem 
Unterschiede  jedoch,  dass  dieser  nur  zu  oft  ins  Mittelalterliche  zurück- 
fallt, indem  er  es  bei  einem  unorganischen  Nebeneinander  mittelalter- 
licher und  humanistischer  Formen  bewenden  lässt;  nur  in  dem  quanti- 
tativen Verhältnis  der  Mischung  ist  ein  Fortschritt  zu  Gunsten  der 
Antike  bei  Boccaccio  eingetreten,  im  qualitativen  aber  ein  Bückschritt 
zu  verzeichnen.  Der  echte  und  rechtmässige  Fortsetzer  Dantes  sollte 
erst  viel  später  in  Ariost  erstehen.  —  Immer  wieder  steht  unser  Dichter 
dem  Mittelalter  und  der  Hochrenaissance  viel  näher  als  der  dazwischen 
liegenden  Zeit  des  Humanismus. 

Werfen  wir  noch  einen  kurzen  Blick  auf  Dantes  Verhältnis 
zur  bildenden  Kunst,  das  besonders  in  Deutschland  so  oft  zum 
Gegenstand  der  Untersuchung  gemacht  wurde.  Seine  Kunst  lehre  ist 
mittelalterlich  und  geht  in  keiner  Weise  über  die  Anschauungen  des 
Albertus  Magnus  und  des  Thomas  von  Aquino  hinaus,  wie  Janit^chek 
gezeigt  hat.^)  Wenn  man  nun  aber  die  Entsündigung  des  Schönen  in 
der  Welt  als  ein  Benaissanceelement  bezeichnet  hat,  das  wir  den  Fran- 
ziskanern und  Dante  verdanken,  so  ist  Franz  Xaver  Kraus  wohl  mit 
Hecht  dieser  Auffassung  entgegengetreten.  „Ich  fürchte*,  sagt  er,  „dass 
hier  ein  Missverständnis  vorliegt,  wie  es  häufig  bei  solchen  gefunden 
wird,  welche  mit  dem  Gedanken  der  theologischen  Kreise  nicht  völlig 
vertraut  sind.  Eine  prinzipielle  Verdammung  der  Schönheit  war  auch 
dem  Christentum  vor  dem  13.  Jahrhundert  fremd;  es  war  wesentlich 
die  Schönheit  des  menschlichen  Leibes,  von  deren  Betrachtung  und 
Genuss  die  aszetische  Lebensauffassung  in  Anbetracht  der  Sündhaftig- 
keit und  Schwäche  unserer  Natur  abzuziehen  suchte.  Das  hat  wahr- 
haftig auch  Francesco  d'Assisi  wie  irgend  einer  seiner  Vorgänger  ge- 
than.  Wenn  er  aber  die  Herrlichkeiten  in  Gottes  freier  Natur  mehr 
als  andere  bewunderte  und  liebte,   so  lag  darin  kein  Gegensatz  gegen 


1)  Die  Kunstlehre  Dantes  und  Giottos  Kunst,  Leipzig  1892. 


106  Karl  Vossler 

die  prinzipielle  Auffassung  der  übrigen  Christenheit,  sondern  es  war  nur 
ein  Ausfluss  seiner  poetisch  angelegten  Stimmung.  Die  grosse  Evolu- 
tion und  Revolution,  welche  für  die  Kunstgeschichte  mit  der  Entdeckung 
der  Schönheit  des  menschlichen  Körpers  beginnt,  fällt  nicht  ins  13., 
sondern  ins  15.  Jahrhundert,  und  Francesco  d*Assisi  ist  daran  gar  nicht, 
Dante  nur  von  ferne  beteiligt*  *) 

Es  wiederholt  sich  immer  dasselbe  Schauspiel:  neben  den  mittel- 
alterlichen Grundanschauungen  kann  man  einen  modernen  Sinn  für  dar- 
stellende Kunst  bei  Dante  einesteils  in  vereinzelten  Äusserungen  finden, 
wie  in  dem  berühmten  Worte :  „Poi  chi  pinge  figura,  se  non  puö  esser 
lei,  non  la  puö  porre ;  onde  nullo  dipintore  potrebbe  porre  alcuna  figura, 
se  intenzionalmente  non  si  facesse  prima  tale,  quäle  la  figura  esser  dee^ 
(Conviv.  IV,  10),  d.  h.  in  moderne  Sprache  übersetzt:  Das  Bild  muss 
erlebt  sein.  Andererseits  offenbart  sich  ein  moderner  Sinn  für  Kunst 
nur  noch  in  einem  Iroponderabile,  in  dem  unbewusst  Genialen  seiner 
plastisch  sinnlichen  Schaffensweise,  das  sich  aufs  innigste  mit  dem 
Genius  Michelangelos  berührt. 

Die  bedeutungsvollste  Spur  einer  künstlerischen  Gesinnung,  einer 
ästhetisch  empfindenden  Seele  aber  verrät  sich  in  jenem  unbewussten 
Gegensatz,  in  den  der  Dichter  jeden  Augenblick  zum  Moralisten  tritt. 
Die  Verse,  die  er  einer  Francesca,  einem  Farinata,  einem  Gapaneus  und 
Ulixes  widmet,  bezeugen  es  laut  genug,  dass  er  eine  unbändige  und 
schlecht  verhehlte  Freude  hat  am  Kraftmenschen,  am  ausserordentlichen 
Individuum,  an  der  Kühnheit,  an  der  Schönheit,  an  der  Liebe  und  am 
Ruhm.  Der  grosse  Verbrecher  aus  ganzem  Holze  steht  seinem  in- 
nersten Instinkt  wohl  näher  als  manch  zahmer  Gast  im  Himmelreich. 
Diese  Wertschätzung  der  Kraft  entspricht  aber  ebenso  sehr  der  ger- 
manisch ritterlichen  als  der  antiken  Denkungsart ;  und  in  der  That  ver- 
mählt sich  in  Dantes  Brust  die  Seele  des  alten  Hellenen  mit  der  des 
alten  Germanen;  er  hat  etwas  von  dem  germanisch  gesinnten  Ghibel- 
linen  Farinata  und  von  dem  rühm-  und  wissensdurstigen  Hellenen  ülixes 
in  seinem  Blute  leben;  das  Innerste  in  ihm,  das  Individuuni  ist  ganz 
modern  und  menschlich  im  besten  Sinne  des  Wortes. 

So  sahen  wir  also:  vom  Mittelalter  ist  das  ganze  Denken  und 
Glauben  Alighieris  beherrscht;  seine  Überzeugung,  seine  Gesinnung  ist 
eher  eine  retrospektive  als  eine  fortschrittliche;  seine  volle  Sympathie 
gehört  den  grossen  Idealen  der  Vergangenheit,  und  die  ei*sten  Ansätze 


1)  Dante,  sein  Leben  und  sein  Werk,  Berlin  1897.    S.  549  f. 


Dante  und  die  Renaissauce  107 

ZU  einer  neueD  Gestaltung  des  politischen,  sozialen,  religiösen  und  litte- 
rariscben  Lebens,  in  der  Art,  wie  sie  sich  zu  seinen  Tagen  geltend 
machen,  erscheinen  ihm  meist  als  Verfall  und  Verderbnis.  Wo  er  aber 
je  selbst  im  Sinne  des  Fortschrittes  thätig  ist,  da  schreitet  er  gleich 
jahrhunderteweit  über  die  näheren  Ziele  der  Frührenaissance  hinaus,  und 
seine  Leistungen  müssen  darum  zunächst  noch  ohne  Fortsetzung  liegen 
bleiben.  Er  steht  also  in  keiqem  unmittelbaren  Eontinui- 
tätsverhältnis  zur  Eulturentwicklung  seines  Zeitalters, 
und  es  ist  durchaus  falsch,  ihn  einen  „Bahnbrecher  der 
Renaissance"  zu  nennen  im  eigentlichen  Sinn  des  Wortes, 
wie  es  etwa  auf  Petrarca  passt.  Dieser,  Petrarca,  hat  die  verborgen 
angesponnenen  Fäden  der  Renaissance  behutsam  aufgenommen  und  un- 
ermüdlich weitergezogen  und  hat  für  die  nächste  Entwicklung  in  viel 
augenfälligerem,  intensiverem  Masse  fördernd  gewirkt  als  Dante,  der 
mit  dem  Anachronismus  des  Genies  in  hochgewölbtem  Bogen  eine  Brücke 
vom  Mittelalter  zur  Neuzeit  herübergeschlagen  hat.  Er  ist  der  Erste 
und  der  Letzte  zugleich,  der  den  ganzen  Gehalt  des  Mittelalters  mit 
der  Seele  eines  modernen  Menschen  erfasst  hat;  nur  so  ist  es  zu  er- 
klären, dass  er  es  vermochte,  die  feudale  Monarchie  zu  verteidigen  uud 
den  Eulturstaat  zu  predigen,  ein  gläubiger  Eatholik  zu  bleiben  und 
über  die  Eirche  seiner  Zeit  den  Stab  zu  brechen,  die  theokratische 
Moral  zu  verinnerlichen,  die  abstrakteste  Scholastik  noch  dichterisch  zu 
beleben,  die  Allegorie  künstlerisch  zu  überwinden,  das  theologische 
Wissen  zu  popularisieren,  das  Latein  zu  verehren  und  trotzdem  eine 
vulgäre  Eunstsprache  zu  schaffen,  die  Welt  der  Antike  zu  verkennen 
und  doch  ahnend  zu  erfassen;  kurz  das  ganze  Gebäude  der  mittelalter- 
lichen Weltanschauung  auf  einen  Augenblick  noch  einmal  poetisch  zu 
durchglühen.  —  Man  könnte  vermuten,  dass  diese  zauberische  Durch- 
leuchtung mit  dem  Prometheusfeuer  der  Dante*schen  Seele  dem  ehr- 
würdigen Gebäude  einen  heimlichen  Schaden  angethan  habe,  denn  kaum 
hatte  der  Dichter  sein  Feuerwerk  abgebrannt,  da  fing  auch  schon  der 
alte  Bau  zu  wanken  an  und  stürzte. 


Pfalzgräfin  Elisabeth 

Äbtissin  von  Herford« 


Ein  Vortrag  0 

von 

J.  Wille. 


Die  «Frauenfrage^,  wie  sie  heutzutage  in  allen  Formen  des  sozialen 
Lebens  so  leidenschaftlich  das  zarte  Geschlecht  bewegt,  ist  wenig- 
stens nach  der  Seite  der  höheren  Bildung  hin,  schon  längst  akademisch 
behandelt  worden.  Ein  gelehrter  Kandidat  mit  dem  gerade  nicht  sehr 
schönen  und  vielleicht  auch  dem  damaligen  Frauengeschlechte  gar  nicht 
begehrenswerten  Namen  Johannes  Sauerbrei  hat  schon  Ende  des  sieben- 
zehnten Jahrhunderts  mit  einer  stattlichen  Beihe  von  Thesen  „über  die 
Gelehrsamkeit  der  Frauen^  in  der  Leipziger  Universität  öffentlich  dis- 
putiert.') In  zwei  lateinischen  Abhandlungen,  die  nach  Form  und  In- 
halt und  nach  dem  heutigen  Geschmacke,  dem  Familiennamen  des  Ver- 
fassers alle  Ehre  machen,  hat  er  dem  Frauengeschlechte  seine  Aner- 
kennung nicht  versagt.  Er  hat  zugegeben,  dass  es  nicht  gegen  die 
Vernunft  sei,  wenn  Frauen,  die  Vermögen,  dazu  freie  Zeit  von  häus- 
lichen Geschäften  besitzen  und  beseelt  sind  von  Lust  und  Liebe  zu  den 
Studien,  ihre  Zeit  lieber  den  Wissenschaften  als  andern  nichtssagenden 
Dingen  zuwenden.    Ein  ganzer  Katalog  «gelehrter  Frauen^   von  dem 


1)  gehalten  zum  Besten  des  Badischen  Fraaen Vereins  in  der  Anla  der  Uni- 
versität am  14.  Dezember  1900.  —  Nur  in  diesem  eng  begrenzten  Rahmen  und  nur 
als  Skizze  bitte  ich  meine  Darstellung  zu  beurteilen.  Mein  Versuch  auf  Grund  der 
im  k.  Staatsarchiv  zu  Münster  i.  W.  befindlichen  Akten  des  ehemaligen  Keichsstifts 
Herford  und  dort  vermuteter  Briefschaften  seiner  berOhmtesten  Äbtissin,  den  psycho- 
logischen Inhalt  dieser  bedeutenden  Frauengestalt  tiefer  zu  ergründen,  ist  mir  leider 
nicht  geglückt.  Ich  benütze  die  Gelegenheit,  der  mir  vom  Vorstände  und  den  Be- 
amten des  gen.  Archives  zu  Teil  gewordenen  Unterstützung  meinen  herzlichen  Dank 
an  dieser  Stelle  auszusprechen. 

2)  Johannes  Sauerbrei,  De  foeminarum  eruditione  Diatr.  II.  Lips.  1676.  (Diatr.  I 
war  auch  in  der  Leipziger  Universitätsbibliothek  nicht  zu  finden.) 


J.  Wille:   Pfalzgräfin  Elisabeth  109 

frühesten  Altertum  bis  in  des  gelehrten  Verfassers  Tage  soll  uns  be- 
weisen, in  wie  reichem  Maasse  auch  die  Frauenwelt  an  der  gelehrten 
Bildung  aller  Zeiten  Teil  genommen  hat,  dass  also  nach  dem  Schöpfangs- 
plane  die  Frauen  auch  geistig  dem  Manne  nicht  untergeordnet  seien. 
Das  war  ein  grosser  Fortschritt  in  der  freien  Auffassung  sozialer  Ver-- 
hältnisse  jener  Tage  gegenüber  dem  dogmatisch  getrübten  Urteile  eines 
reformierten  Theologen  des  sechszehnten  Jahrhunderts,  der  aus  seinem 
frommen  Zweifel  keinen  Hehl  machte,  dass  die  Frau  nach  dem  Ebenbilde 
Gottes  geschaffen  sein  könne,  weil  das  göttliche  Ebenbild  eine  Herrschaft 
über  die  Natur  bedeute. 

Von  solchem  paradiesischen  Selbstbewusstsein  scheinen  mir  auch  in 
unsern  Tagen  noch  viele  befangen  zu  sein,  weil  sie  sich  um  die  Lehren 
der  Geschichte  nicht  kümmern  und  vieles  im  Streben  der  Frau  selbst 
nach  gelehrter  Bildung  neu  und  unerhört  finden,  was  im  geistig  reg- 
samsten Jahrhundert  der  neueren  Geschichte  auch  dem  Frauengeschlechte 
die  höchste  Menschenwürde  verlieh.  Denn  glänzender  als  die  Renais- 
sance Italiens^)  hat  wohl  keine  andere  reiche  Kultur  den  Frauen  ein 
Zeugnis  ihrer  hohen  Begabung  ausgestellt.  Sie  hat  uns  gezeigt,  dass 
auch  die  Frauen  fähig  waren,  im  Mittelpunkte  eines  veredelnden  Geistes- 
lebens zu  stehen,  die  läuternde  Kraft  ernster  und  tiefer  Bildung  in  sich 
wirken  zu  lassen,  in  der  Freiheit  des  Wissens  und  Erkennens  niemals 
des  Zwanges  ächter  Weiblichkeit  zu  vergessen  und  im  Streite  der 
schrankenlosen  Gewalten  mit  den  Gesetzen  feinster  Sitte  jener  Tage 
auch  den  Mann  zu  adeln.  So  reich  an  hochbegabten  Frauengestalten 
ist  die  Kultur  diesseits  der  Alpen  niemals  gewesen.  Figuren,  wie  sie 
das  geistige  Leben  der  italienischen  Fürstenhöfe  beherrschten,  wie  sie 
in  der  Villa  des  Antonio  Alberti  zu  Florenz  aus-  und  eingingen,  jene 
feinsinnigen,  reichbegabten  Frauen  vermissen  wir,  die  gerne  gesehen 
und  bewundert,  mit  den  Gebildetsten  des  andern  Geschlechts  über  alle 

• 

Fragen  des  höheren  menschlichen  Daseins  disputierten.  Auf  ganz 
anderm  Boden,  in  andern  Formen  und  Äusserungen  bewegt  sich  im  Nor- 
den der  geistige  Verkehr.  Die  neue  Bildung  ist  in  die  Gelehrtenstube 
eingezogen,  erst  in  der  Gelehrtenstube  hat  sie  fruchtbringend  gewirkt. 
Diese  Bildung  bei  den  Deutschen  ist  nicht  mehr  so  frei,  nicht  so  dilet- 
tantisch, so  glänzend  und  weite  Kreise  umfassend,  sie  ist  aber  ernst 
und  tief,  in  einem  Zeitalter,  das  in  den  Fragen  des  Seelenheils  sich  ab- 


1)  Janitschek,   Die  Gesellschaft   der  Renaissance  in  Italien  und  die  Kanst. 
Stuttgart  1879.    Kap.  3. 


110  J.  Wille 

müht,  die  Glaubensartikel  als  ein  Heiligtum  wahrt,  für  sie  kämpft 
und  blutet,  oder  in  vorraussetzungslosem  Zweifel  an  allem,  nur  nicht 
am  eigenen  Denken  und  Sein,  neue  Wege  der  Erkenntnis  Ofifnet  Nicht 
so  vorherrschend  wie  die  Frau  der  italienischen  Gesellschaft,  sondern 
bescheiden  und  zurückhaltend,  aber  mit  tiefem  Ernst  am  wissenschaft- 
lichen Leben  teilnehmend,  von  unermüdlichem  Streben  nach  Erkennt- 
nis; oft  staunenswerter  umfassender  Gelehrsamkeit,  von  den  geistigen 
Führern  der  Zeit  geachtet,  bewundert  und  gefeiert  —  so  stehen  die 
gelehrten  Frauen  der  deutschen  Renaissance  vor  uns. 

An  dem  Ruhme  aber,  der  ihnen  gebührt,  hat  keine  so  grossen  An- 
teil als  die  pfälzische  Prinzessin  Elisabeth,^)  Äbtissin  von  Herford. 
Landläufige  Geschichtsbücher  wissen  von  ihr  nichts  zu  erzählen,  kaum 
dem  Namen  nach  ist  sie  vielleicht  so  vielen  bekannt,  die  als  Führer 
mitten  im  Kampfe  um  die  Fragen  moderner  Frauenbildnng  stehen.  Und 
doch  war  diese  Prinzessin  die  Unserige,  ein  Kind  unserer  Stadt,  auf 
dem  Schlosse  zu  Heidelberg  geboren,  von  den  dreizehn  Kindern,  die 
Elisabeth  Stuart  dem  Kurfürsten  Friedrich  V.,  dem  Winterkönig,  ge- 
schenkt hat,  das  dritte,  von  den  hochbegabten  Mädchen  dieses  schick- 
salsvollen Familienkreises  die  älteste.  Der  Glücksstern  der  englischen 
Heirat  leuchtete  noch  einmal  auf,  um  bald  darnach  dauernd  zu  ver- 
löschen. In  lebhafter  Erinnerung  waren  noch  den  Pf&lzern  jene  fest- 
lichen Tage,  die  unserm  Schlosse  den  letzten  Palastbau  angefägt,  der 
jetzt  halbgebrochen  von  grünender  Höhe  in  das  liebliche  Thal  herab- 
schaut, mit  all  den  hängenden  Gärten  und  rauschenden  Wassern  in 
kunstreichen  Formen  aus  dem  Boden  geschaffen,  einen  nie  dagewesenen 
Glanz  höfischen  Lebens  bei  einem  so  fröhlichen  und  doch  einfachen 
Geschlecht.  Diese  glänzende  Heimat  blieb  der  Prinzessin  eine  fremde 
Welt.  Am  26.  Dezember  1618  ist  sie  geboren  und  schon  Ende  Oktober 
des  kommenden  Jahres  war  Kurfürst  Friedrich,  als  guter  Calvinist  der 
Stimme  Gottes  folgend,  ausgezogen,  um  das  zweifelhafte  Geschenk  der 
böhmischen  Königskrone  in  Empfang  zu  nehmen.  Der  Gang  der  Ge- 
schichte ist  bekannt:  Der  böhmische  Krieg,  die  Schlacht  am  weissen 


1)  Gahraaer,  EÜsabeth,  Pfalsgräfin  bei  Rhein,  Äbtissin  von  Herford  (Raamer's 
Histor.  Taschenbach  3.  Folge  Jahrg.  1  S.  1—137,  2  S.  417—554),  was  ihre  aosaem 
Lebensverh&ltnisse  betrifft,  eine  Arbeit  von  grundlegender  Bedeutung,  die  uns  zum 
ersten  mal  ein  zusammenhängendes  Lebensbild  der  Prinzessin  gibt.  (Davon  ab- 
hängig und  ohne  selbständigen  Wert:  Blaze  de  Bury,  Memoirs  of  the  princess  of 
Bohemia.  London  1853.)  —  HOlscher,  Pfalsgräfin  Elisabeth  (Allgem.  Deutsche  Bio- 
graphie 6,  19—28). 


Pfalzgräfin  Elisabeth  Hl 

Berge,  die  Eroberung  der  Pfalz  und  ihrer  Residenz,  die  Flacht  der 
kurfürstlichen  Familie  —  und  das  Elend  eines  dreissigjährigen  Krieges. 

Die  kleine  Prinzessin  war  ihrer  Orossmutter,  der  geist-  und  gemät- 
voUen  Kurfürstin  Louise  Juliane,')  der  Tochter  des  grossen  Oraniers, 
auf  der  Flucht  nach  der  Mark  Brandenburg  gefolgt.  Die  protestantische 
Politik  hatte  mit  dem  brandenburgischen  Hofe,  wo  damals  Georg  Wil- 
helm regierte,  verwandtschaftliche  Beziehungen  geschaffen.  Mit  dem 
Kurfürsten  war  Julianens  Tochter,  die  Schwester  Friedrichs  V.,  Elisabeth 
Charlotte  verheiratet.  Sie  ward  die  Mutter  des  grossen  Kurfürsten  und 
Friedrich  Wilhelm  war  also  der  Vetter  der  Pfalzgräfin  Elisabeth.  Eine 
Verwandtschaft,  die  für  ihren  Lebensweg  von  entscheidender  Bedeutung 
werden  sollte.  Wahrscheinlich  bis  zum  Jahre  1626  blieb  Elisabeth  zu 
Crossen  unter  der  Obhut  ihrer  sorgsamen  Grossmutter.  Inzwischen  hat 
sich  die  kurfürstliche  Familie,  deren  Flüchtlingsleben  wenigstens  mit 
einer  Schar  von  Kindern  gesegnet  war,  im  Haag  versammelt,  im  Ge- 
nüsse der  Gastfreundschaft  der  niederländischen  Staaten,  unter  dem 
Schutze  der  oranischen  Verwandtschaft.  Elisabeth  war  Eltern  und 
Geschwistern  gefolgt.  Dort  hoffte  man  auf  eine  glückliche  Wendung 
der  politischen  Verhältnisse,  doch  vergeblich.  Die  Zuverlässigkeit  der 
englischen  Politik  versagte  mit  samt  der  Schutzherrlicdkeit  Jakobs  I., 
auf  welche  die  protestantische  Welt  all  ihre  Hoffnungen  gebaut  hatte. 
Auch  nach  dem  Tode  des  vom  Schicksal  gebeugten  Kurfürsten  (29.  No- 
vember 1632)  blieb  die  Hofhaltung  der  böhmischen  Königin  ein  Exil. 
Aber  vom  Elend  jener  Tage  merkte  der  Fremde,  der  kam,  sehr  wenig. 
Alle  sind  entzückt  von  dem  äussern  Glänze  dieses  Lebens,  in  dessen 
Mittelpunkt  die  schöne  Königin  Böhmens  den  ganzen  Zauber  ihrer  Per- 
sönlichkeit entfaltete. ')  Es  war  ein  Wanderleben  fröhlichster  Art,  denn 
im  Haag  sass  man  niemals  fest.  Zu  Bhenen  hatte  sich  Friedrich  V. 
ein  stattliches  Schloss  gebaut,  das  in  seinem  Äussern  nicht  gerade  glanz- 
voll und  von  reichen  Formen,   doch  in  seinem  Innern  den  behaglichen 


1)  Fr.  SpaDheim,  Memoires  Bur  la  vie  et  la  mort  de  la  sereniBBime  PrinceBBe 
Loyse  Juliane,  Electrise  Palatino  etc.  Leyden  1645.  —  F.  E.  Bunnett,  LooiBe  Juliane, 
ElectresB  Palatino  and  her  times.    LoDdon  1862. 

2)  J.  0.  Opel,  Elisabeth  Staart,  EurfOrBtin  der  Pfalz,  Königin  von  B  hmen. 
(HiBtor.  Zeitschrift  23,  289—329.)  „The  pearl  of  Britain"  Blaze  de  Bury  S.  87.  — 
Über  das  Leben  im  Haag:  G.  D.  J.  Schotel,  De  Winterkoning  en  zijn  gezin.  Tiel 
1859.  hoofst.  9.  —  K.  Th.  Wenzelburger,  Geschichte  der  Niederlande  II,  988  ff.  — 
P.  J.  Block,  Geschiedenis  van  het  nederlandsche  Volk  IV,  322  ff.  —  C.  Neiimann, 
Rembrandt  1902.  S.  72  ff. 


112  .T.Wille 

und  eleganten  Reichtum  einer  Besidenz  zur  Schau  trug.  ^)  Grund  und 
Boden  war  von  den  Staaten  von  Utrecht  geschenkt.  Gerne  versammelte 
sich  zur  Sommerszeit  die  königliche  Familie  in  dem  einst  zur  Abtei 
Egmond  gehörigen  Hondslaarsdijk,  das  von^  Johann  Heinrich,  dem  Statt- 
halter, zu  einem  glänzenden  Schlosse  umgebaut  mit  zahlreichen  Kunst- 
schätzen angefüllt  war.  Auch  auf  den  Schlössern  der  Adeligen  am  Rhein 
und  an  der  Yecht  suchte  man  Gastfreundschaft  und  genoss  fröhliche  Tage. 
Zwar  lebte  dieser  Hof  der  flüchtigen  Königsfamilie  vom  Gnadenbrote 
der  Generalstaaten,  von  den  milden  Gaben,  die  von  England  herüber- 
kamen, aber  rauschende  Feste  und  Jagden,  Fahrten  zu  Wasser  und  zu 
Land,  Hessen  die  Knappheit  der  Mittel  nicht  merken,  die  zeitweise  in 
diesem  Kreise  herrschte,  und  nichts  von  den  Schulden,  die  auf  diesem 
frohen  Dasein  lasteten.  *)  „Wir  hatten  oft  reicheres  Mahl  als  Kleopatra, 
erzählt  uns  einmal  die  jüngste  Tochter  Sophie,  wir  lebten  von  Perlen 
und  Diamanten.* 

Es  fehlte  nicht  an  Stimmen,  die  sich  gegen  dieses  üppige  Leben, 
gegen  die  Freuden  des  Theaters  und  der  Ballette  erhoben,  während  die 
pfälzischen  getreuen  Unterthanen  zu  Hause  unter  den  Schrecken  des 
Krieges  seufzten.') 

Um  die  geistvolle  Königin  aber  versammelte  sich  an  dem  wandernden 
Hofe  neben  Kavalieren  und  Diplomaten  die  ganze  geistig  vornehme  Ge- 
sellschaft jener  Tage.  Auch  die  Prinzen  und  Prinzessinnen  sollten  Teil 
nehmen  an  der  hohen  Bildung,  in  deren  reichem  Besitze  die  nieder- 
ländischen Staaten  an  der  Spitze  des  geistigen  Lebens^)  in  Europa 
standen.  Nicht  unfruchtbar  auch  für  diese  höheren  Zwecke  blieb  der 
gewaltige  Reichtum,  welcher  diesem  rührigen  kleinen  Volke  im  Kampfe 
gegen  die  spanische  Weltmonarchie  eine  unentbehrliche  Macht  verliehen. 
Man  wetteifert  um  den  Besitz  von  hohen  Schulen.  An  sechs  Universitäten 
und  Akademien  des  kleinen  Landes  lehrten  die  gefeiertsten  Vertreter 


1)  Schotel  S.  77.  —  Job.  Kretschmar,  Das  kurpfälzische  Schloss  za  Rhenen, 
eine  Arbeit,  die  roir  Herr  Staatsarcbivar  Kretschmar  in  Hannover  für  diese  2^it- 
schrift  zur  Verfügung  stellte,  die  jedoch  einen  passenderen  Platz  demnächst  in  den 
„Mittheilungen  zur  Geschichte  des  Heidelberger  Schlosses**  finden  wird. 

2)  Aitzema,  Saken  van  Staet  en  Oorlogh  III,  324.  916. 

3)  Wenzelburger  II  S.  989. 

4)  Vgl.  de  Sorbiöre,  Lettres  et  discours  sur  diverses  maticres  cnrieuses.  Paris 
1660  8^  Neugedruckt  in:  Bijdragen  en  mededeelingen  van  het  bist,  genootschap  gev. 
te  Utrecht  22,  1  ff.  bes.  Lettre  IV.  Über  die  allgemeinen  Kulturverhältnisse  auch 
C.  Nenmann,  Rembrandt  Kap.  1. 


!>fa1zgrftfin  Elisabeth  113 

der  Wissenschaft.  Neben  dem  Erbteil  niederländischer  Gelehrsamkeit, 
der  Philologie  und  Altertumskunde,  blähen  mathematische  and  natur- 
wissenschaftliche Stadien.  Dabei  bewegen  die  tiefen  Fragen  des  Glau- 
bens Staat  und  Kirche.  Die  Scholastik  der  calvinischen  Theologie, 
durch  die  Dortrechter  Synode  geheiligt,  im  Kampfe  mit  dem  Rationalis- 
mus, gibt  den  politischen  Parteien  ihre  F&rbung.  ^)  Eine  Unduldsamkeit 
ohne  gleichen  beherrscht  die  theologischen  Schulen.  Bigorose  Calvinisten 
überwachen  jeden  freien  Zug  metaphysischer  Betrachtung,  der  in  das 
Heiligtum  des  Dogmas  einzudringen  sucht.  Auch  der  gute  Rat  des  Hei- 
delberger Theologen  Pareus,  die  Geheimnisse  Gottes  mit  Zartheit  zu 
behandeln,  war  vergessen,  als  die  neue  Philosophie,  die  Gott  als  den 
Urquell  aller  Erkenntnis,  vom  Zwange  des  Dogmas  befreite,  neue  und 
erbitterte  Kämpfe  in  die  HOrsäle  zu  Leiden  und  Utrecht  hineintrug. 

Im  Jahre  1629  war  Rene  Descartes  nach  den  Niederlanden  ge- 
kommen. 

Ehe  die  hochbegabten  Kinder  des  Winterkönigs  all  die  Eindrücke 
der  regen  geistigen  Umgebung  in  sich  aufnehmen  konnten,  hatten  sie 
im  nahen  Leiden  mit  seiner  berühmten  Universität  eine  tüchtige  Er- 
ziehung genossen.  Die  stolze  Königin  enthob  sich  mitten  im  geräusch- 
vollen höfischen  Leben  gerne  dieser  ersten  Sorgen.  In  Leiden  ward  ein 
eigener  Hofstaat  eingerichtet.  Unter  Professoren  und  Gouvernanten 
wuchsen  Prinzen  und  Prinzessinnen  heran,  in  der  freien  Luft  wissen- 
schaftlichen und  künstlerischen  Lebens,  wie  im  Zwange  calvinischer 
Dogmatik  und  höfischer  Etikette,  deren  Freuden  und  Leiden  uns  die 
jüngste  der  Töchter,  Sophie,  so  köstlich  geschildert  hat.')  Erst  als  im 
Haag  wieder  alle  um  die  Mutter  versammelt  waren,  trat  auch  Elisabeth 
in  diesen  Kreis.  *)  Eine  jugendliche  schöne  Gesellschaft  an  diesem 
Hofe!^)  Wer  kennt  sie  nicht  aus  den  Bildern  van  Dycks,  die  statt- 
lichen Jünglingsfiguren  mit  ihrem  schlanken  Wüchse,  den  feinen  lang- 

1)  WeDzelburger  II,  875.  —  K.  Fischer,  Geschichte  d.  neueren  Philosophie  I, 
1.  Descartes  S.  189  ff.  —  A.  Tholuck,  Vorgeschichte  des  Rationalismus.  I.  Das  aka- 
demische Leben  des  17.  Jahrhunderts  2,  204  ff. 

2)  Memoiren  der  Herzogin  Sophie,  nachmals  Kurfürstin  von  Hannover  herg. 
von  Adolf  Köcher  (Publikationen  aus  den  preuss.  Staatsarchiven  IV)  S.  34  ff. 

S)  Nach  Miss.  Benger,  Memoirs  of  Elisabeth  Stuart,  queen  of  Bohemia  II, 
436,  deren  sonst  unzuverlässigen  Mitteilungen  Guhrauer  I  S.  8  folgt,  im  J.  1626. 

4)  A.  Dove/  Die  Kinder  des  Winterkönigs.  Beilage  zur  AUg.  Zeitung  1891 
n.  82 — 84  u.  Ausgew&hlte  Schriften  vornehmlich  historischen  Inhalts.  Leipzig  1898 
S.  62  ff.    Schotel  Kap.  13  und  14.    Auch  Memoiren  der  Sophie  S.  38  ff. 

NRI:R  lIRf DKLB.  JAHRHITRCHRR  XI.  8 


114  J.  Wille 

gestreckten  Händen,  ihren  weichen  Zügen  und  den  schwärmerischen 
sinnigen  Augen,  die  sie  vom  Vater  ererbt  und  der  Hoheit  ihrer  Erschei- 
nung als  Erbteil  der  stolzen  Mutter:  die  Prinzen  Karl  Ludwig  und 
Ruprecht.  Und  wie  die  Söhne,  so  machten  die  Töchter  von  sich  reden. 
„Dev  Hof  der  Königin,  so  berichtet  Sorbiäre,  schien  den  Grazien  zu  ge- 
hören, zu  denen  sich  die  schöne  Welt  im  Haag  alle  Tage  begab,  um 
dem  Geist,  der  Tugend  und  der  Schönheit  der  Prinzessinnen  ihre  Hul- 
digungen darzubringen/  ^)  Da  war  Louise,  die  Holländerin,  die  künst^ 
lerisch  hochbegabte  Schülerin  Honthorsts,  von  lebhaftem  Geiste,  stets 
ausgelassen  und  sans  fa^on,  lässig  in  der  Kleidung  bis  in  ihr  hohes 
Alter,  da  sie  als  Äbtissin  von  Maubuisson  hoch  aufgeschürzt  im  Kloster- 
garten sich  zu  schaffen  macht.  Daneben  ein  Mädchengesicht  von  feinen 
klassischen  Zügen,  voller  Entzücken,  Prinzessin  Sophie  mit  dem  kleinen 
Munde,  der  so  scharf  und  geistreich  reden  konnte,  damals  schon  als 
die  vollendetste  Lady  Europas  weithin  in  hohen  Kreisen  so  berühmt,  wie 
späterhin  als  Freundin  von  Leibniz,  sie  die  Stammmutter  der  englischen 
und  preussischen  Könige!  Wie  ganz  anders  wieder  die  ernste  gelehrte 
Elisabeth. 

Neidlos  hat  Sophie,  die  jüngste,  das  Bild  dieser  ältesten  Schwester 
als  Schönheit  uns  überliefert.')  Es  ist  aus  jungen  Jahren  dies  Bild 
mit  dem  feinen  lebhaften  Teint,  der  allen  Geschwistern  eigen  war,  den 
braunen  glänzenden  Augen,  dem  dunkelschwarzen  Haar,  das  ihre  wohl- 
gebaute  hohe  Stirne  umsäumte.  Das  Ebenmass  ihres  geistvollen  Kopfes 
erhöht  der  kleine  Mund,  kaum  beeinträchtigt  durch  die  bescheiden  hervor- 
ragende stark  gebogene  Nase :  „Un  sujet  k  rougir^ !  sagt  einmal  scher- 
zend Sophie.  Und  das  machte  auch  der  Prinzessin  Kummer,  wenn  zeit- 
weise ein  rosiger  Schimmer  diese  hervortretende  Partie  ihres  Mädchen- 
gesichtchens  allzustark  in  lebhafte  Farben  versetzte.  Sonst  war  von 
Eitelkeit  nichts  an  ihr.  Sie  war  eine  ernste  Natur,  deren  Gedanken- 
welt abseits  von  dem  Getriebe  des  kleinen  Hofes  lag,  den,  ihres  könig- 
lichen Stammes  niemals  vergessend,  die  Mutter  regierte.  Wenn  einmal 
Sophie  von  Hannover  uns  erzählt,  dass  die  Königin  sich  um  ihre  Hunde 
und  Papageien  mehr  gekümmert  habe,  als  um  ihre  Kinder,  so  scheint 
es,  dass  Prinzessin  Elisabeth  am  wenigsten  Anteil  an  der  seltenen  Gunst 
der  Mutter  gehabt  hat  und  beide  Naturen  sich  wenig  verstanden.  Es 
hätte  dem  ernsten,  geistvollen  und  schönen  Mädchen  nicht  gefehlt,  der- 
einst einen  Fürsten  thron  zu  zieren.    Aber  treu  den  Traditionen  ihres 


1)  Sorbiere  bei  [Baillet]  La  vie  de  Mons.  Descartes.    Paris  1691  II,  232  ff. 

2)  Memoiren  S.  38. 


Pfalzgrä^n  Elisal)eth  115 

Hauses  hat  sie,  die  flfichtige  und  heimatlose,  das  Glück  der  Ehe  an  der 
Seite  des  freidenkenden  polnischen  Königs  Ladislaus  IV.  um  den  Preis 
eines  Glaubeoswechsels  nicht  erkaufen  wollen,  *)  was  doch  die  anderen 
thaten,  die  es  leichter  nahmen  mit  dem  unsichtbaren  Gute  religiöser 
Überzeugung:  ihr  Bruder  Eduard  und  ihre  Schwester  Luise,  beide  die 
ersten  Konvertiten  der  calvinischen  Pfälzer.  Nicht  anders  dachte  auch 
Kurfürst  Karl  Ludwig,  der  nicht  ohne  das  heuchlerische  Trugspiel 
eines  diplomatischen  Handels  seine  Tochter  Liselotte,  die  kerndeutsche 
PAIzerin,  einer  ihr  so  fremden  Welt  zugeführt  hat. 

Prinzessin  Elisabeth  war  hochbegabt,  von  lebhaftem  Geiste.  Schon 
in  den  Mädchenjahren,  da  andere  mühsam  die  Elemente  der  Gram- 
matik oft  mit  Widerwillen  in  sich  aufnehmen,  war  sie  mit  mehreren 
Sprachen  vertraut.  *)  Abgekehrt  von  der  Welt  suchte  ihr  jugendlicher 
Geist  nach  den  grossen  Problemen  der  Erkenntnis.  Dabei  war  sie  auch 
in  den  schönen  Wissenschaften  wohl  zu  Hause,  ohne  die  Einseitigkeit 
gelehrten  Wissens,  von  feinster  Bildung,  wie  sie  das  höfische  Leben 
lehrte  und  verlangte,  mehr  französisch  als  deutsch.')  Denn  auch  des 
Vaters  Bildung  entstammte  fremdländischem  Boden.  Und  doch  empfing 
von  Gelehrsamkeit  und  Wissenschaft  ihr  Leben  seinen  besten  Teil. 

An  leuchtenden  Vorbildern  ihres  Geschlechtes  fehlte  es  ihr  nicht. 
Sie  schloss  Freundschaft  mit  einem  andern  Wunderkinde  jener  Tage, 
Anna  Maria  van  Schurmann.^)  Man  hat  sie  den  Stern  von  Utrecht,  die 
holländische  Minerva  genannt.  Was  selbst  grosse  Gelehrte  niemals  er- 
fasst  haben,  das  lernte  sie  als  Kind.  In  jungen  Jahren  war  sie  schon 
mit  den  klassischen  Sprachen  vertraut,  sie  las  Homer,  Virgil  und 
Seneca,  sie  sprach  Latein  so  geläufig  wie  französisch,  flämisch  war  ihre 
Muttersprache,  deutsch  aber  verstand  sie  so  gut  wie  spanisch,  italienisch 
so  gut  wie  englisch.  Neben  philosophischen  Studien  und  der  Arbeit 
ihres  regen  Geistes  in  theologischen  Problemen  besass  sie  auch  in 
Mathematik  und  Naturwissenschaften  staunenswerte  Kenntnisse.  Um 
die  göttliche  Offenbarung  im  Urtext  der  h.  Schrift  kennen  zu  lernen, 
studierte  sie  mit  Eifer  die  semitischen  Sprachen,  vor  allem  Hebräisch, 
aber  auch  das  Syrische,  Ghaldäische,  Äthiopische  und  Arabische  waren 


1)  Ausfahrlich  bei  Guhrauer  I  S.  17  ff. 

2)  [Baillet]  Vie  de  Mons.  Descartes  II,  231. 

3)  «une  ^ucation  aussi  poll*"  Baillet  H,  232.  —  Biaze  de  Bury  115. 

4)  6.  D.  J.  Schotel,  Anoa  Maria  van  Schurman.  Hertogenbosch  1853.  — 
P.  Tschakert,  Anna  Maria  von  SchOrmann,  der  Stern  von  Utrecbt,  die  Jflngerin 
Ijabadics.    Gotha  1876. 

8* 


116  J.  Wille 

ihr  keine  fremden  Laute.  Dabei  war  sie  eine  gottbegnadete  Efinstlerin. 
Ihre  Porträts  erregten  die  Bewunderung  der  Zeitgenossen,  in  Bildhauer- 
kunst,  Holzschnitt  und  Kupferstich  hat  sie  sich  versucht,  musikalisch 
war  sie  hoch  begabt  und  in  weiblicher  Handarbeit  schuf  sie  Stickereien 
von  kfinstlerischer  Vollendung.  Eine  solche  Vertreterin  des  weiblichen 
Geschlechts  war  wohl  dazu  berufen,  eine  lateinische  Abhandlung  zur 
Verteidigung  der  Frauenbildung  zu  schreiben. 

So  fanden  sich  zwei  gelehrte  Damen  in  Freundschaift  zusammen. 
Aus  dem  Briefwechsel  der  Prinzessin  mit  der  Schurmann  sind  uns 
leider  nur  zwei  Briefe  erhalten  aus  den  Jahren  1639  und  1647.  In 
dieser  Zwischenzeit  ist  aber  ein  Umschwung  in  dem  geistigen  Leben 
der  Beiden  vor  sich  gegangen.  Beide  haben  in  der  Oelehrsamkeit  der 
Bücher  ihr  Suchen  nach  Erkenntnis  nicht  befriedigen,  die  Buhe  ihrer 
Seele  nicht  finden  können  —  aber  sie  glaubten  in  diese  unsichtbare 
Welt  auf  verschiedenen  Wegen  zu  gelangen.  Anna  Maria  van  Schur* 
mann,  eine  tiefe,  bis  zur  Schwärmerei  angelegte  Natur,  suchte  die  Er- 
klärung der  Welt  in  der  göttlichen  Offenbarung  der  h.  Schrift,  sie 
lernte  Gisbert  Voetius  kennen,  sie  war  ihm  nach  Utrecht  gefolgt,  diesem 
Vertreter  der  strengsten  Inspirationslehre,  der  keinen  Eingriff  kritisch- 
sprachlicher  Versuche  in  die  h.  Schrift  duldete,  dem  jedes  Trennungs- 
zeichen vom  h.  Geiste  eingegeben  erschien.  Im  akademischen  Hörsaal 
sass  sie,  die  glaubensseelige  Jungfrau  zu  den  Füssen  des  Theologen,  jedoch, 
—  was  heutzutage  nicht  mehr  nötig  ist,  —  durch  einen  Vorhang  ver- 
deckt.    Den  Disputationen  wohnte  sie  bei. 

Auch  Elisabeth  suchte  Gott,  doch  nicht  in  der  Erleuchtung  durch 
den  h.  Geist,  sondern  auf  dem  Wege  des  Denkens,  den  Descartes  ihr 
gewiesen.  Mit  den  Traditionen  der  Philosophie  und  Theologie  hatte 
dieser  Denker  gebrochen,  er  begann  sein  System  ganz  von  neuem  aufzu- 
bauen. Vom  Zweifel  an  allem  ausgehend,  kennt  er  nur  die  eine  Wahr- 
heit, das  eigene  Denken,  das  einzige  Prinzip  der  Gewissheit,  die  aus 
dem  Wesen  Gottes  fliesst,  als  der  unendlichen  in  sich  selbst  begrün- 
deten Substanz.  Aus  der  wahren  Gottesidee,  mit  Ausschluss  aller 
Wunder,  erklärte  er  die  Welt.  Nur  durch  logisches  Denken,  durch 
Anwendung  mathematischer  Methoden  auf  den  menschlichen  Geist  suchte 
er  diese  Welt  zu  begreifen.  So  stehen  sich  in  diesen  beiden  Frauen 
Inspiration  und  Denken,  Scholastik  und  Rationalismus,  Mystizismus  und 
Kartesianismus  einander  gegenüber. 

Im  Jahre  1637  waren  die  ersten  Schriften  des  Descartes,  die  Essais 
philosophiques,  erschienen,  unter  ihnen  die  Methode  des  Denkens.    Des- 


Pfalzgräfin  Elisabeth  117 

cartes  bekennt,  dass  er  unbefriedigt  sei  von  allen  Wissenschaften,  die 
Mathematik  ausgenommen ;  sie  allein  gibt  ihm  die  Methode,  über  den 
Zweifel  zur  Oewissheit  zu  gelangen.  Diese  Schrift  hat  die  neunzehn- 
jährige Prinzessin  gelesen  und  verstanden.  Eine  andere  neue  geistige  Welt 
thut  sich  ihr  auf.  Sie  bekennt,  aus  diesen  Schriften  in  einer  Stunde 
mehr  zu  lernen,  um  ihren  Verstand  zu  bilden,  als  wenn  sie  ihr  ganzes 
Leben  auf  die  Lektüre  anderer  Bücher  verwenden  würde.  Im  Jahre  1640 
hat  sie  den  Philosophen  selbst  kennen  gelernt,  der  im  Jahre  1629 — 49 
nach  manchen  Wanderungen,  als  erfahrener  Weltmann  d{e  Niederlande 
aufgesucht.  Um  ungestört  zu  sein  vor  der  Neugierde  der  Menschen,  um 
Ruhe  zum  Denken  zu  finden,  hat  er  mehrfach  seinen  Wohnsitz  gewech- 
selt. Doch  blieb  er  Weltmann  und  Kavalier,  kein  Einsiedler  in  seiner 
«Einsiedelei*^.  Unter  dem  freisinnigen  Begimente  des  Prinzen  von  Ora- 
nien,  Johann  Heinrich,  in  einem  Lande,  das  wie  kein  anderes  im  da- 
maligen Europa  einem  jeden  Fremdling  Freiheit  der  Qedanken  gewährte, 
fand  er  Schutz  vor  den  Angriffen  streitsüchtiger  Theologen,  die  ihn  als 
Atheisten  verlästerten,  worunter  der  streitbarste,  Qisbert  Voetius.  Auch 
Anna  Maria  van  Schurmann  hat  den  Denker  gemieden. 

Am  Hofe  der  Königin  aber  fand  er  eine  Stätte,  da  man  ihn  ver- 
stand. Hier  sammelt  sich  um  ihn  ein  kleiner  Kreis  begeisterter  An- 
hänger, unter  ihnen  der  treueste  Diener  des  oranischen  Hauses,  Kon- 
stantin Huygens,  des  Statthalters  Sekretär,  von  vielseitiger  feinster  Bil- 
dung, ein  Humanist  vom  besten  Schlage  der  alten  Italiener.  Wahr- 
scheinlich schon  von  Leiden  aus  hat  Descartes  die  Pfalzgräfin  Elisabeth 
unterrichtet.  Sie  gewann  ihn  zum  Lehrer  und  Freunde  fürs  Leben.  Es 
bildet  sich  ein  geistig  reger  Verkehr  zwischen  der  Prinzessin  und  Des- 
cartes,^) der  in  dem  bei  Leiden  gelegenen  Schlosse  Endegeest  Wohnung 
genommen  hat.  Eine  merkwürdige  Fügung,  dass  sie  einem  Manne  näher 
tritt,  der  in  jungen  Jahren  in  der  Schlacht  am  weissen  Berge  gegen 
ihren  Vater  gefochten  hat. 

Wohl  niemals  hat  man  in  der  Geschichte  des  geistigen  Lebens 
solch  ein  von  den  höchsten  Interessen  erfülltes  Freundschaftsverhältnis 
gesehen,  wie  hier  zwischen  dem  Philosophen,  dessen  Lehren  eine  ganze 
geistige  Welt  erschüttern,  und  der  zweiundzwanzigjährigen  Prinzessin, 


I)  [Baillet]  Yie  de  Moos.  Descartes.  —  Kuno  Fischer,  Geschichte  der  neueren 
Philosophie  I.  1  (Descartes).  4.  Auflage.  Heidelberg  1897  S.  191  ff.  —  Quhrauer  I 
S.  47  ff.  —  A.  Foncher  de  Careil,  Descartes,  la  princesse  Elisabeth  et  la  reine 
Qiristioe  d'apr^  des  letties  in^dites.  Paris  1879.  —  Max  Heioze,  Pfabsgräfin  Eli- 
sabeth und  Descartes.    (Histor.  Taschenbuch  VI.  Folge  Jahrg.  5  S.  257  ff.) 


118  J.Wille 

die  vom  tiefsten  Drange  nach  Erkenntnis  erfallt,  die  Weisheit  des  Leh- 
rers in  sich  aufnimmt.  In  unermüdlichem  Fleisse,  die  Nächte  hindurch 
arbeitend,  dringt  sie  in  alle  Wissenschaften  ein,  die  ihr  ein  Verständ- 
nis der  Lehre  des  Descartes  ermöglichen.  In  anregendem  Verkehr  mit  der 
Schülerin  ist  sein  Hauptwerk,  die  Prinzipien  der  Philosophie,  in  den 
Jahren  1641 — 1643  vorbereitet  worden,  jene  Philosophie,  die  uns  die 
Erklärung  der  Welt  auf  mechanische  Gesetze  zurückzuführen  sucht. 
Darum  hat  sich  das  lernbegierige  Mädchen  bei  Zeiten  in  das  Studium 
der  Mathematik  und  Physik  vertieft.  Harveys  Entdeckung  über  den 
Kreislauf  des  Blutes  lässt  sie  der  Anatomie  und  Physiologie  nähertreten. 
Man  sagt,  sie  habe  am  Seziertisch  stehend  die  neuen  Errungenschaften 
biologischer  Forschung  geprüft. 

So  kam  es,  dass  Pfalzgräfin  Elisabeth  im  eigenen  Kreise  und  bei 
Fremden  als  ein  Wunderkind  angestaunt  ward.  Bei  ihren  Geschwistern 
hat  sie  zeitlebens  nur  den  Namen  «die  Griechin^  geführt.  ^)  Und  diesen 
Namen  einer  Weisen,  den  ihre  Schwester  Sophie  so  gerne  im  Scherze 
ihr  gab,  durfte  sie  im  Ernste  mit  Ehren  tragen.  Dass  man  sich  über 
ihre  Zerstreutheit  lustig  machte,  that  der  Ehrfurcht  vor  ihrem  Wissen 
keinen  Abtrag.  «Man  erzählt  Wunderdinge,  —  so  berichtet  uns  Sorbi^re^) 
nach  einem  Besuche  im  Haag,  —  von  dieser  seltenen  Person,  dass  sie  mit 
der  Kenntnis  der  Sprachen  die  Wissenschaften  verbinde,  dass  sie  sich 
nicht  mit  den  Possen  der  Schulphilosophie  abgebe,  sondern  die  Dinge 
klar  erkennen  wolle,  dass  sie  einen  scharfen  Geist  und  ein  gründliches 
Urteil  habe.  Ihres  Alters  schien  sie  zwanzig  Jahre  zu  sein,  ihre  Schön- 
heit und  ihre  Gestalt  waren  in  der  That  die  einer  Heroine!^  Gelehrte 
und  Dichter  der  Zeit,  darunter  Namen  von  gutem  Klang,  stritten  sich 
um  die  Ehre,  der  gelehrten  Prinzessin  Prosa  und  Dichtung  zu  wid- 
men. ') 

Die  hochbegabte  Pfalzgräfin  aber,  die  wie  Descartes  bekannte,  seine 
Lehre  von  der  Begründung  des  Seins  auf  dem  Denken,  die  Schwierig- 
keiten seiner  analytischen  Methode,  wie  wenige  klar  begriff,  trug  den 
Adel  wahrer  Bildung  in  ihrer  tiefen  Bescheidenheit.  Keine  Spur  von 
Überspanntheit,  auch  kein  Gelehrtendünkel,  die  schlimmste  Frucht  der 
Selbsttäuschung,   haftet  diesem  erkenntnissnchenden  Leben  an.    Diese 

1)  ^La  Grece'',  auch  «La  Signora  antica**,  Sophie  an  Karl  Ludwig  2.  Juni 
1 666.  Briefwechsel  der  Herzogin  Sophie  von  Hannover  mit  ihrem  Bnider  dem  Kur- 
fürsten Karl  Ludwig  von  der  Pfalz  (Publikationen  aus  den  k.  preussischen  Staats- 
archiven 26)  S.  104. 

2)  Sorberiana,  ou  Bons  mots  etc.  Paris  1694  S.  85—86.    Guhrauer  I  S.  60. 

3)  Schotel,  De  Winterkoning  S.  137. 


Pfalzgräfin  Ellsabet}i  119 

Bescheidenheit  blieb  unberührt  selbst  von  der  grössten  Huldigung,  als 
Descaftes  ihr,  der  Fünfundzwanzigjährigen,  seine  ina  Jahre  1644  er- 
schienenen Prinzipien  der  Philosophie  gewidmet  hat.  Als  Zeuge  ihrer 
hohen  und  seltenen  Eigenschaften  will  er  der  Nachwelt  einen  Dienst 
erweisen,  wenn  er  dieses  Vorbild  ihr  zeigt,  in  dem  sich  ein  fester  Wille 
mit  Klarheit  des  Verstandes  und  ernster  Arbeit  der  Bildung  vereinigt, 
nich  habe  niemand  gefunden,  schreibt  Descartes^)  unter  anderem  in 
'  dieser  Widmung,  der  meine  Schriften  so  umfassend  und  so  gut  ver- 
standen ;  selbst  unter  den  besten  und  gelehrtesten  Köpfen  gibt  es  viele, 
die  sie  sehr  dunkel  finden ;  ich  habe  fast  durchgängig  bemerken  müssen, 
dass  die  einen  die  mathematischen  Wahrheiten  leicht  fassen,  aber  den 
metaphysischen  verschlossen  sind,  während  es  sich  bei  anderen  gerade 
umgekehrt  verhält.  Der  einzige  Geist,  so  weit  meine  Erfahrung  reicht, 
dem  beides  gleich  leicht  wird,  ist  der  Ihrige.  Darum  muss  ich  diesen 
Geist  unvergleichlich  hoch  schätzen.  Aber  was  meine  Bewunderung 
steigert:  Es  ist  nicht  ein  bejahrter  Mann,  der  viele  Jahre  auf  seine 
Belehrung  verwendet  bat,  bei  dem  sich  eine  solche  umfassende  wissen- 
schaftliche Bildung  findet,  sondern  eine  noch  jugendliche  Fürstin,  die 
in  ihrer  Anmut  eher  den  Grazien,  wie  die  Poeten  sie  beschreiben,  als 
den  Musen  oder  der  weisen  Minerva  gleicht.*  Wie  bescheiden  in  ihrer 
Selbsterkenntnis  dankt  die  Prinzessin:  , Freilich,  schreibt  sie,  werden 
die  Pedanten  wohl  meinen,  dass  sie  gezwungen  sind,  für  mich  eine  neue 
Moral  aufzustellen,  damit  ich  mich  des  Lobes  wert  machen  könne. 
Aber  ich  nehme  dasselbe  nur  als  eine  Kegel  meines  Lebens,  indem  ich 
wohl  weiss,  dass  ich  auf  der  untersten  Stufe  stehe  und  Sie  nur  mein 
Bestreben,  mich  zu  unterrichten  und  das  von  mir  erkannte  Gute  zu  er- 
langen, billigen.'' 

Bei  alledem  aber  war  Elisabeth  keine  blinde  Anhängerin  der 
Philosophen.  Sie  bewahrt  sich  die  Freiheit  ihres  Denkens,  äussert  ihre 
Zweifel  mit  einem  Scharfsinn,  der  die  Bewunderung  Descartes  erregt. 
Sie  ist  nicht  allein  eine  lernende,  sondern  auch  eine  durch  Widerspruch 
anregende  Schülerin.  Descartes  selbst  gefördert  zu  haben,  ist  nicht  ihr 
alleiniger  Verdienst,  denn  einige  Arbeiten  des  Descartes  wären  ohne  den 
Einfluss  der  Prinzessin  überhaupt  nicht  entstanden.  Seine  Schrift  übet  den 
Menschen  bat  er  umgearbeitet,  nur  um  sie  der  Schülerin  vorzulegen. 
Die  im  Jahre  1646  erschienene  Abhandlung  über  die  Leidenschaften 
der  Seele  ist  für  die  Prinzessin  geschrieben,  far  sie  ein  Führer  auf  dem 


1)  Wörtlich  nach  K.  Fischers  Übersetzung.    Descartes  S,  196  ff. 


120  J.  Wme 

Wege  zur  Glückseligkeit.  Die  Bchriften  von  Descartes  aber  würden,  von 
ihren  Beziehungen  zu  Elisabeth  durch  jene  ehrenvolle  Widmung*  abge- 
sehen, zur  Erkenntnis  des  Innern  Lebens  der  Pfalzgräfin  nur  wenig  bei- 
tragen, wenn  uns  nicht  das  geistige  Band  zwischen  Lehrer  und  Schülerin 
in  den  Briefen  ^)  erhalten  wäre.  Bis  vor  wenig  Jahren  musste  man  sich 
darauf  beschränken,  nur  aus  den  Briefen  des  Descartes,  die  nur  Antworten 
sind  auf  die  an  ihn  gerichteten  Fragen,  sein  Verhältnis  zu  Elisabeth 
kennen  zu  lernen.  Seit  aber  durch  den  französischen  Akademiker 
Foucher  de  Careil')  auch  eine  Reihe  von  Briefen  der  Pfalzgräfin  be- 
kannt geworden  sind,  gewinnt  dieses  Bild  an  Tiefe  der  Farben.  Freilich 
diese  Briefe  sind  nicht  leicht  verständlich.  Die  geistige  Arbeit  der 
Prinzessin  ringt  mit  der  Sprache  und  der  Form,  sie  kann  die  meta- 
physischen Fragen  nicht  so  leichtplaudernd  abmachen,  wie  ihre  in  geist- 
vollem Spötteln  gewandte  Schwester  Sophie.  Aber  ein  reger  ruheloser 
Geist  spricht  aus  ihnen,  lebendig  in  immer  neuen  Zweifeln,  neuen 
Fragen  und  Widersprüchen.  Sie  sind  Zeugnisse  eines  grübelnden 
Geistes,  der  sich  mit  den  höchsten  Problemen  menschlicher  Erkenntnis 
beschäftigt,  Bekenntnisse  eines  tiefen  Seelenlebens,  das  vom  Schicksal 
gequält  sich  abmüht,  nach  den  Stürmen  des  Lebens  die  Wege  zu  fin- 
den, die  zur  Buhe  des  Gemüts  fahren.  Nicht  allein  Metaphysisches, 
auch  die  grossen  Fragen  der  Ethik  werden  dem  Philosophen  vorgelegt. 
Und  so  verdanken  wir  es  der  Prinzessin  Elisabeth,  dass  durch  sie  ver- 
anlasst und  gedrängt  Descartes  sich  über  Fragen  ausspricht,  die  sonst  in 
seinen  grossen  Systemen  keinen  Platz  gefunden  ha1)en.')  Dem  Welt- 
manne, der  nach  freiwilligen  Wanderungen  nun  den  sichern,  von  Stür- 
men freien  Hafen  gefunden  hat,  der  in  abgeklärter  Ruhe  des  Denkens 
allen  Unebenheiten  des  Lebens  vorsichtig  aus  dem  Wege  geht,  steht  die 
Tochter  eines  fürstlichen  Hauses  gegenüber,  das  vom  Schicksal  ver- 
folgt, nur  die  harten  Seiten  des  Lebens  kennen  gelernt  hat.  Diese 
Schicksalsschläge  lasten  auf  ihrem  Gemüt. 

Was  hat  sie  nicht  alles  erleben  müssen!  „Ich  muss  Ihnen  be- 
kennen, schreibt  sie  an  Descartes,  dass  ich  mich  unglücklich  fühle,  so 
lange  ich  mein  Haus  nicht  wieder  eingesetzt  sehe  in  seine  Rechte  und 
meine  Familie  noch  im  Elend  weiss.  ^    Diese  Hoffnung  sah  sie  nach 

1)  Oeuvres  de  Descartes  par  Victor  Cousia.    Tome  VII— X. 

2)  Foucher  de  Caref],  Descartes,  la  princesse  l^lisabeth  et  la  reine  Christine. 
Paris  1879.  —  Schon  1862  erschien  vom  gleichen  Verfasser:  Descartes  et  la  prin* 
cesse  Palatine,  ou  de  Tinfluence  du  cart^ianisme  sur  las  femmes  au  XVII«  siecle. 
Paris  1882. 

3)  M.  Heinze,  Die  Sittenlehre  des  Descartes.    Leipzig  1872. 


Pfalzgnlfiii  Klisal)ßth  121 

dem  Tode  des  Schwedenkönigs  vernichtet,  sie  sah  den  Väter  als  Flächt- 
ling  dem  Schicksal  erliegen.  Der  hoffnungsvollste  ihrer  Bruder,  ein 
Wunderkind  in  allen  seinen  Anlagen,  war  im  Zuidersee  ertrunken.  Mo- 
ritz, der  nach  dem  Zusammenbruch  des  stuartischen  Königtums  seinem 
heldenmütigen  Bruder  auf  die  See  gefolgt,  verschwindet  in  den  west- 
indischen Gewässern!  Der  Uebertritt  ihres  Bruders  Eduard  zur  römi- 
schen Kirche,  der  mit  der  Hand  der  ehrgeizigen  klugen  Anna  Oonzaga 
auch  seinen  Glauben  ohne  die  Wandlung  innerer  Überzeugung  vertauscht 
hat  (1648),  geht  der  Schwester  tief  zu  Herzen.  Seine  Seele  ist  nach 
dem  Glauben  der  Calvinistin  für  immer  verloren ! ')  Es  ist  ein  Zeichen 
vertrauensvoller  Freundschaft,  dass  sie  in  dieser  so  subtilen,  ihre  Stim- 
mung beherrschenden  Frage,  den  seinem  Glauben  treu  gebliebenen  Sohn 
der  römischen  Kirche  zum  Berater  nimmt.  „Wenn  ich  nicht  wüsste, 
schreibt  sie,  dass  Sie  mehr  mitleidig  als  strenggläubig  sind,  müsste 
meine  Klage  eine  ungebührliche  sein.*^  Im  Haag  selbst  findet  die  Prin- 
zessin keine  Heimat,  der  eigenen  stolzen  Mutter  bleibt  sie  die  ernste 
Denkerin,  unverständlich  und  fremd.  Ein  tragisches  Ereignis  entfrem- 
det beide  noch  mehr: 

Es  ist  eine  heute  noch  dunkle  Geschichte.  *)  Ein  französischer 
Edelmann,  Marquis  d'Epinay,  von  zweifelhaftem  Rufe  und  etwas  un- 
klarer Vergangenheit,  doch  in  seinem  Auftreten  nicht  ohne  den  Beiz 
einer  Persönlichkeit,  die  Frauenherzen  leicht  gewinnt,  soll  in  der  be- 
sonderen Gunst  der  Königin  Elisabeth  gestanden  haben.  Man  hat  beiden 
ein  zartes  Verhältnis  nachgesagt.  Dieses  Verhältnis  muss  derart  ge- 
wesen sein,  dass  die  Familie  sich  genötigt  sah,  Stellung  dazu  zu  nehmen. 
Der  Marquis  ward  am  Hofe  verhasst.  Der  ihn  am  meisten  hasste  war 
Pfalzgraf  Philipp.  Nach  einem  vorhergegangenen  Wortwechsel  hat  er 
des  Nachts  auf  offener  Strasse  den  Edelmann  überfallen  und  erstochen. 
Vom  Mutterfiuche  verfolgt,  flieht  der  Prinz  vom  Hofe,  tritt  in  spanische 
Dienste  und  endet  in  den  Kämpfen  bei  Bethel  (1650)  sein  junges 
Leben.  Auch  Elisabeth  hat  bald  nach  diesen  Ereignissen  den  Hof  ver- 
lassen (1646)  und  bei  ihren  Verwandten  in  Berlin  Aufnahme  gefunden. 
Es  ist  möglich,  dass  dieser  Urlaub  ein  unfreiwilliger  war  und  auf 
Zwistigkeiten  innerhalb  der  Familie  beruht,  die  von  jenem  Verhältnis 
nicht  unberührt  waren.  Zu  den  vielen  Täuschungen  aber,  die  Pfalzgräfin 
Elisabeth  erfahren,  kam  noch  die  eine,  da^s  ihr  Freund  und  Berater, 

1)  „que  j'en  saurois  avoir  abandonnee  au  mepris  du  monde  et  k  la  perte  de 
son  ame  (selon  ma  CToyance)".    Foucher  de  Gareil  S.  20. 

2)  Aasfilhrlich  Guhrauer  I  S.  85. 


122  i  J.Wille 

der  inzwischen  zu  der  geistvollen  und  gelehrten  jugendlichen  Königin 
Christine  von  Schweden  in  Beziehung  getreten  war,  dieses  Verhältnis 
nicht  zu  Gunsten  der  pfälzischen  Familie,  und  nicht  ohne  Demütigung 
der  Prinzessin  hat  ausnützen  können  (1649).^)  Denn  Versuche,  durch 
Übersendung  seines  mit  der  Prinzessin  geführten  Briefwechsels  ein  per- 
sönliches Verhältnis  der  beiden  durch  ihre  wissenschaftlichen  Neigungen 
verwandten  Fürstinnen  zu  erreichen,  konnte  zu  keiner  Zeit  so  unge- 
schickt ausgedacht  werden,  als  gerade  jetzt,  da  in  der  schwedischen 
Politik  der  pfälzischen  Frage  gegenüber  eine  kühlere  Haltung  sich  gel- 
tend machte.  Vorsichtig  ist  der  einflussreiche  Diplomat  am  Hofe 
Ghristinens  —  der  französische  Resident  Peter  Chanut  —  allen  An- 
deutungen des  Philosophen  aus  dem  Wege  gegangen.  Mehr  aber  als 
die  politische  Lage  musste  bei  aller  geistigen  Verwandtschaft  der  beiden 
Frauen  die  Grundverschiedenheit  ihres  Wesens  ein  derartiges  freund- 
schaftliches Verhältnis  vereiteln.  Christine^)  war  Königin  in  vollem  Be- 
sitze einer  damals  in  den  Geschicken  Europas  gebietenden  Macht,  mit 
in  den  Händen  ihrer  Diplomaten  ruhte  zu  Münster  und  Osnabrück  auch 
das  Schicksal  des  pfälzischen  Hauses.  Die  junge,  geistvolle,  gelehrte 
und  wissensdurstige,  aber  überspannte  Fürstin  versammelt  die  Gelehrten 
an  ihrem  glänzenden  Hof,  sie  lässt  sich  belehren  und  auch  huldigen, 
neben  ihrem  mannhaften  Sinn  regieren  auch  ihre  Launen.  Elisabeth 
kam  zu  ihr  als  Flüchtige,  als  eine  Bittende,  als  die  Tochter  eines  ept- 
thronten  Fürstenhauses.  Sie  hatte  keine  Gunst  zu  verteilen,  die  Hul- 
digungen, die  sie  von  den  Gelehrten  entgegennahm,  konnte  sie  mit 
äusseren  Ehren  nicht  erwidern.  Die  Prinzessin  müht  sich  ab,  in  ihren 
Gedanken  und  mit  ihrem  Willen  die  Buhe  der  Seele,  in  ^er  Lösung 
grosser  ethischer  Probleme  ihre  Befriedigung  zu  finden,  sie  ist  bei  allem 
Rationalismus  tief  religiös  gestimmt,  ihr  Wissen  ist  Moral.  In  der  Un- 
ruhe der  Gegensätze  sieht  die  junge  schwedische  Königin  des  Lebens 
Beiz,  der  Katholizismus  mit  seinem  den  Traditionen  ihres  eigenen  Hauses 
so  fremdartigen  Wesen  zieht  sie,  die  Tochter  Gustav  Adolfs,  an,  und 
doch  hat  es  niemals  eine  Konvertitin  gegeben,  die  so  wenig  der  römi- 
schen Kirche  in  allen  ihren  Forderungen  und  Erwartungen  Freude 
machen  konnte,  wie  diese  aller  Askese  abgeneigte  leichtlebige  Fürstin. 
Der  Verkehr  mit  den  Gelehrten  ist  ihr  bei  allem  ernsten  Wissen  doch 
mehr  ein  geistreiches  amüsantes  Dilettieren.  Auf  dem  Wege  zur  Er- 
kenntnis, den  Pfalzgräfin  Elisabeth,  von  Descartes  geleitet,  gesucht  hat, 

1)  Foucher  de  Careil  S.  91  ff. 

2)  E.  Daniels,   Christine  von  Schweden.    (Preussische  Jahrbücher  96,  385  ff. 
97,  50  ff.)  —  Guhrauer  1,  98  ff. 


Pfulzgräfin  Klisabeth  123 

vollziehen  sich  SeeleDkämpfe  erschätternder  Art.  Dabei  dürften  Neid  und 
Eifersucht,  so  oft  den  Gelehrten  eigen,  auch  beim  Frauengeschlechte  — 
die  Zukunft  wird  es  uns  einmal  lehren  —  nicht  fremde  Erscheinungen 
sein.  Wir  wissen  aus  einer  guten  Quelle,  dass  auch  in  späteren  Jahren 
ein  der  gelehrten  Pfäherin  gespendetes  Lob,  Christine  nicht  angenehm 
berührt  bat. 

Der  Eifersüchtigen  steht  die  Gekränkte  gegenüber.  Mit  vornehmer 
Kuhle  bat  Königin  Christine  in  den  Briefen  an  Descartes  ihre  Neben- 
buhlerin ignoriert.  Ein  von  Elisabeth  an  die  Königin  gewagtes  Schreiben 
wird  mit  Stillschweigen  beantwortet.  In  dieser  Stimmung,  mitten  im 
bangen  Hoffen  auf  die  Entscheidungen  des  westfälischen  Friedenscon- 
gresses,  ereilt  sie  die  Nachricht  von  der  Hinrichtung  Karl  I.  (1649), 
der  letzte  tragische  Abscbluss  dieser  stuartischen  Familiengeschichte. 
Alle  diese  Ereignisse  wirken  immer  von  neuem  auf  das  Gemüt  der 
Prinzessin  ein.  Körperliche  Leiden  kommen  hinzu,  die  ihr  Seelenleben 
belasten.  Der  Dualismus  von  Seele  und  Leib,  den  Descartes  ihr  gelehrt 
hat,  er  muss  in  diesem  Leben  den  schärfstdn  Widerspruch  erfahren. 
Die  metaphysischen  Betrachtungen  können  hier  keinen  Platz  mehr 
finden. 

Durch  ihre  Briefe  mit  Descartes  geht  tiefe  Melancholie,  der  Grund- 
zug ihres  Denkens  ist  Pessimismus.  „  Ich  habe  Mühe,  schreibt  sie,  mich 
davon  zu  überzeugen,  dass  wir  mehr  Gutes,  wie  Übles  in  diesem  Leben 
haben,  da  mehr  dazu  gehört,  jenes  als  dieses  sich  zu  verschaffen,  da  der 
Mensch  mehr  Gelegenheit  hat  Unlust  zu  empfinden,  als  Lust,  da  es 
eine  unendliche  Zahl  von  Irrtümern  gibt  für  eine  Wahrheit,  so  viele 
Mittel  sich  zu  verirren,  als  eines,  den  richtigen  Weg  zu  finden. '^ 

Darum  bilden  die  Fragen  über  Gluck  und  Unglück  im  Menschen- 
leben einen  Hauptgegenstand  des  Briefwechsels,  wertvoll,  weil  sie  Des- 
cartes veranlasst  haben,  auch  über  ethische  Fragen  seine  Gedanken  mit- 
zuteilen. Vergeblich  hat  die  Prinzessin  in  ihren  Klagen  über  die  Wider- 
wärtigkeiten des  Lebens  und  die  von  ihnen  erzeugte  Unruhe  des  Geistes 
and  Körpers  bei  dem  Philosophen  eine  befriedigende  Antwort  gefunden. 
Das  Mittel,  das  Descartes  verrat,  die  Einbildungskraft  von  allen  unan- 
genehmen Ereignissen  abzuwenden  und  nur  den  Verstand  auf  solche 
Dinge  zu  richten,  die  zufrieden  machten,  haben  bei  der  Prinzessin  kei- 
nen Einfluss  gehabt  gegenüber  den  überwältigenden  Eindrücken  der  vielen 
schmerzlichen  Ereignisse  in  ihrem  eigenen  Leben.  Auf  Empfehlung  von 
Descartes  studiert  sie  Senecas  Schrift  über  „das  höchste  Gut',  ohne  von 
seinen  Sentenzen  jemals  befriedigt  zu  sein,  sie  sind  ihr  alles  andere. 


124  J.  Wille 

nur  kein  Weg  zur  Qlückseligkeit,  die  nach  Descartes  die  vollkommene 
Kühe  und  Zufriedenheit  der  Seele  ist.  Wenn  es  aber  Sache  des  Ver- 
standes ist,  diesen  Weg  zu  finden,  so  wünscht  die  Prinzessin  vergeb- 
lich die  Mittel  kennen  zu  lernen,  die  ihren  Verstand  so  kräftigen  sollen, 
um  bei  allem  Handeln  nur  das  Beste  zu  wählen.  Descartes  hat  ihr 
entgegen  zu  kommen  versucht,  zunächst  durch  die  Lehre  von  der  in- 
tellektuellen Liebe  zu  Qott  als  dem  alleinigen  Quell  der  Wahrheit  und 
der  Vollkommenheit.  Die  Erfüllung  des  göttlichen  Willens  sehen  wir 
auch  in  unsern  Missgeschicken  und  wir  gewinnen  aus  dieser  Erkenntnis 
Befriedigung.  Der  Prinzessin  aber  ist  das  Wissen  von  der  Existenz 
Gottes  wohl  ein  Trost  über  natürliche  Unglücksfälle,  doch  nicht  über 
solche,  die  vom  freien  Willen  der  andern  abhängen.  Das  Glück  des 
Lebens,  die  Ruhe  der  Seele  nicht  im  Irdischen  zu  suchen,  wie  Descartes 
ihr  schreibt,  ist  für  sie  nur  ein  Grund,  um  so  lieber  und  leichter  den 
Tod  zu  suchen,  der  uns  frei  macht  von  den  Leidenschaften.  Zur  Er- 
reichung der  Qlückseligkeit  gehört  nach  Descartes  das  richtige  Wissen 
von  dem  was  man  zu  thun  hat  oder  nicht,  und  der  Wille  das  Erkannte 
zu  thun.  Das  eine. nennt  er  Weisheit,  den  Willen  Tugend.  Doch  die 
Erklärung  des  Verhältnisses  des  freien  Willens  zum  Wissen,  über  das 
Elisabeth  Aufklärung  wünscht  und  einen  interessanten  Briefwechsel  mit 
Descartes  veranlasst,  wird  von  letzterem  nicht  immer  mit  Eonsequenz 
und  zur  Befriedigung  der  erkenntnisdurstigen  Prinzessin  durchgeführt. 
Descartes  lehrt  die  Freiheit  und  Unabhängigkeit  des  Willens,  zu  thun, 
was  uns  das  beste  erscheint.  Wenn  aber  der  Wille  dem  richtig  Er- 
kannten zu  folgen  hat,  also  doch  wieder  vom  Wissen  die  Richtung  er- 
hält, so  kann  er  nicht  frei  sein,  da  ja  das  Wissen  nicht  in  unserer 
Macht  steht,  sondern  ein  Ausfluss  der  göttlichen  Vollkommenheit  ist. 
Diesen  Widerspruch,  diese  Abhängigkeit  der  Glückseligkeit  von  unserem 
Willen  aber  hat  die  Prinzessin  aufs  entschiedenste  bestritten :  „ich  kanif 
mich  von  dem  Zweifel  nicht  losmachen,  schreibt  sie,  ob  man  zur  Glück- 
seligkeit gelangen  kann,  ohne  alles  das,  was  von  unserem  Willen  nicht 
abhängt,  da  es  Krankheiten  gibt,  die  uns  das  Vermögen  zu  denken 
und  damit  die  Möglichkeit  nehmen,  uns  einer  vernünftigen  Zufriedenheit 
zu  erfreuen,  andere  die  uns  die  Geisteskraft  schwächen  und  hindern, 
die  Grundsätze  zu  befolgen,  die  uns  die  gesunde  Vernunft  ausgedacht 
hat,  da  man  sich  von  den  Leidenschaften  hinreissen  lässt,  denen  die 
Reue  folgt,  nach  Descartes  eines  der  grössten  Hindernisse  der  Glück- 
seligkeit. 


Pfalzgräfin  Elisabeth  125 

Descartes  hat  wohl  die  Freiheit  des  Willens  aus  dem  unmittelbaren 
Geffihl  desselben  bewiesen,  giebt  aber  nicht  zu,  dass  diese  Unabhängig- 
keit der  Abhängigkeit  von  Qott  widerstreite.  Elisabeth  hat  ihre  „Stu- 
pidität^  gegenüber  dieser  wichtigen  Frage  vom  Verhältnis  der  Freiheit 
zum  göttlichen  Willen  zugeben  müssen,  aber  Gott  kann  nach  ihrer 
Meinung  nicht  die  unveränderliche  Ursache  von  Allem  sein,  was  nicht 
von  der  menschlichen  Willkür  abhängt  und  nicht*  auch  zugleich  von 
dem,  was  der  Mensch  thut.  Wenn  Gottes  Macht  eine  absolute  ist,  so 
kann  er  uns  nicht  den  freien  Willen  gegeben  haben.  Da  wir  aber  das 
Bewusstsein  der  Freiheit  haben,  so  widerstrebt  es  dem  gesunden  Menschen- 
verstand, uns  abhängig  anzunehmen.  Die  Unabhängigkeit  des  freien 
Willens  widerstreitet  der  Vorstellung,  die  wir  von  Gott  haben,  die  Ab- 
hängigkeit des  Menschen  aber  seiner  Freiheit.  ,Es  ist  mir  unmöglich, 
schreibt  sie,  zusammen  zu  reimen,  dass  der  menschliche  Wille  zur 
selben  Zeit  frei,  und  doch  die  göttliche  Macht  in  gleicher  Weise  un- 
endlich wie  begrenzt  sein  solle.*  Sie  hat  Descartes  in  Verlegenheit  ver- 
setzt. Seine  versuchte  Konstruktion  eines  absoluten  und  relativen  Wil- 
lens war  nicht  der  Weg,  den  Widerspruch  von  Freiheit  und  Notwendig- 
keit, den  Zweifeln  seiner  Schülerin  gegenüber,  zu  beseitigen. 

Auch  einen  Eardinalpunkt  der  Philosophie  Descartes  hat  die  Prin- 
zessin angegriffen,  das  Verhältnis  von  Seele  und  Leib,  Geist  und  Körper, 
der  beiden  Substanzen,  der  denkenden  und  der  körperlichen.  Beide  sind 
von  einander  verschieden,  haben  nichts  mit  einander  gemein.  Das 
Wesen  der  Materie  ist  die  Ausdehnung,  das  Wesen  des  Geistes  Denken. 
Diese  Attribute,  Sein  und  Wirken,  schliessen  sich  aus,  es  ist  ein  Gegen- 
satz von  psychischem  und  physischem  Leben.  Beide  können  sich  nicht 
gegenseitig  durchdringen,  sondern  nur  an  einem  Punkte  berühren.  Es 
war  Aufgabe  der  späteren  Philosophie,  diesen  schroffen  Dualismus  zu 
überwinden.  Doch  war  es  schon  Prinzessin  Elisabeth,  die  ihre  Be- 
denken einer  solchen  schroffen  Scheidung  von  Geist  und  Materie  ent- 
gegenhielt. Das  Verständnis  dieser  Fragen  hat  Descartes  der  sinn- 
lichen Vorstellung  seiner  Schülerin  überlassen  und  ihr  den  Bat  ge- 
geben, sich  nicht  allzusehr  mit  metaphysischen  Problemen  abzuquälen. 
Aber  der  Prinzessin  ist  es  zu  danken,  dass  Descartes  noch  einmal  diese 
Frage  berührte,  als  er  auf  Wunsch  der  Elisabeth  sein  Buch  über  die 
Leidenschaften  der  Seele  schrieb  (1647)  und  hier  den  schroffen  Dualis- 
mus mit  der  Erklärung  abschwächte,  dass  die  Leidenschaften,  die  Affekte 
aus  der  Einwirkung  des  Körpers  hervorgehen,  dass  es  Zustände  giebt, 
in  denen  unter  dem  Einflnss  des  Körpers  die  Seele  leidet,  dass  die 


-•: 


126  «J.  Wille 

Leidenschaften  Gemütsbewegungen  sind,  aus  zwei  Naturen  gemischt, 
der  körperlichen  und  der  geistigen.  Diese  Schrift,  sagt  Descartes,  sei 
nicht  für  viele  geschrieben,  „um  so  mehr,  als  ich  sie  nur  verfasst  habe, 
um  von  einer  Prinzessin  gelesen  zu  werden,  deren  Geist  dergestalt  über 
das  Gewöhnliche  erhaben  ist,  dass  sie  ohne  einige  Muhe  das  versteht, 
was  unsern  Doktoren  das  schwerste  zu  sein  scheint". 

Nur  kleine  Bruchstücke  aus  dem  Briefwechsel  der  Pfalzgräfin  mit 
dem  Philosophen  sind  hier  mitgeteilt.  Sie  genügen  zum  Beweise,  wie 
selbständig  sich  ihr  geistiges  Leben  in  diesem  anregenden  Verkehre  be- 
wegte. Descartes  ist  bekanntlich  (Ende  Dezember  1649)  einem  Rufe 
der  schwedischen  Königin  nach  Stockholm  gefolgt  und  bald  darnach 
am  11.  Februar  1650  gestorben. 

Um  diese  Zeit  ist  Prinzessin  Elisabeth  nach  einem  längern  Auf- 
enthalte in  Berlin  und  Crossen,  der  indessen  auch  im  Besuche  des 
Haag  eine  Abwechselung  gefunden  hat,  ihrem  Bruder  Karl  Ludwig 
nach  Heidelberg  gefolgt.  Der  westfälische  Friede  hatte  ihm  seine  Lande 
zurückgegeben.  Eine  neue,  auf  allen  Gebieten  des  staatlichen  und  kul- 
turellen Lebens  segensreiche  Zeit  begann  unter  diesem  Wiederhersteller 
der  Pfalz.  Auch  die  Universität  Heidelberg  erhebt  sich  noch  einmal 
zu  nie  dagewesenem  Glänze.  In  diesem  Kreise  findet  die  gelehrte  Pfalz- 
gräfin reiche  geistige  Anregung,  hier  findet  sie  einen  Anbänger  Des- 
cartes'scher  Philosophie,  den  grossen  Philologen  Johann  Freinsheim,  der 
von  der  hohen  Schule  zu  Upsala  und  dem  Hofe  der  schwedischen  Kö- 
nigin, aus  einer  glänzenden  gefeierten  Stellung  zu  uns  gekommen  war. 
Gerne  erinnert  er  sich  späterhin  noch  des  vertraulichen  Verkehrs  mit 
dem  pfälzischen  Hofe,  des  guten  Bacharacher,  den  ihm  der  Kurfürst 
frisch  aus  dem  Keller  gespendet  und  vor  allem  der  geistvollen  Unter- 
haltung mit  der  Prinzessin.^)  Seine  gesammelten  Beden,  einst  vor  den 
Gelehrten  von  Upsala  und  der  Königin  in  elegantem  Latein  gehalten, 
hat  er  der  Pfälzerin  gewidmet.  Dass  in  den  Heidelberger  Kreisen  auch 
die  Lehren  Descartes  die  Geister  bewegten,  lassen  dürftige  Mitteilungen 
uns  erkennen.')    Wie  gerne  wüssten  wir  mehr! 

Auch  ihre  gelehrten  sprachlichen  Studien  nimmt  die  Prinzessin 
wieder  auf.  Sie  schliesst  eine  warme  und  dauernde  Freundschaft  mit 
einem  Mann,  dessen  Ruhm  als  Exeget,  Orientalist  und  Archäologe  da- 


1)  Johannis  Freinshemii  Orationes   cum  qaibusdam  dedamatioaibas.    FrAnco- 
fiirti  1662.   S^. 

2)  G.  E.  Guhrauer,  Joachim  Jungius  und  sein  Zeitalter.    Stuttgart  und  Tft- 
;  :     hingen  1850  S.  317  und  Beil.  92. 


•  ••  -   • 

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Pfalzgräfin  Elisabeth  127 

mals  weithin  leuchtete,  mit  Johann  Heinrich  Hottinger^)  aus  Zürich. 
Neben  Freinsheim  glänzt  auch  sein  Name  unter  den  Ehrentafeln  dieses 
festlichen  Baumes.  Nur  vorübergehend  hat  ihn  seine  Vaterstadt,  die, 
alter  Beziehungen  zur  Pfalz  gedenkend,  bei  der  Taufe  des  Kurprinzen 
Karl  Gevatter  gestanden,')  nach  Heidelberg  ziehen  lassen.  nD^mit  die 
Academie  etlicher  massen  wieder  in  vorigen  stand  gebracht  werden 
möge*  hat  ihn  Karl  Ludwig  nur  für  ein  paar  Jahre  erbeten.^)  Von 
1655 — 1661  wirkte  er  hier  zu  Buhm  und  Ehren  der  hohen  Schule.  In 
tiefer  Ehrfurcht  vor  der  Wissenschaft,  in  Verehrung  für  diesen  grossen 
Gelehrten  hat  die  Prinzessin  seine  Werke  gesammelt.  Sie  ist  begierig, 
alle  die  Sprachen  kennen  zu  lernen,  die  in  Hottingers  „Orientalischer 
Bibliothek*'  vertreten  sind.  Seine  Abhandlung  über  die  hebräischen 
Grabdenkmäler,  seine  orientalische  Numismatik  liest  sie  mit  regem  Inter- 
esse, über  jedes  neue  Werk  aus  seiner  Feder  ist  sie  hocherfreut.^) 
„Diese  angenehme  Jahrszeit,^  schreibt  sie  dem  Gelehrten  späterhin  von 
Heidelberg  entfernt,  ^)  „bringet  unserm  Theil  der  Welt  nicht  mehr  lieb- 
liche Blumen  und  wohlschmeckende  Früchten,  als  Euere  fruchtbare 
Feder  uns  järlich  nützliche  und  ergötzliche  Baritäten  zukommen  lasset.^ 
Als  Zeichen  seiner  Verehrung  für  die  gelehrte  Freundin  hat  ihr  Hot- 
tinger  den  fünften  Band  seiner  Kirchengeschichte  gewidmet.  Des  Zür- 
cher Gelehrten  Töchterlein  Elisabeth  aber  sollte  sich  der  hohen  Pathen- 
schaft  der  philosophischen  Prinzessin  erfreuen. 

Wahrscheinlich  durch  Hottinger  war  sie  auch  mit  dem  Züricher 
Landvogt  Bahn  bekannt  geworden,  der  in  seiner  Vorrede  zur  ^Deutschen 
Algebra"  der  Prinzessin  ehrenvoll  gedenkt.  Wie  bescheiden  fasst  sie 
auch  diese  Huldigung  wieder  auf.  j^lEr  gedenket  meiner  darinnen  mit 
einem  Titel,  schreibt  sie,  den  ich  nicht  verdiene,  insonderheit  in  dieser 
subtilen  Kunst,  die  den  ganzen  Menschen  erfordert.  Was  ich  dem 
Landvogt  davon  gesagt,  kam  nicht  aus  eignem  Witz,  sondern  von 
meinem  berühmten  Lehrmeister,  dem  sei.  Mens.  Des  Cartes  her.  Ich 
sollte  billig  jetzt  hierfür  danken,  weil  ich  aber  nur  Ungelegenheit  mit 
meim  Handschreiben  machen  würde,  so  bitte  ich,  Ihr  wollet  solches 
in  meinem  Namen  verrichten,  mich  auch   ferner  in  Euer  beider  Gunst 


1)  H.  Steiner,  Der  Züricher  Professor  Johann  Heinrich  Hottinger  in  Heidel- 
berg 1655-1661.    Zürich  1886. 

2)  Steiner,  Anh.  Nr.  4. 

3)  Steiner,  Anh.  Nr.  5. 

4)  Steiner,  Anh.  27. 

5)  Crossen  6./10.  Juli  (1061),  Anh.  27,  5. 


128  J-  Wille 

erhalten,  deren  ich  das  Oute  zuschreiben  rniiss,  das  ihr  von  mir  denket 
und  saget/  ^) 

Aber  auch  in  Heidelberg  im  Kreise  der  Gelehrten  war  für  sie  des 
Bleibens  nicht  lange,  weil  sie  auf  dem  Schlosse,  das  sie  nach  schick- 
salsschweren Jahren  wieder  betrat,  keine  Heimat  fand.  Wie  Karl  Lud* 
wig,  in  Sparsamkeit  zäh  und  hart  geworden,  seinem  aus  ruhmgekrönten 
Kämpfen  zurückgekehrten  Bruder  Buprecht  einen  Anteil  am  wiederge- 
wonnenen PfUzischen  Stammgute  verweigerte,  so  waren  die  ehelichen 
Verhältnisse  des  Kurfürsten  nicht  dazu  angethan,  die  vielgewanderte 
Schwester  hier  die  vielgesnchte  Seelenruhe  finden  zu  lassen.  Ihr  Bleiben 
ward  erschwert,  sobald  sie  sich  in  der  Ebescheidungsfrage  des  Vaters 
auf  die  Seite  der  Mutter  stellte.')  Kurfürstin  Charlotte,  des  harten 
Daseins  an  der  Seite  ihres  Gatten  müde,  nimmt  im  Jahre  1662  ihre 
Zuflucht  zum  Landgrafen  Wilhelm  VI.,  ihrem  Bruder,  nach  Kassel. 
Auch  Elisabeth  folgte  ihr,  um  niemals  mehr  nach  Heidelberg  zurück- 
zukehren. Hier  konnte  sie  ruhige  Tage  verleben,  an  diesem  kleinen 
Hofe,  wo  nach  des  Landgrafen  Tode  seine  Witwe,  die  geistvolle  hoch- 
gebildete Hedwig  Sophie,  die  Vormundschaft  über  ihre  Söhne  und  die 
Regentschaft  über  das  Land  mit  männlicher  Festigkeit  führte,  und 
Künste  und  Wissenschaften  eine  Pflege  fanden. 

Doch  ihr  Leben  sollte  hier  nicht  abschliessen.  Wir  haben  ihrer 
Beziehungen  zum  brandenburgischen  Hofe,  ihres  zeitweiligen  Aufenthalts 
in  Crossen  und  Berlin  gedacht.  Auch  mit  Friedrich  Wilhelm,  dem 
grossen  Kurfürsten,  verband  sie  alte  Freundschaft.  Noch  befand  sich 
die  märkische  Residenz  in  ärmlichen  Verhältnissen,  auf  diesem  auch  von 
der  Natur  so  wenig  bevorzugten  Boden,  wo  es  damals  noch  keine  Bücher 
und  keine  Gelehrten  gab,  nur  abergläubige  Theologen  disputierten,  war 
Elisabeth  wegen  ihrer  Gelehrsamkeit  und  geistvollen  Unterhaltung  ge- 
feiert und  bewundert.  Descartes  hat  es  ihr  gedankt,  dass  durch  ihre 
Vermittlung  auch  diese  Kreise  mit  seinen  Schriften  bekannt  geworden 
sind.  Erst  Friedrich  Wilhelm,  der  Schöpfer  des  künftigen  Grossstaates, 
begann  seiner  öden  Residenz  und  seinen  Landen  auch  geistiges  Leben 
zuzuführen.  Die  von  ihm  neugegründete  Universität  Duisburg  sollte 
ein  Sitz  Descartes'scher  Lehre  werden.  Und.  doch  war  dauerhafte  Freund- 
schaft und  Wärme  des  Familienlebens  das  Beste,  was  die  ruhelose 
Prinzessin   hier  finden  konnte.    Nach  jahrelangen   Wanderungen  ihres 


1)  Steiner,  Anh.  27  u.  3. 

2)  So  wenigstens  Raillet  II,  235. 


Pfalzgr&fin  Elisabeth  129 

schicksalsvoUen  Lebens  verdankt  sie  dem  brandenburgischen  Eurftirsten 
eine  dauernde  Zufluchtsstätte,  an  der  sie  in  Ruhe  ihrer  inneren  Welt 
leben  konnte. 

Noch  einmal  hat  sie  ihren  berflhmten  Namen  der  Welt  bekannt 
gemacht,  doch  in  anderen  Formen  eines  tiefinnerlichen  Lebens. 

Am  1.  Mai  1661  war  die  Prinzessin,  durch  den  mächtigen  Einfluss 
ihres  brandenburgischen  Vetters  gefordert,  zur  Eoadjutorin  des  freiwelt- 
lichen Beichsstifts  Herford  gewählt  worden. 

Diese  uralte,  unter  Ludwig  dem  Frommen  zwischen  Paderborn 
und  Munster  nahe  beim  Zusammenflusse  der  Aa  und  Werre  gegründete 
Abtei  lag  als  kleines  reichsunmittelbares  Gebiet  der  Altstadt  Herford 
gegenüber,  nur  durch  eine  Brücke  mit  ihr  verbunden. 

Hier  in  dieser  , Freiheit^,  wie  der  kleine  Bezirk  hiess,  residierten 
nun  die  Äbtissinnen  fiber  den  kleinen  Kreis  von  Unterthanen,  begabt 
auch  mit  der  Givilgerichtsbarkeit  in  der  Stadt,  Hie  einst  freie  Reichs- 
stadt, im  Jahre  1652  diese  Stellung  verlor  und  unter  die  Oberhoheit 
des  brandenburgischen  Kurfürsten  gekommen  war.  Auch  dieser  kleine 
geistliche  Staat  der  Abtei  war  gleich  der  Stadt  Herford  im  Jahre  1523 
zur  Reformation  übergetreten.  Die  Abtei  aber  blieb  reichsunmittelbar 
unter  dem  Schutze  der  brandenburgischen  Kurfürsten  als  ein  evangeli- 
sches adeliges  Frauenstift,  dessen  Äbtissinnen  ebenfalls  dem  lutherischen 
oder  reformierten  Bekenntnisse  angehörten. 

So  bekam  Elisabeth  als  Eoadjutorin  Anspruch  auf  Nachfolge  in 
eine  schon  im  Mittelalter  von  Angehörigen  des  hohen  Adels  sehr  be- 
gehrte, auch  an  Einkünften  reiche  Stellung  einer  Fürstin  und  Prälatin 
des  heiligen  römischen  Reiches,  mit  ihrem  Lehenhof  und  ihrem  Hof- 
staate, der  auch  dem  kleinsten  politischen  Gemeinwesen  damals  nicht 
fehlen  durfte.  Am  28.  März  1667  ist  sie  dann  nach  dem  Tode  ihrer 
Vorgängerin,  der  pfalz-zweibrückischen  Prinzessin  Elisabeth  Luise  als 
Äbtissin  von  Herford  inthronisiert  worden. 

Man  sollte  nun  denken,  dieses  adelige  Frauenstift  wäre  eine  Hoch- 
burg des  Gartesianismus ,  eine  philosophische  Akademie  geworden,  in 
der  eine  gelehrte  Äbtissin  mit  gleichgesinnten  Schwestern  fern  vom 
Geräusche  der  Welt  in  stillem  Klosterleben  metaphysische  Probleme 
verfolgte.  Elisabeth  aber  nahm  von  ihrem  Vetter,  dem  grossen  Kur- 
fürsten, diesen  reichsfürstlichen  Platz,  um  den  inneren  Frieden  der  Seele, 
das  höchste  Gut  zu  suchen  und  die  Idee  Gottes  in  uns,  die  Des- 
cartes  gelehrt,  nicht  in  der  metaphysischen  Gedankenwelt  zu  verfolgen, 
sondern  in  das  tiefe  Innere,  in  das  geheimnisvolle  Empfinden  religiösen 

NEITB  HEIDELB.  JAIIRBinC(JHER  XI.  9 


130  J  Wflle 

Lebeos  einzuf&hren.  Die  alte  Abtei  Herford  ward,  was  sie  einstens  in 
der  alten  Kirche  war,  nun  auch  in  der  neaen,  doch  in  anderer  Form 
und  anderem  Geiste:  der  Sammelplatz  der  Frommen,  der  Bekehrten, 
der  im  Geiste  Gottes  Wiedergeborenen,  der  Auserw&hlten  Gottes.  Eine 
Wandlung  merkwürdiger  Art  im  Leben  der  Pfalzgr&fin !  Descartes  hatte 
seiner  Schülerin  den  Bat  gegeben,  sich  um  metaphysische  Dinge  nicht 
viel  zu  kümmern,  yielleicht  um  ihren  Fragen  auszuweichen,  mit  denen 
sie  ihn  so  hart  bedrängte. 

Sie  hat  es  gethan,  nicht  allein,  weil  sie  in  dem  metaphysischen 
Denken  keine  Befriedigung  fand,  sondern  weil  ihr  philosophisches  Denken 
ein  ethisches  war.  Aber  dieses  ethische  Denken  der  Äbtissin  stand 
immer  im  Widerspruche  mit  den  ihrem  Lehrer  abgerungenen  Äusse- 
rungen moralischen  Inhalts;  an  dem  Verhältnis  des  freien  Willens  zu 
Gott  als  dem  Urquell  aller  Erkenntnis  hat  ihr  Denken  halt  machen 
müssen.  Je  mehr  sie  sich  abmüht,  nach  dem  höchsten  Gute,  nach  der 
Glückseligkeit,  nach  der  Buhe  ihrer  Seele  zu  gelangen,  um  so  mehr 
erweitert  sich  der  Gegensatz  zwischen  dem  von  Descartes  gelehrten 
freien  Willen  und  dem  allgemeinen  Kausalgesetz,  das  uns  abhängig 
macht  von  Gott.  Sie  hat  zwar  durch  ihre  Einwände  den  Philosophen 
so  weit  gebracht,  dass  er  in  seinen  ,  Passions  de  Pftme'  diese  Lehre  von 
der  Freiheit  des  Willens  gemildert,  indem  er  zugegeben,  dass  der  Mensch 
die  Erreichung  des  höchsten  Gutes  nicht  immer  in  seiner  Gewalt  hat, 
dass  er  sich  dem  Willen  der  allmächtigen  Ursache  ergeben  müsse,  eben 
in  der  intellektuellen  Liebe  zu  Gott.  Diese  rein  erkenntnistheore- 
tische  Lehre  befriedigte  sie  nicht,  darum  suchte  sie  einen  andern  Weg, 
der  im  neuerwachten  religiösen  Leben  der  Zeit  gegeben  war. 

Es  ist  vielleicht  nicht  ohne  Bedeutung  fKr  die  Prinzessin  gewesen, 
dass  sie  schon  von  Heidelberg  aus  (1660)  mit  den  Werken  des  Theo- 
logen Johannes  Coccejus  bekannt  geworden  ist,^)  dessen  religiöse,  von 
der  Liebe  zu  Gott  ausgehende  Ideen  von  dem  Gnadenbunde  Gottes  mit 
den  Menschen,  trotz  aller  mystischen  Anklänge  doch  in  ihrer  tiefmner- 
lichen  Durchbildung  vielfach  auch  mit  Descartes  sich  berühren.  Aber 
nicht  der  Intellekt,  sondern  der  Glaube  zeigt  uns  den  Weg  zur  Eini- 
gung mit  Gott,  der  Glaube,  dessen  Wurzel  die  Liebe  ist  Über  die 
geistige  Beziehung  der  Schülerin  des  Descartes  zu  dem  gelehrten  Föderal- 
theologen zu  Leiden  sind  wir  im  einzelnen  nicht  unterrichtet.  Coccejus 
hat  ihr  seinen  lateinischen  Kommentar  zum  Hohen   Lied  gewidmet. 


1)  Das  Nfthere  bei  Gnhraner  I,  S.  128  ff. 


Hatzgr&fin  Klisabetb  131 

„Nichts  gibt  es  in  der  ganzen  Welt,  schreibt  er  in  seiner  Widmung, 
was  uns  nicht  von  der  Eigenliebe  wieder  zurückführt  zu  Gott,  der  wie 
die  Ursache  alles  Schönen  und  Lieblichen,  der  einzige  Mittelpunid  der 
Liebe  ist."  In  ihr  soll  der  Dualismus  zwischen  Seele  und  Leib  über- 
wunden werden  zum  wahren  Leben. ')  An  die  Stelle  der  intellektuellen 
Liebe,  wie  Descartes  sie  gelehrt,  tritt  die  religiöse  Liebe,  die  aus  dem 
Herzen  kommt,  durch  welche  die  Seele  zu  einer  Vereinigung  mit  Qott 
zu  kommen  sucht,  ganz  unabhängig  von  den  realen  Forderungen  der 
Kirche,  die  nach  Coccejus  nur  geistige  Attribute  kennt.  Doch  steht 
Coccejus  nur  am  Anfange  einer  kirchlich  reformatorischen  Bewegung, 
in  deren  Mittelpunkt  auch  die  Pfalzgräfin  immer  mehr  die  ethischen 
Probleme  praktisch  in  sich  zu  lösen  glaubt. 

Durch  innerliches  Erleben  Gottes,  durch  die  Betrachtung,  die  Kon- 
templation soll  diese  Vereinigung  des  Menschen  mit  Qott  zur  Wahrheit 
werden.  Je  mehr  diese  Liebe  das  menschliche  Herz  vereinigt,  die 
Selbstsucht  abtötet,  desto  reifer  wird  der  Mensch  zur  Aufnahme  des 
göttlichen  Geistes,  desto  kräftiger  zur  Ertragung  aller  Leiden,  in  der 
willenlosen  Ergebung  in  den  Willen  Gottes.  Das  ist  die  kontemplative 
Mystik,  die  nur  das  Gebet  ohne  Worte,  das  Sichversenken  in  die  Unend- 
lichkeit Gottes  kennt.  Diese  Mystik,  die  in  der  katholischen  Kirche 
ihren  fruchtbarsten  Boden  gefunden  und  uns  die  tiefsinnigen  Lehrer 
wie  Meister  Eckhart,  Suso  und  Tauler  gegeben  hat,  erfasst  auch  die 
reformierte  Kirche,  je  mehr  sich  ihre  Vertreter  im  Sinne  des  Coccejus 
von  dem  starr  gewordenen  religiösen  Leben,  von  der  geistlosen  Er- 
klärung der  h.  Schrift  losmachen,  um  die  Kirche  Gottes  im  Innern 
Leben  aufzurichten  durch  die  Erweckung  eines  frommen  Lebens.  Diese 
Liebe  zu  Gott,  die  Descartes  den  vollkommensten  Affekt  nennt,  wird 
auch  in  der  Mystik  zur  Leidenschaft,  doch  zur  Leidenschaft,  die  ent- 
gegengesetzt der  Lehre  des  Descartes  niemals  Reue  erzeugt,  sondern 
Seligkeit,  freilich  auch  mit  dem  Verluste  des  freien  Willens,  die  Herr- 
schaft über  die  Vernunft  erringen  kann.  Eine  Leidenschaft,  die  nicht  die 
Macht  der  Sinne  zu  überwinden  sucht,  sondern  den  unerforschlichen 
Gott  sinnlich  zu  erkennen,  mit  den  Augen  zu  sehen,  mit  den  Ohren  zu 
hören,  ja  selbst  zu  schmecken  sucht.  Die  Liebe  zu  sich  selbst  schliesst 
die  Welt  in  sich,  sie  ist  die  Wurzel  alles  Uebels.  Darum  muss  man 
auf  den  eigenen  Willen  und  selbst  auf  die  Vernunft  verzichten. 

1)  «Haec  est  yera  viu,  id  amabilis  intueri.  Ejus  radii  in  hac  palaestra  carnia 
et  Spiritus  inter  se  belligerantiiun  veram  vitam  initiant/  Widmung  an  Rlisahcth. 
Cocceins,  Opera  IV,  551. 

9* 


132  J.  Wille 

So  lehrte  der  Mann,  der  jetzt  an  der  Pforte  der  Abtei  zu  Herford 
um  Einlass  und  Schutz  bat  —  Jean  de  Labadie,  der  neue  Prophet  der 
reformierten  Kirche,  eine  Erscheinung,  in  so  vielem  dem  h.  Franziskus 
ähnlich,  doch  im  Gewände  Calvins. 

Labadie  ^)  ist  Franzose,  in  der  Quyenne  i.  J.  1610  geboren.  Er 
hat  seine  erste  Erziehung  bei  den  Jesuiten  gehabt,  ist  auch  bei  ihnen 
Novize  geworden.  Aber  die  politische  Tendenz  des  Ordens  stösst  ihn 
ab.  Er  wird  Weltgeistlicher.  Schon  früh  geht  ein  mystischer  Zug 
durch  sein  Inneres.  Während  seiner  Priesterweihe  fahlt  er,  dass  Chri- 
stus, nicht  der  Bischof  ihm  die  Hände  aufs  Haupt  legt.  Wie  eine 
grosse  Mission  lag  es  in  diesem  Gefähl.  Es  geht  ihm  wie  so  vielen 
der  alten  und  neuen  Kirche,  die  vom  Geist  Gottes  getrieben,  ihn  ver- 
geblich suchen  in  der  äusseren  Erscheinung  des  kirchlichen  Lebens. 
Seine  Gedanken  sind  erfüllt  von  einer  Beform  seiner  Kirche,  von  einer 
Wiederherstellung  des  Christentums  in  ihrem  alten  ursprünglichen  Da- 
sein, nach  dem  Muster  der  ersten  Gemeinden  zu  Jerusalem. 

Durch  seine  Thätigkeit  als  Prediger  von  gewaltigem  Einfluss  ge- 
winnt er  Anhänger  und  gründet  eine  Bruderschaft  von  allen  denen,  die 
zum  neuen  Leben  erweckt  sind.  Diese  x  Er  weckung  geschieht  durch  Ge- 
bet, Betrachtung  und  Predigt.  Mit  seiner  Lehre  von  der  h.  Schrift 
als  Regel  des  Glaubens  nähert  er  sich  der  neuen  Kirche,  aber  sein  fie- 
formwerk  ist  ganz  mittelalterlich,  franziskanisch.  Durch  seine  Gottes- 
liebe geht  ein  Zug  vom  Geiste  der  alten  Mystiker:  Nach  dem  Vor- 
bilde Christi  stirbt  man  in  sich  selbst,  um  Gott  zu  lieben.  Diese  Liebe 
kann  aber  der  Mensch  gar  nicht  üben,  ohne  dass  Gott  durch  Christum 
sie  ihm  bewiesen  hat  in  der  Innern  Erweckung.  Diese  inwendige  Stimme 
ist  das  Zeugnis  Gottes  in  uns,  der  zum  Herzen  spricht.  Labadie  ist 
später  so  weit  gegangen,  diese  innere  Stimme  als  Prinzip  des  Glaubens 
über  die  Schrift  zu  stellen.  Denn  die  Religion  ist  lange  Zeit  auch 
ohne  die  h.  Schrift  gewesen.  Die  Offenbarung  Gottes  ist  eine  fort- 
währende, dafür  ist  der  Mensch  sich  selbst  Zeugnis.  Also  eine  subjek- 
tive Freiheit  des  Denkens,  die  ganz  dem  Beweise  Gottes  bei  Descartes 
entspricht. 

Die  Versuche  Labadies,  auf  dem  Boden  der  römischen  Kirche  seine 
Reform  zu  begründen,  sind  gescheitert,  sie  haben  ihm  Hass  uud  Ver- 


1)  M.  Goebel,  Geschichte  des  christlichen  Lehens  in  der  rheinisch-westphäli- 
sehen  evang.  Kirche  II,  181  ff.  —  H.  Heppe,  Geschichte  des  Pietismus  und  der 
Mystik  in  der  reformierten  Kirche,  namentlich  der  Niederlande  S.  240  ff.  — 
A.  Kitsch],  Geschichte  des  Pietismus  I,  194  ff. 


Pfalzgrafiii  Elisabeth  133 

folgung  gebracht.  Nachdem  er  die  *  Lehre  Calvins  kennen  gelernt,  hofft 
er  unter  dea  Beformierten  sein  auserwähltes  Volk  zu  finden.  Er  ent- 
schliesst  sich  zum  Eonfessionswechsel,  wird  erst  Prediger  im  Dienste 
der  Genfer  Kirche,  dann  1666  nach  Middelburg  in  Holland  berufen. 
Aber  trotz  des  Ungeheuern  Erfolges  seiner  Predigten  —  der  junge 
Spener  hat  ihn  in  Genf  voll  Bewunderung  gehört  —  kann  er  sein 
Lebensideal  nur  in  einer  Trennung  von  der  kirchlichen  Gemeinschaft 
finden.  So  sammelt  sich  um  ihn  eine  neue  Gemeinde  der  geistlich 
Wiedergeborenen  unter  Loslösung  von  jeder  kirchlichen  Verfassung,  in 
Verleugnung  der  Welt  mit  ihren  Gfitern  und  Freuden  um  Jesu  Christi 
willen.  Nicht  die  Kirche,  sondern  die  Gemeinde  ist  der  Mittelpunkt, 
um  den  sich  diese  Auserwfthlten  sammeln.  Der  Familienvater,  nicht 
der  Priester  leitet  diese  Gemeinde.  In  ihr  wirkt  nun  Labadie  durch 
die  unmittelbare  Gewalt  seines  Wortes,  durch  den  Effekt  seiner  äussern 
rhetorischen  Mittel,  die  Frophetie  seiner  mystischen  Betrachtungsweise, 
die  uns  die  baldige  Wiederkehr  des  Reiches  Christi  auf  Erden  verkün- 
digt, wirkte  er  besonders  auf  die  Gemüter  der  Frauen.  Unter  ihnen  finden 
wir  auch  Anna  Maria  van  Schurmann  wieder.  Statt  der  einst  jugend- 
lich schönen  und  gelehrten  holländischen  Minerva,  die,  obwohl  Calvi- 
nistin  strengster  Sorte,  sogar  von  den  Jesuiten  in  lateinischen  Versen 
einst  gefeiert  ward,  folgt  eine  an  Jahren  und  in  Askese  gealterte  reli- 
giöse Schwärmerin  der  Schar  der  Labadisten.  Die  Glut  ihrer  Augen, 
der  letzte  Glanz  ihrer  einstigen  Schönheit,  verrät  die  Vorgänge  in  der 
Tiefe  ihrer  Seele.  Sie  hat  alle  Wissenschaft  und  alle  Gelehrsamkeit, 
allen  Ruhm  und  alle  Ehren  verachten  lernen  im  Lichte  der  inneren 
Offenbarung.  Sie  hat  sich  mit  Maria  verglichen,  welche  das  bessere 
Teil  erwählte.  „Eukleria*  betitelte  sie  das  merkwürdige  Buch,  in  dem  sie 
alle  ihre  Erlebnisse  und  inneren  Wandlungen  uns  geschildert  hat.^) 
Durch  sie  ist  die  Berufung  Labadies  nach  Middelburg  veranlasst  worden, 
sie  ist  ihm  dann  nach  Amsterdam  gefolgt,  auch  hier  war  den  Bekehrten 
und  Wiedergeborenen  als  Staats-  und  kirchenfeindlichen  Separatisten  ein 
ruhiges  Bleiben  nicht  vergönnt.  Elisabeth  hört  von  der  Not  der  neuen 
Gemeinde,  lad  sie  zu  sich  ein  und  versichert  sie  voller  Freiheit  ihrer 
Religionsnbung  in  dem  kleinen  Bezirke  der  Herforder  Abtei.  Ihre  Einlad- 
ung ist  zunächst  an  die  Schurmann  erfolgt,  die  sich,  wie  sie  erzählt, 
von  den  Banden  der  Welt  und  den   irdischen  Dingen  befreit,  um  die 


1)  EdxXrjpta  geu  Melioris  Partis  Electio  1673.  —  Aus  dem  Lateinischen  über- 
setzt.  Dessau  und  Leipzig  1783. 


134  J.  Wille 

wahre  christliche  Keligion  mit  grösster  Freiheit  und  Reinheit  in  Gesell- 
schaft der  Frommen  za  üben  und  den  letzten  Abschnitt  ihres  Lebens 
zu  beschliessen.  In  duldsamen  Geiste  hat  der  brandenburgische  Kur- 
fürst den  Wünschen  der  Äbtissin  seine  Genehmigung  nicht  versagt.  So 
kam  denn  eine  Gesellschaft  von  etwa  fünfzig  Personen  nach  Her- 
ford, um  nach  dem  Berichte  der  Prinzessin  eine  klösterliche  Ansiedlung 
zu  gründen.  Ein  buntes  Gemisch  von  Vertretern  aller  Stände,  die  nun 
in  einem  der  Abtei  nahegelegenen  Hause  eine  gemeinsame  geistliche 
Haushaltung  führten.  Unter  ihnen  war  die  Frauenwelt  vorherrschend, 
die  meisten  aus  dem  hohen  Adel  und  von  hoher  Bildung.  Unter  dem 
Schutze  der  einstigen  Schülerin  des  Descartes  richtet  sich  nun  die  neue 
Gesellschaft  nach  dem  Vorbilde  der  ersten  Christengemeinden  ein,  in  den 
freien  Formen  der  Gesellschaft,  ohne  den  Zwang  kirchlicher  Verfassung, 
ohne  liturgische  Formeln  bei  Gottesdienst  und  Taufe.  Denn  diese  wird 
nur  den  Kindern  der  Wiedergeborenen  zu  Teil,  sie  kann  aufgeschoben 
werden,  bis  die  Stichen  der  Wiedergeburt  erkenntlich  sind.  Eine  von 
mystischer  Schwärmerei  bis  zur  Extase  erfüllte  geistliche  Unterhaltung 
ist  Gottesdienst.  Im  neuen  Jerusalem  zu  Herford  wird  jetzt  gemeinsam 
die  Feier  des  h.  Abendmahls  begangen.  Mystische  Tänze  und  Gesänge 
bezeichnen  den  Höhepunkt  religiöser  Schwärmerei.  Gleich  dem  Tanze 
Davids  vor  der  Bundeslade  ist  Kuss  und  Tanz  das  Zeichen  der  allge- 
meinen Wiedererweckung.  In  einer  solchen  von  der  Welt  abgekehrten 
Gesellschaft  sind,  nach  dem  Muster  der  ersten  Gemeinden,  auch  die 
Gläubigen  nur  die  Haushalter  über  ihr  Vermögen,  Christus  ist  der 
Herr  alles  Besitzes,  ein  jedes  Mitglied  als  Glied  am  Leibe  Christi  ver- 
pflichtet seinen  Besitz  dem  Ganzen  zur  Verfügung  zu  stellen,  eine  Art 
Gütergemeinschaft,  die  Anna  Maria  van  Schurmann  als  die  wahre  Ge- 
burtsstunde der  Labadistengemeinde  angesehen  hat.  Bedenklicher  war 
schon  die  Nichtachtung  aller  bisherigen  gesellschaftlichen  Formen,  in  der 
Kasuistik,  mit  der  die  Labadisten  die  Ehe  betrachteten,  deren  öffentliche 
Schliessung  ihnen  zu  weltlich  dünkte,  deren  Unauflöslichkeit  sie  nach 
den  Worten  Christi  nur  hypothetisch  fassten,  eine  Ehe,  die  sie  über- 
haupt nur  zwischen  Wiedererweckten  als  giltig  anerkannten  und  darum 
nur  von  dem  Einverständnis  der  Verlobten  und  der  Kenntnisnahme  der 
Gemeindevorsteher  abhängig  machten. 

Dass  eine  verständige  Frau  wie  Äbtissin  Elisabeth  mit  allen  diesen 
Auswüchsen  exzentrischer  Lehren,  die  gar  viele  der  Gemeinde  entfrem- 
deten, nicht  einverstanden  war  und  zu  Zeiten  ihre  Rechte  und  Pflichten 
als  Schutzherrin  geltend  machen  musste,  konnte  man  voraussehen.  Was 


Vfalzgrafin  Elisabeth  135 

sie  aber  zur  Labadistengemeinde  binzog,  war  der  beilige  Ernst  des 
tiefen  inneren  Lebens,  was  sieb  hier,  trotz  mancber  Yerirrungen,  unter 
dem  Einflüsse  einer  die  Gemüter  überwältigenden  Predigtweise  Laba- 
dies  und  seiner  mit  dem  Geschicke  eines  Ordensbruders  geleiteten  geist- 
lichen Eierzitien  in  der  Familie  zu  Herford  verbreitete.  ,Die  Prinzessin, 
welche  diesen  Betrachtungen  fast  immer  beiwohnte,  schreibt  die  Schur- 
mann,^)  ward  dadurch  zu  grosser  Bewunderung  und  Liebe  dieser  Wahr- 
heiten und  Lehrart  hingerissen  und  lernte  nun  auch  das  wahre  Christen- 
tum Ton  seinem  falschen  Nachbilde  unterscheiden.  Mehr  als  einmal 
pries  sie  sich  selig,  dass  Gott  sie  gleichsam  zur  Beirirterin  und  Be- 
schützerin seiner  wahren,  aus  ächten  Gläubigen  gesammelten  Kirche, 
vor  andern  ausersehen  hatte.  Besonders  aber,  nachdem  Labadie  in 
einer  Krankheit  ihr  näher  ans  Herz  geredet  hatte,  versicherte  sie  mich 
voller  Freuden  mit  den  Worten  des  Samariters,  sie  glaube  nun  fort 
nicht  mehr  um  meiner  und  anderer  Rede  willen,  sondern  weil  sie  selbst 
gehört  und  erkannt  habe,  dass  diese  Männer  wahre  und  von  Gott  ge- 
lehrte Diener  Christi  seien.*  Wir  zweifeln  nicht  an  dem,  was  die  re* 
ligiöse  Schwärmerin  über  Pfalzgräfin  Elisabeth  uns  berichtet,  obwohl 
letztere  das  Bekenntnis  ihres  inneren  Verhältnisses  zu  Labadie  niemals 
ausführlich  niedergelegt  hat.  Die  Idee  Gottes  aber  in  uns,  die  Des- 
cartes  aus  dem  abstrakten  Denken  beweist,  bat  sich  bei  ihr  längst  ver- 
flüchtigt in  der  inneren  mystischen  Offenbarung,  in  dem  Lichte  der 
Wiedergeburt,  das  so  stark  leuchtet,  um  auch  das  eigene  „Ich*  willen- 
los in  sich  vergehen  zu  lassen.  „Es  bleibt  mir,  schreibt  sie  kurz  vor 
ihrem  Ende  an  ihren  Bruder  Karl  Ludwig,  in  dieser  Stunde  nichts 
übrig,  als  mich  darauf  vorzubereiten,  um  meine  durch  das  Blut  meines 
Erlösers  gereinigte  Seele  Gott  zii  empfehlen.  Ich  weiss,  dass  sie  befleckt 
ist  von  vielen  Sünden,  von  der  einen  vor  allem,  dass  ich  das  Geschöpf 
höher  gestellt  habe,  als  den  Schöpfer  und  zu  sehr  für  meinen  eigenen 
Ruhm  gelebt  habe.  Das  ist  eine  Art  von  Götzendienst.  Weil  ich  weiss, 
dass  der  Leib  duldet  fBr  die  Sünden,  die  er  mir  zu  hieben  befohlen 
hat,  darum  ertrage  ich  fast  alle  Tage  meine  Schmerzen  mit  Freude.* 
Es  ist  das  Kreuz,  welches  zu  tragen  sie  sich  auferlegt  hat,  ihrer  selbst 
entsagend,  um  sich  ganz  dem  Willen  Gottes  zu  ergeben.') 

Das  neue  Jerusalem  zu  Herford  machte  sich  weithin  einen  Namen. 
Von  heiligem  Ernst  getrieben,  kamen  viele  zu  den  Andachten  und  Pre- 

1)  Eaklerift.   Deutsch  S.  251  ff. 

2)  An  Karl  Ludwig  31.  Okt  1679.  «fin  nnon^nt  k  moi-mtoie,  pour  me  sou- 
mettre  enti^rement  k  sa  volonte**  Foucher  de  Careil  Anh.  18. 


136  •  J'  Wille 

digten  Labadies,  viele  auch  aus  Neugierde,  um  von  den  Sauden  dieser 
Welt  belastet,  das  Verdammungsurteil  des  neuen  Propheten  in  Gleich- 
mut über  sich  ergehen  zu  lassen.  Zu  den  Neugierigen  kamen  aber 
auch  die  freigeistigen  Spötter  und  sie  sassen  in  der  eigenen  Familie 
der  frommen  Äbtissin.  Glückselige  Naturen,  die  sich  um  die  Bätsei 
der  Welt  nicht  kümmerten,  sich  über  subtilen  Fragen  der  Gottes- 
erkenntnis ihre  Lebenslust  nicht  verderben  Hessen.  Auch  sie  haben  die 
Schicksale  des  pftlzischen  Hauses  von  Jugend  auf  erlebt,  aber  gleich 
der  unverwüstlichen  Natur  ihres  Heimatlandes  haben  sie  die  Glück- 
seligkeit immer  wieder  in  sich  selber  gefunden  ohne  metaphysische 
Fragen  und  mystische  Betrachtungen.  Um  ihrer  Sünden  willen  haben 
sie  kein  Kreuz  getragen.  In  religiösem  Indifferentismus  aufgewachsen, 
kennen  sie  nicht  den  Zwang  der  Glaubenslehren,  wollen  sich  aber  die 
Freiheit  billigen  Spottes  nicht  nehmen  lassen.  «Die  Askese  Eurer  De- 
votion —  schreibt  Karl  Ludwig  an  die  Schwester  —  hat  Eure  Be- 
leibtheit  nicht  verhindern  können.*  ^)  Auf  ihren  religiösen  Eifer  giebt 
er  nicht  viel.  „Ich  masze  mir  nicht  an  die  Batschlüsse  Gottes  zu 
untersuchen,  die  unerforschlich  sind  und  zweifle,  ob  wir  beide  so  lange 
leben,  um  der  von  Ihnen  gewünschten  Wiedergeburt  teilhaftig  zu  werden, 
noch  weniger  die  Anzeigen  einer  Erneuerung  unserer  Herzen  unterschei- 
den zu  können.'^') 

Figuren  wie  Labadie  sind  diesem  Kreise  fremdartig.  Auch  die 
geistvolle  Spötterin  Sophie  von  Hannover  ist  mit  ihrem  Urteil  über  den 
neuen  Propheten  von  Herford  bald  fertig,  der  nur  ein  Bösewicht  oder 
ein  Unglücklicher  sein  kann  und  nur  das  Gute  hat,  mit  seinem  vielen 
Gelde  der  Frau  Äbtissin  die  Abtei  neu  zu  bauen.*  ^)  Wie  sie  einmal 
nur  zum  Spasse  in  die  katholische  Kirche  zur  Beichte  geht,  so  ist 
ihrem  von  der  Liselotte  gerühmten  «lustigen  Verstand*  auch  ein  Be- 
such in  Herford  nur  ein  erwünschtes  Amüsement.  So  kommt  sie  eines 
Tages  mit  ihrem  Hofprediger  aus  Osnabrück  herübergefahren  (1671), 
um  ihn  mit  Labadie  disputieren  zu  lassen.  Sie  trifft  fröhliche  Gesell- 
schaft aus  Heidelberg,  ihren  Neffen  den  Kurprinzen  Karl  mit  seinem 
Hofineister  Professor  Paul  Hachenberg,  auch  sie  wollen  einmal  den 
Verkündiger  des  neuen  Lebens  in  Gott  sehen  und  hören.    Hachenberg 


1)  Karl  Ludwig  an  EKsabeth  16.  M&rz  1676.   Foncher  de  Careil  Anh.  Nr.  11. 

2)  Karl  Ludwig  an  Elisabeth  9./17.  Okt.  1676.    Foucher  de  Careil  Anh.  Nr.  6. 

3)  Sophie  an  Karl  Ludwig  5.  Nov.  1670  (Publikationen  a.  d.  prenss.  Staats- 
archiven 26)  S.  153.  Vgl  auch  die  spöttischen  Bemerkungen  Ober  die  Pr&desti- 
nationslehre  ebend.  S.  42. 


Pfalzgräfin  Elisabeth  187 

hat  uns  diesen  Aufenthalt  geschildert.^)  Man  hat  bei  dieser  Schilderung 
das  Gefühl,  als  ob  die  Herrn  mehr  zu  einem  Schauspiel  als  zu  ernsten 
Dingen  gekommen  w&ren.  Gleich  bei  der  Tafel  wird  es  lebhaft.  Die 
leichtlebigen  Pfälzer  wissen  ihren  Dank  für  die  dargebotene  Gastfreund- 
schaft nicht  besser  auszusprechen,  als  dass  sie  mit  seichtem  Spotte  der 
Äbtissin  zusetzen  und  über  Labadie  recht  abfällig  urteilen  oder  sich 
lustig  machen.  Oft  muss  ihr  Geschwätz  durch  ernste  Worte  der  Pfalz- 
gräfin unterbrochen  werden.  Erst  die  Nacht  beruhigt  die  bösen  Zungen. 
Den  nächsten  Tag  ist  Disputation  im  Hause  Labadies,  wo  die  Gesell- 
schaft klösterlich  beisammen  wohnt.  Langsamen  Schrittes  kommt  er 
seinen  Gästen  entgegen,  abgehärmt  von  Innern  Qualen  und  „von  der  Art 
der  Sterblichen,  die  ein  besserer  Geist  angehaucht,  der  niedern  Erde 
entrückt  und  zum  Umgang  mit  der  Gottheit  emporgehoben  hat.*  Dann 
wird  den  Tag  über  von  fleischlichen  Begierden  und  Weltentsagung  ge- 
redet. Es  ist  ein  Lärmen  und  Zanken  ohne  Ende.  Besänftigend  muss  die 
Äbtissin  dazwischentreten.  Aber  die  fremden  Herrn  müssen  über  ihre 
Heimat  schöne  Dinge  hören.  Gott  solle  ihn  strafen,  sagte  der  Labadist 
Schlüter,  wenn  er  während  eines  zehnjährigen  Aufenthaltes  in  der 
PCEilz  auch  nur  einen  einzigen  frommen  Professor  oder  Prediger  gesehen 
habe,  die  alle  voll  Ehrgeiz,  Habsucht  und  Völlerei  seien.  Aber  das 
leichtfertige  höfische  Volk  lacht  darüber  hell  auf.  Auch  die  Predigt 
Labadies,  eigens  für  sie  gehalten,  ganz  im  Geiste  der  Wiedererweckimg, 
eine  Mahnung  an  den  künftigen  Regenten  der  Pfalz,  macht  auf  diese 
Gattung  von  Zuhörern  keinen  andern  Eindruck,  als  dass  sie  Mitleid 
haben  mit  den  zu  Thränen  gerührten  Jungfrauen,  die  sie  hier  versam- 
melt haben,  arme  Seelen  des  schwachen  Geschlechts,  von  furchtsamer 
und  ängstlicher  Frömmigkeit  verwirrt,  und  zu  Hause  angekommen, 
lachen  sie  wieder.  —  Den  Spott  der  Freigeister  konnten  Labadie  und 
seine  Anhänger  über  sich  ergehen  lassen.  Schwerer  war  es  für  sie,  den 
Anklagen  und  Verfolgungen  der  kirchlichen  und  städtischen  Behörden 
von  Herford  Stand  zu  halten,  obwohl  Äbtissin  Elisabeth  schützend  und 
verteidigend  ihre  Hand  ober  dieser  merkwürdigen  Gemeinde  hielt.  Als 
gefährliche  Separatisten  im  Sinne  der  Münsterischen  Wiedertäufer  sind 
sie  von  den  lutherischen  Predigern  in  Wort  und  Schrift  verfolgt  wor- 
den, von  übertriebenen  Gerüchten  beeinflusst,  klagte  sie  der  Bat  von 
Herford  der  Gütergemeinschaft  und  selbst  der  Frauengemeinschaft  an, 
als  Störer  der  öffentlichen  Sitte  und  Ordnung,  auch  vor  den   Stein- 

1)  Schunnann,  Eokleria.  Deutsch  S.  1  u.  ff,  (aus  dem  lateinischen  in  der  Biblio- 
tbeca  Bremensis  Class.  VIII  veröffentUchten  Briefe). 


138  J.  Wille 

würfen  des  Pöbels  waren  sie  nicht  sicl^er,  der  in  den  Handwerkern  der 
neuen  Gemeinde  die  Schädiger  des  städtischen  Gewerbes  erblickte.  Der 
Klagschriften  an  das  Beichskammergericht,  der  Mandate  des  Kurfürsten 
gegen  die  Stadt,  der  Fragen  und  Antworten  all  der  eingesetzten  Kom- 
missionen weltlicher  und  geistlicher  Art  ist  anderwärts  ausführlich  ge- 
dacht.^) Auch  die  weiteren  Schicksale  der  Labadisten  zu  verfolgen, 
liegt  mir  ferne.  Die  Gefahren  des  Krieges  haben  sie  am  23.  Juni  1672 
hin  weggetrieben.  Das  religiöse  Leben  der  Äbtissin  aber,  ihr  Sehnen  nach 
dem  innern  Frieden  aus  dem  Zwiespalte  der  seelischen  und  körperlichen 
Lebenskräfte,  das  Bingen  eines  starken  Geistes  mit  der  Macht  des  Ge- 
müt;^, das  Suchen  Gottes,  den  Descartes  sie  begreifen,  Labadie  im  Feuer 
der  inneren  Ofifenbarnng  sie  fühlen  gelehrt  hatte,  das  Alles  war  nach 
dem  Wegzuge  ihrer  Schützlinge  nicht  zur  Bube  gekommen. 

Der  Buhm  der  frommen,  für  die  Erneuerung  des  religiösen  Lebens 
so  empfänglichen  Äbtissin  zog  neue  verwandte  Geister  an.  Nun  betrat 
ein  anderer,  auch  ein  Mystiker,  den  Boden  der  Abtei,  in  der  starken 
Hoffnung,  auch  hier  sein  religiöses  Werk  zu  befestigen,  ein  Mann,  der, 
wie  Macaulay  so  treffend  sagt,  religiöse  Freiheit  zum  Eckstein  des 
Staatswesens  gemacht  hat  —  William  Penn.')  Auch  er  gehört  einer 
Sekte  an,  deren  Liebe  zu  Gott  Leidenschaft  war,  eine  Leidenschaft,  die 
Seele  und  Leib  so  mächtig  durchdrang,  dass  George  Fox,  ihr  Stifter, 
zitterte,  wenn  die  Kraft  Gottes  über  ihn  kam.  In  William  Penn  aber 
hat  diese  Mystik  zur  Menschenliebe  sich  veredelt.  Eine  Mystik,  die 
nicht  wie  bei  Labadie  nur  Gott  in  uns  handeln  lässt,  sondern  selbst 
handelt,  die  nicht  von  Selbsttäuschung  befangen  in  hochmütiger  Selbst- 
schätzung und  Eigenmacht  die  Wiedergeborenen  von  den  Ungläubigen, 
als  vom  Schlamme  der  Welt  besudelt,  zu  scheiden  wagt,  sondern  einem 
jeden  in  seinem  eigenen  Herzen  einen  Tempel  Gottes  bauen  lässt,  eine 
Mystik,  die  nicht  den  freien  Willen  opfert,  sondern  mit  starker  Lebens- 
kraft vom  Lichte  der  innern  Offenbarung  erleuchtet,  Freiheit  und 
Menschenglück  begründen  will.  Labadies  Versuch,  im  Geiste  der  refor- 
mierten Lehre  eine  Klostergründung  mit  asketischer  Strenge  und  der 
Vernichtung  des  freien  Willens  zu  erneuern,  musste  missglücken.  Der 
Name  William  Penns  hat  sich  verewigt  in  der  Freiheit  religiösen  Be- 
kenntnisses des  Weltbürgertums  jenseits  des  Ozeans. 


1)  Hölscher,  Die  Labadisten  in  Herford  1864. 

2)  Dixon,   William  Penn  2.  ed.   London  1852.   —   8.  M.  Janney,  Tiie  life  of 
William  Penn.  2.  ed.   Philadelphia  1852. 


Pfalzgräfiu  EUsabeth  139 

Der  liiihm  untrerer  Äbtissin  war  auch  zu  den  englischen  Quäkern 
gedrungen.  Bobert  Barclay  hat  ihr  sein  theologisches  System  zuge- 
schickt,^) von  ihr  empfing  es  Karl  Ludwig.  Er  wird  sich  schwerlich 
in  diese  .vera  dei  cognitio*  hineinvertieft  haben,  wenn  er  seiner 
Schwester  Sophie  nur  zu  melden  weiss,  dass  die  fromme  Äbtissin  auch 
einige  Mahnungen  wider  den  Zorn  Gottes  der  Sendung  beigegeben 
habe.')  Auch  auf  Sophie,  die  Barclay  flüchtig  sah,  scheint  der  be- 
rühmte Quäker  mit  »seinen  blauen  Augen^  keinen  tiefen  Eindruck  ge- 
macht zu  haben.  Dem  ihr  gespendeten  Segen  schreibt  sie  nur  die  eine 
rasche  Wirkung  zu,  dass  sie  auf  der  Beise  mit  einem  ihr  erwünschten 
Diner  ganz  unerwartet  regaliert  worden  sei.^)  Wüssten  wir  doch  statt 
dieser  billigen  Spässe  der  freigeistigen  Geschwister,  was  Pfalzgräfin 
Elisabeth  über  Barclays  Buch  gedacht  hat,  über  ein  System,^)  das  zwar 
an  Stelle  des  intellektuellen  Gottes  das  himmlische  Feuer  im  Herzen 
setzt,  jedoch  in  seiner  Gnadenlehre  versöhnender,  als  Coccejus  auf  den 
Zwiespalt  im  Innern  der  frommen  Prinzessin  einwirken  konnte! 

Mit  Barclay  und  John  Fox  ist  auch  William  Penn,  ehe  er  sich 
zu  seinem  grossen  Werke  nach  dem  neuen  Weltteil  aufmachte,  zur 
Äbtissin  nach  Herford  gekommen  (1677).^)  Ihr  Besuch,  ihr  Empfang 
gleicht  einer  religiösen  Versammlung;  in  Gebet,  in  Unterhaltung  über 
die  Fragen  des  inneren  Lebens  gehen  die  Stunden  dahin.  Die  Erschei- 
nung William  Penns,  der  zweimal  in  Herford  weilte,  macht  auf  Elisa- 
beth den  tiefsten  Eindruck;  in  ihrem  Sehnen  nach  Gott  fühlt  sie  sich 
hingezogen  zu  dem  tiefsinnigen  Yerkündiger  der  inneren  Erleuchtung. 
Ihre  Beden,  ihre  wenigen  uns  erhaltenen  Briefe  tragen  die  geistigen 
Spuren  des  von  Gott  erfüllten  Quäkers,  doch  dauernden  Erfolg  hat 
William  Penn  njpht  gehabt,  weder  im  Glauben  der  Äbtissin,  noch  in 


1)  Theoiogiae  verae  christianae  Apologia  lfi76.  Einen  Briefwechsel  Elisabeths 
mit  Barclay  enthält  das  lithographisch  erschienene  Werk:  Reliquiae  Barclaianae, 
Correspondence  of  David  Barclay  and  Robert  Barclay  of  Urie  and  his  son  Robert, 
inclnding  Letters  from  Prinzess  Elizabeth  of  the  Rhino  ...  W.  Penn,  Cr.  Fox  and 
others  etc.  London  1870.  Dieses  im  British  Mnsenm  vorhandene  Bach  war  mir  trots 
allen  Suchens  nicht  zugänglich. 

2)  Karl  Ludwig  an  Sophie  5.  Mai  1677  a.  a.  0.  S.  295.  —  „C'est  nne  des  faib- 
lesses  humaine  qoi  a  ^t^  de  tout  temps,  que  les  beaux  esprits  et  savants  se 
▼eulent  rendre  renomm^  par  la  singularit6,  principalement  6s  affaires  de  la  r6Ii- 
gioD.**    Kari  Ludwig  an  Elisabeth  5.  März  1677.    Foucher  de  Careil  S.  197. 

3)  Sophie  an  Kari  Ludwig  24.  August  (1677)  a.  a.  0.  S.  298. 

4)  Yergl  H.  Weingarten ,  Die  Revolutionskirchen  Englands.  Leipzig  1868. 
S.  364  ff, 

5)  Gnhrauer  II,  S.  515  ff. 


140  J-  Wille 

geiner  eigenen  Sache.  Auch  von  ihm  wie  von  Labadie  trennt  sie  bei 
aller  Zuneigung  doch  eine  unsichtbare  Welt. 

Fromm  und  gerecht,  nie  müde  im  Suchen  nach  der  Wahrheit,  hat 
sie  bis  an  ihr  Ende  das  Beichsstift  Herford  regiert,  am  11.  Februar 
1680  im  Alter  von  62  Jahren  ist  sie  gestorben. 

Schwer  ist  es  dieses  Leben  in  seinen  inneren  Wandlungen  und  Re- 
gungen zu  verfolgen  und  zu  verstehen,  weil  uns  die  historische  Grund- 
lage, ihre  eigenen  Bekenntnisse  doch  nur  bruchstückartig  bekannt 
sind.  Wie  anders,  wie  lebendig  steht  dem  gegenüber  das  Lebensbild 
ihrer  Nichte  Liselotte  vor  uns,  deren  zahlreiche  Briefe  ^)  die  feinsten  und 
unfeinsten  Regungen  ihres  Seelenlebens  uns  enthüllen ! 

Prinzessin  Elisabeth  geizte  nicht  nach  dem  Ruhme  einer  Schriftstel- 
lerin und  Philosophin  oder  nach  einer  Unsterblichkeit,  die  im  Sinne  der 
Mystik  Sünde  bedeutet.  Ihre  Briefe  an  Descartes  hat  sie  nach  dem 
Tode  des  Philosophen  zurückverlangt,  ihre  Herausgabe  verweigert,  als 
man  diese  wertvollen  Zeugnisse  ihres  Geisteslebens,  der  ersten  Gesamt- 
ausgabe der  Descartes'schen  Werke  einverleiben  wollte.  Nur  durch  einen 
Zufall  sind  diese  Briefe  aus  einem  verborgenen  Winkel  wieder  zum 
Vorschein  gekommen  und  vielleicht  bildet  auch  dieser  wertvolle  Fund 
nur  einen  kleinen  Teil  von  dem,  was  verborgen  liegt  oder  auf  immer 
verloren  gegangen  ist.  Wir  wissen,  dass  sie  durch  ihre  Schwester  Sophie 
mit  Leibnitz  bekannt  geworden  war.  Mit  Malebranche,  der  alle  Dinge 
in  Gott  geschaut,  hat  sie  Briefe  gewechselt.')  Um  diese  zu  finden, 
geben  wir  gerne  ein  gutes  Teil  selbst  von  Liselottens  urwüchsigen  Be- 
kenntnissen zum  Preise,  ohne  dass  ihr  prächtiges  Bild  auch  nur  einen 
einzigen  Zug  einbüssen  müsste. 

Was  uns  aber  auch  diese  verlorenen  Bekenntnisse  aufhellen  könn- 
ten, das  möge  uns  ein  Künstler  sagen,  der  in  die  Tiefen  deutschen 
Wesens  wie  kein  anderer  hineingeschaut  hat.  Aus  seiner  grossen  Zeit 
heraus,  in  der  Glauben  und  Wissen  die  Geister  bewegte,  hat  uns  Albrecht 
Dürer  zwei  Bilder  geschaffen:  Den  heiligen  Hieronymus  im  Gehäuse, 
den  Eremiten,  der  ferne  vom  Geräusche  der  Welt  in  fromme  Arbeit 
versenkt  ist,  beschaulich  und  gottseelig.  Freundlich  und  warm  scheint 
die  Sonne  durchs  Fenster.  Ein  Bild  tiefsten  Friedens,  innerlichster  Ruhe, 


1)  J.  Wille,  Pfalzgr&fin  Elisabeth  Charlotte,  Herzogin  von  Orleans  1895.  S.  33  ff. 

2)  Mit  den  beiden  grossen  Mathematikern  und  Physikern  Konstantin  und 
Christian  Huygens  dQrfte  sie  auch  späterhin  in  brieflichem  Verkehr  gestanden 
haben.  Unter  den  berQhmtesten  Gelehrten  der  Zeit,  denen  Christian  Huygens 
sein*  Horologium  (Hagae  Com.  1658)  zugeschickt  hat,  steht  auch  Elisabeths  Name. 
Christian  Huygens,  Oenvres  publ.  par  la  Societe  HoUandaise  des  sciences  II,  269. 


Pfalz^äün  Elisabeth  141 

höchster  Glückseligkeit.  Und  daneben  die  „MelaDcholie^ :  Eine  geflfigelte 
Frauengestalt,  voll  düsterer  Schwermut,  ein  Genius,  der  emporsteigen 
möchte  zu  den  höchsten  Zielen  der  Erkenntnis  —  aber  des.  starken 
Denkens  und  des  freien  Willens  Flügelkraft  ist  gelähmt  durch  die 
Gewalt  eines  unüberwindlichen  Gesetzes,  aber  auch  die  Ruhe  der  Seele 
ist  dahin.  Glauben  und  Wissen,  Offenbarung  und  Vernunft  im  ewigen 
Bingen,  das  sind  auch  die  tiefen  unüberwindlichen  Gegensätze  im  Leben 
der  Äbtissin  von  Herford.  Die  Nome  aber,  die  an  ihrer  Wiege  auf 
deni  Schlosse  zu  Heidelberg  gestanden,  in  jenem  verhängnisvollen  Jahre, 
als  die  ersten  Wetterzeichen  den  grossen  Krieg  verkündigten,  hat  ihr 
mit  einem  starken  Denken  auch  ein  tiefes  Seelenleben,  einen  schwer- 
mütigen Zug  als  Erbteil  mitgegeben,  als  eines  von  den  vielen  Loosen, 
die  dem  schicksalsvollen  Geschlechte  Friedrichs  Y.  bestimmt  waren. 
Jene  düstere  Frau,  die  Dürer  uns  so  ergreifend  dargestellt  hat,  sass 
auch  an  der  Pforte,  die  zum  höchsten  Gute,  zur  Glückseligkeit  fahren 
sollte.  Diese  Melancholie  hat,  wie  uns  Liselotte  in  ihrer  derben 
Weise  andeutet,  ^)  den  erhabenen  Geist  dieser  pfälzischen  Prinzessin  mit 
einem  leichten  Schleier  umgeben,  noch  ehe  der  Tod  ihr  den  Stab  einer 
Äbtissin  aus  der  Hand  nahm.  Von  den  »Devoten*  allein  hat  sie  dieses 
Erbe  nicht  erhalten.')  William  Penn  erklärte  sie  einmal:  „Es  ist  so 
schwer,  die  Grundsätze  zu  befolgen,  davon  man  überzeugt  ist,  aber 
ich  furchte,  die  Kraft  meines  Geistes  ist  nicht  stark  genug." 

Das  sagte  Pfalzgräfin  Elisabeth,  die  einst  in  jugendlichem  Gedanken- 
fluge den  schwierigsten  Problemen  Descartes'scher  Philosophie  gefolgt  war. 


1)  Briefe  herg.  v.  Holland  (Publ.  d.  litt.  Ter.  Bd.  132)  S.  177. 

2)  »Elle  EYoit  et^  entonroee  par  des  genR  dont  la  devotion  mäancolique  luy 
avoit  6t^  un  martyre  et  l'avoit  fort  ennuy6e,  luy  ayant  empöche  toute  sorte  de  r6- 
crcatioD.''    Memoiren  der  Sophie  (1679)  S.  133. 


y 


IV. 

Seit« 

'Wilfa*  Erb,  tJber  die  wachsende  Nervosität  unserer  Zeit 1 

^nil  Kraepelin,  tjber  geistige  Arbeit 31 

Fr.  Orimiue,  Die  Anordnung  der  grossen  Heidelberger  Liederhandschrift  53 

Arthur  Klebischniidt,  Marianne,  Gräfin  von  der  Leven 91 

Hermann  Wunderlieh,  Zur  Sprache  des  neuesten  deutschen  Schauspiels  II.  115 
F»  T*  Duhii,  Geschichtliches  aus  vorgeschichtlicher  Zeit.    Neue  Entdeckungen 

Luigi  Pigonnis 143 

A.  T.  Domaszewski^  Die  Heere  der  Burgerkriege  in  den  Jahren  49  bis  42 

vor  Christus    .      .     - -  .      .  157 

Otto  Kariowa,  Das  Testament  des  Veteranen  Gaius  Longinus  Castor  vom 

Jahre  189  n.  Chr.  , 189 

Karl  ZangemMster  und   Wilb.  Branne,   Bruchstücke   der    alts&chsischen 

BibeldichtUDg  aus  d%r  Bibliotheca  Palatina 205 

V. 

Carl  Kenmann,  Über  Kunst  in  Italien  im  12.  Jahrhundert 1 

Riehard  Schröder,  Eine  Selbstbiographie  von  Fritz  Reuter  .                        .  18 

Richard  Schröder,  Ein  Brief  Savignys  an  einen  früheren  Schüler    ...  23 

Moritz  Cantor,  Zahlensymbolik .25 

Karl  Zangemeister,  Zur  germanischen  Mythologie 46 

Friedr.  Ohlenschlagrer,  Der  Name  «Pfahl**  als  Bezeichnung  der  römischen 

Grenzlinie 61 

Karl  Zangemeister,  Der  obergermanisch- rätische  Limes 68 

A.  T«  Domaszewski,  Zu  den  Heeren  der  Bürgerkriege 105 

A.  T.  Domaszewski,  Die  Chronologie  des  bellum  Germanicum  et  Sarmaticum 

166-175  n.Chr .  107 

Eduard  Heyck.  Die  Staatsverfassung  der  Cherusker 131 

Karl  Schamacner,  Altes  im  Neuen 182 

J.  Wille,  Pfalzgränn  Elisabeth  Charlotte,  Herzogin  von  Orldans   ....  190 

Riehard  Graf  Da  Moniin  Eckart,  Zweibrücken  und  Versailles  ....  229 

VI, 

Erwin  Eohde,  Orpheus                            1 

F.  T«  Dahn,  Ueber  die  archäologische  Durch  forsch  ung  Italiens  innerhalb  der 

letzten  acht  Jahre 19 

Ch.  HHlsen,  Caecilia  Metella  .      .      .      . ' .  50 

G*  8ix^  Zu  den  Yotivsteinen  der  equites  singulares 59 

Beinhold  Steig,  Frau  Auguste  Pattberg 62 

B«  ErduiannsdÖrffer,  Eduard  Winkelmann  f 123 

Henrx  Thode,  £ine  italienische  Fürstin  aus  der  Zeit  der  Renaissance  .129 

Alexander  Biese,  Der  Feldzug  des  Caligula  an  den  Rhein 152 

A«  Uaui^rath,  Luthers  Bekehrung 163 

B.  Erdttiannsdörffer,  Kleine  Beiträge  zur  Goethe- Biographie  .  .  .  .  1S7 
O.  Kariowa,  Über  die  in  Briefform  ergangenen  Erlasse  römischer  Kaiser  .  211 
E«  Kraepelin,  Zur  Hygiene  der  Arbeit 222 

VII. 

Adolf  Hansrath,  Philipp  Melanchthon 1 

Bichard  Oraf  Dn  Houlin  Eckart,  Treitschke  und  das  Elsass  .  .  17 
Waltber  Arnsperg^er,  Leasings  Beschäftigung  mit  der  Leibnizischen  Philosophie    43 

Fr.  Ed.  Sehneegans,  Die  Voikssage  und  das  altfranzOsiscbe  Heldengedicht  .  58 
Max  Freiherr  TOn  >Valdberg,  Briefe  von  Jacob  und  Wilhelm  Grimm^  Karl 

Lacbmann,  Creuzer  und  Joseph  von  liassberg  an  F.  J.  Mone,  I.   .      .      .  68 

Karl  Helm,  Die  Legende  von  Krzbischof  Udo  von  Magdeburg    .      .      .      .  9ö 

F.  T.  Dnhn,  Karl  Humann             121 

K»  Schnmaeher,   Die  Besiedelung   des  Odenwaldes  und  Baulandes   in   vor- 

römischer  und  römischer  Zeit 188 

Paul  Joseph,  Der  Weinheimer  Halbbrakteatenfund 161 

Arthar  Hleinschmidt,  Karl  Theodor,  Friedrich  zu  Salm  und  V.  X.  von  Zwackh  199 

Carl  Sehmldt,  Die  Paulusakten 217 

Sax  Freiherr  von  IValdberg,  Briefe  von  Jacob  und  Wilhelm  Grimm,  Karl 

Lachmann,  Creuz^  und  Joseph  von  Lassberg  an  F.  J.  Mone,  IL  225 


VIII. 

H.  liämmerhirt,  Kosalien  und  Paeqoa  Rosa 1 

Fr.  Ed.  Scbneegans,  Frederi  Mistral 38 

A.  Hansrathy  Luther  als  Dichter  ... .      58 

H.  Bassermann,  Erziehung  und  Gesellschaft 78 

Karl  Schumacher,  Zur  römischen  Keramik  u.  Geschichte  S(id Westdeutschlands      94 

Anton  Baumstark,  Zur  Chronologie  des  Bakchylides .125 

Fr.  £d.  Schnffegans,  Die  Abtei  Theleme  in  Rabelais'  Gargantua  .  .143 

K.  Tossler,  Giuseppe  Gioachino  Belli  und  die  römische  Dialektdichtung .      .    160 

A.  Hausratli,  Luthers  Thesenstreit 181 

Richard  Schröder,  Germanische  Rechtssymbolik  auf  der  Marcuss&ule  .  .248 
Karl  Schumacher,  Zur  ältesten  Besiedelungsgeschichte  Badens  ....  256 
Alexander  Cartellierl^  Die  Machtstellung  Heinrichs  IL  von  England     .      .    269 


Paul  Hensel,  Englische  Zustände  zu  Anfang  des  achtzehnten  Jahrhunderts  .  1 
Fritz  Scholl,  Aus  neuerworbenen  Korrespondenzen  der  Heidelberger  Universsi- 

tätsbibüothek -    .      .  17 

TTalther  Arnspergrer,  Einfluss  der  kirchlichen  Unionsversucbe  des  13.,  14. 

und  15.  Jahrhunderts  auf  die  philosophische  Renaissance  des  Abendlandes  73 

Moritz  Cantor,  Kiclaus  Koppernikus 90 

F.  V.  Dulin,  Fundumstände  und  Fundort  der  ältesten  lateinischen  Steininschrift 

am  Forum  Romanum 107 

Karl  YoBsler,  Die  Lyrik  des  Angelo  Poliziano 121 

A.  y.  Doma8zew8ki,  Die  Principia  des  römischen  Lagers 141 

Albert  Krieger,  Eine  kaiserliche  Brautwerbung  in  Kopenhagen  1G97      .      .164 

F.  Ed.  Schneegans,  Batiste  Bonnet.  Ein  provenzalischer  Bauer  u.  Schriftsteller  182 
Karl  IVild,  Leibniz  als  Politiker  und  P>zieher  nach  seinen  Briefen  an  Boine- 

burg .201 

Moritz  Cantor,  Carl  Friedrich  Gauss 254 

Karl  Schumacher,  Die  Handels-  und  Kultarbeziehungen  Süd  Westdeutschlands 

in  der  vorröraischen  Metallzeit      .      , 256 

Karl  Uelm,  Die  Legende  von  Erzbischof  Udo  von  Magdeburg  (Nachtrag)     .  273 

Dietrich  Schäfer,  Die  Schlacht  bei  Lutter  am  Barenberge 1 

Karl  Tossler,  Pietro  A  retin o^s  künstlerisches  Bekenntnis      .      ^     .      .      .  38 

Karl  Boelim,  Die  Mathematik  der  Natur 66 

Karl  Helm,  Ein  Tagebuch  aus  Matthissous  Jugend .  81 

Reiuhold  Steig,  Joseph  von  Görres'  Briefe  an  Achim  von  Arnim     .  .115 

F.  T,  Duhn,  Der  Zeus  des  Phidias 177 

Walther  Amsperger,  Die  Entstehung  von  „Werthers  Leiden **    ....  195 

A«  y.  Domaszewski,  Der  Truppcnsold  der  Kaiserzeit 218 

Albert  Bäckström,  lieber  den  Orosius-Codex  F.  v.  1  Nr.  9  in  der  Kaiserlichen 

Oeffentlichen  Bibliothek  zu  St.  Petersburg 242 


.#  ♦ 


Briefe  und  Mauuskriptscndungen  sind  an  Professor  Dn  Wille  in  Heidel- 
berg (Bunsenstrasse  9),  dagegen  alle  Sendungen  den  Tausch  verkehr  betreffend 
an  die  Universitäts-Bibliothek  in  Heidelberg  zu  richten. 


Univer»iUlt»-Biichtlriickerei  von  J.  Hörning  in  Heidelberg. 


i 


Inhalt  der  erschienenen  Bände. 

A 

'•  Seite 

Programm  .      .      .     *. 3 

Chronik  des  Vereins 5 

M»  Cantor,  A.  Dürer  als  Schriftsteller 17 

H.  SehrSder,  Die  Landeshoheit  üher  die  Trave 32 

K.  Hartfclder,  Das  Katharinenfest  der  Heidelberger  Artistenfakultät  52 

A.  Havsrath,  Arnold  von  Brescia 72 

F.  T«  Diihiiy  Heinrich  Schlieroann 145 

0*  Karloiva,  Die  Rangklassen  des  Ordo  salutationis  sportularumqae  provincfae 

Numidiae,  insbesondere  die  coronati 165 

A«  V*  Domaszewski,  Beiträge  zur  Geschichte  der  Perserkriege  .181 

—  Die  Entwicklung  der  Provinz  Moesia  .  .190 

J.  V«  Pflugk-Harttang,  Keltische  Bauwerke         201 

A.  T.  Ontschmid  f,  Die  Heidelberger  Handschrift  der  Paradoxographen  (Pal. 

Gr.  398) 227 

A.  ۥ  Clark,  Die  Handschriften  des  Graevius 238 

A.  r.  Oeelielhänser,  Philipp  Hainhofers  Beriebt  über  die  Stuttgarter  Kindtaufe 

im  Jahre  1616 254 

Gm  Meyer,  Die  Verhandlungen  des  preussischen  Abgeordnetenhauses  über  den 

Erlass  von  Stempelsteuern  für  Fidcikommisse 336 

B«  ErdiiiannsdörlTer,  Zur  Geschichte  der  Heidelberger  Bibliotbeca  Palatina  349 
A.  Haasratli,  Festrede  gebalten  bei  der  Enthüllung  des  Scheffel-Denkmals  zu 

Heidelberg  am  11.  Juli  1891 352 

II* 

K.  ZaBgemeister,  Zur  Geographie  des  römischen  Galliens  und  Germanlens 

nach  den  Tironischen  Noten 1 

F«  Scholl,  Bisse  und  Brüche  in  der  Urhandschrift  Plautinischer  Komödien   .  37 

F.  Y«  Dahn,  Die  Benutzung  der  Alpenpässe  im  Altertum 55 

K.  Schumacher,  Über  den  Stand  und  die  Aufgaben  der  prähistor.  Forschung 

am  Oberrhein  und  besonders  in  Baden 93 

0«  Kariowa,  Zur  Inschrift  von  Skaptoparene 141 

J«  Haller,  Die  Verhandlungen  von  Mouzon  (1119).    Zur  Vorgeschichte  de^ 

Worroser  Konkordats 147 

B«  Schröder,  Arno,  Erzbischof  von  Salzburg  und  das  Urkundenwesen  seiner 

Zeit 165 

If«  Bassermann,  Johann  Amos  Comenius.  Festrede,  gehalten  bei  der  Comenius- 

Feier  in  Heidelberg 172 

M.  Gantor,  Zeit  und  Zeitrechnung 190 

L.  Lemme,  Shaksperes  König  Lear 212 

J,  Y«  Pflagk-Harttung,  Die  Druiden  Irlands 265 

H.  Buhl,  Hugo  Donellus  in  Heidelberg  (1573—1579)  .      .      .  .      .280 

III. 

K«  Zangemeister,  Zur  Geschichte  der  Neckarländer  in  römischer  Zeit    .      .        1 
Frledr.  v.  Weech,  Ein  Projekt  zur  Reform  der  Reichsjustiz  aus  dem  16.  Jahr- 
hundert      

J«  V.  Fflugk-Harttnng,  Die  Schriften  S.  Patricks 

Fr.  T.  Duhh,..Eine  Bronze  der  früheren  Sammlung  Ancona 

£d.  Hejck,  Über  die  Entstehung  des  germanischen  Verfassungslebens 

fr«  Jellinek,  Adam  in  der  Staatslehre 

A«  V«  Oechelhänser,  Zur  Entstehung  der  Manesse-Handschrift 

A.  Y«  Domaszewski,  Das  deutsche  Wort  Braut  in  lateinischen  Inschriften 

R.  Iloinze,  Magister  Conrad  Schades  Streithändel  mit  der  Stadt  Heidelberg 

Ferd.  Gerhard,  Vom  Hussenkriege 

Ed.  Hey ck.  Zur  Entstehungsgeschichte  des  gormanischen  Verfassungslebens 
Herrn.  Wunderlich,  Zur  Sprache  des  neuesten  deutschen  Schauspiels 
Max  Freiherr  ton  Waldberg,  Das  Jaufner  Liederbuch        .... 


17 
71 
88 
106 
135 
152 
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Karl  Zangeiiieister 

(geb.  28.  November  1837,  gest.  S.Juni  1902).*) 


Von 

J.  Wille. 


Für  die  Lebensdauer  ist  kein  Gesetz.  Der  schwächste  Lebensfaden 
zieht  sich  in  unerwartete  Länge  und  den  stärksten  zerschneidet  die 
Scheere  einer  Parze,  die  sich  in  Widersprüchen  zu  gefallen  scheint. 

Die  ernste  Wahrheit  dieser  Goethe'schen  Worte,  diesen  Widerspruch 
in  seiner  ganzen  Härte  fühlen  wir  heute  alle,  die  wir  so  zahlreich  ver- 
sammelt sind,  um  die  Zeichen  der  Verehrung  und  Liebe  am  Sarge  eines 
teuern  Mannes  niederzulegen,  der  an  Körper  und  Geist  für  uns  das  Bild 
unerschütterlicher  Kraft  und  Stärke  war.  Denn  wenn  ich  das  Wesen 
dieses  Mannes  nur  mit  einem  Worte  kurz  bezeichnen  sollte,  so  kurz, 
wie  ers  gewohnt  war  auf  zahlreichen  Leichensteinen  der  Vorzeit  zu  lesen, 
die  sein  scharfer  Geist  entziffert,  so  schriebe  ich  das  einfache  Wort 
Leben  unter  sein  Bildnis. 

Es  ist  mir  die  schwere  Pflicht  zuteil  geworden,  vor  den  Schatten 
des  Todes  dieses  Leben  im  Sonnenlichte  seines  Daseins  zu  betrachten. 
Eine  schwere  Pflicht,  weil  ich  mich  dabei  der  eigensten  persönlichen 
Erinnerungen  und  schmerzlichen  Empfindungen  nicht  erwehren  kann, 
denn  mir  selbst  hat  sich  mit  dem  Tode  dieses  Mannes  ein  gutes  Stück 
eigener  Lebensgeschichte  abgeschlossen.  Eine  schwere  Aufgabe,  weil  bei 
Betrachtung  eines  solchen  Lebens  die  Fülle  bedeutender,  eigenartiger 
und  teurer  Züge  so  mächtig  auf  mich  einströmt,  dass  sie  alle  in  einer 
kurzen  Spanne  Zeit  zu  fassen,  mir  ein  Wagnis  erscheint.  Eine  schwere 
Aufgabe,  weil,  eine  wichtige  Seite  dieses  Lebens  voll  zu  würdigen,  ein 
anderer  aus  unserer  Mitte  mehr  berufen  wäre,  als  ich. 

Einen  grossen  deutschen  Gelehrten,  eine  Zierde  des  Standes  deut- 
scher Bibliothekare  und  einen  Mann  eigenster  und  bester  Art  haben 
wir  verloren! 


1)  Gedäcbtnisrede   gehalten   bei   der   akademischen   Traucrfeier  am  11.  Juni 
1902  in  der  Aula  der  Universität  zu  Heidelberg. 

NEUE  HEfDELB.  JAHRBUECHER  XI.  10 


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Karl  Zangemeister  ist  aus  Thüringen  zu  uns  gekommen.  Am 
28.  November  1837  ist  er  im  Gothaischen  geboren.  Die  Eigenart  seines 
Stammes  hat  er  nicht  verleugnen  können,  doch  vor  allem  zwei  Lebens- 
elemente nahm  er  aus  der  Heimat  mit:  aus  dem  Lande,  da  deutscher 
Sang  durch  Geschichte  und  Sage  klingt,  sein  fröhliches  Herz  und  aus 
dem  Lande,  wo  seit  alters  die  gelehrten  Schulen  blühen,  den  Ernst  in 
der  Wissenschaft.  Ernst  strebend  und  lernend  ist  er  aufgewachsen. 
Nach  vollendeter  Gymnasialzeit,  die  ihm  in  dankbarer  Erinnerung  blieb, 
hat  er  in  Bonn  und  Berlin  klassische  Philologie  studiert,  zu  «iner  Zeit, 
als  das  Studium  der  Altertumswissenschaft  in  höchster  Blüte  stand.  Das 
geschah  noch  im  alten  Deutschland,  dessen  Jugend  ideale  Werte  noch 
zu  schätzen  wusste  und  noch  verstand,  welch  ein  hoher  bildender  Wert, 
welch  eine  geistige  Kraft  im  Studium  der  Antike  liegt.  Auch  Zange- 
meister folgte  diesem  Zuge.  Nicht  die  litterarisch-ästhetische  Seite  der 
klassischen  Studien  hat  ihn  angezogen,  er  ging  den  harten,  schweren 
Weg,  den  ihm  sein  Lehrer  Friedrich  Wilhelm  Kitschi  in  Bonn  gewiesen, 
dem  grammatische  Schulung  die  grundlegende  Methode  aller  philolo^- 
schen  Kritik  war,  ohne  die  ein  Erforschen  des  Altertums  ja  nicht  denk- 
bar ist.  Denn  kein  Studium  der  Sprache  ohne  Grammatik.  Eine  Sprache 
wissenschaftlich  erforschen  heisst  aber  ihren  Quellen  nachgehen  und 
diese  ältesten  Quellen  liegen  nicht  in  den  litterarischen  Denkmälern,  sie 
ruhen  in  den  Inschriften.  Diese  sind  ein  wichtiges  Fundament  der 
Sprachengeschichte.  Die  Forderung  eines  Sprachstudiums  des  alten 
Latein  auf  Grund  der  Inschriften,  das  war  in  der  Schule  Ritschis  ein 
hervorragendes  Programm.  In  diese  Richtung  hat  Zangemeister  sich 
hineingelebt,  nach  Neigung  und  Anlage,  die  ihm  wie  wenigen  andern  an- 
geboren war.  Die  Epigraphik  ward  seine  wissenschaftliche  Lebensarbeit. 
Doch  über  die  Ziele  grammatischer  Forschung  und  ausschliesslich  philo- 
logischer Kritik  ist  er  weit  hinausgewachsen.  Wohl  hat  er  auch  hier 
seine  Probe  bestanden,  seine  Mitarbeit  an  der  Bentley'schen  Horazaus- 
gäbe,  seine  Ausgabe  des  Kirchenvaters  Orosius,  die  er  nach  eingehenden 
Forschungen  besonders  in  den  Bibliotheken  Englands  besorgte,  zeigt 
uns,  was  er  auf  diesem  Gebiete,  würdig  seines  Lehrers,  gelernt  hat. 
Von  entscheidender  Bedeutung  aber  für  ihn  war,  dass  es  Ritschl  gelang, 
das  grosse  monumentale  Werk  einer  Sammlung  aller  Inschriften  aus 
dem  weiten  Bereiche  altrömischer  Kultur  vop  neuem  anzuregen  und 
Theodor  Mommsen  die  Macht  seines  genialen  Schaffens  für  dieses  ge- 
waltige Unternehmen  einsetzte.  Karl  Zangemeister  trat  in  den  Dienst 
dieses  von  der  Berliner  Akademie  herausgegebenen  Werkes.    Wie  sehr 


K.  Zangemeister  14& 

man  die  Tüchtigkeit  des  jungen  Gelehrten  schätzte,  beweist  die  schwie^ 
rige  Aufgabe,  die  ihm  zufiel.  Zunächst  ging  sein  Weg  nach  Italien, 
nach  der  versunkenen  und  wieder  entdeckten  monumentalen  Fundgrube 
antiken  Lebens,  nach  Pompei.  Dort  hat  der  junge  Gelehrte  die  ersten 
glänzenden  Proben  seines  für  die  Entzifferung  inschriftlicher  Denkmale 
so  scharf  ausgeprägten  Geistes  abgelegt,  in  der  Sammlung  der  pompe- 
janischen  Wandinschriften,  die  unter  dem  Titel  «Inscriptiones  parieta- 
riae  Pompeianae*'  1871  als  ein  Teil  des  Corpus  inscriptionum  erschien 
und  nach  mehrfachen  Reisen  des  Herausgebers  im  Jahre  1898  eine  Er- 
gänzung gefunden  hat.  Ein  Werk,  das  nicht  allein  für  die  Kenntnis 
des  antiken  Lebens  in  seinen  alltäglichen  Formen,  sondern  vor  allem 
für  die  Kenntnis  des  Schriftwesens  von  grundlegender  Bedeutung  ward. 
Dann  aber  ist  er  römischer  Kultur  am  Oberrhein  gefolgt,  um  die  auch 
far  unsere  Gegend  so  wichtige  Sammlung  der  Inschriften  Obergermaniens 
zu  bearbeiten.  Seit  den  Tagen,  da  er  zu  uns  kam,  war  er  mit  diesem 
Werke  beschäftigt.  Es  ist  fast  zu  Ende  gekommen.  Mitten  im 
Lesen  der  Bogen  hat  ihn  die  tückische  Krankheit  befallen,  müde  hat  er 
die  Feder  niedergelegt,  aber  sein  Geist  weilte  noch  an  den  Stätten  seiner 
einstigen  Thätigkeit,  schon  im  Erlöschen  irrte  er  noch  auf  den  alten, 
liebgewordenen  Pfaden. 

Diese  Bände  des  Corpus  inscriptionum  sind  das  wissenschaftliche 
Lebenswerk  Zangemeisters,  sie  sind  ein  Monument  der  Wissenschaft  wie 
seines  eigenen  Namens,  unzerstörbar  und  fest,  gleich  manchen  Resul- 
taten, die  wir  der  exakten  Wissenschaft  verdanken.  Aber  sie  waren  nicht 
sein  einziges  Werk.  Zangemeister  war  nicht  ausschliesslich  kritischer 
Sammler,  sein  grosses  Verdienst  besteht  auch  in  der  geistigen  Verwer- 
tung dessen,  was  er  gesammelt.  Als  ein  Mann  von  universellem  gelehr- 
tem Wissen  hat  er  in  seinen  Forschungen,  die  in  unübersehbaren  Einzel- 
schriften des  In-  und  Auslandes  niedergelegt  sind,  überzeugende  Schlüsse 
gezogen,  aus  den  unscheinbarsten  Fragmenten  uns  oft  Blicke  in  das 
Leben  der  Völker  eröffnet  und  vor  allem  auf  eine  ganze  Reihe  von 
Wissenschaften  fruchtbringend  und  umbildend  eingewirkt.  Die  Archäo- 
logie, die  alte  Geschichte,  die  alte  Geographie,  in  erster  Linie  die 
Wissenschaft  von  der  historischen  Entwicklung  der  Schrift:  die  Paläo- 
graphie,  sie  werden  den  Namen  Zangemeisters  lebendig  erhalten.  Das 
römische  Recht  wird  historisch  betrachtet  in  den  Inschriftenwerken 
reiche  Früchte  ernten  und  selbst  die  deutsche  Philologie  verdankt  sei- 
nem Glück  im  Finden  und  seiner  Handschriftenknnde,  in  den  Bruch- 
stücken des  Heliand  ein  unschätzbares  Denkmal. 

10* 


146  J.  Wille 

Aber  alle  diese  Studien,  sie  bewegen  sich  in  stetem  Eontakte  mit 
dem  frisch  pulsierenden  Leben.  Wie  jene  Gelehrten  der  Renaissance 
Italiens,  wo  die  Epigrapbik  ihre  erste  Heimat  hat,  ist  auch  Zangemeister 
nicht  von  den  Büchern  zu  den  Denkmalen,  sondern  zuerst  in  die  Welt 
und  dann  in  die  Studierstube  gegangen.  Wie  jener  Ciriaco  von  Ancona, 
der  weit  über  Länder  und  Meere  gezogen  kam,  um  in  froher  Begeiste- 
rung für  das  neuerwachte  Altertum,  seine  inschriftlichen  Denkmale  zu 
sammeln,  so  war  auch  Karl  Zangemeister  von  einem  fröhlichen  Wander- 
triebe im  Dienste  seiner  Wissenschaft  beseelt.  Nicht  allein  in  den 
Museen  der  Städte,  sondern  in  Feld  und  Wald,  wo  oft  verborgen  und 
vergraben  die  Denkmale  der  Vorzeit  ruhen  und  draussen  am  römischen 
Orenzwall  sah  man  seine  kraftvolle  Gestalt.  So  kam  er  von  den 
Büchern  auch  zu  den  Menschen.  Sein  liebenswürdiges  Wesen  verschaffte 
ihm  zahlreiche  Freunde,  in  diesen  Kreisen  wirkte  er  weit  über  die  Zunft 
der  Gelehrten  hinaus  anregend  und  fruchtbringend,  weckte  er  Verständ- 
nis für  die  Erhaltung  unserer  Denkmale.  Als  der  gefällige,  in  seinem 
Wissen  nie  versagende  Gelehrte,  ward  er  der  vielgesuchte  Berater  für 
Alle,  die  Freude  an  den  Zeugnissen  uralter  Kultur  ihres  heimatlichen 
Bodens  hatten.  Seine  Arbeitsstube  konnte  zeitweise  einem  kleinen  Mu- 
seum gleichen,  wo  neben  Büchern  und  Papieren  zahlreiche  Fragmente 
von  Gefässen,  zerbrochene  Inschriftensteine,  verwitterte  Münzen  und 
viel  Anderes  aus  dem  Hausrath  der  Vorzeit,  durcheinander  lagen.  Da- 
rum war  er  die  Seele  jenes  Unternehmens,  das  von  einer  Reichskom- 
mission geleitet,  den  Grenzlinien  römischer  Kultur  in  deutschen  Landen 
folgte.  Denn  nur  im  Verkehr  mit  Natur  und  Leben  konnte  auch  diese 
Arbeit  gedeihen. 

Akademieen  und  gelehrte  Gesellschaften,  Museen  und  wissenschaft- 
liche Kommissionen  wählten  Zangemeister  zum  Mitglied  und  Berater. 
Auch  unsere  Universität  hat  ihn  als  ordentlichen  Honorarprofessor  in 
ihre  Mitte  aufgenommen,  damit  er  sein  reiches  Wissen  auch  im  Lehren 
verwerten  sollte. 

Doch  nicht  dem  Lehrer  gilt  heute  in  dieser  Form  unsere  akade- 
mische Feier.  Sie  gilt  dem  Manne,  der  dreissig  Jahre  lang  das  wich- 
tigste Institut  der  hohen  Schule,  ihre  Bibliothek,  geleitet  hat. 

Karl  Zangemeister  war  ein  ächter  Gelehrter,  voll  Liebe  und  Leiden- 
schaft zu  den  Büchern.  Und  weil  er  dies  war,  erfüllte  er  die  eine  wich- 
tige Seite  seines  eigentlichen  Berufes,  eines  Bibliothekars.  Aber  nicht 
ein  jeder,   der  gelehrt  ist,   besitzt  auch   die  Anlage  bibliothekarisch  zu 


K.  Zangemeister  147 

wirken,  die  oft  im  Laufe  von  Jahrhunderten  gesammelten  Erzeugnisse 
litterarischen  Lebens,  für  die  Wissenschaft,  für  Bildung  und  Leben  nutz- 
bar zu  machen,  voll  Achtung  und  Ehrfurcht  vor  dem  Alten,  mit  freiem 
Blicke  auch  für  die  Forderungen  der  Gegenwart.  Solche  Anlage  aber 
war  diesem  Gelehrten  angeboren,  wie  dem  Künstler  der  Sinn  für  die 
Lebenskraft  der  Farben,  für  die  Schönheit  der  Formen.  Als  Bibliothekar 
an  der  herzoglichen  Bibliothek  auf  dem  Friedensteine  bei  Gotha,  wohin 
ihn  die  erste  Lebensstellung  geführt  (1868- -1873),  hat  er  Zeit  gehabt, 
diese  Anlagen  auszubilden.  Er  hatte  sich  bewährt,  er  war  kein  Neu- 
ling mehr,  als  er  im  Jahre  1873  zur  Leitung  der  Heidelberger  Biblio- 
thek berufen  ward. 

Nur  wenige  sind  noch  unter  uns,  die  jene  Anfange  seines  Wirkens 
haben  verfolgen  können,  die  im  Vergleiche  des  Einst  und  Jetzt  so  voll 
und  gerecht  die  Verdienste  dieses  Mannes  zu  würdigen  wissen.  Auch 
entzieht  sich  die  Arbeit  eines  Bibliothekars  vielfach  dem  Urteile  der 
grossen  Menge  und  ein  kleiner  Teil  selbst  der  Gebildeten  ist  eingeweiht 
in  den  stillen,  dem  Geräusche  der  Aussenwelt  oft  entrückten  Gang  eines 
Amtes,  das  Verwaltung  und  wissenschaftliches  Streben  zugleich  sein 
soll.  Diese  Arbeit  bewegt  sich  überdies  in  einem  Innern  undankbaren 
Widerspruche.  Sie  verschliesst  sich  in  ihren  Äusserungen  vielfach  denfi 
allgemeinen  Verständnis  und  lässt  doch  wieder,  an  der  Grenze  des  Men- 
schenmöglichen angekommen,  noch  Freiheit  genug  für  den  Tadel  übrig. 
Denn  im  Grunde  genommen  heisst  bibliothekarisch  wirken :  Wünsche  er- 
füllen. Doch  das  Mass  der  Wünsche  ist  bekanntlich  grenzenlos.  So  bald 
es  einmal  mit  den  Wünschen  zu  Ende  gekommen  ist,  haben  auch  die 
Bibliothekare  keinen  Platz  mehr  in  der  Welt. 

Als  Zangemeister  zu  uns  kam,  befand  sich  die  hiesige  Bibliothek 
noch  in  den  engen  Grenzen,  in  denen  sich  damals  noch  Lehren  und 
Lernen  der  Fakultäten  bewegte.  Der  Umfang  der  Sammlung  entsprach 
der  gegen  heute  so  bescheidenen  litterarischen  Thätigkeit  in  der  ersten 
Hälfte  des  neunzehnten  Jahrhunderts.  Die  Räume  der  Bibliothek,  die 
Art  ihres  Betriebes,  die  Ordnung  der  Bücher  genügte  den  damaligen 
kleinen  Verhältnissen.  Aber  der  neue  Zug  im  litterarischen  Leben  war 
schon  im  Gange.  Der  neue  Bibliothekar  verstand  ihn,  es  war  ihm  klar, 
dass  Einrichtungen,  deren  nach  heutigen  Begrifien  umständlichen  Charakter 
zu  schildern  mir  ferne  liegt,  für  ihre  Zeit  vortreiFlich,  unmöglich  aber 
für  die  Zukunft  genügen  konnten.  Denn  unaufhaltsam  war  der  Fort- 
schritt litterarischen  Schaffens,  neue  Wissenschaften  lösten  sich  ab  von 
den  alten,   um  selbst  wieder  neue  zu  befruchten.    Mit  gebieterischer 


148  J.  Wflle 

Macht  forderte  die  neue  Litteratur  ein  Becht  neben  der  unsterblichen 
alten,  die  Interessen  wuchsen  hinaus  in  endlose  Ferne,  es  mehrten  sich 
mit  den  neuen  litterarischen  Erscheinungen  die  Aufgaben  der  Bibliotheken. 
Immer  berechtigter  erwiesen  sich  die  Forderungen,  alle  diese  litterari- 
schen Schätze  in  Formen  und  unter  Bedingungen  zu  benützen,  die  einem 
vorwärtsstrebenden,  rasch  lebenden  Zeitalter  die  bequemsten  schienen. 
Es  ist  das  grosse  Verdienst  Karl  Zangemeisters,  dass  er,  der  stolze  Ver- 
treter einer  grossen  längstvergangenen  Kultur,  auch  sein  Auge  offen 
hielt  für  das  Neue,  das  Kommende,  dass  er  die  alte  Bibliothek  zunächst 
einmal  ßLhig  machte,  diesen  Forderungen  auch  für  die  Zukunft  zu  ge- 
nügen, dass  er  die  Heidelberger  Bibliothek  nach  allen  Sichtungen  hin 
neu  organisierte.  Eine  gewaltige  Arbeit,  die  er  im  Laufe  von  wenigen 
Jahren  nicht  nur  leitend,  sondern  auch  selbst  mitarbeitend  l)ewältigte. 
Handelte  es  sich  doch  darum,  eine  damals  schon  300000  Bände  um- 
fassende, in  einzelnen  Teilen  nicht  einmal  durch  genaue  Kataloge  zu- 
gängliche Sammlung  neu  zu  ordnen,  im  ganzen  Verwaltungsapparate 
neue  Einrichtungen  zu  schaffen.  Wer  heute  sich  mit  Hilfe  der  muster- 
haften Kataloge  in  den  gewaltigen  Büchermassen  zurecht  findet,  wer 
heute  in  Benützung  dieser  litterarischen  Schätze  eine  Bequemlichkeit 
und  vor  Allem  eine  Freiheit  geniesst,  wie  dieselbe  anderwärts  nicht  zu 
finden  ist,  der  hält  Vieles  für  selbstverständlich,  was  doch  einstens  ganz 
anders  war.  Auf  Vollkommenheit  hat  Zangemeister  am  wenigsten  An- 
spruch gemacht.  Wer  aber  gerecht  und  billig  denkt,  der  wird  heute 
anerkennen  müssen,  dass  in  dieser  Verwaltung  so  viel  Gutes,  so  viel 
Einzigartiges  und  Musterhaftes  geschaffen  ist,  und  der  Leiter  dieser 
Anstalt  redlich  bemüht  war,  auch  Wünschen  gerecht  zu  werden. 

Diese  neue  Bibliothek  aber  nach  eigenen  Ideen  ihres  Vorstandes 
umgeschaffen,  war  nichts  Lebloses,  sie  war  auch  keiner  Maschine  gleich, 
die,  einmal  in  Bewegung  gesetzt,  ihre  einförmige  Arbeit  besorgt. 
Eine  Bibliothek,  welche  die  meisten  Bücher  hat,  ist  deswegen  noch 
nicht  die  Erste.  Eine  jede  Verwaltung  muss  die  Spuren  individuellen 
Lebens  in  sich  tragen.  Wer  sie  führt,  dessen  Geist  soll  auch  in  ihr 
zu  spüren  sein.  Auch  Karl  Zangemeister  hat  dieser  Anstalt  den  Stempel 
seines  Geistes  aufgedrückt,  mit  dieser  Anstalt  war  er  geistig  verwachsen 
bis  zum  letzten  Aufblitzen  seines  starken  Lebensfeuers.  Er  brachte 
eigenes  Leben  in  die  Ordnung  der  Dinge  durch  die  Freiheit  der  Be- 
nützung, durch  seine  Gefälligkeit  die  ein  jeder  an  ihm  schätzte,  durch 
die  Selbstlosigkeit,  die  sich  gerne  in  die  Neigungen  eines  jeden  Bib- 
liotheksbenutzers hineinlebte  und  eigene  Gelehrsamkeit,  umfassende  bib- 


K.  Zangemeister  149 

liographische  Kenntnisse  zur  Verfägung  stellte.  Denn  die  Aufgabe  eines 
jeden  Bibliothekars  soll  ja  sein,  nicht  allein  zu  geben,  was  man  wünscht, 
sondern  auch  Wege  zu  fuhren,  die  man  noch  nicht  kennt,  einem  jeden 
mehr  zu  sein,  als  auch  der  beste  Katalog  vermag.  Mit  den  veralteten 
Figuren,  die  in  Büchern  vergraben  Lufb  und  Licht  scheuen,  hatte  Zange- 
meister nichts  gemein.  Wer  einmal  in  die  Bibliotheksräume  kam,  der 
verspürte  sofort  den  frischen  Luftzug,  der  ihm  hier  entgegen  kam.  Es 
konnte  in  diesen  von  Büchern  überfüllten  Bäumen  manchmal  recht 
faustisch  aussehen,  aber  trockene  Naturen  im  Stile  Wagners  fanden 
hier  keinen  Platz.  Neben  den  ernsten  Arbeiten  gediehen  unter  dieser 
Verwaltung  auch  des  Lebens  heitere  Seiten,  Frohmut  und  Humor. 

Zangemeister  war  vor  Allem  kein  Freund  vom  toten  Buchstaben  von 
Paragraphen  und  Instruktionen.  Es  gab  bei  ihm  keine  Methoden,  die 
wie  auf  ehernen  Tafeln  unverrückbar  eingegraben  waren.  Er,  der  Ver- 
treter der  Wissenschaft,  dem  wissenschaftliches  Streben  und  Arbeiten 
als  die  Grundbedingungen  bibliothekarischen  Wirkens  galten,  war  der 
ausgesprochene  Leugner  einer  Wissenschaft,  die  sich  Bibliothekswissen- 
schaft zu  nennen  pflegt.  Er  wollte  nichts  wissen  von  Schulen,  in  denen 
Bibliothekare  gross  gezogen  werden,  denn  ein  Mann  von  eigenen  Ideen 
braucht  die  Autorität  der  Schule  nicht.  Und  dennoch  war  diese  Biblio- 
thek eine  Schule,  in  der  wir  alle,  die  Gelehrten  und  die  Ungelehrten, 
ohne  Lehrbuch  im  lebendigen  Verkehre  mit  ihm,  der  selbst  das  Leben 
war,  gelernt  haben.   Auch  er  selbst  hat  wiederum  gerne  von  uns  gelernt. 

Karl  Zangemeister  war  mit  dieser  Bibliothek  geistig  verwachsen. 
Darum  gab  er  ihr  nicht  nur  Leben,  er  nahm  es  auch  von  ihr.  Es  war 
unschwer  zu  beobachten,  wie  dieser  Oberbibliothekar,  der  in  jungen 
Jahren  als  der  Vertreter  eines  Faches  zu  uns  kam,  in  den  seinem  Amte 
gestellten  Forderungen,  in  dem  vielseitigen  geistigen  Verkehr,  den  es 
mit  sich  brachte,  in  immer  weitere  Interessensphären  hineinwuchs  und 
am  allzufrühen  Ende  seiner  Tage  angekommen,  als  ein  mit  den  viel- 
seitigsten Regungen  des  Lebens  und  der  Wissenschaft  vertrauter  Mann 
erschien.  In  diesem  geistigen  Zusammenhang  verstand  er  auch  die  grossen 
Traditionen,  die  auf  den  alten  Heidelberger  Büchersammlungen  ruhen, 
er  fühlte  sich  immer  als  den  Nachfolger  aller  der  Männer,  deren  Ge- 
lehrsamkeit vor  Jahrhunderten  hier  gewaltet.  Aus  diesem  geistigen  Zu- 
sammenleben entstanden  seine  kleineren  Arbeiten  zur  Geschichte  der 
Bibliothek,  erwuchs  ihm  vor  allem  die  Liebe  zur  Geschichte  dieses 
Bodens,  der  ihm  eine  zweite  Heimat  geworden  war,  zur  alten  Pfalz  und 
Heidelberg.    Diese  neue  Heimatliebe  trug  ihre  Früchte,  sei  es,  dass  er 


150  J.  Wille 

die  Spuren  römischer  Kultur  in  unseren  Landen  verfolgte  oder  unserem 
Schlosse  sein  Interesse  schenkte,  in  einer  Form,  die  an  Gründlichkeit, 
auch  auf  diesem  jungen  Boden  die  Schule  Kitschis  erkennen  lässt. 

Und  noch  eine  Seite  seiner  Verwaltung  muss  ich  berühren.  Sie 
kann  nicht  gelernt  werden,  in  keiner  Bibliothekslehre  steht  sie  geschrie- 
ben. Ich  meine  das  Verhältnis  zu  seinen  Beamten.  Auch  im  Verkehr 
mit  ihnen  konnte  er  des  Zwanges  der  Instruktionen  vergessen,  er  hatte 
nichts  an  sich  von  dem,  was  man  im  schlimmen  Sinne  Bureaukratis- 
mus  nennt.  Es  gab  bei  ihm  keine  Scheidung  nach  Stellung  und  Rang. 
Er  wusste,  dass  im  menschlichen  Organismus  auch  da.s  Haupt  nicht 
ohne  die  Glieder  leben  kann,  dass  im  Leben  der  Verwaltung  auch  ein 
Diener,  der  mit  Liebe  und  Verständnis  seinen  Dienst  versah,  in  seiner 
Art  soviel  wert  war,  wie  der  Leiter  selbst.  Er  war  uns  nicht  nur  ein 
wohlwollender  Vorstand,  er  war  uns  ein  Kollege  und  dieses  Band  konnte 
sich  im  Laufe  der  Jahre  auch  zur  Freundschaft  befestifTen.  Hatte  er 
einmal  Vertrauen  zu  denen  gefasst,  die  mit  ihm  arbeiteten,  so  gab  er 
einem  jeden  die  Freiheit  seines  Wirkens.  Ein  jeder  war  in  seiner  Weise 
sein  eigener  Herr  und  doch  blieb  er  der  Herr  im  Hause.  Seinen  Be- 
amten hat  er  im  Verbände  der  Universität  eine  bis  dahin  nicht  vor- 
handene soziale  Stellung  verschafft  und  über  deren  Wahrung  sorgsam 
gewacht.  Wir  alle  wussten,  dass  er  es  gut  mit  uns  meinte.  Ein  hartes 
Wort,  es  kam  wie  der  Blitz  und  flog  wieder  von  dannen  und  was  zu- 
rückblieb war  heller  Sonnenschein.  Auch  ein  unverdienter  Tadel,  er 
ward  hundertfach  durch  ein  herzliches,  nicht  immer  verdientes  „Vor- 
trefflich*^ aufgehoben.  So  haben  wir  viele  Jahre  mit  ihm  zusammen 
gearbeitet  und  wir  Alle  bis  zum  jüngsten  der  Diener  dürfen  heute  be- 
kennen: «Wir  haben  einen  guten  Mann  verloren,  wir  hätten  keinen 
bessern  finden  können.  Die  beste  Anerkennung  für  ihn  ist  unsere  auf- 
richtige Trauer  um  ihn*. 

Zangemeister  war  Leben,  aber  kein  Leben,  das  wie  im  Takte  der 
Uhr  in  seinem  Innern  schlug,  ein  Leben  erregbar,  in  seinen  Äusserungen 
so  oft  unter  den  unmittelbarsten  Eindrücken  des  Augenblicks  rasch  und 
feurig.  Da  aber  Augenblicke  wechseln,  war  es  nicht  einförmig,  sondern 
voll  Stimmung,  mannigfaltig,  von  vielgestaltender  elementarer  Kraft,  reich 
an  Akkorden,  die  in  seinem  Innern  auf-  und  niederstiegen.  Oft  schien 
sein  Wesen  rauh  und  hart,  während  in  seinem  Innern  kindliche  Güte 
ruhte.  Die  Kraft  des  Feuers  loderte  auf  und  die  heitere  Ruhe  des  Ge- 
müts sprach  wieder  aus  seinen  Augen.  Ruhelos,  voll  Hast  und  Eile, 
voll  Ungeduld  die  immer  neu  seiner  Gedankenwelt  entspringenden  Ziele 


E.  Zangemeister  151 

kaum  erwartend,  war  er  doch  voll  Überlegung  und  von  starkem  Willen. 
Ein  Gelehrter  von  umfassendem  Wissen,  seines  Wertes  wohl  bewusst 
und  mit  Becht  bewusst,  mitteilsam,  wenn  man  sein  Wissen  suchte, 
niemals  damit  prunkend  und  dabei  wieder  erfüllt  von  einer  Bescheiden  - 
heit,  die  oft  schüchtern  und  verlegen  gespendetes  Lob  entgegen  nahm. 
Ein  Mann,  der  Tage  und  Stunden  der  Gegenwart  vergessend,  im  Bann- 
kreise der  Arbeit  alle  die  Eigentümlichkeiten  eines  der  Welt  entrückten 
Gelehrten  teilen  konnte  und  doch  wieder  mitten  im  Leben  stehend  Freude 
am  Leben  hatte,  dem  er  in  allen  seinen  Begungen  Verständnis  entgegen- 
brachte. Darmtf  ein  Mann,  wie  wenige  zum  Verkehr  mit  Menschen, 
für  die  Gesellschaft  geschaffen,  dort  gerne  gesehen  und  gesucht,  er 
das  lebensvollste  und  belebendste  Element  in  ihr.  Darum  verstand  er 
auch  in  seinem  eigenen  Hause  das  gesellige  Leben  so  geistig  anregend  zu 
gestalten.  Da  sass  er  so  oft  unter  uns,  auch  über  gelehrte  Fragen 
leicht  hinplaudernd  und  wusste  auch  im  Gespräche  über  die  alltäglichen 
Dinge  mit  heiteren,  launigen  Geschichten  aus  alter  und  neuer  Zeit  die 
Symposien  zu  würzen.  Gerne  war  er  fröhlich  mit  den  Fröhlichen. 
Sein  Haus  am  Berg  hinter  schattigen  Bäumen  verborgen,  das  ihm  und 
uns  die  um  ihn  treu  besorgte  Frau  so  behaglich  gestaltete,  war  der 
Mittelpunkt  edelster  Geselligkeit,  erfüllt  von  den  Klängen  musikalischen 
Lebens.  Auch  in  der  äusseren  Erscheinung  war  Karl  Zangemeister  der 
kräftigste  Ausdruck  des  Lebens,  stark  an  Leib  und  Seele.  Man  hätte 
glauben  sollen,  der  Tod  habe  kein  Becht  an  ihm.  Und  doch  ging  er 
von  uns,  so  mitten  in  neuen  Aufgaben  und  Plänen,  die  seinen  ruhelosen 
Geist  noch  lebhaft  beschäftigten,  als  die  Hand  des  Todes  die  seinige 
schon  gefasst  hielt  und  unter  starkem  Bingen  ihn  hinwegzuziehen  suchte, 
von  dem  was  sein  Eigenstes  war  —  vom  Leben. 

Doch  der  Tod  trennt  nicht,  er  bindet  auch,  oft  fester  als  das  Leben. 
Mehr  als  sonst  im  Alltagsleben,  da  wir  nicht  Zeit  haben  über  unsere 
Gefühle  Bechenschaft  zu  geben,  da  unser  Urteil  über  Menschen  so  oft 
über  dem  Kleinen  das  Grosse,  über  den  Schwächen  die  Stärke  vergisst, 
kommt  uns  heute  zum  Bewusstsein,  was  wir  an  ihm  besessen  haben. 
Bei  aller  Trennung  fühlen  wir  jene  erhebende  Kraft,  die  im  Andenken 
ruht,  das  uns  mit  unsichtbaren  Fäden  hinüberzieht  vom  Jenseits  zum 
Diesseits,  vom  Tod  zum  Leben,  von  Sterblichkeit  zu  Unsterblichkeit. 

Gegenüber  von  St.  Peter,  dem  alten  Mausoleum  Heidelberger  Ge- 
lehrten, erhebt  sich  jetzt,  kaum  den  kraftvollen  Fundamenten  entwach- 
sen, die  neue  Heidelberger  Bibliothek,  nocli  unvollendet,  wie  so  Manches 
von   den  Lebenszielen  dieses  Mannes.    Sein  höchstes  Ziel  aber  seit  den 


152  J-  Wille:  K.  Zangemeister 

Tagen,  da  er  zu  uns  kam,  war  dies  neue  Haus.  Der  Künstler,  der  es 
schmückt,  soll  den  historischen  Traditionen  des  Heidelberger  Bodens 
entsprechend  auch  der  Männer  gedenken,  deren  Namen  mit  der  Ge- 
schichte der  Heidelberger  Büchersammlungen  alter  und  neuer  Zeit  ver- 
bunden sind.  In  zweien  ihrer  Leiter  kommt  diese  Geschichte  zum  Aus- 
druck: in  Janus  Gruter,  dem  Epigraphiker,  der  die  alte  Palatina  hin- 
wegziehen sah  und  in  Karl  Zangemeister,  dem  Epigraphiker,  der  uns  die 
neue  Bibliothek  umgeschaffen  hat. 

Möge  sein  Andenken  dem  neuen  Hause  die  Weihe  geben. 

Er  aber,  der  selbst  das  Leben  war,  bleibe  auch  in  uns  lebendig ! 

Ehre  seinem  Gedächtnis! 


Maistre  Fran^ois  Yillou. 

Von 

F.  Ed.  Schneegans. 


Die  Strahlen  der  italienischen  Renaissance  überfluteten  Frankreich 
am  Ende  des  15.  Jahrhunderts  mit  solchem  Glänze,  dass  die  humanistisch 
Gebildeten  wie  Rabelais  aus  der  Nacht  zum  Lichte  zu  erwachen  glaubten : 
«le  temps  estoyt  encores  tenebreux  et  sentant  Tinfelicite  et  calamite  des 
Gothz  qui  avoyent  mis  a  destruction  toute  bonne  literature/  (Pantagruel 
Kap.  VIII.)  Immer  dunkelere  Schatten  der  Vergessenheit  verhüllten  den 
Augen  der  Nachwelt  die  Jahrhunderte  des  Mittelalters,  in  denen  doch 
das  Werk  der  Renaissance  mühevoll  vorbereitet  worden  war,  und  nur 
wenige  Schriftsteller  und  die  Erinnerung  an  wenige  Dichtungen  des 
Mittelalters  lebten  im  Andenken  der  folgenden  Jahrhunderte  wahrhaft 
lebendig  fort.  Während  von  gefeierten  Dichtern  des  ausgehenden  Mittel- 
alters wie  Christine  de  Pisan,  Alain  Chartier  oder  dem  Lyriker  Froissart 
nicht  viel  mehr  als  der  Name  erhalten  blieb,  war  das  Andenken  des 
„povre  Villen*,  des  „povre  petit  escollier"  aus  dem  15.  Jahrhundert  so 
frisch  und  lebendig,  dass  selbst  Boileau  ihm  einen  Ehrenplatz  in  seinem 
Parnass  einräumt  und,  frtilich  mit  Verkennung  seines  Wesens,  ihn  als 
einen  Neuerer  und  Begründer  der  kunstvollen  Dichtung  .in  jenen  rauhen 
Jahrhunderten*  begrüsste  (Art  poetique  I,  117  v.)^).  1533  hatte  Clement 
Marot  die  Werke  Villon's  auf  Betreiben  Franz  I.  herausgegeben.  In 
dem  Vorwort ')  erkennt  er  Villon  als  seinen  Lehrmeister  an  und  erklärt, 
dass  Villon  „vor  allen  Dichtern  seiner  Zeit  den  Lorbeerkranz  davonge- 
tragen hätte*"    (.  .  .  eust  empörte  le  chapeau  de  laurier  devant  tous  les 

1)  Dazu  bemerkt  Ste.  Garde,  ein  Gegner  Boileau's  und  Verfasser  einer  ^Defense 
des  beaux  esprits  de  ce  temps  contre  un  satirique*"  1675,  mit  Entrüstung  ^Voilä 
ane  belle  marque  de  jugement  que  de  louer  un  voleur,  tel  que  Villon,  condamne 
(encore  par  gräce)  k  ^tre  banni  !**  (Oeuvres  de  Boileau  ed.  Berriat-Saint-Priz  Bd.  II.) 

2)  Abgedmckt  in  Oeuvres  de  Villon  ed.  Longnon  p.  CX  ff. 


154  F.  Ed.  Schneegans 

poetes  de  son  temps),  wenn  er  an  Fürstenhöfen  gelebt  bätte^.  Seine 
Werke  sind  so  voll  von  „tausend  scbönen  Farben^,  dass  sie,  meint 
Marot,  auch  in  Zukunft  fortleben  werden.  Freilich  sollte  auch  Villon 
dem  Übereifer  der  Dichter  der  Pleiade  zum  Opfer  fallen.  Du  Bellay 
erwähnt  ihn  nicht  in  seiner  ^Deffense  et  illustration  de  la  langue  fran- 
^oyse*"  und  verwirft  die  von  Villon  gepflegten  mittelalterlichen  Gattungen 
als  ,episseries  qui  corrumpent  le  goust  de  nostre  langue".  1542  er- 
scheint die  letzte  Ausgabe  von  Villon's  Werken. 

Villon  hatte  aber  stille  Verehrer  unter  den  Altertumsforschern  wie 
Fauchet  und  den  Dichtern,  die  unabhängig  von  dem  klassischen  Ideal 
im  17.  Jahrhundert  die  «poesie  gauloise^  pflegten.  So  erhält  sich  das 
Andenken  Villon's  bis  zur  Zeit  der  Romantiker,  des  Wiederauflebens 
des  Interesses  am  Mittelalter.  Die  Romantiker  haben  ihn  wieder  zu 
Ehren  gebracht.  Theophile  Gautier  setzte  ihm  ein  Denkmal  in  seinen 
nGrotesques*^  (1832).  Die  wissenschaftliche  Forschung  nahm  die  vor 
drei  Jahrhunderten  von  Marot  begonnene  kritische  Herausgabe  und  Er- 
klärung der  Werke  Villon's  wieder  auf.*)  Einige  Gedichte,  in  denen 
Villon  die  geheimsten  Falten  seines  gequälten  Herzens  erschlossen,  sein 
körperliches  und  seelisches  Elend  mit  ergreifender,  oft  schauerlicher 
Wahrheit  geschildert  hat,  finden  einen  Wiederhall  bei  den  Lesern  auch 
zu  einer  Zeit,  wo  die  zahlreichen  Anspielungen  auf  Zeitgenossen  und 
zeitgenössische  Verhältnisse,  an  denen  seine  Werke  besonders  reich  sind, 
längst  nur  mit  Mühe  verstanden  werden. 

Das  Wenige,  was  wir  über  Villon's  Leben  wissen,  entnehmen  wir 
seinen  Werken,  den  Lais  (Vermächtnisse,  gewöhnlich  Petit  Testament 
genannt),  dem  Testament  (Grant  Testament)  und  lyrischen  Gedichten. 
Manch  dunkele  Punkte  hat  erst  die  neuere  Forschung  erhellt:  könig- 
liche Gnadenbriefe,  Gerichts-  und  Parlamentsakten  lassen  uns  in  die 
Tiefe  des  Elends  blicken,  in  dem  Villon  sich  bewegt  hat  und  beleuchten 
unheimlich  das  Bekenntnis  des  Dichters,  das  wir  am  Anfang  des  Grant 
Testament  lesen : 

En  l'an  de  mon  trentiesme  aage-) 
Que  toutes  mes  hontes  j'euz  beues  .  .  . 

1)  Beste  Ausgabe  der  Werke  Villon's:  Oeuvres  completes  de  Fran^ois  Villon 
par  Aug.  LoDgnoD.  Paris,  Lemerre  1892.  —  G.  Paris,  Fran^-ois  Villon  (Les  grands 
ecrivains  franc^ais).  Paris,  Hachette  1901  (neuere  Litteratur  das.  S.  189);  ders.  Vil- 
loniana  Roroania  XXXI  p.  357  ff.  (sprachliche  und  metrische  Beobachtungen.  Text- 
kritische Bemerkungen);  G.  Gröber,  Grundriss  der  roman.  Philologie.  Französische 
Litteratur  S.  1161  f. 

2)  G.  Paris  (Romania  XXX  8.  362)  liest  «en  l'an  trentiesme  de  mon  aage**, 
weil  Villon  sonst  nie  e,  a  in  Hiat  als  Silbe  zählt. 


Maistre  Fran(;ois  Villon  155 

Der  Dichter  ist  1431  in  Paris  geboren.  Sein  Vater,  den  er  früh 
verloren  haben  muss,  hatte  zwei  Zunamen  «des  Loges^  und  „Montcorbier*^, 
die  wir  aus  den  Akten  der  «Facult^  des  arts*^  der  Pariser  Universität 
und  zwei  Gnadenbriefen  von  1455  und  1456  kennen  lernen.  In  der  einen 
Urkunde  wird  der  Dichter  als  „maistre  Fran9ois  des  Loges,  autrement 
dit  de  Villon'  bezeichnet.')  Der  Name  „de  Villon **  kam  ihm  von  einem 
Oheim  Guillaume  de  Villon,  Kanonikus  der  Stiftskirche  von  St.  Benoit 
le  Bestourne,  bei  dem  er  wohnte  und  dem  er  als  seinem  »plus  que 
pere^  ein  treues  Andenken  bewahrt  hat.  Sein  Vater,  sein  Qrossvater 
Orace  waren  arm : 

«Sar  les  tombeanlx  de  mes  ancestres 

Les  ames  desquelz  Dieu  embrasse, 

On  D'y  voit  co^ironnes  ne  ceptres."  (Gr.  Test.  Str.  XXXV.) 

Seine  Mutter,  die  1461,  als  Villon  sein  Testament  verfasste,  noch 
lebte,  schildert  er  als  „pauvrette  et  ancienne^  in  einem  Gebet  an  die 
Jungfrau  Maria  von  wunderbarer  Einfalt  und  Innigkeit,  das  er  ihr  in 
seinem  Testament  vermacht: 

.,Feinme  ie  suis  pourette  et  ancienne 

Qui  riens  ne  s^ay;  oncques  lettres  ne  leuz; 

Au  moustier')  voy  dont  suis  paroissienno 

Paradis  peint  oü  sont  barpes  et  luz, 

Et  ung  enfer  oü  dampnez  sont  boulluz : 

L'ung  me  fait  paour,  l'autre  ioye  et  liesse**  .  . .    (Gr.  T.  v.  893—8.) 

Villon  wohnte  bei  seinem  Oheim  in  unmittelbarer  Nähe  der  Sorbonne, 
deren  Glocke  er  von  seinem  Zimmer  aus  hörte, ^)  mitten  im  Quartier  latin, 
wo  die  verschiedenen  Hörsäle  und  Lehranstalten  der  Universität  zerstreut 
waren.  Er  trat  in  die  Faculte  des  arts  ein,  welche  die  Vorstufe  zu  den  übrigen 
Facultäten,  besonders  zur  theologischen,  bildete.  Fran9ois  de  Montcorbier 
wurde  1449  baccalaureus,  1452  magister.  Er  scheint  nach  einiger  Zeit 
ernsteren  Studiums,  dessen  Spuren  sich  in  seinen  Werken  wiederfinden,  ^) 
bald  in  eine  recht  lose  Gesellschaft  geraten  zu  sein.  Er  hat  später  mit 
Wehmut  und  Beue  an  seine  Jeunesse  folle**  zurückgedacht  und  ver- 
gleicht sein  selbstverschuldetes  Elend  mit  dem  beschaulichen  und  ge- 
nussreichen Dasein  mancher  Studiengenossen,   die  als  Mönche  wohlver- 

1)  Aug.  Longnon,  l'.tude  biograpbique  sur  Fr.  Villon.  Paris  1877  S.  12  f.  u.  133. 

2)  Die  Kirche. 

3)  «Ce  soir,  seulet,  estant  en  bonne  (in  guter  Stimmung)  —  Dictant  ces  laiz 
et  descripvant  —  J'oi'  la  clocbe  de  Serbonne,  —  Qui  tousiours  k  neuf  beures  sonne 
—  Le  Salut  que  l'Ange  predit"  .  .  .  (Petit  Test.  Str.  XXXV.) 

4)  G.  Paris,  Fr.  Villon  S.  43—47. 


156  F.  Ed.  Schneegans 

sorgt  in  Klöstern  leben  und  sich's  gut  sein  lassen,  während  Andere,  wie 
er  selbst,  betteln  und  „pain  ne  voient  qu*aux  fenestres*.  Die  Zeit  war 
zu  ernsterem  Studium  wenig  geeignet.  Infolge  des  endlosen  Krieges 
mit  England  und  innerer  Zwistigkeiten  herrschte  furchtbare  Not  und 
Verwilderung  der  Sitten  im  Lande,  die  Alain  Chartier  die  kraftvollen, 
wenn  auch  rhetorisch  gefärbten  Klagen  einflösst,  durch  die  Desesperance, 
eine  Figur  des  allegorischen  Tractates  ^Consolation  des  trois  Vertus*", 
den  Dichter  zum  Selbstmord  zu  treiben  versucht :  ^La  chevalerie  de  ton 
pays  est  perie  et  morte,  les  estudes  sont  dissipees,  le  Clergie  est  dispers 
et  vague  et  opprime  et  la  regle  et  moderation  de  honnestete  ecclesiastique 
est  tourn^e  avecques  le  temps  en  desordonnance  et  dissolution.  Les 
citoiens  sont  despourveuz  d*esperance  et  descognoissans  de  seigneurie 
pnr  Toscurte  de  ceste  trouble  nuee.  Ordre  est  tournee  en  confusion  et 
Loy  en  desmesuree  violence.  Juste  seigneurie  et  honneur  deschiet, 
obeissance  ennuie,  patience  fault,  tout  tombe  et  fond  en  abisme  de  ruine 
et  de  desolation.'  ^)  In  der  Umgegend  von  Paris  trieben  sich  wilde 
Banden  herum,  so  dass  die  Ile  de  France  „estoit  toutte  peuplee  de  gens 
pires  qiie  ne  furent  oncques  Sarrazins*  (Journal  d'un  Bourgeois  de  Paris 
a.  1440).  Das  üniversitätsviertel  war  der  Tummelplatz  einer  unruhigen, 
bunt  zusammengewürfelten  Boheme  und  die  «tavernes"  des  Quartier 
latin  der  Versammlungsort  von  Studenten,  Dirnen,  sittenlosen  Priestern, 
zu  denen  sich  Diebe  und  Verbrecher  gesellten.  Häufige  Konflikte  zwischen 
der  Universität  und  der  Regierung,  Unterbrechungen  der  Vorlesungen 
und  Predigten,  durch  die  die  Universität  die  weltliche  Macht  zur  Wah- 
rung ihrer  Privilegien  zwang,  führten  zu  offenem  Aufruhr  unter  den 
Studenten.  Gerade  die  Jahre  1451—53  waren  besonders  stürmisch,  reich 
an  tragi-komischen  Ereignissen,  die  wir  aus  Gerichtsverhandlungen  vom 
Jahre  1453*)  in  ihren  Einzelheiten  kennen.  Wir  erfahren,  dass  die 
Studenten,  die  mit  der  Polizei  in  offenem  Streite  lagen,  sich  grober 
Ruhestörungen  schuldig  machten  und  die  Polizei  wegen  willkürlicher 
Verhaftungen,  Beleidigung  des  Rektors  der  Universität  und  Gewaltthätig- 
keit  von  der  Universität  verklagt  wurde.  Die  Studenten  hatten  sich 
eines  Ecksteins,  der  vor  einem  wohlhabenden  Bürgershaus  stand  und 
vom  Volkswitz  als  Pet-au-Diable  bezeichnet  wurde,  bemächtigt  und  ihn 
in  ihrem  Quartier  aufgepflanzt.  Der  Polizei,  die  den  Stein  in  die  Gite 
fortgeschaflrt  hatte,   wurde  er  gewaltsam  entrissen  und  auf  dem  ,Mont 

1)  Oeuvres   de  Maistre   Alain   Chartier   par  Andr^   Du  Chesne.    Paris  1617 
S.  275  f. 

2)  Ausg.  von  LoDgoon  Einleit.  S.  XXXV— LIII. 


Maistre  Fran^ois  Villon  157 

Saint-Hilaire*'  wieder  aufgestellt.  Ein  anderer  Stein  wurde  auf  den 
Mont  Sainte-Genevieve  geschafTt,  „a  grosses  bandes  de  fer  et  par  plastre^ 
festgenaacht  und  allnächtlich  von  Tanzenden  umschwärmt  „a  fleutes  et  a 
bedons*';  die  Voräbergehenden  und  besonders  die  «officiers  du  Boy*^ 
wurden  gezwungen  die  Wahrung  der  Privilegien  des  Steines,  der  mit 
dem  blumenbekränzten  Pet-au-Diable  das  Palladium  der  studentischen 
Freiheiten  geworden  war,  feierlich  zu  schwören.  Als  die  Polizei  diesem 
Unfug  ein  Ende  machen  wollte,  fand  sie  den  einen  Stein  mit  einem 
Rosmarinkranz  (cbapeau  de  rosmarin)  geschmückt.  Noch  andere  Ver- 
gehen wurden  den  ^escoliers*'  zur  Last  gelegt.  Nicht  allein  zogen  sie 
Nachts  durch  die  Strassen  und  schreckten  die  Bürger  aus  dem  Schlafe 
auf  durch  den  Buf  „tuez,  tuez* ;  sie  rissen  Hacken  von  den  Fleischer- 
laden und  die  kunstvollen  Aushängeschilder  und  Wahrzeichen  bürger- 
licher Häuser,  die  durch  ihre  seltsamen  Namen  und  Darstellungen  ihre 
Phantasie  anregten:  die  „Truie  qui  file"  wurde  mit  dem  ^Bären*^  in 
Gegenwart  des  „Hirschen*^  vermählt  und  der  « Papagei*  dem  Paar  als 
Hochzeitsgeschenk  verehrt.  Alle  diese  «choses  qui  sont  detestables* 
fahrten  zu  Konflikten  mit  der  Polizei.  Vierzig  Studenten  wurden  ver- 
haftet, vom  Bektor  der  Universität  feierlich  zurückgefordert  und  im 
Triumph  in  das  Universitätsviertel  verbracht,  wobei  der  Zug  der  aka- 
demischen Würdenträger  von  den  Polizeibeamten  angegriffen  und  aus- 
einandergetrieben wurde.  Diese  stürmischen  Aufzüge,  die  zu  einer  neuen 
Unterbrechung  des  akademischen  Unterrichts  fahrten,  mussten  die  Phan- 
tasie des  Magister  Villon  anregen ;  in  seinem  Testament  erwähnt  er  einen 
leider  verlorenen,  von  ihm  verfassten  «Bomant  du  Pet  au  Diablo",  den 
sein  Freund  Guy  Tabarie  «grossa*^);  ,,par  cayers  est  soubz  une  table. 

—  Combien  qu'il  soit  rudement  fait,  —  La  matiere  est  si  tres  notable, 

—  Qu*elle  amende  tout  le  mesfait.* ')  Diese  Ereignisse  scheinen  den 
ohnehin  zu  Müssiggang  hinneigenden  escolier  vom  Studium  vollends  ab- 
gelenkt zu  haben. 

Übersehen  wir  die  Namen  der  „Erben''  des  Dichters,  unter  die  er 
in  seinen  beiden  Testamenten  in  harmlosem  Scherz  oder  mit  beissendem 
Witz  sein  Gut  verteilt,  so  finden  wir  neben  hohen  Gerichtsbeamten, 
würdigen  Domherrn,  Kaufleuten,  die  Schar  der  ,,enfans  perduz'',  die 
„gracieux  gallans  .  .  .  si  bien  chantans,  si  bien  parlans  —  Si  plaisans 
en  faiz  et  an  diz*,  Schenkwirte^  Dirnen,  Abenteuerer  und  Diebe,  die  am 


1)  Ins  Reine  schreiben. 

2)  Der  gewichtige  Inhalt  wiegt  die  Fehler  auf. 


1 58  ^-  ^^'  Schneegans 

Galgen  endeten.  Mag  er  in  die  vornehmeren  Kreise  von  Paris  durch 
seinen  Oheim,  den  würdigen  Domherrn,  eingeführt  worden  sein,  seine 
Neigungen  zogen  ihn  zur  Boheme  hin,  deren  Dichter  er  wurde.  Schon 
am  Ende  des  15.  Jahrhunderts  wird  er  wegen  seiner  Erfindungsgabe  und 
Unternehmungslust  in  einem  Gedichte  „Les  Repues  franches*  ^)  gefeiert. 
Der  „hon  maistre  rran9ois  Villon'^,  um  dessen  Namen  sich  ein  Kranz  von 
Legenden  geschlungen  hatte,  findet  hier  Mittel  und  Wege,  um  auf  Kosten 
von  Wirten  und  Händlern  ohne  Gold  und  Silber  seine  hungrigen  Freunde 
zu  sättigen. 

1455  trat  ein  Wendepunkt  in  Yillon's  Leben  ein.  Aus  zwei  könig- 
lichen Gnadenbriefen  *)  erfahren  wir,  dass  er  1455  am  Tage  von  Frohn- 
leichnam  von  einem  Priester  angegriffen  wurde,  wie  er  mit  einem  Freunde 
und  einer  Dirne  auf  einer  Bank  vor  der  seiner  Wohnung  nahen  Kirche 
St.  Benoit  le  Bestourne  sass.  Im  Streite  wurde  er  verwundet,  versetzte 
dem  Gegner  einen  Dolchstich  und  tötete  ihn  durch  einen  Steinwurf. 
Dann  verliess  Villen  Paris,  trieb  sich  in  der  Umgegend  umher  und  er- 
hielt, offenbar  auf  Betreiben  seines  Oheims  des  Domherrn,  zwei  Gnaden- 
briefe, die  ihm  erlaubten  nach  Paris  zurückzukehren.  Eine  unglückliche 
Liebe,  deren  „tres  amoureuse  prison'' ')  er  zu  entfliehen  suchte,  wohl 
eher  die  Hoffnung  bei  einem  Verwandten  seiner  Mutter  Unterstützung 
zu  finden,  trieben  ihn  aus  Paris  nach  Angers.  Vorher  verfasste  er  seine 
erste  grössere  Dichtung  die  ^Lais*  (Vermächtnisse,  sogen.  Petit  Testa- 
ment). Da  trat  eine  neue  Versuchung  an  ihn  heran,  der  er  erlag:  zwei 
Abenteurer  der  schlimmsten  Art,  Colin  du  Cayeux,  und  der  Sohn  eines 
Edelmanns,  Regnier  de  Montigny,  der  in  den  Akten  einer  Gerichtsver- 
handlung als  «pipeur,  goliardus  et  finaliter  cecidit  in  profundum  ma- 
lorum*^)  bezeichnet  wird,  zusammen  mit  einqm  picardischen  Priester 
und  dem  Einbrecher  (magister  crochetorum)  Petit-Jean,  bewogen  Villen 
mit  ihnen  die  Gelder  der  theologischen  Fakultät,  die  im  College  de 
Navarre  sich  befanden,  zu  rauben.^)  Kaum  war  der  verbrecherische 
Anschlag  gelungen,  als  Villen  einen  neuen  Raub  vorbereitete.  Er  sollte 
in  Angers  einen  reichen  Domherrn  aufsuchen  und  einen  Anschlag  gegen 
ihn  ins  Werk  setzen.   Villen  gab  jedoch  den  Plan  auf,  kehrte  aber  nicht 


1 )  FrQher  iHlschlich  Villon  zugeschrieben.    S.  Edit.  Longnon  LIII — LIX. 

2)  Edit.  LoDgnon  LIX— LXIII  und  Longnon,  lOtude  Biogr  sur  Kran^.  Villen 
S.  133—9. 

3)  Petit  Testam.  Str.  II— VI,  Str.  X. 

4)  LongnoD,  J^tude  biogr.  S.  151. 

5)  Edit.  Longnon  LXV— LXXI. 


Maistre  Fran^ois  Villon  159 

nach  Paris  zurück,  wohl  aus  Furcht  vor  den  Folgen  des  ersten  Dieb- 
stahls. 1457  finden  wir  ihn  am  Hofe  des  kunstliebenden  Charles  d'Orleans. 
Seine  Gegenwart  im  Dichterkreise  des  Herzogs,  so  befremdlich  sie  uns 
nach  den  eben  geschilderten  Ereignissen  sein  mag,  ist  bezeugt  durch 
eine  Ballade  Villon's,  die  in  einer  Handschrift  der  herzoglichen  Bibliothek 
erhalten  ist  und  einer  Laune  des  Fürsten  ihre  Entstehung  verdankt. 
Karl  hatte  in  einer  Art  dichterischen  Turniers,  an  dem  er  sich  selbst 
beteiligte,  seinen  Hofdichtern  die  Abfassung  von  Balladen  über  ein  vor- 
geschriebenes Thema  auferlegt:  „ie  meurs  de  seuf  aupr^s  de  la  fon- 
taine'',  so  fängt  diese  Ballade  an,  in  der  der  Dichter  zusammenhanglos 
Antithesen  häuft,  eine  Wortspielerei,  die  das  ausgehende  Mittelalter  von 
der  höfischen  Lyrik  früherer  Zeit  geerbt  hatte.  In  ebenfalls  konven- 
tionellen Formen  bewegen  sich  zwei  Balladen,  in  denen  der  ^povre 
escolier  Fran9ois^  die  Geburt  der  Tochter  Karls,  Maria  von  Orleans, 
feiert  und  zugleich  die  Gnade  des  Fürsten  durch  die  Vermittelung  der 
neugeborenen  Prinzessin  anfleht.  Die  geschmacklosen  Huldigungen  blieben 
aber  erfolglos.  Einige  Spuren  von  Wanderungen  durch  Mittelfrankreich 
bis  Moulins,  dem  Herrschersitz  des  Herzogs  Johann  von  Bourbon,  haben 
sich  in  den  Gedichten  Villon's  erhalten.  ^)  Von  Paris  bis  Boussillon  (in 
Dauphine)  giebt  es  ^weder  Busch  noch  Gesträuch',  an  dem  nicht  ,,ein 
Fetzen  seines  Kittels  hängt*.  (Gr.  Testam.  v.  200  7flF.)  Auf  diesen  Wan- 
derungen lernte  Villon  Mitglieder  eines  weitverzweigten,  besonders  in 
Ostfrankreich  «thätigen*  Geheimbundes  von  Gaunern,  Dieben,  den  soge- 
nannten «coquillards'^  kennen.  Diese  wohlorganisierte  Vereinigung,  die 
von  einem  Y,roi  de  la  coquille*  geleitet  war,  ist  ims  aus  gerichtlichen 
Verhandlungen,  die  1455  in  Dijon  stattfanden,  näher  bekannt.*)  Die 
Enthüllungen  eines  Mitgliedes  der  Coquille  sind  in  das  Protokoll  auf- 
genommen worden  und  geben  uns  wertvolle  Aufschlüsse  über  den  Jargon 
der  coquillards,  eine  seltsame  Geheimsprache,  reich  an  malerischen  Wen- 
dungen, die  in  das  jammervolle  Dasein  dieser  Elenden  blicken  lässt,  für 
die  die  Erde  „la  dure*,  der  Tag  „la  torture**,  die  Hand  „la  serre*^ 
heissen. 

Ein  uns  unbekanntes  Vergehen,  wahrscheinlich  ein  neuer  Diebstahl, 
liess  Villon  1461  in  Meun-sur-Loire  verhaften  und  als  Kleriker  und 
Gefangenen  des  Bischofs  Thibaud  d'Aussigny  einschliessen.  Aus  dem 
Dunkel  des  Kerkers  schickt  er  an  seine  Freunde  die  Ballade  „Aiez  piti^. 


1)  S.  G.  Paria,  ViUon  S.  60  f. 

2)  S.  Marcel  Scbwob,   le  Jargon  des  Coquillards  en  1455  (Mem.  de  la  Soc.  de 
LingQist.  de  Paris,  tome  VII). 

NEUE  HEIDBLB.  JAHRBUECHER  XI.  11 


160  F.  Ed.  Schneegaus 

aiez  pitie  de  iDoy*"  mit  dem  wehmütigen  Refrain  ,le  lesserez  la,  le 
povre  Villen?"  (ed.  Longnon  S.  Ulf.).  Hier  verfasste  er  ein  ergreifen- 
des Zwiegespräch  in  Balladenform  zwischen  seinem  Leib  und  seinem 
Herzen,  das  dem  leichtsinnigen  Dichter  seine  Vergangenheit  vorwirft 
und  ängstliche  Mahnungen  zuruft,  die  er  mit  dem  Hinweis  auf  seine 
Jugend,  das  Schicksal  von  sich  weist: 

—  JDont  Yient  ce  mal?  —  II  vient  de  mon  maleur. 
Quant  Saturne  me  feist  mon  fardelet') 
Ces  maulx  y  meist,  ie  le  croy**  .  .  . 

(Debat  du  euer  et  du  corps  de  Villon  v.  67—69,  S.  115.) 

Im  Gefängnis  zu  Meun  erreichte  Villon  unerwartet  ein  Gnadenerlass 
Ludwigs  XI.,  dem  er  in  überschwenglichen  Worten  dankt  und  unter 
anderm  wänscht  „vivre  autant  que  Mathusale  —  et  douze  beaux  enfans, 
tous  masles  —  voir  .  .  .  conceuz  en  ventre  nupcial .  .  .*^  (Gr.  Testam. 
Str.  VIII,  IX). 

Nach  einem  ersten  kurzen  Aufenthalt  in  Paris,  wo  er  sich  unsicher 
fühlte,  verfasste  Villon  sein  Hauptwerk,  le  Testament  (sogen.  Grant 
Testament).  1462  treffen  wir  ihn  wieder  in  Paris,  wo  er  in  die  Bande 
seiner  gefährlichen  Freunde  zurückfällt.  Er  verfasst  für  sie  in  dem 
Jargon  der  Goquillards  sieben  Balladen,  die  in  einer  für  uns  schwer  ver- 
ständlichen Sprache  die  Genossen  warnt  vor  „ces  coffres  massiz*'  (Kerker) 
und  dem  Galgen  „que  le  grand  Can  ne  vous  face  essorer^,  „qu'au 
mariage  ne  soiez  sur  le  banc  —  Plus  qu*un  sac  de  plastre  n'est  blanc* ') 
Noch  einmal  gerät  Villon  ins  Gefängnis  wegen  eines  Diebstahls,  dann 
infolge  einer  Civilklage  der  theologischen  Fakultät,  welche  die  Aus- 
lieferung der  ihr  einst  geraubten  Summe  von  120  Goldthalern  verlangte. 
Seinen  Freunden  verdankte  Villon  zwar  die  Freiheit,  gleich  darauf  aber 
wurde  er  nach  einem  nächtlichen  Gelage  in  eine  Schlägerei  verwickelt 
und  verhaftet.')  Jetzt  schien  er- dem  Tode  verfallen  zu  sein.  In  der 
schauerlichen  Ballade  des  Pendus  schildert  er  sich  bereits  als  am  Galgen 
hängend  und  bittet  die  Vorübergehenden  um  Mitleid.  Aber  das  Parla- 
ment nahm  das  Todesurteil  zurück  und  verbannte  Villon  auf  10  Jahre 
aus  Paris. 

Von  da  an  verlieren  wir  die  Spur  Villon's.  Eine  Anekdote  in  Ba- 
belais'  Pantagruel  lässt  ihn  in  St.  Maixent  (Poitou)  eine  Mysterien- 


1)  Last,  Päckchen. 

2)  „Dass  die  Sonne  (grand  Can,  von  Khan)  euch  nicht  austrockne**.    «Dass  ihr 
nicht  beim  Henker  auf  dem  Schafott  (banc)  weisser  seid  als  ein  Sack  voll  Gips**. 

3)  S.  G.  Paris,  Villon  p.  68  f. 


Maistre  Fran^ois  ViÜcra  161 

aufführung  leiten  und  an  einem  unglückseligen  Mönch,  der  sich  weigerte, 
priesterliche  Gewänder  für  die  mitwirkenden  Schauspieler  zu  liefern, 
grausame  Rache  nehmen.  Mit  der  Babelais  eigenen  Kaltblütigkeit  und 
Objektivität  wird  erzählt,  dass  Villon  auf  den  gemächlich  auf  seinem 
Maultier  dahinreitenden  Mönch  die  Schar  der  als  Teufel  vermummten 
Schauspieler  hetzte,  wobei  der  unglückliche  von  dem  scheu  gewordenen 
Tiere  zu  Tode  geschleift  wurde. 

In  diesem  trostlosen  Dasein,  dessen  jammervolle  Einzelheiten  den 
Hintergrund  zu  Villon's  Dichtung  bilden  und  als  Zeitbilder  von  Inter- 
esse sind,  ist  der  Dichter  seelisch  nicht  untergegangen.  Zu  hohem  Ge- 
dankenflug ist  er  zwar  wenig  veranlagt  und  sein  Lebenstraum  ist  der 
eines  Darbenden,  unstät  Umherirrenden,  dem  ein  genussreiches  Dasein, 
stille  Behaglichkeit,  die  ihm  stets  versagt  war,  als  die  höchsten  Güter 
des  Lebens  erscheinen.  Von  sinnlichen  Trieben  hin  und  hergezerrt,  den 
Lockungen  des  Lasters  unterliegend,  sehen  wir  ihn  willenlos  von  einer 
Niederlage  seines  besseren  Ichs  zur  anderen  fortgerissen.  Mit  der  Be- 
weglichkeit impulsiver,  sinnlicher  und  dabei  willensschwacher  Naturen, 
wechseln  in  ihm  die  Stimmungen.  Sein  Leben  ist  ein  Bingen  zwischen 
dem  Geist  und  dem  Fleisch,  aber  freilich  ein  Bingen  ohne  tragische 
Grösse.  Er  fühlte  selbst  diesen  Zwiespalt  seines  Wesens  und  war  sich 
selbst  ein  Bätsei  «ie  congnois  tout,  fors  que  moy-mesmes^  ist  der  Be- 
frain  einer  Ballade  (Poesies  diverses,  ed.  Longnon  p.  136  f.).  Sein  Herz 
ist  weicheren  Begungen  und  zarten  Empfindungen  zugänglich.  Seines 
Oheims  und  Beschützers,  Guillaume  de  Villon,  gedenkt  er  in  rührenden 
Worten  der  Dankbarkeit;  er  nennt  ihn  seinen  „plus  que  pere  —  qui 
este  ra'a  plus  doulx  que  mere**  (Gr.  Test.  Str.  LXXVII).  Für  seine 
»arme  Mutter*^,  deren  kindliche  Frömmigkeit  er  innig  und  schlicht  zu 
schildern  weiss,  schreibt  er  ein  Gebet  an  die  Jungfrau  Maria,  die  ein- 
zige Zuflucht  für  ihn  und  die  Mutter,  „la  povre  femme^ 

Qui  pour  moy  ot  douleur  amere, 

Dieu  le  seet,  et  mainte  tristesse.    (Gr.  Test.  Str.  LXXIX.) 

Neben  den  abstossenden  Gestalten  der  «grosse  Margot",  der  „Belle 
Heaulmiere**  und  anderer  Dirnen,  durchzieht  seine  Werke  die  Erinne- 
rung an  eine  reinere,  innigere  Liebe,  die  er  nicht  vergessen  kann.  An- 
mutig schildert  er  das  trauliche  Zusammensein  mit  der  Freundin: 

,,Qnoy  que  ie  lay  voulsisse  dire 
EHe  estoit  preste  d'escouter, 
Sans  m'acorder  ne  contredire; 
Qui  plus^),  me  soafTroit  acoter 

I)  =:  et  qui  plus  est,  noch  dazu. 

11* 


162  F.  E^d.  Schaeegans 

Joignant  d'elle,  pres  m'acouter*) 
Et  ainsi  m'aloit  amusaDt 
Et  me  Boufroit  toat  raconter, 
Mais  ce  n'estoit  qu'en  m'abasaDt**. 

Dieser  Liebeskummer  —  überall  nennt  man  ihn  ^Pamant  remys 
et  regny^"  —  hat  ihn  zu  Tode  verwundet  und  auf  seinen  Grabstein 
lässt  er  die  Worte  schreiben: 

Cy  gist  et  dort  en  ce  solUer') 

Qu'  Amours  occist  de  son  raillon 

Ung  povre  petit  escoUier 

Qui  fast  nomine  Fran^ois  Villon  .  .  .    (Gr.  Test.  Str.  CLXV.) 

Den  unglücklich  Liebenden  widmet  er  folgende  Strophe  voll  zar- 
testen poetischen  Reizes: 

Item  donne  aux  amans  enfermes^) 

Sans  le  lay  maistre  Alain  Chartier^) 

A  leur  chevez,  de  pleurs  et  larmes 

Trestout  fin  piain  un  benoistier 

Et  ang  petit  brin  d'esglanüer 

Qui  soit  tout  vert,  pour  goupiUon^) 

Pourveu  qu*ilz  diront  ung  psaultier 

Pour  l'ame  du  povre  Villon.    (Gr.  Test.  Str.  CLV.) 

Villon's  Werke  zerfallen  in  lyrische  Gedichte,  von  denen  er  einen 
Teil  in  sein  Hauptwerk  kunstvoll  verwoben  hat,  und  zwei  grössere  Dich- 
tungen, ,les  Lais",  „le  Testament.** ') 

Beide  Testamente  sind  in  Strophen  von  je  acht  Achtsilbnern  ver- 
fasst,  deren  einfache,  festgefügte  Form  den  Dichter  zwingt,  sich  kurz 
zu  fassen  und  im  Allgemeinen  vor  den  nichtssagenden  Formeln  und 
der  Weitschweifigkeit  wahren,  der  nur  wenige  Dichter  des  Mittelalters 
entgehen. 

Er  beginnt  sein  erstes  Testament,  die  ^Lais',  mit  der  feierlichen 
einleitenden  Formel,  erklärt  dass  er  Paris  verlässt,  um  den  Banden  einer 
unglücklichen  Liebe  zu  entfliehen  und  vorher  zu  Weihnachten,  zur  Zeit 

1)  Mich  ihr  nähern,  mich  an  sie  anlehnen  (Text  nach  G.  Paris,  Villon  p.  41). 

2)  Söller,  die  Kapelle  von  St.  Avoye,  die  Villon  scherzend  sich  als  Begräbnis- 
stätte aussucht  und  die  in  einem  oberen  Stockwerke  sich  befand. 

3)  Oeschoss. 

4)  Krank. 

5)  Gefeierter  lyrischer  Dichter  des  XV.  Jahrhunderts  (c.  1385  bis  c.  1430  siehe 
Plaget,  Romania  XXX,  316-51). 

6)  Weihwedel. 

7)  Eine  genauere,  historisch  begründete  Einteilung  der  Werke  ViUon's  gibt 
G.  Paris,  ViUoniana  (Rom.  XXX,  S.  355  f.) 


Maistre  Frangois  Yillon  163 

„wo  die  Wölfe  von  Wind  leben  und  man  wegen  der  Kälte  zu  Hause 
beim  Feuer  sitzt"  sein  Testament  verfasst.  Es  folgen  dann  nach  der 
Anrufung  der  Dreieinigkeit  und  der  Jungfrau  Maria  die  testamentari- 
schen Bestimmungen.  Guillaume  de  Villen  vermacht  er  seinen  Ruhm 
(mon  bruit);  seiner  Geliebten   ,qui  si  durement  m'a  chasse^  lässt  er 

sein  Herz 

«...  mon  euer  enchassei) 

Falle,  piteux,  mort  et  transy.*    (Petit  Test.  Str.  X.) 

Es  folgen  harmlose  Scherze,  zu  denen  die  Aushängeschilder  von 
Wirtshäusern  und  Kaufläden  und  die  Wahrzeichen  von  Patrizierhäusern 
reichlichen  Stoff  liefern:  einem  Metzger  vermacht  er  ^^le  Mouton",  ,,le 
Boeuf  Couronne',  „la  Vache'',  ein  Trinker  erhält  „1^  Ti'ou  de  la  Pomme 
de  Pin^;  andern  überlässt  er  imaginäre  Güter,  dem  Einen  hundert 
Franken  ,prins  sur  tous  mes  biens",  einem  Andern  ein  Schloss;  „zwei 
armen  Klerikern,  die  Latein  sprechen,  ruhigen,  friedfertigen  Kindern, 
die  bescheiden  sind  und  ordentlich  singen  beim  Ghorpult^  schenkt  er 
die  Zinsen  des  Hauses  eines  uns  unbekannten  Guillot  Gueldry  „en  at- 
tendant  de  mieulx  avoir*'.  In  dieser  Arbeit  unterbricht  ihn  das  Läuten 
der  Glocke  der  nahen  Sorbonne 

«qui  touBJours  k  neuf  heures  sonne 

Le  Salut  que  l'Ange  predit; 

Si  suspendis  et  mis  cy  bonne,') 

Pour  prier  comme  le  euer  dit.    (Pet.  Test.  Str.  XXXV.) 

Wie  er  wieder  schreiben  will,  ist  die  Tinte  gefroren  und  die  Kerze 
erloschen ;  er  schläft  ein  und  sein  Werk  bleibt  ein  Fragment. 

1461  griff  Villen  dasselbe  Thema  wieder  auf  und  erweiterte  und 
vertiefte  es. 

Das  Testament  (Grant  Testament)  beginnt  mit  einer  wohlkomponier- 
ten Einleitung.  Der  Dichter  steht  im  dreissigsten  Lebensalter,  nachdem 
er  ^^alle  seine  Schande  gekostet^  («que  toutes  mes  hontes  j'euz  beues** 
V.  2).  In  der  Erinnerung  an  die  eben  verbüsste  schwere  Kerkerhaft 
gedenkt  er  zunächst  des  Bischofs,  dem  er  sein  Elend  verdankt.  Er 
wünscht  ihm  nichts  Böses  und  betet  für  ihn  ,,das  siebte  Verslein  aus 
dem  Psalm  Deus  laude m''  und  überlässt  es  dem  Leser  nachzu- 
schlagen: „fiant  dies  ejus  pauci  et  episcopatum  ejus  accipiat  alter'' 
beisst  es  im  Bibeltext.  Nachdem  er  dem  König  für  die  ihm  gewährte 
Hülfe  gedankt,  erklärt  er  seinen  Entschluss,   sein  Testament  zu  schrei- 


1)  «In  einem  Reliquien schrein." 

2)  =  borne  ehielt  hier  inne**. 


164  F.  Ed.  Schneegans 

ben,  weil  er  sich  schwach  fühlt  „mehr  an  Geld  als  an  Gesundheit^, 
fügt  er  scherzend  hinzu.  Er  bekennt  seine  Sünden  und  hofft  auf  Gottes 
Gnade.  Hätte  ihm  das  Glück  zugelächelt  wie  Andern  und  hätte  er 
trotzdem  gesündigt,  so  wäre  er  der  Erste,  sich  zum  Feuertod  zu  ver- 
dammen; so  aber: 

«Necessite  fait  gens  mesprendre 
Et  fain  sailUr  le  loup  des  boia." 

Seine  Jugend  ist  verflogen 

nll  ne  s'en  est  k  pie  alle 

N'a  cheval;  helas!  comment  don? 

Soudainement  s'en  est  volle 

Et  ne  m'a  laisse  quelque  don. 

Alle  s'en  est  et  je  demeure, 

Po  vre  de  sens  et  de  savoir, 

Triste,  failly,  plus  noir  que  meure,*) 

Qui  n'ay  n'escus,  rente,  n*avoir.**    (v.  173 — 9.) 

Sein  Herz  möchte  zerspringen,  wenn  er  an  die  verlorenen  Jahre 
zurückdenkt,  wo  er  die  Arbeit  floh  „wie  ein  böser  Junge",  und  er  er- 
innert sich  der  Jugendfreunde:  die  Einen  sind  arm  wie  er  selbst,  An- 
dere leben  wohlgenährt  in  Klöstern,  Andere  sind  „tot  und  starr;  Nichts 
bleibt  von  ihnen  zurück.  Mögen  sie  Ruhe  im  Paradiese  geniessen.^ 
Doch  besser  elend  leben  als  „avoir  est^  seigneur  —  Et  pourrir  soubz 
riebe  tombeau**.  Der  Todesgedanke  bemächtigt  sich  seiner  Seele.  Auch 
ihn  wird  der  Tod  einst  erreichen,  da  er  kein  „Eogelssohn  ist  und  keine 
Sternenkrone  trägt* : 

.,Mon  pere  est  mort,  Dieu  en  ait  Tarne; 

Quant  est  du  corps,  il  gist  soubz  lame')  . .  . 

J'entens  que  ma  mere  mourra, 

—  Et  le  scet  bien,  la  povre  femme,  — 

Et  le  tilz  pas  ne  demourra."    (Gr.  Test.  Str.  XXXVIII.) 

Die  Todesahnung,  das  „vanitas  vanitatum*'  flösst  dem  Dichter  seine 
ergreifendsten  Verse  ein.  Villen  steht  hier  unter  dem  Einfluss  der  Vor- 
stellungen seiner  Zeit.  Das  15.  Jahrhundert  hat  mit  furchtbarer  Gewalt 
die  Vergänglichkeit  alles  Fleischlichen,  die  finstere  Macht  des  Todes 
empfunden  und  ausgedrückt.  Die  menschliche  Vernunft,  die  von  den 
Banden  der  Tradition  und  der  Autorität  sich  zu  befreien  anfing,  sah 
mit  erschreckender  Deutlichkeit  das  Hinfällige  der  damaligen  Gesell- 
schaft, des  Bittertums  und  der  Kirche,  der  Stützen  der  mittelalterlichen 
Kultur,   ohne   die   Kraft   und   den    Willen    zu   haben,    den    morschen 


1)  Brombeere. 

2)  Was  den  Leib  betrifft,  so  liegt  er  unter  dem  Leichenstem. 


Maistre  Fran^ois  Villon  165 

Bau  zu  zerstören  und  Neues  aufzubauen.  Es  war  eine  Zeit  zersetzender 
Kritik  und  Satire,  die  Zeit  der  Narrenspiele  und  der  Totentänze,  wo 
die  Menschen  in  Blindheit  und  Torheit  dem  Tode  und  der  Verwesung 
entgegenzutaumeln  schienen,  den  Lockungen,  der  grausigen  Aufforderung 
zum  Tanze  des  Todes  folgend. 

So  beschreibt  Villon   in  düstern  Farben,   mit  schauerlicher  Wahr- 
heit das  Werk  der  Zerstörung: 

„Et  meure  Paris  et  Helaioe 
Quiconques  meurt,  meurt  ä  douleur 
Teile  qu'il  pert  vent  et  alaine; 
Son  fiel  se  creve  sur  son  caer, 
Puis  8ue,  Dieu  scet  quelle  sueur! 
Et  n'est  qui  de  ses  raaulx  Palege: 
Car  enfant  n'a,  frere  De  seur, 
Qui  lors  voulsist  estre  son  plege.  i) 

La  mort  le  fait  fremir,  pallir, 

Le  nez  courber,  les  vaines  tendre, 

Le  col  enfler,  la  chair  mollir, 

Joinctes')  et  nerfs  croistre  et  estendre. 

Corps  femenio,  qui  tant  est  tendre, 

Poly,  souef,  si  precieux, 

Te  fauldra  il  ces  maulx  atteodre? 

Oy,  ou  tout  vif  aller  es  cieulx/     (Str.  XL,  L.) 

Dann  lässt  er  in  der  köstlichen,  stimmungsvollen  «ballade  des  dames 
du  temps  jadis^  Frauengestalten  der  Sage  und  Geschichte,  halbverklun- 
gene  und  halbverstandene  Namen  an  uns  vorüberziehen;  sie  Alle  sind 
dahingegangen ;  „mais  ou  sont  les  neiges  d'antan''  ist  der  Refrain  dieser 
Strophen,  die  wie  eine  ferne  Melodie  geheimnisvoll  verklingen.  Am 
Schluss  des  Testamentes  taucht  der  Todesgedanke  noch  einmal  auf. 
Der  Anblick  der  Knochen  und  Schädel,  die  in  offenen  Hallen  und  Söl- 
lern im  Kirchhof  „des  Innocents*^  aufgehäuft  waren,  während  an  den 
Wänden  eine  berühmte  Darstellung  des  Totentanzes,  der  ,Danse  Ma- 
cabre",  die  Macht  des  Todes  schilderte,  regt  die  Phantasie  des  Dich- 
ters an: 

«Quant  je  considere  ces  testes, 

Entassees  en  ces  charniers. 
Tous  furent  maistres  des  requestes. 
Ou  tous  de  la  Chambre  aux  deniers^) 
Ou  tous  furent  portepaniers'*) 

1)  «Der  für  ihn  eintreten  möchte". 

2)  Gelenke. 

3)  Verwaltung  der  königlichen  Schatullengüter. 

4)  Lastträger. 


166  F.  Ed.  Schneegans 

Autant  puis  l'ung  que  Tautre  dire, 
Car  d'evesques  ou  lanterniers 
Je  n'y  congnois  riens  a  redire. 

Et  icelies  qai  s'enclinoient 

Unes  contre  autres  en  leurs  vies, 

Desquelles  les  unes  regnoient 

Des  autres  craintes  et  servies, 

La  les  voy  toutes  assouvies,  *) 

Ensemble  en  ung  tas  pesle  mesle. 

Seigneuries  leur  sont  ravies; 

Clerc  ne  maistre  ne  s'y  appelle/    (Str.  CXLIX,  Gl.) 

In  den  ^Regrets  de  la  Belle  Heaulmiere^^  hören  wir  die  Klage 
der  Frau,  die  mit  grausamer  Ironie  die  Zerstörung  ihrer  einstigen  Schön- 
heit durch  das  Alter  und  die  Laster  an  ihrem  eigenen  Leibe  schildert  : 

«Ainsi  le  bon  temps  regretons 
Entre  nous,  povres  vielles  sotes, 
Assises  bas,  a  crouppetons ") 
Tout  en  ung  tas  comme  pelotes, 
A  petit  feu  de  chenevotes'') 
Tost  allumees,  tost  estaintes; 
Et  jadis  fusmes  si  migtaotes/ 

und  sie  ermahnt  in  der  folgenden  Ballade  die  jungen  Freundinnen  die 
Zeit  der  Jugend  auszunutzen.  Wer  solche  Verkommenheit  sieht,  fährt 
der  Dichter  fort,  sollte  von  der  Liebe  ablassen.  Denn  auch  diese  Frauen 
waren  einst  unschuldig,  bis  die  Liebesleidenschaft  sie  zur  Sünde  ver- 
führte. Beispiele  der  Sage  und  Geschichte,  die  Erzählung  eines  persön- 
lichen Erlebnisses  schildern  die  verhängnisvolle  Macht  der  Liebe.  Feier- 
lich sagt  der  Dichter  sich  von  der  Liebe  los  -  .Ma  vielle  ay  mis  soubz  le 
banc"'^)  —  und  schliesst  die  Einleitung  seines  Testaments  mit  einer  Schil- 
derung seines  Elends  und  der  Erklärung,  seinen  letzten  Willen  aufsetzen 
zu  wollen.  Es  folgt  die  übliche  Anrufung  Gottes  und  der  Jungfrau 
Maria  und  die  Aufzählung  der  ^ Vermächtnisse*^.  Seine  ,arme  Seele** 
übergibt  er  der  Dreieinigkeit,  seinen  Leib: 

«A  uostre  grant  mere  la  terre; 

Les  vers  n^y  trouveront  grant  gresse: 

Trop  luy  a  fait  fain  dure  guerre. 


1)  Zur  Ruhe  gebracht. 

2)  Frau  eines  Waffenschmiedes.   Text  nach  Longnon  u.  G.  Paris,  Villon  S.  140. 

3)  hockend. 

4)  Ilanfsplitter. 

5)  ^Hab'   die  Leier  unter   die   Bank   gelegt*"  =  habe  mich  aus  der  lustigen 
Gesellschaft  zurückgezogen. 


Maistre  Frao^ois  Villon  167 

Or  luy  8oit  delivre  grant  erre:*) 

De  terre  vint,  en  terre  tourne."    (Gr.  Test.  Str.  LXXVI.) 

Seinem  ^plus  que  pere^,  dem  Domherrn,  vermacht  er  seine  Bibliothek 
und  den  „Rommant  du  Pet  au  Diable**,  der  ,in  Heften  unter  einem 
Tische  liegt*  und  ein  Hauptbestandteil  des  Büchervorrats  war,  seiner 
Mutter  jenes  schlichte  Gebet  an  die  Jungfrau  Maria,  das  sie  für  den 
verlorenen  Sohn  beten  soll,  seiner  Geliebten  Kose  ein  Liebeslied.  Die 
übrigen  Vermächtnisse  sind  teils  harmloser  Natur,  wie  die  des  ersten 
Testaments,  teils  verbirgt  sich  hinter  dem  ausgelasseneu  Scherz  eine 
satirische  Absicht:  einem  Schenkwirt  verspricht  er  den  schuldigen  Wein 
zu  bezahlen,  ,ydoch  wenn  er  seine  Wohnung  findet,  ist  er  schlauer  als 
ein  Wahrsager^,  drei  armen  Waisenkindern  —  in  Wirklichkeit  sind  es 
alte  Wucherer  -  gibt  er  einen  Studienplan  und  wünscht,  dass  sie  gut 
erzogen  werden,  „wenn  es  auch  Prügel  kostet* : 

»Chapperons  auront  enfourmez') 

Et  les  poolces  snr  la  sainctare; 

Humbles  k  toute  cr6ature; 

Disans:   Han?   Qaoy?   II  n'en  est  rieos! 

Si  diroDt  gens,  par  aventure: 

Yeci  enfans  de  lieu  de  bien!"    (Str.  CXX.) 

In  dieser  feingezeichneten  Earrikatur  erkennt  man  den  hochmütigen, 
grausamen  Wucherer,  der  barsch  die  Bitte  des  Dichters  abschlägt  „Han? 
quoy?  il  n'en  est  rien!*^  Eine  Reihe  von  Vermächtnissen  besteht  in 
Gedichten,  das  einzige  Gut,  das  Villon  wirklich  sein  Eigen  nennen 
konnte.  Meister  Jehan  Cotart,  ein  erlauchter  Trinker,  erhält  die  glän- 
zende „Ballade  et  Groison*',  in  der  Vater  Noas,  Loth  und  Archetriclin, 
der  sagenhafte  Gastgeber  von  Kanaan,  aufgefordert  werden,  sich  der 
Seele  des  „hon  feu  maistre  Jehan  Cotart**  anzunehmen,  der  ,,tousjours 
crioit:  Haro,  la  gorge  m'art  —  Et  si  ne  sceut  oncq  sa  seuf  estanchier*'. 
Einem  Parlamentsprokurator  schenkt  er  die  „Contreditz  Franc  Gontier*^, 
eine  Widerlegung  der  Ditz  Franc  Gontier  des  1381  verstorbenen  Philippe 
de  Vitry,  der  ein  idyllisches  Bild  der  glücklichen  Armut  des  Bauern 
Franc  Gontier  und  seiner  Frau  Helaine  entworfen  hatte.  Diesem  küm- 
merlichen Dasein  stellt  Villon  das  üppige  Leben  eines  dicken  Dom- 
herrn entgegen,  den  er  sieht: 

»8ur  mol  duvet  assis  .  .  . 

Lez  un  brasier,  en  chambre  bien  natee,^) 


1)  Reise,  grant  erre  „rasch**,  sogleich". 

2)  (Ins  Gesicht)  drücken  s.  6.  Paris,  Villoniana  Romania  XXX,  S.  366. 

3)  Mit  Matten  belegt. 


168  F.  Ed.  Schneegans 

A  son  coste  gisant  dame  Sidoine 
Blanche,  tendre,  polie  et  atintee*) 
Boire  ypocras  a  jour  et  a  nuitee 
Rire,  jouer,  mignonner  et  baiser. 

Was  ist  dagegen  die  Idylle  Franc  Gontier's  und  seiner  Helaine 
unter  dem  Rosenstrauch,  mögen  auch  .alle  Vögel  von  hier  bis  Babylon* 
dazu  singen:  sie  essen  grobes  Schwarzbrod  und  trinken  Wasser  das 
ganze  Jahr  lang.  ,11  n'est  tresor  que  de  vi  vre  ä  son  aise.*"  —  Den 
Findelkindern  (Enfans  Trouvez)  gibt  er  nichts,  »die  verlorenen  muss  er 
trösten*.  In  zwei  Gedichten  warnt  er  sie  vor  den  Folgen  des  Leicht- 
sinns, der  seinen  Freund  Colin  de  Cayeux  an  den  Galgen  gebracht  hat 
und  alles  Geld  wandern  lässt  ,ptout  aux  tavernes  et  aux  fiUes^.')  Nach- 
dem er  bald  in  harmlosem  Scherz,  bald  mit  satirischer  Absicht  seine 
Vermächtnisse  verteilt  hat,  bestimmt  der  Dichter  feierlich  die  sechs 
Testamentsvollstrecker  und  ihre  Stellvertreter  und  bezeichnet  als  die 
von  ihm  gewählte  Begräbnisstätte  scherzhaft  die  Kapelle  von  Saincte- 
Avoye,  die  einzige  in  Paris,  wo  Niemand  begraben  werden  konnte,  weil 
sie  in  einem  ersten  Stockwerke  lag. 

^De  tombel  riens;  je  n*en  ay  eure 

Car  il  gre verölt  le  plancher.    (Str.  CLXIII.) 

Die  grosse  Sturmglocke  „qui  n'est  de  voirre*' ')  soll  bei  seinem 
Begräbnis  läuten,  obgleich  „Aller  Herzen  erbeben,  wenn  sie  ertönt^. 
Nachdem  er  die  Totenfeier  bis  ins  Einzelnste  geordnet,  nimmt  er  in  einer 
letzten  Ballade  Abschied  vom  Leben  und  lädt  seine  Freunde  zu  seinem 
Begräbnis  ein: 

Icy  se  clost  le  Testament 

Et  finist  du  povre  Villen. 

Venez  a  son  enterrement, 

Quant  vous  orrez  le  carrillon, 

Vestuz  ronge  com  vermillon 

Car  en  amours  mourut  martir  ...    (v.  1996—2001.) 

Ein  mutwilliger  Scherz  „wisst  Ihr  was  er  that  beim  Abschied:  er 
trank  einen  Schluck  Rotwein,  als  er  die  Welt  verlassen  wollte^  ist  sein 
letztes  Wort.  Das  Testament  musste  in  den  Kreisen  der  „escolliers* 
und  ^bazochiens'',  die  jede  Anspielung  auf  die  Personen  und  Zustände 
der  Zeit  verstanden,  grossen  Anklang  finden.  Wenige  Jahre  später, 
wahrscheinlich   1465,    ahmte  der  geistreiche  königliche  Steuerrat  für 

1)  Geputzt. 

2)  BaUade  de  Bonne  Doctrine  ä  ceux  de  mauvaise  vie,  ed.  Longnon  S.  93  f. 

3)  Glas. 


(  Maistre  Fran^ois  Villon  169 

Limoiisin,  Henri  Baude/)  in  seinem  , Testament  de  la  Mule  Barbeau' 
Villon's  Testament  nach.  Das  Maultier  des  Gerichtsdieners  Barbeau 
beschreibt  sein  körperliches  Elend  und  vermacht  die  einzelnen  Teile 
seines  Leibes,  wobei  wie  bei  Yillon  satirische  Ausfälle  sich  zu  harmlosen 
Scherzen  gesellen.    Der  Beginn: 

„Mon  Corps  premier,  qui  jadis  fut  si  beaulx  . . . 
Veul  estre  mis  au  ventre  des  corbeaulx", 

die  Bestimmung  von  drei  Metzgerhunden  als  Testamentsvollziehern, 
erinnern  auch  in  der  Form  an  Villon.  Derselbe  Baude  hat  in  einem 
merkwürdigen  Genrebild,  den  «Lamentations  Bourrien,  chanoine  de  Saint- 
Germain",  Villon's  „Contreditz  Franc  Gonthier"^  nachgeahmt.  Ein  von 
seiner  Geliebten  verlassener  „chanoine  bien  gras"  sucht  sich  im  Spiel 
mit  dem  Kinde,  das  ihm  die  Treulose  zurückgelassen  hat,  zu  trösten. 
Der  Anfang  des  Gedichtes,  das  den  Kanonikus  im  Bette  schildert,  wie 
er  dem  Kinde  pfeift  und  singt  und  es  springen  macht,  ist  in  der  Form 
dem  Beginn  von  Villon*s  Ballade  nachgebildet.  Auch  sonst  zeigt  sich 
bei  Baude  und  Villon  derselbe  satirische  Geist.  Während  aber  Villon 
die  Fülle  seiner  Beobachtungen  frei  verarbeitet  und  zum  Kunstwerk 
umzugestalten  weiss,  bleibt  Baude,  der  in  Amt  und  Würden  war,  im 
Banne  von  Standesvorurteilen  und  Standesinteressen  befangen;  seiner 
Satire  haftet  das  zeitlich  Vergängliche  an. 

Wir  begreifen,  wesswegen  diese  Dichtungen,  in  denen  Scherz  und 
Ernst,  rohe  Spässe  und  Cynismen,  zartes  Empfinden,  fromme  Herzens- 
ergüsse und  ausgelassene  Lieder  in  geistvoller  Weise  miteinanderver- 
woben  sind,  von  dem  Zahn  der  Zeit  so  wenig  gelitten  haben.  Die  ge- 
feierten Dichter  des  ausgehenden  Mittelalters  gefielen  sich  in  der  Über- 
windung technischer  Schwierigkeiten,  die  Poesie  wurde  wie  die  Gotik 
der  Zeit  kraus,  bizarr  und  unwahr.  Selbst  die  gemütvolle  Dichterin 
Christine  de  Pisan  musste  der  Mode  folgend,  obgleich  die  Erinnerung 
an  ihren  toten  Gatten  ihr  Herz  erfüllte,  einen  Cyklus  von  Liebesliedern 
in  dem  konventionellen  Stil  der  damaligen  Lyrik  dichten.  Die  Poesie 
wurde  zu  einem  geistreichen  Spiel  mit  Keimen  und  konventionellen  Ge- 
danken und  Bildern.  Die  Gefühle  und  Ideen  hüllten  sich  in  kunstvolle 
Allegorien,  die  zu  entzifi'ern  für  den  scholastisch  gebildeten  Leser  der 
Zeit  genussreich  sein  mochte;   für  unseren  modernen,  natürliches  Em- 

1)  Les  vers  de  Maitre  Henri  Baude  ....  publics  par  Quicherat,  Paris  1856. 
—  Vergl.  G.  Gröber,  Fraozösische  Litteratuigeschichte  (Grundriss  der  romanischen 
Philologie)  S.  1161  f. 


170  '  F.  Ed.  SchneegaDB 

pfinden  und  unmittelbare  Anschauung  erstrebenden  Geschmack  haben 
die  luftigen  Gebäude  dieser  Allegorien  ihren  Reiz  verloren.  Auch  in 
Villon's  Werken  findet  sich  der  Einfluss  der  zeitgenössischen  Dichtung. 
Die  Huldigungsgedichte  an  Karl  von  Orleans,  die  Ballade,  in  der  Villen 
die  einzelnen  Teile  seines  Körpers  auffordert,  dem  Parlament  für  die 
ihm  gewährte  Freiheit  zu  danken  und  die  Zähne  lauter  in  Dank  er- 
klingen sollen  „als  Orgel,  Trompete  und  Glocke*^,  das  Herz  sich  spalten 
soll  vor  Rührung,  eine  Ballade,  die  aus  Sprichwörtern  besteht,  eine  an- 
dere, die  alle  Fertigkeiten  des  Dichters  aufzählt  mit  dem  Refrain  Je 
congnois  tout  fors  que  moy  mesmes*,  eine  Ballade  in  Antithesen,  alle 
diese  Erzeugnisse  höfischer  Lyrik  bilden  den  vergänglichen  Teil  der 
Werke  des  Dichters.  Seinem  Wesen  nach  ist  Villen  ein  Realist.  Er 
wirft  einen  scharfen,  eindringlichen  Blick  auf  die  ihn  umgebende  Welt 
und  in  sein  Inneres.  Der  Kreis  seiner  Betrachtungen  ist  eng.  Paris,  das 
Quartier  Latin,  damals  besonders  eine  Welt  für  sich  mit  ihrem  bunten 
Getriebe,  ihrer  eigenartigen  Bevölkerung,  ist  das  eigentliche  Feld  seiner 
Beobachtung.  Hier  kennt  er  jeden  Stein,  jede  Strasse,  jedes  Hausschild. 
Er  besitzt  die  Gabe,  die  nur  der  wahre  Künstler  -hat,  den  charakteristi- 
schen Zug  an  Menschen  und  Dingen  zu  erfassen  und  mit  epigramma- 
tischer Kürze  zu  zeichnen;  er  beschreibt  nicht  kleinlich,  umständlich 
und  zwecklos.  Jeder  Zug  wird  durch  das  innere  Mitempfinden  des  Dich- 
ters belebt.  Die  Bilder  sind  bald  heitere,  ausdrucksvolle  Skizzen,  bald 
abstossende,  bald  ergreifende  Zerrbilder  der  Wirklichkeit.  Wir  sehen 
die  drei  Wucherer  „die  Mütze  auf  dem  Kopf,  die  Daumen  im  Gürtel*' 
dastehen,  die  ^^cuidereaux  d'amours  transsis  —  chaussans  sans  meshaing 
fauves  botes'',^)  die  Pariserinnen,  die  „auf  dem  unteren  Saum  ihres 
Kleides  hocken  in  Kirchen  und  Klöstern''  und  sich  Neuigkeiten  er- 
zählen, die  ,,povres  vielles  sotes**,  die  am  Feuer  gekauert  sitzen  und 
an  die  schöne  Zeit  der  Jugend  zurückdenken.  Ein  Zug  genügt,  um  die 
Ungleichheit  der  Menschen  im  Leben  der  Gleichheit  im  Tode  entgegen- 
zustellen : 

Et  icelles  qui  s'encliDoient 

Unes  contre  autres  en  leurs  vies, 

Desquelles  les  unes  regnoient, 

Des  autres  craintes  et  Beryies: 

La  les  voy  toutes  assouvies 

Ensemble  en  ung  tas  pesle  mesle  .  .  .    (Gr.  Test.  Str.  CI.) 

In  der  Ballade  des  Pendus  wird  das  Verletzende  der  Selbstironie, 
die  den   eigenen  Leib  zum  Gegenstand  einer  Darstellung  von  unerbitt- 

1)  „Sterblich   verliebte   Stutzer,   die  bequeme  gelbe  Stiefel  tragen"  (Gr.  Test, 
v.  1973  f.). 


Maistre  Fran^oia  Villon  171 

liebem  Realismus  wählt,  durch  die  Seelenangst  des  Dichters  und  durch 
die  schaurige  Totentanzstimmung  gemildert: 

La  pluye  nous  a  buez^)  et  lavez 

Et  le  soleil  desechiez  et  noircis; 

Pies,  corbeaulx  nous  ont  les  yeux  cavez,') 

Et  arrachi^  la  barbe  et  les  sourcilz. 

Jamals,  nul  temps,  nous  ne  sommes  assis^)  .  .  . 

Puls  Qa  puis  la  comme  le  vent  varie, 

A  son  plaisir  sans  cesser  nous  chairie, 

Plus  becquetez  d'oiseaulx  que  d^z  a  couldre. 

Ne  soiez  done  de  nostre  confrairie/) 

Mais  priez  Dieu  que  tous  nous  vueille  absouldre 

Envoi 
Prince  Jhesus,  qoi  sur  tous  a  maiatrie 
Garde  qu'Enfer  n'ait  de  nous  seigneurie: 
A  luy  n'ayons  que  faire  ne  que  souldre. 
Hommes,  icy  n'a  point  de  mocquerie, 
Mais  priez  Dieu  que  tous  noas  yueille  absouldre!^ 

Überall  dringt  das  Empfinden  des  Dichters  unverfälscht  hervor. 
Dieser  persönliche  Zug  seiner  Werke  ist  es,  der  ihn  dem  modernen 
Leser  näher  bringt.  Nicht  allein  führt  er  sich  handelnd  in  seine  Werke 
ein  und  beschreibt  seine  äussere  Erscheinung;  wir  sehen  ihn  bei  der 
Arbeit,  die  Glocke  der  nahen  Sorbonne  unterbricht  ihn  beim  Schreiben, 
er  redet  mit  seinem  Freund  Fremin,  dem  er  im  Bette  liegend  seinen 
letzten  Willen  diktiert.  Alles  was  er  dichtet,  bezieht  sich  auf  ihn,  seine 
Erlebnisse  und  die  seiner  Freunde  füllen  sein  Werk.  Sein  Individualis- 
mus wird  aber  nie  aufdringlich.  Falsche  Sentimentalität  und  romantische 
Selbstvergötterung  sind  ihm  und  seiner  Zeit  fremd.  Bescheiden,  demütig 
bekennt  er  seine  Schwächen,  mit  zarter  Zurückhaltung,  aber  mit  Innig- 
keit spricht  er  von  seiner  Mutter,  seinem  Oheim  und  Erzieher.  Es  ist 
ein  Stück  leidender  Menschheit,  das  uns  in  Villon^s  Werken  wahr  und 
schlicht  entgegentritt. 

Yillon  ist  kein  Neuerer  gewesen,  kein  Vorläufer  der  Benaissance, 
obgleich  seine  klare  Auffassung  der  Dinge  uns  modern  anmutet.  Er  ist 
im  Banne  der  religiösen  und  sittlichen  Ideen  seiner  Zeit  befangen :  seine 
naive  Frömmigkeit  ist  durchaus  aufrichtig;  sie  hält  ihn  zwar  von  den 
schlimmsten  Verirrungen  nicht  zurück,  in  aufrichtiger  Reue  erhofft  er 
aber  Kettung  allein  von  der  Gnade  Gottes.  Das  klassische  Altertum 
ist  für  ihn  nicht,  wie  für  manche  seiner  Zeitgenossen,  eine  Quelle  tie- 

1)  beuchen. 

2)  aushöhlen. 

3)  In  Ruhe. 

4)  Zunft. 


172  F.  Ed.  Schneegans:  Maistre  Fran^ois  Villon 

ferer  Erkenntnis,  die  zur  christlichen  sich  gesellt,  aber  als  von  ihr 
wesensverschieden  empfunden  wird.  Wir  finden  bei  ihm  nichts  von  der 
feurigen  Begeisterung,  vom  Heisshunger  nach  Erkenntnis  um  ihrer  selbst 
willen,  die  eine  Christine  de  Pisan  beseelt  und  ihr  die  schönen  Worte 
eingibt:  „0  gent  bien  conseillie,  o  gent  eureuse!  je  dy  ä  vous,  les  dis- 
ciples  d'estude  de  sapience,  qui  par  gräce  de  Dieu  et  de  bonne  fortune 
ou  de  nature  estes  appliques  ä  encerchier  la  haultesse  de  ta  clere  res- 
joulssant  estoille,  c'est  assavoir  sapience,  prenes  diligemment  che  tresor, 
buves  de  celle  claire  et  saine  fontaine.  Car  quele  chose  est  ä  homme 
plus  digne  que  science?  ...  Si  ne  vueillies  resongnier  nul  labour  ou 
paine,  vous  Champions  de  Sapience;  car,  se  vous  le  aves  et  bien  en 
uses,  vous  estes  nobles,  vous  estes  riches,  vous  estes  tous  parfais." ') 
Villon  ist  kein  „Champion  de  Sapience".  Wissen  ist  für  ihn  der  Weg, 
der  zu  reichen  Pfründen,  einem  sorgenfreien  Leben  führt.  In  einem 
Punkte  aber  steht  er  an  der  Schwelle  einer  neuen  Zeit.  Der  Gedanke, 
sein  von  Kummer  und  Reue  wundes  Herz,  seinen  von  Hunger  und 
Krankheit  gequälten  Leib,  die  kleinen  Erlebnisse  seines  ruhmlosen  Da- 
seins zum  einzigen  Gegenstand  seines  Dichtens  zu  machen  und  die  Hoff- 
nung, für  ein  solches  Werk  Leser  und  Bewunderer  zu  finden,  die  Fähig- 
keit, sich  selbst  zum  Objekt  künstlerischer  Darstellung  zu  machen,  sich 
mit  grausiger  Selbstironie  im  Tode  am  Galgen  hängend  darzustellen, 
das  sind  Züge,  die  nur  in  einer  Zeit  denkbar  sind,  die  den  Menschen 
als  Individuum  von  seiner  Umgebung  loszulösen  beginnt,  den  Dichter 
nicht  mehr  auffasst  als  den  Hüter  und  Übermittler  einer  poetischen 
Tradition,  sondern  als  ein  bevorzugtes  Wesen,  das  die  Fähigkeit  und  das 
Recht  hat,  eigene  Erlebnisse  und  Empfindungen  in  poetischer  Form  für 
sich  und  Andere  auszudrücken.  Andere  Dichter  vor  Villon  hatten  Züge 
ihres  Lebens  in  ihre  Werke  verwoben:  Adam  de  la  Haie  hat  sich  und 
die  Seinen  in  seine  romantische  Komödie  „le  Jeu  de  la  Feuillee''  als  Mit- 
wirkende eingeführt,  aber  es  bandelte  sich  um  eine  Belustigung  in  einem 
Kreise  von  Bekannten ;  die  Anspielungen  auf  Freunde  und  Zunfbgenossen 
erhöhten  den  Reiz  des  Gelegenheitsstückes.  Villon  haben  Elend  und 
Schmerz,  Liebeslust  und  Liebespein  erst  zum  Dichter  gemacht.  Von 
ihm  wie  von  dem  wesensgleichen  Paul  Verlaine  gelten  die  Worte  des 
letzten  Biographen  Villon's,  G.  Paris:  ^ohne  sein  selbstverschuldetes 
Elend  hätte  er  nicht  in  unsere  Herzen  den  Stachel  eindringen  lassen, 
der  das  seinige  zerriss.^ 

1 )  Christ,  de  Pisan,  Livre  de  policie  citiert  in  Kervyn  de  Lettenhove,  Oenvres 
de  Froissart,  Bruxelles  1870,  I  p.  235. 


Beiträge  zur  Geschichte  Albrechts  von  Hohenberg 

aus  dem  Yatikanischen  Archiv/) 


Von 

Alexander  Cartellieri. 


Im  Anschluss  an  die  von  mir  1897  begonnene  Verzeichnung  des  Kon- 
stanzer Materials  in  den  Registerbänden  des  Vatikanischen  Archivs  zu 
Eom^  bearbeitete  nach  meiner  Rückkehr  in  die  Heimat  Herr  Kurt  Schmidt 
im  Auftrage  der  Badischen  Historischen  Kommission  die  Jahre  1370—83. 
Das  Ergebnis  unserer  Nachforschungen  findet,  soweit  es  die  Bischöfe 
von  Konstanz  betrifft,  in  den  i,Regesten^^)  Aufnahme.  Ich  war  nicht 
wenig  überrascht,  aus  den  unter  dem  Namen  des  Papstes  Klemens  VII. 
gehenden  Bullenregistern  der  sogenannten  avignonischen  Reihe  Auszüge 
zu  erhalten,  in  denen  Graf  Albrecht  von  Hohenberg,  den  ich  seit 
dem  25.  April  1359  gestorben  wähnte,  wieder  auftauchte.  Nach  einigen 
Versuchen,  den  auffälligen  Thatbestand  anders  zu  erklären,  lenkte  ich 
die  Aufmerksamkeit  meines  Herrn  Mitarbeiters  auf  die  Möglichkeit,  dass 
Teile  der  Klemens  VII.  zugewiesenen  Bände  Klemens  VI.  zugehören 
könnten,  eben  weil  Albrecht  am  Hofe  des  letztgenannten  Papstes  weilte. 
Bald  wurde  meine  Vermutung  bestätigt.  Laut  der  mir  gewordenen  Aus- 
kunft lässt  sich  schon  auf  Grund  äusserer  Merkmale  (Schrift,  Wasser- 
zeichen) feststellen,  dass  die  einzelnen  Lagen  verschiedener  Päpste  gleichen 
Namens  durch  einander  gebunden  sind.  Als  ich  darauf  hin  in  dem 
inhaltreichen  Buche  von  Valois  über  das  grosse  Schisma  nachschlug, 
bemerkte  ich,  dass  der  Übelstand  schon  erkannt  war.  Valois  schreibt^): 


1)  Vergl.  ZeitBchr.  f.  d.  Gesch.  d.  Oberrheins  N.F.  14  (1899),  481:  Kleine  Bei^ 
tr&ge  Kur  Geschiebte  Graf  Albrechts  von  Hohenberg  und  Matthias  von  Neuenbürg. 

2)  Vgl.  ebenda  13  (1898),  11—22  meinen  Reisebericht 

3)  Regesten  der  Bischöfe  von  Konstanz,  2.  Bd.,  1.— 4.  Lieferung.  Innsbruck 
1894  ff.  Die  den  Text  abschliessende  Doppelliefernng  ist  im  Druck  fast  vollendet 
and  reicht  bis  1383. 

4)  N.  Valois,   La  France   et  le  grand  Schisme  d'occident  t.  ler,  pr6f.  p.  XV. 


174  Alexander  Cartellieri 

Au  milieu  de  cahiers  remplis  d'actes  de  Clement  VII  sont  ins^res  cer- 
tains  cabiers  contenant  des  bulles  de  Clement  VI,  voire  de  Clement  V. 
Er  verweist  zum  Beispiel  auf  den  tomus  64  Klemens  VII.,  Blatt  533 
und  ff.;  tomus  69,  Blatt  198  und  ff.  Hierzu  füge  ich  erklärend  hinzu, 
dass  Valois  die  mit  jedem  Papste  neu  beginnende  Bandziffer  anwendet, 
ich  dagegen  die  durchlaufende  der  avignonischen  Reihe  benutze. 

Es  würde  überflüssig  erscheinen,  an  dieser  Stelle  von  neuem  dea 
arglosen  Forscher  vor  ebenso  unangenehmen  als  schwer  zu  vermeidenden 
Irrtümern  zu  warnen,  wenn  nicht  die  Auszüge  selbst  die  Lebensge- 
schichte  Albrechts  von  Hohenberg  um  kleine  Züge  bereicherten.  Der 
schwäbische  Graf  hat  das  Schicksal  gehabt,  in  unseren  Tagen  im  Kreise 
der  Historiker  hochberühmt  zu  werden  durch  eine  Chronik,  die  er,  wie 
man  jetzt  ziemlich  sicher  behaupten  kann,  nicht  verfasst  hat,  die  Chro* 
nik  des  Matthias  von  Neuenburg.  Fern  sei  es  mir,  die  ungemein  ver- 
wickelten Fragen,  die  sich  an  die  Verfasserschaft  knüpfen,  und  die  zu 
den  scharfsinnigsten  Vermutungen  Anlass  gegeben  haben,  auch  nur  zu 
berühren.  Die  Litteratur  ist  sehr  zerstreut.  Einen  Hinweis  auf  die 
wichtigsten  Schriften  habe  ich  am  Schluss  meines  kurzen  Überblicks 
in  der  Allgemeinen  Deutschen  Biographie  Bd.  45  (1900),  731—733 
gegeben.  Inzwischen  haben  die  Kegesten  der  Bischöfe  von  Eonstanz 
das  Jahr  1356  überschritten  (Nr.  5218  ff.  5221)  und  man  gewinnt 
jetzt  einen  deutlicheren  Einblick  in  die  Verhältnisse,  unter  denen  Al- 
brecht zum  dritten  Male  vergeblich  den  Versuch  machte,  das  Konstanzer 
Bistum  zu  erlangen. 

Um  den  geschichtlichen  Zusammenhang  für  die  unten  folgenden  Aus- 
züge herzustellen,  genügt  es,  einige  Belege  zu  geben.  Am  1.  März  1342 
hatte  Albrecht  zum  letzten  Male  als  Kanzler  des  kaiserlichen  Hofes  ge- 
urkundet^).  Als  Gesandter  Kaiser  Ludwigs  IV.  ging  er  nach  Avignon, 
kehrte  aber  nicht  mit  seinen  Begleitern  zurück  ^).  Er  Hess  sich  vom  Papste 
Klemens  VI.  bewegen,  die  kaiserliche  Sache  zu  verraten  und  in  seine  Dienste 
zu  treten.  Solches  geschah  Ende  1342.  Man  hat  nun  geglaubt,  der  ehr- 
geizige Streber  sei  während  der  nächsten  drei  Jahre  in  Avignon  gewesen '). 


1)  Albertus  Dei  gracia  comes  de  Hohenberg,  imperialis  aule  cancellariuB,  be- 
zeugt, dass  er  einen  Brief  des  Pfalzgrafen  Gottfried  von  Tübingen  für  die  Abtei 
Bebenhausen  (Actum  et  datum  in  Bebenhusen  1302,  4.  non.  april.,  ind.  15.)  gesehen 
hat.  Datum  per  copiam  1342,  kal.  marcii,  ind.  10.  Kopialbuch  Bebenhausen  Bl.  49  b 
im  Staatsarchiv  Stuttgart;  Crusius,  Annales  Suevici  2,  240. 

2)  K.  Wenck,  Albrecht  von  Hohenberg  und  Matthias  von  Neuenburg,  Neues 
Archiv  9  (1884),  S.  56  und  die  übersichtliche  Tabelle  S.  98. 

3)  Wenck  S.  56. 


Beitr&ge  zur  Geschichte  Albrechts  von  HobeDberg  aus  dem  Yatik.  Archiv     175 

Das  war  aber  nicht  der  EalL  Am  3.  März  1344  urkundet  er  zusammen 
mit  dem  Grafen  Berthold  von  Sulz  in  Freiburg  i.  B.  wegen  400  Mark 
Silber,  die  ihnen  der  Landkomtur  Deutschordens  schuldig  war^).  Zur 
Ergänzung  dieser  Urkunde  dienen  die  vatikanischen  Notizen,  aus  denen 
hervorgeht,  dass  Albrecht  damals,  als  die  päpstliche  Kanzlei  die  Schreiben 
ausfertigte,  in  oder  bei  Wien  (Nr.  1  und  2)  und  in  oder  bei  Eonstanz  (Nr.  3) 
weilte.  Es  sei  daran  erinnert,  dass  er  unter  anderen  sehr  zahlreichen  und 
einträglichen  Pfründen  auch  die  St.  Stephanspfarrkirche  in  Wien  besass '). 

1)  1344  Februar   12. 

Clemens  VI.  S.  Crucis  et  S.  Marie  Schotorum  in  Wienna  Pata- 
viensis  diocesis  monasteriorum  abbatibus  ac  Alberto  deHohenberg 
canonico  Constantiensi  mandat,  quatenus  Annam  natam  Johannis  de 
Gottersprunn  puellam  litteratam  Pataviensis  diocesis  in  monasterio 
S.  Jacobi  de  Wienna  ordinis  S.  Augustini  in  canonicam  et  sororem  re- 
cipi  faciant.  Datum  Avinione  II.  id.  febr.,  a.  IP  (Prudentumf  virginum). 

Reg.  Aven.  224,  189  b. 

2)  1344   Februar   12. 

Clemens  VI.  S.  Crucis  et  S.  Marie  Scothorum  in  Wienna  Pata- 
viensis diocesis  monasteriorum  abbatibus  ac  Alberto  de  Hohenberg 
canonico  Constantiensi  mandat,  quatenus  Heinricum  de  Swemwert  sco- 
larem  Pataviensis  diocesis  in  monasterio  Neunburgensi ')  prope  Viennam 
ordinis  S.  Augustini  in  canonicum  et  fratrem  recipi  faciant. 

Datum  Avinione  II.  id.  febr.,  a.  IP  (Cupientibus  vitam). 

Reg.  Aven.  224,  237  a. 

S)   1344  Juni  26. 

Clemens  VI.  Bertholdo  dicto  Spuol  clerico  Constantiensi  beneficium 
ecclesie  cum  cura  (60  lib.  Turon.)  vel  sine  cura  (40  lib.  Turon.)  consuetum 


1)  GroBsh.  GeneraUandesarchiv  Karlsruhe  (5/293):  geben  zu  Friburg  1344  an 
der  nehsten  mitwochen  vor  Oculi.  Das  noch  hängende  Siegel  des  Hohenbergers 
ist  stark  beschädigt  Man  erkennt  aber  noch  die  beiden  Hifthörner,  das  Ilohen- 
berger  Wappen.  Darüber  befindet  sich  anscheinend  eine  sitzende  Gestalt,  die  ein 
Buch  in  der  Unken  Hand  hält  Das  Siegel  ist  demnach  das  eines  der  Kirchen- 
ämter  Albrechts. 

2)  Gerbert,  Historia  Silve  Nigre  2,  125  zum  Jahre  1342.  Regg.  Konstanz  2 
Nr.  4763  zu  1345  Okt  19. 

3)  Klostemcuburg. 

NEUE  HEIDRLB.  JAHKBUECHER  XI.  ^2 


176     Alexander  Cartellieri:  Heiträge  zur  Geschichte  Albrechts  von  Hohenberg  etc. 

ab  olim  clericis  secularibus  assignari  ad  collationem  prepositi  et  capituli 
ecclesie  in  Zovingen^)  Constantiensis  diocesis  pertinens  reservat. 

Datum  Avinione  VI.  kal.  iul.,  a.  IIP  (Exigunt  tue). 

Reg.  Aven.  227,  649  b  Nr.  57. 

In  eundem  modum  episcopo  Tergestinensi ')  et  abbati  monasterii 
in  Cruzlingen')  extra  muros  Constantienses  ac  Alberto  de  Hohen- 
berg canonico  Constantiensi  capellano,  sedis  apostolice. 


1)  Zofingen  bei  Konstanz. 

2)  Triest 

3)  Krenzlingen. 


Reiseeindrücke  yom  Grossen  8t.  Bernhard 

aus  dem  Jalire  1188. 


Von 

Alexander  Gartellierl. 


Es  wird  immer  eine  anziehende  Aufgabe  sein,  in  den  verschiedenen 
Zeiten  zu  verfolge»,  welchen  Eindruck  die  gewaltige  Älpennatur  auf 
den  reisenden  Menschen  macht.  Von  diesem  Gesichtspunkt  aus  erscheint 
vielleicht  die  nachstehende  kleine  Mitteilung  willkommen.  Die  Quelle, 
aus  der  wir  schöpfen,  ist  freilich  längst  gedruckt,  aber  niemand  dürfte 
anders  als  durch  Zufall  darauf  aufmerksam  werden.  Ausserdem  ist  das 
gleich  zu  nennende  Buch  längst  nicht  auf  allen  öffentlichen  deutschen 
Bibliotheken  vorhanden.  Als  2.  Band  der  Ghronicles  and  Memorials 
of  the  reign  of  Richard  the  First  gab  W.  Stubbs  1865  heraus:  Epi- 
stolae  Cantuarienses,  the  letters  of  the  prior  and  convent  of  Christ 
Church,  Canterbury,  from  1187  to  1199;  London,  in  der  Sammlung  der 
sog.  Bolls  Series.  Diese  in  verschiedener  Hinsicht,  unter  andern  als  ge- 
treue Schilderung  des  päpstlichen  Gerichtsverfahrens  und  der  Kurie  über- 
haupt ^),  sehr  lehrreichen  Briefe  verdanken  ihre  Entstehung  dem  langen 


1)  Bruder  Johann  schreibt  über  die  Sch?rierigkelten,  in  Rom  Recht  zu  finden : 
Nr.  209,  S.  194:  Romae  omnes  Romanos  inveni,  et  dominus  papa  [Clemens  III.]  Ro- 
roanus  est,  natione  videlicet  et  genere.  Nee  miremur  si  Romani  sint  indigenae,  quia 
ex  curiae  qualitate  etiam  aliegenae  Romani  fiunt.  —  Nr.  232,  S.  214:  Salva  sanctorum 
reverentia  dixerim,  qui  in  ea  (sc.  curia  Romana)  conversantur,  non  est  de  quo  sperare 
possint  oppressi.  Es  folgen  Klagen  über  die  Habsucht  der  Kurlalen.  Bellua  mul- 
torum  capitum  est  (  sc.  curia,  nach  Horaz  Epp.  I,  1,  76.)  Nihil  unquam  studiosius 
agendum  videtur,  quam  ut  ab  ejus  faucibus,  licet  non  sine  laesione,  eripi  valeamus. 
—  Nr.  248,  S.  230:  Ablativus  proprie,  ut  dicit  Priscianus,  Romanornm  est,  non 
dativus.  Vielleicht  bietet  sich  mir  Gelegenheit,  an  anderem  Orte  auf  diese  so  be- 
zeichnenden Urteile  zurückzukommen. 

12* 


178  Alexander  CartelUeri 

und  erbitterten  Streite  zwischen  dem  Erzbischofe  von  Canterbury  und 
dem  Konvente  der  Christuskirche  daselbst.  Ursprünglich  handelte  es 
sich  um  die  von  jenem  geplante,  von  diesem  bekämpfte  Gründung  eines 
weltlichen  Chorherrenstiftes  in  Hakington  bei  Canterbury.  Bald  aber 
zog  die  Fehde  immer  weitere  Kreise  und  spaltete  die  englische  Geistlich- 
keit in  zwei  Lager  ^).  Die  zahlreichen,  deswegen  gewechselten  Briefe  sind  in 
der  von  Stubbs  gedruckten  und  eingeleiteten  Sammlung  erhalten.  Der  Kon- 
vent gab  sich  naturgemäss  die  grösste  Mühe,  den  Papst  für  sich  zu 
gewinnen.  Gleich  nach  dem  9.  Januar  1188  sandte  er  vier  Brüder  an 
Klemens  III.  Am  20.  desselben  Monats  waren  sie  in  Saint-Omer :  in  crastino 
profecturi  quantum  corpora  nostra  pati  poterunt  vel  jumenta.  (Brief 
Nr.  165,  S.  140.)  Unter  ihnen  befand  sich  Bruder  Johann  von  Bremble, 
der  eifrigste  Verfechter  der  Sache  des  Konvents,  dessen  Briefe  nach  dem 
Urteil  des  Herausgebers  (Introd.  S.  LXIII)  die  besten  des  Bandes  und  sämt- 
lich sehr  lesenswert  sind.  Von  den  Beschwerden  des  Beiseweges  entwirft 
Johann  dem  Subprior  Gottfried  ein  Bild,  dem  es  sicher  nicht  an  An- 
schaulichkeit mangelt.  Wir  glauben,  den  Mönch  vor  uns  zu  sehen, 
wie  er  auf  dem  Grossen  St.  Bernhard^)  mit  erstarrten  Fingern  in  die 
Tasche  greift  und  die  Tinte  im  Hörn  eingefroren  findet') 

Zur  genaueren  Zeitbestimmung  des  im  Auszug  folgenden  Briefes 
dient,  dass  Johann  und  seine  Genossen  am  27.  Februar  in  Rom  eintrafen 
(Nr.  205)*). 

Gaufrido  subpriori  frater  Johannes    In  Monte  Jovis 

positus,  hinc  coelos  montium  suspiciens,  hinc  infera  vallium  abhorrens, 
coelo  jam  vicinior  et  fidentior  audiri,  „Domine^,  inquam,  „restitue  me 
fratribus  meis,  ut  annunciem  illis,  ne  et  ipsi  veniant  in  locum  hunc 
tormentorum."  ^)  Loca  namque  tormentorum  non  immerito  nuncupa- 
verim,  ubi  terram  saxeam  glacierum  marmora  consternunt,  ubi  pedem 
figere  non  est,  immo  nee  sine  periculo  ponere,  et  mirum  in  modum  cum 


1)  Vgl  Norgate,  Angevin  Kings  2,  437. 

2)  In  Nr.  204,  S.  188  wird  erwähnt:  sacerdos  quidam,  nuncius  praepositi  Sancti 
Bernardi  de  Monte  Jovis.  Vergl.  im  übrigen  über  den  Pass  A.  Schulte,  Geschichte 
des  mittelalterlichen  Handels  1,  96  ff.  und  oft. 

3)  Zu  dem  hängenden  Tintenfass  vgl.  Wattenbach,  Schriftwesen,  3.  Aufl.,  225. 

4)  Zur  Beurteilung  der  Reisegeschwindigkeit  kann  man  die  Stelle  bei  Gerva- 
sius  von  Canterbury,  ed.  Stubbs,  1,  423  heranziehen.  Dort  wird  erzählt,  wie  ein  Bote 
mit  einer  vom  17.  März  1188  datierten  Bulle  Klemens'  III.  (J.  —  Low.  2  Nr.  16179) 
am  Karfreitag  15.  April  in  Canterbury  eintrifft,  .in  tribus  septimanis  et  IIII  diebus 
a  Roma  veniens.** 

5)  Wie  Stubbs  bemerkt,  nach  Lukas  16,  28  in  der  Geschichte  des  armen 
Lazarus. 


Reiseeiodrücke  vom  Grossen  St.  Bernhard  aas  dem  Jahre  1188  179 

io  lubrico  stare  dod  possis,  in  mortem  corruis  si  labaris.  Hie  manum 
in  peram  conjeci,  ut  sinceritati  vestrae  vel  syllabas  unas  exararem,  in- 
venique  atramentarium  a  renibus  dependens  humore  sicco  repletum  et 
indurato.  Sed  nee  digitos  movere  potui  ad  scribendum.  Barba  quo- 
que  gelu  rigabat,  et  de  spiritu  oris  concreto  glacies  prominebat  pro- 
liiior (Nr.  197,  S.  18I.)0- 


1)  Es  sei  gestattet,  hier  eine  weitere  geographische  Notiz  anzureihen.  In 
Nr.  292,  S.  276  erzählt  Bruder  Johann,  wie  er  im  Januar  1189  unter  grossen  Ge- 
fahren von  Mortara  bezw.  Pavia  nach  Rom  zurückkehrte:  Sumarium  domini  prioris 
....  in  Alpibus  ulterioribus,  in  monte  videlicet  Bardunensi,  amisi.  Unde  Senam 
[Siena]  veniens  .  .  .  Inzwischen  ist  eine  A.  Schulte  gewidmete  Arbeit  erschienen: 
Ludw.  Schütte,  Der  Apenninenpass  des  Monte  Bardone  und  die  deutschen  Kaiser. 
Mit  einer  Karte.  Berlin  1901  (Bist.  Studien  veröff.  von  Ehering,  27.  Heft).  Vgl.  die 
lehrreiche  Besprechung  von  J.  Jung  in  den  Mitteil,  des  Österr.  Inst  23  (1902),  307 
bis  311.  Unsere  Stelle  bestätigt  die  Ansicht  Schütte's  (S.  27  Anm.),  dass  ein  Pass 
der  ganzen  Gebirgslandschaft  den  Namen  gab.  Beim  heutigen  Bardone  begann 
ehemals  der  Aufstieg  der  Strasse,  die  von  Parma  nach  Pontremoli  führt,  und  die 
heute  nach  der  Passhöhe  von  La  Cisa  genannt  wird. 


Zeugnisse  zur  Pflege  der  deutschen  Litteratur 
in  den  lleidelberger  Jahrbüchern. 


Von 

Relnhold  Steig. 


Der  Anteil  Heidelbergs  an  der  Entwicklung  der  deutschen  Litteratur 
vor  hundert  Jahren  ist  bereits  zu  einem  festen  Kapitel  der  deutschen 
Litteraturgeschichte  geworden,  das  jedoch  noch  vieler  Hände  Arbeit 
zum  inneren  Ausbau  nötig  hat.  Ist  von  der  Heidelberger  Romantik 
die  Bede,  so  treten,  wie  billig,  die  wichtigen  romantischen  Werke  in 
den  Vordergrund,  die  im  ersten  Jahrzehnt  des  vorigen  Jahrhunderts  dort 
entstanden  sind,  rings  von  litterarischen  Gegenwirkungen  und  von  jour- 
nalistischen Bemühungen  für  oder  wider  sie  umgeben ,  die  in  der 
Badischen  Wochenschrift  und  der  Einsiedlerzeitung,  sowie  im  Morgen- 
blatt und  der  Jenaischen  Litteratur -Zeitung  sich  geltend  machten. 
Hinzuzuthun  zu  diesem  Bilde  aber  ist  diejenige  Pflege  und  Behandlung 
der  deutschen  Litteratur,  die  in  den  Heidelberger  Jahrbüchern  ihrer 
Zeit  angestrebt  und  zum  Teil  auch  mit  Erfolg  durchgeführt  wurde. 
Dieser  vollbelaubte  Zweig  damaliger  Heidelbergischer  Bethätigung  ist 
nicht  so  deutlich  sichtbar  für  unser  Auge,  weil  er  eben  nur  als  ein 
Zweig  aus  dem  stattlichen  Baume  hervortreibt,  der  die  philologisch- 
historischen Gesamtbestrebungen  trägt  und  neben  dem  wieder,  ebenso 
frisch  und  kräftig,  andere  Stämme  aufwachsen,  die  von  den  Philosophen, 
den  Medizinern,  den  Juristen,  den  Mathematikern  gepflanzt  und  auf- 
gezogen wurden. 

Dieser  glückliche  Aufwuchs  war  die  belebte  und  wieder  belebende 
Folge  der  Neuverfassung  der  Heidelberger  Hochschule,  die  allen  Gliedern 
und  Fächern  derselben  frisches  Blut  zugeführt  hatte.  Die  neue  geistige 
Kraft  musste  danach  streben,  auch  nach  aussen  hin  litterarisch,  kritisch, 
wissenschaftlich  in  die  Erscheinung  zu  treten.    Göttingen,  Jena,  Halle, 


Zeugnisse  zur  Pflege  der  deutschen  Litteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern     181 

Leipzig  hatten  ihre  Litteratur-Zeitungen,  darch  die  das  öffentliche  urteil 
in  Deutschland  mitbestimmt' wurde.  Auch  das  Heidelberger  Kuratorium 
wünschte  eine  litterarische  Anstalt  dieser  Art  zu  besitzen.  Die  Ver- 
handlungen kamen  1807  zum  Abschlüsse,  und  ,,im  Oktober  1807*" 
wurden  von  Heidelberg  aus  in  die  Tagesblätter  (z.  B.  Intell.-Bl.  Nr.  23  zum 
Morgenblatt)  und  an  einzelne  Persönlichkeiten  die  Ankündigungen  ver- 
sandt, die  das  Erscheinen  der  ^^Heidelberger  Jahrbücher^  im  Verlage 
von  Mohr  und  Zimmer  für  das  neue  Jahr  1808  in  Aussicht  stellten. 

In  derartigen  Anstalten  nehmen  die  philologisch-historischen  Dis- 
ziplinen, und  was  mit  ihnen  zusammenhängt,  naturgemäss  einen  breiten 
Raum  ein,  weil  in  ihnen  sich  schliesslich  doch  die  Gelehrten,  trotz  all 
ihrer  besonderen,  weit  auseinander  gehenden  Fachstudien,  wie  auf  ge- 
meinsam erworbenem  und  gemeinsam  zu  verteidigenden  Boden  wieder 
zusammenfinden.  So  auch  bei  der  Einrichtung  und  Ausgestaltung  der 
Heidelberger  Jahrbücher.  Dadurch  fiel  Friedrich  Creuzer,  als  dem 
offiziellen  Vertreter  dieser  Richtung,  der  überwiegende  Einfluss  zu.  Er 
erzählt  selbst  in  seinen  Erinnerungen  aus  dem  Leben  eines  alten  Pro- 
fessors, wie  er  seine  Stellung  nahm.  Wichtig  sind  dafür  auch  die  unge- 
druckten Briefe  Creuzers  an  Karl  August  Böttiger,  die  sich  auf  der 
Königlichen  Bibliothek  in  Dresden  befinden.  Böttiger  war  ein  wissen- 
schaftlich bedeutender,  amtlich  und  publicistisch  äusserst  einflussreicher 
Philolog,  mit  dem  Creuzer,  seit  er  ihn  1798  bei  seiner  Durchreise  durch 
Vl^eimar  besucht  hatte,  bis  an  sein  Lebensende  in  Zusammenhang  blieb. 
Creuzer  schreibt  an  Böttiger  immer  so,  dass  was  er  mitteilt,  auch 
öffentlich  verwertet  werden  könne.  Böttiger  brauchte  solche  Zuflüsse 
von  allen  Seiten.  Wir  gewahren,  dass  von  Anfang  an  sich  in  das  positive 
Programm  der  Jahrbücher  eine  polemische  Abwehr  mischte:  diese  war 
gegen  Voss  und  seine  Partei  gerichtet. 

Es  tauchte  nämlich  im  Laufe  des  Jahres  1807  eine  Reihe  von 
Plänen  zur  Beschaffung  eines  gelehrten  Blattes  auf.  Ein  Professor  Seeger 
kündigte  eine  politisch-literarische  Zeitung  an,  wozu  die  Heidel- 
berger Gelehrten  Beiträge  liefern  würden:  nach  Creuzers  Urteil  „ein 
guter  Mann,  aber  gewiss  nicht  gemacht  so  etwas  zu  unternehmen ;  hier 
weis  auch  kein  Professor  von  der  Sache,  und  jeder  augurirt  eine  bald 
sterbende  Fehlgeburt^  (an  Böttiger  10. 1.  1807).  Als  dann  der  unglück- 
liche preussische  Krieg  den  Fortbestand  der  Universität  Halle  ins  un- 
gewisse stellte,  wurde  erwogen  und  in  öffentlichen  Blättern  berichtet, 
dass  die  Professoren  Schütz  und  Ersch  mit  der  Hallischen  Allgemeinen 
Litteratur-Zeitung  nach  Heidelberg  übersiedeln  würden.    „Wir  wissen*', 


182  Reinhold  Steig 

schrieb  aber  Creuzer  am  15.  März  1807  an  Böttiger,  „officiell  noch 
nichts  davon.  Indessen  würde  ich  mich  dieser  wichtigen  Acquisition  in 
jedem  Betracht  freuen.  Schütz  kenne  ich  als  meinen  ehemaligen  Lehrer 
aus  persönlicher  Bekanntschaft  und  ein  Literator  wie  Ersch  wäre  dem 
Institut  wie  der  Universität  ein  grosser  Gewinn*.  Dies  alles  blieb  jedoch 
ohne  Folgen. 

Um  so  ernster  und  gefährlicher  für  Creuzer  aber  erwies  sich  ein 
dritter  Versuch:  nämlich  die  Jenaische  Litteratur-Zeitung  mit  ihrem 
Redakteur  Eichstädt,  der  Voss  ergeben  war,  nach  Heidelberg  zu  ver- 
pflanzen. Diese  unverhältnismässige  Verstärkung  der  gegnerischen  und 
Schwächung  der  eigenen  Position  konnte  sich  Creuzer  nicht  gefallen 
lassen.  Er  erklärte  sich  bestimmt  dawider,  und  durch  die  Begründung 
der  Heidelberger  Jahrbücher  wurde  die  Absicht  der  Gegenpartei  zerstört. 
Zwischen  der  Heidelberger  und  der  Jenaer  Bedaktion  herrschte  fortan 
eine  Spannung,  die  ab  und  zu  üble  Zeichen  ihres  un vertilgbaren  Vor- 
handenseins gab :  Creuzer,  Böckh  und  wer  sonst  poetisch  zu  Heidelberg 
hielt,  bekam  einer  nach  dem  andern  den  Unmut  der  Jenaer  zu  kosten. 
Heidelberg  trat  ferner  damals  in  Kivalität  mit  Göttingen  und  ge- 
dachte auch  die  in  altem  Geleise  fortgehenden  Gelehrten  Anzeigen 
zu  überflügeln.  Böckhs  noch  nicht  gedruckte  Korrespondenz  mit  dem 
Minister  von  Reizenstein,  die  ich  gelesen,  enthält  so  manchen  Beleg 
dafür.  Gut  stand  sich  Creuzer  dagegen  auch  weiterhin  mit  Schütz 
in  Halle,  und  in  seinen  Briefen  an  ihn  von  1808  und  1809  erneuern 
sich  die  Versuche,  die  von  Schütz  redigierte  Hallische  Litteratur- 
Zeitung  für  Heidelberg  und,  was  nicht  so  schwer  war,  gegen  Jena 
einzunehmen.  Nicht  als  ob  das  alles  allein  aus  niederen  persönlichen 
Beweggründen  geschehen  sei.  Im  Gegenteil,  ein  neuer,  produktiver, 
das  «Vaterland''  (wie  Creuzer  einmal  sagt)  erfassender  Geist  sollte  die 
Heidelberger  Jahrbücher  erfüllen  und  wurde  an  den  übrigen  Instituten 
vermisst.  „Das  Zeitalter  warnt^,  heisst  es  schon  1807  in  der  An- 
kündigung, „und  der  Genius  der  Wissenschaften  verbietet,  die  Kritik 
zu  einem  Mittel  der  Gewinnsucht,  der  litterarischen  Partei-  und  Herrsch- 
sucht herabzusetzen". 

Diejenigen  Männer,  die  die  Ankündigung  unterschrieben  und  zuerst 
die  Geschäfte  führten,  waren  Ackermann,  Creuzer,  Daub,  Heise,  Langs- 
dorf,  Loos,  Schwarz,  Thibaut,  Wilken.  Sie  bildeten  das  Redaktions- 
kollegium. Und  ihren  Fakultäten  entsprechend,  erschienen  die  Heidel- 
berger Jahrbücher  in  fünf  von  einander  gesonderten  Abteilungen :  1)  für 
Theologie,  Philosophie  und  Pädagogik,  2)  für  Jurisprudenz  und  Staats- 


Zeugnisse  zur  Pflege  der  deutschen  Litteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern     183 

wisseDschaften,  3)  fär  Medizin  und  Naturgeschichte,  4)  für  Mathematik, 
Physik  und  Kameralwissenschaften,  5)  für  Philologie,  Historie,  Littera- 
tur und  Kunst.  Nach  der  Ankündigung  sollte  mit  dem  ganzen  Unter- 
nehmen, als  einem  kritischen,  vorerst  auch  eine  .doktrinelle  Anstalt** 
yerbunden  sein,  und  es  war  versprochen  worden,  dass  den  einzelnen 
Heften  passende  Abhandlungen  vorausgehen  sollten :  eine  Idee,  derzufolge 
thatsächlich  alle  fünf  Abteilungen  ihr  erstes  Heft  mit  einer  allgemeinen 
Abhandlung  einleiteten,  die  dann  aber  später  aufgegeben  wurde,  während 
wenigstens  für  den  Umkreis  der  fünften  Abteilung  einlaufende  Abhand- 
lungen in  Daub  und  Creuzers  ,,Studien*  übernommen   werden  konnten. 

Ausser  der  Ankündigung  entstand  nun  noch  durch  gemeinschaft- 
liche Übereinkunft  der  Redaktoren  ein  „Plan  der  Heidelbergischen  Jahr« 
bücher  der  Literatur**,  welcher,  als  Oktavdruck  von  vier  Seiten,  nur 
denjenigen  Gelehrten  in  die  Hände  gegeben  wurde,  die  zur  Mitarbeit 
herangezogen  werden  sollten.  Mir  ist  allein  das  unter  Creuzers  Briefen 
an  Böttiger  erhaltene  Exemplar  bekannt.  In  18  Paragraphen  werden 
für  die  Rezensenten  Regeln  aufgestellt,  darunter  eine  Anzahl  die  sich 
von  selbst  verstehen:  manche  aber  eigentümlich  und  wichtig  für  den 
Geist  des  neuen  Unternehmens.  Keine  Rezension  könne  angenommen 
werden,  welche  von  der  Redaktion  nicht  zugeteilt  worden  sei.  Jeder 
Rezensent  habe  sich  über  die  Annahme  der  ihm  vorgeschlagenen  Schriften 
binnen  acht  Tagen  zu  erklären,  widrigenfalls  die  Redaktion  die  vorge- 
schlagenen Schriften  einem  Anderen  zuzuteilen  berechtigt  sei.  Rezen- 
sionen übernommener  Bücher  müssten  innerhalb  vier  Monaten  einge- 
liefert werden,  sonst  würden  die  betreffenden  Schriften  als  nicht  über- 
nommen betrachtet.  Das  rezensierte  Buch  aber,  wenn  die  Redaktion 
es  liefert,  gehört  nicht  dem  Rezensenten,  sondern  wird  von  ihm  er- 
standen, wie  auch  alle  Zusendungen  auf  seine  Kosten  geschehen.  Über 
jede  materielle  Änderung,  die  der  Redaktion  nötig  scheinen  möchte, 
solle  mit  den  Rezensenten  Rücksprache  genommen  werden.  Folgende 
Sätze  sind  wissenschaftlich  die  entscheidenden: 

,Um  dem  Zweck,  diese  Jahrbücher  durch  innere  Güte  auszuzeichnen, 
vollkommen  zu  entsprechen,  muss  jeder  Recensent  den  Standpunkt  vor 
Augen  haben,  auf  welchem  die  Wissenschaft  steht,  in  welche  die  vor- 
liegende Schrift  eingreift.  Der  Leser  unserer  Blätter  soll  die  Fortschritte 
der  Wissenschaften  leichter  und  bestimmter  als  aus  irgend  einem  andern 
Blatte  kennen  lernen.  Unsere  Leser  sollen  daher  wenig  von  dem  Guten 
und  Nützlichen,  was  wir  in  einer  Schrift  finden,  unterhalten  werden, 
insoferne  die  Wissenschaft  selbst  nichts  durch  die  Schrift  gewonnen  hat. 


184  Reinhold  Steig 

Jede  Becension  muss  freilich  zugleich  zu  erkennen  geben,  ob  der  Ver- 
fasser seinen  Gegenstand  gut  behandelt  habe.  Finden  wir  aber  darin, 
bei  allem  guten  und  nützlichen,  durchaus  keine  neue  Ansichten,  keine 
Bereicherung  für  die  Wissenschaft,  nichts  ausgezeichnetes  in  der  Dar- 
stellung, so  wäre  es  dem  Zwecke  dieser  Blätter  zuwider,  uns  lange  bei 
einer  solchen  Schrift  aufzuhalten." 

„Vorzüglich  sparsam  müssen  unsere  Blätter  im  Lobe  seyn.  Indem 
wir  uns  hauptsächlich  mit  der  Untersuchung  beschäftigen,  ob  und  was 
der  Verfasser  einer  Schrift  Neues  producirt,  ob  die  Wissenschaft  durch 
seine  Bemühung  gewonnen  habe?  legen  wir  uns  die  Pflicht  auf,  das 
wahre  Verdienst  mit  aller  Unpartheilichkeit  anzuerkennen  und  zu  ehren. 
Aber  Schriften,  aus  welchen  wir  nichts  auszuzeichnen  vermögen,  was 
eigentlicher  Gewinn  für  die  Wissenschaft  wäre,  können  auf  unser  Lob 
keinen  Anspruch  machen,  wenn  nicht  etwa  ein  Schriftsteller  Anerkennung 
des  Guten  neben  dem  Ausspruche,  dass  die  Wissenschaft  durch  seine 
Schrift  keinen  Zuwachs  erhalten  habe,  als  Lob  aufnehmen  will.^ 

„Die  Urtheile  müssen  kräftig,  männlich  und,  wo  es  die  Natur  der 
Sache  erlaubt,  entscheidend  seyn.  Sie  müssen  Furchtlosigkeit  verrathen.^ 

«Aber  bei  aller  Strenge  muss  Humanität  das  erste  Gesetz  seyn, 
das  bei  allen  Urtheilen  unverbrüchlich  beobachtet  wird.  Die  Redaktion 
wird  nichts  aufnehmen,  wenigstens  nicht  in  einer  Form  abdrucken 
lassen,  die  jenem  Gesetze  zuwider  wäre.*' 

Kein  Becensent  der  Heidelberger  Jahrbücher  sollte  dasselbe  Buch 
auch  noch  an  anderer  Stelle  recensieren  dürfen.  Für  gewünschte  Anony- 
mität wird  Verschwiegenheit  zugesichert.  Das  Honorar  für  den  ge- 
druckten Bogen  beträgt  drei  Ducaten,  oder  16  Gulden  30  Kreuzer 
Rheinisch. 

In  den  ausgehobenen  Sätzen  liegt  eine  scharfe  Kritik  des  Wesens 
der  übrigen  Litteratur-Zeitungen  damals  und  die  feste  Absicht  der  Heidel- 
berger, es  besser  zu  machen  als  die  anderen.  Man  merkt  wohl  an 
mancher  Verbindung  ziemlich  entgegengesetzter  Bestimmungen,  dass  der 
„Plan**  aus  einem  nicht  ganz  leicht  errungenen  Kompromiss  hervorge- 
gangen ist.  Indessen  Vorschrift  und  Ausführung  der  Vorschrift  sind 
überall  zwei  verschiedene  Dinge,  und  Ausnahmen  von  den  Regeln  er- 
laubte man  sich  sofort  auf  beiden  Seiten,  auf  der  der  Redaktoren  und  der 
Rezensenten.  Übrigens  war  den  Rezensionen,  so  sehr  und  vergeblich  die 
Redakteure  auch  auf  Kürze  drängten,  kein  bestimmter  umfang  zuge- 
messen, und  wenn  nur  formell  durch  Anknüpfung  an  ein  vorgemerktes 
Buch  dem  Rezensionszuschnitt  genügt  war,  konnte  sich  der  Verfasser, 


Zeugnisse  zur  Pflege  der  deutschen  Litteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern     185 

wenn  er  etwas  Tüchtiges  zu  sagen  hatte,  unbeschränkt  in  seinen  Mit- 
teilungen ergehen.  Manche  Beiträge  der  Jahrbücher  sind  auf  diese 
Weise  eher  eine  Abhandlung,  als  eine  Rezension  geworden,  und  eben 
deswegen  haben  sie  um  so  grössere  historische  Wichtigkeit  für  uns. 
Die  Rezensionen  konnten  also  mit  und  ohne  Namen  veröffentlicht  werden; 
die  Regel  war  im  Text  ,ohne  Namen".  Allein  die  Heidelberger  Pro- 
fessoren hatten  das  Sonderrecht  der  Selbstanzeige  ihrer  Werke,  aber 
nur  mit  voller  Namensunterschrift.  Hinzu  kamen  die  Intelligenz-Blätter 
für  Ankündigungen,  buchhändlerische  Angebote,  wissenschaftliche  Nach- 
richten, Antworten  und  Berichtigungen  bestimmt. 

Die  Vielheit  der  an  der  Redaktion  Beteiligten  hatte  ihre  Vorzüge 
und  Nachteile.  Die  Vorzüge  bestanden  darin,  dass  die  ganze  Universität 
an  dem  Gedeihen  der  Jahrbücher  ein  Interesse  hatte,  und  dass  eine 
Vielheit  persönlicher  Beziehungen  zu  Gunsten  derselben  ausgenutzt  werden 
konnte;  auch  war  möglich  bisweilen,  eine  Rezension,  die  in  ihrer  Ab- 
teilung aus  irgend  einem  Grunde  anstössig  gewesen  wäre,  zur  Vermei- 
dung des  Anstosses  in  einer  verwandten  Abteilung  unterzubringen.  An- 
dererseits hemmte  die  Vielheit  der  Redaktoren,  unter  denen  es  flinke, 
eifrige  und  lässige  gab.  Jeder  hatte  schliesslich  doch  seine  eigne  Vor- 
stellung von  kritischer  Gerechtigkeit  und  Parteilichkeit,  von  dem  Zweck 
und  Ziele  der  Jahrbücher,  und  dies  schadete  der  scharfen  Herausar- 
beitung eines  einheitlichen  Geistes,  auf  den  sich  alle  Rezensenten  ein- 
zurichten gehabt  hätten.  Auch  wechselten  die  Personen  öfters.  Die  Fünf- 
teilung der  Jahrbücher,  in  der  Idee  vortrefflich,  führte  in  der  Praxis 
doch  für  die  Leser  von  damals,  und  die  Benutzer  von  heute,  zu  fühl- 
baren Unbequemlichkeiten.  Dies  alles  lässt  sich  im  Einzelnen  genau 
erkennen  und  darthun.  Daneben  besteht  zu  vollem  Rechte,  was  Creuzer 
in  seinem  Buche  rückblickend  auf  die  ersten  Jahre  sagte:  ,Mit  wissen- 
schaftlichem Eifer  und  Wahrheitsliebe  wurde  das  Werk  unternommen. 
Jenen  Ehrenmännern,  die  sich  dabei  thätig  erwiesen,  Daub,  Schwarz, 
Thibaut,  Heise,  Ackermann,  Langsdorf  u.  A.  waren  alle  anderweiten 
Motive  fremd;  und  was  Wilken  und  Böckh,  Schlosser  u.  A.  auf  den 
mir  bekannten  Gebieten  geleistet,  wird  sich  wohl  immer  als  gründliche 
Arbeit  erweisen.* 

Creuzer  spricht  so  als  klassischer  Philolog  und  Professor  zu  Philo- 
logen und  Professoren,  denen  er  als  bejahrter  Mann  durch  Mitteilung  von 
Erfahrungen  aus  seinem  amtlichen  Leben  nützen  wollte.  Dieser  klar 
zu  Tage  liegende  Charakter  seines  Buches  muss  festgehalten  werden,  weil 
man  alsdann  nicht  auf  die  falsche  Suche  nach  Dingen  geht,  die  nicht 


186  Reinhold  Steig 

darin  zu  finden  sind.  Fast  ganz  beiseite  gelassen,  oder  nur  in  Be- 
merkungen angedeutet,  hat  Creuzer  sein  persönlich  und  litterarisch  sehr 
enggeknüpftes  Band  mit  der  damaligen  deutschen  Litteratur.  Darüber 
aber  wissen  wir  genügend  heute  auch  so  Bescheid.  Er  hat  als  Student 
in  Jena  Schiller  gehört  und  dessen  wie  Novalis'  Einschriften  in  sein 
Tagebuch  selbst  bekannt  gegeben.  Es  braucht  ferner  nur  auf  den 
grossen  Einfluss  hingewiesen  zu  werden,  den  in  Marburg  Savignys 
Umgang  nach  der  litterarischen  Richtung  auf  ihn  übte,  so  dass  er  auch 
in  die  Laroche-Brentanosche  Schrifbstellerei  und  Freundschaft  hinein- 
kam. In  Heidelberg,  bemerkt  er  beiläufig  einmal,  habe  er  eine  ihm  von 
einer  uralten  Grossmuhme  vorgesagte  Volksliedstrophe  aus  dem  dreissig- 
jährigen  Kriege  den  Herren  v.  Arnim  und  Clemens  Brentano  mitgeteilt, 
welche  sie  in  des  Knaben  Wunderhorn  aufnahmen.  An  Schütz  in  Halle 
empfahl  er  brieflich  die  Einsiedlerzeitung,  der  jeder  Biedermann  Beifall 
geben  müsse.  Görres,  dem  nur  privatim  dozierenden,  liess  er,  halb  gegen 
die  Satzungen,  in  c^en  Jahrbüchern  das  Wort  zur  Selbstanzeige  und 
nachträglichen  Erweiterung  der  deutschen  Volksbücher.  Mit  Tieck,  als 
er  in  Heidelberg  1806  erschien,  befreundete  er  sich,  mit  Wilhelm  und 
Friedrich  Schlegel  knüpfte  er  an.  Seine  Einladung  Friedrichs,  9. 12. 1807, 
ist  bekannt  (Raich,  Dorothea  1,  240).  Mit  keinem  der  Brüder  Schlegel  war 
er  bisher  in  näheren  Verhältnissen  gewesen,  aber  innerlich  hatte  er  sich 
längst  ihnen  verwandt  gefühlt.  In  der  Schrift  von  1803  über  «die 
historische  Kunst  der  Griechen  in  ihrer  Entstehung  und  Fortbildung* 
zitiert  er  sie,  und  von  Böttiger  deswegen  zur  Bede  gestellt,  bekennt  er 
freimütig  (12. 12.  1803),  dass  er  manche  Ideen  derselben  über  das  Alter- 
tum für  sehr  fruchtbar,  manche  Ansichten  für  neu  und  interessant  halte: 
„In  meiner  Schrift  aber  bin  ich  mir  nicht  bewusst  von  Ideen  derselben 
ausgegangen  zu  seyn,  vielmehr  war  ich  bemüht  mein  Urtheil  von  allen 
fremden  Einflüssen  frei  zu  erhalten.  Da  ich  aber  in  dem  Laufe  einer 
Untersuchung,  wo  ich  so  oft  die  griechische  Poesie  berühren  musste, 
auf  einigen  Punkten  mit  Friedrich  Schlegel  zusammentraf,  so  erforderte 
es  ja  die  historische  Genauigkeit,  diese  gleichlautenden  Zeugnisse  unter 
dem  Texte  anzuführen.^  Die  Brüder  Grimm,  als  ganz  junge  Leute, 
zog  Creuzer  zu  sich  und  seinen  wissenschaftlichen  Arbeiten  heran,  weil 
ihn,  mitten  in  seinen  mythologischen  Forschungen,  natürlich  auch  die 
nordischen  und  altdeutschen  Religionen  und  Dichtungen  fesselten.  Und 
an  die  mit  Goethe  verlebten  glücklichen  Septembertage  1815  erinnert 
unvergänglich  das  Ginge  biloba-Gedicht  im  Buch  Suleika  des  Westöst- 
lichen  Divans. 


Zeugnisse  zur  Pflege  der  deutschen  Litteratur  in  den  Heidelb.  Jabrbachern     187 

Diese  ungefähre  Übersiebt  mag  andeuten,  wie  Creuzer  in  den  Jahr- 
büchern das  Fach  der  deutschen  Litteratur  zu  begründen  und  auszu- 
gestalten begann.  Sein  jüngerer  Freund  August  Böckh,  der  nach  Greuzers 
Weggang  nach  Leiden  im  Sommer  1809  die  Bedaktion  der  fünften 
Abteilung  fibernahm,  wirkte  in  demselben  Sinne  und  mit  erhöhter 
Emsigkeit  weiter.  Creuzer  klagte  immer  von  Anfang  an,  dass  ihn  diese 
Thätigkeit  zu  sehr  zerstreue,  und  die  Creuzer-Böckh*sche  Tradition 
fand  dann,  als  Böckh  zu  Ostern  1811  nach  Berlin  übersiedelte,  in 
Wilken  einen  die  Dinge  sicher  und  nüchtern  behandelnden  Fortsetzer. 

Im  ersten  Jahrgang,  der  im  Ganzen  eine  lokalheidelbergiscbe  Fär- 
bung zeigt,  finden  wir  doch  schon  Rezensionen  von  Jean  Paul,  Friedrich 
Schlegel,  Arnim,  Görres,  Horstig  aus  Miltenberg  (der  vorher  in  Heidelberg 
privatim  doziert  hatte),  Karl  Justi  aus  Marburg  (nach  Greuzers  freund- 
schaftlicher Einschätzung  «als  gefälliger  Übersetzer  alttestamentlicher 
Dichter  etc.  rühmlichst  bekannt*^)  u.  a.  Die  hatte  also  Greuzer  sich  an- 
geworben. Carl  Windischmann  aus  Aschaffenhurg,  der  sich  mit  seinen 
medizinisch-philosophischen  Rezensionen  auf  der  Grenzlinie  mit  dem 
Litterarischen  hielt,  korrespondierte  fast  allein  mit  August  Böckh,  noch 
ehe  dieser  an  der  Bedaktion  beteiligt  war,  zuerst  von  Böckh  wegen 
seiner  Platoarbeiten  etwas  mitgenommen,  dann  aber  mit  ihm  bekannt 
geworden  und  innig  befreundet.  Nach  und  nach  treten  Jacob  und 
Wilhelm  Grimm  hinzu,  aber  auch  Gräter  aus  Schwäbisch  Hall.  Ernst 
Wagner  aus  Meiningen,  dessen  Talent  dem  Jean  PauPs  ähnlich  geartet 
war.  Dann  Wilhelm  Schlegel.  Franz  Hörn  und  Solger  aus  Berlin. 
Niemals  aber,  obwohl  öfters  eingeladen,  Clemens  Brentano  als  Rezensent, 
und  zwischen  allen  geschäftlich,  ja  nicht  blos  geschäftlich  vermittelnd, 
helfend,  ausgleichend  der  Verleger  Johann  Georg  Zimmer. 

Sehen  wir  uns  diese  Männer  heute  an,  so  erkennen  wir  historisch 
sofort,  was  an  ihnen  verschieden  war.  unter  Lebenden  ist  das  aber 
far  dritte  Personen  nicht  so  leicht.  Gewisse  Meinungsverschiedenheiten, 
ja  Gegnerschaften  zwischen  den  zur  Mitarbeit  Eingeladenen  stellten  sich 
erst  allmählich  ein  und  setzten  sich  bis  in  den  Schooss  der  Jahrbücher 
selber  fort.  Grimms  z.  B.  gerieten  mit  Gräter  in  ein  gespanntes  Ver- 
hältnis: während  noch  Jacob  ihm  die  Rezension  einer  seiner  Schriften  vor 
dem  Drucke  zuschickt  und  ihm  die  Einsendung  an  die  Jahrbücher  an- 
heimstellt, verurteilt  Gräter  anonym  an  derselben  Stelle  Wilhelms  Alt- 
dänische Heldenlieder.  Arnim  wird  von  seinen  Freunden  Görres  und 
Grimm  gut,  wie  durch  ein  Versehen  aber  von  Ernst  Wagner  schlecht 
behandelt.    Mit  Schlegels  sucht  Arnim  sich  immer  auf  gutem  Fusse  zu 


188  Reinhold  Steig 

halten:  es  hindert  nicht,  dass  Friedrich  Schlegel  in  denselben  Heidel- 
berger Jahrbüchern,  die  Görres'  enthusiastische  Anzeige  des  Wunder- 
horns  brachten,  eben  diesem  Werke  ein  paai"  stechende,  von  der  Vossischen 
Gegenseite  schadenfroh  begrüsste  Wahrheiten  sagte.  Durch  die  Jahr- 
bücher mittelbar  kam  zuerst  auch  der  Gegensatz  zwischen  den  schon 
berühmten  Brüdern  Schlegel  und  den  noch  nicht  berühmten  Brüdern 
Grimm  auf,  bis  er  plötzlich  in  ihnen  auch  für  alle  Aussenstehende  grell 
sichtbar  wurde.  Namentlich  Wilhelm  Schlegel  und  Jacob  Grimm  traten, 
wie  sich  das  zeigen  wird,  einander  hier  auf  demselben  Boden  störend 
in  den  Weg:  Schlegel  verdross  die  Tonart  der  beiden  jungen  Leute, 
Grimm  der  Wissensgrad  Schlegels,  der  von  den  auf  äusseren  Namen- 
glanz bedachten  Redaktionen  zu  Ansprüchen  geradezu  verzogen  wurde. 
Gewiss,  ein  Name  wie  der  Schlegelsche  war  sehr  wichtig  für  die 
Heidelberger  Jahrbücher,  und  Creuzers  eigene  Bemerkungen  aus  späterer 
Zeit  beweisen,  wie  hoch  er  die  ngelohrten  und  geistreichen*  Beiträge 
dieser  beiden  Brüder  einschätzte :  worin  ihm  Böckh  und  Wilken  folgten. 
Ja  wir  empfangen  nachstehend  die  Belege  dafür,  dass  zu  Gunsten 
Schlegels  in  Jean  Pauls  und  in  Arnims  Rezensionen  von  den  Heidel- 
bergern eingegriffen  wurde.  So  trat  auch  Jacob  Grimm  in  einem 
Falle  1810  aus  freiwilligem  Selbstzwang  vor  Wilhelm  Schlegel  zurück 
und  hatte,  da  er  es  selber  nicht  geheim  hielt,  öffentliche  Missdeutung 
und  Verdruss  davon.  Beide  Brüder  Grimm,  insbesondere  aber  Wilhelm, 
mussten  dann  die  scharfe  Rezension  ihrer  Altdeutschen  Wälder  in  den 
Heidelberger  Jahrbüchern  über  sich  ergehen  lassen.  Und  dies  Ver- 
hältnis gegenseitiger  Abneigung  zog  sich  immer  weiter  hin,  selbst  bis 
in  Goethes  Nähe,  dem  Boisseree,  allerdings  vergeblich,  seine  Freunde 
Schlegel  gegen  die  ihm  nicht  recht  genehmen  Grimms  wieder  anzu- 
empfehlen sich  bemühte.  Später  sind  Wilhelm  Schlegel  und  Grimms  so 
leidlich  mit  einander  ausgekommen,  aber  ohne  die  in  und  neben  den 
Heidelberger  Jahrbüchern  sich  abspielenden  Vorgänge  wäre  dies  alles 
in  gleichem  Masse  nicht  verständlich. 

In  diesen  Vorbemerkungen  deute  ich  die  Dinge  nur  mehr  an,  als 
ich  sie  für  jetzt  ausführe.  Namentlich  auch  übergehe  ich  hier  alles, 
was  die  Rezensenten  zweiten  und  dritten  Wertes  anlangt,  die  schliesslich 
auch  ihr  Recht  erhalten  müssen.  Es  kommt  mir  zunächst  darauf  an, 
urkundliche  Zeugnisse  in  einer  gewissen  Masse  vorzulegen,  aus  denen 
und  durch  die  eine  historische  Wiedererkennung  der  ganzen  Verhält- 
nisse ermöglicht  wird.  Schon  die  Feststellung  der  Autorschaft  der 
einzelnen  Rezensionen  hat  ihre  Schwierigkeit.   Die  Rezensionen  erschienen, 


Zeugnisse  zur  Pflege  der  deutschen  Litteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern     189 

wie  gesagt,  ohne,  selten  mit  Verfassernamen,  aber  auch  mit  blossen 
Anfangsbuchstaben,  mit  willkürlich  gesetzten  Buchstaben  oder  Ghiffern. 
Diese  gilt  es,  zum  Verständnis  und  zur  Wertbestimmung  des  Inhaltes, 
aufzulösen.  Eine  anonyme  Rezension  ist  eigentlich  keine  Rezension; 
man  will  wissen,  wer  sie  geschrieben  hat;  immer  sehen  wir  daher,  im 
Bereiche  unserer  litterarischen  Überlieferung,  vorkommenden  Falls  die 
Frage  aufwerfen :  wer  ist  der  Verfasser?  Fichte  wie  Treitschke  wnssten, 
was  sie  wollten,  als  sie  für  jeden  Zeitungsartikel  die  Unterschrift  des 
Verfassers  forderten.  Rezensionen  haben  eben  einen  subjektiven  Wert, 
der  aber  nicht  allein  beim  Rezensenten  anfängt.  Die  Auswahl  des 
Rezensenten  für  ein  Buch,  die  wissenschaftliche  Stellung  die  er  einnimmt, 
seine  Zugehörigkeit  zu  oder  Abneigung  vor  bestimmten  Gruppen  seiner 
Wissenschaft,  auch  wohl  menschlich  für  sich  oder  den  Autor  nebenher 
laufende  Wünsche  und  Zwecke,  all  das  bedingt,  ohne  des  Einzelnen 
Schuld,  den  subjektiven  Charakter  einer  Rezension.  Dadurch  gerade 
erhöht  sich  für  uns  das  Interesse,  das  wir,  wenn  die  Dinge  historisch 
geworden  sind,  nun  objektiv  solchen  Rezensionen  entgegenbringen. 
Historisch  arbeitend  habe  ich  wenigstens  die  eigentlich  wichtigen  Züge 
einer  anonymen  Rezension  und  sie  selbst  erst  dann  zu  verstehen  ge- 
glaubt, wenn  ich  den  Verfasser  kennen  lernte  und  die  übrigen  Ver- 
hältnisse übersehen  konnte,  unter  denen  sie  entstanden  war.  Nun  aber 
sind  in  den  Heidelberger  Jahrbüchern  die  Unterfertigungen  in  und  ausser 
den  Registern  keine  verlässlichen  Wegweiser  durch  die  Irre.  Sie  stimmen 
nicht  genau.  Es  kam  daher,  dass  diese  äusseren  Dinge  vielfach  dem  ange- 
stellten Sekretär  der  Jahrbücher  überlassen  blieben,  der  seine  Sache  so  gut, 
als  ihm  beliebte,  machte.  Oft  mag  aber  der  Sekretär  selber  nicht  gewusst 
haben,  wer  der  Verfasser  einer  anonymen  Anzeige  war,  und  daraus 
flössen  dann  auch  irrige  und  ungenaue  Angaben.  All  dies  muss  auf- 
geklärt werden,  und  dazu  sollen  die  nachfolgenden  Zeugnisse  dienen, 
die  ich,  nicht  ohne  freundlich  teilnehmendes  Entgegenkommen  von 
mancher  Seite,  allmählich  aus  privaten  Nachlässen  Arnims,  Böckhs, 
Creuzers,  Grimms,  oder  aus  dem  Besitze  der  Königlichen  Bibliotheken 
zu  Berlin  und  Dresden  gesammelt  habe;  manche  Nachforschung  nach 
einst  Vorhandenem  hat,  wie  es  zu  gehen  pflegt,  auch  wohl  zu  keinem 
Resultate  mehr  geführt.  Die  meisten  Blätter  gebe  ich  vollständig 
wieder,  in  dem  Glauben,  dass  auch  die  übrigen  persönlichen  oder  all- 
gemeinen Mitteilungen,  die  sie  enthalten,  der  Geschichte  der  Heidel- 
berger Romantik  nützen  werden;  aus  den  Briefen  Windischmanns  und 
denen  Creuzers  an  Böttiger  allerdings  schien  es  mir  zu  genügen  nur  die 


190  Reinhold  Steig 

einschlägigen  Stellen  auszuheben.  Die  Zeugnisse  erscheinen  rein  chrono- 
logisch hintereinander,  und  ich  merke  nur  das  Notwendigste  zu  ihrem 
Verständnisse  an. 

1.  Friedrich  Creuzer  an  Karl  August  Böttiger. 

Heidelberg,  d,  23.  October  1807. 

.  .  Aus  beiliegender  Ankündigung  und  Plan^)  ersehen  Sie 
nun  was  wir  hier  im  Literarischen  .  .  vorhaben.  Die  wirklich  activen 
Mitglieder  unserer  Universität  arbeiten  sämtlich  an  diesem  Institute. 
Es  kommt  nun  noch  darauf  an,  dass  wir  bedeutende  Gelehrte  des  Aus- 
landes gewinnen.  Daher  ergeht  auch  an  Sie,  verehrungswürdiger  Freund, 
die  Bitte  unser  junges  Institut  durch  Ihren  Rath  und  Ihre  Hülfe  zu 
unterstützen.  Ich  nenne  Ihnen  vorerst  kein  bestimmtes  Buch  zum  Re- 
censiren,  aber  indem  ich  denke,  dass  in  dem  an  Literatur  und  Kunst- 
schätzen so  reichen  Dresden  so  manches  bedeutende  seltene  und  theuere 
Werk  des  Aus-  und  Inlands  aus  dem  Gebiet  der  alten  und  neuen  Kunst 
zuerst  in  Ihre  Hände  kommt,  so  zähle  ich  auf  Ihre  aus  so  vielen  Proben 
erkannte  Freundschaft,  hoffend,  dass  Sie  davon  jezuweilen  für  unsre 
Blätter  eine  Becension  ausarbeiten.  Auch  bitte  ich  um  freundschaft- 
liche Mittheilung  Ihrer  Gedanken  über  die  Einrichtung  unseres  Instituts. 
So  viel  an  mir  liegt,  wird  kein  Wink  meines  einsichtsvollen  Freundes 
verlohren  gehen  .  . 

(Am  Rande :)  Voss  der  Vater  hat  an  den  Literarischen  Jahrbüchern 
nicht  den  geringsten  Theil. 

Nehmen  Sie  die  Versicherang  meiner  wahren  Verehrung  an 

Ihr  ergebenster 

Fr.  Creuzer. 

2.  Friedrich  Creuzer  an  Karl  August  Böttiger. 

(Heidelberg)  d.  24.  October  1807. 

Da  mein  Brief  sich  verspätet  hatte,  so  füge  ich  heute  noch  ein 
Blättchen  hinzu  .  . 

Ich  lege  Ihnen  auch  den  Plan  der  Heidelb.  Lit.  Jahrbücher  bei  *), 
nicht  um  Ihnen  die  darin  enthaltenen  Regeln  vorzulegen  (welches 
einem  Veteranen  gegenüber  mir  schlecht  anstehen  würde),  sondern  da- 
mit Sie  doch  mit  der  inneren  Einrichtung  dieses  so  eben  aufkeimenden 

Instituts  bekannt  werden  möchten  .  . 

Ihr 
Creuzer. 

1)  Über  die  ^Ankündignng**  vgl.  oben  S.  181.  —  Böttigers  Briefe  an  Creiuer 
sind  in  Karlsruhe,  auf  der  Hof-  und  Staatsbibliothek,  nicht  vorhanden. 

2)  Ober  den  „Plan"  vgl.  oben  S.  183. 


Zeugnisse  zur  Pflege  der  deutschen  Litteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern     191 

3.  Friedrich  Creuzer  an  Karl  August  Böttiger. 

Heidelberg,  d.  10.  Januar  1808. 

.  .  Von  unseren  Li t.  Jahrbüchern  ist  nun  das  erste  juristische 
Heft  ausgeflogen.  Es  geht  mit  den  Bestellungen  sehr  gut,  und  es  ist 
kein  Zweifel,  dass  sie  aufkommen  werden.  Die  Bedingung,  unter  der 
Sie  Ihre  Theilnahme  zusagen,  stimmt  auch  mit  meiner  üeberzeugung 
überein.  Da  ich  indessen  nicht  der  einzige  Bedacteur  bin,  so  musste 
ich  dem  Schluss  der  Mehrheit  folgen,  welcher  dahin  aasfiel,  dass  Nen- 
nung des  Namens  oder  Anonymität  oder  Chiffre  jedem  Becensenten  frei 
stehen  soll.  Mehrere  Becensenten  und  namentlich  ich  werden  die  Namen 
unterzeichnen.  Warum  sollte  ich  mich  auch  nicht  nennen  P  ich  bin  mir 
einer  redlichen,  von  personellen  Beziehungen  freien,  wissenschaftlichen 
Gesinnung  bewusst.  In  meinen  Beiträgen  zum  ersten  philologischen 
Heft,  das  auch  bald  erscheinen  wird,  habe  ich  selbst  im  Widerspruch 
mit  Vossischen  Lieblingsmeinungen,  diese  Freiheit  mir  vindicirt  und 
werde  sie  ferner  behaupten  .  .  Diese  Achtung  für  jedes  rechtschaffene 
Bemühen  in  der  Wissenschaft  suche  ich  und  Daub  auch  in  den  Stu- 
dien zu  beweisen,  worin  wir  Arbeiten  von  den  heterogensten  Denkern 
aufnehmen.  So  enthält  z.  B.  der  nächstens  erscheinende  3te  Band  neben 
einer  Abhandlung  vom  Skeptiker  Fries  auch  eine  von  Görres  .  . 

Hoffentlich  werden  Sie  bei  der  oben  angegebenen  Einrichtung  un- 
serer Lit.  Jahrb.  kein  Bedenken  tragen,  zuweilen  die  Beurtheilung 
eines  bedeutenden,  kostbaren  antiquarischen  Werks,  dergleichen  Ihr  Dresden 
so  viele  gewinnt,  für  diese  Blätter  zu  übernehmen,  und  ich  freue  mich 

dieser  Gelegenheit  von  Ihnen  zu  lernen  .  . 

Creuzer. 

4.    Bettina  Brentano  an  Goethe. 

[Frankfurt,  im  März  1808.J 
Friedrich  Schlegel  wird  Goethes  Werke  in  der  Heidelberger  Littera- 
turZeitung  rezensieren.    Hat  doch  der  Wolf  den  Hirten,  endlich  selbst 
fressen  wollen.') 

1)  Aus  der  Nachschrift  eines  undatierten  Original -Briefes  Bettina  Brentanos, 
der  mit  den  Worten  „Wer  dranssen  auf  der  Taunusspize**  (Briefwechsel  mit  einem 
Kinde,  3.  Aufl.,  S.  111)  beginnt.  Durch  den  Absatz  „Die  Erziehungsplane  und  Juden- 
broschOien  werd  ich  mit  nächstem  Posttag  senden*"  weist  sich  dieser  Brief  als  Ant- 
wort auf  Goethes  Brief  an  Bettina  vom  24.  Febniar  1808  (Weim.  Ausgabe  IT  20,  21) 
ans,  gehört  also  in  den  März  1808.  Friedrich  Schlegels  Rezension  der  ersten  vier 
Bände  von  Goethes  Werken  erschien  im  zweiten  Hefte  1808  S.  145;  der  Druck  der 
Hefte  war  im  Januar  1808  wegen  überhäufter  Arbeit  ins  Stocken  geraten  (Görres- 
Briefe  7,  500).  Ausser  Goethe  noch  Adam  Molior  und  Bttschings  Volkslieder  (oben 
S.  188)  von  Fr.  Schlegel  anonym  rezensiert,  im  Register  sämtlich:  „Von  Fr.  S." 

NEUE  HEIDELB.  JAHRBUECHEK  XI.  13 


192  Reinhold  Steig 

5.  Carl  Windischmann  an  August  Böckb. 

Aschaffenburg  d.  14.  Juli  1808. 
.  .  Creuzern  meinen  herzlichen  Gruss.  Von  Daub,  dem  ich  das- 
selbe zu  entrichten  bitte,  hab  ich  auf  einige  Anfragen  wegen  philoso- 
phischer Rezensionen  noch  keine  Antwort  und  weiss  nicht,  was  ich 
daraus  machen  soll.  Die  physiologische  Rezension  von  Walther  im 
nächsten  medizinischen  Heft  der  Jahrbücher  wird  Sie  hie  und  da  freuen,  ^) 
besonders,  wo  es  mir  etwa  gelungen  ist,  das  Scholastische  wieder  zu  be- 
leben . .  Ewig  der  Ihrige 

Windischmann. 

6.  Friedrich  Creuzer  an  Wilhelm  Grimm. 

Heidelberg,  26.  October  1808. 

Recht  willkommen,  mein  hochzuverehrender  Herr,  war  mir  Ihr 
Brief  vom  11  mit  den  beiden  Beilagen,  und  für  das  eine,  wie  für  das 
andere  sage  ich  Ihnen  meinen  verbindlichsten  Dank.  Die  Recension 
wird  in  einem  der  ersten  Hefte  des  nächsten  Jahres  der  Heidelberger 
Jahrbücher  eine  Stelle  finden,')  und  die  Verlagshandlung  wird  Ihnen  das 
für  den  gedruckten  Bogen  bestimmte  Honorar  ä  20  fl.  Rheinisch  notiren. 

Die  historische  Abhandlung^)  kann  indessen  in  die  Jahrbücher  nicht 
aufgenommen  werden,  d^  der  enge  Raum  dieser  Zeitung  die  Aufnahme 
von  Abhandlungen  überhaupt  nicht  mehr  gestattet. 

Dagegen  biete  ich  Ihnen  die  Studien  dazu  an,  wo  sie  bald  ab- 
gedruckt werden  kann.  Das  Honorar  von  den  Studien  ist  für  den  ge- 
druckten Bogen  12  fl.  Rheinisch.  Der  Druck  ist  aber  grösser  und  weit- 
läufiger, so  dass  der  Unterschied  des  Honorars  doch  nicht  sehr  be- 
trächtlich ist. 

Haben  Sie  die  Güte  mich  über  Ihren  Entschluss  mit  einigen  Zeilen 
zu  benachrichtigen. 

Bei  künftigen  Sendungen  von  Packeten  bitte  ich  Sie,  sich  der  fah- 
renden Post  zu  bedienen. 

Es  wird  mir  recht  erwünscht  seyn,  wenn  Sie  die  unter  uns  ange- 
knüpfte literarische  Verbindung  fortsetzen  wollen,  und  ich  werde  die 
Gelegenheit  nicht  vorbeilassen  Sie  jezuweilen  um  neue  Beiträge  für  die 

1)  Über  Physiologie  des  Menschen  mit  durchgängiger  RQcksicht  auf  die  kom- 
parative Physiologie  der  Tiere  von  Ph.  Fr.  Walther:  Medizinische  Abteilang  180S, 
S.  218—265,  im  Text  anonym,  im  Register:  Von  Windischmann. 

2)  Über  der  Nibelungen  Lied,  hg.  von  Fr.  H.  v.  d.  Hagen,  im  Jahrgang  1809, 
Heft  4  und  5  (Kleinere  Schriften  1,  61);  zu  der  Honbrarbestimmung  vgl.  oben  S.  184). 

3)  Über  die  Entstehung  der  altdeutschen  Poesie  und  ihr  Verhältnis  zu  der 
nordischen:  in  Daub  und  Creuzers  Studien  Bd.  4  (Kl.  Sehr.  1,  92).  Vgl.  Deutsche 
Literatur-Zeitung  1902  Nr.  25  zu  den  Briefen  an  Benecke. 


Zeugnisse  zur  Pflege  der  deutschen  Litteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern     193 

Jahrbücher  zu  bitten.    Empfehlen  Sie  mich  bei  Ihrem  älteren  Herrn 

Bruder  bestens.  Ihr  jüngerer  Hr.  Bruder,  ^)  den  ich  gestern  noch  sprach, 

befindet  sich  recht  wohl.     Mit  wahrer  Hochachtung 

der  Ihrige 

Fr.  Creuzer. 

7.    Friedrich  Creuzer  an  Wilhelm  Grimm. 

Heidelberg,  d.  18.  December  1808. 
Hochzuehrender  Herr  und  Freund! 

Beiliegenden  Brief  an  Herrn  v.  Arnim  geben  oder  senden  Sie  ihm 
doch  gefälligst  sogleich,  üa  ich  seine  Berliner  Addresse  nicht  weis,  so 
muss  ich  Sie,  falls  er  abgereisst  wäre,  mit  dieser  Bitte  beschweren. 

Ihr  Zusatz  zu  der  Abhandlung  in  den  Studien  kam  zu  spät. 
Doch  ist  am  Ende  der  Abhandlung  noch  das  Citat  von  Müller, 
Schweizergeschichte  beigefügt  worden. 

Die  andere  Note  soll  zur  folgenden  Abhandlung  aufgehoben  werden. 

Um  diese  bitte  ich  Sie  nun  recht  sehr,  denn  da  das  Stück,  was 
den  ersten  Theil  Ihrer  Abhandlung  enthält,  in  diesen  Tagen  ausgegeben 
wird,  so  soll  gleich  mit  dem  Druck  des  neuen  fortgefahren  werden,  und 
in  dieses  muss  sie. 

Ihre  Becension  erscheint  nächstens.  Vorläufig  ist  es  in  den  Studien 
bemerkt  worden,  dass  die  Becension  mit  der  Abhandlung  in  Zu- 
sammenhang steht. 

Ich  gratulire  Ihrem  älteren  Herrn  Bruder  zu  der  literarischen 
Muse.')  Die  vaterländische  alte  Literatur  darf  nun  noch  schöne 
Früchte  von  Ihnen  Beiden  hoffen.  Glücklicher  Weise  denken  nicht  alle 
Gelehrte  so,  wie  der  alte  Eutinische  Sehulmonarch,  ^  der,  wie  in  der 
Griechischen  und  Lateinischen,  so  auch  höchstwahrscheinlich  in  der  alt- 
deutschen Literatur  zum  Verwundern  wenig  gelesen  hat.    Grüssen  Sie 

Ihren  Hrn.  Bruder. 

Aufrichtig  hochachtend  Ihr 

Fr.  Creuzer. 

(Am  Bande:)  So  wie  mir  wieder  etwas  aus  dem  Kreis  Ihrer  For- 
schungen vorkommt,  werde  ich  Sie  um  fernere  Beiträge  für  die  Jahr- 
bücher bitten. 


1)  Ludwig  Grimm,  der  Maler,  seit  Anfang  Jani  in  Heidelberg,   und   von  da 
nach  München  gehend. 

2)  Mundartlich  für  Müsse.    Jacoh  Grimm  war  im  Juli  znm  Privatbibliothekar 
des  Königs  Jerome  ernannt  worden. 

3)  Johann  Heinrich  Voss.    Der  Vorwurf  der   Unbelesenheit  kehrt  auch   in 
Arnims  Angriffen  auf  Voss  wieder,  oder  vielmehr  steht  damit  in  Verbindung. 

13* 


194  Reinhold  Steig 

8.    Friedrich  Creuzer  an  Achim  von  Arnim. 

Heidelberg,  d.  18.  December  1808. 

Ihren  Unfall  unterwegs,  verehrtester  Freund,  erfuhr  ich  bald  durch 
meinen  Vetter,  ^)  den  Sie  meinen  Bruder  nennen.  Gottlob  dass  es  so  ab- 
gegangen ist,  mit  blossem  Stubenarrest. 

Wie  sehr  mir  Ihre  epistola  ad  Yossium  gefallen  hat  in  Ton  und 
Art  und  in  ihrer  sich  durchaus  gleichbleibenden  Haltung  kann  ich  Ihnen 
nicht  genug  sagen.  Sie  machen  sich  dadurch  um  die  deutsche  Litera- 
tur verdient.*) 

Lassen  Sie  sich  nun  kurz  erzählen,  wie  es  hier  damit  gegangen 
ist.  Das  Finale  errathen  Sie  schon,  da  Sie  wissen,  wie  ich  hier  ge- 
stellt bin. 

Schon  acht  Tage  vor  Empfang  Ihres  Briefes,  musste  ich  von  Thi- 
baut  (der  doch  zu  Vossens  Feinden  schwören  will)  die  Zumuthung 
hören  (er  ist  jezt  Mitredacteur) :  keine  Ihrer  Recensionen  wieder  mit 
Ihrem  Namen  abdrucken  zu  lassen. 

Ich  gedachte  also  den  Brief  ohne  weiter  bei  der  Redaction  herum- 
zufragen im  Intelligenz-Blatt  abdrucken  zu  lassen.  Dagegen  bemerkte 
aber  Hr.  Zimmer  und  Wilken,  dass  dieses  zur  grossesten  Spaltung  An- 
lass  geben  würde,  da  das  Intelligenz-Blatt  Eigenthum  des  ganzen  In- 
stituts sey  und  jedem  Heft  beigelegt  werde.  Zu  einer  Umfrage  aber 
den  Versuch  zu  machen,  benahmen  mir  und  Zimmer  fernere,  unter  der 
Hand  angestellte  Erkundigungen  (selbst  Daub  hielt  es  für  unmöglich  — 
dem  Ihr  Brief  selbst  überaus  wohl  gefiel)  allen  Muth  —  und  so  hat 
denn  der  alte  Wütherich  hier  in  loco  für  seine  schlechten  Streiche  ge- 
rade den  allerfreiesten  Spielraum.  Mehrere  der  Wortführer  in  der  Re- 
daction haben  nämlich  keine  andere  Sorge,  als  die  Jahrbücher,  durch 
gehörige  Castrirung  und  Zähmung,  für  den  grossen  Haufen  in  dem  Ruf 
guter  Waare  zu  erhalten  —  Vaterland  und  Wissenschaft  mögen  dann 
zusehen,  wie  sie  dabei  zurecht  kommen. 

Auf  obige  Zumuthung  Thibauts  gebe  ich  übrigens  eine  factische 
Antwort,  dadurch  dass  ich  eine  Recension  von  Ihnen  (vom  Dichter- 
garten) an   die  Spitze  des  2ten  philologisch-ästhetischen  Hefts  stelle, 


1)  Leonhard  Creuzer  in  Marburg;  Arnim  hatte  mit  dem  Reisewagen  Unglück 
gehabt. 

2)  Gemeint  ist  Arnims  aus  Cassel,  8.  Dezember  1808  ^An  Hrn.  Hofrath  Voss 
in  Heidelberg**  erlassenes  Schreiben,  das  im  Intelligenzblatt  der  JenaiscJien  Littera- 
tur-Zeitung  Nr.  3  vom  6.  Januar  1809  abgedruckt  ist.  Arnim  hatte  es  also  auch 
zur  Aufnahme  io  die  Heidelberger  JahrbQcber  eingeschickt. 


Zeugnisse  zur  Pflege  der  deutscheu  Litteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern     195 

das  in  diesem  Augenblick  unter  der  Presse  ist,  das  ist  Alles  was  ich 
thun  kann,  ohne  Jemand  zu  fragen.^) 

Die  Becension  vom  Wunderhorn  ist  nun  angelangt.  Sie  ist  aus- 
führlich und  mitunter  recht  gelehrt.  Nur  der  Anfang  ist  mir  zu  sehr 
im  Ton  der  Kecension  von  Runge 's  Blättern.  Ich  habe  daher 
Görres  um  die  Erlaubniss  gebeten  vornen  das  etwas  zu  brennende  Golo- 
rit  ein  bisgen  abzustreifen.  Ich  werde  sorgen,  dass  sie  nun  bald  kommt.') 

Ihre  Becension  von  Jacobi  findet,  laut  mehreren  eingelaufenen 
Nachrichten,  vielen  Beifall,  und  namentlich  hat  mir  der  Pfarrer  Bang 
in  einem  Gevatternbrief  an  mich  (Mitgevatter  ist  Savigny)  mir  aufge- 
tragen Ihnen  dafür  die  Hand  zu  drücken.') 

Das  Vossische  Haus  wird  jetzt  durch  einen  neuen  Plan  bewegt: 
den  beohrfeigten  Martens  in  eine  vacantgewordene  Lehrerstelle  am  hie- 
sigen Gymnasio  zu  bringen.  Da  wird  stark  nach  Karlsruh  correspon- 
dirt  mit  Ewald  und  Graf  Benzel.   Ohne  Zweifel  geht  der  Plan  durch.  ^) 

Letzterer  (Benzel)  demaskirt  sich  im  Jason  immer  mehr.  Der  alte 
Hr.  Rector  soll  das  Haupt  der  deutschen  Philologen  seyn,  und  die  deut- 
schen Universitäten  sollen  eben  aufhören.^) 

Ihren  Brief  an  Voss  sollten  Sie  doch  vor  allen  Dingen  an  die  Hal- 
lische Literatur-Zeitung  schicken.^)  Dort  nimmt  man  ihn  ja  wohl  am 
ersten  auf.  Zimmer  meinte  auch  vor  allen  Dingen  in  den  Hamburger 
Correspondenten. 

Zimmern  habe  ich  neulich  gebeten,  Sie  um  einige  neue  Recensionen 
für  die  Jahrbücher  zu  ersuchen  unter  andern  von  Seume's  Miltiades. 
Ich  vergass  aber  die  Hauptsache.    Diese  besteht  in  der  angelegentlichen 

1)  Rostorf»  Dichter-Garten  etc. :  Heidelberger  Jahrbücher  1809  S.  53,  im  Text 
anonym,  im  Register:  „Von  L.  A.  v.  Arnim*.  —  Der  Nr.  29  der  Einsiedler-Zeitung 
halte  Arnim  von  Rostorf  das  Gedicht  „Lebensweise*  vorangestellt:  hierzu  ist  die, 
offenbar  von  Arnim  selbst  herrührende,  Druckfehlcranzeige  im  Intelligenzblatt  der 
Heidelberger  Jahrbücher  1808,  Nr.  14,  S.  452  zu  berücksichtigen.  Die  «Lebensweise** 
war  Arnim  handschriftlich  durch  Friedrich  Schlegel  zugekommen  (Schlegel  8.  6. 1808, 
bg.  von  Walzel  in  der  Zeitschr.  f.  öst.  Gymn.  1889.  40,  100). 

2)  Wunderhorn  und  Runges  Vier  Blätter  von  Görres  rezensiert.  Eine  Auf- 
stellung der  von  Görres  herrührenden  Beiträge  bei  Franz  Schultz,  J.  Görres  als 
Herausgeber,  Litterarhistoriker,  Kritiker  1902,  S.  78.  Vgl.  Neue  Heidelberger  Jahr- 
bücher 1901.  10,  12. 

3)  Jacobi,  Über  gelehrte  Gesellschaften;  dazu  zwei  Gegenschriften  von  Rott- 
manner  und  Aman :  Heidelb.  Jahrbücher  1808,  S.  362.  Pfarrer  Bang  in  Gossfelden, 
der  Freund  Savignys,  Brentanos,  Grimms,  war  ein  Vetter  Creuzers. 

4)  Näheres  darüber  in  den  Görresbriefen  8,  46. 

5)  Über  Graf  Benzel-Sternaus  Zeitschrift  Jason  vgl.  „Heinrich  von  Kleists 
Berliner  Kämpfe**  1901,  S.  391. 

6)  Grenzer  in  befreundetem  Verhältnis  zum  Heransgeber  Prof.  Schütz  (oben  S.  182). 


196  Reinhold  Steig 

Bitte:  von  Schillers  Theater  uns  eine  Kritik  zu  machen.    Es  ist 
mir  viel  daran  gelegen.    Thun  Sie  es  doch.^) 

Sie  hatten  recht.  In  jener  grausenvollen  Nacht  ist  auch  nicht  ein 
Blutstropfen  geflossen  — ,  und  ich  muss  lachen  so  oft  ich  daran  denke. 
Indessen  hat  die  AiFaire  doch  die  Folge  gehabt,  dass  hiesige  Stadt  ihre 
Garnison  verloren  hat,  die  vor  acht  Tagen  nach  Mannheim  verlegt 
worden  mit  der  Erklärung,  es  sollten  keine  Soldaten  mehr  her  —  nach- 
dem hiesige  Bürgerschaft  vorigen  Sommer  eine  Caserne  aus  ihrem  Beutel 
erbaut  hat  —  die  sie  6000  fl.  kostet.  Das  ist  acht  Badisch.')  —  Adieu, 
lieber  Freund.  Vergessen  Sie  uns  nicht,  besonders  auch  Schiller 
nicht.    Alle  Bekannte  grüssen  herzlich.    Aufrichtig  der  Ihre 

Fr.  Creuzer. 

9.   Johann  Georg  Zimmer  an  Achim  von  Arnim. 

Heidelberg,  d.  21  te  Januar  1809. 

Lieber  Arnim,  wenn  ich  nicht  wüsste,  dass  Sie  mir  im  Briefschreiben 
etwas  zu  gute  hielten,  so  wäre  ich  wirklich  in  Verlegenheit,  und  ich 
bin  es  doch,  dass  ich  Ihnen  bisher  auf  Ihre  drey  Briefe  noch  keine 
Zeile  geantwortet  habe.  ^  Vergeben  Sie  mirs.  Jetzt  nachdem  ich  in  den 
heute  angekommenen  Blättern  der  Jenaischen  Literatur-Zeitung  Ihre 
Erklärung  gegen  Voss  gedruckt  gesehen  habe,  schiebe  ich  es  nicht 
länger  auf,  Ihnen  zu  sagen,  wie  sehr  ich  mich  über  dies  köstliche  Stück 
gefreut  habe;  beynahe  so  gut  hat  mir  in  Hinsicht  ihrer  Schlechtigkeit 
die  Vossische  Antwort  gefallen.^)  Der  Mann  muss  in  seinem  üebermuth 
durchaus  nicht  gehört  haben,  was  Sie  ihm  gesagt,  oder  alles  für  Spass 
halten.  —  Brentano  hat  mir  unterdessen  seine  kurze  Erklärung  gegen 
Voss  ebenfalls  zugeschickt.  Ich  hoffe  dass  sie  nächstens  auch  in  einigen 
Zeitungen  gedruckt  erscheinen  wird.  Sie  ist  gar  hübsch  und  Voss  kann 
wohl  bey  einigen  Stellen  in  die  Verlegenheit  kommen  zu  glauben,   er 


1)  Für  SchiUers  Theater  war,  auch  vergeblich,  Ludwig  Tieck  von  Creuzer  an- 
gegangen  worden  (Zimmer  S.  264). 

2)  Dies  gehört  zu  der  „Dfirrischen  kleinen  Revolution*,  über  die  Arnim  an 
Görres  (8,  39)  schreibt. 

3)  Von  diesen  „drei  Briefen**  Arnims  enthält  das  Buch  über  Johann  Georg 
Zimmer  und  die  Romantiker,  hg.  von  Heinrich  Zimmer,  keinen  einzigen;  möglicher 
Weise  war  der  eine  der,  in  welchem  Arnims  Schreiben  «An  Voss*  übermittelt  wurde. 

4)  Voss'  Antwort  an  Arnim,  den  er  aber  nicht  mit  Namen  nennt,  im  Intelligenz- 
blatt der  Jen.  Litteratur-Zeitung  Nr.  5  vom  11.  Januar  1809. 


Zeugnisse  zur  Pflege  der  deutschen  Litteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern     197 

hätte  sie  selbst  gemacht.  ^)  —  Wissen  Sie  denn,  dass  Eichstädt  Ihre  An- 
zeige vor  dem  Abdruck  an  Voss  geschickt  hat,  ob  er  auch  erlaube,  sie 
abzudrucken?  und  Voss  hat  sie  dann  mit  seiner  Antwort  zurück  ge- 
schickt. 

Mir  hat  dieser  Voss  seit  3—4  Monaten  unsäglichen  Aerger,  Ver- 
druss  und  auch  Schaden  zugefügt.  Er  hat  unter  dem  Schein  gutmüthiger 
Sorge  für  mich,  bey  Leuten  die  es  nicht  beurtheilen  können,  deren  gute 
Meynung  von  meinem  Geschäft  mir  aber,  wie  er  wohl  wusste,  wichtig 
ist,  dieses  verdächtig  zu  machen  gesucht  und  ein  Oeschrey  angerichtet, 
als  sey  ich  mit  den  Romantikem  und  Mystikern  etc.  verschworen  und 
diese  richteten  mich  zu  Grunde.  Durch  solch  allgemein  verbreitetes 
miserables  Geschwätz  verleitet  wäre  ich  beynahe  zu  einem  Verlags- 
artikel  gekommen,  dessen  ich  zeitlebens  mich  würde  geschämt  haben. 
Baggesens  vollendeten  Faust,  von  dem  Sie  ja  hier  schon  gehört  haben, 
habe  ich  drucken  sollen.  Anfänglich  rieth  mir  ein  Freund  dazu,  der 
es  far  politisch  hielt,  dass  bey  mir  etwas  von  der  Gegenparthey  ver- 
legt würde,  er  meynte,  dann  sey  den  Leuten  das  Maul  gestopft.  Mir 
schien  das  anfänglich  selbst  so  und  ich  ging  weiter  als  ich  kluger  Weise 
hätte  gehen  sollen.  Baggesen  kam  selbst  wieder  hierher.  Ich  beknm 
das  Stück  unter  einem  Vorwand  in  die  Hände  und  er  selbst  las  bey 
mir  etwas  daraus  vor.  Jetzt  erst  sah  ich,  was  ich  gemacht  hatte  und 
hätte  mögen  des  Teufels  werden.  Ich  lebte  zwei  Tage  im  Fegefeuer. 
Endlich  gab  mirs  Gott  ein  den  Kerl  zu  beleidigen :  ich  wollte  ihm  das 
Agio  von  den  Louisd'ors  abziehen  und  das  hat  mich  vor  der  Selbst- 
kreuzigung gerettet.  Auch  hierbey  war  Vosä  thätig,  auch  wieder  aus 
anscheinend  guter  Meynung,  aber  hätten  sie  mich  gehabt,  dann  hätten 
die  Teufel  sich  höhnisch  ihres  Schelmstreichs  gefreut.  Dieser  vollendete 
Faust  ist  ein  schändliches  Ding.    Voll  Witz,  bey  dem  man  aber  nicht 


1)  Die  Erkl&nxDg  Brentanos  «Zu  allem  üeberflnss  an  Herrn  Hofrath  Voss  in 
Heidelberg,  dass  man  keine  KirchenUeder  an  ihn  gedichtet"*,  welche  im  Intelligenz- 
hlatt  der  Jen.  Litteratnr-Zeitong  Nr.  18  vom  4.  M&rz,  in  der  Hallischen  Litteratur- 
ZeituDg  vom  8.  M&rz  1809  gedruckt  ist,  erschien  aber  im  NOmberger  Correspondenten 
schon  in  der  Nummer  vom  30.  Januar  1809.  Hierauf  bezieht  sich,  was  Brentano 
mit  durchschlagender  Komik  an  Zimmer,  am  6.  Juni  1811,  als  dieser  ihm  die 
Rechnung  daftlr  präsentiert  hatte,  schreibt  (Zimmer  S.  192) :  ^.Stellen  Sie  sich  vor, 
wie  Voss  gerächt  ist  gegen  die  Anzeige  in  dem  Correspondenten,  da  ich  24  6.  da- 
für bezahlen  muss  und  er  nichts,  umsomehr,  da  ich  von  der  ganze  Anzeige  nichts 
mehr  wnsste,  und  wenn  Arnim  es  mich  nicht  versicherte  und  die  Rechnung,  so 
glaubte  ich,  es  hätte  Ihnen  geträumt.  Ich  versichere  Sie,  dass  bis  jetzt  mich  keine 
Bekanntmachung  in  der  Welt  so  interessirt,  dass  ich  24  fl.  dafür  gegeben  hätte, 
doch  es  ist  geschehen." 


198  Reinhold  Steig 

zum  lachen  kommen  kann,  vor  Empörung  und  Schaam.  Das  Ding  ist 
eigentlich  gar  nicht  gegen  die  neueste  Zeit,  gegen  die  alte  erste  Schlegel- 
Tieckische  und  bekommt  dadurch  ein  lächerliches  Ansehen,  weil  die 
Streiche  gar  niemand  treffen.   Tieck  wird  gemein  schändlich  behandelt. 


Creuzer  hat  mir  schon  lange  aufgetragen  Sie  zu  bitten,  doch  fol- 
gende Sachen  für  die  Jahrbücher  anzuzeigen: 

Attila  von  Werner. 
Miltiades  von  Seume. 
Penthesilea  von  v.  Kleist.  ^) 


Meine  Frau  grüsst  Sie  bestens.  Vergessen  Sie  uns  nicht.  Unser 
Kind  wird  täglich  herrlicher. 

Mit  stets  treuer  herzlicher  Gesinnung 

Ihr  Zimmer. 

(Nachschrift:)  Ich  lege  die  Abrechnung  über  einige  im  vorigen 
Jahrgang  der  Jahrbücher  von  Ihnen  abgedruckte  Anzeigen  bey.  Den 
Betrag  habe  ich  Ihnen  vorläufig  gut  geschrieben. 

10.   Achim  von  Arnim  an  Friedrich  Creuzer. 

Berlin  d.  25.  Januar  1809. 

Vielen  herzlichen  Dank  für  die  Zeichen  Ihrer  freundschaftlichen 
Erinnerung,  die  mir  Ihr  Brief  giebt;  meine  Vermuthung  hat  mich  nicht 
getäuscht,  dass  Sie  der  einzige  in  Heidelberg  seyn  würden,  der  noch 
meiner  gedächte,  von  Zimmer  hörte  ich  noch  kein  Wort.  —  Und  viel- 
leicht gehen  Sie  auch  bald  fortP  Unter  uns  gesagt,  Wolf  ist  der  An- 
trag nach  Landshut  gemacht  worden,  er  sagte  mir  aber,  dass  er  ihn 
ausschlüge;  er  scheut  etwas  die  regelmässig  vielen  Vorlesungen  und 
will  auch  eigentlich  nur  Oberdirektion  und  Arbeit  nach  Gefallen  bey 


1)  Infolge  dieses  Auftrages  schrieb  Arnim  in  einem  Billet,  das  ich  besitze,  an 
Reimer:  „femer  erbitte  ich  mir  zur  Durchsicht,  wenn  Sie  gerade  diese  Bücher 
liegen  hahen  oder  mir  gefalligst  verschaffen  köonlen:  Attila  von  Werner,  Seumes 
Miltiades,  Kleists  Penthesilea  .  .  Ich  soll  das  recensieren  und  hab  noch  nichts  als 
das  erste  mit  Augen  gesehen,  das  ist  doch  zuviel  verlangt;*"  vgl.  H.  v.  Kleists  Ber- 
liner Kämpfe  S.  176.  —  Nur  die  Attila-Rezension  ist  im  Jahrgang  1810  S.6,  anonym, 
im  Register  von  TT — Q,  erschienen. 


*  Zeagnime  zur  Pflege  der  deatschen  Litteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern     199 

der  hier  zu  errichtenden  Universität.  —  Dann  wird  Voss  herrschen  in 
Heidelberg!  Es  thut  mir  leid,  denn  ich  habe  doch  wirklich  viel  An- 
hänglichkeit noch  an  den  treuen  Berg  und  die  luftigen  Schlösser.  — 
Sie  werden  in  der  Jenaer  mich  und  ihn  gehört  haben,  ich  lege  Ihnen 
meine  Antwort  bey/)  zeigen  Sie  die  an  Zimmer,  und  wem  Sie  wollen, 
die  schändliche  Lügenhaftigkeit  des  Brutus  im  zitzenen  Schlafrock  trit 
immer  deutlicher  hervor,  ich  hoffe  doch,  dass  den  Leuten  endlich  die 
Augen  aufgehen.  —  Die  Becension  des  Schillers  trag  ich  in  Gedanken, 
aber  geschrieben  ist  noch  nichts  davon,  noch  hätte  ich  Lust  Brentanos 
sämtliche  Arbeiten  vom  Anfange  seiner  Schriftstellerey  zu  characteri- 
siren,  manches  von  ihm,  das  ich  wieder  in  die  Hände  bekam  hat  mich 
so  neu  und  anmuthig  überrascht,  dass  ich  auch  andern  die  Freude 
gönnte  und  machen  wollte.  Glauben  Sie,  dass  es  sich  für  die  Jahr- 
bücher schickt?  Seume*s  Miltiades  ist  mir  noch  nicht  zu  Gesicht  ge- 
kommen. —  Für  Görres  hab  ich  wenig  Aussicht,  ^  ich  hoffe  Savigny  ist 
glücklicher.  —  Mit  Brentanos  Ehewesen  scheint  es  in  Landshut  besser 
zu  gehen,  es  überrascht  und  freut  mich,  ich  wünsche  Fortgang  und 
glaube  doch  nicht  daran.  —  Hier  ist  alles  in  grossen  Geldverlegenheiten, 
ich  befinde  mich  unter  der  Zahl  mit,  die  Beise  des  Königs  hat  alle 
Geschäfte  gestockt  und  allen  Credit  schwankend  gemacht,  wer  vor- 
räthiges  Geld  hat  versteckt  es  lieber  für  die  unsichere  Zukunft.  — 
Humboldt  der  ältere  hat  die  Stelle  als  Geheimerstaatsrath  über  das  ge- 
sammte  gelehrte  und  geistliche  Wesen  noch  nicht  angenommen.  Viele 
Grüsse  allen  Freunden  und  Bekannten,  den  Ihren  vor  allen. 

Hochachtend 

Achim  Arnim. 

(Am  Bande:)  Ist  hier  niemand  zur  Mitarbeit  an  den  Jahrbüchern 
aufzufordern?  Humboldt,  Spalding,  Weltmann,  Wolf,  —  Solger,  den 
Uebersetzer  des  Sophokles  kenne  ich  speciell. 

11.    Carl  Windischmann  an  August  Böckh. 

Aschaffenburg,  d.  20.  Januar  1809. 

.  .  Thu  mir  doch  den  Gefallen,  zu  Loos  zu  gehen  und  ihm  nebst 
meinem  Gruss  zu  sagen,  ich  wolle  das  angebotne  Buch  nehmen:   er 

1)  Die  aus  »Berlin,  20.  Januar  1809"  datierte  Antwort  »An  Hm.  Ilofrath  Voss 
in  Heidelberg**  im  Intelligenzblatt  zur  Jenaer  Litteratur-Zeitnng  Nr.  13  vom 
15.  Februar  1809. 

S)  Nftmlich  ihn  in  Berlin  zu  versorgen. 


200  Reiohold  Steig 

solle  mirs  cur  schicken,  auf  März  käme  alles,  was  ich  an  Rezensionen 
hätte:  er  solle  nur  darauf  bedacht  seyn,  mir  einmal  etwas  recht  ange* 
nehmes  zuzuwenden,  z.  B.  Schubert's  Ansichten  von  der  Nachtseite 
der  Naturwissenschaft  .  .  ^) 

Ewig  Dein  Windischmann. 

12.    Friedrich  Creuzer  an  Wilhelm  Grimm. 

Heidelberg,  d.  27.  Januar  1809. 

Theuerster  Freund! 

Die  Fortsetzung  Ihrer  Abhandlung  in  den  Studien  wird  in  dem 
nächsten  Stück,  dessen  Druck  baldigst  angefangen  wird,  erscheinen. 
Das  Stück  mit  dem  Anfang  Ihrer  Abhandlung  ist  bereits  ausgegeben. 
An  Ihrer  Kecension  der  Nibelungen  in  den  Jahrbüchern  wird  so  eben 
gedruckt  und  dieses  Stück  erscheint  hier  in  den  ersten  Tagen  des 
Februar. 

Jetzt  also  eine  neue  Bitte: 

Ich  wünsche  die  so  eben  erschienenen 

Deutschen    Oedichte   aus   dem   Mittelalter 
von  V.  Hagen 
von  Ihnen  für  die  Jahrbücher  recensirt  zu  sehen ;  und  Sie  würden  mich 
verbinden,  wenn  Sie  diese  Kritik  doch  baldigst  einsenden  könnten. 
Darum  bitte  ich  also.*) 

Herr  von  Arnim  wird  wohl  nun  in  Berlin  seyn. 
Leben  Sie  wohl.    Grüssen  Sie  mir  Ihren  Herrn  Bruder. 

Hochachtend  der  Ihre 

Fr.  Creuzer. 

13.    Johann  Georg  Zimmer  an  Achim  von  Arnim. 

Heidelberg,  d.  6.  Februar  1809. 

Lieber  Arnim,  Sie  haben  ohne  Zweifel  jetzt  meinen  vorigen  Brief. 
Ich  habe  unterdessen  noch  Ihren  vorwürfigen  vom  25.  Januar  bekommen 


1)  Der  Jabr^og  1809  enthält  von  Windischmann  mehrere  Rezensionen  in  der 
medizinischen  Ahteilung;  darin  aach,  S.  393—410,  seine  bedeutsame  Anieige  yod 
6.  H.  Schuberts  damals  Aufsehen  machendem  Buche. 

2)  Die  Rezension  der  ^Deutschen  Gedichte  des  Mittelalters*,  hg.  von  v.  d.  Hagen 
und  BOsching,  lieferte  Jacob  Grimm:  1809.  2,  148  (Kleinere  Schriften  4,  22). 


Zeugnisse  zur  Pflege  der  deutschen  Litteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern     201 

und  antworte  um  Ihnen  ein  Zeichen  meiner  Besserung  zu  geben  sogleich 
darauf.  *) 

Wer  eins  von  folgenden  Blättern  liesst,  dem  konnte  doch  wohl  die 
Erscheinung  des  2ten  und  Sten  Theils  vom  Wunderhorn  nicht  unbe- 
kannt seyn:  1)  Hamburg.  Correspondent ,  2)  Zeit.  f.  d.  eleg.  Welt, 
3)  Morgenblatt,  4)  Miszellen  f.  d.  Weltkunde,  5)  Jahrbücher  d.  Lit., 
6)  Schwab.  Merkur,  7)  Allgemeine  Zeitung.  An  alle  habe  ich  die  An- 
zeige noch  im  Oktober  geschickt,  aber  freylich  ist  sie  in  manche  erst 
spät  eingerückt  worden.  Wer  Ihnen  in  Leipzig  gesagt  hat,  die  Jahr- 
bücher würden  aufhören,  der  müsste  überhaupt  von  den  Jahrbüchern 
nicht  so  viel  wissen  als  Bileams  Esel.  Ihre  Fortsetzung  ist  in  allen 
Exemplaren  des  vorigen  Jahrgang  No.  14  ausführlich  angekündigt') 
und  diese  Ankündigung  ist  auf  einem  besonderen  Blättchen  abgedruckt 
allen  Buchhandlungen,  welche  die  vorige  Anzeige  erhalten,  noch  extra 
in  starker  Anzahl  geschickt  worden,  um  es  ihren  Kunden  mitzu- 
theilen,  wenn  es  nicht  sonst  verbraucht  worden  ist.  Dann  hat  diese 
Ankündigung  auch  im  Hamburg.  Correspondenten,  der  allg.  Zeitung,  den 
Miszellen,  dem  allgem.  Anzeiger  pp.  gestanden  und  ich  habe  in  keinem 
dieser  Blätter  eine  Anzeige  von  der  Fortsetzung  der  Jenaischen  Lite- 
raturzeitung, der  Hallischen  do.,  gelesen  und  glaube  doch,  dass  sie  fort- 
gesetzt werden.  Oder  können  sie  die  Berliner  Buchhändler  nicht  liefern  ? 
Dann  kenne  ich  freylich  die  Ursache  nicht,  aber  man  bestelle  sie  als- 
dann auf  der  Post.    Es  sind  von  1809  bereits  10  Hefte  heraus. 

In  Ihren  früheren  Briefen,  lieber  Arnim,  habe  ich  nirgends  den 
Auftrag  gefunden,  Ihnen  noch  Exemplare  des  Wunderhorns  zu  senden, 
nur  die  Anzeige,  Sie  hätten  sich  welche  in  Frankfurt  geben  lassen. 
Haben  Sie  nun  die  Güte  auf  beyfolgendem  Zettel  die  Anzahl  der  Exem- 
plare auszufüllen,  die  Sie  zu  haben  wünschen  und  geben  Sie  ihn  dem 
Reimer,  der  Ihnen  den  Bezug  derselben  von  Leipzig  gern  besorgen  wird. 

Ich  habe  seitdem  wir  den  Abdruck  Ihrer  Erklärung  hier  haben, 
mit  der  Rudolphi  noch  nicht  über  diese  Sache  gesprochen. ')   Brentanos 

1)  Der  n^orige  Brief*  ist  der  oben  unter  Nr.  8.  Der  ^vorwArfige  vom  25.  Janaar* 
steht  bei  Zimmer  S.  150;  es  sind  aber,  wie  die  Verteidigung  Zimmers  zeigt,  dort 
die  Vorwürfe  Arnims  fortgelassen  worden.  Auf  den  obigen  Brief  ist  der  Arnims 
vom  25.  März  1809  (bei  Zimmer  S.  148  gedruckt,  aber  mit  der  irrigen  Jahreszahl 
1808)  die  Antwort,  der  die  Attila-Rezension  beigelegt  war;  Creuzers  Bemerkung 
gegen  Görres  (8,  53):  „Arnim  hat  auch  wieder  was  geschickf*,  meint  eben  diese 
Attila-Rezension. 

2)  D.  h.  im  Intelligenzblatt  der  Heidelberger  Jahrbücher  Nr.  14. 

3)  Die  Rudolphi  unterhielt  in  Heidelberg  eine  Erziehungsanstalt,  in  die  Bren- 
tano die  Tochter  seiner  ersten  Frau  gegeben  hatte. 


202  Reinhold  Steig 

Aufsatz  ist  Dun  auch  abgedruckt,  aber  erst,  wie  ich  sehe,  im  Corre- 
spondenten  von  Deutschland.  ^)  Die  Jugendblätter  der  Landsfauter  kom- 
men nicht  zu  Stande.  Ich  weis  nicht  warum.  Hier  ist  nichts  Neues 
vorgefallen,  es  soll  aber  nächstens  etwas  Wichtiges  vorfallen. 

Meine  Frau  und  Kind  sind  gesund.  Frühling  haben  wir  hier  schon 
gehabt.    Bäume  wollten  blühn,  es  wird  aber  wieder  Winter.    Leben 

Sie  wohl! 

Ihr  Zimmer. 

14.  Carl  Windischmann  an  August  Böckh. 

Aschaffenburg,  d.  18.  Februar  1809. 

.  .  Freund  Molitor  hat  eine  recht  wackere  Charakteristik  der 
sämmtlichen  schriftstellerischen  Laufbahn  unseres  vortrefflichen  Nico- 
laus Vogt  (den  Eure  Curatel  vor  mehrem  Jahren  schon  nach  Heidel- 
berg vocirt  hatte,  was  er  ausschlug)  mir  zugeschickt.  Ich  werde  hieran 
aus  meiner  eignen  genauen  Kenntniss  des  Mannes  einiges  kleine  ändern 
und  hinzusezen  und  dann  alles  ins  reine  schreiben  lassen  und  wünschte 
diese  Darstellung  (welche  kaum  einen  Bogen  betragen  wird)  in  die 
historisch- philologischen  Jahrbücher  aufgenommen  zu  sehen,  so  wie  dies 
Vogt  selbst  gar  sehr  wünscht  —  weit  mehr  als  in  die  ver-Ast-elte 
Zeitschrift  als  worin  es  Molitor  wolte  abdrucken  lassen,  weil  ihm  oder 
vielmehr  mir  wegen  seiner  bis  auf  diese  Stunde  auf  meine  Anfragen  an 
Daub  noch  keine  Antwort  auch  nicht  durch  Auftrag  zugekommen,  was 
ich  nun  gewiss  nicht  mehr  anders  als  unverholene  Geringschäzung  und 
Verachtung  auslegen  kann,  welche  ich  dem  sonst  biederen  Daub  nie  er- 

wiedern  werde  .  .*) 

Dein  Windischmann. 

15.  Carl  Windischmann  an  August  Böckh. 

[Aschaffenburg  März  1809.] 

.  .  Daub  grüsse  schönstens;  ich  werde  anzeigen,  was  ich  bear- 
beiten will.  Molitors  Charakteristik  ist  eine  Rezension,  keine  Abhand- 
lung; ich  habe  manches  gute  hinzugefügt:  es  kann  also  wohl  abgedruckt 

werden  und  ich  schicke  es  ein  .  . 

Dein  Windischmann. 

1)  S.  oben  die  Anmerkung  auf  S.  197. 

2)  Die  ver-Ast-elte  Zeitschrift  ist  die  von  Friedrich  Ast  herausgegebene  Zeitschrift 
für  Wissenschaft  und  Kunst.  Molitors  „Charakteristik",  angeschlossen  an  N.  Vogts 
Darstellung  des  europäischen  Völkerbundes,  erschien  in  den  Heidelberger  Jahr- 
büchern 1809.   2,  129. 


Zeugnisse  zar  Pflege  der  deutschen  Litteratur  in  den  Heidelb.  JahrbQchern     203 

16.   Friedrich  Creuzer  an  Achim  von  Arnim. 

Heidelberg,  d.  1.  April  1809  (Ostersammstags). 

So  eben  komme  ich  von  einem  Abendgang  aufs  Schloss,  wobei  ich 
mich  Ihrer  erinnerte,  wie  wir  so  oft  zusammen  in  das  schone  Abendroth 
gesehen,  so  schön,  wie  es  heute  war  —  da  fiel  mir  meine  Sande  schwer 
aufs  Herz,  dass  ich  Ihnen  so  lange  Antwort  schuldig,  und  ich  beschloss 
so  fort,  sie  so  viel  möglich  heute  noch  gut  zu  machen.  Die  welthisto- 
rischen, sage  universalhistorischen,  hochwichtigen,  ja  einzigen  Begeben- 
heiten, die  sich  seit  vier  Wochen  dahier  ereignet  haben,  mögen,  wenn 
sie  können,  meine  Saumseeligkeit  entschuldigen.  Die  Hauptsache  werden 
Sie  nun  wohl  schon  wissen,  dass  unser  Böckh  Professor  Ordinarius  mit 
1200  fl.  geworden,  weil  ich  nach  Leyden  als  Professor  linguae  graecae 
gehe  u.  s.  w.  Dazwischen  liegen  dann  nun  noch  mancherlei  Sachen  als 
z.  B.  eine  Vocation  für  Böckh  nach  Königsberg  mit  1200  Thalern  — 
allgemeine  Bewegung  unter  allen  schlechtbesoldeten  hiesigen  Professoren, 
Kabale,  Missgunst,  Neid,  und  dann  auch  eine  Braut,  nämlich  des  Prof. 
Böckh  (Demoiselle  Wagemann  von  Göttingen,  des  Juristen  Martin 
Schwägerin).  Stellen  Sie  sich  nun,  bei  solchem  Discursmaterial  unsere 
Tbeegesellschaften  vor,  unsere  Abendversammlung  im  Hecht  —  so  haben 
Sie  Alles  in  Zeichnung  und  Colorit,  bis  auf  die  leiseste  Schattirung. 

Dass  ich  unserm  Böckh  von  Herzen  glfickwünsche  zur  Stelle,  wer- 
den Sie  erwarten :  zur  Braut  nicht.  Es  thut  mir  gar  zu  leid,  dass  er 
nun  mit  den  Juristen  so  verflochten  ist.  Seine  Wissenschaftlichkeit 
wird  ihn  vor  Philistereien  bewahren,  aber  solcher  Familennexus  wirkt 
unvermerkt  nachtheilig.  Die  Veränderung  meiner  Lage  war  ganz  un- 
verhoft.  An  Landshut  konnte  ich,  seit  ich  von  Buttmanns  Vocation 
wusste,  nicht  mehr  ernsthaft  denken.  Da  kam  mir  der  sehr  erwünschte 
Ruf  nach  Holland.  Wer  Buhe  sucht  und  Griechische  Manuscripte  und 
die  Belehrung  in  seinem  Fach  durch  den  Mund  eines  Meisters  (wie  dies 
Alles  bei  mir  der  Fall  ist),  der  konnte  sich  wohl  wegen  der  Wahl 
keinen  Augenblick  besinnen,  zumal  bei  so  freundlicher,  nobler  Behand- 
lung, wie  ich  sie  von  dortaus  erfahren  —  und  so  schwimme  ich  dann 
in  vier  Wochen  mit  Frau  und  Büchern  auf  dem  Bhein  zu  den  Batavern 
hinunter,  bei  denen  ich  wohl  sterben  werde.  Statt  in  die  Pfälzische 
Ebene,  sehe  ich  künftig  in  die  weite  See,  und  stärke  mir  meine  Augen 
von  der  Lesung-  der  griechischen  Handschriften.  —  Es  soll  mich  freuen, 
wenn  Sie  meinen  Entschluss  eben  so  billigen  wie  Görres,  der  mir  gestern 
schrieb:  „ich  würde  in  dem  Lande  der  Philologen  und  Blumisten  wohl 


204  Reinhold  Steig 

gedeihen^.  Besuchen  Sie  mich  nur  einmal  da  drunten  in  dem  Lande 
von  Egmond;  wäre  doch  schon  Ihr  Johann  von  Leyden  einer  solchen 
Reise  werth. ^)  Den  müssen  Sie  uns  nun  um  so  weniger  vorenthalten, 
da  ich  ihn  an  Ort  und  Stelle  mit  verstärkter  Theilnahme  lesen  werde. 

Wir  erwarten  nun  die  von  Ihnen  übernommenen  Becensionen,  be- 
sonders über  Schiller.  Die  Anerbietung  wegen  Brentanos  Schriften  ge- 
fällt mir.  Da  aber  die  meisten  Sachen  für  die  Jahrbücher  zu  alt  sind, 
so  wäre  es  schön,  wenn  Sie  den  Goldfaden  von  Brentano,  der  so 
eben  mit  Holzschnitten  versehen  erschienen  ist,  recensiren  wollten. ')  Da 
hätten  Sie  denn  Gelegenheiten  über  diesen  Poeten  überhaupt  etwas  zu 
sagen.  Ich  habe  Brentano  schon  vor  sechs  Wochen  geschrieben  und  ihn 
um  Beiträge  gebeten,  bis  jezt  aber  keine  Antwort  erhalten.  An  die 
Berliner  Gelehrten  hatte  ich  schon  öfter  der  Jahrbücher  wegen  gedacht, 
allein  Böckh  versicherte  mich  immer,  dass  weder  Wolf  noch  Buttmann 
noch  Spalding  Theil  nehmen  würden.  Da  habe  ich  dann  das  Einladen 
unterlassen.  Jezt  aber  kommt  es  mir  überhaupt  nicht  mehr  zu,  da 
ich  das  Bedaktionsgeschäft  vom  philologisch-ästhetischen  Heft  bereits 
an  Böckh  abgegeben  habe,  der  es  nun  mit  Wilken  gemeinschaftlich 
fortführt.  Wenn  Sie  die  Herrn  sehen,  auch  Hrn.  SchleiermaCher,  so  bitte 
ich  meine  Empfehlung  auszurichten.  —  Voss,  der  alte,  hat  seit  Ihrer 
Abreise  drei  chirurgische  Operationen  ausgestanden:  Zwei  an  der  Nase, 
da  man  ihm  aus  jedem  Nasenloch  einen  Polypen  herausgezogen,  und 
Eine  an  der  Hand.  Jezt  ist  er  wieder  wohl,  da(gegen)  kränkelt  nun 
der  älteste  Sohn  sehr  an  Hypochondrie  und  Gicht.  Baggesen  treibt 
(sich  seit  ei)nigen  Tagen  wieder  mit  den  Vossischen  hier  herum.  Eine 
Satyre  gegen  die  (Romantiker)  soll  bei  Cotta  unter  der  Presse  seyn. ') 

A.  W.  Schlegels  Buch  über  die  dramatische  Poesie  ist  zum  Iten 
Theil  fertig.  Zimmer  liefert  überhaupt  gewaltig  viel  Sachen  auf  die 
Messe.  Er  rüstet  sich  schon  zur  Reise  nach  Leipzig.  —  Die  Grimms 
haben  beide  zu  den  Jahrbüchern  recht  tüchtige  Beiträge  geliefert.  Em- 
pfehlen Sie  mich  dem  gelehrten  Uebersetzer  des  Sophokles  Herrn  Solger. 
—  Ich  werde  auf  meiner  Reise  bei  Görres  einsprechen.  Er  scheint  recht 


1)  An  einem  Drama  Johann  von  Leiden  arbeitete  damals  Arnim  schon  seit 
Jahren. 

2)  Die  Rezension  von  Brentanos  Goldfaden  schickte  Arnim  am  29.  Juli  1809 
an  Zimmer  (Zimmer  S.  150).  Auf  den  Wunsch  Brentanos  verfasste  auch  Wilhelm 
Grimm,  beide  ohne  davon  zu  wissen,  eine  Anzeige,  die  durch  Japob  Grimm  an  die 
Heidelberger  Jahrbücher  weitergegeben  wurde.  Nur  diese  letztere  wurde  abgedruckt : 
1810.  2,  285.    Darüber  unten  weiteres. 

3)  Gemeint  ist  von  Baggesen  „Der  Karfunkel  oder  Klingklingel- Almanach",  1810. 


ZengniBse  zur  Pflege  der  deutschen  Litteratur  in  den  Heidelb.  JahrbOchern     205 

vergnügt  zu  seyn.  Dr.  Zimmermann  hat  seit  einigen  Tagen  einen  Sohn 
erhalten.  Er  gebt  mit  Frau  und  Kind  wieder  nach  Marburg  zurück. ') 
Viele  Orüsse  von  den  Meinigen.    Leben  Sie  recht  wohl.    Ihr 

Fr.  Creuzer. 

N.  S.  Von  Ihren  Secensionen  ist  fast  Alles  abgedruckt.  Die 
Görressische  über  das  Wunderhorn ')  hat  bei  der  Dünne  der  Hefte  ge- 
theilt  werden  müssen.  Die  Hälfte  ist  bereits  erschienen.  Brentano  hatte 
sie  lange  in  Landshut  gehabt;  ihm  so  wie  Savigny  hat  sie  sehr  ge- 
fallen.   Adieu. 

17.    Carl  Windischmann  an  August  Böckh. 

AschafFenburg  d.  5.  April  1809. 

.  .  Dein  letztes  Schreiben  gibt  mir  die  angenehme  Aussicht,  einen 

grösseren   Wirkungskreiss    für   die   Jahrbücher   zu   gewinnen.      Durch 

Loos   schnelle  Sorge   für  den  Abdruck   vermag   ich  in  medizinischen 

Dingen  manchmal  ein  kräftig  Wort  früh  genug  zu  sagen:  durch  Deine 

Beförderung  ists  mir  nun  auch  in  andern  Sachen  erlaubt,  so  wie  durch 

Danb.   Sobald  ich  den  Messkatalog  erhalte,  werde  ich  Euch  vorschlagen, 

was  mir  lieb  ist  und  manchmal  auch  nicht  lieb,   sondern  nothwendig, 

dass  es  gethan  werde.    Ich  hoffe,   es  soll  uns  gelingen,  lieber  Böckh, 

hie  und  da  noch  gutes  zu  stiften  in  dieser  gleichgültigen  Zeit.    Molitor 

dankt  Dir  schönstens  für  die  Einladung  und  wird  Dir  selbst  schreiben, 

hier  folgt  seine  von  mir  durchsehene  und  durchreinigte  Rezension  von 

Vogt :  sie  beträgt  troz  dem  Schein  doch  kaum  über  einen  halben  Bogen 

und  ich   wünschte,  Du  liessest  sie  sogleich  abdrucken.     Die  Abschrift 

hat  lange  aufgehalten  .  . 

Ewig  Dein  Windischmann. 

18.    Johann  Qeorg  Zimmer  an  Achim  von  Arnim. 

Heidelberg,  d.  7ten  Aprill  1809. 

Ihren  Brief  vom  25^  März,  lieber  Arnim,  habe  ich  erhalten  und 
danke  Ihnen  dafür,  so  wenig  tröstliches  er  auch  gebracht,  ausser  der 
Becension.  Ihre  Nachricht  von  den  schlechten  Aussichten  für  den 
BücherVerkauf  in  Ihrem  Lande  konnte  mir  nicht  unerwartet  seyn,  dem- 


1)  Dr.  Christ  Zimmermann,  der  vergebUch  in  Heidelberg  versucht  hatte  sich 
festzusetzen,  war  verheiratet  mit  Creuzers  Tochter  aus  der  ersten  Ehe  seiner  Frau, 
später  Bergrat  in  Clausthal. 

2)  1809.  1,  222;  im  Register:  Von  ^— g. 


206  Reinhold  Steig 

ohngeachtet  dräckt  mich  Ihre  BestätigUDg,  denn  selbst  bey  der  grössten 
BesignatioD  ist  immer  noch  eine  Hoffnung  zu  verlieren.  Dass  die  Buch- 
händler deDDOch  gerne  verlegen,  kann  ich  mit  eigenem  Beyspiel  be- 
weisen: ich  bringe  nicht  weniger  als  23  Artikel  zur  Messe,  denen  ich 
mit  schwerem  und  bekümmerten  Herzen  jetzt  nachsehe.  £s  ist  so  ver- 
flucht verführerisch,  man  kann  nicht  widerstehen ;  auch  wenn  man  denkt, 
wenn  das  auf  einmal  alles  baar  Geld  wäre,  welch  reicher  Mann  wärst 
Du.  Dass  es  in  Preussen  so  schlimm  ist,  schadet  uns  mehr  als  irgend 
ein  Land,  denn  dort  ist  doch  verhältnissmässig  am  meisten  gekauft 
worden.  Ich  weis  nicht  ob  ich  meinen  Ballen  nachziehen  werde.  Wenn 
der  Krieg  nicht  ausbricht,  gehe  ich  ganz  gewiss  hin.  Wie  wollte  ich 
mich  freuen,  wenn  Sie  sich  verleiten  Hessen,  mit  Reimer  die  Reise  zu 
machen,  um  dort  die  armen  Buchhändler  zu  trösten.  Im  Ernst,  lieber 
Arnim,  kommen  Sie  hin. 

Dass  uns  Creuzer  yerlässt,  wird  er  Ihnen  in  der  Einlage  sagen. ')  Es 
ist  sehr  betrübt. 

Meine  Frau  ist  wohl  und  mein  Kind  unbeschreiblich  herrlich  und 

liebenswürdig. 

Grüssen  Sie  Reimer  herzlich ! 

Ihr  treuer  Zimmer. 

19.    Friedrich  Creuzer  an  Jacob  Grimm. 

Heidelberg,  d.  10.  April  1809. 
Für  Ihren  gehaltvollen  Beitrag  zu  den  Jahrbüchern  bin  ich  Ihnen, 
hochzuverehrender  Herr  Auditor,  sehr  verbunden,  und  es  wird  diese 
Kritik  der  Hagenschen  Sammlung  altdeutscher  Gedichte  bald  abgedruckt 
werden.  Freilich  wird  ihre  Länge,  bei  dem  kleinen  Umfang  der  Hefte, 
ein  mehrmaliges  Abbrechen  nothwendig  machen,  wobei  aber  doch  für 
unmittelbare  Aufeinanderfolge  Sorge  getragen  werden  wird. ')  Eine  An- 
zeige der  kürzlich  erschienenen  altfranzösischen  Fabliaux  wird  der  Re- 
daction  gleichfalls  willkommen  seyn ;  und  es  ist  gut,  dass  Sie  diese 
Anzeige  kurz  zusammendrängen  wollen,  da  durch  die  Enge  des  Raums 
der  Jahrbücher  Kürze  so  dringendes  Bedürfnis  ist. 

1)  D.  h.  in  Brief  Nr.  16. 

2)  Vgl.  oben  S.  200  Anmerkang  2.  An  der  Rezension  waren  beide  Brüder 
beteiligt,  das  setzt  Creuzers  Brief  ?oin  2.  Mai  1809,  unter  Nr.  21,  ausser  Zweifel ; 
vgl.  Wilhelm  Grimms  Kleinere  Schriften  4,  643.  J.  Grimms  Zusendungsbrief  muss 
von  verschiedenen  AufTassungeD  zwischen  den  Brüdern  gesprochen  und  Creuzers 
Urteil  erbeten  haben,  wovon  dessen  Bemerkung  Ober  den  „Orientalismus",  die  sich 
auf  S.  215  der  Rezension  (Jac.  Grimms  KI.  Sehr.  4,  37;  Wilhelms  1, 149)  bezieht,  ein 
Nachhall  ist 


Zeugnisse  zur  Pflege  der  deul  sehen  Litteratnr  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern    207 

In  Ihrem  Streit  mit  Ihrem  Herrn  Bruder  über  den  Orientalismus 
scheint  mir,  soweit  mir  das  Vorliegende  hinreichendes  Urtheil  gestattet, 
das  Becht  auf  Ihrer  Seite  zu  seyn.  Ich  wünsche,  dass  wir  uns  in  einer 
mündlichen  Discussion  einmal  darüber  auslassen  könnten.  Vielleicht 
führt  Sie  ja  einmal  Ihre  Eunstliebe  auf  eine  Reise  nach  Holland. 

Die  Recension  von  Eichhorn  im  vorigen  Jahrgang  der  Jahrbücher 
hat  (unter  uns  gesagt)  Wachler  in  Marburg  gemacht.^) 

Von  Brentano  habe  ich  in  langer  Zeit  nichts  gehört,  ohngeachtet 
ich  ihm  vor  6  Wochen  einen  langen  Brief  schrieb.  Hr.  von  Savigny 
hat  mir  noch  kürzlich  geschrieben.  Ich  hatte  den  Brentano  um  mehrere 
Recensionen  gebeten.  Auch  darauf  höre  ich  nichts  von  ihm.  Von  Hrn. 
V.  Arnim  werden  Sie  wohl  neue  Nachrichten  haben.  Die  neuesten,  die 
er  hierher  gegeben  an  Herrn  Zimmer,  lauteten  nicht  sehr  günstig.  Ich 
habe  ihm  vor  einigen  Tagen  geschrieben.  Er  ist  sehr  thätig  für  uns, 
und  hat  neulich  wieder  eine  Recension  geschickt.  Görres  desgleichen, 
der  mich  vorige  Woche  mit  einem  langen  heiteren  Briefe  erfreute,  und 
sich  wieder  recht  heimisch  in  Coblenz  zu  fühlen  scheint.  Ich  freue 
mich  auf  den  bevorstehenden  Besuch,  da  ich  ihm  auf  meiner  Durch- 
reise zusprechen  werde.  Voss  hat  einen  harten  Winter  gehabt.  Erst 
musste  er  sich  aus  jedem  Nasenloch  einen  Polypen  herausholen  lassen, 
dann  ward  ihm  ein  alter  Schaden  an  der  Hand  operirt.  Jezt  ist  er 
wieder  wohl  auf,  und  Baggesen,  der  sich  seit  einigen  Wochen  wieder 
hier  herumtreibt  und  nächstens  bei  Cotta  sein  Buch  gegen  die  Roman- 
tiker ans  Licht  treten  lassen  wird,  scheint  sehr  mit  ihm  verbunden  zu 
seyn.     Ich  sehe  den  einen  so  wenig  wie  den  andern. 

Dass  Prof.  Böckh  dahier  mein  Nachfolger  geworden,  wissen  Sie  viel- 
leicht schon.  Derselbe  führt  mit  Wilken  die  Redaktion  des  ästhetisch-philo- 
logischen Hefts  fort,  und  es  wird  also  durch  mein  Weggehen  nicht  das  ge- 
ringste geändert.    Herr  Zimmer  wird  die  Beiträge  immer  sofort  besorgen. 

Empfehlen  Sie  mich  Ihrem  Herrn  Bruder.  Sein  Aufsatz  für  die 
Studien  ist  unter  der  Presse.  Die  dringenden  Messartikel  halten  jezt 
den  Druck  dieses  Stücks  der  Studien  etwas  auf.  Es  wird  aber  doch 
noch  zur  Ostermesse  ausgegeben. 

ich  beharre  mit  aufrichtiger  Hochachtung  Ihr 
ergebenster  Fr.  Creuzer. 

1)  Die  Rezension  von  ^Eichhorns  Geschichte  der  Literatur  .  .  bis  auf  die 
neuesten  Zeiten"  (1808.  2, 184)  ist,  wie  noch  andre,  nur  mit  R.  im  Register  gezeichnet. 
Eine  Inhaltsangabe  dieses  Briefes  Creuzcrs  in  dem  Briefwechsel  zwischen  Jacob  und 
Wilhelm  Grimm  aus  der  Jugendzeit  S.  82,  wodurch  er  auch  Arnim  und  Brentano 
bekannt  wurde. 

NEUE  HEIDELB.  JAHRBUECHER  XI.  14 


208  Reinhold  Steig 

20.   Achim  von  Arnim  an  Friedrich  Creuzer. 

Berlin,  d.  22.  April  1809. 

Ungewiss,  ob  mein  Brief  Sie,  geehrter  Freund,  noch  in  unserm 
schönen  Heidelberg  treffen  kann,  habe  ich  eine  eben  erschienene  Novellen- 
sammlung, meine  Winterarbeit  und  den  Wintergarten  genannt,  zurück- 
gehalten, weil  sie  der  Unkosten  bis  Leiden  und  besonders  dieses  Um- 
weges nicht  werth.  Sie  wollen,  dass  ich  Ihren  Entschluss  dahin  zu 
gehen  billigen  soll,  und  denken  nicht  daran,  dass  ich  Heidelberg  lieb 
habe  und  dass  es  mir  leid  thut,  es  allmälig  so  verweisen  zu  sehen, 
nun  alle  Gevattern  fortgezogen  sind.  Alle  andre  Einwendungen,  ob 
ein  so  fremdartiges  Völkchen,  wie  die  Holländer  jezt  sind,  Ihnen  einiger- 
massen  den  Wirkungskreis  auf  einer  deutschen  Universität  ersetzt,  ob 
Sie  nicht  bestimmt  in  Deutschland  auf  eine  Anstellung  an  einem  der 
Bibliotheksorte  rechnen  konnten,  der  Ihnen  diese  Vorzüge  Hollands 
einigermassen  ersetzt,  werden  Sie  Selbst  hinlänglich  abgewogen  haben, 
wie  leicht  ist  es  auch,  wenn  man  an  einem  so  grossen  Strome  wohnt, 
sich  mit  dem  ganzen  Hausrathe  und  Bibliothek  einzuschiffen  um  wieder 
in  das  Herz  von  Deutschland  zurückzudringen,  das  Reisen  auf  Schiffen 
ist  nicht  einmal  eine  Unterbrechung  der  gewohnten  Beschäftigungen 
und  Lebensweise.  Wohl  freue  ich  mich  darauf,  Sie  nach  solcher  Rück- 
kehr einmal  wiederzusehen  und,  wo  es  sey,  uns  der  schönen  Sonne 
Heidelbergs  und  der  gewohnten  Wege  im  Thal  und  auf  der  Höhe  zu 
erinnern;  vielleicht  dass  ein  guter  Genius  Sie  aus  einem  unruhigen 
Kriegsschauplatze  entfernt,  wo  die  wissenschaftliche  Bildung  bald  ver- 
trieben wird.  Die  Jahrbücher  thun  mir  leid,  wegen  mancher  Hoffnung, 
die  ich  und  andre  daran  gehängt,  die  Freyheit  und  Unbefangenheit  des 
Urtheils  darin  bewahrt  zu  sehen,  nun  zweifle  ich  gar  nicht  an  Böckhs 
guter  Gesinnung  und  Absicht,  dasselbe  fördern  zu  wollen,  aber  eine 
Verbindung,  eine  Bekanntschaft,  die  eben  gut  vorhanden,  lässt  sich 
durch  gar  keine  andre  ersetzen,  auch  hat  er  das  Hinderniss  seiner 
Jugend  und  des  wohlbewahrten  Verkehrs  mit  den  meisten  zu  bekämpfen, 
wodurch  sich  jeder  berechtigt  glauben  wird,  ihn  auf  allerley  Art  be- 
schränken zu  müssen,  jeder  wird  ihn  in  seine  Bündnisse  aufnehmen 
und,  wenn  er  sich  nicht  sehr  tapfer  hält,  werden  die  Jahrbücher  zu 
nichts  weiter,  als  zu  einer  theuern  Ausgabe  der  Göttinger  Anzeigen. 
Auch  um  die  Beendigung  Ihrer  Symbolik  thut  es  mir  leid,  ich  bin  ge- 
wiss, wir  erhalten  von  Ihnen  bald  ein  viel  gelehrteres  Werk  in  schönem 
Latein,   prächtig  gedruckt,    aber   uns  fehlte  gerade  ein  Werk,    in  dem 


Zeugnisse  zur  Pflege  der  deutschen  Litteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern    209 

sich  Keontniss  der  Alten  und  unserer  Sprache  so  vereinigt,  wie  Sie  es 
uns  geben  können,  so  dass  die  ganze  Sinnesart  ohne  Zwischenträger  von 
Uebersetzern,  Erklärern,  unmittelbar  zu  uns  übergeht.  Geben  Sie  es 
nicht  auf,  vielleicht  wird  es  Ihnen  darin  eine  Freude  und  Aufmunterung 
in  der  Arbeit,  sich  dabej  an  die  alten  reinen  deutschen  Töne  zu  er- 
innern, die  Ihnen  bald  in  den  grausamen  Gutturalen  der  Holländer 
untergehen  werden.  Doch  lassen  Sie  Sich  durch  mein  Bedauern  nur 
von  meinem  Wunsche  überzeugen,  Sie  so  wiederzusehen  in  alten  Ver- 
hältnissen, wo  ich  Sie  so  lieb  gewonnen,  sonst  lassen  Sie  Sich  dadurch 
nicht  in  Ihrem  unternehmen  einen  Augenblick  bedenklich  machen.  Das 
Glück  liegt  in  jedem  Unternehmen,  Luft  und  Erde  und  Wasser  können 
die  Freude  über  ein  gelungenes,  über  erfüllte  Thätigkeit  nicht  ver- 
nichten. —   Ich  wünsche  Ihnen  Gesundheit  und  Ihrer  werthen  Frau, 

die  ich  herzlich  begrüsse 

Hochachtungsvoll 

Achim  Arnim. 

Da  Sie  mir  nichts  über  Hamanns  Schriften  schreiben,  so  vermuthe 
ich,  dass  Sie  dieselben  vielleicht  noch  brauchen,  in  diesem  Falle  schicken 
Sie  sie  mir  noch  nicht,  sondern  künftig  —  Leiden  liegt  ja  nicht  ausser 
der  Welt. 

21.    Friedrich  Creuzer  an  Jacob  Grimm. 

Heidelberg,  d.  2.  Mai  1809. 

Verzeihen  Sie  mir,  mein  verehrtester  Herr  und  Freund,  dass  ich 
Sie  mit  Besorgung  dieses  Pakets  nach  Göttingen  belaste.  Sie  erweisen 
mir  durch  baldige  Weiterbeförderung  einen  grossen  Dienst,  worum  ich 
Sie  ergebenst  bitte.  Halten  Sie  diese  Freiheit,  die  ich  mir  nehme,  der 
Zerstreuung  zu  gut,  in  der  ich  eben  mich  befinde,  da  ich  mich  zum 
Abzug  rüste.  Ich  habe  das  Paket  frankirt.  Sollte  Ihnen  aber  doch 
eine  Portoauslage  dadurch  verursacht  werden,  so  bitte  ich  den  Betrag 
nur  gelegentlich  Hrn.  Buchhändler  Zimmer  zu  melden,  der  den  Auftrag 
hat,  dergleichen  auf  meine  Rechnung  zu  notiren.  Es  versteht  sich  von 
selbst,  dass  Sie  es  von  Cassel  nach  Göttingen  weiter  nicht  frankiren. 
Das  Paket  enthält,  ausser  der  Probeschrift  eines  Mitglieds  des  hiesigen 
philologischen  Seminar,  eine  Schrift  von  Dr.  Zimmermann  aus  Marburg, 
welcher  in  Göttingen  eine  Anstellung  sucht.  Da  er  sich  vorgenommen 
hat,  von  Marburg  aus,  wohin  er  in  diesen  Tagen  zurückgeht,  Ihnen 
selbst  zu  schreiben  und  seine  Schrift  zu  übersenden,  so  unterlasse  ich 
jezt  etwas  Weiteres  über  seine  Lage  und  Wünsche  zu  sagen.    Er  wird 

14* 


210  Reinhold  Steig 

Sie  selbst  bitten,  seiner  in  Gassei  bestens  zu  gedenken.  Die  Aussiebten 
in  Marburg  sind  jezt  gar  zu  eng,  und  hier  ist  gegenwärtig  eine  grosse 
Ueberzahl  an  Docenten. 

Die  Abhandlung  Ihres  Hrn.  Bruders  in  den  Studien  ist  nun  abge- 
druckt. Schade,  dass  das  Stück  noch  nicht  ausgegeben  werden  kann, 
sonst  hätte  ich  Ihnen  ein  Exemplar  beigelegt.  Ich  werde  aber  durch 
Zimnoiermann  eins  von  Marburg  aus  besorgen.  Die  inhaltsreiche  Recen- 
sion  von  Ihnen  beiden^)  wird  nun  bald  in  den  Jahrbüchern,  freilich  in 
einigen  Absätzen  erscheinen.  Dem  Hrn.  Prof.  Böckh,  meinem  Nach- 
folger im  Amt  und  in  diesem  Zweig  der  Redaction,*  habe  ich  bereits 
vor  einiger  Zeit  die  sämtlichen  Papiere  gegeben. 

Wegen  Ihres  Hrn.  Bruders  in  München  ^)  können  Sie  sich  beruhigen. 
Es  sind  gute  Nachrichten  von  dorten  hier. 

Sehr  freue  ich  mich  auf  den  Fortgang  Ihrer  Untersuchungen  in 
unserer  alten  vaterländischen  Literatur.  Sollte  mir,  auf  meiner  Reise, 
oder  dorten  etwas  Wichtigscheinendes  aufstossen,  so  werde  ich  Sie  be- 
nachrichtigen. Nur  Schade,  dass  ich  zu  sehr  Laie  bin.  In  Darmstadt 
beschäftigt  sich  ein  Eirchenrath  Wagner  mit  einem  Zweig  derselben. 
Ich  weis  nicht  ob  Sie  Grund  finden,  etwas  auf  seine  Arbeiten  zu  halten. 
Freund  Görres  ist  recht  munter  in  Coblenz,  und  beschäftigt  sich  jezt 
mit  physikalischen  Versuchen,  lieber  das  Licht  dürfen  wir  etwas  von 
ihm  erwarten.  Doch  noch  früher  über  die  Mythengeschichte 
(Fortsetzung  dessen,  was  von  ihm  in  den  Studien  stand). 

Zunächst  werde  ich  auf  einige  Zeit  nach  Darmstadt  gehen.  Em- 
pfehlen Sie  mich  Ihrem  Hrn.  Bruder.    Ich  beharre  hochachtend 

Ihr  ergebenster 

Fr.  Creuzer. 

(4  Nach-  und  Randschriften:)  Meine  Adresse  ist:  Prof.  Creuzer 
abzugeben  bei  Buchhändler  Leske  in  Darmstadt. 

Meine  lezten  Briefe  haben  Sie  ho£fentlich  durch  Hrn.  Zimmer 
erhalten. 

Herr  Buchhändler  Zimmer  wird  auf  seiner  Rückreise  von  Leipzig, 
wo  er  auf  der  Messe  ist,  vermuthlich  durch  Cassel  kommen,  und  nicht 
verfehlen,  Sie  und  Ihren  Herrn  Bruder  zu  besuchen. 

ich  mache  Sie  aufmerksam  auf  A.  W.  Schlegels  Vorlesungen  über 
die  dramatische  Kunst  und  Literatur,  die  nächstens  hier  erscheinen 
werden. 


1)  8.  oben  auf  S.  206  die  Anmerkung  2. 

2)  Des  Malers  Ludwig  Grimm  (oben  S.  193). 


Zeugnisse  zur  Pflege  der  deutschen  Litteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern    211 

22.    Carl  Windiscbmann  an  August  Böckh. 

Aschaffenburg,  d.  13.  Mai  1809. 
Lieber  Freund! 

.  .  Für  Molitors  Rezension  sorge  baldigst.  Uebrigens  sind  mir 
Deine  Worte  nicht  gar  tröstlich  in  Hinsicht  meiner  eignen  Beiträge. 
Dennoch  schlage  ich  Dir  vor,  was  auf  beiliegendem  Blätlein  steht, 
hoffend,  dass  Du  dem  Freunde  künftig  ein  bequemes  Pläzchen  in  den 
Jahrbüchern  bereiten  wirst. 

.  .  Sag  doch  Loos,  Okens  Lehrbuch  eines  Systems  der  Natur- 
philosophie möge  er  mir  überlassen.^) 

Ewig  Dein  Windischmann. 

23.    August  Böckh  an  Wilhelm  Grimm. 

Heidelberg,  den  29.  May  i809. 

An  Herrn  Carl  Wilhelm  Grimm  in  Cassel. 

Ew,  Wohlgeboren  werden  hierdurch  ersucht,  von  den  unten  ver- 
zeichneten Schriften  eine  Beurtheilung  in  die  Heidelberger  Jahrbücher 
der  Literatur  zu  liefern.  Im  Fall,  dass  Ew.  Wohlgeboren  eine  oder 
die  andere  Schrift  nicht  übernehmen  sollten,  erbitten  wir  uns  den  Ge- 
setzen des  Instituts  gemäss,  eine  baldgefällige  Antwort. 

Die  Redaction  der  Heidelbei^ger  Jahrbücher 

der  Literatur.^) 
Für  Philologie,  Historie,  schöne 

Litteratur  und  Kunst. 

Aug.  Böckh,  Prof. 

Dr.  J.  Gust.  Büsching   und  Dr.  Fr.  Heinr.  von  der  Hagen 

Buch  der  Liebe.  1  B.  8.  Berlin  Hitzig. 
Museum  für  altdeutsche  Litteratur  und  Kunst.    Herausg.  von 

Dr.  J.  H.  von  der  Hagen,  B.  J.  Docen  und  Dr.  J.  G. 

Büsching  1  B.  m.  K.  Berlin  Unger.^) 
Ein    von    Ew.  Wohlgeboren    selbst   übernommener    französ. 

Fabliau. 

1)  Das  ^beiliegende  Blättlein*  nicht  erhalten;  die  Rezension  über  Oken  in  der 
Abteilung  für  Theologie,  Philosophie  etc.  1810  S.  97  anonym. 

2)  Böckh  benutzt  zu  diesem  Briefe  ein  Redaktion sformular,  in  dem  das  oben 
curaiv  Wiedergegebene  vorgedruckt  war,  das  Übrige  handschriftlich  vom  Redakteur 
oder  vom  Sekretär  ausgefüUt  wurde.  Die  S.  212  folgende  ^Nachschrift**  Böckhs  be- 
findet sich  auf  der  inneren  Seite  des  Formulars. 

3)  Über  das  «Buch  der  Liebe**  siehe  unten  zu  Brief  Nr.  54.  Das  „Museum* 
besprach  Jacob  Grimm:  1811  S.  145  (Kleinere  Schriften  6,  16). 


212  Reinhold  Steig 

Nachschrift. 

Ew.  Wohlgeboren  habe  ich  die  Ehre  vorstehende  Schriften  zur  Be- 
urtheilung  anzutragen,  da  mir  nach  Hrn.  Creuzers  Abgang  die  Uedaction 
dieses  Theiles  unserer  Jahrbücher  rait  Hrn.  Prof.  Wilken  gemeinschaft- 
lich äbertragen  worden  ist. 

Ihre  Recensionen,  welche  noch  in  unsern  Händen  sind,  werden  wir 
sobald  als  möglich  befördern.  Sie  würden  längst  abgedruckt  worden 
seyn,  da  wir  von  ihrer  TreflFlichkeit  überzeugt  sind,  wenn  die  Länge 
derselben  nicht  ein  Hinderniss  in  den  Weg  legte,  indem  wir  nicht  zu 
oft  abbrechen  mögen,  und  doch  einige  Mannigfaltigkeit  nothwendig  ist. 

Die  Redaction  hofft  und  wünscht,  dass  Sie  uns  ferner  wie  bisher 
mit  Ihrer  eifrigen  Theilnahme  beehren  mögen.  In  Erwartung  einer 
baldigen  gütigsten  Antwort  habe  ich  die  Ehre  mich  Ihnen  zu  em- 
pfehlen.    Mit  aller  Hochachtung  bin  ich 

Ew.  Wohlgeboren  gehorsamer  Diener 

Böckh. 

24.     Jean  Paul  an  August  Böckh. 

Bayreuth,  d.  31.  Mai  1809. 

Meine  Theilnahme  an  den  Heidelberger  Jahrbüchern  belohnt  mich 
reich  durch  die  Verbindung  und  Bekanntschaft^  in  welche  sie  mich  mit 
so  vielen  hochgeachteten  Gelehrten  setzt.  Ihr  Brief  gehört  unter  diese 
Belohnungen. 

Sehr  gern  streich'  ich  den  Namen  Schlegel  aus  der  Recension. 
Nicht  einmal  meinen  Feinden  mag  ich  weher  thun  als  es  literarisch 
nothwendig  ist;  geschweige  einem  Manne  wie  Schlegel,  dessen  seltenen 
Kunstgeist  ich  so  achte  und  den  ich  persönlich  kenne.  *)  —  So  wie  ich 

1)  Briefe  Jean  Pauls  an  Zimmer  (Zimmer  S.  299)  streifen  seine  Verbindung 
mit  Crenzer;  vgl.  auch  unten  zu  Brief  Nr.  59.  Bereits  am  1.  Februar  1808  konnte 
Görres  (8,  80)  ihm  für  die  Zusage  seiner  Mitarbeit  danken  und  ihm  Herders  Schriften 
und  die  Corinne  der  Frau  v.  Stael  antragen:  eine  Anzeige  der  letzteren  von  Jean 
Paul  ist  noch  im  Jahrgang  1808  S.  322  erschienen.  Wahrscheinlich  hat  Böckh  eine 
ungünstige  Erw&hnnng  Schlegels  aus  dem  zweiten  Absatz  der  Rezension  von  Pellegrins 
(Fouques)  Roman  Alwin  weggestrichen,  die  1809.  2,  49  im  zehnten  Hefte  der  Jahr- 
bücher erschien.  Jean  Paul  beginnt  mit  dem  Preise  von  Goethes  Meister,  wendet 
sich  dann  aber  gegen  die  ihn  nachahmende  «neuere  Dichterschule''  und  sagt:  „Bei 
Werner,  Ast,  dem  Verfasser  der  Niobe  u.  s.  w.  vererzet  sich  oft  das  wahre  poetische 
Gold-Geäder  in  rauhes,  graues,  unförmliches  Gestein.**  Wahrscheinlich  war  hier 
Schlegel  mitgenannt;  der  typographische  Zustand  der  Stelle  zeigt,  dass  aus  den  Zeilen 
etwas  herausgenommen  ist;  vgl.  unten  Nr.  31.  Schlegels  „Kunstgeist"  vorher  von 
Jean  Paul  in  der  Rezension  von  Gottfr.  Kömers  Aesthetischen  Ansichten  (1809.  2,  100) 
mit  demselben  Worte  gerühmt.  —  Jean  Paul  hat  seine  Heidelberger  Rezensionen 
1826  in  der  „Kleinen  Bücherschau"  (Hempel  52.  53)  herausgegeben. 


Zeugnisse  zur  Pflege  der  deutschen  Litteratur  in  den  Heidelb.  JahrbQchem     213 

aber  gerechten  Tadel  über  mich  nicht  verzeihend  aufnehme,  sondern 
dankend:  so  setz'  ich  freilich  dieselbe  Aufnahme  meiner  wolwoUenden 
Rügen  zu  leicht  bei  andern  voraus. 

1)  Baggesen  Wallers  Briefe  und  2)  Delbrück  über  die  Dichtkunst 
will  ich  gern  beurtheilen,  wenn  ich  sie  —  habe. ')  Leider  find'  ich  bei 
dem  hiesigen  Buchhändler  nicht  viel  mehr  Neuigkeiten  als  etwan  den 
—  Messkatalog.    Leben  Sie  wol!    Ich  grüsse  meine  Freunde. 

Ihr 

Jean  Paul  Fr.  Richter. 

25.    August  Böckh  an  Achim  von  Arnim. 

Heidelberg,  den  14.  Juni  1809. 

(Redactionsformular;  die  , unten  verzeichneten  Schriften*',  deren 
Beurtheilung  gewünscht  wird,  sind:) 

E.  Wagner,  Reisen  aus  der  Fremde  in  die  Heimath.    2.  B. 

Tübingen,  Cotta.  *) 
Fr.  Schlegels  sämtl.  Werke  1.  B.    Berlin,  Hitzig,') 
V.  Steigentesch,  Lustspiele  1.  und  2.  B.    Wien,  Geistinger. 
Derselbe,  die  Gelehrsamkeit  der  Liebe,  München  1809.  8. 

(Auf  einer  inneren  Seite  des  Formulars:) 

Lieber,  verehrter  Freund, 

Sie  werden  wissen,  dass  Creuzer  leider  von  hier  fort  ist,  dass  ein 
ganz  anderes  Wesen  dadurch  hier  entstanden,  alle  unsere  schönen  Ge- 
sellschaften und  Unterhaltungen  sich  in  langweilige  Essgesellschaften 
aufgelöst  haben ;  dass  unser  Heft  der  Jahrbücher  nun  auf  Wilken  und 
mich  —  versteht  sich  die  Recensenten  ausgenommen  —  allein  beruht, 
und  was  dergleichen  mehr  ist,  was  Sie  noch  ausserdem  wissen  werden. 
Da  ich  nun  nicht  zweifle,  dass  Sie  uns  wohl  auch  ferner  Ihre  Beyträge 
zu  den  Jahrbüchern  schenken  werden,  so  habe  ich  Ihnen  vorstehende 
Bücher  antragen  wollen,  und  bitte  Sie,  uns  zu  schreiben,  was  davon, 
und  ausserdem,  was  sonst  noch,  Sie  wohl  übernehmen  möchten. 

1)  Rezension  von  „Delbrück,  Ein  Gastmahl.  Gespräche  über  Poesie^  im  Jahr- 
gang 1809.  2,  241;  im  Register:  Von  F.  R.  J.  P. 

2)  Früher  geschriebene  Rezensionen  Arnims  über  drei  Werke  Ernst  Wagners 
im  Jahrgang  1809.  1,  169;   im  Register:  Von  77.  <T. 

3)  Die  Rezension  von  Schlegels  Werken  sandte  Arnim  an  Zimmer  (Zimmer 
S.  150)  schon  am  19.  JuU;  sie  ist  im  Jahrgang  1810.  1,  145  gedruckt,  im  Register: 
Von  71 — g.  Einen  ähnlichen  Eingriff  Böckhs,  wie  vorstehend  bei  Jean  Paul,  be- 
zeugt unten  der  Brief  Nr.  53. 


214  Reinhold  Steig 

Was  wir  noch  von  Ihnen  haben,  wird  bald  abgedruckt  seyn.  Mit 
dem  Baum  sind  wir  eben  immer  in  der  Enge.  Darum  bleibt  auch  die 
Fortsetzung  der  Becension  des  Wunderhornes  so  lange  aus. ') 

Werden  Sie  uns  hier  nie  wieder  heimsuchen?  Wenn  Sie  wieder 
kommen,  so  werden  Sie  mich  wahrscheinlich,  wie  die  Leute  sagen,  in 
einem  andern  Stande  finden.  Ich  habe  nehmlich  die  „nüdliche*  Göttin- 
gerin  Dorette  Wagemann,  die  Sie  mir  einmahl  auf  dem  Balle  zeigten, 
zur  Braut,  und  werde  in  einem  Vierteljahre  nach  ihrer  Vaterstadt  rei- 
sen, um  sie  mir  zur  Frau  zu  holen. 

Ich  erwarte  von  Ihnen  bald  einige  freundliche  Worte.     Wenn  Sie 

Wolf,   Schleiermacher,  Spalding  oder  sonst  einen  meiner  Bekannten  in 

Berlin  sprechen,  so  bitte  ich  Sie  mich  ihnen  zu  empfehlen.    Leben 

Sie  recht  wohl.  Der  Ihrige 

Böckh.«) 

26.    Johann  Georg  Zimmer  an  Achim  von  Arnim. 

Heidelberg,  den  17tenJuny  1809. 
Mein  werthester  Freund! 

In  Leipzig  habe  ich  durch  Reimer  Ihren  Brief  vom  22ten  Aprill 
erhalten  und  Ihnen  durch  denselben  den  Goldfaden  gesandt.  ^)  Hoffentlich 
wird  die  neue  Redaktion  die  alten  Aufträge  nicht  zurücknehmen  wollen 
und  darum  erfreuen  Sie  uns  recht  bald  mit  Ihrer  Anzeige  desselben. 
Zum  Zeichen,  wie  erfreulich  uns  allen  Ihre  Beyträge  sind,  bittet  Sie 
Böckh  in  der  Anlage  einiges  neue  zu  übernehmen  und  zu  wählen  was 
Sie  ausserdem  noch  anzuzeigen  wünschen.  Ich  sende  Ihnen  den  Brief 
mit  der  reitenden  Post  und  ein  Packet  von  Ernst  Wagner,  das  wahr- 
scheinlich den  2ten  Theil  seiner  Reise  in  die  Heimath  enthält,  mit  dem 
Fuhr-Ballen  nach.  ^)  Diesen  Mann  haben  Sie  durch  Ihre  Recension 
sehr  entzückt,  worüber  er  sich  ausgelassen  gegen  mich  auslässt.  Das 
Bild  folgt  dann  ebenfalls  mit  vielem  Danke  zurück. 

Wegen  der  altdeutschen  Bühne  bin  ich  mit  Ihrem  Vorschlag  ganz 
einverstanden.  Kommen  bessere  Zeiten  und  Sie  haben  es  noch  keinem 
übergeben,  dann  drucke  ich  es  mit  Lust.  ^) 

1)  Sie  kam  erst  1810  nach;  aus  welchen  Gründen,  sieh  Neue  Heidelberger 
Jahrbücher  1901.  10,  127  und  unten  die  Briefe  Nr.  64.  66.  73. 

2)  Auf  der  Adresse  die  Bemerkung:  „Mit  Gelegenheit**;  der  Brief  war  Ein- 
lage zu  dem  folgenden  Zimmers  an  Arnim. 

3)  Dieser  Brief  Arnims  findet  sich  nicht  in  Zimmers  Buche. 

4)  Den  diesem  Packete  einliegenden  Dankbrief  Ernst  Wagners  an  Arnim,  vom 
6.  Mai  1809,  teilte  ich  in  der  Zeitschrift  für  deutsche  Philologie  1896.  29,  i'09  mit. 

5)  Von  Arnim  war  eine  »Alte  deutsche  Bahne*"  schon  1808  im  VI.  Intelligenz- 
blatt  der  Heidelberger  Jahrbücher  angekündigt  worden. 


Zeugnisse  zur  Pflege  der  deutschen  Litteratur  in  den  Ueidelb.  Jahrbüchern     215 

Creuzer  hat  einige  sehr  unangenehme  Wochen  in  Darmstadt  zuge- 
bracht. Es  waren  ihm,  ehe  er  sein  Bestaliungs-Diplom  erhalten  hatte, 
hässliche  Kabalen  in  Holland  gespielt  worden,  die  aber  jetzt  zu  seiner 
Ehre  niedergesclilagen  sind.  Er  reisst  in  wenig  Tagen  dahin  ab.  Von 
Brentano  und  Hrn.  v.  Savigny  habe  ich  noch  gar  nichts  gehört.  Grössen 
Sie  Reimer.  Meine  Frau  empfiehlt  sich  Ihnen  bestens.  Mein  Knabe 
ist  ganz  herrlich.    Leben  -Sie  recht  wohl ! 

Ihr  J.  6.  Zimmer. 

27.     Karl  Justi  an  August  Böckh. 

Marburg,  den  20.  Juni  1809. 

Wohlgeborner 
Hochzuverehrender  Herr ! 

Es  macht  mir  ausserordentliches  Vergnügen,  mit  einem  Manne  in 
Verbindung  zu  treten,  der  seine  Laufbahn  so  ruhmvoll  begann,  und 
den  ich  längst  hochschätzte!  Noch  vor  einiger  Zeit,  als  ich  das  Gluck 
hatte,  Ihren  wackern  Freund  Prof.  Schulz  von  Halle  *)  hier  bei  mir  zu 
sehen,  wurde  Ihrer  öfter  mit  Theilnahme  in  unserm  Zirkel  erwähnt. 

Sehr  gerne  werde  ich  die  mir  aufgetragenen  Bücher  zum  Bezen- 
siren  übernehmen.  Schon  längst  sandte  ich  eine  Anzeige  des  3.  Bandes 
von  Jördens  Lexikon  etc.  ein,  die  noch  nicht  abgedruckt  ist.  ^)  Jördens 
Werk  habe  ich  selbst;  bloss  den  3.  Band  habe  ich  von  Hrn.  Zimmer 
erhalten,  die  2  ersten  aber  wieder  durch  Hrn.  Krieger  zurückgeschickt, 
durch  ein  Versehen  hat  jedoch  Hr.  Zimmer  auch  diese  auf  die  mir 
zugeschickte  Note  gesetzt.  Mit  Vergnügen  werde  ich  bisweilen  ein  Buch, 
das  ich  besonders  studirt  habe,  anzeigen,  und  desfalls  bei  Ihnen  vorher 
anfragen. 

Da  ich  jetzt  mit  der  zweiten  Auflage  meiner  Gedichte  beschäftigt 
bin,  so  wäre  mir*s  sehr  angenehm,  wenn  die  Anzeige  davon  in  den 
Heidelberger  Jahrbüchern  recht  bald  erschiene,  um  darauf  Uücksicht 
zu  nehmen  und  von  Erinnerungen,  die  ich  für  begründet  halte,  Gebrauch 
zu  machen.  Ueber  Gedichte  muss  man  sich  oft  die  sonderbarsten  Dinge 
sagen  lassen,  und  selten  fasst  ein  Rezensent  die  ganze  Individualität 
eines  Gedichts  gehörig  auf.  Die  herrlichste,  in  einer  klassischen  Sprache 
verfasste  und  für  mich  höchst  aufmunternde  Beurtheilung  meiner  Ge- 


1)  Wohl  David  Schulz,    vgl.  Max  Hoffmann,   August  Böckh    (Leipzig  1901) 
S.  9.  11  und  sonst. 

2)  Erschien  in  Jahrgang  1810.  1,  189;  im  Register:  Von  Ki. 


216  Reinhold  Steig 

dichte  hat  Joh.  von  Muller  in  einem  Briefe  an  mich  gegeben.  Schade, 
dass  das  viele  Lob,  welches  dieser  reiche  Brief  enthält,  es  unmöglich 
macht,  ihn  drucken  zu  lassen! 

*  Nächstens  werde  ich  Ihnen  mit  meinen  , Blumen  althebräischer 
Dichtkunst**  aufwarten,  wofür  sich  J.  v.  Müller  so  warm  interessirte. 
Oft  musste  ich  ihm  Bruchstücke  daraus  mittheilen.  Es  ist  mir  schmerz- 
lich, dass  er  die  Erscheinung  des  Ganzen  nicht  erlebt  hat!  Wachler 
und  Kommel  lassen  Gedächtnisreden  auf  ihn  drucken.^) 

Mein  lieber,  alter  Freund  Creuzer  ist  jetzt  bei  uns.  Morgen  oder 
übermorgen  reist  er  ab,  und  meine  herzlichsten  Wünsche  begleiten  ihn ! 
Er  empfiehlt  sich  Ihnen  bestens.  Die  Herren  Daub  und  Eries  bitte  ich 
angelegentlichst  zu  grüssen. 

Leben  Sie  wohl!    Mit  innigster  Hochachtung  und  Verehrung  habe 

ich  die  Ehre,  zu  sein 

Euer  Wohlgeboren  gehors.  Dr. 

Justi. 

28.     Ernst  Wagner  an  August  Böckh. 

Meiningen  den  4.  Juli  1809. 

Der  verehrungswürdigen  Uedaction  meinen  innigsten  Dank  für  Ihre 
freundliche  Einladung  zur  Theilnahme  an  den  Heidelberger  Jahrbüchern 
der  Literatur!  Und  gewiss,  wenn  ich  mir  je  gewünscht,  Mitgenosse 
eines  Kritischen  Instituts  zu  seyn,  so  würden  meine  Wünsche  auf  dieses 
trefflichste  von  allen,  die  ich  kenne,  gerichtet  seyn. 

Doch  ist  mein  Leben  durch  langjährige  Kränklichkeit  des  grössten 
Theils  seiner  Kraft  beraubt,  und  ich  werde  bey  einem  so  herrlichen 
Concerte  nur  als  ein  schwaches  Stimmlein  tönen.  Indessen  soll  mich 
auch  diess  nicht  abhalten.  Weniges  zu  würken,  so  lang  es  noch  Tag  ist. 

Mit  Vergnügen  übernehme  ich  die  mir  aufgetragenen  beyden  Werke 
Fesslers  J.  A.  Nachtwächter  Benedict.  Berlin.  Maurer,  und 
Der  Wintergarten.  Novellen  von  L.  A.  v.  Arnim.  Berlin. 
Realschulb.  ^) 

F.  M.  Klingers  Werke  Th.  8,  9,  11  und  12  betreffend,  so  bitte  ich 
diess  ablehnen  zu  dürfen,  da  es  mir  für  jetzt  zu  bändereich  ist,  und 

1)  VT  achlers,  Rommels  und  Windischmanns  Gedächtnisreden  auf  Johannes  von 
Müller  sind  im  Jahrgang  1813  S.  65  von  F.  W.  (Friedrich  Wilken)  angezeigt. 

2)  Die  Rezensionen  beider  Werke  stehen  im  Jahrgang  1809.  2,  164  und  2, 145; 
sie  sind  im  Register  mit  D.  A.  £.  gezeichnet,  während  dies  selbe  Zeichen  zu  gleicher 
Zeit  auch  noch  Heinrich  Voss  hat.  Darüber  ist  im  Euphorion  1902.  9,  204  ge- 
sprochen. 


ZeugDiBse  zur  Pflege  der  deutschen  Litteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern    217 

ich   mich   vor  einiger  Zeit  schon  einmal  habe  durcharbeiten   müssen, 

einem  Freunde  zu  Liebe. 

J.  E.  Wagner. 

29.    Karl  Justi  an  August  Böckh. 

Marburg,  den  4.  Juli  1809. 
Hochgeehrter  Herr  und  Freund! 

In  meinem  letzten,  durch  Hrn.  Dr.  Zimmermann  besorgten  Brief- 
chen erwähnte  ich  eine  neue  Schrift  von  mir,  die  nun  erschienen  ist, 
und  die  ich  Euer  Wohlgeboren  zu  überreichen  die  Ehre  habe.  Möge 
diese  Frucht  reinen  Sinnes  für  orientalische  Poesie  und  sorgfältigen 
Studiums  Ihres  Beifalls  nicht  unwerth  seyn ! ')  Haben  Sie  die  Güte,  für 
eine  baldige  Anzeige  in  Ihren  schätzbaren  Jahrbüchern  zu  sorgen.  Ein 
Rezensent  mit  poetischem  Geiste  wird  hier  der  kompetenteste  Richter 
seyn.  Bücher,  die  hebräische  Literatur  betreffend,  bedürfen  der  Em- 
pfehlung, wenn  sie  unter  das  Publikum  kommen  sollen. 

Ihren  würdigen  Hrn.  Kollegen  Da  üb,  Schwarz  und  de  Wette 
bitte  ich  mich  angelegentlich  zu  empfehlen,  und  versichert  zu  seyn, 
dass  ich  mit  ausgezeichnetster  Hochachtung  sey 

Euer  Wohlgeboren 

ganz  ergebenster 

Justi. 

30.   Achim  von  Arnim  an  August  Böckh. 

Berlin,  d.  5.  July  1809. 

Sehr  geehrter  Freund!  Fast  zu  gleicher  Zeit  kam  mir  Ihre  freund- 
schaftliche Aufforderung')  und  Ihre  Anzeige  gegen  die  divina  comoedia 
in  die  Hand,  für  beydes  sage  ich  Ihnen  meinen  Dank,  denn  mir  hat 
beydes  viel  Freude  gemacht.  Die  lächerlichen  Winkelzüge  in  der 
Vossischen  Antwort  könnten  Sie  sehr  schön  einleuchtend  machen,  wenn 
Sie  Ihre  erste  Anzeige  ruhig  noch  einmal  mit  der  Beyfügung  abdrucken 
Hessen :  nach  dem  Rathe  des  Recensenten  von  allen  Schreib  und  Sprach- 


1)  Sieh  unten  Brief  Nr.  60. 

2)  Oben  S.  213  Brief  Nr.  25. 


218  Reiuhold  Steig 

fehlem  gereinigt,  zweyte  verbesserte  aber  unveränderte  Auflage.^)  Von 
denen  verschiednen  Aufträgen,  die  ich  theils  noch  von  Creuzer,  theiis 
von  Ihnen  habe,  holte  ich  eine  Anzeige  des  Goldfadens,  Schillers  und 
Fr.  Schlegels  bald  zu  liefern,  haben  die  andern  grosse  Eile,  so  über- 
nimmt es  wohl  ein  andrer,  etwas  von  Steigentesch  möchte  ich  indessen 
auch  gern  auch  noch  annehmen,  weil  der  Mann  mir  sehr  werth  ist.  Ich 
sende  Ihnen  die  Recension  des  Sigurd,  zu  der  ich  mir  den  Grimm  zu 
Hülfe  nahm  wegen  seiner  vertraulichen  Bekanntschaft  mit  den  alten 
Sagen,  er  repräsentirt  im  Anfange  das  gelehrte  Urtheil  und  ich  am 
Schlüsse  das  ungelehrte,  da  es  gemeinschaftlich,  so  bitte  ich  keinen 
Namen  oder  Zeichen  beyzufügen.  *)  —  Ist  Ihnen  mein  Wintergarten  vor- 

1)  In  der  Jenaischen  Litteratur-Zeitung  1809  Nr.  18  war  über  die  aus  der 
VosBiscben  Umgebung  stammende  Comoedia  divina  eine  die  Angriffe  gegen  die 
Heidelberger  verschärfende  anonyme  Rezension  erschienen,  für  deren  Verfasser  man 
den  alten  Voss  hielt.  Am  Schlüsse  war  die  Anspielung  gemacht:  „dass  Calvin 
den  Servet  braten  Hess,  war.  nach  dem  Ausspruch  eines  berühmten  protestantischen 
Lehrers  der  Kirchengeschichte,  die  höchste  Religiosität."  Ein  Heidelberger  Theologe 
sollte  getroffen  werden.  Dagegen  erliess  August  Böckh,  im  Intelligenz-Blatt  der 
Jen.  Litt.-Zeituug  Nr.  36  vom  13.  Mai  1809,  mit  seines  Namens  Unterschrift  und  dem 
Datum  Heidelberg  13.  März  1809,  eine  abwehrende  „Bemerkung  über  den  Schluss 
der  Recension  der  sogenannten  Comoedia  divina  in  der  Jen.  A.  L.  Z.  1809  Nr.  18 
S.  143".  Worauf  die  Antwort  des  Rezensenten  der  Comoedia  divina,  in  Nr.  43  des 
Jen.  Intelligenz-Blattes  vom  14.  Juni  1809,  ohne  sachliche  Polemik  an  Böckhs  Stil 
herummäkelte.  Diese  Schriftstücke  lagen  Arnim  vor,  als  er  seinen  obigen  Brief  an 
Böckh  schrieb.  Ein  halb  Jahr  später,  in  Nr.  79  desselben  Intelligenz-Blattes,  wurde 
die  formelle  Erklärung  abgegeben,  dass  „Professor  Voss**  weder  die  Rezension  der 
Comoedia  divina,  noch  die  Erwiderung  gegen  Böckh  geschrieben  habe.  Offenbar  war 
diese  Erklärung  dem  jüngeren  Voss,  auf  den  sich  wohl  auch  der  Verdacht  gelenkt 
hatte,  durch  sein  amtliches  Verhältnis  zu  Böckh  abgenötigt  worden. 

2)  Als  Arnim  diese  von  Wilhelm  Grimm  verfasste,  von  ihm  selber  mit  einem 
Schlusssatze  versehene  Rezension  von  Fouques  Sigurd  an  Böckh  sandte  (Näheres 
künftig  darüber  im  Briefwechsel  zwischen  Arnim  und  den  Brüdern  Grimm),  konnte 
er  nicht  wissen,  dass  bereits  Jean  Paul  ihm  zuvorgekonunen  war.  In  Jean  Pauls 
Nachlass  auf  der  Königl.  Bibliothek  zu  Berlin  existiert  kein  das  Zustandekommen 
dieser  Rezension  betreifendes  Dokument.  Dagegen  meldet  Bernhardi  aus  Berlin, 
9.  Februar  1809,  seinem  Freunde  Fouquc  nach  Nennhausen  (1848,  S.  25),  er  sei  auf 
seiner  Reise  bei  Jean  Paul  in  Bayreuth  gewesen:  „Er  wünschte  sehr,  Dich  persön- 
lich kennen  zu  lernen,  nachdem  ich  ihm  viel  von  Dir  erzählt  hatte,  und  da  wünschte 
er  den  Alwin  und  Sigurd  zu  lesen.**  Daraufhin  knüpfte  Fouqu6  mit  Jean  Paul  an, 
dessen  Rezension  beider  Werke  in  den  Heidelberger  Jahrbüchern  1809.  2,  49  an 
der  Spitze  des  zehnten  Heftes  steht.  Unmittelbar  dahinter,  gleich  im  elften  Hefte 
(1809.  2, 121),  erscheint  nun  Arnims  und  W.  Grimms  Rezension,  mit  folgender  An- 
merkung der  Redaktion  (d.  i.  Böckhs):  „Schon  im  vorigen  H.  10  S.  52—55  hat  ein 
Mitarbeiter  unseres  Instituts  als  Anhang  zu  der  Beurtheilung  von  des  Verf.  Alwin 
seine  Stimme  über  den  Sigurd  vernehmen  lassen,  und  wir  haben  geglaubt,  dem 
Publikum  die  Worte  dieses  Schriftstellers,  der  unter  die  grössten  Zierden  unserer 
Literatur  gehört,   nicht  vorenthalten  zu  dürfen.    Die  gegenwärtige,   ausführlichere 


Zeugnisse  zur  Pflege  der  deutschen  Litteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern    21  d 

gekommen  ?  Vielleicht  gefällt  Ihnen  einiges  daraus,  Sie  können  ihn  bey 
Wilken  finden,  dem  ich  ihn  geschickt,  ich  bitte  ihn  und  seine  Frau 
freundlichst  zu  grüssen.  —  Dass  Brentano  von  seiner  Frau  getrennt  ist, 
werden  Sie  wissen,  sie  wohnt  bey  Marburg  auf  dem  Lande,  er  bleibt 
noch  in  Landshut,  mich  hält  der  Krieg,  sonst  wäre  ich  längst  dort  ein- 
getroffen. —  Mein  Glückwunsch  zu  Ihrer  Ehe,  Ihre  Braut  hat  mir  sehr 
Wohlgefallen,  so  selten  ich  sie  gesehen,  die  Göttinger  Damen  sind  über- 
haupt nach  meiner  Beobachtung  häuslicher,  wirthlicher  und  freundlicher, 
als  die  Pfälzerinnen.    Herzlich 

Achim  Arnim. 


31.   Jean  Paul  an  August  Böckh. 

Bayreuth,  d.  19.  Juli  1809. 

Verehrtester  Herr  Professor!  Den  31.  Mai  hab  ich  Ihr  gütiges 
Schreiben  beantwortet.^)  Da  ich  nun  die  beiden  zum  Rezensieren  ge- 
wählten Werke  von  der  Buchhandlung  noch  nicht  erhalten  —  Baggesen 
Wallers  Briefe  und  Delbrücks  Gastmal  etc.  ~  so  vermuth'  ich,  dass 
mein  Brief,  da  der  Krieg  alles,  also  auch  Briefe  nimmt,  nicht  ange- 
kommen. Ich  wiederhole  ihn  gern,  da  mir  soviel  an  der  Erfüllung 
Ihres  Wunsches  liegt,  dass  der  Name  Schlegel  aus  der  Rezension 
weggelassen  werde.  Er  kam  ohne  bittere  Beziehung  hinein,  da  ich  ihn 
als  Kritiker  und  jetzt  besonders  als  Mensch  sehr  achte  und  wir  längst 
einander  persönlich  in  Weimar  liebgewonnen.  Leben  Sie  wol!  Was 
vielleicht  jetzt  leichter  wird,  da  der  Friede  mit  seiner  Morgenröthe 
heraufdämmert. 

Ihr 

Jean  Paul  Fr.  Richter. 


Rezension,  welche  im  vorigen  Hefte  keinen  Raum  mehr  finden  konnte,  wird  darum 
nicht  unnütz  scheinen,  sondern  beyde  werden  neben  einander  gelesen  werden  können. 
Die  letztere  rührt  von  zwey  Verfassern  her,  welche  ihre  Ideen  ineinander  gearbeitet 
haben.**  Dies  letztere,  wie  Böckh  gutgläubig  Arnims  Mitteilung  formulierte,  ist  nicht 
richtig;  Grimm  und  Arnim  kommen  sich  innerhalb  der  Rezension  nicht  ins  Gehege, 
ein  Zusammenarbeiten  der  Ideen  hat  nicht  stattgefunden.  Das  grosse  Lob,  das  Böckh 
hier  Jean  Paul  spendet,  stimmt  sachlich  zu  der  litterarischen  Ausn ahmesteil ang,  die 
ihm  innerhalb  der  Heidelberger  Jahrbücher,  insbesondere  1811  von  Görres,  einge- 
räumt wurde  und  der  Schätzung  Jean  Pauls  seitens  der  Romantiker  allgemein  ent- 
sprach. 

1)  Sieh  oben  S.  212  Brief  Nr.  24. 


220  Heinhold  Steig 

32.  Carl  Windischmann  an  August  Böckh. 

Aschaffenburg  [ohne  Datum]. 

Euer  Wohlgebohrn 

haben  mir  gütigst  die  Rezensionen  von  Adam  Müller,  Görres  ^)  und  Her- 
mann von  Lehoin  übertragen  —  das  wolte  ich  Dir,  mein  lieber  Böckh, 
nur  melden  und  zugleich  einmal  recht  bitterlich  klagen,  dass  es  mir 
nicht  vergönnt  ist  Dich  zu  sehen.  .  .  Wenn  Creuzer  noch  da  ist,  so 
wünsch  ihm  in  meinem  Namen  glückliche  Beisse.  Jene  Bücher  aber: 
Adam  Müller  und  Hermann  von  Lehnin  schicke  mir  mit  nächster  Ge- 
legenheit (eine  andre  Ausgabe  des  lezten  hab  ich  hier :  ich  nehme  noch 
einige  Prophezeihungen  hinzu  und  werde  etwas  über  das  Prophezeien 
im  allgemeinen  reden). 

Wir  grüssen  Dich  von  Herzen.  Sobald  ich  so  viel  Geld  bekomme, 
als  ich  Lust  habe  Dich  zu  sehn,  komme  ich  zu  Dir. 

Dein  Windischmann. 

33.  Carl  Windischmann  an  August  Böckh. 

Aschaffenburg,  d.  22.  Juli  1809. 
Lieber ! 

.  .  Auch  bitte  ich  Dich,  Freund  Daub  zu  sagen  (aber  gewiss),  er 
möge  mir  doch  den  7  ten  Band  von  Tennemann's  Geschichte  der  Philo- 
sophie') nebst  den  andern  recensendis  zuschicken,  damit  ich  nicht  auf- 
gehalten bin:  ich  habe  nur  6  Bände.  Die  Rezension  von  Adam  Müller 
freut  mich  sehr. 

Wir  grüssen  Dich  schönstens. 

Dein  Windischmann. 

34.   August  Böckh  an  Achim  von  Arnim. 

Heidelberg,  den  25.  July  1809. 

(Redactionsformular ;  die  „unten  verzeichneten  Schriften",  deren 
Beurtheilung  gewünscht  wird,  sind:) 


1)  Die  Rezensionen  von  Adam  MüHers  Idee  der  Schönheit  und  von  Göires' 
Mythengescbichte ;  die  Rezension  des  ersteren  Werkes  verzögerte  sich  (worüber 
unten  näheres);  die  der  Mythengcschichle  steht  in  den  Heidelberger  JahrbQcbern 
1810  (-2,  113),  im  Register:   ,Von  W— d.";  vgl.  Görres-Briefe  8,  225.  233. 

2)  Anzeige  von  Tennemanns  Geschichte  für  Philosophie  in  der  Abteilung  für 
Theologie,  Philosophie  etc.  1810.  1,  57;  im  Register:  „Von  — d — ". 


Zeugnisse  zar  Pflege  der  deutschen  Litteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern     221 

E.  Lappe,    Miranda  ein   historisches  Gedicht  in  3  Gesängen. 

(Rostock  Stiller  in  Conamission.) 
Sarrazins  Bomanzen  und  Erzählungen.    Bremen,  Heyse. 
Jean  Paul,   des  Feldpredigers  Schmelzlo  Beise  nach  Flätz  mit 

fortgehenden  Noten,   nebst   der  Beichte   des  Teufels  bey 

einem  Staatsmanne.    Tübingen,  Cotta  1809. 
Gräters  lyrische  Gedichte  nebst  einigen   vermischten  Inhalts. 

Heidelberg,  Mohr  und  Zimmer. 

Aug.  Böckh,  Prof. 

35.   Johann  Georg  Zimmer  an  Achim  von  Arnim. 

Heidelberg,  d.  30ten  July  1809. 

Lieber  Arnim!  Ihre  beyden  Briefe  vom  5ten  und  19ten  Jnly  habe 
ich  erhalten  und  die  Einlagen  beyder  an  Böckh  abgeliefert.^) 

Beimer  hatte  mir  in  Leipzig  allerdings  einige  Packete  von  Ihnen 
zur  Besorgung  übergeben,^)  aus  dem  Trouble  der  Messe  kann  ich  mich 
nicht  mehr  erinnern,  an  wen,  nur  war  eins  an  Fr.  v.  Stael  dabey,  das 
ich  erst  vor  kurzem  mit  einem  andern  Packet  an  A.  W.  Schlegel  nach 
Copet  gesandt  habe.  Alles  für  von  Savigny  bestimmte  wird  in  Frank- 
furt im  Brentanoischen  Hause  abgegeben  und  so  ist  es  ohnfehlbar  auch 
mit  dem  überlieferten  Packet  gehalten  worden,  so  wie  das  an  Görres 
ohne  Zweifel  an  die  Buchhandlung  von  Pauli  &  Co  beygeschlossen  seyn 
wird.  Es  ist  mir  ausserordentlich  leid,  dass  ich  Ihnen  nicht  nähere 
Aufschlüsse  darüber  geben  kann  und  besonders  dass  das  Packet  nach 
Landshut  noch  nicht  angekommen  ist.  —  Görres*  Buch  hat  ein  unglück- 
liches Schicksal.  Er  hat  jetzt  erst  den  G^n  Bogen  zur  Correktur.  Den 
5ten  hat  er  viermal  gehabt.  Er  und  ich  und  Setzer  und  Drucker  werden 
noch  toll  darüber  werden.  Engelmann  hat  wohl  die  meiste  Schuld ;  aber 
bey  dem  entsetzlichen  Manuscript  ist  es  ihm  nur  halb  zu  verdenken, 
dass  er  nicht  eifriger  ist. 

Von  Nehrlich  habe  ich  keine  Nachricht,  aber  ich  weiss  durch 
Winter,   dass  er  das  Geld   erhalten   hat.    Wunderhorn  und  Bogs  hat 


1)  Der  Brief  yom  5.  Juli  1809  fehlt  im  Buche  über  Zimmer,  der  vom  19.  Juli 
hat  daselbst  (S.  151)  das  unrichtige  Datum  des  29.  JuU,  das  auch  oben  S.  204  An- 
merkung 2  zu  lesen  ist.  Die  Einlage  des  zweiten  Briefes  waren  Arnims  Rezen- 
sionen von  Friedrich  Schlegels  Gedichten  (oben  S.  213)  und  von  Brentanos  Gold- 
faden (oben  S.  204  und  unten  Brief  Kr.  54) ;  Arnim  vermisst  den  Abdruck  seiner 
Anzeige  von  Jung-Stillings  Geistertheorie  in  Daubs  Abteilung  (unten  Brief  Nr.  54). 

2)  Die  Packete  enthielten  den  Wintergarten,  der  zu  Arnims  Yerdruss  erst  spät 
in  die  Hftnde  seiner  Freunde  gelangte. 


222  Reinhold  Steig 

Reimer  sich  nicht  ausliefern  lassen.    Ich  werde  sie  Ihnen  mit  nächster 
Gelegenheit  senden. 

Creuzer  hatte  noch  kein  eigentliches  BerufungsPatent  vom  König 
erhalten,  sondern  nur  einen  Brief  des  Ministers.  Der  König  hatte  ihn 
ohne  Zustimmung  der  üniversitätsCuratel  berufen  und  diese  einen  andern 
Professor,  einen  Inländer,  vorgeschlagen,  um  diesen  zu  gewinnen  hatte 
man  Creuzer  verläumdet  und  ihn  der  Irreligiosität  und  Gott  weis  wessen 
alles  beschuldigt;  man  glaubte  anfänglich  hier  es  seyen  Fuchsschwänze 
dazwischen,  aber  es  war  nicht  wahr.  Durch  das  kräftige  Dazwischen- 
treten einiger  Freunde  wurden  jene  Yerläumdungen  bald  niedergeschlagen 
und  Creuzer  ist  eine  sehr  ruhmvolle  Existenz  dorten  gewiss. 

Unser  Knabe  wird  bald  laufen.  Sie  sollten  ihn  einmal  sehen,  wie 
lieblich  er  ist. 

Ihr  tr.  Zimmer. 

(Nachschrift:)  IcK  sende  Ihnen  zugleich  Honorarberechnung  und 
Anweisung  auf  Reimer. 

36.    Ernst  Wagner  an  August  Böckh. 

Meiningen  den  4.  August  1809. 
Ew.  Wohlgeboren 

habe  ich  die  Ehre,  anliegend  die  beyden  zu  fertigen  übernommenen 
kritischen  Anzeigen  über  Arnims  Wintergarten  und  Fesslers 
Nachtwächter  Benedict  gehorsamst  darzulegen,  womit  ich  zu- 
gleich das  mir  gütigst  aufgegebne  Pensum  verrichtet  habe.  ^) 

Zum  Schluss  die  dringende  Bitte  an  das  verehrte  Institut,  meinen 
eigentlichen  Namen  gefälligst  niemals  aus  dem  Incognito  hervortreten 
zu  lassen,  wenn  nicht  ich  selbst  Beweggründe  finden  sollte,  diess  zu 
thun,  woran  ich  aber  zweifle,  da  mir  nichts  heiliger  und  werther  ist, 
als  der  Friede  in  jeder  Rücksicht,  der  dadurch  doch  immer  gestört 
wird.    In  vollkommenster  Verehrung 

Ew.  Wohlgeboren 

ganz  gehorsamster 

J.  E.  Wagner 

Hz«rl.  S.  ('abinetssecret'ir. 


1)  Vgl.  oben  S.  21«. 


Zeugnisse  zur  Pflege  der  deutschen  Litteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern     223 

37.   Karl  Horstig  an  August  Böckh. 

Mildenberg  4.  August  1809. 
Ew.  Wohlgebornen   theilten   mir  unterm    17.  Mai  1809  die  dies- 
jährigen Aufträge  der  Redaction  der  Heidelberger  Jahrbücher  mit,  mit 
namentlicher  Angabe  von 

Füessli  Sämmtl.  W.  in  8  Contourblättern 

—      allg.  Künstlerlexikon 
Gräter  poet.  u.  pros.  Schriften 
Gruber  poet.  Anthologie  etc. 
Zimmer  schreibt  auf  meine  Nachfrage,  er  höre  von  der  Redaktion,  dass 
bey  derselben  sich  gar  keine  Notiz  eines  Auftrages  dieser  Werke  vorfinde.^) 
Haben  Sie  die  Güte,  diesen  Irthum  zu  heben  und  Zimmer  zugleich 
aus  nachfolgendem  Verzeichnisse  der  Schriften,   die  ich  aus  dem  Mess- 
verzeichnisse gezogen  habe,    diejenigen  anzustreichen,  die  Sie  mir  noch 
zur  Beurtheilung  zukommen  lassen  wollen.^ 

Zimmer  hat  von  mir  seitdem  7  Rezensionen  und  unter  diesen  erst 
zwey  (Lorrey  und  Bernewitz)  für  Sie')  empfangen.   Er  schreibt  zugleich, 

1)  Karl  Horstig  gehört  zu  denen,  die  an  den  Heidelberger  romantischen  Be- 
strebungen in  einiger  Entfernung  teilnahmen.  Seine  Mitarbeit  ist  fast  in  jeder  der 
damaligen  Zeitungen  anzutreffen.  lieber  ihn  teile  ich  eine  ungedruckte  Stelle  aus 
Grenzers  Briefe  an  Böttiger  vom  10.  Januar  1807  mit.  «Horstig  und  seine  Frau**, 
schreibt  er,  „treiben  sich  hier  auch  noch  herum,  welches  buchstäblich  von 
ihnen  gilt,  da  sie  allenthalben  sind,  selbst  oft  wo  man  sie  nicht  gerne  siehr,  und 
dies  leztere  ist  jezt  an  vielen  Orten  hier  der  Fall,  seitdem  man  weis,  dass  sie  was 
in  Gesellschaften  gesprochen  wird  wieder  in  Journalen  drucken  lassen,  und  über- 
haupt jede  Kleinigkeit  von  hier,  in  Flugschriften  ausbreiten.  (Ich  habe  neulich 
selbst  auf  dieses  vorlaute  Paar  angespielt,  als  ich  in  einem  Programm,  wo  ich  von 
den  neuen  Schicksalen  der  Universität  sprach,  der  male  feriatorum  hominum  ge- 
dachte, die  von  hier  aus  Alles  ins  Publicum  brächten.)  Dazu  kommt  noch  ihre  ans 
cynische  gränzende  Lebensart  und  vernachlässigte  Kinderbehandlung,  welche  ihnen 
von  einem  hiesigen  Satyricus  den  Namen  honette  Zigeuner  zugezogen  hat.  Ue- 
brigens  halte  ich  ihn  für  einen  sehr  gutmüthigen  braven  Mann,  und  auch  der  Frau 
kann  man  vielfache  Talente  und  eine  gewisse  Aufrichtigkeit  des  Charakters  nicht 
absprechen."  Im  Schlussberichte  seines  Programms  „Philos.  vet.  loci**  1806  S.  37 
lobt  Creuzer  die  naturae  artisque  bona  Heidelbergs,  die  jeder  kenne,  und  sagt:  et  si 
quis  ignoret,  edoceri  queat  ephemeridibus,  quibus  nuper  multi  homines,  partim 
male  feriati,  in '  haue  literarum  universitatem  depraedicandam  certatim  involarunt. 
Horstig  wurde  von  Anfang  an  zur  Mitarbeit  an  den  Jahrbüchern  herangezogen 
und  hat  eine  ganze  Reihe,  übrigens  ziemlich  unbedeutender,  Anzeigen  mit  und  ohne 
Namensandeutung  geliefert.  Ja,  er  erhielt  sogar  das  Lob  der  von  ihm  rezensierten 
Autoren  (unten  Brief  Nr.  40). 

2)  Das  beigelegte  Verzeichnis  enthält  36  Schriften  litterarischen  oder  künst- 
lerischen Inhalts. 

3)  d.  h.  für  Ihre  Abteilung.  Die  kurze  Anzeige  von  Loreyes  Rhetorik,  ano- 
nym im  Text  und  Register,  in  1809.  2,  336. 

NRUR  HRIDRLH.  JAIIKBIIRCIIRR  XI.  |5 


224  Reinhold  Steig 

dass  er  den  Elopstock  nicht  in  der  Prachtausgabe  habe  und  dass  die 
Anzeige  davon  unterbleiben  müsse,  wenn  ich  mir  die  Ansicht  desselben 
nicht  selbst  verschaffen  könne.  Machen  Sie  ihm  den  Vorschlag,  ob  er 
ein  doppeltes  Honorar  für  Beurtheilung  solcher  Werke,  die  er  nicht 
anschaffen  möge,  bezahlen  wolle.  Ich  würde  mir  alsdann  Mühe  geben, 
sie  aufzusuchen.  Unter  Versicherung  meiner  aufrichtigsten  Hochachtung 
und  Ergebenheit  nenne  ich  mich 

Ihren  Freund  und  Diener 

Horstig. 

38.  Carl  Windischmann  an  August  Böckh. 

Aschaffenburg,  d.  14.  August  1809. 

Geliebter ! 

.  .  Lass  doch  ums  Himmelswillen  die  Rezension  von  Vogt  bald 
abdrucken,  man  quält  mich  darum.  In  acht  Tagen  erhältst  Du  eine 
kleine  Anzeige  eines  drolligen  Büchleins  von  mir,  das  mir  mein  Freund 
Dr.  Ehrmann  in  Frankfurt  gegeben ;  die  lass  sogleich  einrücken  .  . 

Ewig  Dein  Windischmann. 

39.  Carl  Windischmann  an  August  Böckh. 

[Aschaffenburg,  August  1809.] 
Lieber  Böckh! 

Hier  die  Rezension,  von  der  ich  neulich  sagte.  Es  ist  ein  Spass, 
der  eben  darum  nicht  verzögert  werden  darf.  Lass  sie  sogleich  ab- 
drucken. 

Du  lässt  doch  wieder  keine  Silbe  von  Dir  hören.  Durch  Ehrmann 
habe  ich  erfahren,  dass  Du  gesund  bist  .  . 

Ewig  Dein  Windischmann. 

40.    Karl  Justi  an  August  Böckh. 

Marburg,  den  15.  September  1809. 

Hier,  mein  verehrtester  Freund,  erhalten  Sie  eine  von  den  mir  auf- 
getragenen Rezensionen,  die  ich  einstweilen  voraus  gehen  lasse,  weil  sich 
mir  gerade  eine  Gelegenheit  darbietet,  den  Brief  einschliessen  zu  können. 
Die  andern  sollen  demnächst  folgen ;  die  über  die  epigrammatische  An- 


Zeagnisse  zur  Pflege  der  deutschen  Litteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern     225 

thologie  alsdann/)  wenn  ich  die  beiden  letzten  Bände  (die  so  eben  er- 
schienen seyn  sollen)  werde  erhalten  haben.  Ich  werde  sodann  den  Geist 
des  Ganzen  bestimmter  darzustellen  suchen. 

Unserm  Freunde  Creuzer  gefällt  es  nicht  sonderlich  in  Leyden ;  das 
steife,  pedantische  Leben  konnte,  wie  ich  voraus  sah,  seinen  natürlichen 
Sinn  nicht  wohl  ansprechen.  Auch  muss  es  einem  ächten  Deutschen 
wunderlich  an  einem  Ort  behagen,  wo  man  nichts  als  holländisch,  la- 
teinisch und  französisch  spricht.  Gegen  Wyttenbach  fing  seine  erste 
Unterredung  sogleich  lateinisch  an,  obgleich  Wyttenbach  hier  in  Mar- 
burg gebahren  und  erzogen  ist. 

Die  Horstigsche  Rezension  meiner  Gedichte  habe  ich  mit  Vergnfigen 
gelesen,*)  wenn  ich  gleich  nicht  in  allen  Punkten  mit  dem  Verfasser 
harroonire,  so  sind  doch  einige  seiner  Bemerkungen  sehr  gegründet. 
Auch  ist  seine  Sprache  schön  und  geistvoll.  Mir  macht  es  überhaupt 
viel  Vergnügen,  mancherlei  Stimmen  zu  vernehmen.  Unser  Freund  Schulz 
zu  Halle  hat  zur  zweiten  Auflage  zwei  treffliche  Kompositionen  geliefert. 
Vielleicht  wird  diesem  braven  Mann  jetzt  durch  Vaters')  Abgang  nach 
Königsberg  geholfen. 

Ich  wünsche  recht  sehr,  dass  meine  Rezensionen  bald  abgedruckt 
werden  möchten,  weil  ich  gern  mit  den  Herrn  Verlegern,  wenn  ich  auch 
den  vorigen  Jahrgang  erhalten  habe,  abrechnen  möchte. 

Schenken  Sie  mir  ferner  Ihre  Liebe  und  Gewogenheit! 

Hochachtungsvoll 

Der  Ihrige 

Justi. 

41.   August  Böckh  an  Jacob  Grimm. 

Heidelberg,  den  25.  September  1809. 

(Redactionsformular ;  die  „unten  verzeichnete  Schrift*,  deren  Be- 
iirtheilung  gewünscht  wird,  ist:) 

Judith,  Schauspiel  von  Heinr.  v.Itzenloe,  Hofpoet  bey  K.  Rudolf  IL 
Aus  einer  alten  Handschrift.    Zürich,  Orell  &  C.  1809.*) 

Aug.  Böckh,  Prof. 

1)  Heidelb.  Jahrbücher  1811.   8.  1132,  im  Register:  Von  Ki. 

2)  Heidelb.  Jahrbücher  1809.  2,  55;  im  Register:  Von  — g. 

3)  Des  Professors  Vater. 

4)  Heidelb.  Jahrbücher  1810.  1,  89;  im  Register:  Von  J.  Gr.  (Kleinere  Schrif- 
ten 6,  9) ;  vgl.  unten  Briefe  Nr.  46  und  68. 

15* 


226  Reinhold  Steig 

42.    Carl  Windischmann  an  August  Böckh. 

Ascbaffenburg,  d.  28.  September  1809. 
Geliebter  Freund! 

.  .  ich  höre,  Greuzer  kommt  wieder  an  seine  d.  h.  an  Deine 
Stelle  zurück.  Sage  mir  doch  um  aller  Götter  willen,  wie  sich  das 
verhält.    Man  wird  Dich  doch  nicht  zurücksezen?  .  . 

Du  erhälst  nächstens  die  ßezension  von  Adam  Müller.  Andre 
Arbeit  quälte  mich  bisher  zu  sehr.  Du  könntest  mir  einen  grossen 
Gefallen  erweissen,  wenn  Du  mir  die  Geschichte  einer  Drusen- 
familie und  den  Dabistan  von  unserm  Hrn.  v.  Dalberg  zur  Re- 
zension überliessest.  ^)  Dieser  hatte  beide  Schriften  schon  längst  an 
Greuzer  gesandt,  der  ihm  auch  baldigste  Rezension  zusagte.  Bis  izt 
ist  nichts  gekommen.  Da  nun  Dalberg  gehört,  dass  ich  Mitarbeiter 
sey,  so  hat  er  mich  angelegentlich  gebeten,  die  Rezension  zu  über- 
nehmen. Wenns  also  möglich  ist  und  selbst  wenn  dieselbe  schon  über- 
tragen wäre  und  manierlich  wieder  zurückgenommen  werden  könnte 
wegen  des  langen  Ausbleibens,  so  wäre  ich  sehr  froh  darum:  Du  be- 
greifst wohl,  dass  mir  dies  in  meiner  hiesigen  Lage  von  Bedeutung 
seyn  muss  und  dabei  darf  ich  Dir  auch  sagen,  dass  vieleicht  niemand 
die  Arbeit  dieses  wirklich  liebenswürdigen  Mannes  so  zu  erkennen  ver- 
mag wie  ich,  der  ich  seine  Eigenthümlichkeit  ganz  kenne.  Den 
Dabistan  habe  ich  im  Februar  für  Jena  rezensirt.  Dies  hindert 
nicht  in  der  Rezension  der  Drusenfamilie  auch  darauf  hinzudeuten 
und  denselben  als  einen  Anhang  dieser  Schrift  zu  betrachten,  was  er 
wirklich  ist.  Geht  dies  leztere  nicht,  so  übernimmt  Molitor  recht  gerne 
den  Dabistan.  Schreibe  sogleich  hierüber.  Vogts  Ruinen  am  Rhein 
bitte  ich  mir  ebenfalls  aus,  dass  Du  sie  keinem  andern  gibst  .  . 

Dein  Windischmann. 

43.    Johann  Georg  Zimmer  an  August  Böckh. 

(nach  Göttingen) 

Heidelberg,  d.  3.  October  1809. 
Liebster  Böckh! 

Ich  kann  Dir  jetzt  schon  „Glück  zum  heiligen  Ehestände!^  zurufen, 
denn  bis  es  zu  Dir  tönt,  sitzst  Du  ganz  und  gar  drinn.     Deinen  Brief 


1)  Heidelb.  JahrbQcher  1810.  1,  50;  im  Register:  Von  W— d. 

2)  Böckhs  Hochzeit  wurde  am  4.  Oktober  1809  in  Göttingen  gefeiert. 


Zeugnisse  zur  Pflege  der  deutschen  Litteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern     227 

• 

an  Creuzer  habe  ich  zurückgehalten,  weil  mir  May  es  rieth  und  niemand 
mir  gewisses  sagen  konnte,  was  ich  damit  tbun  sollte. 

Kastner  ist  wirklich  —  n  i  ch  t  Ordinarius  geworden ;  aber  Loos 
und  de  Wette.  Sonst  nichts  neues,  als  dass  Wagner  aus  Würzburg 
hier  erwartet  wird,  der  künftig  hier  privatisiren  wird. 

Angekommen  ist  nichts  als  Recensionen  von  Welker'),  Jean  Paul 
und  Horstig;  kein  Brief. 

Ich  habe  zwar  keine  Braut  und  keine  junge  Frau,  aber  doch  Eile. 
Grüsse  Deine  junge  Frau  und  Zimmermann  und  die  seinige  herzlich. 

Dein  Zimmer. 
(Nachschrift:)  de  Wette  ist  verheurathet. 

44.     Carl  Windischmann  an  August  Böckh. 

Aschaffenburg,  d.  28.  Oktober  1809. 

Lieber  Freund! 

.  .  Solte   dann    mein   Schreiben   an    Dich,  das  ich   an  Daub  ein- 

schloss,  nicht  an  Dich  gekommen  seyn?    Ich  muss  dringend  seyn  um 

eine  Erklärung  über  die  Angelegenheit  des  Hrn.  v.  Dalberg,  da  dieser 

mich  gar  sehr  drängt  .  . 

Dein  Windischmann. 

45.    Johann  Georg  Zimmer  an  Achim  von  Arnim. 

Heidelberg,  d.  4ten  November  1809. 

Wie  sehr  muss  ich  Sie  um  Verzeihung  bitten,  theuerster  Freund! 
dass  ich  Ihnen  bis  jetzt  noch  nicht  auf  Ihren  Brief  vom  11^"  September 
geantwortet  habe.  Ich  habe  immer  schreiben  wollen  und  habe  immer 
Abhaltungen  gehabt:  zuerst  Sorgen,  dann  mehrere  Reisen  und  endlich 
der  starke  Besuch  unserer  Universität  in  diesem  angefangenen  Cours. 
Es  ist  mir  diese  Nacht  heiss  aufs  Herz  gefallen,  dass  ich  durch  meine 
Verzögerung  Sie  vielleicht  in  Ihren  Operationen  gehindert  habe,  wenn 
es  nähmlich  ernsthaft  damit  gemeynt  war.') 


1)  Weickers  Zeichen  ist  W — k;  eine  Aufstellung  seiner  Heidelberger  Rezen- 
sionen bei  Kekule,  Das  Leben  Friedrich  Gottlieb  Weicker's  S.  488. 

2)  Der  Brief  Arnims  vom  11.  September  1809  fehlt  im  Buche  Ober  Zimmer. 
Aus  Zimmers  Andeutungen  und  denen  in  den  Briefen  Nr.  49  und  52  ergiebt  sich 
der  mir  auch  anderswoher  bekannte,  eine  Zeitlang  gehegte,  dann  aber  aufgegebene 
Wunsch  Arnims,  zu  promovieren  und  Vorlesungen  zu  halten,  wohl  im  Hinblick  auf 
die  Begründung  einer  Universit&t  in  Berlin. 


228  Rdnhold  Steig 

Ich  hatte  gleich  mit  Wilken  gesprochen.  Das  Hinderniss  mit  den 
achtzig  Gulden  wollen  wir  schon  in  so  weit  beben,  dass  es  wenigstens 
Ihren  Wunsch  nicht  unausführbar  macht.  Wilken  sagt,  Sie  sollten 
entweder  ein  Gesuch  in  lateinischer  Sprache  an  den  Decan  der  philo- 
sophischen Facultät,  das  die  beyfoigende  üeberschrift  haben  müsste^), 
gleich  einschicken,  oder  auch  nur  einen  Bogen  mit  Ihrer  Unterschrift, 
so  wolle  man  das  Gesuch  selbst  hier  abfassen,  doch  thun  Sie  lieber 
das  erste. 

Ist  Brentano  noch  be?  Ihnen?  Ich  freue  mich  Ihres  Zusammen- 
seyns  recht  herzlich  und  wünsche  mir  nur  zu  Zeiten  ein  Stündchen  bey 
Ihnen  zu  seyn.  Grüssen  Sie  doch  Brentano  recht  von  mir  und  sagen 
Sie  ihm,  er  solle  mir  doch  auf  meinen  Brief  antworten,  den  ich  etwa 
vor  4  —  5  Monathen  nach  Landshut  habe  gehen  lassen.  Ich  bat  ihn 
darin  nahmentlich  mir  zu  sagen,  ob  ich  das,  was  ich  ihm  noch  schuldig 
bin,  an  Mad.  Rudolphi  bezahlen  solle,  oder  wo  sonst  hin? 

Dass  Grenzer  wieder  da  ist,  wissen  Sie.  Ich  habe  bis  jetzt  ihn 
noch  wenig  geniessen  können;  aber  er  ist  ganz  ausserordentlich  ver- 
gnügt und  das  ist  reicher  Gewinn  für  seine  Drangsale.  Die  Jahrbücher 
werden  k.J.  natürlich  fortgesetzt.^)    Empfehlen   Sie   sie  doch  recht! 

Leben  Sie  recht  wohl! 

Ihr  Zimmer. 

46.    Jacob  Grimm  an  August  Böckh. 

Cassel,  am  Sten  November  1809. 

Hochgeschätzter  Herr  Professor 

Hier  sende  ich  Eurer  Wohlgeb.  zwei  schon  längst  niedergeschriebene 
Kecensionen  über  Hagens  Museum  und  Buch  der  Liebe,  für  welche 
sich  nunmehr  wohl  Platz  finden  könnte,  da  wie  ich  eben  sehe,  mit  dem 
Abdruck  der  früheren  Recension  über  die  Sammlung  altdeutscher  Ge- 
dichte der  Anfang  gemacht  worden  ist.  Vielleicht  wäre  es  um  des- 
willen gut,  wenn  sie  bald  erscheinen  könnten,  da  dem  Vernehmen  nach 
schon  Fortsetzungen  der  genannten  Schriften  auf  dem  W^e  sind.  *) 


1)  Diese  üeberschrift,  wohl  von  Wilkens  Baod,  fehlt. 

2)  Die  Anzeige  der  Fortsetzung  im  XXY.  Intelligenzblatt  der  Hddelberger  Jahr- 
bucher 1809. 

3)  Jacob  an  Wilhehn  Grimm  16.  Juni  1809  (aas  der  Jogendieit  S.  110):  «Ein 
Brief  von  Böckh  in  Heidelbeig  (oben  S.  212)  bemerkt  es  müsse  bloss  ihiter  Länge 
halber  geschehen,  nm  nicht  so  oft  abzubrechen,  und  bittet  um  weitere  Aueigco  des 
Buchs  der  Liebe  und  des  Magazins.  Ich  will  ihm  antworten,  das  soUe  geschehen, 
würde  aber  wegen  jenes  aufgehaltenen  Abdrucks  nicht  so  eilig  sein." 


Zeugnisse  zur  Pflege  der  deutschen  Litteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbachern    229 

Wie  schön  hätte  ich  sie  Ihnen  bei  Ihrer  neulichen  Anwesenheit  in 
CasseP)  mitgeben  können,  und  wie  leid  that  es  mir,  dass  ich  den  mir 
zugedachten  gütigen  Besuch  versäumte!  Allein  wie  ich  nach  Haus 
kam,  hatten  meine  Leute  sogar  den  Gasthof  abzufragen  vergessen,  wo 
Sie  für  diesen  Tag  noch  zu  finden  gewesen  wären. 

Indem  ich  nochmals  die  Recension  durchsehe,  kommen  mir  einige 
Sätze  unpassender  vor,  als  damals,  wie  ich  sie  niederschrieb,  und  es 
möchte  Ihnen  noch  viel  mehr  so  scheinen.  Besonders  der  Eingang  über 
Büschings  Abhandlung  von  Wolframs  Leben  ist  ein  wenig  zu  sentimental. 
Ich  frage  freilich,  ob  denn  am  Sentimentalen  an  sich  etwas  Unrechtes 
zu  finden  ist?  und  ich  gestehe,  dass  ich  bei  der  ganzen  vielleicht  nur 
zu  ausführlichen  Ausführung  meines  Glaubens,  eine  Art  von  Ironie  gegen 
Büsching  im  Sinn  hatte,  welcher  bei  Abfassung  seines  unglaublich 
trockenen  Aufsatzes  gewiss  eher  an  seine  tägliche  Mittagssuppe  als  an 
dergleichen  gedacht  hat.  Inzwischen  kann  die  Stelle  allenfalls  wegbleiben 
und  verfahren  Sie  meinetwegen  damit  nach  Ihrer  bessern  Beurtheilung.*) 

Wenigstens  würde  dadurch  etwas  Raum  gespart,  und  es  ist  meine 
Generalbesorgnis  für  beide  Becensionen,  dass  sie  wieder  zu  weitläufig 
geworden  sind.  Ich  hätte  sie  freilich  noch  weitläufiger  machen  können, 
durch  das,  was  ich  darum  mit  Fleiss  ausgelassen  habe.  Mich  tröstet 
die  Hoffnung,  dass  die  Heftezahl  dieser  Abtheilung  der  Jahrbücher 
künftiges  Jahr  vergrössert  werden  kann,  das  Publicum  hätte  gewiss 
nichts  dagegen,  weil  so  Vieles  zurückbleibt,  aus  Mangel  an  Baum. 
Wo  ich  nicht  irre,  so  ist  z.  B.  Görres  Recension  des  Wunderhorns  nur 
angefangen,  aber  noch  nicht  aus.  auch  hat  es  längst  von  einer  Arnim- 
schen  Recension  von  Stillings  Geisterkunde  verlautet,  die  ich  seither 
vergebens  erwartete.*) 

Als  mir  neulich  Hr.  Zimmermann  erzählte,  dass  Hr.  Hofrath 
Creuzer  aus  seinem  Leiden  wieder  nach  Heidelberg  zurückkäme,  habe 
ich  mich  recht  gefreut.  Sollte  er  schon  dort  seyn,  so  bitte  ich  mich 
ihm  bestens  zu  empfehlen. 

mein  Bruder  ist  noch  in  Berlin,  wird  aber  nun  ehstens  hier  zurück- 
erwartet. 


1)  GelegenUich  der  Hochzeitsreise  nach  Göttingen  (oben  S.  226);  vgl.  auch 
Briefwechsel  aus  der  Jugendzeit  S.  187. 

2)  Böckh  scheint  die  Stelle  beim  Abdruck  1811  S.  145  weggelassen  zu  haben; 
was  da  Ober  Wolfram  gesagt  wird,  hat  nach  meiner  Aufifassung  wenigstens  nichts 
Sentimentales  (Kleinere  Schriften  ß,  16). 

3)  Jacob  Grimm  benutzt  hier  die  Gelegenheit,  auf  die  Redaktion  zu  Gunsten 
seines  Freundes  Arnim  einen  Druck  zu  üben. 


230  ReiDhold  Steig 

Die  Anzeige,  welche  Sie  die  Güte  gehabt  haben,  von  der  kürzlich 
in  Zürich  erschienenen  altdeutschen  Judith  zu  verlangen,  soll  so  bald 
erfolgen  und  so  kurz  als  möglich,  als  ich  sie  vom  Buchhändler  erhalte.  ^) 
Die  Buchhändler  in  unserer  Nähe  versorgen  ihr  Sortiment  so  übel,  dass 
man  dergleichen  Sachen  immer  besonders  verschreiben  lassen  und  dann 
lang  darauf  warten  muss. 

Ich  habe  die  Ehre  mit  aufrichtiger  Hochachtung  zu  seyn 

Ihr 

ergebenster 

J.  Grimm. 

47.    Carl  Windischmann  an  August  Böckh. 

Aschaffenburg,  d.  5.  November  1809. 

Geliebter  Freund! 

Endlich  einmal  ein  Wort  von  Dir  nach  so  langem  Harren.  Ich  danke 
Dir  für  die  Uebertragung  der  Rezension  von  Dalbergs  Schrift  und  hoffe, 
Du  sollst  meiner  sicher  genug  seyn,  dass  ich  Dir  Deine  Bedingungen 
erfülle.  In  den  nächsten  Wochen  sollst  Du  sie  erhalten,  so  wie  Adam 
Müller  etc.  —  ist  denn  Gör  res  Mythologie  noch  nicht  fertig?  .  . 

Ewig  Dein  Windischmann. 

48.    Ernst  Wagner  an  August  Böckh. 

Meiningen  den  14.  Nov.  1809. 

Ew.  Wohlgeboren 
übermache  ich  anliegend,  Dero  Schreiben  vom  25.  v.M.  gehorsamlich, 
das  mir  aufgegebne  Pensum  sogleich,  um  Sie  nicht  mit  2  Briefen  zu 
belästigen.  Ich  hatte  die  beyden  Werke')  zur  Hand,  und  fand  die  Beur- 
theilung  derselben  leicht.  Wollen  Ew.  Wohlgeb.  den  Faust  doch  etwa 
in  Correlation  geben,  so  soll  es  mir  ganz  gleich  seyn  —  ja,  ich 
will  von  Herzen  gern  geirrt  haben !^) 

1)  FQr  altdeutsch  war  die  Judith  von  Itzenloe  (oben  S.  225)  wohl  von 
Böckh,  als  er  sie  Grimm  antrug,  und  von  diesem,  als  er  sie  annahm,  gehalten  wor- 
den, da  sie  dem  Titel  nach  aus  einer  alten  Handschrift  stamixien  sollte.  Vgl.  darüber 
Grimms  Rezension. 

2)  Kessler,  Alonso  und  Schöne,  Faust:  im  letzten  Hefte  1809.  3,  357  und  im 
ersten  Hefte  1810  S.  3. 

3)  Wagner  kennzeichnet  Schönes  Faust  als  ^einen  missglQckten  Versuch*.  Er 
meint  also,  wenn  ein  Korreferent  für  das  Buch  noch  bestellt  würde,  der  etwa  gün- 
stiger urteile,  so  sei  es  ihm  recht;  er  denkt  an  Fälle,  in  denen,  wie  von  Fouques 
Sigurd,  zwei  Rezensionen  erschienen  waren. 


Zeugnisse  zur  Pflege  der  deutschen  Litteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern     231 

Den  Messkatalog  von  Michaelis  habe  ich  nicht  da.  Es  war  aber  in 
demselben  nichts  wünschenswerthes  für  mich.  Ich  lese  gegenwärtig 
Göthe's  Wahlverwandtschaften.  Sollte  ich  Ursache  finden,  mit 
meinen  Gedanken  darüber  zufrieden  zu  seyn,  so  könnte  ich  sie  Ew. 
Wohlgeb.  mittheilen.  Rechnen  Sie  aber  gütigst  nicht  auf  mich,  son- 
dern geben  die  Recension  ja  recht  schnell  einem  Würdigern.  — 
(Ä.  W.  Schlegel  wäre  wohl  zu  wünschen.)  Das  meinige  findet  wohl  in 
geringern  Blättern  noch  Platz. 

Darf  ich  Ew.  Wohlgeb.  den  2.  Band  meiner  Reisen  und  meinen 
kleinen  Ferdinand  Miller  für  baldgefallige  Beurtheilung  bey  dieser 
Gelegenheit  zu  Gnaden  empfehlen? 

Mit  der  entschiedensten  Verehrung 

Ew.  Wohlgeboren 

ganz  gehorsamster 

J.  E.  Wagner. 

49.  Achim  von  Arnim  an  Friedrich  Creuzer. 

Berlin,  d.  25.  November  1809. 

Ein  herzlicher  Glückwunsch  zu  Ihrer  Rückkehr,  lieber  Creuzer,  ich 
höre  Sie  sind  vergnügt  und  wohl  und  das  freut  mich,  Christus  ist  zu 
Leiden  geboren  und  Sie  sind  auch  dort  gewesen  und  ich  bin  einmal 
durchgereist  und  mehr  mag  ich  von  der  Stadt  nicht  wissen.  Das  Merk- 
würdigste muss  Ihnen  in  Heidelberg  gewesen  seyn,  nachdem  Sie  so 
manches  Neue  gesehen  und  erlebt,  alles  dort  noch  in  alter  Art  wieder- 
zufinden, mich  wenigstens  hat  seit  der  Jenaischen  Schlacht  nichts  so 
sehr  verwundert,  als  ein  dickes  Buch  ^),  das  eben  bey  Cotta  herausgekom- 
men unter  dem  Namen  KlingdLng  Almanach  herausgegeben 
von  Baggesen,   das  von  nichts  als  der  Einsiedlerzeitung  und  der 

• 

Sonettengeschichte*)  spricht,  einigemal  glaubte  ich  bey  dem  langwierigen 
Lesen,  die  Schlacht  von  Regensburg,  Aspem,  Wagram,  das  sey  alles 
nur  eine  Lüge  aus  dem  Vossischen  Hause,  ich  wäre  noch  ein  Jahr 
jünger  und  sässe  im  Schatten  des  Heidelberger  Schlosses  und  wegen 
dieser  lebhaften  Rückerinnerung  an  Sie  und  alle  Freunde  dort  (Görres 
—  Wintergarten  —  Doctorat')  —  Jahrbücher)  sey  auch  dem  nordisch 
mythologischen  Vogel  ^),  der  den  Leuten  ins  Nest  s.  und  das  für  Eyer 

1)  „ein  dickes  Buch**  ironisch,  da  es  im  Gegenteil  ein  äusserst  dünnes  ist. 

2)  Die  letzte  grosse  „Beylage''  asnr  Einsiedlerzeitung. 

3)  Sieh  oben  S.  227  zu  Brief  Nr.  45. 

4)  d.  i.  Baggesen. 


232  Reinhold  Steig 

ausgiebt,  vorläuiig')  alle  öffentliche  Köge  geschenkt,  ich  glaube,  dass 
schwerlich  ein  andrer  Mensch,  der  nicht  so  persönlich  darin  berührt 
ist,  die  Gednit  hat,  es  auszulesen.  Ich  habe  dieses  Packesels')  zu  jener 
Zeit')  nicht  entfernt  gedacht,  jezt  aber  merk  ich,  da  er  einen  Faust  heim- 
lich in  der  Tasche  gemacht^),  dass  ihn  mancherley  ärgern  konnte,  das 
ist  die  Hand  des  Schicksals,  es  giebt  zurück,  dass  es  so  überflüssig  mit 
Fäusten  geschlagen  wird.  —  Haben  Sie  die  Redakzion  der  Jahrbücher 
wieder  übernommen  ?  —  Ihrer  Frau  viel  Glück,  dass  sie  ihren  Kindern 

wieder  näher,  ganz  der  Ihre 

Achim  Arnim. 

50.  Carl  Windischmann  an  August  Böckb. 

Aschaffenburg,  d.  2.  Dezember  1809. 
Lieber  Freund! 

.  .  Hiebei  die  Rezension  der  zwei  Dalbergschen  Werke.^)  Was  ich 
gesagt  habe,  ist  wahr  und  wohl  verdient;  Dalberg  ist  eine  der 
besten  und  schönsten  Seelen,  die  ich  kenne,  und  so  innerlich,  wie  sein 
Bruder  äusserlich  ist.  Kleine  Fehler  sind  hier  leicht  zu  übersehen. 
Ueberhaupt  darf  bei  Männern  von  grossem  Einfluss  immer  ein  Wort 
mehr  zu  ihren  Gunsten  gesagt  werden,  weil  Wissenschaft  und  Kunst 
den  wesentlichsten  Gewinn  dabei  haben.  Ich  weiss  wenige  Grosse,  die 
so  eifrig  für  die  Literatur  wirken  und  keine  Kosten  scheuen,  auch  so 
fleissig  und  verständig  selbst  Hand  anlegen,  als  dieser  Hr.  v.  Dalberg. 
Ich  bitte  Dich  recht  dringend,  diese  Rezension  bald  abdrucken  zu  las- 
sen und  mir  dann  von  diesem  Stücke  statt  eines  zwei  Exemplare  zu- 
schicken zu  lassen. 

Ist  dann  Görres  Mythologie  noch  nicht  erschienen?  seine  Dar- 
stellung des  Upnekhat  in  den  Jahrbüchern^)  hat  mich  mit  ihm  ausge- 
söhnt. Da  ist  er  einmal  wieder  ein  wackerer  einfacher  Mensch.  Der 
homo  compositus  Brentano  hatte  ihn  fast  ganz  zum  Narren  gemacht 
—  einfache  kräftige  Gemüther  können  solche  convulsivische  Spannungen, 
wie  sie  Menschen  von  der  Art  natürlich  sind,  nicht  vertragen. 

1)  Später  als  Waller  in  der  Grätin  Dolores  mitgenommen. 

2)  Wortspiel  mit  Baggesen. 

3)  d.  h.  als  Arnim  die  Sonettengeschichte  schrieb. 

4)  Wortspiel  mit  der  Faust  und  dem  Faust,  welchen  Baggesen  gemacht  hatte 
(ohen  S.  197) ;  im  folgenden  Fortsetzung  dieses  Wortspieles  in  Bezug  auf  das  all- 
gemeine Welt- Schicksal,  als  im  besonderen  darauf,  dass  neben  Goethes  Faust  noch 
so  überflüssige  „Fäuste",  wie  der  von  Baggesen,  von  Schöne  hervorkamen. 

5)  Sieh  oben  S.  226. 

6)  Abteilung  für  Theologie  1809.  2,  193. 


Zeugnisse  zur  Pflege  der  deutscheu  Litteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern     233 

Adam  Mfiller  erhältst  Du  nach  Neujahr  —  er  wird  etwas  gekam- 
pelt werden  müssen ;  denn  bei  aller  Treflichkeit  ist  er  auch  ein  äusserst 
aufgeblassener  Prinz  .  . 

(N.  S.)  Den  Abdruck  besorge  ja  bald ;  bedenke ,  dass  es  das 
erstemal  ist,  dass  Du  mir  etwas  einrückest  und  ein  kleines  Einkommen, 
dessen  ich  so  sehr  bedarf,  zufliessen  lassen  kannst.  Von  dem  Ertrag 
dieser  Rezension  bitte  ich  Dich  auch  das  Dir  schuldige  Geld  abzuziehn. 

Dein  Windischmann. 

51.  August  Friedrich  Bernhardi  an  August  Böckh. 

Berlin,  d.  28  st.  December  1809. 

Ich  habe  Ihren  lieben  Brief  vom  25sten  September  nebst  der  ehren- 
vollen Einladung  zu  den  Jahrbüchern  vor  etwa  10  Tagen  erhalten  und 
bin  nicht  abgeneigt  beide  Werke  zu  übernehmen,  wenn  mir  die  Bedak- 
tion  dazu  Zeit  lässt  die  Becensionen  nach  meiner  Bequemlichkeit  anzu- 
fertigen, denn  ich  bin  sehr  beschäftigt  und  die  neue  Organisation  des 
Schulwesens  wird  noch  mir  zu  mancherlei  neuen  Geschäften  Veranlas- 
sung geben  .  .  ^) 

Ich  schliesse  mit  der  Bezeugung  meiner  innigsten  und  wahrsten 
Hochachtung  für  Ihre  Verdienste  und  'Gelehrsamkeit 

A.  F.  Bernhardi. 

52.  Friedrich  Creuzer  an  Achim  von  Arnim. 

Heidelberg,  d.  2.  Januar  1810. 

Sie  beschämen  mich  recht,  mein  theuerster  Freund,  durch  Ihren 
begrüssenden  Brief.  Es  wäre  an  mir  gewesen,  Ihnen  zuzurufen,  dass 
ich  wieder  auf  der  Oberwelt  sey.  Gottlob,  dass  ich  wieder  da  bin. 
Dort  hätte  ich  es  nicht  ausgehalten.  Die  Menschen  waren  gutmüthig 
und  freundlich,  und  die  CoUegialischen  Verhältnisse  bildeten  sich 
günstig.  Aber  das  Wasser,  das  Wasser  —  und  die  Kost  —  und 
die  blassen  Gesichter  —  und  die  Todtenstille  auf  den  Gassen  und,  und 
-  doch  Sie  waren  ja  selber  dort  —  üeber  der  Beise  habe  ich  nun 
manches  versäumt  z.  B.  dass  ich  eben  jezt  erst  Ihren  herrlichen  Winter- 
garten lese,  den  mir  Zimmer  neulich  mittheilte.  Es  ist  ein  erquick- 
liches Buch.  Geben  Sie  öfter  dergleichen.  Den  Albert  und  Concordia 
hätten  Sie  etwas  weitläufiger  geben  sollen.   In  meiner  Jugend  hab'  ich 

1)  Das  weitere  in  diesem  Briefe  handelt  von  Pindar,  im  Anschluss  an  Böckhs 
jüogste  Abhandlung  über  den  Dichter. 


234  ReiDhold  Steig 

das  Buch  in  den  Nachbarsbäusern  herumgetragen  und  vorgelesen.  Da 
möchte  ichs  ganz  wieder  regenerirt  sehen.  Die  Kecension  in  den  Jahr- 
büchern findet  Savigny  schlecht,  Görres  schlecht  und  ich  auch  schlecht. 
Ich  weis  nicht  wer  sie  gemacht  hat.  ^)  So  viel  aber  weis  ich,  dass  ich 
sie  nicht  aufgenommen  hätte.  —  Sie  wissen  vielleicht  schon,  dass  die 
Görressche  Kecension  des  Wunderhorns  (diese  würdige  Arbeit)  nur 
einem  kleinsten  Theil  nach  ist  in  den  Jahrbüchern  abgedruckt  worden. 
—  Und  warum?  —  weil  Thibaut  (der  N.  B.  in  der  Redaction  jezt 
prädominirt)  ein  veto  dazwischen  gelegt  hat.  —  Und  warum  hat  es 
Wilken  gelitten?  weil,  sagt  man,  Sie  selbst  etwas  unter  die  Kecension 
geschrieben.  (Sie  erinnern  sich  doch  des  kleinen  Umstands  noch  ?)  und 
weil  daraus  hervorleuchte,  dass  Verfasser,  Recensent  und  Be- 
dacteur  (also  meine  Wenigkeit)  mit  einander  unter  der  Decke  ge- 
spielt hätten.  Ich  habe  Görres  die  Sache  auf  der  Stelle  gemeldet  und 
zu  Zimmer  gesagt,  dass  dies  Verfahren  miserabel  sey.  Görres  will  es 
auch  nicht  dabei  lassen.  ^)  —  Ich  selbst  aber  bin  seit  meiner  Rückkehr 
nicht  mehr  in  der  Redaction.  Zimmer  und  Einige  andere  wünschten 
es  zwar  —  aber  wo  Thibaut  regieret  —  mag  ich  keine  Hand  im  Spiel 
haben.  —  Auch  brauche  ich  keine  Programme  mehr  zu  schreiben  (diese 
Ehre  hat  Böckh)  und  vom  Senat  hab*  ich  mich  auch  dispensiren  lassen. 
Sehen  Sie,  wie  glücklich  ich  nun  meinen  CoUegien  (und  daran  habe  ich 
Freude)  und  meinen  Büchern  (welche  mir  auch  lieber  sind  als  alle 
Jahrbücher)  leben  kann!  Die  Redaction  des  ästhetisch-philologischen 
Hefts  haben  Böckh  und  Wilken  zusammen.  —  Dem  Elingding-Al- 
manach  hab  ich  die  Ehre  nicht  angethan  ihn  zu  lesen.  Eben  so  wenig 
die  Jenaische  Recension  der  Reinbeckschen  Briefe  über  Heidelberg. 
Alle  diese  Sachen  sind  doch  zu  ungesalzen,  um  goutirt  zu  werden.  — 
Bei  Görres  hab'  ich  auf  der  Hin-  und  Herreise  einige  schöne  Tage  zu- 
gebracht. Er  arbeitet  seit  dreiviertel  Jahren  gewaltig  im  Feuer  (er 
schreibt  was  Französisches  über  das  Licht)  —  daneben  geht  es  mit 
seiner  Mythen historie  rasch  vorwärts;  sie  wird  bald  fertig  sey n.  Der 
Mann  ist  ungemein  fleissig.  Sein  Leben  in  Coblenz  ist  aber  nicht  für 
ihn.  Ich  wollte  ihm  wünschen,  dass  er  wenigstens  nach  Göln  käme, 
wohin,  nach  Einigen,  die  Departementsuniversität  verlegt  werden  soll.  — 
In  Cöln  hat  mirs  bei  den  alten  Bildern  sehr  wohl  gefallen.  Boisseree 
und  sein  Freund  kommen  nächstens  mit  den  Bildern  hierher,  um  hier 
zu  wohnen.  —  unser  Doctor  Zimmermann  sizt  mit  Frau  und  Kind  am 


1)  Sieh  oben  S.  216 :  Ernst  Wagner. 

2)  Vergleiche  wegen  der  Angelegenheit  auch  unten  die  Briefe  Nr.  64  und  66. 


Zeugnisse  zur  Pflege  der  deutschen  Litteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern     235 

Harz.  Er  hat  eine  Stelle  beim  Bergdepartement  in  Clausthal,  und  es 
gefällt  ihm  wohl. 

Sie  sind  ja  mit  Brentano  recht  fieissig  gewesen,  wie  ich  aus  dem 
Brief  an  Zimmer  ersehen.  ^)  Hoffentlich  wird  Zimmer  doch  den  Verlag 
übernehmen.  Ich  wünsche  bald  wieder  etwas  von  Ihnen  beiden  zu 
lesen.  Und  Brentano  vergisst  doch  seine  Romanzen  nicht P')  Orüssen 
Sie  ihn  doch  bestens  von  mir.  Werden  Sie  denn  im  Sommer  nicht 
wieder  hierherkommen?  Es  ist  doch  hübsch  hier  an  den  Bergen. 

Wegen  des  Doctorats  braucht  es  wohl  keiner  Versicherung,  dass 
ich  mir  eine  Ehre  daraus  mache.  Fries  ist  seit  gestern  Decanus. 
Wilken,  Böckh  (Langsdorf  hoffentlich  auch)  sind  dafür  —  da  ist  es 
also  entschieden  (auch  ohne  Langsdorf  schon).  —  Wilken  wird  Ihnen 
geschrieben  haben,  dass  es  nur  eines  kurzen  lateinischen  Briefes  bedarf, 

m 

worin  Ihr  Wunsch  ausgedrückt  ist.  Der  muss  aber  von  Berlin 
kommen.  Darüber  können  wir  nicht  hinaus.^)  —  Ich  bin  nun  begierig, 
wie  es,  nach  der  Rückkehr  des  Königs,  mit  Ihrer  Universität  gehen 
wird.  Es  kann  was  Grosses  werden.  Nur  wäre  ich  doch  für  eine 
kleinere  Stadt  in  dortiger  Gegend.*)  Meine  Frau  erwidert  Ihren  freund- 
lichen Gruss.    Ich  bin  hochachtend 

Ihr 

Fr.  Creuzer. 

(Am  Rande:)  Den  Herrn  Buttmann  und  Schleiermacher  bitte  ich 
mich  gelegentlich  zu  empfehlen. 

53.  Carl  Windischmann  an  August  Böckh. 

Aschaffenburg,  d.  3.  Jenner  1810. 
Lieber  Freund! 

.  .  Was  die  Rezension  betrift,  so  gebe  ich  mich  ohne  noch  den 
Abdruck  gesehn  zu  haben,  zufrieden.  Fr.  Schlegel  werde  ich  in  meiner 
Schrift  genugsam  zurecht  weissen.  Wegen  Othmar  Frank  aber  wird  Hr. 
Görres  doch  seine  leidenschaftliche  Meinung   etwas  herunterspannen 


1)  Dem  verlorenen  Briefe  Arnims  vom  11.  September  1809  (oben  S.  227.  257). 

2)  Zu  Grenzers  fortdauernder  Teilnahme  für  Brentanos  Romanzen  vom  Rosen- 
kranz vgl.  Rohde,  Friedrich  Creuzer  und  Karoline  v.  Günderode  1896  S.  32  und 
Euphorion  4,  363. 

3)  Wegen  des  Doktorats  vgl.  S.  227.  231.  253. 

4)  Diese  Meinung  bezieht  sich  auf  die  damals  viel  erörterte  Frage,  zu  der  auch 
Savigny  Qber  Schleiermachers  ^Gelegentliche  Gedanken"  (Heidelberger  Jahrbücher 
1808  S.  297)  und  Wachler  zu  Eggers'  Schrift  «Keine  Universität  in  Berlin"  (1811. 
1,  141)  Stellung  genommen  hatten. 


236  Heinhold  Steig 

müssen,  wenn  er  die  Commentationes  Persicas  liesst.  In  einiger  Zeit 
dürften  also  die  Jahrbücher  auch  ihre  Meinung  ändern.  Wäre  ich  der  erste 
redende  gewesen,  wie  dann  mit  der  ganzen  Rezension  vom  Görres?  — 
Dies  nur  bemerkungsweisse.  Du  kennst  meine  Gesinnung  und  weisst, 
dass  ich  nicht  an  Kleinigkeiten  hafte.  ^) 

Ich  danke  Dir  für  die  zugetheilten  Rezensionen,  denke  ferner  so 
günstig  für  mich.    Den  Ast  lass  mir  zugehen. 

Wir  grüssen  Dich  alle  von  Herzen. 

Dein  Windischmann. 

54.  Jacob  und  Wilhelm  Grimm  an  August  Böckh. 

Cassel,  5.  Januar  1810. 
Verehrter  Herr  Professor, 

ich  muss  recht  bedauern,  dass  ich  dem  gütigen  Antrag,  meine 
Secension  des  Buchs  der  Liebe  zu  einer  späterhin  von  A.  W.  Schlegel 
eingegangenen  zuzurichten,  unmöglich  entsprechen  kann.  Beide  Beur- 
theilungen  berühren  sich  auch  gar  nicht;  die  meine  ist  durchaus  historisch, 
die  schlegelsche  sagt  zur  Empfehlung  der  alten  Bücher  für  unser  heu- 
tiges Publicum  manches  Gute,  obgleich  zu  weitläufig,  und  überhaupt 
scheint  es  mir,  dass  Schlegel,  wenn  er  sich  mit  der  Geschichte  unserer 
älteren  Literatur  beschäftigt  hätte,  so  viele  bekannte  Dinge  nicht  so 
sehr  herausgehoben  haben  würde,  die  an  hundert  andern  Orten  eben- 
falls stehen  könnten.  Ich  wüsste  aus  dem  Meinigen  nichts  zu  streichen, 
ohne  dass  manches  folgende  unklar  würde,  alles  könnte  wohl  recht  gut 
als  ein  nothwendiges  Supplement  zu  der  Schlegelschen  Critik  angesehen 
werden,  aber  alsdann  würden  Sie  keinen  Raum  gewinnen,  welches  doch 
die  eigentliche  Absicht  ist. 

Ich  bin  überzeugt,  dass  Schlegel  selber  seine  Abhandlung  viel  eher 
abkürzen  könnte,   vielleicht  einigen   meiner  Bemerkungen  zu  gefallen, 

1)  Der  Brief  lässt  erkennen,  dass  Böckh  wieder  zu  Gunsten  Friedrich  Schlegels 
und  Görres'  in  Windischmanns  Rezension  von  Dalbergs  Drusenfamilie  und  Dabistan 
(1810  S.  49)  eingegriffen  hatte.  Und  zwar  muss  dies  gegen  den  Schluss,  auf  S.  60, 
geschehen  sein.  Dort  n&mlich  mustert  Windischmann  die  neueren  und  neuesten 
Leistungen  auf  dem  Gebiete  asiatischer  Religionsgeschichte  durch.  Es  wäre  da 
Schlegels  Sprache  und  Weisheit  der  Inder  und  Otbroar  Franks  Licht  vom  Orient  — 
von  Görres  in  der  Abteilung  für  Theologie  1809.  2,  269  zwar  mit  Vorbehalten,  aber 
doch  mit  günstiger  Wärme  angezeigt  —  zu  nennen  gewesen.  Schlegels  und  Görres' 
Name  aber  fehlt  jetzt  ganz,  und  Franks  Schrift  wird  so  erwähnt,  dass  man  gerade 
noch  leise  fühlt,  dass  Windischmann  nicht  mit  ihr  zufrieden  ist.  Vgl.  A.  W.  Schle- 
gels Vorwürfe  unten  in  Brief  Nr.  65. 


Zeugnisse  zur  Pflege  der  deutschen  Litieratur  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern    237 

wenn  Sie  ihm  solche  mitseDdeten,  dazu  wohnt  er  aber  wohl  zu  entfernt ; 
er  ist  glaube  ich  immer  noch  in  Copet.  Also  auf  den  Fall,  dass  sich 
zu  meiner  Secension  kein  Raum  finden  würde,  begebe  ich  mich,  einem 
so  geachteten  Schriftsteller  gegenüber,  gern  meines  Vorrechts,  besonders, 
da  es  dem  Institut  der  Jahrbücher  daran  gelegen  seyn  muss,  sich  jenen 
für  andere  Fälle  zu  erhalten,  wo  er  mehr  competent  ist,  als  dies  im 
Fach  der  altdeutschen  Poesie  zu  seyn  scheint.^) 

Was  den  Goldfaden  betrifft,  so  wird  mein  Bruder,  da  er  so  eben 
von  seiner  Reise  zurückgekommen  ist,  einige  Worte  hinzufügen. 

Sie  haben  wohl  die  Qüte  mir  von  dem  Schicksal  der  obigen  Re- 
cension  demnächst  einige  Nachricht  zu  ertheilen. 
Mit  wahrer  Hochachtung  bin  ich 

Eurer  Wohlgeb. 

gehors.  Diener 
Grimm. 

1)  Der  Brief,  mit  dem  Böckh  den  Antrag  that  und  dem  er  Schlegels  Manuskript 
beilegte,  fehlt.  Jacob  Grimm  erhielt  schliesslich  seine  Rezension  zurück  (unten  S.255) 
und  veröfTentlichte  sie  später  in  der  Leipziger  Litteratur-Zeitung  1812  (Kl.  Schriften 
6,  84).  Gegen  die  Angriffe  wehrte  sich  v.  d.  Hagen  im  Anzeiger  zu  Idunna  und 
Hermode  Nr.  15,  indem  er  auch  etwas  von  dieser  Schlegel-Grimmschen  Angelegen- 
heit verlauten  Hess.  Darauf  antwortete  Jacob  Grimm  1813  in  der  Leipziger  Litte- 
ratur-Zeitung 1813  (Kl.  Schriften  7,  591)  und  gab  die  folgende  richtige  Darstellung 
des  Sachverhalts: 

»Im  Jahr  1809  wurde  ich  von  der  RedacUon  der  Heidelb.  Jahrb.  aufgefordert, 
das  genannte  Buch  der  Liebe  zu  beurtheilen;  später  aber  ging  auch  eine  unbe- 
stellte Rec.  desselben  Werks  durch  A.  W.  Schlegel  ein.  Der  Redacteur,  damals 
Hr.  Prof.  BOckh,  wünschte  diesen  ersten  von  einem  beliebten  Schriftsteller  ein- 
gehenden Beitrag  nicht  gerade  abzuweisen  und  hatte  die  Güte,  mir  die  Schlegelsche 
Beurtheilung  im  Original  zuzuschicken  mit  der  Bitte,  sie  mit  meiner  zu  bearbeiten, 
zugleich  aber  auch  mit  dem  Erbieten,  im  Fall  ich  mich  nicht  dazu  verstände,  jene 
dennoch  zurück  zu  geben  und  die  meinige,  als  welche  das  Recht  für  sich  habe  und 
sonstiges  Lob  verdiene,  das  hier  nicht  wiederholt  zu  werden  braucht,  aufzunehmen. 
Ich  war  freilich  mit  den  Grundsätzen  der  Schlegelschen  Rec.  zu  wenig  einverstan- 
den, um  in  jenen  Ausweg  einzugehen,  aber  bescheiden  genug,  aus  freiem  Willen 
meine  Arbeit  wieder  zu  nehmen.  Was  ich  für  recht  hielt,  wollte  ich  auch  recht 
sagen;  Herr  v.  H.  mag  durch  irgend  eine  Klatscherei  davon  gehört  haben  und  er- 
frecht sich  zu  der  Lüge:  «dass  meine  Rec.  dort  zu  spät  gekommen  und  vor  der 
Schlegelschen  habe  zurückstehen  müssen*.  Ich  habe  die  Redaction  dieser  L.  Z. 
durch  Mittheilung  des  Originals,  woran  hier  gelegen,  in  Stand  gesetzt,  die  Wahrheit 
metner  obigen  Behauptung  pflichtmässig  bezeugen  zu  können.** 

Die  Leipziger  Redaktion  versichert  dann  auch  in  einer  Fussnote,  dass  J.  Grimm 
ihr  den  Originalbrief  zur  Einsicht  vorgelegt  habe;  er  wird  nicht  mehr  in  Grimms 
Hände  zurückgelangt  sein  und  deshalb  heute  im  Nachlasse  fehlen.  Hagen  kam 
nochmals  in  Idunna  und  Hermode  1813  Nr.  6  auf  diese  Antwort  zurück,  indem  er 
aus  einem  Briefe  J.  Grimms  an  ihn  die  Stelle  abdruckte,  worin  Grimm  allerdings 
selber  von  der  Kollision  beider  Rezensionen  geschrieben  hatte. 


238  Reinhold  Steig 

(Auf  demselben  Blatte,  unmittelbar  hinter  Jacob :)  leb  nehme  hier 
Gelegenheit,  geehrter  Herr  Professor,  Ihnen  die  Entstehung  der  zwei 
Becensionen  vom  Goldfaden  zu  erklären.^)  Ich  hatte  zwar  in  Berlin  ge- 
sagt, dass  ich  eine  Anzeige  davon  aufschreiben  wollte,  darnach  aber 
kam  es  mir  aus  den  Gedanken,  so  reiste  ich  ab,  und  erst  in  Halle  kam 
mir  das  Buch  wieder  in  die  Hände  und  mein  Vorsatz  in  den  Sinn,  und 
von  dorther  ist  das  Blatt  zu  Urnen  gekommen.  Arnim  wusste  also  nichts 
davon  und  hat  meine  Aeusserung  nicht  gehört  oder  vergessen  oder  für 
fluchtig  gehalten.  Enthält  meine  Anzeige  nichts,  das  nicht  auch  in 
Arnims  Recension  stände,  oder  kann  sie  nicht  leicht  angefugt  werden, 
so  seyn  Sie  nur  so  gütig  sie  zurückzulegen,  da  Arnim  in  jedem  Fall 
den  Vorzug  haben  muss. 

Ich  empfehle  mich  Ihnen  und  bin  mit  ausgezeichneter  Hochachtung 

Ihr  ergebenster  Dr.*) 

Wilhelm  Carl  Grimm. 

55.  Jacob  Grimm  an  August  Böckh. 

Cassel,  21.  Jan.  1810. 

Eine  Stelle,  die  ich  neulich  über  den  Roman  von  Tristan  aufge- 
funden habe,  ist  so  merkwürdig,  dass  ich  nicht  unterlassen  kann,  solche 
Ihnen,  werther  Herr  Professor,  beiliegend  zuzuschicken,  um  sie,  auf  den 
Fall  von  meiner  Recension  des  Buchs  der  Liebe  noch  Gebrauch  gemacht 
wird,  angezeigten  Orts  einrucken  (sie)  zu  lassen.  Im  Fall,  dass  der 
Raum,  welchen  die  schlegelsche  einnimmt,  solches  nicht  gestattet,  bin 
ich  zugleich  so  frei,  um  deren  gefällige  Rücksendung  zu  bitten. 

Mit  vollkommener  Hochachtung 

Ew.  Wohlgeb.  ergebener  Dr. 

Grimm. 

(Nachschrift:)  Darf  ich  Sie  wohl  ergebenst  bitten,  Herrn  Zimmer 
gelegentlich  zu  fragen,  ob  er  einen  Brief  von  meinem  Bruder  noch  aus 
Berlin  mit  einer  Ankündigung  erhalten?') 


1)  Wegen  der  Goldfaden-Rezensionen  sieh  oben  S.  204. 

2)  ^Dlener^  natürlich,  nicht  „Doctor"*. 

3)  Betrifft  die  von  Wilhelm  Grimm,  Arnim  und  Brentano  gemeinsam  verfasste 
Ankündigung  der  Altdänischen  Heldenlieder,  die  im  3.  Intelligonzblatt  der  Heidelb. 
Jahrbücher  1810  (Kl.  Schriften  1,  172)  abgedruckt  ist;  vgl.  Zeitschr.  f.  d.  Philol. 
29,  195. 


ZeugDisse  zur  Pflege  der  deutschen  Litteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern     239 

56.    A.  W.  Schlegel  an  Augast  BOckh. 

Genf,  d.  23.  Januar  1810. 
Hochgeehrtester  Herr  Professor! 

Ew.  Wohlgeboren  gütige  Zuschrift  vom  25sten  December  v.  J.,  die 
ich  erst  vor  einigen  Tagen  erhielt,  säume  ich  nicht  sogleich  zu  beant- 
worten. *) 

Es  sollte  mir  leid  thun,  wenn,  meiner  Anzeige  des  Buchs  der 
Liebe  zu  Gunsten,  eine  andre  schätzbare  Arbeit  zurückgelegt  werden 
sollte.  Ich  schrieb  sie  aus  eignem  Antriebe  und  auf  meine  Gefahr;  da 
das  Buch  erst  vor  kurzem  erschienen,  so  glaubte  ich  nicht  einer  vor- 
gängigen Bevor  wort  ung  zu  bedürfen,  die  bey  der  grossen  Entfernung 
immer  weitläuftig  ist.  Es  steht  also  ganz  bey  Ew.  Wohlgeboren,  ob 
Sie  Gebrauch  davon  machen  wollen ;  widrigenfalls  bitte  ich,  die  Anzeige 
in  meinem  Namen  Hrn.  Hofrath  Eichstädt  in  Jena  für  die  dortige 
A.  L.  Zeitung  gefalligst  zuzusenden.  *) 

Die  Anzeige  des  Ariost  von  Gries  ist  beynahe  fertig  und  erfolgt 
unfehlbar  in  wenigen  Tagen.  Demnächst  werde  ich  die  von  Winkel- 
manns  Werken  liefern,  wenigstens  von  den  beyden  ersten  Theilen, 
wenn  ich  nicht  unterdessen  noch  den  dritten  erhalte.  Mit  Hrn.  Hof- 
rath Greuzer  war  ich  ^chon  übereingekommen,  etwas  über  Goethe's 
Winkelmann,  wiewohl  das  Buch  schon  früher  erschienen,  als  am 
schicklichsten  Orte  anzuhängen.') 

Klingers  Werke  muss  ich  ablehnen.  Sie  scheinen  mir  für  den 
jetzigen  Stand  unsrer  Litteratur  gänzlich  veraltet,  und  ich  habe  nichts 
darüber  zu  sagen. 

Niobe  und  der  Graf  von  Gleichen  vom  Vf.  des  Lacrimas 
wird  sich  mit  den  romantischen  Wäldern  desselben  Yfs.  am  besten 
zusammennehmen  lassen.  Sigurd  unterbleibt  natürlich,  da,  wie  ich 
höre,  Hr.  Bichter  mir  schon  mit  einer  Beurtheilung  zuvorgekommen. 
Wegen  Goethe's  Wahlverwandtschaften  sehe  ich  einer  Antwort 
meines  Bruders  entgegen. 

Ich  danke  Ew.  Wohlgeboren  in  meinem  und  seinem  Namen,  für 
die  Sorge,  welche  Sie  für  die  Anzeige  unsrer  Schriften  in  Ihren  Blättern 

1)  In  Wilhelm  Schlegels  Nachlass  (Klette  S.  23)  befindet  sich  kein  Brief 
Böckhs  aus  der  Heidelberger  Zeit;  keiner  Oberhaupt  von  Creuzer. 

2)  Diese  Wendung  der  Sache,  dass  die  Schlegelsche  Rezension  des  Buchs  der 
Liebe  an  Böckhs  Gegner  Eichst&dt  gehen  sollte,  war  sehr  fatal  und  trug  gewiss 
dazu  bei,  Schlegels  Rezension  abzudrucken  (1810  S.  97)  und  Grimms  zurückzugeben. 

3)  Ariost,  mit  vollem  Namen  im  Register,  abgedruckt  1810  S.  193;  Winkel- 
mann, mit  Namensunterschrift,  1812  S.  65. 

NEUE  HEIDELR.  .lAHRRURCHRR  XI.  16 


240  Keinhold  Steig 

tragen.  Für  Fr.  Schlegels  Gedichte,  und  den  2ten  Band  meines 
spanischen  Theaters  würde  ich  Hrn.  Görres  als  Ben rtheiler  vor- 
schlagen.') Was  meine  Vorlesungen  betrifft,  so  scheint  es  mir  nicht 
gerade  nöthig,  dass  derselbe  Becensent  für  beyde  Bände  gewählt  würde. 
Wenn  Ew.  Wohlgeboren  die  Beurtheilung  des  ersten  Bandes  übernähmen, 
so  würde  es  ohne  Zweifel  sehr  belehrend  für  mich  ausfallen.  Leid^ 
habe  ich  Ihre  Schrift  über  die  Ächtheit  einiger  griechischer  Stücke  nicht 
dabey  benutzen  können ;  ein  hiesiger  gelehrter  Freund  hat  sie  erst 
kürzlich  erhalten,  und  will  sie  mir  mittheilen,  sobald  er  sie  ausgelesen 
haben  wird.  Der  2te  Band  könnte  Hrn.  von  Collin  in  Wien  zur  Be- 
urtheilung angetragen  werden ;  falls  E.  W.  nicht  auf  meinen  obigen 
Vorschlag  eingehen  sollten,  würde  er  wohl  das  Ganze  übernehmen.^) 

Verzeihen  Sie  meine  Freyheit,  wenn  ich  Ihnen  nun  noch  mit  einer 
Anfrage  beschwerlich  falle.  Hr.  v.  Barante,  Sohn  den  hiesigen  Präfects, 
und  selbst  Präfect  in  der  ehemaligen  Vendde,  in  der  neugebauten  Stadt 
Napoleon,  ein  Mann  von  vielen  Kenntnissen  und  einem  liebenswürdigen 
Charakter,  Verfasser  einer  geistreichen  Schrift  über  die  französische 
Litteratur  des  ISten  Jahrhunderts,  wünscht  einen  Deutschen  als  Gesell- 
schafter und  Secretär  um  sich  zu  haben,  der  ihm  beym  Studium  der 
deutschen  Sprache  und  Litteratur  behülflich  seyn  könnte.  Wissen  Sie 
für  diese  Stelle  einen  gebildeten  und  in  unsrer  Litteratur  und  Philo- 
sophie bewanderten  jungen  Mann?  Die  Bedingungen,  die  ihm  zuge- 
sichert werden,  sind  ein  Gehalt  von  50  Lsd.,  also  550  fl.  Rheinisch, 
nebst  freyer  Wohnung,  Tisch  u.  s.  w.  Fürs  erste  würde  das  Verhältniss 
auf  ein  Jahr  eingegangen,  um  zu  sehen,  ob  man  gegenseitig  für  ein- 
ander passt.  Hr.  von  Barante  steht  natürlich  die  Kosten  der  Reise, 
und  falls  die  Verbindung  nicht  länger  dauert  als  ein  Jahr,  auch  die 
der  Rückreise.  Es  würde  dem  jungen  Mann  Müsse  genug  zu  eignen 
Studien  übrig  bleiben,  auch  hätte  er  in  der  Folge  gewiss  Gelegenheit 
Paris  zu  sehen  und  zu  benutzen.  Dass  er  mit  Fertigkeit  französisch 
spreche,  ist  nicht  nöthig,  diess  würde  sich  schon  durch  den  Aufenthalt 
im  Lande  finden.  Wäre  er  ausübender  Musiker,  so  wäre  es  um  so 
angenehmer  zur  Aufheiterung  eines  einsamen  Aufenthalts.^) 

1)  Fr.  Schlegels  Gedichte  von  Arnim  rezensiert  (oben  S.  213). 

2)  Wilhelm  Schlegels  Spekulation  auf  Böckh  schlug  fehl,  da  dieser  die 
Vorlesungen  bereits  anders  vergeben  hatte.  Eine  Anzeige  in  Jahrgang  1811 
S.  683  von  A.  W. 

3)  Es  war  dies  dieselbe  Stelle,  «die  Schlegel  und  Stael  Chamisso  (Leben  und 
Briefe  1839.  1,  268)  zudachten**:  Chamisso  bot  sie  am  1.  August  1810  aus  Chaumont 
seinem  Freunde  Wilhelm  Neumann  an,  übernahm  sie  dann  aber  selber  und  verlebte 
die  n&chste  Zeit  in  Napoleon. 


Zeugnisse  zur  Pflege  der  deutseben  Litteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern     241 

Ew.  Wohlgeb.  würden  mich  durch  eine  baldige  Antwort  hierauf 
recht  sehr  verbinden.*  Wenn  Sie  jemanden  zu  dieser  Stelle  mit  Zuver- 
sicht empfehlen  können,  so  stehe  ich  auch  meinerseits  dafür  ein,  dass 
sie  mancherley  Vortheile  und  Annehmlichkeiten  darbieten  würde. 

Mit  ausgezeichneter  Hochachtung  E.  W. 

ergebenster 

A.  W.  Schlegel. 

57.  Ernst  Wagner  an  August  Böckh. 

Meiningen  den  23.  Jan.  1810. 

Tausend  Dank,  verehrtester  Mann,  für  Ihre  gütige  Zuschrift  vom 
25.  v.M.,  die  ich  erst  heute  erhielt! 

Gern  wollte  ich  noch  länger  an  Ihrem  verehrten  Institute  Theil 
nehmen  —  allein  meine  Kränklichkeit  nimmt  schneller  zu,  die  Kräfte 
ab  —  und  mein  letztes  Stündlein  beginnt  so  allmählig  zu  nahen,  dass 
ich  jeden  Augenblick  noch  auf  die  Beschickung  meines  eignen  Hauses 
verwenden  muss.    Also  —  Ade! 

Qöthe  ist  bei  A.  W.  oder  Fr.  Schlegel,  diesen  göttlichen  Kritischen 
Seelen,  in  den  besten  Händen  —  möchte  ich  doch  die  Recension  noch 
lesen !  *) 

Hr.  A.  V.  Arnim  hat  mir  selbst  geschrieben  und  sich  als  Becen- 
senten  meiner  frühern  Werke  genannt.  Aber  er  meldete  mir,  dass  er 
die  Kec.  über  den  2.  Band  meiner  Reisen  abgelehnt  habe,  wovon 
Ew.  Wohlgeb.  nichts  zu  wissen  scheinen.  *)  —  Nun,  Sie  werden  schon 
meine  übrigen  Bücher  einem  auch  guten  und  schöndenkenden  Manne 
zur  Beurtheilung  anvertrauen  —  im  Nothfalle  thut  es  ja  wohl  der 
prächtige  Jean  Paul.  —  Wenn  der  Mensch  einem  höhern  Richter- 
stuhle naht,  so  verliert  sich  doch,  wie  ich  finde,  die  Begierde  auf  das 
ürtheil  der  Welt  gar  merklich.  — Gut  habe  ich  es  wohl  gemeynt!  — 

Wollten  Sie,  Verehrtester,  vielleicht  mit  Herrn  Mohr  und  Zimmer 
für  mich  meine  kleine  Rechnung  gütigst  abmachen?  Ich  habe  von 
ihnen  nichts  als  die  ,,Trösteinsamkeit.^  Es  wird  ja  wenigstens  Null 
von  Null  aufgehen,  hoffe  ich?  —  Aber  Verzeihung  für  diese   Bitte! 


J)  d.h.  die  Rezension  von  Goethes  Wahlverwandtschaften;  es  ist  jedoch  keine 
von  der  ersten  Auflage  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern  erschienen;  vgl.  S.  252. 

2)  Wie  Arnim  später  aus  dem  Gedächtnisse  den  Inhalt  seines  Briefes  an 
E.  Wagner  skizzierte,  sieh  Zeitschr.  f.  d.  Philologie  29,  211;  jetzt  kommt  nun  hin- 
zu, dass  Arnim  eine  weitere   Besprechung  der  Schriften    Wagners  abgelehnt  hat. 

16* 


242  Eeinhold  Steig 

Schliessen  Sie  den  ehrlich  bewahrten  Namen  eines  heitern  Menschen  in 
das  Gedächtniss  eines  Biedermanns  ein,  und  leben  Sie  froh  und  glück- 
selig!  Ewig  Ihr 

J.  E.  Wagner. 

58.  Karl  Solger  an  August  Böckh. 

Frankfurt  an  der  Oder,  den  27sten  Januar  1810. 

Wohlgeborener  Herr 

Hochzuehrender  Herr  Professor, 
Ew.  Wohlgeboren  gütige  Zuschrift  und  der  Antrag  der  Herren 
Redaktoren  der  Heidelberger  Jahrbücher  war  mir  so  ehrenvoll  als  er- 
freulich. Besonders  freut  es  mich,  auf  diese  Weise  mit  Ihnen  in 
nähere  Verbindung  zu  kommen,  welches  ich  bei  der  begründeten  Hoch- 
achtung, die  ich  schon  längst  gegen  Ihre  Verdienste  um  die  alte  Litera- 
tur hege,  nicht  besser  wünschen  konnte.  Um  Ihnen  einen  Beweis  von 
meiner  Bereitwilligkeit  zu  geben,  übernehme  ich  die  Uebersetzungen 
von  Fähse,  und  zugleich  die  Schlegelschen  Vorlesungen.  Den  Sophokles 
von  Bothe  erlauben  Sie  mir  wenigstens  noch  auszusetzen,  da  ich  grade 
durch  andere  Arbeiten  ziemlich  stark  bedchäftigt  bin.  Haben  Sie  doch 
auch  die  Güte,  mich  wissen  zu  lassen,  wie  die  Recensionen  aufgetragen 
werden,  ob  etwa  durch  zugeschickte  Auszüge  aus  den  Messkatalogen, 
aus  welchen  der  Recensent  wählt,  wie  es  bei  andern  Instituten  zu  sein 
pflegt.  Zuweilen  werde  ich  mir  die  Freiheit  nehmen,  Ihnen  Recensionen 
anzubieten,  da  man  sich  doch  immer  am  liebsten  und  besten  mit 
solchen  Büchern  beschäftigt,  woran  man  aus  andern  Ursachen  ein  be- 
sonders Interesse  nimmt.  So  habe  ich  vor  einiger  Zeit  eine  Beurtheilung 
des  Attila  von  Werner  geschrieben,  welche  für  ein  andres  Journal  be- 
stimmt war,  aber  dort,  ich  weiss  nicht  aus  welchen  Gründen  oder  Rück- 
sichten, noch  nicht  abgedruckt  worden  ist.  Wollen  Sie  diese  aufnehmen, 
und  mich  bald  davon  benachrichtigen,  so  werde  ich  sie  zurückfordern 
und  Ihnen  sogleich  übersenden.  Bei  ganz  neuen  oder  sonst  noch  nicht 
sehr  verbreiteten  Büchern,  werde  ich  um  so  mehr  bitten  müssen,  sie 
mir  zu  überschicken,  da  Frankfurt  leider  keinen  hinlänglichen  Bücher- 
verkehr hat.  ^) 

1)  In  Solgers  Nachgelassenen  Schriften  und  Briefwechsel,  hg.  von  Ranmer  nnd 
Tieck,  findet  sich  keine  Spur,  dass  diese  Anknüpfung  von  Folgen  gewesen  wäre. 
Böckh  kam  in  Berlin  bald  in  Verkehr  mit  Solger;  an  Minister  von  Reitzenstein 
schrieb  er  17.  Oktober  1811  (ungedruckt):  ^Unsere  Universität  hat  von  Frankfurt 
noch  den  Prof.  Solger  erhalten,  einen  gelehrten  nnd  scharfsinnigen  Mann,  der  in 
der  Philologie  sowohl  als  Philosophie  eine  Locke  füllt.** 


Zeugnisse  zur  Pflege  der  deutseben  Litteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern     243 

Bei  der  Correspondenz  die  hierdurch  entstehn  wird,  darf  ich  Sie 
wohl  bitten,  mir  gelegentlich  Nachricht  von  dem,  was  in  Heidelberg 
fär  die  Wissenschaften  merkwürdiges  vorgeht,  zukommen  zu  lassen. 
Besonders  wünschte  ich  sehr  zu  wissen,  wie  es  mit^  des  Herrn  Professor 
Creuzer  Werk  über  die  religiösen  Symbole  der  Alten  steht,  und  ob  man 
Hoffnung  hat,  es  bald  erscheinen  zu  sehn,  da  mir  dieser  Gegenstand 
besonders  wichtig  ist.  Stehn  Sie  in  näheren  Verhältnissen  mit  meinem 
Freunde,  dem  Professor  Voss,  so  bitte  ich  diesen  von  mir  zu  grüssen. 

Nehmen  Sie  gütig  die  Versicherung  der  ausgezeichneten  Hoch- 
achtung an,  mit  der  ich  die  Ehre  habe  mich  zu  unterzeichnen 

Ew.  Wohlgeboren  ergebener  Diener 

Solger. 

59.  Jean  Paul  an  August  Böckh. 

Bayreuth,  d.  5.  Februar  1810. 

Verehrtester  Herr  Professor !  Schon  -einmal  hab'  ich  —  mit  Dank 
fär  das  Zutrauen  der  Bedakzion  —  die  Beurtheilung  der  Herder  sehen 
Werke  ausgeschlagen,  weil  sie  Kräfte  federt,  welche  meine  übersteigen 
und  welche  die  Redakzion  gewiss  leichter  in  ihrem  Zirkel  aufbietet.  ^) 
Auch,  glaub*  ich,  wären,  da  seine  Werke  schon  von  der  Zeit  rezensirt 
worden,  keine  mehr  zu  beurtheilen  nöthig  als  die  zum  ersten  male  ge- 
druckten. 

Zu  beurtheilen  wünsch'  ich  K  5  p  p  e  n  s  Darstellung  des  Wesens  der 
Philosophie,  —  welche  in  kurzem  erscheint  —  in  so  fern  sie  eines 
Schülers  meines  Freundes  Jacobi  so  würdig  ist  als  ich  hoffe. ^)  Die 
übrigen  vorgeschlagenen  Werke  —  Krummacher  *),  Weltmann,  Conti  — 
sind  nicht  hier  zu  haben  und  leider  bei  mir  jetzt  zu  wenig  Zeit  zum 
Rezensieren,  das  mich  die  dreifache  eines  eignen  Produzierens  kostet. 
Leben  Sie  wol  in  Ihrem  so  fruchttragenden  Leben.  ^) 

Ihr 
Jean  Paul  Fr.  Richter. 

1)  Es  war  dies  Creuzer  gegenüber  geschehen  (Nerrlich  S.  544) :  Jean  Paul 
erklärte  auf  den  Rezensionsantrag,  da  gerade  das  historische  Auge  Herders  Polyphem- 
Auge  sei,  während  er  selbst  nur  Schmetterlings-Augen  habe,  Creuzer  selbst  «mit 
seinem  reichen,  grossen,  historischen  Sinne"*  für  weit  geeigneter. 

2)  Anzeige  in  der  Abteilung  für  Theologie,  Philosophie  etc.  1810.  2,  97;  im 
Register:  Von  F.  R.  J.  P. 

3)  Vgl.  Jean  Pauls  Kleine  Bücherschau  (Hempel  52, 108). 

4)  Obwohl  Dicht  mit  diesem  Briefe  zusammenhängend,  sei  doch  hier  ange- 
knüpft, dass,  in  Weiter führuug  der  Note  auf  S.  212,  Jean  Paul  im  Jahrgang  1810. 
2,  65  Fouques  Held  des  Nordens  in  drei  Teilen  rezensierte.  Jean  Paul  schreibt 
darüber  an  Fouque  (S.  301)  am  30.  Juni  1810.    Diejenigen  Stellen,  die  Jean  Paul 


244  Reinhold  Steig 

60.  Karl  Justi  an  August  Böckh. 

Marburg,  13.  Februar  1810. 

Hier,  mein  verehrtester  Freund,  komnat  die  Rezension  von  der 
epigrammatischen  Anthologie,  einem  Werke,  das  ich  durch 
längeren  Gebrauch  von  einer  vortheilbaften  Seite  kennen  gelernt  habe. 
Da  das  Ganze  noch  nirgends,  soviel  ich  weiss,  rezensirt  worden  ist,  so 
wünschte  ich  einen  baldigen  Abdruck  dieser  Anzeige.^) 

Sodann  bin  ich  so  frei,  Ihnen  zwei  andere  Rezensionen,  die  ich  mit 
Müsse  verfertigt  habe,  zu  senden.  Noch  ist  von  Matthissons  An- 
thologie in  Ihren  Jahrbüchern  nicht  die  Rede  gewesen;  es  war  also, 
wie  ich  glaube,  schicklich,  ihrer  zu  gedenken.  Dass  ich  aber  nicht  in 
das  unbedingte  Lob  habe  einstimmen  können,  womit  man  hie  und  da 
so  freigebig  war,  werden  Sie  sehen.  (Die  etwas  strenge  Rezension  in 
der  Jenaer  Allg.  Lit.  Zeit.  v.  1807  war  von  mir;  dort  aber  konnte  von 
den  zwei  neuesten  Bänden  noch  nicht  die  Rede  seyn.)  Gefällt  Ihnen  die 
Rezension,  so  bitte  ich  gleichfalls  um  baldigen  Abdruck.  Ist  das  Buch 
schon  einem  andern  aufgetragen,  so  bitte  icli  um  gefällige  Zurücksen- 
dung  meiner  Rezension.  Sarrazins  Romanzen  sind  auch  noch  nirgends 
rezensirt  worden;  ein  angehender  Schriftsteller  mit  Talent,  der  aber 
doch  solche  Missgriffe  thut,  wie  Sarrazin,  verdient,  glaube  ich,  auf  die 
Art  behandelt  zu  werden,  wie  ich  diesen  Verfasser  behandelt  habe,  d.  h. 
gerecht,  aber  human.  Im  Fach  der  Ballade  und  Romanze  wird  jetzt 
allzuviel  gesudelt,  daher  ist  Strenge  hier  nöthig. ') 

Die  Rezension  von  Jördens  Lexikon  3.  Theil  habe  ich  auch  noch 
nicht  abgedruckt  gesehen;  sobald  ich  den  Abdruck  der  Rezension  er- 
halte, soll  die  Rezension  des  4.  Bandes  nachfolgen.  —  Am  Ende  des 
1.  Semesters  1810  wünschte  ich  mit  den  Hrn.  Mohr  und  Zimmer  abzu- 
rechnen, wenn  bis  dahin  meine  eingegangene  Rezensionen  abgedruckt 

darin  aus  der  Heidelberger  Rezension  im  voraus  mitteilt,  weichen  in  merkenswerter 
Weise  von  der  Druckgestalt  ab.  Auch  Foiiques  Eginhard  und  Emma  wurde  im 
Jahrgang  1811  S.  292  angezeigt  oder,  wie  Fouque  sich  in  seiner  Lebensgeschichte 
(1840  S.  300)  ausdrückt,  „durch  eine  Jean  Pauls-Rezension  geehrt*". 

1)  Diese  Anzeige  von  Haugs  und  Weissers  Epigrammatischer  Anthologie  er- 
schien erst  1811  S.  1132;  unterzeichnet:  Ki. 

2)  Die  Rezension  erschien  1810.  2,  80  im  Text  anonym,  im  Register:  Von  Ki. 
Dass  Justi  sich  selbst  in  der  Rezension  als  Muster,  wie  Sarrazin  es  besser  machen 
müsste,  neben  Bürger  hinstellte,  hat  den  herben  Tadel  Jacob  Grimms  hervorgerufen, 
wie  künftig  aus  dem  Arnim- Grimmschen  Briefwechsel  hervorgehen  wird.  Man  ver- 
gleiche auch  unten  Brief  Nr.  68,  wo  Jacob  Grimm  die  Rezension  von  Jördens  3.  Teil 
im  Jahrgang  1810.  1,  189  offen  tadelt;  trotzdem  auch  1811  noch  von  Justi  eine 
Rezension  des  4.  und  5.  Teiles. 


Zeugnisse  zur  Pflege  der  deutscheo  Litteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern     245 

seyn  sollten ;  ich  habe  bisher  noch  gar  nicht  abgerechnet,  und  kann  die 
alten  Hockstände  nicht  wohl  leiden,  deswegen  wünsche  ich  die  zwei 
vorigen  Jahrgänge  erst  zu  haben.  Die  Einlage  bitte  ich  den  Herren 
gefälligst  zuzustellen. 

Ist  mir's  einigermassen  möglich,  so  komme  ich  in  den  Osterferien 
auf  ein  Paar  Tage  mit  Freund  Creuzer  *)  nach  Heidelberg,  um  Sie  und 
meinen  alten  Freund  Creuzer  einmal  in  Ihrem  edlen,  wohlthätigen 
Wirken  näher  zu  schauen.     Creuzer  hat  mich  freundlichst  eingeladen. 

ünsre  Universität  wird,  wie  man  sagt,  sieben  neue  Professoren  er- 
halten. Was  Hr.  v.  Leist  nun  thun  wird,  wird  man  nun  bald  sehen. 
Was  würde  J.  v.  Müller  gethan  haben,  wenn  er  für  Universitäten  frei 
hätte  wirken  können. , 

Meinen  lieben  Freunden  Creuzer,  Daub  und  Schwarz  tausend  herz- 
liche Orüsse!    Mit  reinster  Hochachtung  und  Liebe 

der  Ihrige 

Justi. 

N.S.  Werde  ich  nicht  bald  eine  Anzeige  meiner  hebräischen  An- 
thologie in  den  Heidelberger  Jahrbüchern  lesen?*)  —  Wenn  Sie  für 
Meusels  Künstler-Lexikon  noch  keinen  Rezensenten  bestimmt  haben,  so 
will  ich  wohl  diese  Rezension  übernehmen,  und  bitte  mir  desfalls  nur 
Ihre  Meinung  zu  eröffnen. 

61.  C.  Windischmann  an  August  Böckh. 

Aschaffenburg,  d.  13.  Februar  1810. 

.  .  Liess  doch  meine  Rezension  von  Tennemann^),  ich  mögte  Dein 
Urtheil  wissen.  Sage  aber  Zimmer,  er  möge  für  bessere  Correctur 
sorgen,  es  steht  da  S.  60  Scheine  statt  Scheue,  S.  61  unzuver- 
lässlichst  statt  unverlässlichst,  mehreres  andere  nicht  zu  ge- 
denken.   In  früheren  medizinischen  Rezensionen  wars  ebenso. 

Loos  bitte  ich  zu  bemerken,  dass  im  nächsten  Monat  die  rückstän- 
digen Rezensionen  kommeü.     Dann  auch  die  für  Dich  .  . 

Ewig  der  Deinige 

Windischmann. 


1)  Leonhard  Creuzer. 

2)  Abteilung  für  Theologie  etc.  1810.  2,  3. 

3)  Sieh  oben  S.  220. 


246  Reinhold  Steig 

62.  Carl  Windischmann  an  August  Böckh. 

Aschaffenburg,  d.  28.  Februar  1810. 

.  .  im  nächsten  Monat,  wo  ich  auch  meine  literarischen  Schulden 
an  Dich,  Daub,  Loos  abzutragen  gedenke  .  . 

Hiebei  die  verlangte  Bezension.  ich  hatte  sie  nur  erst  flüchtig 
angesehen  und  für  einseitig  gehalten,  da  der  Verfasser  alle  Mystik  ver- 
höhnt, wie  Creuzer  alles  mystifizirt;  bei  genauerer  Ansicht  sehe  ich, 
dass  Du  recht  haben  magst. 

Freilich  will  ich  den  Ast  behauen,  wo  möglich  abhauen  —  das 
hab'  ich  Dir  ja  schon  gesagt,  hab'  Dir  auch  den  Auftrag  gegeben  mir 
die  sämmtlichen  Hefte  zur  ßecension  schicken  zu  lassen.  Diesen 
Menschen  muss  ich  rezensiren  .  . 

(N.  S.)    Dass  D  u  mit  meiner  Bezension  des  Tennemann  zufrieden 

bist,  ist  mir  mehr  wehrt,  als  der  Beifall  der  ganzen  andern  Welt  .  . 

.  .  sei  in  gutem  eingedenk 

Deines  C.  Windischmann. 

63.  Carl  Windischmann  an  August  Böckh. 

[Aschaffenburg,  März  1810] 
Lieber  guter  Freund! 

.  .  Ich  habe  nun  Görres  ^) :  er  hat  fleissig  gearbeitet,  schäzenswerth, 

doch  manche  nähere  Quelle  verschwiegen   —   es  ist  in  der  That  etwas 

gewonnen  mit  dem  Buch,  aber  manierirt  bleibt  es,  wie  alle  seine  Werke. 

Ich  rezensire  es  sogleich,  da  ich   es  jezt  schon  zu  mir  genommen  und 

mir  alles   ausgezeichnet   habe:    ich   hoffe.    Du   sollst   zufrieden   seyn. 

Adam  Müller  verzögert  sich  deswegen,  weil  ich  nicht  viel  Gutes  zu  sagen 

weiss  über  eine  Schrift,  von  der  man  so  viel  Bühmens  macht  und  dies 

thut  mir  immer  leid  .  . 

Ewig  Dein  Windischmann. 

64.  Achim  von  Arnim  an  August  Böckh. 

Berlin,  12.  März  1810. 
Herzlichen  Dank,  lieber  Böckh,  für  Ihren  Brief,  ich  hätte  ihn  gleich 
beantwortet,  aber  ich  wünschte  mancherley  mitzusenden,  was  noch  nicht 
eingetroffen  ist,  unter  andern  ein  Paar  Becensionen  übersetzter  spanischer 
Schriften  von  einem  hiesigen  gründlichen  Kenner  der  Sprache  Hrn. 
Assessor  Siebmann.  Sie  schrieben  mir,  dass  alle  meine  Becensionen  in 
den  Jahrbüchern  abgedruckt  sind,  ich  vermisse  nach  den  beyden  ersten 

t)  Görres'  Mythengeschichte,  sieh  oben  S.  220. 


Zeugnisse  zur  Pflege  der  deutschen  Litteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern     247 

Stücken  dieses  Jahrganges  doch  noch  zweye,  die  von  Fr.  Schlegels  Ge- 
dichten, eine  andre  über  Jungs  Geistertheorie.  ^)  Wenn  ich  jezt  einigen 
Tadel  gegen  die  Jahrbücher  erhebe,  werden  Sie  vielleicht  argwöhnen, 
dass  er  durch  eine  geargwöhnte  Zurücksetzung  veranlasst  werde,  aber 
theils  kennen  Sie  mich  besser,  theils  kenne  ich  Sie  besser.  Mein  erster 
Tadel,  den  ich  sehr  allgemein  höre,  betrifft  das  schlechte  Intelligenz- 
blat,  welches  allen  andern  Zeitungen  ein  Hauptinteresse  giebt,  doch  dies 
wird  wohl  wegen  der  Juristen  unveränderlich  bleiben.  Was  aber  in 
Ihrer  Abtheilung  doch  leicht  zu  bessern  wäre,  das  ist  ein  Auffassen 
alles  dessen,  was  der  Zeit  merkwürdig  scheint,  um  davon  unterrichtet 
seyn  zu  wollen,  nun  werden  aber  solche  Sachen  theils  zu  spät,  theils 
niemals  angezeigt,  während  eine  Menge  unbedeutender  Arbeiten  weit- 
läuftig  rezensirt  sind.  Sie  glauben  nicht,  wie  ungemein  wichtig  in  einer 
Zeit  wie  die  unsre,  die  so  schnell  verdaut,  die  durch  eine  Zahl  allge- 
meiner Blätter  so  schnell  bedient  wird,  die  augenblickliche  Beurtheilung 
von  Schriften  ist.  Fried.  Schlegels  Schriften  vor  einem  halben  Jahre 
angezeigt,  wo  in  allen  Zeitungen  von  ihm  gesprochen  war,  hätte  doppelt 
so  viele  Leser  angezogen;  warum  ist  noch  keine  Bezension  der  ver- 
schiednen  Schriften  über  Johannes  Müller  erschienen,  der  Wahlverwandt- 
schaften, Hirts  Baukunst  der  Alten,  Jean  Pauls  Schriften  u.  a.  m.  Die 
Bibliothek  der  Abentheurer  und  den  Feldprediger  Schmelzle  werde  ich 
rezensieren,')  weil  Sie  es  mir  aufgetragen,  den  Best  dieses  Auftrages  habe 
ich  aber  fast  noch  nicht  mit  Augen  gesehen,  es  ist  sehr  schwer  hier 
Bücher  zu  bekommen,  nirgends  kann  der  Sortimentsbuchhandel  un- 
ordentlicher betrieben  werden.  Ich  sende  Ihnen  zwey  Bezensionen,  eine 
ist  ein  wunderlich  Buch,  das  in  manchen  Kreisen  viel  Aufsehen  gemacht 
hat,  ^)  das  andre,  den  Bitter,  habe  ich  mit  Lust  und  Liebe  und  ganz  in 
allgemeiner  menschlicher  Beziehung  geschrieben,  alles  eigentlich  Physi- 
kalische aber  nicht  berücksichtigt,  ich  glaube,  dass  ein  schneller  Ab- 
druck davon  gut  thäte,  es  ist  noch  nirgends  etwas  darüber  gesagt.^)  Die 
Geschichte  mit  der  Bezension  von  Görres  ist  sehr  lächerlich;  ich  habe 
sie  durchaus  nicht  gelesen  als  soweit  sie  abgedruckt,  nur  abreisend  von 
Heidelberg  erhielt  ich  einen  Brief  von  Görres  der  mich  erinnerte  eine 

1)  Zu  den  Rezensionen  von  Fr.  Schlegels  Gedichten  and  Jungs  Geisterkunde 
sieh  oben  S.  240  und  221. 

2)  Was  nicht  geschehen  ist. 

3)  Die  g&nzlich  anonyme  Rezension  von  dem  Buche  »Die  Versuche  und  Hinder- 
nisse Karls'*,  im  Jahrgang  1810.  2,  347. 

4)  Die  Rezension  von  Ritter,  Fragmente  aus  dem  Nachlasse  eines  jungen 
Physikers  (vgl.  unten  S.  252)  in  der  Abteihmg  für  Theologie,  Philosophie  etc.  1810. 
2,  116;   im  Register:  von  tt — g. 


248  Reinhold  Steig 

Verbesserung  darin  zu  machen,  die  ich  aber  nur  dabey  notieren  konnte, 

weil  das  Blat,  wozu  sie  eigentlich  gehörte,   noch  unterweges  war;   die 

Geschichte  gehört  wieder  characteristisch  zu  Heidelberg.    Wilken  grüssen 

Sie  doch  vielmal  so  wie  seine  Frau  und  Kind,  ich  hätte  ihm  geschrieben, 

wenn  ich  nicht  in  diesem  Augenblicke  durch  einen  Todesfall  in  meiner 

Familie  sehr  beschäftigt  wäre,  Greuzer,  Krapfries  und  allen  Bekannten 

viel  Herzliches,  der  Frühling  fängt  bald  an  und  da  wird   es  auf  Ihren 

Bergen  hochhergehen.     Gluckzu. 

Achim  Arnim. 


65.  A.  W.  Schlegel  an  August  Böckh. 

Coppet,  d.  2ten  April  1810. 

Hochgeehrtester  Herr  Professor! 

E.  W.  sende  ich  hiebey  die  Antwort  des  Hrn.  von  Barante  auf  Ihre 
ihm  mitgetheilten  Vorschläge.  ^)  Sie  sehen,  dass  er  bereitwillig  darauf 
eingeht,  und  es  ist  nun  an  dem  Secretär  Ihrer  Jahrbucher  sich  zu  'ent- 
scheiden, ob  er  die  Stelle  antreten  will,  und  uns  baldigst  seinen  Ent- 
schluss  wissen  zu  lassen.  Die,  wo  ich  nicht  irre,  schon  erwähnten 
Bedingungen  wiederhole  ich  zum  Ueberfluss.  Sie  sind:  ein  Gehalt  von 
1200^  oder  50  Carol.  nebst  freyer  Kost  und  Wohnung;  Vergütung 
der  Reisekosten ;  der  Vertrag  gilt  auf  ein  Jahr,  und  sollte  auf  einer 
von  beyden  Seiten  keine  Erneuerung  desselben  beliebt  werden,  so  steht 
Hr.  von  Barante  auch  die  Rückreise.  Er  wird  nach  der  Mitte  Aprils 
in  seiner  Präfectur  zu  Napoleon  im  Dept^de  la  Vendee  zurückseyn. 
Der  Secretär  könnte  gerade  zu  an  ihn  schreiben,  thut  er  es  aber  auf 
Deutsch,  so  müsste  er  sich  dabey  lateinischer  Schrift  bedienen.  Er 
kann  aber  auch  seine  Antwort  an  mich  richten  oder  beyschliessen,  und 
wiewohl  ich  im  Begriff  bin  nach  Frankreich  abzureisen,  treffen  mich 
die  Briefe  am  sichersten,  wenn  sie  hieher  adressirt  werden.  Je  eher 
er  die  Stelle  antreten  kann,  desto  angenehmer  wird  es  seyn. 


1)  de  Barante  ä  monsieur  Schlegel:  j'ai  fort  k  tous  remercier,  du  soin  que 
V0U8  avez  bien  voulu  prendre  pour  ce  que  je  soubaite.  il  me  semble  que  le  secre- 
taire  des  annalles  litteraires  doit  §tre  un  hemme  tout  convenable  et  fort  instruit. 
on  ne  redige  assurement  pas  le  Journal  de  Heidelberg  avec  autant  de  facilite  que 
nos  jouroaux  de  France  et  il  y  faut  plus  de  savoir.  quant  au  savoir  faire  je  m'en 
passerai  bien,  je  ne  veux  que  m'instruire  et  m'occuper.  ainsi,  monsieur,  je  m'en 
rapporte  plelnement  k  vous.  si  vous  croyez  que  1a  chose  puisse  convenir,  je  vous 
reroercierai  de  la  conclure.  je  vous  prie,  monsieur,  de  croire  ä  mon  sinc^re  et 
durable  attachement.  de  Barante. 


ZeiigDisse  zur  Pflege  der  deutschen  Utteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern     249 

E.  W.  reichhaltige  Schrift  aber  die  Tragiker  habe  ich  jetzt  gelesen, 
jedoch  fehlte  es  mir  noch  an  Müsse,  es  mit  der  Aufmerksamkeit  zu 
thun,  die  sie  verdient,  d.  h.  immer  dabey  die  alten  Dichter  nachzulesen. 
Sollte  ich  eine  zweyte  Ausgabe  meiner  dramaturgischen  Vorlesungen 
erleben,  so  werde  ich  nicht  ermangeln  meine  Versäumniss  nachzuhohlen, 
und  meine  üehereinstimmung  mit  Ihnen  oder  meine  Zweifel  zu  äussern. 

Die  Beurtbeilung  des  Ariost  habe  ich  seit  Ihrem  Briefe  eingesandt; 
der  des  Winkelmann  wird  meine  nächste  freye  Müsse  gewidmet  seyn. ') 

Dass  die  Herren  Uedactoren  für  gut  gefunden,  zwey  Aufsätze  gegen 
meines  Bruders  Kecension  des  Stollberg  einzurücken,  kann  ich  wohl 
begreifen');  ich  will  Ew.  W.  aber  auf  einen  andern  indirecten  Angriff 
auf  ihn  aufmerksam  machen.  Philol.  p.  III  Jahrg.  2teB  Heft  steht  eine 
Recension  zweyer  Schriften  von  Hrn.  v.  Dalberg.  Der  Beurtheiler  will 
ganz  offenbar  S.  59  meines  Bruders  Ansicht  vom  Pantheismus  wider- 
legen. Auf  der  folgenden  Seite  hingegen,  wo  er  alle  unbedeutenden 
Schriften  über  die  Indier  nennt,  wovon  die  meisten  ja  nur  Afterüber- 
setzungen aus  dem  Englischen  sind,  übergeht  er  geflissentlich  die  meines 
Bruders,  die  erste  in  Deutschland,  und  überhaupt  in  Europa  ausser 
England,  aus  den  Quellen  geschöpfte,  ohne  deren  Kenntniss  alles  nur 
Geschwätz  bleibt.  Eine  solche  stillschweigende  Feindseligkeit  gegen 
einen  verdienten  Mitarbeiter  hätte  wohl  billiger  Weise  ganz  zurück- 
gewiesen oder  mit  einer  Berichtigung  begleitet  werden  sollen.  Ueber- 
haupt  befremdet  es  mich,  dass  eine  so  wichtige  Schrift  wie  die  über 
die  Sprache  und  älteste  Weisheit  der  Indier,  die  unsrer  Litteratur  Ehre 
macht,  und  wovon  ein  übersetzter  Abschnitt  in  Frankreich  schon  die 
grösste  Aufmerksamkeit  erregt  hat,  in  Ihrer  Zeitschrift  immer  noch 
nicht  angezeigt  worden.^) 

Ich  danke  Ihnen  für  die  Nachricht  von  den  Brüdern  Grimm,  die 
mir  bey  meiner  Entfernung  von  Deutschland  unbekannt  geblieben  waren. 

1)  Ueber  die  beiden  Rezensionen  siehe  oben  S.  239.  In  Friedrich  Schlegels 
Briefen  an  seinen  Bruder  Wilhelm,  soweit  sie  erhalten,  geschieht  die  einzige  Er- 
wähnung der  Heidelberger  Jahrbücher  an  der  Stelle,  wo  Friedrich  schreibt  (Walzel 
S.  531) :  „Mohr  &  Zimmer  haben  die  Geschicklichkeit  gehabt,  mir  grade  alle  Stücke 
von  den  Jahrbüchern  zu  schicken,  nur  grade  die  beyden  nicht,  welche  mich  allein 
oder  fast  allein  interessirten ;  nemlich  worin  Deine  Recensionen  vom  Titurell  und 
Winkelmann  enthalten  sind/ 

2)  In  der  Abteilung  für  Theologie  1808  S.  266  hatte  Friedrich  Schlegel  mit 
voller  Namensuoterschrift  Friedrich  Leopold  Stolbergs  Geschichte  der  Religion  Jesu 
Christi  beurteilt.  Dagegen  erschienen  an  der  Spitze  des  Jahrgangs  1809  derselben 
Abteilung  „Bemerkungen  über  einige  Stellen  in  Fr.  Schlegels  Rezension  etc.""  und 
eine  zweite  Rezension  des  Stolbergschen  Buches  ebendaselbst  S.  54. 

3)  Vgl.  oben  S.  235.  236  zu  Brief  Nr.  53. 


250  Reinfaold  Steig 

Es  ist  zu  verwundern  und  zu  loben,  dass  Leute,  die  im  Dienst  einer 
so  neudeutschen  Regierung  stehen,  das  Altdeutsche  so  gut  kennen.  Die 
Herren  sind  etwas  bey  der  Hand  mit  Tadeln:  das  pflegt  so  zu  gehen, 
wenn  man  jung  ist,  und  selbst  noch  nichts  bedeutendes  geleistet  hat. 

Tch  empfehle  Ew.  W.  eine  kürzlich  in  französischer  Sprache  er- 
schienene Lebensbeschreibung  Zwingli's  von  Hrn.  Hess  aus  Zürich  zu 
baldiger  Beurtheilung.  Der  Vf.  wird  der  Redaction  ein  Exemplar  zu- 
stellen lassen.  Der  gelehrte  Hr.  Professor  Wilken  würde  mich  sehr 
verbinden,  wenn  er  die  Anzeige  übernehmen  wollte.  ^) 

Noch  verguss  ich,  dass  das  mit  Hrn.  von  Ghamisso  ein  Irrthum 
ist.  Ew.  W.  verwechseln  Napoleonville  mit  Napoleon.  Das  letzte  ist 
eine  fast  nur  noch  im  Entwürfe  vorhandne  Stadt. 

Mit  ausgezeichneter  Hochachtung 

Ew.  Wohlgeb. 

ergebenster 

A.  W.  Schlegel. 

66.  August  Böckh  au  Achim  von  Arnim. 

Heidelberg,  den  2.  April  1810. 

(Redactionsformular ;  die  «unten  verzeichnete  Schrift",  deren  Beur- 
theilung gewünscht  wird,  ist:) 

Ferdinand  Miller,  Roman  von  Ernst  Wagner. 

(darunter,  noch  auf  der  ersten  Seite  des  Formulars:) 

Nachschrift  zur  auf  der  folgenden  Seite  befindlichen 

Vorschrift. 

Wagner  schreibt  zwar,  dass  Sie  auch  den  2.  Band  seines  vorigen  von 
Ihnen  recensirten  Romans  nicht  übernehmen  wollten.  Warum  nicht?') 
üeber  Ihre  Recension  des  Attila  hat  der  Vorleser  in  seinen  Monologen 
im  Jason  nicht  genug  Ausruf  ungszeichen  machen  können.')  Da  der  Jason '^) 
nunmehr  aus  dem  Ministerium  kommt,  und  Hofrichter  in  Mannheim 
wird,  so  hat  er  viele  Zeit  nach  Eolchis  zu  schiffen;  wenn  er  nur  end- 
lich statt  des  Dreckgelben  Felles  das  goldne  mitbrächte!  Er  dcheint 
stets  denselben  Weg  umsonst  zu  beschiffen. 

1)  Eine  anonyme  Rezension  von  Hess,  Yie  d'Ulrich  Zwingle  im  Jahrgang 
1811  S.  1065. 

2)  Sieh  oben  S.  241. 

3)  Sieh  H.  v.  Kleists  Berliner  Kämpfe  S.  393. 

4)  d.  i.  Graf  Benzel-Sternau. 


Zeugnisse  zur  Pflege  der  deutseben  Litteratnr  in  den  Heidelb.  JahrbQchern     251 

« 

Recensionen  von  Hrn.  Assessor  Siebmann  werden  uns  sehr  angenehm 
seyn;  künftige  Messe  will  ich  ihn  auch  zuna  Recensiren  noch  besonders 
einladen. ') 

(Auf  der  zweiten  und  dritten  Seite  .des  Formulars :) 

Ihr  letzter  Brief,  verehrter  Freund,  war  mir  sehr  erfreulich,  indem 
ich  schon  lange  neue  Beyträge  von  Ihnen  erwartete,  wenn  auch  die 
alten  noch  nicht  alle  verbraucht  waren.  Ich  hatte  Ihnen  geschrieben, 
dass  Ihre  Recensionen  bereits  alle  gedruckt  wären;  Ihnen  mangelte  aber 
noch  Jungs  Geisterkunde  und  Fr.  Schlegels  Gedichte.  Jungs  Geister- 
geschichten gehen  mich  iedoch  gar  nichts  an,  wie  Sie  wissen,  und  daran 
konnte  ich  also  gar  nicht  denken ;  was  aber  Fr.  Schlegels  Gedichte  be- 
trifft, so  waren  diese  damals  wirklich  in  der  Druckerey,  wurden  aber 
aus  Mangel  an  Raum  von  unsrem  Secretär  immer  wieder  zurückgelegt, 
sind  nun  aber  in  dem  iüngst  erschienenen  und  schon  in  voriger  Woche 
ausgegebenen  Hefte  wirklich  erschienen. ')  Aber  hier  muss  ich  Sie  sehr 
um  Entschuldigung  bitten,  bester  Freund !  Sie  kennen  die  bedenklichen 
Zeiten ;  Sie  leben  freylich  in  Preussen,  wo  Sie  ieder  Anfechtung  unaus- 
gesetzt sind ;  aber  Sie  wissen,  wie  den  Süddeutschen  ieder  Ausdruck  ietzt 
missdeutet  wird;  Sie  werden  es  daher  nicht  übel  nehmen,  wenn  Sie  in 
der  gedachten  Recension  einige  Aenderungen  gemacht  finden  werden. 
Darüber  könnten  Sie  sich  freylich  beschweren,  dass  ich  nicht  mit  Ihnen 
früher  darüber  conferirt  habe;  aber  ein  Zufall  verhinderte  dieses  ge- 
rade. Denn  da  ich,  ohne  irgend  einen  Anstoss  zu  ahnden,  Ihre  Kritik 
in  den  Druck  gab,  so  fiel  mir  das  Ganze  erst  in  der  Correctur  auf, 
und  es  musste  daher  die  Aenderung  gleich,  ohne  die  Möglichkeit  wei- 
teren Conferirens,  von  mir  selbst  gemacht  werden.  Da  auf  unsere  Nah- 
men die  Jahrbücher  censurfrey  gedruckt  werden,  so  müssen  natürlich 
wir  auch  die  Verantwortung  dafür  stehen.  Sie  sehen  hieraus  auch,  dass 
an  Zurücksetzung  gar  nicht  zu  denken  ist;  und  Sie  werden  davon  weit 
weniger  noch  sprechen  können,  wenn  Sie  wüssten,  in  welchem  Gedränge 
ein  Redakteur  bey  der  Masse  der  Materialien  ist,  wovon  manche  wohl 
Jahre  lang  im  Pulte  liegen,  ehe  der  harrende  Verfasser  seine  Arbeit 
wieder  zu  Gesichte  bekömmt. 

Was  Ihren  Tadel  betrifft,  so  gebe  ich  Ihnen  zu,  dass  er  gegründet 
ist;  aber  bedenken  Sie  auch  anderseits,  was  sich  zur  Entschuldigung 
sagen  lässt.  Das  Intelligenzblatt  kann  bey  der  ietzigen  Einrichtung  un- 

1)  In  Böckbs  Nachlass  keine  Spur  einer  Anknüpfung  mit  Siebmann  (geadelt 
als  von  Granenthal). 

2)  Sieb  oben  S.  240. 


252  Keinhold  Steig 

möglich  das  werden,  was  Sie  wünschen,  indem  es  schon  im  Verhältniss 
gegen  die  übrige  Masse  unförmlich  gross  werden  würde,  zumahl  bey 
den  einzelnen  Abtheilungen,  wo  es  wohl  die  Masse  der  Kecensionen  an 
Umfang  bei  Weitem  übertreffen  würde.  Auch  würden  wir  doch  mei- 
stens die  andern  Zeitungen  ausschreiben  müssen;  und  das  ist  doch  eine 
sehr  geringe  Buchmacherey.  Was  das  schnelle  Recensiren  in  die  Zeit 
einwirkender  Bücher  betrifft,  so  sagen  Sie  mir  nur,  wie  es  zu  machen! 
Sie  meinen  freylich,  es  wäre  leicht  zu  bewirken,  ist  es  aber  keinesweges. 
Ich  halte  mich  an  die  von  Ihnen  genannten  Bücher :  die  Wahlverwandt- 
schaften hatten  die  beyden  Schlegel  übernommen;  um  eine  Kecension 
von  diesen  wartet  man  wohl  einige  Zeit ;  zuletzt  bekommt  man  sie  doch 
niclit.  Ernst  Wagner  hatte  sie  gleichfalls ;  aber  dieser  ist  ietzo  körper- 
lich zu  elend.  ^)  Hirths  Baukunst  ist  seit  Jahr  und  Tag  dem  Senator 
Stieglitz  in  Leipzig  aufgetragen;  eben  so  lange  die  Jean-Paulschen 
Schriften^):  aber  die  Becensenten  sind  eben  nicht  so  allzeit  fertig,  wie 
die  Weimarschen  Kunstfreunde,  die  ohne  Kenntniss  der  Sache,  meisten- 
theils,  mit  schönen  Worten  allerley  mehr  anzeigen  als  beurtheilen.')  Be- 
denken Sie  auch,  dass  unsere  Jahrbücher  auf  Schnelligkeit  schon  wegen 
der  Lage  unserer  Stadt  verzichten  müssen,  da  die  Bücher  erst  aus  dem 
Norden  zu  uns  kommen,  meist  in  den  Norden  wieder  zur  Recension 
gehen,  und  dann  zurück,  und  die  Recensionen  dann  wieder,  zum  Theil 
wohl  langsam,  gedruckt  nach  dem  Norden.  Auch  ist  der  Spruch  so 
wahr,  dass  erst  nachdem  der  erste  Rausch  verbraust  ist,  nach  Jahren 
die  Bücher  frey  und  partheylos  beurtheilt  werden  können,  und  so  scha- 
det denn  das  Späte  auch  nichts.  Sie  meinen.  Manches  Unbedeutende 
käme  eher  und  wäre  weitläuftiger  angezeigt.  Allein  wie  vielfältig  ist  das 
Interesse!  Jeder  will  etwas  von  dem  Seinen;  und  wahrhaftig  ein  Re- 
dacteur  einer  Zeitung,  zumahl  einer  so  in  5  Abtheilungen  zerspaltenen, 
ist  nicht  minder  in  Verlegenheit,  als  der  Theaterdirector  im  Faust; 
allein  man  muss  ein  für  allemahl  auf  allgemeine  Befriedigung  verzichten. 
Ihre  Kritik  des  Ritter  soll  hoffentlicfh  im  philosophischen  Heft,  wo 
sie  früher  wird  erscheinen  können,  frühzeitig  abgedruckt  werden.*)  Wegen 
des  Wunderhorns   bin  ich  von  Ihrer  Unbefangenheit  vollkommen  über- 


1)  Wegen  der  Wahlverwandtschaften  sieh  S.  239.  241.  253.  258. 

2)  Görres  lieferte  sie  im  Jahrgang  1811. 

3)  Diese  Wendung  gegen  Goethe  ist  sehr  bemerkenswert,  erscheint  aber  auch 
bei  anderen  Heidelbergern,  so  bei  Görres  in  der  Jean  Paul-Rezension;  und  auch 
Wilhelm  Schlegel  macht  in  der  Winkel mann-Kezension  zuletzt  ein  paar  Bemerkungen 
gegen  Goethes  Schrift  .Winkelmann  und  sein  Jahrhundert**. 

4)  Sieh  oben  S.  247. 


Zeugnisse  zur  Pflege  der  deutschen  Litteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern    253 

zeugt:  ich  habe  vor  wenigen  Wochen  mir  den  Rest  der  Becension  von 
Wilkcn,  der  ihn  in  Beschlag  hatte,  wieder  zu  verschaffen  gesucht;  allein 
lächerlich  wird's  nun  allerdings  seyn,  nach  so  langer  Zeit  die  Fort- 
setzung folgen  zu  lassen.  Doch  hat  Creuzer  allerdings  einen  Fehler  ge- 
macht, indem  er  die  Recension,  wie  er  mir  sagte,  an  Savigny  und  Bren- 
tano nach  Landshut  verschickt  hatte,  und  die  Zufriedenheit  derselben 
damit  als  ein  besonderes  Motiv  des  schleunigen  Abdruckes  selbst  öffent- 
lich aufstellte.  Es  ist  hier  allerdings  viel  Kleinigkeitsgeist;  aber  mit 
etwas  mehr  Vorsicht  und  Consequenz,  als  Creuzer  besessen,  konnte  vie- 
les vermieden  werden,  was,  nach  so  grossen  Fehlern  von  Seiten  der 
bessern  Parthey,  nun  einmahl  auf  viele  Jahre  im  Argen  liegt.  ^) 

Das  Wetter  ist  trefflich;  unsere  Aussichten  erheitern  sich  auch 
sonst:  aber  die  Hoffnung,  dass  Sie  wieder  kommen,  ist  durch  die  Ber- 
liner Universität  nun  ganz  dahin.  ^)  So  leben  Sie  denn  wohl  in  Ihrem 
beneidenswerthen  Berlin.    Grüssen  Sie  alle,  die  mich  etwa  kennen. 

Der  Ihrige 

Böckh. 

67.  Carl  Windischmann  an  August  Böckh. 

Aschaffenburg,  d.  11.  Mai  1810. 
Oeliebter  Freund! 

.  .  Ich  muss  erst  wieder  recht  Lust  an  der  Arbeit  gewinnen,  das 
fehlt  mir  noch  vor  allem  andern.  Dies  ist  auch  der  Grund,  warum 
Daub  die  Fortsezung  der  Tennemannschen  Rezension  noch  nicht  erhalten, 
die  doch  wirklich  in  der  Arbeit  ist.  Für  Deinen  Antheil  bekommst 
Du  nächstens  die  Rezension  von  Adam  Müller.  Ich  muss  mich  durch 
die  Kritik  wieder  hineinschaffen  in  meine  eigne  Sphäre.  Dann  wird 
sogleich  Görres  vorgenommen  und  Ast  (den  ich  jedoch  noch  nicht 
habe)  .  . 

Also  haben  wir  beide  die  Wahlverwandschaften  verstanden  und 
gefühlt!  —  In  diesem  Buche  steht  mein  innerstes  Leben  —  wie?  dies 
kann  ich  Dir  nur  von  Angesicht  zu  Angesicht  sagen,  wenn  ich  es  je- 
mals irgend  einem  sage  und  auf  die  rechte  Weisse  sagen  kann.  Mich 
hats  nicht  verwirrt,  sondern  zur  vollen  Klarheit  gebracht;  ich  bin  ihm 
zwar  tiefen  Schmerz,  aber  auch   die  tiefste  Selbsterkenntniss  schuldig. 

1)  Sieh  oben  S.  214.  247. 

2)  Das  bedeutet  doch  wohl :  Arnim  werde,  im  Anschlüsse  an  die  Berliner  Uni- 
▼ersit&t,  nun  finden,  was  er  sonst  in  Heidelberg  angestrebt  hätte,  und  bezieht  sich 
mit  auf  das  „Doctorat*"  (oben  S.  235). 


254  Reinhold  Steig 

Ach!  könntest  Du  mir  erlauben  diese  Schrift  in  den  Jahrbüchern  dar- 
zustellen, ich  weite  Dinge  darüber  sagen,  welche  Göthe,  Dich  und 
jeden,  dem  dieses  Licht  leuchtet,  von  Herzen  freueten.  Es  wäre  mir 
leid,  wenn's  auch  da  so  schief  beurtheilt  würde  wie  überall.  Solte 
nicht  möglich  seyn,  über  etwas  dergleichen  zwei  Rezensionen  zu 
geben?  Sonderbar!  ich  bin  gewiss,  dass  ich  das  rechte  sagen  würde 
und  doch  eben  so  gewiss,  dass  ich  in  mir  selbst  eben  solche  wahre 
aber  weit  tiefere  Ansicht  zurückbehalten  würde  und  müsste  .  . 

Lebe  wohl.    Ewig 

Dein  Windischmann. 

68.  Jacob  Grimm  an  August  Böckh. 

Cassel,  U.  Mai  1810. 
Hochgeschätzter  Herr  Professor 

ich  bin  so  frei  anzufragen,  ob  eine  im  März  abgeschickte  Anzeige 
von  Beneckes  Minneliedern,  um  deren  baldige  Einrückung  ich  gebeten 
hatte,  richtig  angelangt  ist?  Das  Gegentheil  wäre  möglich  und  wird 
mir  sogar  wahrscheinlich,  als  ich  auf  einen  im  Paquetchen  zur  weitern 
gefälligen  Absendung  eingeschlossenen  Brief  an  Herrn  Prof.  Görres  zu 
Coblenz  bisher  noch  keine  Antwort  erhalten  habe. 

von  dem  unlängst  erschienenen  2ten  Heft  des  altdeutschen  Museums 
stehe  ich  fast  an,  für  die  Heidelberger  Jahrbücher  eine  Becension  nieder- 
zuschreiben, da  Sie  wahrscheinlich  einen  überflüssigen  Vorrath  an  bessern 
und  wichtigeren  haben,  vielleicht  scheint  Ihnen  dann  folgender  Vor- 
schlag angenehm,  dass  Sie  mir  die  noch  nicht  abgedruckte  Recension 
des  ersten  Hefts  des  Museums  zurückschickten,  ich  würde  dann,  da 
beide  Hefte  eigentlich  einen  Band  und  ein  Ganzes  ausmachen,  und 
einige  im  ersten  abgebrochene  Abhandlungen  im  zweiten  schliessen,  die 
Anzeige  beider  in  einander  verarbeiten,  wodurch  vermuthlich  das  Ganze 
nicht  eben  weitläufiger  werden  würde,  als  die  Beurtheilung  des  ersten 
Hefts.   . 

von  der  Becension  des  Buchs  der  Liebe  habe  ich  seitdem  nichts 
gehört,  als  ich  sie  nebst  der  mir  mitgetheilten  schlegelischen  im  Januar 
zurücksandte.  In  der  abgedruckten  kleinen  Anzeige  vom  Schauspiel 
Judith  habe  ich  einige  auffallende  Druckfehler  angetroffen,  sie  aber 
nicht  notirt  und  jetzt  das  Heft  nicht  zur  Hand. 

Ist  es  erlaubt  zu  wissen,  wer  der  andere  D.  A.  E  ist  ?  der  nicht 
der  jüngere  Voss  ist.  ^)    Einige  kleine  Becensionen,  die  z(war)  in  den 

1)  Sieh  darüber  oben  S.  216  und  den  folgenden  Brief. 


Zeugnisse  zur  Pflege  der  deutschen  Litteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern     255 

Heften  hinten,  aber  im  ganzen  dann  doch  in  der  Mitte  stehen,  haben 

mich  nicht  sehr  erbaut,  z.  B.  die  des  Jördensschen  Lexicons  von  Ei 

(Justi  in  Marburg?)     Sie  müssen  mir  aber  meine  Freimüthigkeit  zu 

gut  halten. 

Ich  empfehle  mich  nebst  meinem  Bruder  Ihrer  Gewogenheit  ganz 

ergehenst 

Grimm. 

69.  August  Böckh  an  Jacob  und  Wilhelm  Grimm. 

(Bedactionsformular;  äussere  Postadresse:   Sr.  Wohlgeboren   Hrn. 

Jacob  Grimm,  Auditor  beym  Staatsrath,  in  Cassel,  Johannisstrasse, 

bey  dem  Kaufmann  Hrn.  Simon  Wille.    Mit  einer  Beylage.  —  Am 

Kopfe  des  Formulars  dagegen:) 

Heidelberg,  den  31.  Mai  1810. 

An  Herrn  Grimm,  Privatgelehrten  in  Cassel 

Wohlgeb. 
(Die  .unten  verzeichneten  Schriften^,  deren  Beurtheilung  gewünscht 
wird,  sind:) 

Nibelungenlied.      Critische   Ausgabe  v.  Dr.  Fr.   H.    von   der 

Hagen.    Berlin  Hitzig. 
Büsching    und    von    der    Hagen,    Museum    der    altdeutschen 
Litteratur,  2.  Heft. 

(auf  der  inneren  Blattseite :) 

Hochgeschätztester  Herr, 

auf  Ihre  gütige  Zuschrift  vom  14.  May  habe  ich,  wenn  auch  etwas 
spät,  die  Ehre  Ihnen  zu  melden,  dass  die  Kecension  von  Benecke's 
Minneliedern  bereits  im  Druck  ist  ^) ;  auch  habe  ich  den  Brief  an  Görres 
besorgt,  aber  weiter  nichts  mehr  davon  erfahren. 

Ihren  Vorschlag  wegen  des  Museums  von  Büsching  und  von  der 
Hagen  nehme  ich  mit  Dank  an,  und  sende  Ihnen  daher  die  Recension 
des  ersten  Heftes  zurück,  um  von  beyden  eine  zu  erhalten.  Dass  sie 
bisher  nicht  abgedruckt  worden,  liegt  daran,  weil  ich  den  spärlichen 
Kaum  unter  so  viele  Fächer  theilen  muss,  und  gerade  im  Fache  der 
altdeutschen  Litteratur  relativ  am  meisten  geliefert  worden  war.  Desto 
mehr  werde  ich  nachher  sorgen,  die  Recension  beyder  Hefte  schneller 
zum  Druck  zu  befördern.^)    Davon   mag  denn  auch  Veranlassung  ge- 


1)  Erschien  1810.  1,  371  (Kleinere  Schriften  6,  11). 

2)  Sieh  oben  S.  211. 

N'RUK  HßlDKLH.  .TAHRBÜECHRR  XI.  ^7 


256  Reinhold  Steig 

nommen   werden,   Ihre   Becension  des   Buches   der   Liebe   beyzufügen, 
welche  sogleich  nach  Schlegel  folgen  zu  lassen  unpasslich  schien.') 

Was  die  Druckfehler  betrifft,  so  habe  ich  deswegen  schon  häufige 
Vorstellungen  gemacht,  welche  aber  bisher  wenig  gefruchtet  haben ;  ich 
selbst  bin  mit  mannigfaltigen  Geschäften  zu  sehr  überhäuft,  als  dass 
ich  durch  eigene  Bemühung  helfen  könnte.  Von  manchen  kleinen  Be- 
censionen  bin  ich  eben  auch  nicht  erbaut;  überhaupt  missbillige  ich 
vieles  an  unserem  Institut,  was  ich  nicht  abändern  kann.  Die  zu- 
sammengesetzte Bedäction  hat  neben  vielem  Guten  auch  manchen  Nach- 
theil. Der  andere  D.  A.  E.  ist  der  Kabinetssecretär  Wagner  in 
Meiningen,  welcher  aber,  wegen  einer  Kränklichkeit,  die  ihn  täglich 
sein  Ende  erwarten  lässt,  keinen  weitern  Äntheil  nehmen  kann.  Wenn 
Sie  mir  im  Fache  der  Poesie  und  der  verwandten  Litteratur  einige 
tüchtige  Männer  als  Mitarbeiter  nennen  könnten,  würde  ich  Ihnen  vielen 
Dank  wissen.  In  diesem  Fache  wechseln  die  Becensenteu  so  sehr; 
Fr.  Schlegel,  Jean  Paul,  A.  W.  Schlegel,  Arnim  u.  a.  wechseln ;  und 
keiner  hat  lange  Ausdauer! 

Ich  empfehle  mich  Ihnen  und  Ihrem  Herrn  Bruder  bestens. 

Der  Ihrige 

Böckh. 

70.    Johann  Georg  Zimmer  an  Achim  von  Arnim. 

[Leipzig,  Juni  1810] 

Hierbey,  mein  geliebter  Freund,  erhalten  Sie  nebst  einem  Brief  von 
Görres  ein  Exemplar  seines  Buches,  worin  Sie  sich  mit  unserm  Bren- 
tano teilen  sollen;  wenn  Sie  künftig  einmal  sich  trennen,  dann  soll  der 
abgehende  Theil  sein  eigenes  haben.  ^) 

Ihr  Briefchen  hat  mir  Beimer  gebracht,  aber  das  Manuscript  werde 
ich  nun  wohl  nicht  mehr  hier  erhalten,  denn  ich  gehe  in  drei  Tagen 
ab.  Schicken  Sie  es  entweder  durch  Reimers  Einschluss  (was  mir  des 
hohen  Portos  wegen  am  liebsten  wäre)  oder  direkt  an  J.  F.  Gleditsch 
Buchh.  allhier  mit  dem  Auftrag,  es  dem  nächsten  PostPacket  an  uns 
beyzuschliessen.  Auf  diesem  Wege  wünschte  ich  überhaupt  künftig  auch 
Ihre  Briefe  und  Beyträge  für  die  Jahrbücher  zu  erhalten.  Ich  erhalte 
es  immer  innerhalb  acht  Tagen.  ^) 

1)  Sieh  oben  S.  237. 

2)  Görres'  Mythengeschichte  der  asiatischen  Welt  mit  seinem  Briefe  vom 
11.  Mai  1810:  sieh  Neue  Heidelberger  Jahrbücher  1901.  10,  139. 

3)  Das  ^Briefchen**  Arnims  fehlt  im  Buche  über  Zimmer;  das  „Manuskript" 
ist  das  zu  Halle  und  Jerusalem.    Vgl.  oben  S.  235. 


Zeugnisse  zur  Pflege  der  deutschen  Litteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern     257 

Von  der  Messe  lassen  Sie  sich  Reimer  erzählen.  Wenn  sie  auch 
schlecht  war,  so  zeigte  sich  doch  wenigstens  einige  Hoffnung  zu  einer 
künftigen  bessern. 

Grüssen  Sie  Brentano  herzlich.  Wie  gerne  hätte  ich  Sie  hier  ge- 
sehen!   Leben  Sie  recht  wohl! 

Ihr  treuer  Zimmer. 

(Nachschrift :)  Ich  freue  mich  erschrecklicli  nach  Haus  zu  kommen. 
Denn  ich  habe  nun  auch  ein  Mädchen  neben  dem  Knaben.  Die  Frau 
Prof.  Wilken  ist  sammt  ihrem  Kinde  mit  mir  hierher  gereisst  und  geht 
wieder  mit  mir  zurück. 

71.    Johann  Gustav  Büsching  an  August  Böckh. 

Berlin,  d.  15.  Juni  1810. 

Mein  Freund  Kannegiesser  ladete  Ew.  Wohlgeboren  im  Anfange 
dieses  Jahres  zur  freundschaftlichen  Theilnahme  an  einem  Journal  für 
Wissenschaft  und  Kunst,  Pantheon  betitelt,  ein,  welches  Sie  damals 
nicht  ganz  von  der  Hand  wiesen.  Bei  der  jetzt  bestimmten  Fortsetzung 
auch  im  folgenden  Jahre,  lade  ich  Sie  ergebenst  unter  den  schon  ge- 
meldeten Bedingungen  noch  einmal  ein,  mit  der  Bitte,  uns  recht  bald 
mit  einem  Beitrage  zu  erfreuen. 

Eine  aus  dem  Pantheon  besonders  abgedruckte  Abhandlung  meines 

Freundes  Bernhardi :  über  das  Alphabet,  hoffe  ich,  werden  Sie  durch  eine 

Buchhandlung  von  der  Leipziger  Messe  bekommen  haben.    Sie  war  von 

Bernhardi  für  Sie  bestimmt.   Die  einliegende  Ankündigung  empfehle  ich 

Ihnen  freundschaftlichst.  *) 

Hochachtungsvoll 

Ew.  Wohlgeboren 

ergebener 

Dr.  Büsching. 

72.    Carl  Windischmann  an  August  Böckh. 

Aschaffenburg,  d.  27.  Juni  1810. 
Geliebter  Freund! 

.  .  Hier  hast  Du  die  Rezension  von  Gör  res;  möge  sie  Deinen 

Beifall  erhalten :  sie  ist  ehrlich  und  von  Herzen  für  die  Sache  und  den 

Verfasser.    Lass  sie  bald  abdrucken.') 

1)  Diese  Ankündigung  des  Pantheons  im  10.  Intelligenzblatt  der  Heidelberger 
Jahrbücher  von  1810  abgedruckt:  hierin  sowohl  wie  in  der  Vorrede  des  Pantheons 
ist  Böckh  als  Mitarbeiter  aufgeführt. 

2)  Sieh  oben  S.  220. 

17* 


258  Reinhold  Steig 

Hast  Du  dann  die  hündisch  schlechte  Rezension  meines  Versuchs 
über  den  Gang  der  Bildung  in  der  heilenden  Kunst  gelesen  ?  ^)  Der  Mensch 
hat  nicht  einmal  das  Buch  gelesen,  verwechselt  Bacons,  Sydenhams  und 
andre  Ansichten  mit  der  meinigen  —  weiss  von  der  Geschichte  der 
Kunst  nichts  und  hat  den  Leichtsinn  ins  blaue  zu  schwäzen!  Ich 
habe  Ackermann  eine  klare  Epistel  darüber  geschrieben,  wie  er  so  etwas 
nur  abdrucken  Hess.  An  dem  ganzen  Jammer  ist  Schubert  schuld,  der 
die  Sache  zu  lange  verzögerte,  weil  er  mir  in  jeder  Hinsicht  genug 
thun  wolte,  und  nun  wurde  sie  durch  Loos  einem  andern  übergeben  und 
verhunzt.  Indessen  werde  ich  dazu  still  schweigen,  solches  Lob  und 
solcher  Tadel  bekümmern  mich  wenig.  Der  Autor  ingenuus  karakter- 
sirt  sich  selbst  genug. 

Welche  Freude  machst  Du  mir  mit  dem  Auftrag  der  Darstellung 

der  Herderschen  Werke.    Ich  sehe  das  als  Belohnung  meiner  nun 

20  jährigen   ununterbrochenen  Liebe   für  den  Verfasser  an.^)    Und  um 

Göthes  Wahlverwandschaften  solls  Dich  nicht  reuen,   dass  Du 

sie  mir  zugestanden.^)  Nur  vergiss  nicht  wieder,  dass  Du  diese  Bücher 

mir  zugetheilt,  wie  Du  es  mit  Görres  vergessen  zu  haben  scheinst,  den 

Du  mir  ja  schon  vor  einem  Jahre  fest  übertragen  hattest. 

Lebe  wohl.    Ewig 

Dein  Windischmann. 

73.    August  Böckh  an  Achim  von  Arnim. 

[Heidelberg]  d.  13.  July  1810. 

Meinen  letzten  Brief  werden  Sie  ohne  Zweifel  richtig  erhalten  haben, 
worin  ich  Ihnen  über  allerley  unklare  Punkte  ziemlich  ausführlich  ge- 
schrieben habe.^)  Ihre  letzten  Becensionen  sind  leider  noch  nicht  gedruckt  ; 
die  über  Ritter  habe  ich  zur  schnellern  Förderung  an  Daub  gegeben, 
der  sie  aber,  wie  ich  sehe,  immer  noch  nicht  drucken  lässt.  Die  Ver- 
-  suche  Carls  sind  gegenwärtig  in  der  Presse.  ^)  Es  fehlt  uns  gar  zu  sehr 
an  Raum,  um  die  mancherley  Bedürfnisse  zu  befriedigen ;  ich  hoffe  aber 
mit  nächstem  Jahre  wenigstens  8—9  Bogen  Zulage  zu  meinem  Hefte 
zu  bekommen.  Mit  der  Fortsetzung  der  Wunderhornsrecension  habe  ich 
gegenwärtig  einen  Plan,   welchen  ich  durchzutreiben  gedenke,   wodurch 

1)  Abteilung  für  Medizin  1810  S.  214,  anonym. 

2)  Erschien  im  Jahrgang  1812  S.  385.  417;   im  Text  und  im  Register:   Von 
C.  J.  W— n. 

3)  Sieh  oben  S.  252. 

4)  Oben  S.  250  Nr.  66. 

5)  Zu  Ritter  und  zu  Carls  Versuchen  vgl.  oben  S.  247. 


Zeagnisse  zur  Pflege  der  deutschen  Ldtteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbachem    259 

sie  endlich  auch  zu  Tage  gefördert  werden  wird.^)  Ueberhaupt  dürfen 
Sie  von  meinem  guten  Willen  und  meiner  Bereitwilligkeit  überzeugt 
seyn,  das  Gute  und  das  freye  Urtheil  in  uhsem  Jahrbüchern  zu  erhalten; 
es  wird  mir  aber  von  der  alten  bekannten  Parthey  thätig  entgegen- 
gewirkt, insbesondere  von  Thibaut. 

Die  Mythengeschichte  von  Qörres  ist  ein  vortreffliches  Buch,  welches 
Sie  hoffentlich  angesehen  haben  werden.  Es  liegt  davon  auch  schon 
eine  schöne  Kecension  bey  mir,  die  wegen  des  beengten  Raums  immer 
auch  noch  nicht  vom  Stapel  laufen  kann.^)  Es  ist  ärgerlich,  dass  ich 
die  besten  Sachen  oft  zurücklegen  muss,  weil  ich  so  wenig  Raum  habe, 
während  bey  der  Redaction  der  andern  Hefte,  besonders  beym  juristi- 
schen, oft  der  grösste  Mangel  ist. 

üebrigens  ist  mir  das  ziemlich  hölzerne  Leben  hier  ziemlich  ver- 
leidet; ich  wünschte  nichts  sehnlicher,  als  bey  Ihnen  seyn  zu  können, 
wo  eine  schöne  neue  Welt,  unter  der  liberalsten  Unterstützung  einer 
Regierung  emporblüht,  welche  ich  vor  allen  Deutschen  liebe  und  ieder- 
zeit  geliebt  habe.  Ach  wann  wird  die  Zeit  kommen,  da  ganz  Deutsch- 
land sich  einer  solchen  Morgenröthe  erfreuen  kann! 

Grüssen  Sie  Brentano  von  mir,  und  wer  sich  sonst  meiner  erinnert, 
und  vergessen  Sie  nicht  einen  Freund,  dem  Sie  so  theuer  sind. 

Böckh. 

74.    A.  W.  Schlegel  an  August  Böckh. 

Chaumont  an  der  Loire,  d.  6\^  August  1810. 
Hochgeehrtester  Herr  Professor! 

Ew.  Wohlgeb.  verzeihen  gütigst  die  so  lange  Verzögerung  meiner 
Antwort  auf  Ihren  verbindlichen  Brief  vom  24  sten  April,  der  mir  erst 
hier  und  also  ziemlich  spät  zugekommen  ist.  Eine  beträchtliche  Reise, 
mancherley  Abhaltungen  und  überhäufte  Beschäftigungen  sind  Schuld 
an  meiner  Versäumniss. 

Was  Sie  mir  von  Hrn.  Wagner  melden,  scheint  es  allerdings  sehr 
wünschenswert  zu  machen,  dass  er  auf  den  Vorschlag  eingehen  möchte, 
den  Sie  ihm  gethan.  Sie  würden  mich  also  sehr  verbinden,  wenn  Sie 
mir  baldigst  nur  durch  einige  Zeilen  melden  wollten,  ob  er  entschieden 
bejahend  geantwortet  hat.  Die  Unentschlüssigkeit  des  Secretärs  Ihrer 
Jahrbücher,   da  er  anfangs   verneinend  geantwortet   und  nachher  diess 


1)  Sieh  oben  S.  214. 

2)  Sieh  oben  S.  257,  von  WindiBchmann. 


260  Reinhold  Steig 

wieder  zurückgenommen,  macht,  dass  die  Sache  einer  neuen  Wahl  an- 
heira  gegeben  werden  kann.  Indessen  wünschte  ich  zugleich  zu  wissen, 
wie  dieser  Mann  letztlich  über  den  Vorschlag  gesinnt  ist.  Er  kennt 
die  Bedingungen,  er  hat  nun  schon  einige  Zeit  lang  seine  neue  Stelle 
bey  der  Bibliothek  verwaltet,  und  wird  also  keine  Schwierigkeit  haben 
sich  zu  entscheiden,  ohne  dass  wir  von  unsrer  Seite  nöthig  hätten,  ihm 
im  voraus  eine  ganz  bestimmte  Entscheidung  zu  geben.  Die  Bestimmung 
des  Reisegeldes  wird  keine  Schwierigkeit  machen. 

In  einigen  Wochen  hoffe  ich  mit  Hrn.  von  Barante  zusammenzu- 
treffen, es  ist  daher  mein  dringender  Wunsch  zuvor  Nachricht  über  die 
EntSchliessung  der  beyden  Männer,  denen  der  Vorschlag  durch  Sie  ge- 
macht worden,  zu  haben.  Hrn.  Wagners  Geneigtheit  könnte  allerdings 
die  Wahl  noch  anders  entscheiden,  da  Hr.  von  Barante  ein  grosser  Lieb- 
haber der  Musik  ist.  Ich  will  Ihnen  nicht  bergen,  dass  auch  Hr.  von 
Chamisso,  dessen  Ernennung  in  Napoleonville  ein  Irrthum  war,  und  der 
sich  gegenwärtig  hier  bey  mir  befindet,  ihm  vorgeschlagen  worden  ist.^) 
So  lange  die  vorläufig  gethanen  Vorschläge  noch  niemanden  zu  einem 
Schritt  bewogen  haben,  der  seine  Verbältnisse  verrückt  und  dadurch  für 
den  andern  Theil  bindend  wird,  ist  es,  däucht  mich,  immer  erlaubt, 
sich  die  Wahl  frey  zu  lassen. 

Ihre  Erklärung  über  die  meinen  Bruder  betreffenden  Erwähnungen 
und  Verschweigungen  in  den  Heidelbergischen  Jahrbüchern'),  habe  ich 
ihm  mitgetheilt,  und  ich  zweifle  nicht,  er  wird  sie  befriedigend  finden. 
Uebrigens  schien  mir  die  Sache  nur  in  Bezug  auf  die  Gesinnung  der 
Herren  Bedactoren  bedeutend.  Solche  Bücher  wie  die  Schrift  meines 
Bruders  über  die  Indier  und  die  Sammlung  seiner  Gedichte  bahnen  sich 
wohl  selbst  ihren  Weg,  und  wenn  sie  in  einem  so  ausgezeichneten  Blatte, 
wie  Ihre  Jahrbücher  sind,  unbeurtheilt  bleiben,  so  hat  diess  nur  den 
Nachtheil  einer  Lücke  für  die  Zeitschrift  selbst. 

An  dem  besten  Willen  hat  es  mir  nicht  gefehlt,  Ihnen  noch  ferner 
Bey  träge  zu  den  Jahrbüchern  zu  liefern,  bis  jetzt  aber  ist  es  nicht  mög- 
lich gewesen.  Besonders  hätte  ich  Lust  über  die  Ausgabe  von  Winkel- 
manns Werken  etwas  zu  sagen.  ^) 

Es  ist  mir  sehr  erfreulich  zu  hören,  dass  Sie  über  die  Pindarischen 
Sylbenmasse  gearbeitet  haben,  und  ich  werde  gewiss  die  erste  Gelegen- 
heit benutzen,  mich   durch  Ihre  Untersuchungen   zu  belehren.    Ueber 


1)  Sieh  oben  S.  240. 

2)  Sieh  oben  S.  235.  236.  249. 

3)  Sieh  oben  S.  239;  in  Wilhelm  Schlegels  Sämmtlichen  Werken  12,  321. 


Zeugnisse  zur  Pflege  der  deutschen  Litteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern     261 

Hermanns  metrische  Einsichten  kann  ich  nicht  so  günstig  urtheiien, 
wie  Sie  es  mir  in  der  Abhandlang  über  die  Griechischen  Tragiker  zu 
thun  schienen.  Seine  Grundsätze  scheinen  mir  allzu  abstract,  seine  An- 
wendung davon  gewagt,  seine  Constrnctionen  der  Sylbenmasse  nicht  be- 
friedigend, seine  Urtheile  oft  gerade  zu  geschmacklos,  wenn  er  z.  B.  die 
Kömer  in  Behandlung  des  Elegischen  Sylbenraasses  den  Griechen  vor- 
zieht, oder  behauptet,  Horaz  habe  schlechte  Hexameter  gemacht,  da 
dieser  Dichter  vielmehr  mit  der  grössten  Kunst  den  Hexameter  zum 
vertraulichen  Ton  der  Sermonen  herabgestimmt  hat. 

Mit  ausgezeichneter  Hochachtung 

Ew.  Wohlgeb. 

ergebenster 

A.  W.  Schlegel. 

Wenn  E.  W.  mich  bald  mit  einer  Antwort  erfreuen  wollen,  so  bitte 
ich  selbige  hieher  zu  richten  unter  der  Adresse:  ä  Ghaumont  par 
Ecure  Depf  de  Loire  et  Ober.  Späterhin  aber:  ä  Paris,  rue  de 
la  Concorde  No.  8  aux  soins  de  Mr.  Rocheux. 

75.    Karl  Justi  an  August  Böckh. 

Marburg,  18.  August  1810. 
Verehrtester  Freund! 

Sie  erhalten  einstweilen  von  den  mir  aufgetragenen  Rezensionen  die 
von  Jördens  —  4.  5  Band^),  und  eine  Rezension  von  eitiem  Kalender 
des  deutschen  Parnasses'),  wo  ichs  für  Pflicht  hielt,  vor  dieser  trivialen 
Kompilation  zu  warnen,  und  mein  Urtheil  zu  belegen,  damit  sich  nicht 
andere  —  durch  den  Titel  getäuscht,  dies  Büchlein  kaufen,  wie  es  mir 
leider!  ergangen  ist. 

Matthissons  Erinnerungen  habe  ich  nun  auch  erhalten,  und  nächstens 
folgt  davon  eine  Recension. 

Vielleicht  habe  ich  das  Glück,  Sie  diesen  Herbst  in  Heidelberg 
meiner  Hochachtung  persönlich  versichern  zu  können. 

Ganz  der  Ihrige 

Justi. 


1)  Auch  diese  Rezension  ist  erschienen  1811  S.  730;  im  Register:  Von  Ki; 
vgl.  oben  S.  244. 

2)  Ich  kenne  davon  den  zweiten  und  dritten  Jahrgang  für  1810  und  1811,  der 
erste  war  1783  erschienen,  elende  Charteken,  der  Anzeige  in  den  Held.  Jahrbüchern 
unwtlrdig;  Böckh  hat  die  Anzeige  mit  Recht  unter  den  Tisch  fallen  lassen. 


262  Reinhold  Steig 

76.     Wilhelm  Griram  an  August  Böckh. 

Marburg,  4.  September  1810. 
Ew.  Wohlgeb. 

bin  ich  so  frei  eine  ßeceusion  einer  dänischen  Schrift  zu  übersenden 
für  die  Jahrbücher.  Da  ich  dachte,  sie  berühre  eins  der  merkwürdig- 
sten dänischen  Bücher,  von  dem  man  doch  keine  grosse  Bekanntschaft 
in  Deutschland  vermuthen  darf,  und  als  Gelegenheitsschrift  sey  sie  auch 
nicht  in  den  deutschen  Buchhandel  gekommen,  so  hoffte  ich,  eine  Be- 
cension  davon  werde  bei  diesem  eigenen  Interesse  Ihnen  nicht  unangenehm 
seyn.  Sie  geben  freilich  der  altdeutschen  Literatur  verhältnissmässig 
Baum  genug,  wie  immer  eine  neue  Wissenschaft  vieles  zu  sagen  hat, 
welches  eine  erwachsene  voraussetzen  darf,  und  es  wird  sich  daher  für 
die  altnordische  wenig  Platz  finden,  indessen  sind  die  Fälle  nicht  häufig, 
wo  etwas  von  Belang  übers  Meer  kommt :  von  der  eben  herausgekommenen 
Niäls  Saga  lässt  sich  nicht  viel  sagen,  dagegen  soll  eine  Uebersetzung 
der  Besenischen  Edda  erschienen  seyn,  die  interessant  seyn  könnte ;  ich 
habe  sie  aber  noch  nicht  bekommen.  Auch  hälts  äusserlich  schwer,  dass 
etwas  herüberkommt:  ein  Paquet  hatte  erst  neulich  ein  französischer 
Caper  genommen,  es  hatte  drei  Monat  vor  dem  Priesen  Gericht  in  Lübeck 
gelegen,  bis  endlich  eine  günstige  Entscheidung  von  Paris  kau;,  wodurch 
ich  es' erhielt,  nachdem  ich  es  schon  verloren  gegeben.  Weil  ich  es 
sosehr  wünsche,  denke  ich  auch  an  die  Möglichkeit,  dass  die  Herrn  vom 
Magnäischen  Institut  angeregt  werden,  und  sich  endlich  anschicken  den 
zweiten  Theil  der  Sämundinischen  Edda  herauszugeben,  wenn  ihnen  die 
Becension  zu  Gesicht  kömmt.  Wenn  jemand  in  Sünden  sein  Brot  ge- 
gessen, so  sind  es  die  zwei,  die  vom  Legat  dreissig  Jahr  zur  Heraus- 
gabe; der  Manuscripte  besoldet  worden  und  gar  nichts  gethan.  ^) 

Die  Becension  von  Hagens  Nibelungen  werde  ich  anfangen,  sobald 
ich  nach  Cassel  zurückgekehrt  bin,  welches  in  einigen  Wochen  der  Fall 
seyn  wird.   Die  nothwendige  Vergleichung  nimmt  viel  Zeit  weg,  da  Sie 


1)  Die  hier  eingesendete  „Becension  einer  dänischen  Schrift**  kann  nach  den 
Umstanden  (vgl.  auch  unten  S.  266)  und  dem  Inhalte  nur  die  über  Nyernps  Axel 
und  Yalborg  sein,  die  im  Jahrgang  1811  S.  369  (Kl.  Schriften  2,  1)  zum  Abdruck 
gelangte.  Ich  weiss  allerdings  damit  nicht  recht  zu  reimen,  was  Wilhelm  Qrimm 
aus  Marburg  den  20.  September  1810  an  Nyerup  schreibt  (an  Nordische  Gelehrte 
S.  30):  „Ich  habe  in  diesen  Tagen  eine  Recension  von  Axel  und  Waldbui'g  .  .  für 
die  Heidelberger  Jahrbücher  angefangen,  und  werde  sie,  sobald  ich  wieder  in  Cassel 
bin,  beendigen."  Das  nPacket**,  von  dem  Grimm  spricht,  war  ein  von  Nyerup  ab- 
gesandtes (ebenda  S.  22.  23). 


Zeugnisse  zur  PHege  der  deutschen  Litteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern     263 

aber  noch  Vorrath  an  altdeutschen  Becensionen  haben  werden,  so  wird 
es  nichts  verschlagen,  wenn  ich  sie  Ihnen  erst  in  etwa  zwei  Monaten 
zusende. 

Ueber  die  sehr  treffliche  Recension  von  Qörres  über  die  Mythologie 
des  Jndous  par  Mr.  de  Polier  ^)  habe  ich  mich  sehr  gefreut :  haben  wir 
nicht  bald  Hoffnung  eine  Becension  seiner  Mythengeschichte  zu  erhalten  ? 
es  scheint  mir  gerade  bei  diesem  Buch,  das  so  herrlich  in  der  Idee  und 
oft  in  der  Ausführung,  nothig,  dass  es  öffentlich  anerkannt  und  gewür- 
digt werde. 

Eine  erneuerte  Becension  über  das  altdeutsche  Museum  von  meinem 
Bruder  werden  Sie  ohne  Zweifel  erhalten  haben.  ^) 

Mit  der  Versichrung  der  aufrichtigsten  Hochachtung 

Ew.  Wohlgeb. 

gehorsamer  Dr 

Wilhelm  Carl  Grimm. 
(Nachschrift:)   Die  Einlage  bitte  ich   Hrn.  Zimmer  zukommen  zu 
lassen. 

77.     Franz  Hörn  an  August  Böckh. 

Berlin,  10.  September  1810. 
Wohlgeborne, 

Hochzuverehrende  Herren, 
Indem  ich  Ew.  Wohlgeb.  die  Beurtheilung  der  mir  genannten  Schrif- 
ten zu  senden  die  Ehre  habe,  möge  es  mir  verstattet  sein,  den  Wunsch 
auszudrücken,  dass  auch  meine  Schriften,  besonders  die  neueren,  bald 
möglichst  einen  Becensenten  in  Ihren  Jahrbüchern  finden  mögen.  Ich 
darf  diesen  Wunsch  aussprechen,  indem  ich,  die  strengste  Gerechtig- 
keit für  die  erste  Pflicht  eines  Kritikers  haltend  (wie  ich  denn  dies  be- 
reits in  den  beifolgenden  Beurtheilungen  genugsam  zeige)  nichts  anders 
erwarte  und  wünsche,  als  solche.  Zugleich  würde  es  mir  angenehm 
sein,  mich  bald  wieder  durch  neue  Aufträge  von  Ihrer  Seite  beehrt  zu 

sehen.  *) 

Mit  der  ausgezeichnetsten  Verehrung 

Ew.  Wohlgeb. 

gehorsamer  Diener 

Dr.  Franz  Hörn. 

1)  in  der  Abteilung  für  Theologie  1809.  1,  241. 

2)  Sieh  oben  S.  255. 

3)  Von  Franz  Hörn  sind  eine  grosse  Anzahl  von  Rezensionen  in  die  Heidel- 
berger Jahrbücher  geliefert  worden.  Sein  Zeichen  ist  Fn.  Für  1810  nenne  ich  seine 
Anzeigen  von  Graf  Loebens  Roman  Guido  und  dessen  in  Berlin  herausgekommenen 


264  Reiohold  Steig 

78.     Carl  WindischmaDO  ao  August  Böckh. 

Aschaffenburg,  15.  October  1810. 
Lieber  Freund! 

.  .  Die  Rezension  von  Görres  kommt  spät  genug;  es  sind  nun  vier 
Hefte  erschienen,  seitdem  ich  sie  eingeschickt  —  vor  Neujahr  sollst  Du 
noch  Göthe  und  Müllers  Idee  der  Schönheit  haben,  aber  die  Darstellung 
Herders  ist  schwieriger  als  dass  ich  sie  so  im  Fluge  abthun  könnte 
—  ich  werde  also  jeden  freien  Augenblick  verwendend  doch  kaum  in 
diesem  Jahre  fertig  werden.  Was  restirt  muss  mir  ja  doch  bleiben, 
wenn  auch  eine  andre  Kedaction  eintrit.  So  will  ich  Dir  auch  nächster 
Tage  sagen,  was  ich  mir  aus  dem  Cataloge  gewählt.  Daub  erinnert 
mich  nicht  an  Tennemann  ^),  ich  fühle  daher  auch  keinen  Drang,  die  Re- 
zension fortzusezen,  besonders,  da  ich  so  ungeheuer  viel  zu  thun  habe 
und  endlich  einmal  mit  meiner  magischen  Arbeit  fertig  werden  muss  .  . 

Ewig  Dein  Windischmann. 

79.    August  Böckh  an  Jacob  Grimm. 

Heidelberg,  den  1.  November  1810. 

(Redactionsformular ;  die  ,,unten  verzeichneten  Schriften*,  deren 
Beurtheilung  gewünscht  wird,  sind:) 

Büsching,  Der  arme  Heinrich.    Zürich,  Orell  pp.*) 
Sendschreiben  über  den  Titurel  —  von  Docen.    Berlin  Salfeld.') 

Böckh. 

Gedichten ;  Ilorn,  als  Fouques  Getreuer,  hatte  Graf  Loeben  gewiss  kennen  gelernt. 
1811  wieder  eine  Reihe  Rezensionen.  1812  S.  411  H.  v.  Kleists  Kätheben  von  ihm  an- 
gezeigt (Kleists  Berliner  Kämpfe  S.  451);  ferner  (1812  S.  1030)  Frau  von  Fouques 
kleine  Erzählungen  und  Fouques  Magie  der  Natur,  wozu  man  vergleiche  Hom  an 
Fouque  aus  Berlin  6.  Juni  1812  (Briefe  1848  S.  151):  «Femer  habe  ich  an  die  Re- 
daction  der  Heidelberger  Jahrbücher  geschrieben  und  mir  die  Beurtheilung  der  Er- 
zählungen und  der  Magie  der  Natur  ausgebeten.  Da  ich  seit  zwei  Jahren  ein  so 
sehr  fleissiger  Mitarbeiter  bin,  und  man  mir  bis  jetzt  fast  immer  meine  Wünsche 
gewährt  har,  so  zweifle  ich  nicht,  man  werde  es  auch  diesmal.  Wenn  ich  nur  auch 
im  Stande  wäre,  dem  mich  so  sehr  ehrenden  Wunsch  Deiner  Gattin  ein  völliges 
Genüge  zu  leisten.  Ihrem  pfeilartig  durchdringenden  Scharfsinn  stehet  vielleicht 
kein  Mann.    Yoluisse  sat  est."    Vgl.  unten  Nr.  96  und  99. 

1)  Sieh  oben  S.  220.  245;  eine  gänzlich  anonyme  Rezension  von  Tennemanns 
Grundriss  der  Geschichte  der  Philosophie  im  Jahrgang  1812  S.  1218. 

2)  Jahrgang  1812  S.  49  (Kl.  Schriften  6,  64). 

3)  Der  Titurel  von  Wilken  unten  in  Nr.  89  zurückgenommen,  angezeigt  von 
Wilhelm  Schlegel  1811  S.  1073  (Sämmtliche  Werke  Bd.  12). 


Zeugnisse  zur  Pflege  der  deutschen  Litteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern     265 

80.    Wilhelm  Grimm  an  August  Böckh. 

Cassel,  12.  November  1810. 

Hochgeehrtester  Herr  Professor. 

Ew.  Wohlgebornen  bin  ich  so  frei  eine  Kecension  von  Arnims  Ro- 
man zu  übersenden.  Da  Sie  noch  kürzlich  über  den  Mangel  an  Recen- 
sionen  im  poetischen  Fach  sich  beklagten,  so  hoffe  ich,  dass  sie  Ihnen 
nicht  ganz  ungelegen  kommt,  und  wünsche  es.  Haben  Sie  das  durch- 
aus geistreiche  und  originelle  Buch  schon  gelesen,  so  werden  Sie  mir 
gewiss  in  allem  Lob  Recht  geben,  und  vielleicht  manchen  Tadel  zu 
streng  finden:  er  mag  ein  Beweis  seyn,  wie  redlich  die  ganze  Recen- 
sion  geschrieben  worden.  Wenn  es  Ihnen  gefällt,  sie  anzunehmen,  so 
würde  ich  es  für  eine  besondere  Freundschaft  erkennen,  wenn  Sie  solche 
bald  zum  Druck  beförderten.^) 

Zugleich  folgt  als  Fortsetzung  einer  früher  übersendeten  Recension 
von  Nyerups  Axel  und  Waldborg  eine  kurze  Anzeige  von  einer  zweiten 
Probeschrift,  mit  der  Bitte  sie  unmittelbar  auf  die  andere  folgen  zu 
lassen.') 

Die  früher  aufgetragenen  Recensionen  werden  wir  Gelegenheit 
haben,  diesen  Winter  auszuarbeiten,  und  sie  Ihnen  zusenden,  sobald  sie 
fertig  sind.     Mein  Bruder  empfiehlt  sich  mit  mir  Ihnen  bestens 

Der  Ihrige 

Wilhelm  Carl  Grimm. 


81.    Carl  Windischmann  an  August  Böckh. 

[Aschaffenburg,  November  1810] 
Lieber  Freund! 

.  .  Die  Historie  wegen  der  Jahrbücher  ist  mir  sehr  begreiflich: 
ich  mag  mich  über  nichts  mehr  wundern.  Nur  dies  wäre  mir  nicht 
lieb,  wenn  ich  die  Wahlverwandschaften  nicht  darstellen  könnte,  weil 
ich  es  Göthe  bei  Gelegenheit  selbst  mitgetheilt  habe.  Wäre  dann 
nicht  möglich,  si6  noch  ins  14,  15,  16 te  Heft  zu  bringen?  —  Unser 
freundschaftliches  Verhältniss  stört  doch  in   der  Redaktion  nicht!  und 


1)  Jahrgang  1810.  2,  374  (Kl.  Schriften  1,  289);   veigl.  Zeitechrift  f.  d.  Philo- 
logie  31,  168. 

2)  Aage  og  Eise,  hg.  von  Rahbek:  1811  S.  143  (Kl.  Schriften  2,  12). 


266  Reinhold  Steig 

als  Bedacteur  hast  Du  mir  doch  Göthe  und   Herder   übertragen. 

Schreibe  mir  hierüber  bald  .  . ') 

Lebe  wohl.    Ewig 

Dein  Windischmann. 

82.     Wilhelm  Grimm  an  August  Böckh. 

Cassel,  11.  December  1810. 
Hochgeehrtester  Herr  Professor. 
Ich  übersende  Ihnen  anliegend  eine  Becension  von  Wagners  A. B.C. 
für  die  Jahrbücher,  die  freilich  ins  poetische  Fach  gehört,  weil  aber 
das  Buch  auch  zum  Theil  in  meinen  Kram  einschlägt,  so  hab  ich  daran 
Gelegenheit  genommen,  sie  zu  schreiben.  Sollten  Sie  die  Becension 
schon  einem  andern  Becensenten  aufgetragen  haben,  so  verstehts  sich, 
dass  die  meinige  nachsteht,  und  ich  bitte  auf  diesen  Fall  nur,  sie  mir 
gelegentlich  wiederzuschicken. ') 

Mit  der  aufrichtigsten  Hochachtung  der  Ihrige 

Wilhelm  Carl  Grimm. 

83.    Karl  Justi  an  August  Böckh. 

9 

Marburg,  11.  Dezember  1810. 
Mein  Lieber! 

Hier  noch  eine  der  mir  aufgetragenen  Bezensionen!    Da  ich  höre, 

dass  es  mit  der  Bedaktion  der  Jahrbücher  eine  Veränderung  geben  wird, 

1)  Es  scheint,  dass  in  dem  Redaktions-Komitee,  ähnlich  wie  früher  (ohen 
S.  252)  aus  Creiizers  Freundschaft  mit  Arnim  und  Görres  beim  WuDderhoni,  so 
hier  aus  Böckhs  Freundschaft  mit  Windischmann  bei  Rezensionen  des  letzteren 
Schwierigkeiten  entstanden  seien.  Was  die  Wahlverwandtschaften  anlangt  (von  deren 
zweiter  Auflage  schliesslich  im  Jahrgang  1814  S.  177  eine  A.  W.  unterzeichnete 
Anzeige  erschien;  sieh  oben  S.  252.  258),  so  erfahren  wir  hier,  dass  Windischmann 
seine  Absicht  bei  Gelegenheit  Goethe  selbst  mitgeteilt  habe.  Windischmann  trat 
zuerst  1804  mit  Goethe  in  Verbindung  (Weim.  Ausgabe  IV  17,  219),  und  1811  am 
2.  Mai  (ebenda  22,  79)  dankt  Goethe  Windischmann  „für  die  mitgetheilte  Recension", 
ohne  dass  aus  den  (in  den  Lesarten  S.  425)  gegebenen  Bemerkungen  sicher  hervor- 
ginge, welche  Rezension  (doch  wohl  der  Farbenlehre?)  gemeint  sei.  Briefe  Win- 
dischmanns sind  in  Goethes Nachlass  vorhanden;  das  Weimarer  Goethe-Archiv  teilt 
mir  aus  dem  Briefe  Windischmanns  vom  13.  November  1810  die  folgende,  hierher- 
gehörige Stelle  mit:  ^ Durch  eine  Fügung  vom  Himmel  ist  mir  die  Darstellung  der 
Wahlverwandtschaften  für  die  Heidelberger  Jahrb.  übertragen.  Ich  darf  Ihnen  be- 
zeugen, dass  nicht  leicht  einer  besonderer  Schickungen  wegen  so  tief  wie  ich  von 
diesem  Werke  durchdrungen  werden  konnte.  Hiemit  sollen  Sie  gewiss  zufrieden 
seyn."   Vgl.  oben  S.  253. 

2)  Ganz  anonym  1810.  2,  371  abgedruckt,  fehlt  in  Wilhelm  Grimms  Kleineren 
Schriften,  von  mir  früher  in  der  Zeitschrift  f.  d.  Philologie  29,  206  ohne  dies  direkte 
Zeugnis  schon  für  W.  Grimm  in  Anspruch  genommen. 


Zeugnisse  zur  Pflege  der  deutseben  Litteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern     267 

SO  ersuche  ich  Sie  angelegentlichst,  die  noch  von  mir  vorräthigen  Be- 
zensionen  alle  in  dem  Jahrgang  1810  einrücken  zu  lassen;  besonders 
wünschte  ich,  dass  dieBezensionen  von  der  epigrammatischen  Anthologie  ^) 
und  von  Matthissons  lyrischer  Anthologie  und  dessen  Erinnerungen  vor 
allen  andern  abgedruckt  würden.*)  — 

Mit  unserm  trefflichen  und  kostbaren  Begräbnismonument  der  heil. 
Elisabeth  hat  es  unterdessen  leider!  eine  traurige  Veränderung  gegeben. 
Nachdem  es  sechstehalb  hundert  Jahre  in  der  Elisabethkirche  gestanden, 
ist  es  die  vorige  Woche  eingepackt  und  nach  Kassel  transportirt  worden. 
Bei  der  Zählung  der  Edelsteine  fand  sichs,  dass  noch  824  Edelsteine 
(Sapphire,  Smaragde,  Bubinen,  Onyxe,  Amethyste,  3  ungeheuer  grosse 
Perlen  u.  s.  w.)  daran  waren,  herrliche  Gemmen  und  Kameen  von  grie- 
chischer Arbeit,  meist  von  Bittern  auf  ihren  Kreuzzügen  gesammelt. 
Diese  haben  wir  alle  erst  sorgfältig  abgedrückt.  Das  Publikum  soll  in 
der  Folge  manches  erfahren.  Sagen  Sie  doch  dies,  nebst  meiner  besten 
Empfehlung,  meinem  Freunde  Creuzer. 

Leben  Sie  wohl.    Hochachtungsvoll 

Der  Ihrige 

Justi. 

N.  S.    Vor  einigen  Tagen  habe  ich  eine  Gehalts-Zulage  erhalten.    Eben 

so  die  Hm.  Wagner,  Tennemann  und  Wenderoth. 

84.    Carl  Windischmann  an  August  Böckh. 

Aschaffenburg,  25.  Dezember  1810. 

Lieber  Freund, 

Verzeihe  dass  ich  Dich  so  lange  ohne  Antwort  Hess.  Deinem  freund- 
lichen Vorschlag,  die  Bezension  der  Wahlverwandschaften  in  diesem 
Jahre  noch  einzurücken,  konnte  ich  nicht  entsprechen,  was  mich  aller- 
dings schmerzt.  Mein  Georg  wurde  eben  in  jenen  Tagen  gefährlich 
krank  und  ist  jezt  noch  reconvalescent,  meine  ganze  Familie  wurde  nach 
und  nach  unpässlich  und  ich  war  nicht  im  Stande,  das  geringste,  viel 
weniger  so  wichtige  Gegenstände,  wie  in  jenem  Buche,  rein  und  heiter 

1)  Die  Rezension  von  Weissers  Epigrammatischer  Anthologie  1810  S.  1132, 
im  Register:  von  Ki. 

2)  Matthissons  Erinnerungen:  1813  S.  355,  1815  S.  1037,  1816  S.  1240;  ge- 
zeichnet mit  Ki.  Ueberhanpt  bringen  noch  die  nächstfolgenden  Jahrgänge  eine 
Reihe  kleiner  Anzeigen  von  Jasti,  so  dass  eine  viel  spätere  Mitteilung  Justis  an 
Böckh  nach  Berlin:  „Seit  Ihrem  Abgange  von  Heidelberg  habe  ich  wenig  oder 
gar  keinen  Antheil  mehr  an  den  Heidelberger  Jahrbüchern  genommen",  kaum  zu 
Recht  bestehen  kann. 


268  tlemhold  Bteig 

durchzudenken.    Wenns  nicht  möglich  ist,   dass   der  Auftrag  mir  er- 
halten werde*  (so  wie  Herder),  da  er  mir  einmal  geschehen,   so  muss 

ichs  eben  fahren  lassen  .  . 

Ewig  Dein  Windischmann. 


85.    Franz  Hörn  an  August  Böckh. 

Berlin,  17.  Januar  1811. 

Es  ist  mir  erfreulich,  Ihnen,  verehrtester  Herr  Professor,  die  bei- 
liegenden Recensionen  für  Ihre  Jahrbücher  bereits  jetzt  übersenden  zu 
können,  wobei  ich  nur  bedauere,  dass  ich  vier  der  mir  aufgetragenen 
Schriften  (Tiraoleon,  Etwas  über  Theater,  Vorlesungen  über  Deutsche 
Klassiker  und  Streckfuss  Klementine)  nicht  habe  auftreiben  können.  In 
mehrern  hiesigen  Buchhandlungen  waren  meine  Nachfragen  vergeb- 
lich, doch  wird  es  mir  in  Zukunft  nicht  fehlen,  sie  zur  Stelle  zu  schaf- 
fen, und  ich  hoffe  deshalb,  die  Recensionen  wenigstens  gegen  die  Oster- 
messe senden  zu  können.  Alle  übrigen,  (26  Blätter)  die  ich  wegen 
jener  wenigen  fehlenden,  nicht  aufhalten  wollte,  erfolgen  hiebei,  und  ich 
wünsche  sehr,  dass  sie  den  Ernst  und  Eifer  bezeichnen,  den  ich  für  die 
Sache  hege,  und  stets  hegen  werde.  ^) 

Mit  dem  innigsten  Vergnügen  vernahm  ich  Ihren  Ruf  hieher,  und 
die  Uebereinstinimung  desselben  mit  Ihrer  Neigung.  Ich  hege  die 
Hoffnung,  dass  Sie  Sich  hier  recht  glücklich  fühlen  werden,  denn  in 
der  That  ist  Berlin  überhaupt,  so  wie  die  Universität  in  dem  herrlich- 
sten Gedeihen. 

Verstatten  Sie  mir,  die  Bitte,  dass  auch  meine  eignen  Schriften 
baldmöglichst  recensirt  werden  mögen,  zu  wiederholen,  eine  Bitte  die 
sich  gewiss  durch  sich  selbst  rechtfertigt. 

Mit  der  ausgezeichnetsten  Hochschätzung 

Ew.  Wohlgeb. 

gehorsamer  Diener 

Franz  Hörn. 

N.  S.  Der  sichern  und  schnellern  Ankunft  wegen  frankire  ich 
diese  Beiträge  nicht;  bitte  aber,  mir  diese  Auslage  zu  berechnen  und 
vom  Honorar  abzuziehen. 


2)  Sieh  oben  S.  2G3  zu  Brief  Nr.  77. 


Zeugnisse  zur  Pflege  der  deutschen  Litteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern     26d 

86.    Carl  Windischmann  an  August  Böckh. 

Aschaffenburg,  31.  Jenner  1811. 
Lieber  Freund! 

Ich  danke  Dir  für  die  Notiz  wegen  der  Becension  von  Herder  und 

Göthe  —  wünschte  aber,   dass  Du  mir  von  Wilken  die  bestimmte  Er- 

klärung  der  Aufnahme  verschafftest  oder  mir  schreibst,  ob  ich  mich  an 

denselben  selbst  wenden  soll.  Ich  bin  nicht  sehr  interessirt,  ferner  vieles 

für  die  Jahrbücher  zu  thun;  aber  diese  Sachen  mögte  ich  nach  Müsse 

bearbeiten   und   darin   aufgenommen   haben.    Vieleicht  macht  sich  in 

Berlin  eine  andre,   geistigere  Unternehmung   —    dann   vergiss  meiner 

nicht  .  . 

Ewig  Dein  Windischmann. 

87.    Achim  von  Arnim  an  August  Böckh. 

[Berlin,  ohne  Datum.] 

Lieber  Böckh!  Sie  wissen,  dass  Sie  ein  Doppeldaseyn  auf  zwey 
Universitäten  leben,  ich  weiss  daher  nicht,  ob  Sie  dieser  Brief  noch  an- 
trifft. Herzlich  lieb  war  es  mir  gewesen,  wenn  Sie  jezt  schon  in  dem 
grossen  Universitätsgebäude  anzutreffen  wären,  wo  alles  in  gutem  Geiste 
gedeiht.  Wie  gehts  mit  den  Jahrbüchern?  Mancherley  Arbeiten  und 
störende  persönliche  Geschäfte  haben  mich  vom  Rezensieren  abgehalten, 
doch  habe  ich  jezt  wieder  Lust  gewonnen.  Wer  trit  nun  an  Ihre 
Stelle?  Sind  Sie  schon  abgegangen?  —  Ich  sende  Ihnen,  oder  dem 
Nachfolger,  Siebmanns  Antwort  auf  den  Einladungsbrief Oi  zugleich 
sende  ich  Ihnen  Einladungsgrüsse  aus  der  fiedaktion  aller  Ihrer  hiesigen 

Freunde,  insbesondre 

von  Ihrem  Achim  Arnim. 

88.    Friedrich  Wilken  an  Jean  Paul. 

Heidelberg,  d.  13.  May  1811. 

Erlauben  Ew.  Wohlgebohren,  dass  ich  dem  gedruckten  Schreiben 
noch  einige  schriftliche  Worte  beylege,  um  Ihnen  unsere  Jahrbücher 
zu  fernerer  wohlwollender  Beförderung  und  Unterstützung  zu  empfehlen, 
so  wie  sie  sich  derselben  bisher  zu  erfreuen  hatten. 

Für  Ihre  Beurtheilung  von  Eginhard  und  Emma  würde  ich  Ihnen 
früher  meinen  Dank  gebracht  haben,  wenn  ich  nicht  durch  eine  Reise 
nach  Paris,   von  der  ich  erst  seit  wenigen  Tagen  zurückgekehrt  bin, 

1)  In  BöckhB  Nachlasse  nicht  vorhanden,  also  wohl  an  den  Nachfolger  ah- 
gegeben;  vgl.  oben  S.  246.  251. 


270  Reinhold  Steig 

daran  wäre  verhindert  worden.  Das  Becepisse  hat  Ihnen  indess  das 
Morgenblatt  überliefert,  wo  Einer  der  schlechtesten  Sturnnwächter  von 
dem  hiesigen  aesthetischen  Wartthurm  gar  voreilig  über  Ihr  ür- 
theil  über  Arnims  Halle  und  Jerusalem  Lärm  geblasen  hat.  Ihre  Be- 
cension  ist,  (buchstäblich  fast  gemeint,)  von  der  Post  in  die  Druckerey 
gewandert,  und  dennoch  ist  fast  zu  gleicher  Zeit  das  Stück  vom  Morgen- 
blatt mit  dem  Geschrey  des  Julius  hier  angelangt,  wo  das  Blatt  der 
Jahrbücher  ausgegeben  wurde.  Darum  muss  im  Volk  der  Drucker  Be- 
stechung und  Verrath  obwalten.  Es  wäre  mir  nicht  unangenehm,  wenn 
Sie  gelegentlich  dem  Herrn  Julius  zutheilen  wollten,  was  ihm  gebührt.^) 

1)  Diese  Mitteilung  Willcens  1988t  uns  einen  überraschenden  Blick  in  die  Hei- 
delberger Yerbältnisse  thun,  die  am  so  unerquicklicher  sein  mussten,  als  sie  eich 
auf  80  engem,  die  Beteiligten  immer  wieder  persönlich  zusammenfahrenden  Räume 
abspielten.  In  seiner  Rezension  von  Fouqu^  Eginhard  und  Emma  1811  S.  292 
(oben  S.  244)  hatte  Jean  Paul  im  Eingang  vergleichend  mit  Fouque  gesagt,  „es  sei 
eine  n&hrend-erquickende  Erscheinung,  dass  gerade  jetzt  so  viele  geist-  und  kennt- 
nissreiche Männer  —  Hagen,  ßüsching,  Görres,  Brentano,  Arnim  etc.  —  uns  durch 
das  Ausgraben  und  Abformen  Altdeutscher  Götterstatnen  und  Ahnenbilder  .  .  zu 
trösten,  zu  erheben,  ja  zu  reinigen  suchten**,  und  in  einer  Note  dazu  unter  dem 
Texte  bemerkt:  »Hm.  v.  Arnims  „Halle  und  Jerusalem,  Studentenspiel 
und  Pilgerabentheuer**,  verdient,  so  wie  seine  Geschichte  »der  Gräfin  Dolores** 
durch  die  Kraft  des  Komischen,  des  Romantischen,  des  Charakteristischen  and  des 
Altdeutschen  weit  mehr  LfOb  als  ihm  verwöhnte,  obwohl  von  einigen  Ecken  mit 
Recht  verwundete  Kunstrichter,  welche  der  Demantschneide  die  Perlenrinde  vor- 
ziehen, werden  geben  wollen.**  Von  dieser  Rezension  erhielt  die  Yossische  Partei, 
vor  dem  Erscheinen,  in  der  Korrektur  auf  unzulässige  Weise  Kenntnis  und  lieferte 
schleunigst  einen  Gegenartikel  in  das  Morgenblatt,  der  aber  das  Missgeschick  hatte, 
in  Nr.  84  vom  8.  April  1811,  fast  früher  als  Jean  Pauls  Rezension  herauszukommen. 
Wilken  gebraucht  den  Ausdruck:  »von  dem  hiesigen  ästhetischen  Wartturm.**  Es 
ist  dies  allerdings  bildlich,  aber  eigentlich  doch  wirklich  gemeint,  wie  auch 
sonst  Öfter  vom  alten  Voss  in  seinem  Thurm  gesprochen  wird.  Seit  ich  letzte  Pfing- 
sten Voss'  Haus  (eine  Woche  vor  dem  Abbruch!)  gesehen  habe,  verstehe  ich  die 
Anspielung.  An  dem  kleinen  Hause,  das  ursprünglich,  nicht  mehr  zuletzt,  in  einem 
Garten  mit  Steinmauer  lag,  war  ein  eigenes,  turmartig  aufsteigendes  Treppenhaus 
angebaut,  dessen  oberstes  Geschoss  Voss  zur  Arbeitsstube  diente.  Da  sass  in  der 
That  der  alte  Voss  wie  auf  einem  Thurme,  und  von  da  oben  aus  ist  die  Polemik 
gegen  die  Heidelberger  Romantiker  geleitet  worden.  Hier  hatte  auch  der  Morgenblatt- 
Artikel  «Deutschlands  Wiedergeburt  durch  seine  neueste  Literatur**  seinen  Ursprung. 
nEin  modern  christlicher  Recensenf,  beginnt  er,  „hat  neulich  in  einem  kritischen 
Blatte,  welches  unter  den  Anspielen  einer  Akademie  herauskommt,  ein  Wort  des 
Trostes  für  Deutschland  und  die  Deutschen  gesprochen,  und  sehr  treuherzig  ver- 
sichert, die  Herrn  Achim  v.  Arnim,  Brentano,  Görres,  und  die  übrigen  Gevattern 
und  Gevatterinnen  hätten  keine  ernstlichere  Angelegenheit,  als  ihre  in  den  Kotb 
gefallenen  Landsleute  zu  erheben  und  —  zu  reinigen.**  Von  den  Veteranen  unserer 
Litteratur,  von  Wieland,  Voss,  Goethe,  Klinger  etc.  erwarte  der  Rezensent  natürlich 
nichts  mehr,  „dieser  Ehrenmann,  der  beym  Diamant  nicht  auf  das  Wasser,  sondern 
auf  die   Schärfe  sehe.**    Das   neueste   Produkt   der  Karfunkelmanie  sei  „Halle 


Zeagnisse  zor  Pflege  der  deutschen  Litteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern    271 

Es  freut  mich  unendlich,  dass  die  Bedaction  der  Jahrbücher,  welche 
ich  nach  Herrn  Prof.  Böckh's  Abgang  habe  übernehmen  müssen,  mir 
Gelegenheit  geben  wird  zu  näherer  Verbindung  mit  Ihnen.  Am  liebsten 
wäre  es  mir,  wenn  die  Correspondenz  bald  nicht  mehr  schriftlich  wäre, 
und  Sie  Ihren  Plan  ausführten,  den  ich  mit  Freuden  vernommen  habe, 
in  das  anmuthige  Neckarthal  Ihren  Wohnsitz  zu  verlegen. 

Genehmigen   Sie   die  aufrichtigste  Versicherung   meiner  innigsten 

Verehrung. 

Wilken 

Professor. 

89.    Friedrich  Wilken  an  Jacob  Grimm. 

Heidelberg  d.  14.  Juni  1811. 
Ew.  Wohlgebohren 

nehme  ich  mir  die  Freyheit,  um  die  Beurtheilung  der  auf  dem  Um- 
schlage bemerkten  Schriften  für  unsre  Jahrbücher  zu  bitten.  ^)  Ich  hoffe, 
dass  Sie  künftig  sich  derselben  so  gütig  annehmen  werden,  als  bisher. 
Es  ist  mir  äusserst  unangenehm,  dass  von  Herrn  Prof.  Böckh  das 
Buch  der  Liebe  zweymal  aufgetragen  worden,  und  dass  ich  dadurch 
genöthigt  worden  bin,  die  reichhaltige  Beurtheilung,  welche  Sie  einge- 
sandt haben,  zurückzulassen.  Ihrem  Wunsche  gemäss  habe  ich  sie 
Herrn  Zimmer  zugestellt,  um  sie  Ihnen  bey  erster  Gelegenheit  zugehen 

und  Jernsalem*,  wo  alle  Vemichtheit  durch  eine  Pilgerfahrt  zum  Grabe  des  Er- 
lösers gebüsst,  und  der  stupideste  Monachismus  als  die  letzte  Zuflucht  unserer  Zeit 
gepredigt  werde.  Blätter,  die  unter  der  Aufsicht  protestantischer  Professoren  her- 
ausgegeben würden,  redeten  einer  solchen  Verkehrtheit  das  Wort!  Und  zum  Schlüsse 
gebt  es  dann  höhnisch  noch  gegen  den  «musivisch-dichteuden  Kecensenten"  los,  der 
schliesslich  auf  Karls  Versuche  und  Hindemisse  (oben  S.  258)  verwiesen  wird.  In 
diesem  Romane  macht  Jean  Paul  eine  bestimmte  Figur  und  wird,  unbekannt,  aus 
seinem  Gespr&ch  erraten:  was  auch  nicht  schwer  sei,  da  ein  jeder,  der  nur  eine 
Seite  von  ihm  gelesen  habe,  ihn  an  den  ersten  vier  Worten  erkennen  müsse.  Da- 
mit war  in  dem  Morgenblatt-Artikel  angedeutet,  dass  man  auch  Jean  Paul  als  Re- 
zensenten erkannt  habe.  Im  Morgenblatt  ist  ^Julius"  unterschrieben.  Es  kann 
dies  nicht  der  Hamburger  Dr.  Julius  gewesen  sein  (Kemers  Briefwechsel  1,  134). 
Arnim  hielt  denn  auch  ohne  weiteres  Alois  Schreiber,  der  zu  Voss'  Partei  gehörte, 
für  den  Verfasser;  an  Zimmer  S.  151:  ^Dass  Ihnen  die  Feindschaft  der  Vosse  viel 
Schaden  thut,  ist  unleugbar  .  .  Was  hat  es  geholfen,  dass  Sie  dem  Schreiber 
die  «Aesthetik"  in  die  Welt  befördert?  Kr  hat  , Halle  und  Jerusalem"  im  Morgen- 
blatt mit  aller  Niederträchtigkeit  zu  besudeln  gesucht,  und  das  nicht  der  Sache 
wegen,  da  wSre  Zeit  gewesen,  wenn  es  vertrieben,  sondern  im  Voraus,  um  den  Ab- 
satz zu  hindern.** 

1)  Der  Umschlag  nicht  erhalten. 

NEUE  HEIDELB.  JAHRRUECIIRR  XI.  18 


272  Reinhold  Steig 

ZU  lassen.  Eine  günstige  Gelegenheit,  die  Bückreise  des  Herrn  Prof. 
Harding  aus  aus  Göttingen,  habe  ich  leider  durch  Vergessenheit  versäumt.^) 

Unendlich  freue  ich  mich,  bey  dieser  Veranlassung  in  nähere  Ver- 
hältnisse mit  Ihnen  zu  treten. 

Genehmigen  Ew.  Wohlgebohren  die  Versicherung  meiner  innigsten 

Hochachtung 

Wilken. 

(Nachschrift:)  Die  Recension  von  Docens  Sendschreiben  über 
Titurell  bitte  ich  zurückzulassen,  wenn  Sie  dieselbe  noch  nicht  ange- 
fangen haben  sollten.  ^)  Um  die  übrigen  bitte  ich  recht  sehr,  auch  um 
baldige  gefällige  Mittheilung. 

90.    Johann  Georg  Zimmer  an  August  Böckh. 

Heidelberg,  den  Uten  July  1811. 
Lieber  Böckh! 

Nimms  nicht  übel,  dass  ich  Deinen  in  Leipzig  empfangenen  Brief 
so  spät  beantworte:  Du  weist,  wies  geht.  Es  freut  mich  von  Herzen, 
dass  Du  Dich  in  Berlin  wohl  fühlst.  Es  konnte  auch  nicht  fehlen  und 
Dein  Sinn  hat  immer  dahin  gestanden.  —  Wir  leben  hier  so  nach  alter 
Weise,  es  nimmt  aber  immer  mehr  und  mehr  einer  vom  andern  keine 
Notiz.  An  die  Dauer  unsrer  Universität  ist  übrigens  jetzt  kein  Zweifel 
mehr  und  man  hat  Grund  von  dem  neuen  Grossherzog  recht  viel  Gutes 
auch  für  sie  zu  hoffen. 

Deinen  Auftrag  nach  Karlsruhe  habe  ich  besorgt.  Prof.  Voss  be- 
hauptet den  Schützischen  Aeschylus  niemals  von  Dir  gehabt  zu  haben. 
—  Nach  unserm  Buche  sind  alle  Hefte  des  vorigen  Jahrgangs  der  Jahr- 
bücher an  Dich  expedirt  worden,  sollte  Dir  eins  oder  das  andere  fehlen, 
so  zeige  mirs  an  und  es  soll  nachfolgen.') 

Grüsse  unsere  Freunde  und  sage  Arnim,  ob  er  mir  nicht  auf 
meinen  Brief  antworten  wollte?*) 

Gott  behüt  Dich!  Dein  Zimmer. 

Lass  doch  die  Einlage  gleich  abgeben. 

1)  Über  die  Angelegenheit  vgl.  oben  S.  237.  255. 

2)  Rezensiert  von  A.  W.  Schlegel,  vgl.  oben  S.  265;  Jacob  Grimms  ^verspä- 
tete**  Anzeige  ebenfalls,  wie  die  vom  Buch  der  Liebe,  in  der  Leipziger  Literatur- 
Zeitung  1812  (Kleinere  Schriften  6,  116). 

3)  Der  „in  Leipzig  empfangene  Brief"  Böckhs,  vom  1.  Mai  1811,  steht  bei 
Zimmer  S.  303 ;  es  ist,  wie  diese  Antwort  Zimmers  zeigt,  Einiges  daselbst  ausge- 
lassen worden. 

4)  Bald  darauf  musste  Zimmer  allerdings  Arnims  Brief  vom  28.  Juni  1811 
(Zimmer  S.  152)  erhalten  haben;  die  „Einlage**  in  der  Nachschrift  meint  den  fol- 
genden Brief  Nr.  91. 


2eugni8Be  zur  Pflege  der  deutschen  Litteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern    273 

91.    Johann  Georg  Zimmer  an  Clemens  Brentano  nach  Berlin,  und 
Achim  von  Arnim  an  Brentano  nach  Bukowan. 

Heidelberg,  den  17ten  July  1811. 

Ich  schreibe  Ihnen,  lieber  Brentano,  ohne  zu  wissen,  ob  mein  Brief 
Sie  noch  trifft,  oder  ob  ich  Sie  nicht  fräher  hier  sehe,  als  mein  Brief 
nach  Berlin  kommt.  Ich  bin  von  einem  Tag  zum  andern  abgehalten 
worden  Ihnen  zu  schreiben.*) 

Herzlich  gefreut  hat  mich  die  Nachricht  dass  wir  Sie  nächstens 
hier  sehen  sollen :  ich  dachte  Sie  hätten  Heidelberg  ganz  vergessen,  denn 
ich  weis  dass  Sie  in  Berlin  sehr  zufrieden  sind.  Ich  sehne  mich  recht 
darnach  so  vieles  mit  Ihnen  zu  sprechen. 

Einliegend  erhalten  Sie  Ihrem  Verlangen  gemäss  Mohrs  Rechnung. 
Es  hat  mich  Kampf  gekostet  Ihnen  die  f.  24  für  die  Anzeige  gegen  Voss 
im  Correspondenten  anzuschreiben*),  allein  wir  haben  für  den  Abdruck 
derselben  in  den  Literatur-Zeitungen  und  einigen  aqdern  Blättern  ausser- 
dem f.  40—50  bezahlt  und  da  die  Sache  doch  mehr  persönlich  war,  so 
hielt  ichs  für  schicklich  die  Kosten  zu  vertheilen.  Dass  Sie  das  Wunder- 
horn  defekt  erhalten  haben  ist  mir  sehr  leid:  Sie  werden  nun  den 
Sten  Theil  von  Leipzig  aus  erhalten  und  ich  bitte  Sie  das  Exemplar 
vom  2ten  Theil  durch  Reimer  zurückzusenden.  —  Wenn  Sie  nur  die 
f.  19  an  Arnim  bezahlen  wollen,  so  lassen  wir  den  Rest  der  Rechnung 
auf  künftige  Abrechnung  stehen.  Sie  wissen,  lieber  Brentano,  dass  ich 
stets  nichts  mit  grösserer  Liebe  drucke,  als  etwas  von  Ihnen :  auch 
waren  wir  ja  in  Hinsicht  der  Kindermährchen  eigentlich  schon  einander 
gewiss:  allein  die  entsetzlich  traurige  Lage  des  Buchhandels  und  die 
noch  traurigere  Aussicht  in  die  Zukunft,  hat  uns  zu  dem  festen  Entschluss 
gezwungen,  nicht  eher  wieder  etwas  neues  zu  unternehmen,  bis  die 
Sachen  sich  einigermassen  geändert  und  bis  nahmentlich  die  Beschrän- 
kungen, welche  durch  die  K.  franz.  Dekrete  der  Buchhandel  erfahren  hat, 
einigermassen  wieder  beseitigt  sind.  Demohngeachtet  möchte  ich  die 
Kindermährchen  um  keinen  Preiss  fahren  lassen,  wenn  es  irgend  ge- 
schehen kann,  dass  uns  die  dadurch  zu  übernehmenden  Verbindlichkeiten 
nicht  zu  sehr  drücken.  Ich  bitte  Sie  daher  wegen  des  Preisses  der 
Kupferstiche  mir  die  möglichsten  Details  zu  verschaffen,  auch  zu  sagen, 

1)  Dies  Schreiben  bezieht  sich  auf  Clemens  Brentano's  Brief  vom  6.  Juni  1811 
(Zimmer  S.  192),  worin  er  Rechnung  von  Mohr  verlangt,  den  Verlag  seiner  Kinder- 
märcben  berührt  und  für  Anfang  August  seinen  Besuch  m  Heidelberg  in  Aussicht 
Stent. 

2)  Sieh  oben  S.  197. 

18* 


274  Reinhold  Steig 

ob  sie  illuminirt  werden  müssen,  ob  und  um  welchen  Preiss  dies  dort 
geschehen  könnte.  —  Am  leichtesten  wäre  der  Sache  geholfen,  wenn 
Sie  durch  Ihren  Hrn.  Bruder  in  Frankfurt  das  Capital  gegen  die  Hälfte 
des  Gewinnes  könnten  herschiessen  lassen?!  —  Eine  grosse  Freude 
würden  Sie  mir  machen,  wenn  Sie  mir  einmal  einige  der  Mährchen 
schicken  wollten. 

Ich  verspare  alles  Weitere  auf  Ihre  Ankunft,  und  grüsse  sie  herzlich ! ') 

Ihr 

tr.  Zimmer. 

(Auf  der  vierten  Seite  desselben  Briefbogens  Arnim  weiter:) 

Lieber  Clemens !  Ich  habe  den  Brief  des  Zimmer  eröffnet,  weil  ihn 
Böckh  als  etwas  sehr  eilig  zu  besorgendes  erhalten  hatte,  ich  dachte, 
dass  etwa  wegen  der  Hulda  Vorkehrungen  zu  treffen,  Du  wirst  aber 
sehen,  dass  nichts  darin  sonderliche  Eile  hat.  Ich  reise  in  diesen  Tagen 
fort  über  Halle  und  Weimar,  ob  ich  mich  dann  nach  Böhmen  wende, 
um  Savigny  zu  repräsentiren,  der  wegen  seiner  Collegia  die  dringenden 
Bitten  von  Motz  nicht  erfüllen  kann  mit  ihm  in  Bukowan  zusammen- 
zutreffen, oder  ob  ich  an  den  Rhein  gehe,  das  ist  mir  noch  nicht  ganz 
klar.  Steffens,  der  Dich  sehr  vermisste,  war  hier  und  wollte  mir  aus 
Halle  schreiben,  ob  ich  während  des  Aufenthalts  der  Luise  in  Reichardts 
Hause  in  die  Kost  genommen  werden  könnte,  der  Mann  hats  aber  ver- 
gessen, so  komme  ich  wahrscheinlich  um  diese  Freude,  Louisen  zu 
sprechen.  —  Meine  Judengeschichte  hat  seit  Deiner  Abreise  eine  Ka- 
tastrophe erlebt,  die  mir  zu  einem  Buche,  woran  ich  arbeite,  sehr  ge- 
legen gekommen,  ich  wäre  sonst  nimmermehr  herausgekommen.  Ich 
sass  im  Badehause  und  lass  in  der  Zeitung  von  den  Schnürbrüsten,  es 
war  am  Tage  wo  Du  abreistest,  war  mit  drey  hundert  Thalern  bepackt 
und  hundsmüde,  trit  ein  fremder  Mensch  herein,  springt  mit  erhobnem 
Stock  auf  mich  schimpfend  los,  ich  habe  meinen  Stock  zum  Glück  an 
der  Hand,  pariere  aus,  haue  nach,  er  taumelt  und  blutet,  ich  drück 
ihn  an  die  Erde,  übergeb  ihn  den  Badeknechten  in  der  Meinung,  es 
sey  ein  Wahnwitziger,  er  aber  schreit  mir  zu,  er  sey  der  Moritz  Itzig, 
worauf  ich  die  Sache  der  Justiz  übergeben,   die  an  dem  Juden  nach 


1)  Brentano  aber  war  nicht  mit  Schinkel  an  den  Rhein  gegangen,  sondern 
nach  Bukowan  in  Böhmen.  Dahin  sendet  ihm  Arnim  den  Brief  nach.  Arnim  selbst 
entschied  sich  in  Weimar,  nicht  nach  Böhmen,  sondern  an  den  Rhein  su  reisen, 
und  sah  noch  vor  Ende  des  Jahres  auch  die  Heidelberger  Freunde  wieder.  —  Diese 
Nachschrift  Arnims,  jetzt  erst  mir  bekannt  geworden,  gehört  zu  »Arnim  und  Bren- 
tano** S.  288.  3ß4,  wo  das  N&here  über  die  Reise  zu  ersehen  ist. 


ZeugDiBse  zur  Pflege  der  deutschen  Litteratar  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern    275 

Herzenslust  examinirt.    Mir  ist  die  Katastrophe  das  Liebste,   denn  die 

Geschichte  hat  mich  innerlich  in  der  Hitze  durch  das  dumme  Gerede 

so  tief  gekränkt,   dass  sich  meine  Natur  endlich  in  einer  Buhr  Luft 

machte,  von  der  mich  Dr.  Meyer  kurirte.  *)    Viel  Grüsse  an  Christian, 

ich  schriebe  mehr,  wenn  ich  Zeit  hätte. 

Dein  Achim  Arnim. 

92.    Wilhelm  Grimm  an  Friedrich  Wilken. 

Cassel  am  23.  JuL  1811. 
Ew.  Wohlgebornen 

geehrtes  Schreiben  vom  14.  Juni  habe  ich  richtig  erhalten.  Mit 
Vergnügen  werde  ich  noch  ferner  an  den  Jahrbüchern  Theil  nehmen, 
so  wie  auch  mein  Bruder.  Als  Beweis  übersende  ich  Ihnen  hierbei  von 
diesem  eine  früherhin  schon  aufgetragene  Becension  von  Büschings 
armen  Heinrich  und  von  mir  eine,  welche  verschiedene  neuere 
Schriften  über  die  nordische  Mythologie  zusammenfasst. *)  Ich 
wünsche,  dass  Sie  Ihnen  angenehm  sey,  und  da  ich  die  Bücher  selbst 
nicht  ohne  manichfache  Mühe  und  Gefahr  erhalte,  denn  noch  vorigen 
Herbst  ward  ein  Paquet  von  einem^  französischen  Gaper  genommen,  und 
endlich  von  dem  PriesenGericht  zu  Paris  noch  frei  gegeben,  als  ich  es 
schon  verloren  glaubte,  so  denke  ich,  dass  sie  in  Deutschland  selten 
und  auch  noch  keinem  andern  Becensenten  aufgetragen  sind. 

Ew.  Wohlgeb.  könnten  mir  einen  besonderen  Gefallen  erzeigen,  wenn 
Sie  die  Güte  hätten,  diese  Becension  bald  zum  Druck  zu  befördern, 
und  mir  die  Numem,  worin  sie  steht,  auf  der  Post  sous  bände  zuzu- 
schicken. Da  ich  sie  einem  Freunde^),  der  sich  lebhaft  dafür  interessirt, 
nach  Copenhagen  senden  will,  so  war  es  mir  ungemein  lieb,  wenn  ich 
einen  Abdruck  auf  das  allerfeinste  und  leichteste  Papier,  das  man  haben 
kann,  erhalten  könnte,  es  versteht  sich  auf  meine  Kosten.  Da  alle 
Briefe  von  hier  dahin  nach  dem  Gewicht  bezahlt  werden,  so  kommt  un- 
gemein viel  darauf  an,  und  ein  freilich  dicker  Brief,  den  man  nicht  auf 
die  Paketpost  gegeben,  hat,  was  unglaublich  lautet,  mit  hundert 
dänischen  Thalern  Porto  müssen  bezahlt  werden. 

Was  die  von  Ihnen  gütigst  zum  Becensiren  angetragenen  Bücher 
betrifft,  so  wollen  wir  sie  gern  übernehmen,  indessen  ist  bis  letzt  noch 

1)  Über  die  „Jadengeschichte*  s.  Kleists  Berliner  Kämpfe  S.  632.  Das  „Buch, 
woran  Arnim  arbeitete**  sind  doch  wohl  die  Novellen  von  1812.  Dr.  Heinrich  Meyer 
war  Mitglied  der  christlich-deutschen  Tischgesellschaft. 

2)  Armer  Heinrich :  oben  S.  264.  Schriften  über  die  nordische  Mythologie : 
Jahrgang  1811  8.  774  (Kl.  Schriften  2,  14). 

3)  Nyerup. 


276  Reinbold  Steig 

keins  davon  wirklich  erschienen,  und  ich  glaube  auch  nicht,  dass  dies 
vor  Herbst  der  Fall  seyn  wird. 

Mein  Bruder  behält  Ihrem  Wunsch  gemäss  die  Becension  von  Do- 
cens  Titurell  zurück  und  bittet  sich  dafür  Sailers  Weisheit  auf  der 
Gasse  aus  ^),  so  wie  er  auch  in  kurzem  so  frei  seyn  wird,  eine  Recension 
von  dem  Stück  aus  der  Edda  Sämundar,  welches  Gräter  edirt,  zuzu- 
senden. *) 

Mit  der  Versicherung  der  aufrichtigsten  Hochachtung 

Ew.  Wohlgeb. 

ergebenster  Dr 

W.  C.  Grimm. 

(Nachschrift:)  Ich  bitte,  meinen  Namen  gleich  unter  die  Kec. 
über  nordische  Myth.  drucken  zu  lassen. 

93.     Friedrich  Wilken  an  Jacob  Grimm. 

Heidelberg  d.  20.  Sept.  1811. 
Ew.  Wohlgebohren 

habe  ich  die  Ehre  hiedurch  anzuzeigen,  dass  ich  die  Beurtheilung  des 
Gräterschen  Specimen  heute  richtig  empfangen  habe.  Auch  die  erste 
Abschrift  war  mir  richtig  vor  etwa  vier  Wochen  zugekommen,  und 
zwar  durch  Herrn  Prof.  Gräter  in  Schwäbisch  Hall,  wie  ich  heute  aus 
einem  Briefe  desselben  an  mich  erfahren  habe.  ^ 

Ihr  Herr  Bruder  wird  den  Abdruck  seiner  Beurtheilung  der  Schrif- 
ten über  die  Nordische  Mythologie,  welche  ich  ihm  auf  die  angegebene 
Art  zugeschickt  habe,  zu  seiner  Zeit  richtig  empfangen  haben. 

Die  erste  Abschrift  Ihrer  Beurtheilung  von  Gräter  war  schon  seit 
mehren  Tagen  in  der  Druckerey,  ich  habe  sie  nun  zurückgenommen 
und  an  deren  Statt  die  zweyte  hingegeben.    Sie  wird  im  letzten  Bogen 

1)  Nicht  erschienen,  aber  1816  in  der  Rezension  von  ßeneckcs  Ausgabe  des 
Bonerius  (Kl.  Schriften  6,  214)  kommt  Jacob  Grimm  auf  dies  Buch  zurück.  Savigny 
an  Wilhelm  Grimm  8.  JuU  1811  (ungedruckt):  „Dass  Euch  Sailers  Weisheit  auf 
der  Gasse  gefallen  hat,  freut  mich  ungemein  .  .  Wenn  es  einer  von  Euch  reccn- 
siren  wollte,  wäre  mirs  gar  lieb.    Vielleicht  in  den  Fleidelberger  Jahrbüchern.*" 

2)  Gräters  specimen  eddicum:  1811  S.  999  (Kl.  Schriften  6,  29). 

3)  Jacob  Grimm  an  Gräter,  23.  Juli  1811  (H.  Fischer  S.  16.  21):  „Das  Pro- 
gramm von  der  Helgaquitha  .  .  hat  mir  Herr  Zimmer  erst  gestern  geschickt;  ich 
habe  es  sogleich  durch  gelesen  und  darüber  ist  eine  kleine  Anzeige  desselben  für 
die  Heidelb.  Jahrbücher  entstanden,  die  ich,  um  dasselbe  nicht  noch  einmal  schrei- 
ben zu  müssen,  so  frei  bin  hierbei  im  Original  zu  übersenden  .  .  Nach  Durch- 
lesung derselben  bitte  ich  sie  unter  beikommenden  Couvert  an  Hrn.  Prof.  Wilken 
nach  Heidelberg,  dem  ich  sie  bereits  angekündigt  habe,  abgehen  zu  lassen.** 


»■4 


Zeugnisse  zur  Pflege  der  deutschen  Litteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern     277 

des   September   oder  im   ersten   Bogen   des   Oktoberheftes   abgedruckt 

werden. 

Ihrer  fernem  gütigen  Theilnahme  empfehle  ich  unsere  Jahrbücher 

angelegentlich 

Wilken. 

(Nachschrift:)  Auch  die  Recension  des  armen  Heinrich  soll  nicht 
lange  mehr  zurückbleiben.^) 

94.     Friedrich  Wilken  an  Jacob  Grimm. 

Heidelberg  d.  22  Dec.  1811. 

Recht  sehr  bedaure  ich  es,  dass  ich  Ew.  Wohlgebohren  nicht  die 
Kämpedater  mittheilen  kann,  indem  sie  in  hiesiger  Bibliothek  sich  nicht 
finden,  üeberhaupt  hatte  unsre  Bibliothek  von  nordischer  und  alt- 
deutscher Litteratur  nichts,  ich  habe  erst  angefangen,  Kleinigkeiten, 
deren  ich  habhaft  werden  konnte,  zu  sammeln.  Mit  dem  grössten  Ver- 
gnügen würde  ich  Ihnen  das  Werk  mittheilen,  wenn  wir  es  hier  be- 
sässen.  Auch  in  Manheim  weiss  ich  nicht,  wo  es  sich  finden  könnte. 
Es  wäre  von  Görres  leicht  zu  erfahren,  an  den  ich  ohnehin  in  diesen 
Tagen  schreiben  werde,  wo  es  wäre,  wenn  es  dort  seyn  sollte.  Im  Fall 
ich  nähere  Kundschaft  erhalte,  werde  ich  diese  oder  das  Buch  selbst 
Ihnen  mittheilen.') 

Was  die  andere  Angelegenheit  betrifft,  deren  Sie  in  Ihrem  Briefe 
erwähnen,  so  thut  es  mir  leid,  dass  Hr.  von  Arnim  eine  zufällige  Aeus- 
serung  im  Gespräche  unter  uns,  die  er  selbst  sogleich  widerlegte,  Ihnen 
raitgetheilt  hat.  Denn  nicht  von  Fries  ist  etwas  geäussert  worden, 
was  Ihnen  nachtheilig  gedeutet  werden  könnte,  sondern  von  mir;  aber 
niemals  ist  jener  Recension  von  mir  gegen  jemanden  anders  gedacht 
worden,  als  gegen  Hrn.  v.  Arnim,  daher  auch  nur  von  ihm  eine  solche 
Aeusserung  Ihnen  mitgetheilt  werden  konnte.  Prof.  Fries  hat  mir  aus- 
drücklich nach  meiner  Zurückkunft  von  Paris  gesagt,  dass  Ihre  Selbst- 
recension  recht  gut  ohne  irgend  einen  Nachtheil  der  Jahrbücher  hätte 
abgedruckt  werden  können,   und  dass  sie  durchaus  nicht  selbstlobend 

1)  Rezensionen  der  Brüder  sind  in  dieser  Zeit  wohl  durch  Beischluss  an  an- 
dere Sendungen  und  ohne  Begleitbriefe  nach  Heidelberg  gesandt  worden.  So  z.  B. 
eine  Anzeige  von  Heinrich  von  Kleists  Erzählungen  in  der  ersten  Novemberwoche 
1811.  Wilhelm  an  Arnim  10.  Dezember  1811:  ^ich  hatte  etwa  vierzehn  Tage  vor- 
her [d.  h.  hier  vor  H.  v.  Kleists  Tode]  eine  Anzeige  von  seinen  [KleistsJ  Erzäh- 
lungen nach  Heidelberg  geschickt"*.  Die  Anzeige  ist  nicht  wieder  aufgetaucht;  vgl. 
Kleists  Berliner  Kämpfe  S.  450. 

2)  Vgl.  Görresbriefe  8,  271.  284. 


278  ReiDhoId  Steig 

gewesen  sey,  was  ich  auch  Herrn  v.  Arnim,  soviel  ich  mich  erinnere, 
bemerkt  habe,  da  er  gegen  meine  Aeusserung,  mehr  scherzend  als 
eigentlich  ernstlich,  am  wenigsten  böse  gemeint,  mit  Kecht  Sie  in 
Schutz  nahm.  Sie  werden  selbst  wissen,  wie  man  über  solche  Ange- 
legenheiten wohl  einmal  unter  vier  Augen,  wie  dies  geschah,  mit  Freun- 
den spricht;  Sie  hätten  dabey  seyn  können,  ohne  dass  Sie  Sich  dadurch 
beleidigt  würden  gefühlt  haben.  Aber  anders  klingt  freylich  die  Sache, 
wenn  sie  weitererzählt  wird.  Seyn  Sie  fest  überzeugt,  dass  wir  alle  hier 
durchaus  nicht  im  mindesten  irgend  eine  üble  Meynung  von  Ihnen 
hegen;  am  wenigsten  Ihnen  Machinationen  zutrauen,  wie  sie  die  Tage- 
löbner  unter  unsern  deutschen  Schriftstellern  leider  sich  erlauben.^) 

A.  W.  Schlegel  hat  selbst  Ihren  Altd.  Meistergesang  sich  ausge- 
beten und  versprochen,  sehr  bald  seine  Becension  zu  liefern,  was  ich 
Ihnen  mittheile  mit  der  Bitte,  nicht  weitern  Gebrauch  davon  zu 
machen.^  Ihre  Becension  vom  armen  Heinrich  steht  in  No.4  des  Neuen 
Jahrgangs.  Für  die  neulich  überschickten  Becensionen  danke  ich  so- 
wohl als  Ihrem  Herrn  Bruder,  sie  sollen  bald  abgedruckt  werden. 

Mit  der  ausgezeichnetsten  Hochachtung  habe  ich  die  Ehre  zu  seyn 

Ew.  Wohlgebohren 

ergebenster  Diener 

F.  Wilken. 

(Nachschrift:)  Die  Einlage  bitte  ich  gütigst  auf  die  Post  geben 
zu  lassen. 

95.    Achim  von  Arnim  an  Friedrich  Wilken. 

Berlin,  16.  April  1812. 

Lieber  Wilken!  Ich  wünsche,  dass  der  Überbringer  Sie  und  Ihre 
liebe  Frau  und  Kinder  in  gutem  Wohlseyn  treffe  und,  dass  er  Ihnen 
allerseits  gefallen  möge.    Es  ist  ein  sehr  braver  ausgezeichneter  junger 

1)  Jacob  Grimm  hatte  in  dem  Glauben,  dass,  was  den  Heidelberger  Profes- 
soren, auch  den  Mitarbeitern  an  den  Jahrbüchern  gestattet  sei  (oben  S.  185),  eine 
Selbstanzeige  seiner  Schrift  „Ueber  den  altdeutschen  Meistergesang**  eingesandt, 
wobei  es  ihm  hauptsächlich  auf  die  Veröffentlichung  eines  Nachtrages  ankam.  Bei 
Arnims  Anwesenheit  in  Heidelberg  1811  war  davon  die  Rede  gewesen.  Arnim 
fragt  halbbesorgt  bei  den  Brüdern  an;  beide  gaben  in  Briefen  vom  26.  November 
1811  dem  Freunde  klare  Auskunft.  Arnims  Brief  vom  6.  Dezember  schl&gt  darauf 
den  Text  eines  Schreibens  an  Wilken  vor,  auf  das  dieser  in  dem  obigen  Schrift- 
stück erwidert.  Das  Nähere  darüber  künftig  in  „Arnim  und  die  Brüder  Grimm.** 

2)  Schlegel  blieb  aus;  die  Rezension  des  Altdeutschen  Meistergesangs  im  Jahr- 
gang 1813  S.  753  ist  von  Görres. 


Zeugniase  zur  Pflege  der  deutschen  Litteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern     279 

Mann,  (H.  v.  Röder)  und  sein  junger  Freund,  den  er  zum  Soldaten  vor- 
bereiten soll  (H.  V.  Humboldt)  hat  schon  frühzeitiges  Talent  gezeigt, 
Ihr  guier  Bath  wird  dies  entwickeln  helfen.  ^)  —  Ihren  Grus  an  Böckh 
habe  ich  bestellt,  ich  hoffe,  dass  er  ihn  wieder  zum  Becensieren  an- 
treibt, eine  Beceosion  von  Voss  wie  jene  über  Wolf  giebt  zwar  der 
Welt  genug  zu  lachen,  kommen  aber  mehrere  der  Art  von  ihm,  so 
fürchte  ich  sehr,  er  möchte  sich  wiederholen  und  die  Leser  möchten 
endlich  den  Unterschied  zwischen  dünsten  und  ferzen  (S.  Seite  186) 
zum  Überdruss  begreifen.  —  *) 

In  aller  Kürze  möchte  ich  Ihnen  doch  noch  versichern,  dass  ich 
aus  einer  Unterredung  mit  Schuckmann  schliesse,  Sie  können  auf  ihn, 
als  auf  einen  Freund,  wenn  Sie  hier  etwas  wünschen  sollten,  rechnen. ') 

Ich  empfehle  mich  Ihnen  und  Ihrer  Frau  hochachtungsvoll 

Achim  von  Arnim. 

96.    Friedrich  Wilken  an  Wilhelm  Grimm. 

Heidelberg  d.  7.  Juli  1812. 
Ew.  Wohlgebohren 

gütiges  Anerbieten  wegen  einer  Beurtheilung  von  Horn's  Literatur  des 
18.  Jahrb.  nehme  ich  mit  Vergnügen  an  und  bitte  um  deren  baldige 
Einsendung.  ^) 

Ibre  Klage  wegen  der  langen  Verzögerung  des  Abdrucks  Ihrer 
Recensionen  im  Fache  der  Altdeutschen  Lit.  finde  ich  nicht  ganz  ge- 
gründet. Wenigstens  so  lange  ich  die  Bedaction  übernommen,  habe 
ich  ihnen  immer  den  Vorzug  soviel  als  möglich  eingeräumt,  und  ich 
würde  sie  allerdings  noch  schneller  haben  abdrucken  lassen,   wenn  ich 


1)  Vgl.  Kleists  Berliner  Kämpfe  S.  633.  634. 

2)  Dies  bezieht  sich  auf  Heinrich  Voss'  Rezension  von  Fr.  Aug.  Wolfs  Über- 
setzung der  Wolken  des  Aristophanes  in  Jahrgang  1812  S.  161;  darin  ist  in  der 
That  S.  186  von  der  Berechtigang  jener  beiden  Wörter,  ein  griechisches  wiederzu- 
geben, auf  eine  philiströse  Art  die  Rede.  Wenngleich  der  junge  Voss  diese  und  an- 
dere Rezensionen  schrieb,  so  glaubte  doch  jeder  aus  ihnen  die  Gesinnung  des  alten 
Voss  herauszuhören.    Vgl.  auch  Arnim  und  Brentano  S.  301. 

3)  Ich  schliesse,  ohne  dass  es  unmittelbar  hierher  gehörte,  an,  dass  die  gänz- 
lich anonyme  Anzeige  von  Bürgers  Ehstandsgeschichte  (1812  S.  1199)  Arnim  zum 
Verfasser  hat.  Die  Rezension  wurde  von  Arnim  erst  zur  Begutachtung  an  Wilhelm 
Grimm,  von  diesem  dann  nach  Heidelberg  geschickt.  Über  die  von  Grimm  beein- 
fluBSte  Textgestalt  der  Rezension  spreche  ich  im  laufenden  Jahrgang  der  Zeitschrift 
f.  d.  Philologie. 

4)  Heidelb.  Jahrbücher  1812  S.  913  (Kl.  Schriften  1,  266);  über  diese  Rezen- 
sion, mit  der  auch  Arnim  wieder  befasst  war,  bringe  ich  Näheres  im  laufenden 
Jahrgang  der  Zeitschrift  f.  d.  Philologie. 


280  Reiuhold  Steig 

nicht  durch  den  ßaum  und  die  Bücksicht  aufs  Publikum  beschränkt 
wäre.  Auf  den  Keiz  der  Neuheit,  meine  ich,  müsse  man  in  dieser  Lit. 
am  wenigsten  sehen. 

Zuweilen  treten  Umstände  eigner  Art  ein,  welche  den  Abdruck 
verzögern,  wie  dieses  bey  der  Recension  Ihres  Herrn  Bruders  von  der 
Lit.  der  deutschen  Poesie  ist.  ^)  Als  ich  jene  Recension  erhielt,  hatte 
A.  W.  Schlegel  schon  die  Bourtheilung  übernommen  und  in  den  ersten 
Wochen  zu  liefern  versprochen.  Ich  dachte  beide  Beurtheilungen  zu 
geben ;  allein  bis  jezt  erwarte  ich  sie  vergebens.  Nun  habe  ich  endlich 
die  Recension  Ihres  Herrn  Bruders  in  die  Druckerey  gegeben. 

Die  Edda  von  Rühs  wollte  ich  Ihnen  zur  Recension  schon  anbieten. 
Um  desto  lieber  ist  es  mir,  dass  Sie  mit  Ihrem  gütigen  Anerbieten  mir 
zuvorgekommen  sind.  *) 

Hochachtungsvoll  habe  ich  die  Ehre  zu  seyn 

Ew.  Wohlgebohren 

ergebenster 

F.  Wilken. 

97.    Achim  von  Arnim  an  Friedrich  Wilken. 

Berlin  3  Jan.  1813. 
Sehr  geehrter  Freund! 

Ich  hätte  mein  Versprechen  die  Recension  des  Alfieri  zu  liefern 
längst  erfüllt,  wenn  nicht  durch  einen  unangenehmen  Zufall  mir  der 
zweite  Theil  entwendet  worden  wäre.  Jezt  habe  ich  Lust  bis  zur  Er- 
scheinung der  beyden  letzten  Bände  von  Goethes  Leben  zu  warten,  die 
Zusammenstellung  wird,  ohne  einen  von  beyden  zu  verletzen  nur  in- 
teressanter'), auch  erwarte  ich  Schillers  Leben  in  der  neuen  Ausgabe 
seiner  Werke.  Einliegend  sende  ich  Ihnen  die  Anzeige  eines  Buchs, 
das  bis  jezt  noch  nirgends  beurtheilt  worden,  und  doch  eine  eigenthüm- 
liche  Seite  hat,  auch  gab  es  Gelegenheit  ein  Paar  kuriose  Hochzeit- 
lieder, die  bei  mir  einliefen,  der  Welt  bekannt  zu  machen.*)  —  Das 

1 )  1812  S.  849  (KI.  Schriften  6,  74)  über  v.  d.  Hagen  und  Büschings  Literari- 
schen Grundriss  der  deatschen  Poesie. 

2)  1812  S.  961  (Kl.  Schriften  2,  80). 

3)  Arnim  an  Jacob  Grimm,  22.  Oktober  1812  (tingedruckt) :  «Ich  kann  nicht 
mehr  recht  zum  Recensieren  kommen,  ich  sollte  den  Alfieri  recensieren  fQr  die 
Heidelberger,  es  ward  mir  aber  lächerlich  als  ich  mich  dabeisetzte  und  den  Mannes 
Geist  und  Fleiss  recht  beschaute.*" 

4)  Es  ist  die  ganz  anonyme  und  bisher  als  Arnim'sches  Eigentum  unbe- 
kannte Rezension  von  Bomemanns  Plattdeutschen  Gedichten  im  Jahrg.  1813  S.  305; 
nächstens  davon  in  Boltes  Zeitschrift  des  Vereins  für  Volkskunde  in  Berlin  1902. 


Zeugnisse  zur  Pflege  der  deutschen  Litteratur  in  den  Heidelb.  JahrbQchem     281 

Vösslein  ist  ja  bey  den  Acharnern  noch  mehr  acharne,  was  wird  aus 
dem  Männlein  noch  werden,  wenn  es  so  fort  fährt  Griechenland  in  der 
einen,  England  in  der  andern  Hand  zur  Verwunderung  der  Welt  zu 
tragen,  seine  Kräfte  werden  sich  zuletzt  so  steigern,  dass  er  sich  wird 
wie  der  Riese  in  Ketten  legen  müssen,  um  nicht  alles  zu  zermalmen.  ^) 
—  Eine.  Neuigkeit,  die  man  sich  hier  nur  in  die  Ohren  sagt,  erzählt, 
dass  der  grösste  Theil  des  Macdonaldischen  Corps,  worunter  auch  unser 
Hülfskorps,  bey  dem  von  Napoleon  mit  Wahnsinn  bis  zum  20ten  ver- 
späteten Rückzüge,  grösstenteils  gefangen  und  aufgerieben  ist,  dies  ganz 
unversehrte  Corps  hätte  allein  schon  seinen  Rückzug  decken  können, 
wenn  er  es  zur  rechten  Zeit  zu  sich  berufen,  aber  so  von  Gott  ge- 
blendet war  noch  nie  ein  verruchtes  Haupt.  In  Metz  und  Mailand  ist 
Aufruhr,  in  Spanien  hat  Wellington  gesiegt  und  Birnams  Wald  rückt 
schon  auf  Dunsinan  heran.  Viel  herzliche  Grüsse  an  Frau  und  Kind 
und  alle  Bekannte.  Zimmer  sagen  Sie  gefälligst,  dass  ich  über  das 
Rungesche  Manuskript')  an  des  Verstorbenen  Bruder  geschrieben. 

Hochachtungsvoll  ergebenst 

Achim  Arnim. 

98.    Achim  von  Arnim  an  Friedrich  Wilken. 

Berlin  d.  29ten  Nov.  1813. 
Adr:  Bey  H.  P.  v.  Savigny,  Ludwigstr.  Nr.  3. 

Geehrter  Freund!  Wie  es  uns  ergangen,  wäre  weitläuftig  zu  be- 
schreiben, genug  ich  war  Landsturmhauptmann  und  zuletzt  sogar  Viee- 
bataillonschef,  meine  Frau  gebar  mir  einen  zweiten  Sohn,  wir  haben  uds 
hier  nicht  fortbewegt,  ungeachtet  Berlin  so  leer  geflüchtet  war,  wie  ein 
Dorf.  Gegenwärtig  pfusche  ich  in  Ihr  Fach,  oder  vielmehr  ich  will 
Ihren  künftigen  Nachfolgern  in  der  Geschichte  die  Mühe  soviel  meine 
Kräfte  und  die  Censur  gestatten,  erleichtern,  ich  schreibe  eine  Zeitung, 
genannt  der  Preussische  Korrespondent  seit  dem  Anfange  Oktobers, 
Niebuhr  hat  ihn  angefangen,  Schleiermacher  fortgesetzt,  wie  lange  ich 
dabey  aushalte,    das  hängt  von  den  Umständen  ab.')    Können  Sie  mir 

1)  Dies  bezieht  sich  darauf,  dass  ausser  Aristophanes  auch  Shakespeare  von 
den  «VöBsen*  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern  in  Beschlag  genommen  war;  eine  An- 
zeige von  dem  von  Heinrich  und  Abraham  Voss  übersetzten  Coriolan  und  Winter- 
märchen war  sofort  im  Jahrgang  1812  S.  677  erschienen. 

2)  Die  beiden  plattdeutschen  Märchen  vom  Mahandelboom  und  Fischer  be- 
treffend. 

3)  Arnim  hielt  vier  Monate,  vom  1.  Olctober  1813  bis  31.  Jan.  1814  dabei  aus. 


282  Reinhold  Steig 

einige  Materialien  liefern,  so  werde  ich  dankbar  seyn,  nicht  Neuigkeiten 
aus  der  Ferne,  denn  das  kommt  meist  auf  anderen  Wegen  schneller, 
sondern  aus  der  Gegend,  Kriegsvorfälle,  innere  Angelegenheiten,  Anek- 
doten. Ich  habe  einen  Band  Schaubühne  in  der  Realschulbuchhandlung 
herausgegeben,  ich  sende  ihn  nächstens,  da  er  in  der  Zeit  der  gänzlichen 
Abtrennung  vom  äbrigen  Deutschlande  erschien,  so  wäre  mir  eine  bal- 
dige Anzeige  in  den  Jahrbüchern  sehr  viel  werth,  sie  wurden  auf  meine 
Kosten  in  der  Absicht  gedruckt  meinem  Landsturmbataillon  Kanonen 
zu  schaffen.  — 

Viele  herzliche  Grüsse  allen  Bekannten,  Ihrer  lieben  Frau  vor  allen, 
sie  wird  bey  dem  Unglück  in  Leipzig  alles  näher  mitgefühlt  haben  ^),  als 
unser  einer,  der  den  Ort  nur  wegen  der  Lerchen,  die  in  diesem  Jahre 
die  Menschen  aufspeisen,  heimgesucht  hat. 

Hochachtungsvoll 

Achim  Arnim. 


99.    Friedrich  Wilken  an  Wilhelm  Grimm. 

Heidelberg  d.  5.  Februar  1814. 
Ew.  Wohlgebohren 

nehme  ich  mir  die  Freyheit  unsre  Jahrbücher  wieder  in  gütige  Er- 
innerung zu  bringen. 

Wenn  Sie  glauben,  sich  von  aller  Persönlichkeit  fern  halten  zu  * 
können,  so  würde  ich  Sie  bitten,  die  neuste  Schrift  des  Herrn  Rühs  zu 
beurtheilen,  über  den  Ursprung  der  isländischen  Poesie  u.  s.  w.  Ich 
habe  freylich  dieses  opus  noch  nicht  gesehen,  und  weiss  daher  nicht, 
inwiefern  es  persönlich  gegen  Sie  gerichtet  ist.  Sie  werden  am  besten 
beurtheilen  können,  in  wiefern  Sie  die  Sache  untersuchen  können,  ohne 
in  Conflict  mit  etwaigen  Pommeranismen  des  Verf.  zu  kommen.') 


1)  Fraa  Karolioe  Wilken  war  die  Tochter  des  Akademiedirektors  und  Portrait- 
malers  Fr.  Ä.  Tischbein  in  Leipzig:  Adolf  Stoll,  Der  Geschichtschreiber  Friedrich 
Wilken,  1896  8.  27. 

2)  Die  Rezension  erschien  1814  S.  209  (El.  Schriften  2,  137);  Wilhelm  Grimm 
hatte  sie  in  der  Handschrift  vorher  an  Savigny  nach  Berlin  zur  Begutachtung  ge- 
schickt, in  dessen  Namen  und  Vertretung  Arnim  (März  1814)  seine  Meinung  zu- 
rQckschrieb;  Arnims  Erinnerungen  sind  fast  alle  von  Wilhelm  Grimm  berücksich- 
tigt worden.    Darüber  künftig  in  ^ Arnim  und  die  Brüder  Grimm*. 


Zeugnisse  zur  Pflege  der  deatschen  Litteratur  in  den  Heidelb.  Jahrbüchern    283 

Horns  Deutsche  Litteratur  2.  Th.  habe  ich  auf  des  Verf.  Verlangen 
einem  andern  Bec.  zutheilen  müssen.  ^) 

Dagegen  möchte  ich  Ihnen  vorschlagen  den  Theil  von  Bouterweks 
Geschichte  der  Poesie,  welcher  die  altdeutsche  umfasst,  ausführlicher 
zu  beurtheilen,  und  die  frühem  Bände  nur  kurz  anzuzeigen.*) 

Hochachtungsvoll  habe  ich  die  Ehre  zu  seyn 

Ew.  Wohlgebohren 

ergebenster 

Fr.  Wilken. 

100.    Friedrich  Wilken  an  Jacob  Grimm. 

Heidelberg  d.  12.  Febr.  1816. 
Ew.  Wohlgebohren 

haben  schon  durch  meinen  Collegen  Conradi  vernommen,  welch* 
herrlicher  Beweis  der  päpstlichen  Grossmuth  uns  in  diesen  Tagen  an- 
gekündigt worden.  Dass  wir  so  schnell  und  so  sicher  zum  Ziele  ge- 
langen würden,  wer  hätte  solches  zu  hoffen  gewagt?  847  Bände  MSS 
sollen  ausser  den  38  zu  Paris  restituirten  Handschriften  uns  zurückge- 
geben werden.  In  acht  oder  zehn  Tagen,  wahrscheinlich  am  Mittwoch 
über  acht  Tagen  werde  ich  von  hier  abreisen,  um  den  Hort  zu  hohlen. 
Sie  wünschen  mir  sicher  allen  möglichen  Seegen  zu  dieser  Reise. 

Sie  werden  nun  auch  Ihr  Versprechen  nicht  unerfüllt  lassen,  hieher 
zu  kommen  und  aus  dieser  Quelle  Ihren  Durst  zu  laben.  Denn  bis  es 
möglich  seyn  wird,  davon  in  die  Fremde  auszusenden  —  das  würde 
Ihnen  gewiss  zu  lange  dauern.  Im  Junius  hoffe  ich  übrigens,  soll  dieser 
Schatz  in  Heidelberg  angekommen  seyn,  und  dann  soll  sogleich  Anstalt 
zu  einer  ordentlichen  Gatalogisirung  gemacht  werden. 

Das  responsum  von  Greuzer  lege  ich  bey,  und  um  die  baldgefällige 
Bestellung  der  Einlage  durch  die  Post  wage  ich  ergebenst  zu  bitten. 

Die  Acquisition  des  Sachsenspiegels  von  dem  Herrn  Oberlin  werde 
ich  sehr  gern  für  die  hiesige  Bibliothek  machen,  und  bitte  Sie  Ihre 

1)  Die  Anxeige  des  zweiten  Teils  erschien  im  Jahrgang  1814  S.  497,  gezeichnet 
mit  ***,  Sie  lantet  aber  im  Grande  nicht  anders,  als  die  Wilhelm  Grimms;  sie 
beginnt:  «Ober  den  ersten  Teil  dieses  Werks  hat  bereits  ein  Sachkundiger  in  diesen 
Jahrbflchem  (oben  S.  279)  sich  ausgesprochen ;  auch  der  Verf.  der  gegenwärtigen 
Anzeige  stimmt  dem  ihm  unbekannten  Beurteiler  darin  bei,  dass**  etc. 

2)  Wilh.  Grimm  an  Jacob  12.  2.  1814  (aus  der  Jugendzeit  S.  251) :  .Wilken 
trftgt  den  Bouterweck  an,  was  ich  aber  ablehnen  will,  das  Buch  verdient  nicht  die 
Mfihe,  es  ordentlich  su  recensiren,  und  das  mflsste  doch  hier  geschehen.** 


264        Heinhold  Steig:  Zeugnisse  zur  Pflege  der  deotscben  Litteratur  etc. 

Verwendung  dafür  eintreten  zu  lassen.  30  Franken  werden  wir  gern 
daran  wenden,  und  ich  werde  auch  dafür  sorgen,  dass,  wenn  auch  noch 
während  meiner  Abwesenheit  der  Handel  richtig  werden  sollte,  die 
Zahlung  doch  unverzüglich  erfolge,  üebrigens  gebührt  nicht  noir  die 
Ehre  der  Recension  von  Eichhorn.  ^) 

Becht  sehr  werden  Sie  mich  verbinden,  wenn  Sie  im  Fach  der  alt- 
deutschen und  nordischen  Litteratur  Sich  unsrer  Jahrbücher  annehmen 
wollen.  Was  Sie  in  meiner  Abwesenheit  einzuschicken  die  Güte  haben 
wollen,  bitte  ich  mit  den  Worten :  „für  die  Heidelb.  Jahrbücher  der 
Litteratur^  auf  der  Addresse  zu  bezeichnen. 

Genehmigen  Sie  gütigst  die  Versicherung  der  ausgezeichnetsten 
Achtung,  womit  ich  stets  bin 

Ew.  Wohlgebohren 

ergebenster  Diener 

Fr.  Wilken. 

P.S. 
Sie  thun  gewiss  sehr  recht,  gegen  A.  W.  Schlegel  nicht  eigentlich 
aufzutreten.*)     Den  Unkundigen   wird  nur  durch   einen  solchen  Streit 
die  Zeit  gekürzt,   und  der  Kundige   weiss  ohnehin,    wie  weit  Schlegel 
Recht  oder  unrecht  hat. 


1)  Eichhorns  Schrift  üeber  das  geschichtliche  Studium  des  deutschen  Rechts 
ist  anonym  im  Jahrgang  1816  angezeigt. 

2)  A.  W.  Schiegel  hatte  den  ersten  Band  der  Altdeutschen  W&lder  im  Jahr- 
gang 1815  S.  721  (Sämmtliche  Werke  12,  383)  rezensiert.  Wilhelm  Grimm  machte 
im  dritten  Bande  der  Altdeutschen  Wälder  jedoch  S.  253  und  S.  273  (Kleinere 
Schriften  2,  156)  seine  Gegonausfühningen. 


IV. 

Seite 

Wilb.  Erb,  Über  die  wachsende  Nervosität  unserer  Zeit 1 

Emil  Kraepelin,  Über  geistige  Arbeit 31 

Fn  OriBime,  Die  Anordnung  der  grossen  Heidelberger  Liederhandschrift  53 

Arthur  Kleijisehmidt,  Marianne,  Gräfin  von  der  Leven 91 

Mermann  Wunderlich^  Zur  Sprache  des  'neuesten  deutschen  Schauspiels  II.  115 
F.  T.  Duhn.  Geschichtliches  aus  vorgeschichtlicher  Zeit.    Nene  Entdeckungen 

Lnigi  Pigorinis , 143 

A.  y.  Domascewshiy   Die  Heere  der  Bürgerkriege  in  den  Jahren  49  bis  42 

vor  Christus 157 

Otto  Kariowa,   Das  Testament  des  Veteranen  Gaius  Longinns  Castor  vom 

Jahre  189  n.  Chr. . 189 

Karl   Zangemeister  imd   Wllh.  Braune,    Bruchstacke   der    altsächsischen 

Bibeldichtung  ans  der  Bibliotheca  Palatina .  205 

Carl  Ifeumauu,  Über  Kunst  in  Italien  im  12.  Jahrhundert 1 

Riehard  Schröder,  Eine  Selbstbiographie  von  Fritz  Reuter 18 

Richard  Schröder,  Ein  Brief  Savignys  an  einen  früheren  Schüler     ...  23 

Moritz  Cantor,  Zahlonsymbolik 25 

Karl  Zangemelster,  Zur  germanischen  Mythologie 46 

Friedr.  Ohlenschlager,  Der  Name  «iPfahl*'  als  Bezeichnung  der  römischen 

Grenzlinie 61 

Karl  Zangemelster,  Der  obergermanisch-rätische  Limes              .      .  68 

A.  T«  DomaszewskI,  Zu  den  Heeren  der  Bürgerkriege 105 

A.  T.  Domaszeivski,  Die  Chronologie  des  bellum  Germanicum  et  Sarmaticum 

166-175  n.  Chr 107 

Eduard  Ueyck,  Die  Staatsverfassung  der  Cherusker 131 

Karl  Schumacher  Altes  im  Neuen    .     -^ 182 

J.  Wille,  Pfalzgränn  Elisabeth  Charlotte,  Herzogin  von  Orleans   ....  190 

Richard  Oraf  Du  Moulin  Eckart,  Zweibracken  und  Versailles  ....  229 

VI. 

Erwin  Rohde,  Orpheus 1 

F.  Y»  Buhn,  lieber  die  archäologische  Durchforschung  Italiens  innerhalb  der 

letzten  acht  Jahre 19 

Oh«  HiUsen,  Caecilia  Metella 50 

G.  Slxt,  Zu  den  Votivsteinen  der  equites  singulares 59 

Relnhoid  Steig,  Frau  Auguste  Pattberg 62 

B.  Erdmaunsdörffer,  Eduard  Winkelmann  f 123 

Henry  Thode,  Eine  italienische  Fürstin  aus  der  Zeit  der  Ronaissanoe  .129 

Alexander  Riese,  Der  Feldzug  des  Caügula  an  den  Rhein 152 

A.  HauRrath,  Luthers  Bekehrung 163 

B.  ErdmannsdörfTer^  Kleine  Beiträge  zur  Goethe-Biographie  ....  187 
0.  Kariowa,  Über  die  in  Briefform  ergangenen  Erlasse  römischer  Kaiser      .  211 

E,  Kraepelin,  Zur  Hygiene  det  Arbeit 222 

■ 

VII. 

Adolf  Hausrath,  Philipp  Melanchthon 1 

Richard  Graf  Bn  Moulin  Eckart,  Treitschke  und  das  Elsass   ....  17 

Walther  Amsperger,  Leasings  Beschäftigung  mit  der  Leibnizischen  Philosophie  43 

Fr.  Ed.  Schneegans,  Die  Volkssage  und  das  altfranzOsische  Heldengedicht  .  58 
Max  Freiherr  von  Waldberg,  Briefe  von  Jacob  und  Wilhelm  Grimm,  Karl 

Lachraann,  Creuzer  und  Joseph  von  Lassberg  an  F.  J.  Mone,  I.   .            .  68 

Karl  Helm,  Die  Legende  von  Erzbischof  Udo  von  Magdeburg     ....  95 

F.  Y.  Vtahn,  Karl  Humann 121 

K.  Schumacher,   Die  Besiedelung  des  Odenwaldes   und  Baulandes   in   vor- 
römischer und  römischer  Zeit 138 

Paul  Joseph,  Der  Weinheimer  Halbbrakteatenfi.ud 161 

Arthur  Kleinschmidt,  Karl  Theodor,  Friedrich  zu  Salm  und  F.  X.  von  Zwackh  199 

Carl  Schmidt,  Die  Paulusakten 217 

Max  Freiherr  von  Waldberg,  Briefe  von  Jacob  und  Wilhelm  Grimm,  Karl 

Lachmann,  Creuzer  und  Joseph  von  Lassberg  an  F.  J.  Mone,  II.        .      .  225 


VIII. 

H.  Lämmerhirt,  Kosalien  und  Pasqua  Rosa  .........       1 

Fr.  Ed.  Schneegrans,  Frederi  Mistral 38 

A.  Hansrath,  Luther  als  Dichter  ......  ,  .'    .      58 

H.  Bassermann,  Erziehung  und  Gesellschaft 78 

Karl  Schamacher,  Zur  rdmischen  Keramik  u.  Geschichte  Südwestdentschlands      94 
Anton  Baumstark,  Zqr  Chronologie  des  Bakchylides  .  .125 

Fr.  Ed.  Schneegans,  Die  Abtei  Th^l^me  in  Rabelais'  Gargantua  .  .143 

K.  Tossier,  Giuseppe  Gioachino  Belli  und  die  römische  Dialektdichtung .      .    160 

A.  Hansrath,  Luthers  Thesenstreit .181 

Richard  Schröder,  Germanische  Rechtssymbolik  auf  der  Marcuasäule  .248 

Karl  Schumacher.  iZur  ältesten  Besiedelungs^eschichte  Badens  ....    256 
Alexander  Cartelueri,  Die  Machtstellung  Heinrichs  II.  von  England  .    269 


• 


Faul  Hensel,  Englische  Zustände  zu  Anfang  des  achtzehnten  Jahrhunderts  .  1 
Fritz  Scholl,  Ans  neuerworbenen  Korrespondenzen  der  Heidelberger  Universsi- 

tätsbibliothek  .      .      .      .      .      .  ' 17 

Walther  Arnsperger,  Einfluss  der  kirchlichen  Unionsversucbe  des  13.,  14. 

und  15.  Jahrhunderts  auf  die  philosophische  Renaissance  des  Abendlandes  73 

Moritz  Cantor,  Kiclaus  Koppernikus 90 

F.  Y.  Duhn,  Fundumstände  und  Fundort  der  ältesten  lateinischen  Steininschrift 

am  Forum  Romanum  . 107 

Karl  Yossler,  Die  Lyrik  des  Angelo .  Poliziano .121 

A.  V.  Domaszewski,  Die  Principia  des  römischen  Lagers '    .  141 

Albert  Krieger,  Eine  kaiserliche  Brautwerbung  in  Kopenhagen  1697      .      .164 

F.  Ed.  Schneegans,  Batiste  Bonnet.  Ein  provenzalischer  Bauer  u.  Schriftsteller  182 
Karl  Wild,  Leibniz  als  Politiker  und  Erzieher  nach  seinen  Briefen  an  Boine- 

bürg *201 

Moritz  Cantor,  Carl  Friedrich  Gauss 234 

Karl  8chumacher,  Die  Handels-  und  Kulturbeziehungen  Sadwestdeutschlanda 

in  der  vorrömischen  Metallzeit 256 

Karl  Helm,  Die  Legende  von  Erzbischof  Udo  von  Magdeburg  (Nachtrag)     .  273 


Dietrich  Schäfer,  Die  Schlacht  bei  Lutter  am  Barenberge 1 

Karl  .Yossler,  Pietro  Aretino's  künstlerisches  Bekenntnis 38 

Karl  Boehm,  Die  Mathematik  der  Natur .      .      .  GG 

Karl  Helm,  Ein  Tagebuch  aus  Matthissons  Jugend   .                         .   \  .  81 

Reinhold  Steig,  Joseph  von  Görres'  Briefe  an  Achim  von  Arnim                 .  115 

F.  T.  Duhn,  Der  Zeus  des  Phidias 177 

Walther  Arnsperger,  Die  Entstehung  von  „Werthers  Leiden*"   .  .195 

A«  V.  Domaszewski,  Der  Truppensold  der  Kaiserzeit 218 

Albert  Bftckström,  lieber  den  Grosius-Codex  F.  v.  1  Nr.  9  in  der  Kaiserlichen 

Oeifentlichen  Bibliothek  zu  St.  Petersburg 242 


Richard  Graf  Du  Monlin  Eckait,  Zum  Gedächtnis  Bernhard  Erdmanns- 

dörffers .      .      .      .      .      .      .      .    ^,      .  1 

Alfred  Bassermann,  Veltro,  Gross-Chan  und  Kaisdlisage             .      ,    \      .  28 

Th.  Leber,  Willy  Kühne '  .      .      .      .      .      .      .  IG 

Karl  Yossler^  Dante  und  die  Renaissance 85 

J.  Wille,  Pfalzgräfin  Elisabeth,  Äbtissin  von  Herford       . 108 

J.  Wille,  Karl  Zangemeister  (geb.  28.  November  1837,  gest.  8.  Juni  1902)       .  14.S 

F.  Ed.  Schneegans,  Maistre  Fran^ois  Villen 15:» 

Alexander  Cartellieri,  Beiträge  zur  Geschichte  Albrechts  von  Hobenberg  aus 

dem  Vatikanischen  Archiv 173 

Alexander  Cartellieri,   Reiseeindrücke  vom  Grossen  St.  Bernhard  ans  dem 

Jahre  1188 H^ 

Reinhold  Steig,  Zeugnisse  zur  Pflege  der  deutschen  Litteratur  in  den  Heidel- 
berger Jahrbüchern 180 


^9  *  »^ 


Briefe  und  Mann»krlptsendnngen '  sind  an  Professor  Dr.  Wille  in  Heidel- 
berg (Bunsenstrasse  i)),  dagegen  alle  Sendungen  den  Tan  seh  verkehr  betreffend 
an  die  UnIverHitätti-jBibllothek  in  Heidelberg  zu  richten. 

ünlverBiUU-Bachdriickerei  von  J.  Hörning  in  Heidelberg; 


Inhalt  der  erschienenen  Bände. 


Programm 3 

Chronik  deg  Vereins 5 

M.  Cantor,  A.Dürer  als  Schriftsteller 17 

R.  Schröder,  Die  Landeshoheit  über  die  Trave 32 

K.  Hartfelder,  Das  Katharinenfest  der  Heidelberger  Artistenfakultät       .      .  52 

A.  Uaosrath,  Arnold  von  Hrescia 72 

F«  T.  Duhn,  Heinrich  Schliemann 145 

0.  Kariowa,  Die  Rangklassen  des  Ordo  salutationis  sportnlarumque  provinciae  '' 

Numidiae,  insbesondere  die  coronati 165 

A*  T«  Domaszeifski,  Beiträge  zur  Geschichte  der  Perserkriege  .  .181 

—  Die  Entwicklung  der  Provinz  Moesia  .      .      .190 

J.  V.  Pflngk-Harttung:,  Keltische  Bauwerke         201 

A.  y.  Ontschmld  f.  Die  Heidelberger  Handschrift  der  Paradoxographen  (Pal. 

Gr.  398) ^ 227 

A.  C.  Clarky  Die  Handschriften  des  Graevius 238 

A.  T.  Oechelhäuser,  Philipp  Hainhofers  Bericht  über  die>>tuttgarter  Kindtaufe 

im  Jahre  1616 254 

G.  Meyer,  Die  Verhandlungen  des  preussischen  Abgeordnetenhauses  über  den 

PJrlass  von  Stempelsteuern  für  Fideikommisse 336 

B«  Erdmannsdörirer,  Zur  Geschichte  der  Heidelberger  bibliotheca  Palatina  349 
A«  Hausrath,  Festrede  gehalten  bei  der  Enthüllung  des  Scheffel-Denkmals  zu 

Heidelberg  am  11.  Juli  1891 352 

II. 

K.  Zangemeister,  Zur  Geographie  des  römischen  Galliens  und  Germaniens 

nach  den  Tironischen  Noten 1 

F«  Scholl,  Risse  und  Brüche  in  der  Urhandschrift  Plautinischer  Komödien    .  37 

F.  Y.  Dahn,  Die  Benutzung  der  Alpenpässe  im  Altertum 55 

K.  Schumacher,  Über  den  Stand  und  die  Aufgaben  der  prähistor.  Forschung 

am  Oberrhein  und  besonders  in  Baden 93 

0.  Kariowa,  Zur  Inschrift  von  Skaptoparene 141 

J.  Haller,    Die  Verhandlungen  von  Mouzon  (1119).    Zur  Vorgeschichte  des 

Wormser  Konkordats 147 

K«  Schröder,  Arno,  Erzbischof  von  Salzburg  und  das  Urkundenwesen  seiner 

Zeit 165 

H.  Bassermaun,  Johann  Arnos  Comenius.  Festrede,  gehalten  bei  der  Comenius- 

Feier  in  Heidelberg 172 

M.  Cantor,  Zeit  und  Zeitrechnung 190 

L,  Lemme,  Shaksperes  Köuig  Lear           312 

J,  T.  Pflugk-Uarttung,  Die  Druiden  Irlands 265 

H.  Buhl,  Hugo  Donellus  in  Heidelberg  (1573—1579) 280 

III. 

K.  Zangemeister,  Zur  Gef^chichte  der  Neckarländer  in  römischer  Zeit    .      .  1 
Friedr«  ?•  Weech,  Ein  Projekt  zur  Reform  der  Reichsjustiz  aus  dem  16.  Jahr- 
hundert    ...            17 

J.  V.  Pflugk-Harttuiig,  'ie  Schriften  S.  Patricks 71 

Fr«  Y*  Üuhn,  Eine  'ir-nz*"  <ler  früheren  Sammlung  Ancona 88 

£d.  He)ck,  Über  <ii>    Eiitstchung  des  germanischen  Verfassimgslebens      .      .  106 

G«  Jeliinek,  Adam  in  der  Staatslehre 135 

A.  v.  Oechelhäuser,  Zur  iOntstehung  der  Manesse-Handschrift      ....  152 

A*  T.  Domasze^Hki,  Das  deutsche   Wun  l'»raut  in  lateinischen  Inschriften       .  193 

Rm  Ueinze,  Magisur  l<«nrad  Sihades  Streithändel  mit  der  Stadt  Heidelberg  .  199 

Ferd.  (Gerhard,  Vom' Hussenkriege 224 

Ed.  Heyck,  Zur  Entstehungsgeschichte  des  germanischen  Verfassungslebens  .  2öl 
Herrn«  Wunderlich,  Zur  Sprache  des  neuesten  deutschen  Schauspiels      .      .251 

Max  Freiherr  Ton  TValdberg,  Das  Jaufner  Liederbuch 260 


NEUE 
HEIIlELBEß&EB  JAHßBOCHEB 


HERAUSGEGEBEN 


VOM 


HISTORISCH-PHILOSOPHISCHEN  VEREINE 


Zü 


HEIDELBERG 


JAHRGANG  XII 


— >i>»^i«- 


HBIDBLBBRa 

VERLAG  VON   G.  KOESTER 

1908 


INHALT. 

Seite» 

Otto  Honsellt  August  Reichensperger  und  der  Kirchenbau  der  Renaissance  .  1 

Ernst  Tramnann,  Stift  Neuburg 54 

Alexander  Cartellieri,  Nochmals  die  Reiseeindrücke  vom  Grossen  St.  Bernhard  63 

Karl  Brnnner,  Über  das  Hagestolzenrecht  in  Kurpfalz 65 

Karl  Enling',  Das  Priamel.  Beiträge  zur  Volkspoesie 73 

Karl  Obser,  Bettine  von  Arnim  und  ihr  Briefwechsel  mit  Pauline  Steinhäuser  85 

Richard  Schröder,  Der  Schauplatz  der  Ruprecht'schen  Fragen  .  .138 

6.  A.  Gerhard  und  0.  Gradenwilz,  Ein  neuer  juristischer  Papyrus  der  Hei- 
delberger Universitätsbibliothek 141 

Hans  Rotty  Ulrich  von  Huttens  Streit  mit  den  Strassburger  Karthäusem  184 

Ph«  kag»  Becker,  Die  spanische  Litteratur  von  ihren  Anfängen  bis  zu  den 

katholischen  Königen 193 

Alexander  Cartellierl,  Kaiser  Heinrich  VII 254 


August  Reichensperger  und  der  Kirchenbau 

der  Renaissance. 


Von 

Otto  Honselh 


Zu  derselben  Zeit,  da  bei  uns  die  bildende  Kunst  aus  einem  un- 
mittelbaren Zurückgehen  auf  die  Schöpfungen  der  Antike  neue  Kraft  und 
neue  Vorbilder  zu  gewinnen  strebte,  und  der  Klassizismus  im  Norden  wie 
im  Süden,  in  Berlin,  Dresden  und  München  durch  glänzende  Leistungen 
seinen  Sieg  zu  verkünden  suchte,  bildete  sich  im  Stillen  eine  Bichtung 
aus,  die  ganz  von  dieser  Strömung  abgekehrt,  dem  Mittelalter  sich  zu- 
wandte. Sie  war  hervorgegangen  aus  der  führenden  Kunst,  der  Dichtung. 
Die  Bomantiker  versenkten  sich  mit  schwärmerischer  Hingabe  in  den 
Geist,  in  die  Thaten  und  Empfindungen  der  mittelalterlichen  Helden; 
rüstig  arbeitete  die  Sprachwissenschaft  an  der  Erkenntnis  der  Sprache 
und  der  nationalen  Epen  und  Volkslieder  jener  Zeit.  Die  Brüder  Boisseräe 
sammelten  Bilder  der  Kölner  Meister  und  suchten  die  verachteten  goti- 
schen Bauwerke  auf;  man  hörte  wieder  die  stille  Mahnung  des  Kölner 
Doms  und  arbeitete  an  Plänen  für  die  Vollendung  des  herrlichen  Werkes. 
Die  Thätigkeit  englischer  Künstler  und  Forscher  regte  auch  auf  dem 
Festland  zur  Beschäftigung  mit  der  älteren  Baukunst  an.  —  In  dieser  Zeit, 
Anfang  der  fünfziger  Jahre,  begann  August  Beichensperger  seine  schrift- 
stellerische Thätigkeit,  seine  Arbeit  um  die  Wiederbelebung  der  Gotik, 
seinen  Streit  wider  die  Benaissance  und  den  Klassizismus.^) 

1)  Von  seinen  Schriften  sind  hier  benutzt  und  kommen  fttr  die  kirchliche 
Architektur  in  Betracht: 

Die  christUch- germanische  Baukunst   and   ihr  Verhältnis   zur   Gegenwart. 

3.  Aufl. 
Fingerzeige  auf  dem  Gebiet  der  kirchlichen  Kunst. 
Vermischte  Schriften  über  christliche  Kunst. 
Allerlei  aus  dem  Eunstgebiet. 

NRUK  HBIDELB.  JAHRBURCHRR  Xlt.  1 


Otto  Honseil 


I. 

BeicheDsperger  stellt  sein  Programm  auf,  indem  kr  die  gotische 
Baukunst  als  die  christlich-germanische  bezeichnet. 

Mit  glühender  Begeisterung  steht  er  vor  ihren  Werken,  voll  innigster 
Bewunderung  preist  er  sie.  Manchmal  geschieht  es  freilich,  dass  er 
darüber  zu  sehr  das  Sachliche  vernachlässigt,  Bestimmtheit  vermissen 
lässt  und  überhaupt  zu  viel  Oedanken  hineinlegt,  die  das  Gebilde  un- 
mittelbar nicht  giebt.  —  Die  mittelalterliche  Kunst  erscheint  ihm  ein 
Wunder  aller  Zeiten  in  Qrösse,  Schönheit  und  Tiefsinn,  vorbildlich  für 
alle  gleichzeitige  Kunstübung.  In  ihren  Werken  sieht  er  die  vollkom- 
menste Annäherung  an  das  Ideal  eines  Bauwerks:  zweckmässige  Ein- 
richtung, dauerhafte  Ausführung,  bedeutungsvolle  Anordnung  und  Klar- 
heit, Einfachheit  und  Reichtum  und  lebensvoller  Wechsel,  Folgerichtig- 
keit und  Freiheit  so  vereinigt,  das  eine  harmonische  Gesamtwirkung 
entsteht;  das  Einzelne  ordnet  sich  dem  Ganzen  unter,  und  das  Ganze 
offenbart  unzweideutig  seine  Bestimmung,  seine  höhere  Idee.  Kein  Glied 
tritt  auf,  das  nicht  durch  die  Gesamtkonstruktion  bedingt  ist  und 
darin  seinen  bestimmten  Zweck  zu  erfüllen  hat.  Nichts  ist  willkürliche 
Zuthat,  angeflogene  Verzierung.  Er  begründet  dies  mannigfach,  an  den 
konstruktiven  Elementen  wie  den  vorwiegend  schmückenden  Teilen.^) 
Als  vollendete  Kunst  gilt  ihm  die  Gotik  deshalb,  weil  in  ihr  in  rechtem 
Masse  Zweckmässigkeit  und  Schönheit,  Freiheit  und  Notwendigkeit  ver- 
eint und  durchdrungen  sind.  Dies  setzt  voraus,  dass  sie  nirgends  fertige 
Formen  an  die  Hand  giebt,  sondern  nur  allgemeine  Gesetze  und  einfache 
Konstruktionsprinzipien.  Daher  auch  ihr  Reichtum,  ihre  Fügsamkeit,  da- 
her die  unendliche  Reihe  von  Individualitäten,  die  sie  gewährt,  und  eine 
Fortbildung  ins  Unendliche.  Dass  jedes  Gebilde  auf  eine  innere  Not- 
wendigkeit hinweist  und  zugleich  dem  Kunstschönen  angehört,  hängt 
ferner  zusammen  mit  einer  richtigen  Anwendung  des  Materials.  Alles 
ist  auch,  was  es  scheint ;  und  das  nämliche  gilt  für  Bauten  jeder  Gattung, 
jedes  Zwecks,  es  ist  eben  eine  wahre  Kunst.  „Die  Gesetze,'  sagt  er, 
„welche  der  Schöpfer  in  jede  Menschenbrust  gelegt  hat,  sind  hier  mit 
klarem  Verständnis  erfasst  und  mit  künstlerischer  Hand  in  schlichter 
anspruchsloser  Weise  zur  Darstellung  gebracht;  das  ist  es,  was  ich  ihre 
Wahrhaftigkeit  nenne.' 


tt 


1)  Besonders  in  einem  Aufsatz  ^Über  das  Bildnngsgesetz  der  gotischen 
Kanst**  in  den  «Vermischten  Schriften**,  wo  auch  der  beliebte  aber  verfahrerische 
Vergleich  mit  der  Musik  nicht  fehlt. 


Augost  Rpichensperger  und  der  Kirchenbau  der  ttenatssaace  3 

Die  äussere  ErscbeinuDg  des  gotischen  Bauwerks  reflektiert  das 
innere  Bildungsgesetz,  aber  noch  viel  mehr.  Wenn  er  überzeugt  ist, 
dass  das  kirchliche  Leben  in  der  kirchlichen  Kunst  seinen  vollkommen- 
sten und  vielseitigsten  Ausdruck  findet,  so  ist  ihm  auch  in  dieser  Be- 
ziehung die  Ootik  der  Höhepunkt  derselben.  Wie  keine  andere  redet 
sie  die  Sprache,  verkündet  sie  den  Geist  des  Christentums.  Das  Christen- 
tum, erklärt  er,  hat  auch  die  Baukunst  frei  gemacht  von  den  Banden, 
mit  denen  das  Heidentum  sie  an  die  Erde  gefesselt  hielt;  es  hat  der 
Materie  Flügel  verliehen,  auf  denen  sie  sich  himmelwärts  schwingt. 
Der  lebendigste  Ausdruck  far  diese  Thatsache  ist  das  System  der  ver- 
tikalen Gliederung  und  Höhenrichtung  der  gotischen  Kirche.  Auf  kirch- 
lichem Boden,  dem  sie  entsprossen,  fand  diese  Kunst  auch  vorzugs- 
weise Leben  und  Gedeihen.  Und  dieser  enge  Zusammenhang,  das  Be- 
streben, die  höchste  Verklärung  der  Religion  und  Verherrlichung  der. 
Kirche  zu  sein,  das,  meint  Beichensperger,  bewirkt  ihren  Ruhm  und 
Wert.  Mitten  aus  dem  Volk  herausgewachsen  und  von  ihm  getragen, 
war  die  Gotik  aber  auch  eine  wirklich  nationale  Kunst.  (Etwas  kühn 
ist  zwar  behauptet :  der  germanischen  Race  sei  vorzugsweise  das  archi- 
tektonische Genie  zu  Teil  gefallen,  der  aus  ihr  erwachsene  Stil  sei  zu- 
gleich der  schönste  und  fügsamste.)  Ihre  hinreissende  Kraft  und  innere 
Wahrheit  machte  sie  fähig,  weithin  vorbildlich  zu  werden.  Auch  in 
Italien,  so  wird  konstatiert,  habe  sie  festen  Fuss  gefasst,  und  wenn  sie 
dort  auch  einiges  eingebüsst,  so  habe  sie  dafür  doch  wieder  manche 
Schönheiten  gewonnen  und  jedenfals  den  glänzendsten  Beweis  ihrer  enor- 
men '  Bildungsfähigkeit  geliefert. 

Und  diese  jugendfrische  heilige  Kunst,  die  im  Be- 
griffe stand,  dem  germanischen  Geist  die  Weit  zu  erobern, 
die  angestammte,  glorreiche,  echt  nationale  und  christ- 
liche Kunst  ward  überwuchert  durch  die  Renaissance, 
durch  das  zu  einer  Art  von  Scheinleben  wiedererweckte 
Heidentum  besudelt,  zersört.  —  Es  ist  notwendig,  darauf  hin- 
zuweisen, wie  er  über  die  vorchristliche  Kunst  denkt:  die  Seele  der 
Antike  war  die  Religion,  ihr  Mark  das  Nationalgefühl.  Ihre  grossen 
Meister  waren  darauf  bedacht,  das  heilige  Feuer  des  Ideals  zu  hüten, 
das  im  religiösen  Glauben  und  in  der  Kultur  wurzelte.  Allein  so  grosse 
Werke  sie  auch  hervorgebracht,  ihr  Schaffen  und  Leben  lief  doch  im- 
mer der  Erde  parallel  und  blieb  in  Natur  und  Sinnentum  befangen. 

Dass  man  in  Italien  zuerst  auf  die  Antike  geriet,  glaubt  Reichen- 
sperger  noch  einigermassen  erklären  und  —  entschuldigen  zu  können. 


4  Otto  Honsell 

wenn  man  die  Geschichte  und  natürlichen  Verhältnisse  dieses  Landes, 
die  Lebensweise  seiner  Bewohner  und  die  grossartigen  alten  Denkmäler 
in  Betracht  zieht,  die  sich  den  Blicken  der  Kunstler  stetig  boten.  Die 
Antike  war  hier  im  Grund  genommen  nie  gänzlich  verdrängt,  sondern 
nur  allmählich  dem  Geist  des  Christentums  angepasst  worden.  Darum 
ist  er  auch  geneigt,  der  italienischen  Benaissance  immer  noch  eine  ge- 
wisse Wahrheit,  Gesundheit  und  Naturwüchsigkeit  zuzuerkennen.  Dass 
aber  die  im  Süden  auflebende  Antike  auch  im  Norden  sich  ausbreitete 
und  siegreich  eindrang,  war  eine  masslose  Verblendung,  und  noch  mehr: 
eine  Verirrung  nicht  nur  in  künstlerischer  Hinsicht,  sondern  (was 
Beichensperger  noch  viel  mehr  am  Herzen  liegt)  in  Sachen  des  Glau- 
bens und  der  Kirche.  Benaissance  und  Abfall  vom  Christentum  bedeuten 
ihm  dasselbe;  sie  ist  schlechthin  Heidentum,  und  so  bezeichnet  er  sie 
fast  ausnahmslos.  Ja  er  geht  so  weit  zu  erklären,  die  grosse  Beweg- 
ung des  rinascimento  sei  wesentlich  nichts  anderes  gewesen  als  eine 
grosse  Neuerungssucht  in  Kunst  und  Wissenschaft.  Ihr  begegnete  von 
Norden  her  die  Beformation,  die  Neuerungssucht  im  Glauben,  und  in 
dem  eisigen  Wirbelwind,  der  sich  darüber  erhob,  ging  die  bildende 
Kunst  in  Erstarrung  über.  Dass  der  Norden  die  fremde  Kunst  mit 
offenen  Armen  aufnahm,  die  angestammte  Art  vergass  und  überwuchern 
liess,  das  erscheint  ihm  der  grosse  Irrtum  der  vergangenen  drei  Jahr- 
hunderte ;  für  die  germanische  Kunst  bedeutet  sie  die  Verschüttung  der 
nationalen  Kraft,  der  volkstümlichen  Kunstübung,  des  alten  Glaubens, 
die  Unterbrechung  und  Hemmung  der  gesunden  Entwicklung.  Nicht 
von  innen  ist  sie  gekommen,  ist  vielmehr  von  aussen  angeflogen  und 
ihrem  Wesen  nach  unsern  Bedürfnissen  und  Sitten  durchaus  fremd  ge- 
blieben. Bald  wurde  sie  gelehrt,  kritisch,  vornehm,  blieb  dem  Leben 
der  Nation  ferne  und  ohne  schöpferische  Kraft.  Dem  entsprechen  ihr 
Gesamtcharakter  und  ihre  einzelnen  Elemente:  das  Säulensystem  mit 
seinem  horizontalen  Gebälk  passte  nicht  zu  den  neuen  Verhältnissen  und 
Anforderungen ;  es  waren  ja  die  aus  dem  Altertum  überkommenen  Muster 
fast  alle  nach  einem  streng  abgeschlossenen  System  konstruierte  Tempel ; 
sie  dienten  nun  allem  Möglichen  als  Vorbild,  alles  ward  denn  auch 
gleich  gebaut:  Kirche  und  Theater,  Börse  und  Kasino,  Paläste  und 
Privathäuser. 

Die  gesamte  folgende  Entwicklung  der  Kunst  erscheint  Beichen- 
sperger als  notwendige  Folge  jener  ungesunden,  unnatürlichen  Wand- 
lung, die  Ausartung  in  Hohlheit  und  Leblosigkeit  als  Vergeltung  für 
das  Verlassen  der  eigenen  Weise  und  des  eigenen  Wesens.     Selbst  rei- 


AuguBt  Reichensperger  und  der  Eirchenbaa  der  Renaissance  5 

fere  Schöpfungen  der  Renaissance  sind  doch  nur  taube  Blüten  geworden, 
ohne  Frucht  und  Samen  zu  spenden.  Es  war  nur  konsequent,  wenn  die 
Kunst  sich  vom  Leben  zurückzog,  aus  dem  sie  nicht  erwachsen  war, 
das  sie  nicht  trug;  sie  ward  ein  Opfer  der  Hofarchitekten  und  Stuben- 
gelehrten, wollte  den  gewöhnlichen  Zwecken  des  Daseins  nicht  mehr 
dienen  und  arbeitete  nur  für  Paläste,  Buhmeshallen  und  Museen.  Gänz- 
lich verschwunden  und  begraben  war  alles,  was  die  mittelalterlichen 
Meister  und  ihr  Schaffen  so  gross  gemacht  hatte:  eine  lebendige  Tra- 
dition, die  strenge  Gesetzmässigkeit,  die  vor  Willkür,  der  feine  Sinn  für 
Verhältnisse  und  Massenverteilung  im  Grossen,  der  vor  Starrheit  be- 
wahrte; die  sichere  Empfindung  für  das  Gepräge  und  den  Ausdruck 
ihres  Werkes,  die  Einheit  von  Können  und  Wissen,  von  Handwerk  und 
Kunst,  die  enge  Beziehung  derselben  zum  Leben  in  allen  seinen  Äus- 
serungen. Dahin  alles,  was  ein  lebensfrisches  organisches  Ganzes  hätte 
schaffen  können.  Bezeichnend  wird  der  Mangel  einer  künstlerischen 
Vollendung  im  Grossen  wie  im  Kleinen,  alltäglich  Gebrauchten  und 
Geschauten.  An  die  Stelle  des  Schaffens  tritt  das  Machen,  statt  der 
Vollendung  in  Einseitigkeit  macht  sich  Vielseitigkeit  breit,  ohne  Mittel- 
und  Schwerpunkt.  Wo  die  Antike  nicht  mehr  vorhält,  arbeitet  man  auf 
Bestellung  in  allen  Stilen  zu  gleicher  Zeit  oder  gar  an  demselben  Werk. 
Das  schlimmste  Produkt  sieht  Beichensperger  in  dem  Eklektizismus, 
der  in  erhabener  Unparteilichkeit  Jedem  das  seine  nimmt,  ohne  doch 
jemals  zu  etwas  Eigenem  zu  gelangen,  ebenso  verwerflich  wie  das  Ge- 
lehrtthun,  das  Schaffen  von  Kunst  ohne  Leben  aus  totem  Wissen  und 
blinder  Nachahmung  heraus.  Verderblich  und  ertötend  wirkt  ein  immer 
nach  denselben  Mustern  gerichtetes  Schaffen,  das  Symmetrische,  Steife 
und  Trockene  in  endloser  Wiederholung.  Dazu  kommt  noch  die  äussere 
Unwahrheit,  die  Täuschung  mit  allerlei  Benaissance-Zierwerk,  das  wegen 
Kostspieligkeit  und  Mangel  an  echtem  Material  aus  Cement,  Steinpappe 
und  Zink  hergestellt  wird,  wo  Mörtel  und  Farbe  aus  Holzschäften 
schimmernde,  fettglänzende  Marmorsäulen  hervorzaubern,  aus  Tannen- 
wänden Steininkrustationen  schaffen,  aus  Thon  Bronce  machen.  Voll 
gerechten  Zorns  eifert  er  gegen  die  „Gusseisen -Cellini  und  sonstigen 
Snrrogatenjäger  der  Gegenwart,  die  ihre  Dutzendware  unter  der  Flagge 
des^Genies  der  Renaissance  zu  decken  sich  unterfangen^.  Aufs  heftigste 
bekämpft  er  diese  ünwahrhaftigkeit,  die  er  nur  befördert  sieht  durch 
das  Eindringen  der  Industrie  und  Maschine  in  die  Kunst.  Hierbei  ist 
zu  bedenken,  dass  zu  dieser  Zeit  in  Frankreich  unter  anderm  auch  der 
Vorschlag  gemacht  wurde,  das  Modelliersystem  auf  den  Häuserbau  an- 


6  Otto  HoDsell 

zuwenden:  die  meisten  Kunstprodnkte  unseres  Bedarfs  könnten  auf  diese 
Weise  modelliert  werden;  mit  einem  Dutzend  Modellen  für  jeden  der 
verschiedenen  Gegenstände,  die  zur  Aufführung  eines  Hauses  gehören, 
je  nach  der  Grösse  des  Gebäudes  und  dem  Vermögen  des  Hausherrn, 
wären  alle  vernünftigen  Bedürfnisse  zu  befriedigen  und  so  Hesse  sich 
die  Fabrikation  von  diesen  Stücken  in  Grossmanufakturform  ausführen! 
Mit  leidenschaftlicher  Heftigkeit,  mit  einem  geradezu  fanatischen 
Eifer  stellt  sich  Beichensperger  in  den  Streit  wider  die  herrschende 
Bauweise,  die  ihm  nicht  mehr  eine  Kunst,  sondern  ein  Bild  völliger 
Anarchie  und  Auflösung  ist.  Allein  er  bleibt  dabei  nicht  stehen;  er 
will  etwas  bieten,  wo  er  verdammt.  Das  ist  die  Erneuerung  der  go- 
tischen Kunst.  Wenn  die  gleichzeitige  Wissenschaft  sich  wohl  mit  ihr 
befasst  und  für  ihre  Kenntnis,  nicht  aber  für  die  Erhaltung  oder  Voll- 
endung ihre  Monumente  arbeitet,  so  ist  damit  nicht  genug  gethan. 
Sie  ist  nicht  ein  zurückliegendes  Durchgangsstadium,  ein  abgeschlossenes 

m 

Ganzes,  sondern  aus  der  Beschäftigung  mit  ihr  soll  neue  Kraft  erwachsen, 
sie  wieder  ins  Leben  zurückzuführen.  Den  Vorwurf,  solches  Beginnen 
sei  Rückschritt,  weist  Beichensperger  entschieden  zurück;  „zur  mittel- 
alterlichen Bauweise  zurückkehren,  heisst  vorwärtsschreiten,  vom  Heiden- 
tum zum  Christentum,  vom  Römertum  zum  Deutschtum,  von  anarchisch 
allerwärts  umhertappender  Verirrung  zu  höchster  Einheit  und  Gesetz- 
mässigkeit*^. Oder  mit  anderen  Worten:  es  bedeutet  die  Wiederauf- 
nahme der  Arbeit  der  Vorfahren,  die  Anknüpfung  an  die  Kunst  der 
eigenen  alten  Meister,  welche  durch  eine  unheilvolle  Entwicklung  ver- 
lassen, verdrängt  und  vergessen  wurde. 

Und  der  Schriftsteller  lässt  es  nicht  an  praktischen  Satschlägen 
fehlen,  um  seine  Absichten  verwirklichen  zu  helfen.  —  Die  Grundlage 
für  jedes  Weiterarbeiten  im  Geist  der  alten  Kunst  ist  das  eingehendste 
Studium  des  gotischen  Bauwesens,  seiner  Gesetze  und  Organismen,  ver- 
bunden mit  dem  Bestreben,  sich  in  diese  Schöpfungen  hinein  zu  denken 
und  zu  arbeiten  und  ihr  inneres  Leben  zu  erkennen.  Unentbehrlich 
dafür  genaue  Aufnahmen  und  Messungen  mit  Schnitten  und  Massangabe. 
Sehr  Günstiges  hofft  er  von  der  Aufnahme  der  Kunsttradition  der  mittel- 
alterlichen Bauhütten ;  einen  Anfang  dazu,  die  Bauhütte  am  Kölner  Dom, 
empfiehlt  er  zur  Nachahmung.  Gerade  die  tägliche  Anschauung  der 
besten  Vorbilder,  die  Beschäftigung  mit  ihnen  gilt  ihm  als  ein  wichtiges 
Mittel,  die  Baumeister  heranzubilden.  In  der  Thätigkeit  der  Bauschulen 
soll  die  Tendenz  aufs  Können  und  Schaffen  im  Vordergrund  stehen; 
hier  sei  bis  jetzt  alles  nur  gelernt  und  gewusst,  stilisiert,  nichts  geschaut. 


August  Reichensperger  und  der  Kirchenbau  der  RenaisBauce  7 

Er  stellt  einmal  das  Wesen  dieser  Erziehung  recht  drastisch  dar :  „was 
früher  Lehrlinge  und  Gesellen  hiessen,  sind  heute  alles  Herren  geworden  ; 
diese  Herren  wissen  dann  eine  Unzahl  griechischer  und  lateinischer 
Wörter,  können  die  feinsten  Oefühlslinien,  Licht-  und  Schattenstriche 
machen,  Schattenkonstruktionen  ausführen,  verstehen  mehr  oder  weniger 
Physik,  Chemie,  Mineralogie,  Mechanik,  Perspektive,  Infinitesimalrech- 
nung und  Trigonometrie,  kurz  alles,  alles  —  nur  nicht  die  Eunst^des 
Bauens^.  —  Von  Seiten  der  Kunst-  und  Altertumsvereine  wünscht  er 
eine  rege  Mitwirkung  und  von  der  Regierung  die  nötige  Beihilfe,  die 
den  ersten  Impuls  zu  der  allgemeinen  Bewegung  geben  und  durch 
materielle  Mittel  sie  unterstützen  soll. 

Er  ist  sich  wohl  bewusst,  dass  die  Arbeit  keine  leichte  ist.  Denn 
nur  eine  eingehende  Beschäftigung  mit  den  Werken  und  ihren  Gesetzen 
und  langdauernde,  konsequente  Übung  ermöglichen  das  Verständnis  der 
Gotik  und  ihre  Anwendung.  Oberflächliches  Hantieren  mit  ihr;  ist  ge- 
fährlich, da  ihre  Schwierigkeiten  nur  der  theoretisch  und  praktisch  mit 
ihr  vollkommen  Vertraute  bewältigen  kann.  Jedenfalls  wird  sie,  falls 
nur  die  zugrundeliegenden  Prinzipien  gehörig  verstanden  und  beherrscht 
werden,  jedem  heutigen  baulichen  Bedürfnis  zu  entsprechen  vermögen. 

Die  Wiederbelebung  der  mittelalterlichen  Kunst  hält  nun  Reichen- 
sperger allein  für  möglich  bei  der  Wiederherstellung  des  Bodens,  aus 
dem  sie  erwachsen  ist.  Die  Renaissance  und  in  ihrem  Gefolge  der 
rationalistische  und  materialistische  Geist  haben  (und  davon  ist  er  stark 
überzeugt)  in  die  neuere  Entwicklung  gefährlich  viel  antike  Ideen  und 
Anschauungen  getragen,  Ideen,  die  er  wieder  schlechtweg  als  heidnische 
bezeichnet.  Sie  haben  auch  in  die  Entwicklung  der  Kunst  Verwirrung 
und  Verderben  gebracht.  «Die  Renaissancekünstler,  sagt  er  einmal, 
kannten  nicht  die  Falschheit  und  Tragweite  des  Prinzips,  dem  sie 
dienten*,  und  an  anderer  Stelle :  „man  vergass  damals,  dass  den  Formen 
Ideen  entsprechen,  dass  das  Erlösungswerk  auch  die  Kunst  freigemacht 
hat  und  ihr  die  Bahn  gewiesen,  auf  welcher  der  Geist  die  Wiederher- 
stellung seiner  ursprünglichen  Beziehungen  zum  Schöpfer  .  .  .  anzu- 
streben hat*.  Jetzt  wird  ersichtlich,  welche  Modifikation  die  Erneuerung 
in  seiner  Anschauung  erfährt:  es  ist  der  Wiederaufbau  der  mittelalter- 
lichen Kunst  auf  christlich-nationaler  Basis,  wie  er  es  selbst  bezeichnet; 
wir  sagen  aber  eher  in  seinem  Sinn :  auf  kirchlicher  Basis. 

Von  hier  aus  gewinnen  die  Persönlichkeit  und  die  Kunstauffassung 
unseres  Schriftstellers  ein  ganz  verändertes  Aussehen.  Das  Ziel,  welches 
er  erreichen  helfen  will,  ist  die  Wiederbelebung  der  Gotik.  Das  ist  ihm 


8  Otto  HoDBell 

aber  nicht  die  Hauptsache,  sondern  ins  letzten  Grand  oft  nur  ein  Mittel. 
Die  Kunst  ist  ja  die  Dienerin  der  höchsten  Wahrheit  und  ihrer  Yer- 
künderin,  nämlich  der  Kirche.  Daher  soll  mit  der  alten  Kunst  auch 
wieder  der  alte  Glaube  emporsteigen  und  herrschen.  Sie  aber  soll  wieder 
erblühen  unter  dem  Schutz  der  Kirche.  Denn  unter  ihre  Obhut  ist  nicht 
blos  die  Wahrheit,  sondern  auch  die  Schönheit  gestellt;  sie  soll  dem 
Chaos  entgegentreten,  ihre  Wächter  sollen  mit  ganzer  Kraft  für  diese 
Arbeit  wirken  als  ihre  natürlichen  Hüter  und  Beschützer.^)  Mit  Stolz 
und  Siegesbewusstsein  schaut  er  auf  seine  Kirche.  Mag  es  befremdend 
erscheinen,  dass  er  dabei  immer  mit  Nachdruck  von  der  Gotik  als  einer 
nationalen  Kunst  spricht,  so  erklärt  dies  seine  Ansicht,  dass  seine  Kirche 
eben  darin  ihre  echte  Grösse  zeige,  dass  sie  auf  die  verschiedenen 
Nationalitäten  einging,  ohne  diese  zu  schmälern  und  sich  zu  entkräften. 
Gewähre  sie  doch  jedem  Einzelnen  die  Freiheit,  die  zu  seiner  eigen- 
artigen Entwicklung  notwendig  sei,  aber  so,  dass  sein  Thun  doch  einer 
hohen  und  allgemeinen  Absicht  diene:  Freiheit  und  Notwendigkeit  ver- 
einige auch  sie  in  sich'),  und  hier  liegt  der  Zusammenhang  mit  der 
Gotik,  welche  ihm  wegen  der  Vereinigung  und  Durchdringung  der 
beiden  Gegensätze  in  ihren  Bildungen  als  das  vollkommenste  Kunstwerk 
gilt,  eben  als  der  vollkommenste  Ausdruck  seiner  Kirche.  —  Reichen- 
sperger  behauptet  überall  seinen  exklusiv  konfessionellen,  sagen  wir  be- 
stimmter: ultramontanen  Standpunkt;  er  ist  Katholik  durchaus  und 
stolz  darauf,  unleugbar  ein  Mann  von  Überzeugung  und  Konsequenz. 
Selten  führt  ihn  sein  Eifer  zu  feindseliger  Gehässigkeit.^) 

Die  Erwähnung  dieser  Thatsachen  ist  in  diesem  Zusammenhang 
nötig;  einmal  offenbaren  sie  die  tiefere  und  intimere  Grundlage  seiner 
Bestrebungen  und  seiner  Anschauung  über  die  Kunst,  dann  aber  be- 
leuchten sie  den  eigentümlichen  Fall,  wie  die  Arbeit  für  die  Wieder- 
belebung der  Kunst  durch  Aufnahme  und  Fortsetzung  der  mittelalter- 
lichen Weise  selbst  von  streng  kirchlichem  Standpunkt  aus  als  höchst 
wertvoll,  als  Pflicht  erscheint,  —  ein  Standpunkt,  der  ebenso  einseitig 
als  ungenügend  ist  für  die  Betrachtung  der  Kunst. 

Unter  den  zahlreichen  Angriffen,  die  Reichensperger  erfuhr,  waren 
diejenigen  Anton  Springers  die  schwerwiegendsten,  der  ihm  vorwarf,  von 


1)  Interessant  ist,  wie  er  für  die  jangen  Priester  Kenntnis  der  Kunst  und 
eifrige  Beschäftigung  mit  ihr  verlangt,  nicht  nur  zu  ihrer  allgemeinen  Bildung  des 
Geistes,  zur  Erholung,  sondern  geradezu  als  Pflicht. 

2)  Diese  Erörterungen  haben  den  Aufsatz :  Über  den  Humor  in  der  Kunst  (in 
den  Vermischten  Schriften)  völlig  verdorben. 

3)  Am  heftigsten  in  seinen  nFingerzeigen**. 


August  Reicheosperger  und  der  Eirchenbau  der  Renaissanee  9 

der  ganzen  Entwicklung  der  Kunst  seit  Raffael  und  Michelangelo  habe 
er  keine  Ahnung  und  erkläre  alles  inzwischen  Qeschaifene  für  Teufels- 
werk; worauf  Reicbensperger  die  Erklärung  folgen  Hess,  dass  er  jene 
Meister  hoch  in  Ehren  halte  und,  wo  er  ihren  Grundanschauungen  nicht 
beipflichten  könne,  doch  ihrem  Genie,  der  soliden  Pracht  und  voll- 
endeten Technik  ihrer  Werke  aufrichtige  Bewunderung  entgegenbringe. 
Unermüdlich  ist  er  darin,  seine  Überzeugungen  offen  auszusprechen, 
damit  die  Wahrheit,  die  er  vertritt,  wirke  und  verwirklicht  werde. 
Erwähnenswert  ist  seine  Thätigkeit  für  die  Förderung  des  Kölner  Dom- 
baus, dessen  Vollendung  er  noch  erlebte.^)  üeber  seine  Kunstschrift- 
stellerei  äussert  er  siöh  selber  einmal:  „ihre  Tendenz  geht  nicht  dahin, 
die  Kunstgelehrten  noch  gelehrter  zu  machen,  (wohl  etwas  praktischer), 
vielmehr  habe  ich  mir  die  Aufgabe  gestellt,  das  Wesen  der  christlichen 
Kunst  zu  möglichst  allgemeinem  Verständnis  bringen  zu  helfen,  besonders 
aber  die  opferwillige  Hingabe  an  dieselbe  zu  beleben,  sowie  dem  Ein- 
dringen modernen  Schwindels  in  die  Massen  entgegenzuarbeiten.^  Später 
beschäftigte  er  sich  eingehender  auch  mit  der  gotischen  Profankunst 
und  war  bis  in  die  neunziger  Jahre  thätig  durch  Arbeiten  im  Reperto- 
rium  und  in  der  Zeitschrift  für  christliche  Kunst.  —  In  hervorragendem 
Masse  gewährte  ihm  seine  Stellung  als  ultramontaner  Abgeordneter  in 
der  Volksvertretung,  der  er  die  längste  Zeit  seines  Lebens  angehörte'), 
Gelegenheit,  für  seine  Sache  öffentlich  zu  wirken,  und  er  war  trotz  des 
extremen  Standpunktes  immer  noch  eine  Persönlichkeit,  die,  auf  gewisse 
Sachkenntnis  gestützt,  für  die  Pflege  der  Kunst  wenigstens  Verständnis 
und  praktisches  Urteil  besass. 

IL 
Unverkennbar  zeigt  Beichenspergers  Auftreten  eine  bedeutende  Ein- 
seitigkeit in  der  Betonung  des  Ideengehalts  der  Baukunst  und  ihrer  Abhän- 
gigkeit vom  kirchlichen  Leben.  In  seinen  Schriften  und  seiner  öffentlichen 
Thätigkeit  das  Wertvolle  herauszulösen,  ist  notwendig,  um  seine  Persön- 
lichkeit richtig  zu  würdigen.  Gegenüber  der  Willkür  und  Gesetzlosig- 
keit in  der  Baukunst  weist  er  hin  auf  die  strenge  Gesetzmässigkeit, 
das  Mathematische,  im  Kunstgebilde  als  eine  seiner  wichtigen  Grund- 
lagen ;  einer  unverständigen  Konstruktion  und  sinnlosen  Dekoration  stellt 


1)  Hierzu  zahlreiche  Aufsätze  in  den  Vermischten  Schriften  und  seine  Ab- 
haodlang:  Zur  neueren  Geschichte  des  Dombaus  in  Köln.  (Köln  1880.) 

2)  Seit  1848  bis  1884,  vom  Frankfurter  Parlament  bis  zum  Reichstag,  bewegte 
er  sich  mit  wenigen  Unterbrechungen  in  verschiedenen  gesetzgebenden  Körperschaften; 
er  wurde  1852  der  Grander  der  katholischen  Fraktion,  die  sich  1861  Zentrum  nannte. 


10  Otto  Honsell 

er  die  innere  Wahrheit  der  älteren  Kunst  in  Darstellung  und  Material 
entgegen;  in  der  Zeit,  da  in  Baiern  die  Schlösser  des  einsamen  Königs 
leer  standen,  mahnte  er,  die  Kunst  könne  nur  lebensfähig  werden  als 
Gemeingut  des  Volkes,  das  sie  tragen  müsse;  während  die  Städte  und 
Dörfer  sich  bevölkerten  durch  tote  symmetrische,  jedem  ästhetischen  und 
praktischen  Bedürfnis  Hohn  sprechende  Steinmassen,  erinnerte  er  daran, 
dass  die  Kunst  wieder  wie  ehemals  das  Leben  durchdringen  müsse,  dass 
das  innere  Leben  auch  nach  einer  entsprechenden  Bildung  seiner  Um- 
gebung verlangt,  dass  alles,  das  ganze  Haus  wie  jeder  einfache  Ge- 
brauchsgegenstand, einer  künstlerischen  Behandlung  wert  und  würdig  ist. 

Allein  sein  Eifer  führt  ihn  zu  weit.  Für  jene  Richtung,  die  in 
der  Baukunst  den  gotischen  Stil  für  den  einzig  kirchlichen  hielt, 
war  er  einer  der  entschiedensten  Verfechter  dieser  Überzeugung,  die- 
ses Glaubens.  Denn  bei  ihm  ist  es  wirklich  ein  Glauben;  eine  gewisse 
Voreingenommenheit,  allerlei  Erinnerungen  an  die  Epoche  seiner  Blüte 
leiten  ihn  dabei  und  er  verfällt  beinahe  in  den  nämlichen  Fehler,  den 
er  an  seinen  Gegnern  rügt.  Was  seinem  Urteil  vorangeht,  ist  nicht  ein 
Schauen,  selbst  nicht  einmal  immer  bei  der  Gotik,  (in  der  er  sich  noch 
am  besten  auskennt,)  sondern  blos  ein  Denken,  nicht  aber  ein  Nach- 
denken, sondern  ein  Hineindenken,  Hineinlegen  von  bestimmten  Absichten 
und  Zwecken,  Gedanken.  Mag  seine  politische  Stellung  ihn  immer  ver- 
leiten, in  der  Kunst  mehr  als  billig  nach  grossen  Zusammenhängen  mit 
dem  gesamten  Leben  eines  Volkes  zu  suchen :  sobald  er  als  Kunstschrift- 
steller auftritt,  bildet  dieser  Umstand  keine  Entschuldigung  für  seine 
Einseitigkeit  und  den  Mangel  an  genauer  Kenntnis  dessen,  was  er  be- 
dingungslos verdammt. 

Zwischen  allen  Stilen  der  Kunst  nach  der  Renaissance,  besonders 
in  Deutschland,  giebt  es  für  Beichensperger  ganz  und  gar  keine  Unter- 
schiede. Man  darf  sagen,  er  schlägt  alles  über  einen  Leisten ;  man  ge- 
winnt die  Überzeugung,  dass:  er  mit  einem  gewissen  Schauder  von  der 
Renaissance  und  der  Kunstarbeit  der  nächsten  Jahrhunderte  spricht  und 
den  Abscheu  gerne  los  wird,  indem  er  schnell  über  jene  Periode  hinweg- 
geht und  sie  als  ein  grosses  Verderben  hinstellt!  Sie  ist  ja  für  ihn 
nichts  anderes  als  die  Zeit  des  Streites  wider  die  alte  Kirche,  des 
Rationalismus  und  des  Unglaubens;  daher  die  gleichzeitige  Kunst  der 
Ausdruck  derselben,  die  Offenbarung  einer  ganz  unkirchlichen  Gesinnung. 
Die  baukünstlerische  Thätigkeit  der  Jesuiten,  Barock,  Rokoko,  Klassi- 
zismus, alles  gilt  ihm  gleich  und  schlechthin  verwerflich.  Kaum  an- 
merkend will  er  dem  Rokoko  noch  in  der  Ausstattung  eine  gey^isse  solide 


August  Reichensperger  und  der  Kirchenbau  der  Renaissance  H 

Technik  znerkennen ;  aber  wie  äussert  er  sich  sonst  darüber,  wie  schreckt 
er  zurück  wie  vor  einem  Gebilde  des  Wahnsinns!  ^ Jedes  Prinzips  und 
jeder  Grundlage  baar,  taumelte  die  emanzipierte  Kunst  im  Delirium 
des  Bokoko  umher,  die  Gaffer  mit  ihren  Kaprizen  ergötzend.  Wer 
kennt  nicht  den  buntscheckigen  Wirrwarr  dieses  Stils  mit  seinen  Aus- 
wüchsen, Verkröpfungen,  Schnecken  und  Genien,  pomphaft  aufgestellten 
Triumphbögen,  Altären,  durcheinander  gestikulierenden  Statuen  und 
Pfropfziehersäulen  etc/  Mag  man  immerhin  bedenken,  dass  die  allge- 
meinere Anerkennung  der  Barockkun^t  und  des  Rokoko  noch  sehr  jung 
ist,  so  zeigt  sich  hier  am  deutlichsten,  wie  alles  nur  gedacht  ist  und 
wie  verderblich  es  wirken  kann,  überall  nur  Absichten  und  Zwecke 
(wenn  auch  sehr  hohe)  in  die  Formen  und  Gebilde  der  Kunst  hinein- 
zulegen und  darnach  ihren  Wert,  ihre  Bedeutung  zu  bestimmen.  Ein  so 
konsequentes  Kunst-Denken  muss  jede  aufrichtige,  natürliche  Empfindung 
schon  von  ferne  ertöten. 

Ebenso  einseitig,  nur  weniger  beschränkt,  zeigt  sich  seine  An- 
schauung über  den  romanischen  Stil.  Es  mag  nicht  unrecht  sein,  ihn 
als  ein  Entwicklungsstadium  zu  bezeichnen,  ihm  keine  volle  Reife  zu- 
zuerkennen; aber  diese  Beurteilung  gründet  sich  keineswegs  auf  die 
Kenntnis  seiner  Entwicklung  und  künstlerischen  Formen.  Der  Geist, 
heisst  es  da,  ringt  noch  mit  der  Materie  um  die  Herrschaft,  die  Teile 
führen  noch  ein  gesondertes  Leben,  enthalten  noch  uubewältigte,  nicht 
gehörig  gegeneinander  abgewogene  Massen.  Vor  allem  aber  offenbare 
der  Stil  noch  zu  viel  „vorchristliche  Beminiscenzen'.  Daher  kann 
Beichensperger  auch  nicht  den  Ideengehalt  in  ihni  finden  (oder  in  ihn 
hineinlegen),  der  ihm  nun  einmal  die  folgende  Periode  so  verklärt  er- 
scheinen lässt. 

Wenn  er  von  mittelalterlicher  Kunst  spricht,  so  ist  das  stets  und 
ausschliesslich  die  Gotik.  Er  geht  dabei  aus  von  ihrer  Universalität, 
welche  sie  fähig  gemacht  habe,  vorbildlich  zu  werden  für  den  ganzen 
Occident.  —  Ich  möchte  hier  auf  zwei  seiner  Äusserungen  zurück- 
kommen: die  eine  betrifft  die  Ausdehnung  der  Gotik,  die  andere  die 
Grenzen  ihrer  Bildungsfähigkeit.  Die  christlich-nationale  Bauweise  (auf 
die  Frage,  ob  Deutschland  oder  Frankreich  die  erste  Ausbildung  dieses 
Stiles  sein  eigen  nennen  dürfe,  lässt  er  sich  nicht  ein)  hat  auch  in 
Italien  festen  Fuss  gefasst,  hat  dort  gegen  manche  Einbusse  andere 
Schönheiten  gewonnen  und  damit  jedenfalls  gezeigt,  dass  sie  im  höchsten 
Grad,  ja  ins  Unbegrenzte  weitergebildet  werden  kann.  Weniger  die 
Aussprüche  späterer  Kunsthistoriker  als  vielmehr  die  Monumente  jener 


12  Otto  Honsell 

Zeit  beweisen,  dass  die  Gotik  in  Italien  nie  recht  heimisch  ward.  Oerade 
die  wesentlichen,  charakteristischen  Elemente  des  nordischeu  Stiles  sind 
bei  ihr  vernachlässigt  oder  ausgeschieden.  Bedeutend  geschwächt  ist 
die  Höhenrichtung,  das  System  der  Strebepfeiler  und  -bogen  oft  auf- 
gegeben, es  fehlt  die  Gliederung  der  Pfeiler  und  die  Ausbildung  der 
Bippen,  sogar  zuweilen  das  Gewölbe,  an  dessen  Statt  ein  offener  Dach- 
stuhl tritt.  Endlich  aber  das  höchste  Ergebnis  der  nordischen  Eunst- 
arbeit,  das  Hineinbeziehen  der  Türme  in  den  Gesamtorganismus,  wurde 
in  der  Begel  nicht  übernommen:  die  Dome  zu  Orvieto,  Siena,  Florenz 
haben  ihre  Gampanili  wie  die  früheren  Kirchen  gesondert  stehen;  wo 
sie  mit  der  Kirche  vereinigt  sind,  erscheinen  sie  in  unbedeutenden 
Höhenverhältnissen  und  verlieren  den  Charakter  des  Turmes,  wie  der 
Aufbau  über  der  Vierung  der  Mailänder  Kathedrale.  Es  besteht  zwischen 
der  italienischen  Gotik  und  der  nordischen  ein  ähnliches  Verhältnis  wie 
zwischen  der  deutschen  Benaissance  im  Anfang  und  der  italienischen; 
sie  übernahm  von  ihr  wesentlich  die  Ausschmückung,  nicht  die  Kon- 
struktionsprinzipien. Was  sie  Wunderbares  hervorgebracht  hat,  verdankt 
sie  weniger  speziell  dem  Stil  der  Gotik,  als  dem  ihren  Baumeistern  an- 
geboren sicheren  Gefühl  für  Baumbildung  und  -disposition.  Wenn 
übrigens  auch  nachweislich  deutsche  Meister  im  Süden  arbeiteten  (in 
Mailand  und  Orvieto  wie  in  Burgos),  so  mussten  sie  sich  in  vielem 
dem  herrschenden  ^Bedürfnisse  fugen. 

Die  Universalität  des  gotischen  Stils  findet  Beichensperger  darin 
begründet,  dass  sie  nicht  fertige  Formen,  sondern  nur  einfache  Gesetze 
und  feste  Konstruktionsprinzipien  giebt  und  dadurch  eine  Fortbildung 
ins  Unendliche  zulässt.  Er  ist  aber  geneigt,  mit  jedem  derartigen  Ge- 
setz eine  höhere  Bedeutung,  nicht  ein  einzelnes  Symbol,  sondern  einen 
religiösen  Inhalt  zu  verknüpfen.  Keineswegs  ist  jedoch  anzunehmen, 
dass  die  schaffenden  Meister  die  Absicht  oder  das  Bewusstsein  gehabt 
hätten,  dies  oder  jenes  Gesetz  und  Prinzip  zu  einem  bestimmten  Inhalt 
anzuwenden  oder  auszubilden ;  an  die  Verkörperung  gewisser  symbolischer 
Verhältnisse  und  Zeichen  ist  hier  zunächst  nur  insofern  zu  denken,  als 
überhaupt  das  ganze  mittelalterliche  Leben  die  Symbolik  und  Mystik 
aus  angeborenem,  durch  Beligion,  Legende  und  Altertum  genährten 
Hang  reichlich  pflegte.  Hier  kommt  aber  femer  die  ganze  von  der 
heutigen  so  grundverschiedene  Kunstübung  in  Betracht,  die  Zunft  mit 
ihrem  bis  in  die  Hochgotik  erhaltenen  kirchlichen  Charakter,  mit  ihren 
Gesetzen  und  Verboten,  mit  ihrer  lebendigen,  sorgfältig  bewahrten  Tra- 
dition.   Nicht  für  Papier  oder  eine  Modelliermasse,  sondern  unmittelbar 


Augast  Reichensperger  und  der  Kirchenbau  der  Renaissance  IS 

und  lediglich  ffir  Stein  dachten  und  arbeiteten  die  Baukünstler  bei  ihren 
Kirchen;  daraus  erwuchs  die  Notwendigkeit  jedes  Gebildes  und  der 
Gliederung  und  die  Einfachheit,  und  mit  Naturgewalt  musste  so  das 
Gesetz  hinter  der  Bildung  durch  langdauernde  Übung  gefunden  werden. 
Etwas  Künstlerisches  hätte  nicht  entstehen  könnnen,  wenn,  wie  Reichen- 
sperger annimmt,  ein  unmittelbarer  Einfluss  religiöser  Vorstellungen  auf 
die  Bildung  der  Gesetze  und  ein  mehr  immanentes  als  bewusstes  Ein- 
mrken  solcher  Prinzipien  auf  das  ausübende  Schaffen  bestanden  hätten. 
Daran  ist  hier  nicht  zu  denken.  Denn  als  einmal  die  höchste  Sicher- 
heit in  der  Bewältigung  der  Massen  erreicht  war,  überwucherten  die 
schmückenden  Formen  die  Konstruktion,  aus  architektonischen  Gebilden 
wurden  dekorative,  deren  Ausbildung  und  Überwiegen  die  späte  Gotik 
kennzeichnen.  Die  nordische  Kunst  war,  als  die  Bewegung  der  Renais- 
sance über  die  Alpen  kam,  keineswegs  so  jugendfrisch,  wie  Reichen- 
sperger erklärt,  sie  war  vielmehr  schon  gealtert  und  hatte  von  ihrer 
ursprünglichen  Kraft  viel  eingebüsst. 

In  seiner  Anschauung  liegt  die  Grösse  der  gotischen  Kunst  darin 
beschlossen,  dass  sie  der  adäquate  Ausdruck  kirchlichen  Lebens  und 
kirchlicher  Gemeinschaft  ist  und  zugleich  des  nationalen  Lebens,  (insofern 
nämlich  jenes  in  Deutschland  zur  herrlichsten  Blüte  sich  entwickelt 
haben  sollte).  Es  mag  aber  überhaupt  mit  Fug  als  geßlhrlich  erscheinen, 
in  Sachen  der  bildenden  Kunst  so  häufig  mit  den  Begriffen  des  Natio- 
nalen und  Christlichen  zu  operieren.  Schon  dass  es  abstrakte  Begriffe  sind, 
möchte  eine  Warnung  enthalten;  denn  muss  ihnen  auch  wirkendes 
Leben  entsprechen,  so  steht  dies  nicht  in  so  unmittelbar  erkennbarem 
Zusammenhang  mit  seinen  verschiedenen  Äusserungsformen,  auch  nicht 
mit  der  bildenden  Kunst. 

Im  Kunstschönen,  sagt  uns  Reichensperger,  findet  die  Religion  ihren 
reinsten,  erhabensten  und  wirksamsten  Ausdruck.  Und  was  ist  der 
Zweck,  was  die  Aufgabe  der  Kunst?  Sie  ist  nicht  Lebensgenuss,  sondern 
sie  steht  im  Dienst  der  höchsten,  der  christlichen  Wahrheit.  Wer  dem 
ersten  zustimmt,  kann  dem  letzteren  entschieden  entgegentreten.  Und 
braucht  noch  lange  nicht  die  Kunst  als  Selbstzweck  zu  verherrlichen. 
Es  ist  hier  zu  unterscheiden:  für  den  Schaffenden  muss  sie  in  vielen 
Fällen,  in  den  Momenten  des  Schaffens  wohl  notwendig  Selbstzweck 
sein,  damit  er  nicht  wisse,  dass  er  etwas  künstlerisches  hervor- 
bringt; hier  aber  handelt  es  sich  und  auch  im  Folgenden  um  das  fer- 
tige Werk,  um  die  künstlerische  Stimmung,  die  es  erzeugt,  um  das 
höhere  Leben,  das  es  in  sich  bannt,  das  den  Menschen  in  seinen  Bann 


14  Otto  Honseil 

zieht.  —  Etwas  wesentlich  Verschiedenes  ist  es  aber,  wenn  wir  sagen: 
die  Kunst  ist  der  reinste  Ausdruck,  die  höchste  Verklärung  religiösen 
Lebens,  oder :  sie  dient  der  religiösen  Wahrheit,  ist  ihr  unterthan,  ist 
nur  für  sie  da  und  gilt  ohne  engen  Zusammenhang  mit  ihr  nichts  P  Die 
letzte  Konsequenz  ist  bei  Beichensperger,  wenn  nicht  ausgesprochen, 
doch  deutlich  genug  gezogen.  Verdammt  er  doch  die  Kunst  der  Renais- 
sance deshalb,  weil  sie  der  Kirche  nicht  mehr  ausschliesslich  dient,  an- 
tike Vorbilder  und  Ideen  aufnimmt,  eine  Erneuerutig  des  ,,Heidentums'' 
herauffuhrt. 

In  diesem  Streit  steht  in  erster  Linie  die  Frage  nach  der  Bedeu- 
tung der  Renaissance  im  Kirchenbau.  Reich ensperger  spricht  ihr,  da- 
mals wie  heute,  jede  Berechtigung  darin  schlechtweg  ab ;  ihre  Kirchen, 
St.  Peter  oben  an,  sind  ihm  Wahrzeichen  der  traurigsten  Verirrung. 

Seine  Anschauung  wird  hier  zum  Beispiel  des  einen  Extrems. 

Versuchen  wir  einmal,  an  der  Hand  seiner  Ausfahrungen  den  Stand- 
punkt zu  formulieren,  welchen  die  Gegner  der  Renaissance  im  Kirchen- 
bau einnehmen,  so  ergiebt  sich  im  allgemeinen  folgendes.  Die  Renais- 
sance trug  in  das  moderne  Leben  antike  Ideen,  in  die  Kunst  antike 
Vorbilder  herein.  Diese  verlässt  die  früheren  Bahnen,  stellt  sich  nicht 
mehr  ausschliesslich  in  den  Dienst  der  Kirche,  ist  nicht  mehr  religiös, 
sondern  weltlich.  Wie  die  Antike,  wurzelt  sie  im  „Sinnentum*  und 
haftet  an  der  Erde.  Aus  ihren  Bauten  vertreibt  sie  das  religiöse  Leben, 
statt  es  darin  zu  hüten,  zu  pflegen,  zu  verklären.  Mögen  Paläste  und 
Profanbauten  überhaupt  ihre  Verwendung  rechtfertigen :  dem  Gotteshaus 
soll  sie  ferne  bleiben ;  ihre  Harmonie,  ihre  Pracht  und  ihr  Glanz  lassen 
den  .Andächtigen  völlig  kalt.  Die  Renaissance  hat  überhaupt  keinen 
„sakralen  Stil'  ausgebildet  oder  geschaffen. 

Die  Frage  gewinnt  also  eine  ungeheure  Tragweite.  Am  besten  wer- 
den die  Verhältnisse  in  Italien  Aufschluss  geben.  Zunächst  wird  es  ge- 
boten sein,  die  Entwicklung  der  Renaissancekirche  in  Italien  und  in  den 
wichtigsten  nordischen  Ländern  kurz  zusammenzufassen ;  darauf  soll  ver- 
sucht werden,  den  Zusammenhang  von  Kunst  und  Kirche  der  Renaissance 
deutlich  zu  machen  und  ihren  Einfluss  auf  die  Kunstübung  des  Nor- 
dens nach  Wert  und  Folgen  begiündend  darzustellen.  Dann  erst  wird 
sich  ergeben,  in  welcher  Art  ein  Urteil  über  die  Bedeutung  der  Renais- 
sance im  Kirchenbau  möglich  ist. 


August  Beicheusperger  und  der  Kirchenbau  der  Kenaissance  15 

in. 

Um  fär  die  Frage  nach  dem  Wesen  der  Benaissancekirche  eine 
feste  Grundlage  zu  gewinnen,  möge  hier  eine  kurze  Übersicht  ihrer  Ge- 
schichte Platz  finden.  Sie  soll  die  formale  Entwicklung  in  ihren  wich- 
tigsten Funkten  zusammenstellen.  Massgebend  ist  die  Gesamterschein- 
ung, sind  die  Elemente  ihres  Aufbaues  und  daneben  der  Grundplan,  der 
die  Idee  des  Bauwerks  in  knappster  Form  darstellt. 

Die  Benaissance- Architektur  Italiens  erstarkte  im  Kampfe  gegen 
die  Gotik,  im  Bund  mit  dem  Humanismus.  Im  Verhalten  gegen  den 
vorausgegangenen  Stil  hatte  bereits  das  sichere  eigene  Eunstvermögen 
seine  Stärke  gezeigt:  das  Hauptgewicht  lag  nicht  auf  der  vertikalen 
Gliederung  und  Entwicklung,  sondern  auf  der  Schönheit  der  'Bäume, 
der  harmonischen  Disposition  von  Flächen  und  Massen.  Schnell  wurde 
engerer  Zusammenhang  mit  der  Antike  gewonnen,  mit  Stolz  die  eigent- 
lich nie  verdrängte  Kunst  wieder  aufgenommen,  als  die  einheimische, 
echte,  grosse  dokumentiert.  Man  empfand  das  Neue  als  Bruch  mit  der 
Vergangenheit,  dem  Altertum  (soweit  es  bekannt  war)  nachzueifern 
wurden  alle  Kräfte  eingesetzt.  Es  begann  aber  zuerst  nur  mit  einzel- 
nen Formen,  nicht  mit  umfangreichen  Besten  und  grossen  Denkmälern 
einzuwirken.  Nicht  blinde  Nachahmung,  sondern  eigene  Arbeit  führten 
die  Grösse  der  Benaissance-Architektur  herauf.  Schon  das  innerlich 
treibende  Gesetz  aller  ihrer  Schöpfungen,  das  auch  ihren  künstlerischen 
Gehalt  letzthin  bestimmt:  das  der  „geometrischen  und  kubischen  Ver- 
hältnisse* ist  wesentlich  ihre  eigene  Errungenschaft.  Wohl  verarbeitet 
sie  ältere  Formen,  schafft  aber  daraus  etwas  Neues,  einen  Baumstil, 
wie  ihn  selbst  die  Bömer  nicht  gekannt  hatten. 

Er  kommt  im  Kirchenbau  zur  herrlichsten  Erscheinung,  vorzüglich 
im  Centralbau,  der  seit  Anfang  das  höchste  Ziel  ist  und  die  vollkom- 
menste Leistung  auf  dem  Gebiet  der  religiösen  Benaissancebaukunst 
wird.  Hinsichtlich  der  Gestaltung  einzelner  Teile  tritt  im  allgemeinen 
in  der  Hochrenaissance  gegenüber  einer  zaghaften  Plastik,  der  Bevor- 
zugung von  Ornament  und  farbenfreudiger  Dekoration  und  der  Konzen- 
trierung des  Schmucks  auf  einzelne  Teile  das  Bestreben  nach  Verein- 
fachung in  dieser  Bichtung  hervor,  nach  Verstärkung  des  architektoni- 
schen Elements  (Nischen,  Umrahmungen,  Giebel,  Halbsäule,  später 
dorische  Säule  besonders  und  Pilasterordnungen)  und  nach  Vermehrung 
der  Kontraste  (in  der  ganzen  Disposition  und  im  Einzelnen,  Abwechse- 
lung von .  Fenster,  Nischen,  umrahmten  Feldern,  von  Halbsäulen  mit 
Pilastern). 


16  Otto  äoDsell 

Die  ganze  Entwicklung  der  italienischen  Renaissancekirche  kann 
aufgefasst  werden  als  Kampf  zweier  Haupttypen :  Langhaus  und  Central- 
bau.  Beide  treten  gleich  anfangs  auf  und  kommen  gegenseitig  modifiziert 
vor;  in  der  höchsten  Blüte  herrscht  der  Centralbau,  am  Ende  siegt  die 
Longitudinalanlage  unter  Beibehaltung  von  Motiven,  die  jenem  ange- 
hören. 

Das  Centrum  der  Frührenaissance  ist  Florenz.  Ihre  erste  Gross- 
that  die  Vollendung  von  Arnolfos  Dom  durch  Brunellescos  gewaltige 
Spitzkuppel,  an  Dimension  und  Grossartigkeit  denen  der  Hochrenaissance 
ebenbürtig,  unter  dem  Einfluss  desselben  Meisters  entstehen  S.  Spirito 
und  S.  Lorenzo,  Säulenbauten  mit  Bogen,  bereits  herrliche  Räume,  voll 
Helle  und  Klarheit,  wesentlich  verschieden  vom  Charakter  mittelalter- 
licher Kirchen.  Der  hiermit  zur  Geltung  gebrachte  Typus  der  Basilika 
wird  neben  der  Säulenkirche,  zum  Teil  mit  Tonnen  gewölbt,  zum  Teil 
von  niederen  Kuppeln  überhöht,  vorbildlich  für  zahlreiche  Kirchen  Ober- 
italiens, Bolognas,  Ferraras  (S.  Francesco),  Piacenzas  (S.  Sisto).  Das 
Äussere  ist  meist  schlicht  gehalten,  anderwärts  wieder  sorgfältiger  be- 
handelt durch  Ausbildung  einer  Fa9ade.  All  diese  Kirchen  bilden  inner- 
lich den  Gegensatz  zum  Typus  des  Centralbaus,  sind  auch  nicht  vor- 
zugsweise auf  die  Wirkung  schöner  Räume  hin  gebildet. 

Leon  B.  Albertis  Kirchen  scheinen  fast  der  Entwicklung  vorauszu- 
greifen. Seine  Fafaden,  prächtige  Vorbauten,  zeigen  eine  oder  zwei  Ord- 
nungen mit  Halbsäulen  oder  Pilastern,  zuweilen  den  Giebel.  (S.  Fran- 
cesco in  Rimini ;  S.  Andrea  in  Mantua,  mit  bedeutendem  Portal  zwischen 
vier  Pilastern ;  S.  Maria  novella  in  Florenz,  das  erste  Beispiel  von  Stein- 
voluten, die  aber  hier  mit  Inkrustation  geschmückt  sind.)  —  Nicht  mit 
derselben  Sicherheit  behandelt  wie  die  Bauten  des  grossen  Theoretikers 
sind  zahlreiche  Kirchen  Ober-  und  Mittelitaliens  der  Frühzeit.  Man 
wendet  antike  Formen  an,  ohne  sie  noch  in  eigentümlicher  Art  ver- 
wenden zu  können.  So  die  Kirchen  Baccio  Pintellis  (S.  Maria  del 
popolo,  S.  Agostino)  in  Rom,  welches  überhaupt  zu  Anfang  im  Kirchen- 
bau nur  unbedeutendes  hervorbringt.  Die  hier  zuweilen  auftretenden 
Vorhallen  an  Kirchen  tragen  ein  durchaus  profanes  Element  in  sie  hin- 
ein (Fafaden  von  S.  Pietro  in  Vincoli,  SS.  Apostoli,  S.  Marco) ;  später 
auch  an  S.  Maria  in  Navicella).  —  In  Abhängigkeit  vom  Material  lei- 
sten einige  Bauten  Oberitaliens  und  Nordtoskanas  Eigenartiges:  so  der 
Backsteinbau  der  Madonna  di  Galliera  in  Bologna,  die  Misericordia  in 
Arezzo  und  andere,  die  an  kleinen  Fa9aden  allen  Schmuck  in  einem 
Prachtportal  konzentrieren.  —  Ganz  isoliert  steht  die  Fa9ade  der  Cer- 


August  ßeichensperger  und  der  Kirchenbau  der  Kenaissance  17 

tosa  bei  Pavia.  ohne  spätere  Analogie,  aber  von  wichtigstem  Einfluss 
auf  die  Formenwelt  des  Nordens;  mit  völliger  Auflösung  der  Pfeiler  in 
Nischen  mit  Statuen,  im  Aufbau  völlig  unabhängig  von  den  antiken 
Ordnungen  (Burckhardt).  Ebenso  vereinzelt  ist  der  Dom  von  Pienza, 
eine  lichte  dreischiffige  Hallenkirche,  als  Erinnerung  an  die  Wirkung 
nordischer  Kirchen  von  ihrem  Gründer  gedacht. 

Das  höchste  Problem  auch  für  die  Langkirchen  ist  die  Baumgestal- 
tung, die  Innenwirkung.  Von  den  wichtigsten  Möglichkeiten  ihrer  Bildung : 
als  ein-  oder  mehr-(drei)-schiffige,  flachgedeckte  oder  gewölbte  Räume 
findet  schon  der  einfachste  bedeutende  Ausbildung.  Als  einschiffig  flach- 
gedeckt charakterisieren  sich  längere  Zeit  die  Ordenskirchen ;  sie  erhalten 
Kapellen  an  der  Langseite,  auf  deren  Anschluss  an  das  Schiff  alles  an- 
kommt (die  Eingänge  bald  triumphbogenartig,  bald  einfach  von  Pila- 
stern  flankiert).  Hierher  gehören  Giul.  da  Sangallos  S.  Maria  Maddalena 
deTazzi,  Antonio  da  Sangallos  (d.  J.)  S.  Spirito  in  Rom,  ferner  Kirchen 
Neapels.  —  Reichste  Variationsfilhigkeit  büßtet  die  dreischiffige  Qewölbe- 
kirche;  eine  Grundform,  die  vereinzelt  immer  wieder  auftritt,  wertvoll 
durch  die  Fähigkeit,  Motive  des  Centralbaus  sich  zu  verbinden.  Der 
unter  Nikolaus  V.  ausgebildete  Plan  für  St.  Peter  sollte  diese  Richtung 
einschlagen.  S.  Giovanni  in  Padua  hat  noch  polygonale  Kapellen  am 
Langhaus.  Von  guter  Innenwirkung  ist  die  Annunziata  Arezzos,  mit 
einer  Fenstermauer  zwischen  Pfeiler  und  Gewölbe,  und  mit  niedrig  ge- 
haltener Kuppel.  Ein  weiterer  Schritt  ist  die  Gliederung  des  Langhauses 
in  Abschnitte,  entsprechend  der  Auflösung  des  Gewölbes  in  einzelne 
Kuppeln.  Dies  Prinzip  ward  massgebend  für  den  Dom  zu  Pavia,  vor- 
züglich für  S.  Giustina  in  Padua,  das  im  Mittelschiff  drei  Flachkuppeln 
trägt,  an  den  Seitenschiffen  Kapellenreihen  führt,  die  Abschlüsse  von 
Querhaus  und  Chor  sind  durchweg  rund;  diese  Elemente  sichern  eine 
günstige  Lichtführung  und  schaffen  schöne  Räume.  —  Ähnlichen 
Charakter  besitzen  Kirchen  Venedigs  (S.  Salvatore  und  S.  Giorgio  mag- 
giore;  in  Padua  der  Dom  Righettos). 

Diese  Entwicklung  begleitet  die  Ausbildung  des  Centralbaus.  Er 
erfüllt  schon  lanpfe  die  Phantasie  der  Künstler,  zeigt  sich  auf  Werken 
der  Kleinkunst,  im  Hintergrund  von  Gemälden.  Mittelalter  und  Altertum 
boten  auch  fortwährend  Anregung:  das  Baptisterium  in  Florenz,  in 
Bavenna,  S.  Lorenzo  in  Mailand,  in  Rom  Minerva  medica  und  das 
Pantheon  (letzteres  späterhin  überhaupt  das  Vorbild  der  grossen  Ver- 
hältnisse und  Masse).  Am  reinsten  verwirklicht  diese  Kunstform  die 
Ideale   der   Zeit:    „absolute  Einheit   und  Symmetrie,   vollendet  schöne 

NEUE  HBTDELB.  JAURBUECHRR  XII.  2 


18  Otto  Ronsell 

Gliederung  und  Steigerung  des  Raums,  harmonische  Durchbildung  des 
Äussern  und  Innern  ohne  müssige  Fa9ade,  herrliche  Anordnung  des 
Lichts. '  Dominierend  und  centralisierend  erhebt  sich  der  Mittelbau  über 
die  Umgebung;  seine  charakteristische  Form  ist,  als  Abschluss  eines 
Raums,  kein  turmartiges  Gebilde,  sondern  nur  die  Kuppel ;  ihrer  Wölbung 
entspricht  auch  der  runde  Abschluss  der  Bauteile  im  Grundplan.  Die 
Überführung  der  Kuppel  vom  polygonalen  Unterbau  durch  den  Gylinder, 
wesentlich  eine  That  Bramantes,  und  die  Calottenform  sind  erst  spätere 
Resultate.  Was  der  nordischen  Architektur  der  Turm,  ist  der  italienischen 
Renaissance  die  Kuppel;  sie  verträgt  keine  Türme  neben  sich  in  ihrer 
höchsten  Bedeutung,  bedarf  auch  keiner  Fapade,  die  sie  doch  auf  jeden 
Fall  beherrschen  müsste ;  sie  verträgt  auch  nicht  störende  Einbauten  im 
Innern  (Gräbmäler,  Altäre),  der  Hauptaltar  findet  im  hinteren  Kreuzarm 
seinen  Platz ;  endlich  verlangt  sie  Unterordnung  der  Plastik  und  Malerei. 
Im  Gentralbau  kommt  das  Gesetz  der  schönen  Verhältnisse  am  schwie- 
rigsten, aber  auch  am  besten  zu  reinem  Ausdruck,  gelangt  die  raum- 
bildende Kunst  zur  herrlichsten  Entfaltung,  findet  jene,  den  Baukünstlern 
der  italienischen  Renaissance  so  eigene,  absolute  architektonische  Kraft 
ihre  vollkommenste  Auswirkung. 

Bereits  Brunellesco  arbeitet  in  dieser  Richtung;  selbständig  zuerst 
an  dem  (nicht  ausgeführten)  Polygon  «bei  den  Angeli"  in  Florenz,  das 
ein  achtseitiger  Kuppelraum  mit  acht  Oberlichtfenstern  und  Kapellen 
werden  sollte  mit  Nischen  in  der  Mauerdicke;  vollendet  wurde  erst  die 
Pazzikapelle,  deren  Kuppel  bereits  über  zwei  Bogen  schwebt.  Zunehmende 
Sicherheit  in  der  Beherrschung  der  Raumwirkung  offenbaren  die  folgen- 
den: die  Madonna  degli  Carceri  zu  Prato  (von  Giul.  da  Sangallo)  mit 
niedrem  Cylinder  und  geraden  Kreuzabschlüssen,  und  Madonna  di  San 
Biagio  in  Montepulciano  (von  Antonio  da  Sangallo),  welche  ihre  Kuppel 
mit  Cylinder  auf  vier  gut  gegliederten  Pfeilern  trägt  (merkwürdigerweise 
mit  —  getrennt  stehenden  —  Türmen,  wovon  einer  ausgeführt;  neben 
ihm  nennenswert  nur  der  Turm  an  S.  Spirito  in  Rom  mit  günstiger 
Behandlung  der  Pilaster,  die  zwei  Stockwerke  zusammenfassen).  Nicht 
selten  zeigen  kleinere  Kirchen  (z.  B.  in  Venedig  S.  Giovanni  Grisostomo) 
quadratische  Anlage  mit  Kuppel  über  vier  mittleren  Pfeilern. 

Die  Ausbildung  des  Centralbaus  zu  seiner  höchsten  Vollendung  ist 
die  Lebensaufgabe  Bramantes;  das  Resultat:  die  Durchführung  des 
griechischen  Kreuzes  mit  halbrunden  Abschlüssen,  und  die  sichere 
Lösung  der  Überführung  des  Polygons  zur  Kuppel  durch  den  Cylinder. 
—  Gegenüber  andern  Versuchen:   Canepanova  in  Pavia  hat  noch  Vor- 


August  tleicliensperger  undl  der  Kirchenbaa  der  tteoatssance  Id 

halle  und  Chor  vereinigt  mit  dem  Mittelbau;  freier  schon  die  Kapelle 
an  S.  Satiro  in  Mailand  (darüber  Octogon  mit  Nischen,  Fries,  Umgang 
und  gutes  Oberlicht),  S.  Maria  delle  Grazie  zeigt  schon  den  Meister 
vor  der  Vollendung:  vorzügliche  Raumwirkung,  Harmonie  der  Verhält- 
nisse, vornehme  Einfachheit  der  Anordnung  und  feine  Ausbildung  der 
Einzelglieder.  Hier  ist  auch  die  äussere  Erscheinung  der  Kuppel  harmo- 
nisch durchgebildet.  —  Unter  seinem  Einfluss  entsteht  auch  die  Conso- 
lazione  zu  Todi;  ihre  Kuppel  ist  von  vier  grossen  Bogen  getragen,  die 
Kreuzarme  sind  polygonal  abgeschlossen  und  mit  Halbkuppeln  bedeckt. 

Bramante  in  Rom  :  das  bezeichnet  den  Höhepunkt  der  künstlerischen 
Leistungen  der  Renaissance,  den  Höhepunkt  ihrer  kirchlichen  Architektur 
im  besondern.  Zunächst  ein  kleines  vollendetes  Werk:  der  dorische 
Rundtempel  bei  S.  Pietro  in  Montorio.  Das  Schaffen  der  grössten  Meister 
konzentriert  sich  am  Neubau  von  S.  Peter,  der  von  Julius  H.  mit  der 
eigenen  Wucht  aller  seiner  Unternehmungen  begonnen  wird.  Das  ganze 
Vermögen  der  Renaissance  und  Bramantes  zeigt  sein  Plan:  die  Kuppel 
überm  griechischen  Kreuz,  in  den  Ecken  gewaltige  Kapellen  und  Turm- 
bauten; indessen  war  die  Gestaltung  des  Äussern  wie  die  Form  der 
Kuppel  noch  schwankend.  An  ihren  Dimensionen  müssen  alle  folgenden 
Architekten  festhalten.  Raffael  plant  in  merkwürdigem  Gegensatz  zum 
herrschenden  Ideal  ein  vorgelegtes  Langhaus ;  Ant.  da  Sangallo  und  Fra 
Giocondo  häufen  die  Nebenräume;  Peruzzi  bildet  die  Eckräume  bedeutend 
aus.  Die  Durchführung  der  Anlage  mit  lauter  Rundformen  als  Abschlüssen, 
die  leichtere  Wirkung  der  Kuppel  durch  eine  Säulenstellung  innen  und 
aussen  sind  die  nächsten  Veränderungen.  Hieran  arbeitet  Michelangelo 
weiter;  sein  eigenste»  Werk  die  herrliche,  ganz  «»undefinierbare^  Linie 
der  Kuppel  mit  ihrer  energischen  Gliederung  durch  Gurten  und  Pfeiler, 
bezw.  Säulenpaare  (von  GeymüUer  als  eine  Wiederaufnahme  des  gotischen 
Prinzips  der  vertikalen  Zusammengehörigkeit  bezeichnet);  seine  That 
vor  allem,  dass  er  die  Riesenkuppel  überhaupt  zur  Vollendung  führt 
und  den  Centralbau  zum  Schluss  noch  einmal  zum  Sieg  bringt. 

Zahlreich  sind  die  Centralbauten  von  reinerer  oder  schwächerer 
Ausbildung  in  der  Mitte  der  Renaissance  und  in  der  Spätzeit.  Bra- 
mantes Ideen  werden  weithin  getragen,  bis  in  die  Alpen  (nach  Riva 
und  Cannobbio).  Daneben  entstehen  auch  mehr  selbständige  Werke; 
beachtenswert  Sanmichelis  Rundkapelle  S.  Bernardino  in  Verona  mit 
sphärischer  Kuppel;  von  Sansovino  kommen  S.  Martine  in  Venedig 
in  Betracht  und  sein  Plan  zu  S.  Giovanni  dei  Fiorentini  in  Rom,  der 
eine  Mittelkuppel  zeigt  umgeben  von  vier  Neben-  (oder  Halb)-Kuppeln. 

2* 


20  Otto  Honsell 

Bereits  unter  bestimmtem  Einfluss  von  S.  Peter  (und  darum  von  hoher 
Baumschönheit)  steht  Alessis  S.  Maria  di  Carignano  in  Genua.  —  Wie 
eifrig  sich  übrigens  die  Phantasie  mit  dieser  Kunstform  beschäftigt  hat, 
geht  auch  daraus  hervor,  dass  in  Sansovinos  Plänen  zahlreiche,  in  Serlios 
Entwürfen  11  Centralbauten  vorkommen. 

Bramantes  Werk  bedeutet  die  höchste  Vollendung  des  Centralbaues, 
aber  auch  das  Ende  desselben.  Die  Steigerung  der  kirchlichen  Bau- 
thätigkeit,  wie  sie  gegen  die  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  eintritt,  die 
Notwendigkeit  vieler  und  prächtiger  Neubauten,  die  Vertiefung  und 
Versinnlichung  des  Kults:  all  das  kann  sich  nicht  vereinigen  mit  einer 
so  hohen  und  reinen  Kunstform,  wie  der  Gentralbau  geworden  war. 
Das  Langhaus,  als  Prozessionskirche,  umgeben  von  Kapellen  und  andern 
An-  und  Einbauten,  wird  der  mächtigere  Typus,  der  noch  in  Kuppel 
und  Chor  Motive  des  Centralbaues  übernimmt.  Die  Kuppel  verliert 
ihre  centralisierende  Wirkung;  neben  ihr  wird  die  Fafade  oft  einseitig 
ausgebildet.  Sie  ist  nicht  mehr  auf  Harmonie  hin  mit  dem  Ganzen 
gestaltet;  zuweilen  ohne  Bücksicht  auf  den  Durchschnitt  der  Kirche, 
erhält  sie  ein  oder  zwei  Ordnungen  und  bildet  besonders  das  Portal 
prunkhaft  aus.  Infolge  dieser  Behandlung  wird  sie  „ein  Hauptgegenstand 
der  verstärkten,  wirksam  gemachten  Formensprache^.  Im  übrigen  wird 
das  Äussere  geringer  ausgebildet:  Gliederung  durch  Pilaster,  Fenster 
und  Nischen  und  Felder;  Fries  und  Architrav  treten  zurück.  Ver- 
loren geht  die  Wirksamkeit  des  Gesetzes  der  schönen  Verhältnisse,  die 
Gebilde  nehmen  zu  an  Grossartigkeit  und  Begelmässigkeit,  die  Formen 
werden  zu  sehr  ausgeglichen,  allgemein,  indifferent. 

An  drei  Künstler  vor  allem  knüpft  die  folgende  Entwicklung  an: 
Michelangelo,  Vignola  und  Palladio.  —  Schon  des  ersteren  Plan  zur 
Fa9ade  von  S.  Lorenzo  in  Florenz  bedeutet  einen  Schritt  in  einer  neuen 
Bichtung:  sie  zeigt  zum  ersten  Mal  frei  vortretende  Säulen  und  eine 
bisher  ungekannte  Mitwirkung  der  Skulptur,  was  die  Fa9ade  zum  wich- 
tigsten Teil  der  Kirche  macht  und  ausserdem  mit  ihrer  architektoni- 
schen Erscheinung  in  Konkurrenz  tritt.  —  Unter  den  verschiedenen 
Bildungsweisen  des  Langhausraumes  gewinnt  ein  Typus  dominierende 
Geltung,  der  bald  vorbildlich  wird  weit  über  Italien  hinaus:  die  ein- 
schiffige gewölbte  Kirche.  Auch  ihn  hatte  Alberti  vorausgreifend  ver- 
körpert in  S.  Andrea  in  Mantua.  Ein  anderes  Beispiel  aus  der  Mitte 
ist  S.  Maurizio  in  Mailand  (Nischen  im  Erdgeschoss,  darüber  ein  Gang, 
nach  aussen  durch  Fenster,  nach  innen  durch  eine  Säulenstellung  abge- 
schlossen ;  eingedeckt  mit  oblongen  Kreuzgewölben.  Normal  wird  später 


August  Reichensperger  und  der  Kirchenbau  der  Renaissance  21 

die  Wölbung  durch  Tonnen,  in  welche  die  Fenster  einschneiden;  diese 
Bildung  ladet  von  selbst  die  Stukkatur  zur  Mitwirkung  ein.  Der  Wert 
der  Baumbildung  ist  abhängig  von  der  Gestaltung  der  Wölbung  und 
von  der  Lichtführung.  —  Diese  Typen  repräsentieren  Vignolas  II  Gesü 
in  Born  und  Palladios  II  Bedentore  in  Venedig.  Der  Nachdruck  liegt 
auf  dem  breiten  hohen  Schiff  mit  Seitenkapellen ;  das  Querschiff  tritt 
wenig  vor,  darüber  «zum  Chor  vermittelnd"  die  Kuppel.  Die  Fafade 
ist  charakterisiert:  dort  als  Doppelgeschoss  mit  Gliederung  durch  Pi- 
laster  und  Nischen,  durch  den  Giebel  und  die  Voluten  als  Überführung 
vom  erhöhten  Mittelbau  zum  Unterbau;  Palladio  gestaltet  in  strengen 
Formen  die  Front  seiner  Nischen  nach  Analogie  der  antiken  Tempel- 
front (so  ausserdem  an  S.  Giorgio  maggiore,  S.  Francesco  della  Vigna, 
immer  mit  besonderer  Ausbildung  des  Portal motifs). 

Diese  Bichtung  gelangt  zum  Sieg  auch  an  S.  Peter;  ihr  Werk  ist 
die  Veränderung  der  ursprünglichen  Gentralanlage  und  die  Verminde- 
rung der  Gewalt  der  Kuppel  durch  die  Dimensionen  der  Fa^ade  Berninis. 
Der  Kirchenbau  schmiegt  sich  enger  an  die  Bedürfnisse  des  Gottes- 
dienstes der  neu  gefestigten  Kirche,  die  durch  eifrige  Kunstpfiege  ihre 
Macht  erweitern  will;  auf  die  Wirkung  starker  elementarer  Eindrücke 
ist  die  kirchliche  Kunst  gerichtet,  auf  die  Entfaltung  reichen  Prunks, 
besonders  mit  Hilfe  der  dekorativen  Künste.  Dies  ist  das  Vermächtnis 
der  Benaissance  an  den  italienischen  Barock. 

In  Frankreich  traten  der  Benaissance  im  Kirchenbau  Hinder- 
nisse entgegen  teils  architektonischer,  teils  persönlicher  und  nationaler 
Natur.  ^)  —  Vieles  was  die  Gotik  geschaffen  hatte,  besass  einen  unver- 
gänglichen Wert  und  behielt  seine  Geltung ;  und  doch  war  eine  weitere 
Entwicklung  in  der  bisherigen  Bichtung  nur  schwer  möglich.  Durch  die 
Kirchenbauten  seit  dem  13.  Jahrhundert  waren  unendlich  viele  künst- 
lerischen und  materiellen  Kräfte  verbraucht  worden;  Kirchen  aller  Art 
waren  zahlreich  vorhanden  oder  doch  begonnen,  so  dass  ein  reges  Be- 
dürfnis nach  Neubauten  nicht  vorhanden  war.  Leise  oder  bestimmt  em- 
pfand man  auch  den  ausländischen  Charakter  der  Benaissance,  ihre 
Formen  offenbarten  ein  ganz  anderes  Leben,  ganz  andere  Kraft,  die  im 
Vergleich  mit  der  Gotik  oft  geringer,  weniger  energisch  schienen.  Be- 
zeichnend ist  das  zähe  Festhalten  des  Volks  und  der  Geistlichkeit  an 
der  alten  Kunst.  Noch  1536  wird  die  Notre  Dame  zu  Brou,  1601  die 
Kathedrale  von  Orleans  gotisch  gebaut  bezw.  vollendet.    Im  17.  Jahr- 

1)  Hierzu  und  zum  Folgenden:  Geymüller,  Die  Baukunst  der  Renaissance  in 
Frankreich,  im  ^Handbuch  der  Architektur**.   II  (Stuttgart  1901)  Kap.  25.  Art.  913  ff. 


22  Otto  Honsell 

hundert  endlich  sucht  die  nach  den  Religionskriegen  neu  gestärkte 
Kirche  auch  äusserlich  ihren  Zusammenhang  mit  Rom  zu  zeigen  durch 
Festhalten  an  den  Prinzipien  Vignolas. 

Grundriss  und  Aufbau  (drei-  oder  fünfschiffige  Anlage  mit  poly- 
gonalem Chor  samt  Umgang  oder  Kapellenkranz)  ändern  sich  lange 
Zeit  überhaupt  nicht;  an  dem  Strebesystem  und  der  vertikalen  Gliede- 
rung wird  festgehalten;  gotisch  bleiben  dann  auch  die  Kreuzgewölbe, 
bleiben  überhaupt  die  Innenräume.  Dem  alten  System  werden  nur  im 
Detail  oder  in  einzelnen  Gliederungen  Renaissanceformen  zugeführt,  am 
meisten  beherrscht  die  neue  Kunst  die  Fa9ade.  Erst  die  Aufnahme  der 
Kuppel  bringt  auch  im  Aufbau  Veränderungen. 

Drei  Gruppen  unterscheidet  Geymüller:  1.  die  Kirchen  des  16.  Jahr- 
hunderts, die  in  den  Schiffen  die  gotischen  Höhenverhältnisse  annähernd 
festhalten;  2.  die  Bauten  seit  dem  zweiten  Drittel  des  17.  Jahrhunderts, 
welche  weniger  schlanke  Innenverhältnisse  und  Vignolas  Schule  zeigen, 
die  Ausbildung  der  Fa9ade  mit  Türmen  einleiten ;  3.  die  Kuppelbauten. 

Die  erste  Periode  weist  teilweise,  insbesondere  an  Einzelbildungen 
der  Fa^aden,  eine  Vollkommenheit  und  Formschönbeit  auf  wie  die  ita- 
lienische Frührenaissance;  in  kleinen  Kompositionen  werden  Verhältnisse 
und  Detail  phantasievoll  und  mit  ausserordentlichem  Geschmack  behan- 
delt. Die  Aufnahme  des  Rundbogens,  die  Veränderung  der  Strebepfeiler 
in  Pilaster  oder  Dreiviertelsäulen,  zuweilen  ein  Zurückschieben  derselben 
als  Glieder  der  Mauer,  die  Bildung  der  Giebel  als  abgestufte  Attika, 
die  Verstärkung  des  horizontalen  Elements:  diese  Erscheinungen  be- 
zeichnen  den  stillen  Anfang  der  neuen  Kunst.  Das  Portal  der  Kirche 
zu  Montresor,  mit  ihren  romanischen  Lisenen,  schlichtem  Gebälk  und 
Rundbogenfenster,  steht  am  Anfang  (1519).  Die  spielende  Verwendung 
der  neuen  Formen  zeigen  die  Kapellen  am  Chor  von  St.-Pierre  zu  Caen. 
An  der  Notre  Dame  zu  Tonnerre,  von  reicher  Komposition  und  reiz- 
vollem Detail,  ist  das  Portalmotiv  bedeutend  ausgebildet  (ein  Doppel- 
thor unter  dem  Tympanon  eines  grossen  Rundbogenportals.)  Bei 
St.-Michel  in  Dijon  erhält  der  Mittelbau  zwischen  den  beiden  Türmen 
eine  eigenartige  Gliederung :  hinter  einem  Tempietto  als  Bekrönung  des 
Portals  die  grosse  Fläche  mit  zwei  Rundbogenfenstern,  daran  eine  Log- 
gia, letztere  ein  sehr  beliebtes  und  bedeutungsvolles  Motiv.  Die  Aus- 
bildung der  Fa9ade  als  Kathedralfront  mit  zwei  Türmen  tritt  noch  be- 
deutender in  die  Erscheinung  an  dem  Entwurf  Du  Cerceaus  für  Saint- 
Eustache  in  Paris  (in  Anlehnung  an  die  Certosa).  Überall  ist  die  Pi- 
lasterarchitektur  mit  Arkaden  durchgeführt,   trefflich  die  innere  Höhe 


August  Reichensperger  nüd  der  Kirchenbau  der  Renaiasance  23 

dargestellt  durch  die  gewaltige  Arkade  des  Mittelschiffs.  Auch  hier  tritt 
die  Tribüne  auf.  Von  hoher  Bedeutung  ist  das  Innere  dieser  fünf- 
schifGgen  Kathedrale:  die  allgemeine  Disposition  wird  beibehalten,  Än- 
derungen betreffen  allein  die  Pfeilerbildung,  wobei  Strebesystem,  Ver- 
hältnisse und  Gliederung,  im  Kern  gotisch,  in  Frührenaissance  über- 
setzt sind.  —  Eine  kurze  Übergangszeit  (Geymüllers  «Style  Marguerite 
de  Valois*)  bringt  kleine,  aber  herrliche  Werke  hervor.  Bereits  treten 
Fa9aden  mit  drei  und  zwei  Geschossen  auf  (Vetheuil  und  Belloy);  von 
feinem  künstlerischem  Aufbau  ist  die  Kapelle  St.-Bomain  zu  Bouen 
(vielleicht  von  Jean  Goujon)  in  zwei  Ordnungen  mit  weiten  Arkaden 
dazwischen,  von  einem  Tempietto  bekrönt.  Hierher  gehört  auch  der 
Klosterhof  der  C^lestins  in  Paris,  mit  einer  seltenen  Harmonie  von 
Stützen  und  Gebälke,  und  die  Gruppe  der  Kirchen  von  Troyes,  die  die 
Thüren  in  eine  Komposition  von  zwei  Ordnungen  einbeziehen  und  jene 
mit  einem  Fenster  zum  Gesamtmotiv  vereinigen. 

Die  Hochrenaissance  zeigt  ein  eingehenderes  Studium  italienischer 
Vorbilder  und  eine  emsige  selbständige  Arbeit.  Am  besten  giebt  ihren 
Charakter  wieder  die  Grabkapelle  zu  Anet  (von  De  l'Orme  oder  Bul- 
lant);  die  Einzelglieder  werden  beschränkt,  aber  feiner  ausgeführt,  der 
Massstab  der  Pilasterordnung  vergrössert  sich.  Bereits  kommt  die  Pi- 
lasterfront  der  klassischen  Hochrenaissance  zur  Anwendung  (Mesnil- 
Aubry),  ferner  die  Fa9ade  mit  drei  Ordnungen  (an  St.-Florentin,  Kreuz- 
schiff; St.-Pierre  in  Auxerre).  Eine  konsequente  Übertragung  der  goti- 
schen Komposition  in  die  neuen  Formen  ist  die  nördliche  Kreuzschiff- 
fa9ade  von  St.-Clothilde  im  Grand-Andelys,  besonders  im  vollendeten 
Erdgeschoss  mit  seinen  die  Strebepfeiler  ersetzenden  gekuppelten  Säulen. 
Fast  die  ganze  Entwicklung  verdeutlicht  die  Kirche  zu  Gisors  mit 
einer  energisch  gegliederten  zweitürmigen  Fa9ade  und  ihrer  zwischen 
den  mittleren  Strebepfeilern  frei  vortretenden ,  triumphbogenartigen 
Loggia. 

Zum  letzten  Mal  beherrscht  die  Gotik  die  Benaissance  in  der 
Fa9ade  von  St.-Etienne-du-Mont  in  Paris.  Auf  das  Erdgeschoss  mit 
einer  Vorhalle  von  vier  Kompositasäulen  und  strengem  Giebel  folgt  im 
nächsten  ein  grosses  Badfenster  unter  gebrochenem  Segmentgiebel,  darüber 
die  steile  gotische  Giebelmauer.  Die  Antwort  darauf  ist  die  Fa9ade 
von  St.-Gervais  zu  Paris  (1616—1621),  von  Salomon  de  Brosse,  dem 
grossen  Hugenottenmeister,  dem  Schöpfer  des  „Grand  Style*.  Die  An- 
wendung grosser  Säulenordnungen  von  bedeutendem  Belief  schafft  ruhige 
Klarheit,  Einheit  und  Grösse.     Es  ist  die  erste  entschieden  klassische 


24  Otto  Honseil 

Schöpfung  im  französischen  Eirchenbau  —  als  Abschluss  einer  gotischen 
Kirche.  Die  Hauptwirkung  geht  aus  von  der  langen  Linie  der  mittleren, 
kannelierten  Säulen;  lebendiges  Detail  fehlt,  statt  dessen  wirken  im 
Mittelbau  die  drei  gleichgrossen  Arkaden,  in  den  Seitenfeldern  Nischen 
mit  Statuen.  Horizontal  und  vertikal  herrscht  die  Dreiteilung;  die 
Harmonie  der  Verhältnisse  ist  aber  auch  erreicht  durch  den  Massstab 
des  Werks  und  besonders  durch  die  ernste  Bildung  der  Säulenordnungen. 
Die  zweite  Periode  bedeutet  ein  allmähliches  Sinken  der  selbstän- 
digen architektonischen  Kraft.  Das  dekorative  Element  tritt  wieder 
mehr  hervor ;  reich  und  effektvoll,  aber  oft  seelenöde  sind  die  folgenden 
Werke.  Die  Wirkung  der  Innenräume  wird  geschwächt  durch  Tonnen- 
gewölbe, welche  die  Kreuzgewölbe  ersetzen,  aber  noch  durch  die  Stich- 
kappen angeschnitten  werden.  Noch  an  St.-Gervais  angelehnt  und  be- 
deutend ist  St.-Paul  et  St.-Louis  (Maison  Professe)  in  Paris  von  Derand 
(1627 — 41),  die  erste  wichtige  Kirche  der  Jesuiten  in  Frankreich;  hier 
beginnt  die  Vertikalgliederung  erst  über  dem  als  kräftiger  unterbau 
gebildeten  Erdgeschoss.  Immer  enger  wird  der  Anschluss  an  Italien; 
die  Durchfuhrung  der  römischen  Halbsäulen-  und  Pilasterfa^ade  bildet 
die  Hauptarbeit  (neben  dem  Kuppelbau).  Ohne  Einheit  ist  diejenige 
des  Langhauses  der  Sorbonne;  an  St.-Roch  zu  Paris  ist  die  scharfe 
Durchdringung  des  horizontalen  und  vertikalen  Elements  auf  kleinen 
Massstab  bei  kalter  Formbehandlung  übertragen.  Hervorragend  ist 
wieder  die  Schlosskapelle  zu  Versailles  (Hof-  und  Chorseite)  mit  fünf 
vornehmen  Arkaden  zwischen  schlanken  Pilastern  auf  schlichtem  unter- 
bau, jihst  an  antik-römische  Grossartigkeit  grenzend^.  —  Die  folgende 
Entwicklung  der  Kirchenfassade  wird  am  besten  repräsentiert  durch  die 
Entwürfe  zu  St.-Sulpice  und  St.-Eustache.  Aus  der  Kathedralfront  Du 
Cerceaus  ist  um  1750  in  dem  Entwurf  von  Patte  eine  klassizistische, 
stilistisch  reine,  aber  ebenso  kühle  Bildung  geworden.  J.  Mansard  da- 
gegen umgiebt  die  Massenverhältnisse  der  gotischen  Turmfa9ade  nur 
mit  streng  italienischen  Formen.  Nichts  ist  entgegengesetzter  als  die 
Entwürfe  zur  alten  gotischen  Kirche  St.-Sulpice  von  Meissonnier  und 
Servandoni,  und  doch  liegen  sie  nur  sechs  Jahre  auseinander  (1726; 
1732) ;  erstere  «die  barockste  bauliche  Gestaltung  in  Frankreich*  ^),  mit 
völliger  Auflösung  in  Kurven;  dieser  von  streng  antiker  Bildung  mit 
einer  dekorativ  ohne  Zusammenhang  vorgelegten,  offenen  toskanischen 


1)  C.  Gnrlitt,    Geschichte  des  Barockstils,   des  Rokoko   und  Elassizismas  io 
Frankreich  etc.  (Stuttgart  1888.)  S.  236. 


August  Reichensperger  und  der  Kirchenbau  der  Renaissance  25 

Halle  mit  zwei  Tärnien :  die  Fortbildung  des  alten  Gedankens  der  zwei- 
geschossigen Eircbenfront  zum  Säulentempelbau.  Das  ünkircbliche 
dieser  Anlage  ward  schon  damals  empfunden. 

Einheitliche  Anlage  und  Ausbildung  des  Innern  ist  bei  den  wenigsten 
Kirchen  zu  finden.  Aus  der  Zeit  der  Hochrenaissance  ist  überhaupt  gar 
kein  grosser  Innenraum  erhalten ;  die  sonst  bedeutenden  Kapellen  an  der 
Kathedrale  zu  Toul,  die  eine  mit  wagrechter  Quaderstein  decke,  die  andere 
mit  einer  Kuppel  bedeckt,  gewähren  nur  geringe  Entschädigung. 

Gleichmässigere  Ausbildung  des  Innern  und  Äussern  macht  der 
Kuppelbau  nötig;  er  wird  erst  nach  dem  Beginn  des  17.  Jahrhunderts 
übernommen,  und  wichtig  ist,  wie  dies  geschieht.  Kleinere  Bauten 
zeigen  die  Kuppel  zuerst  und  am  vollkommensten:  die  Chapelle  de  la 
Toussaint,  wo  sie  überm  Achteck,  die  Schlosskapelle  zu  Anet,  wo  sie 
in  Verbindung  mit  dem  griechischen  Kreuz  gebildet  ist.  In  grösserem 
Massstab  trug  sie  die  ehemalige  Grabkapelle  der  Valois  zu  St.  Denis, 
wie  die  vorhergehende  vielleicht  nach  Ideen  zu  St.  Peter  in  Rom  gebaut. 
Die  grossen  Kuppeln  Frankreichs  entbehren  einer  gewissen  Monumenta- 
lität, des  Ernstes:  die  Disharmonie  zwischen  der  inneren  und  äusseren 
Höhe  ist  zu  auffallend.  Die  äussere  Schale  ist  aus  Holz,  als  Schutz- 
dach gebaut,  in  ihrer  Basis  liegt  ungefähr  der  Scheitel  der  inneren 
Wölbung.  Die  erste  grosse  Kuppelanlage  ist  die  der  Sorbonne  über 
einem  Mittelding  von  Lang-  und  Centralbau.  Ganz  von  Michelangelos 
Bau  abhängig  ist  die  bedeutende  Kuppel  der  Klosterkirche  Val-de-Gräce; 
charakteristisch  ist  für  sie  die  niedere  Umrisslinie,  die  ruhig  abrundende 
Form  hinter  der  edel  gebildeten  Fa9ade.  Der  Invalidendom  beschliesst 
die  Reihe  mit  dem  eleganten  Schwung  seiner  Kuppel  und  Laterne. 
Nüchtern  und  kalt  ist  durch  alle  Feinheit  die  Architektur  geworden; 
fremder  als  andere  Formen  ist  die  Kuppel  geblieben,  die  gotische  Kathe- 
drale vermochten  solche  Bildungen  am  wenigsten  zu  ersetzen.  —  Was 
unter  mittelbarem  Einfluss  der  Benaissanceformen  der  Klassizismus  her- 
vorgebracht, soll  hier  nicht  berücksichtigt  werden.  S.  Genevieve  und 
Madelainekirche  gehören  nicht  hierher. 

Einen  merkwürdigen  Kampf  kämpft  die  Renaissance  mit  der  Gotik 
Spaniens.  Noch  deutlicher  als  in  Frankreich  bleibt  lange  die  Struktur 
fast  bis  zur  Haut  gotisch,  und  eine  zuweilen  entzückende  Übertragung 
von  Renaissanceelementen  in  die  Funktionen  der  alten  Gebilde  bringt 
in  den  Werken  eine  eigene  warme  Empfindung  hervor. 

Die  Kirche  Santa  Engracia  in  Saragossa  hat  eine  hochbedeutende 
Fa9ade  (Backsteinbau),  wie  spielend  sind  drei  Ordnungen  Pilaster  über- 


26  Otto  Honseil 

einander  aufgebaut;  unter  einem  mächtigen  Bundbogen,  dessen  Scheitel 
über  das  unterste  Gebälk  hinaufgeht  und  dessen  Aufbiegung  veranlasst, 
ist  das  Rundbogenportal,  im  Tympanon  ein  halb  altar-,  halb  attikaartiger 
Aufbau  mit  reichem  Schmuck.  Auch  die  grossen  Dome  von  Toledo, 
Segovia  und  Salamanca  werden  schon  ,,al  romano^  gebaut  (Anfang  des 
16.  Jahrhunderts).  Prachtvoll  und  reich  ist  oft  die  Dekoration  der 
Portale  und  des  Innern,  besonders  am  Ghorgestühl  und  Orgelaufbau. 
An  der  Kirche  San  Juan  de  Letran  zu  Yalladolid  sind  die  Strebe- 
pfeilerabschnitte ersetzt  durch  barock  ausgebauchte  Säulen.  Eins  der 
grössten  Bauwerke  überhaupt  ist  die  Kathedrale  von  Qranada,  1529 
begonnen  und  von  Diego  de  Siloe  zu  Ende  geführt,  um  eine  alte  Kapelle 
gebaut  und  mit  eigenartiger  Disposition  von  Chor  und  Altar.  Die 
Innenwirkung  mag  bedeutend  sein,  der  Baum  scheint  ganz  gotisch  und 
ist  er  doch  kaum  mehr,  so  wie  die  Bundbogen  wirken,  welche  über  den 
die  Pfeiler  mit  ihren  Diensten  ersetzenden,  hohen  schlanken  Säulen- 
bündeln auf  schönen  Kapitalem  mit  kämpferartigem  Aufsatz  ausgespannt 
sind.  —  Beinere  Benaissancebildung  weist  die  alte  Karthause  zu  Evora 
(Portugal)  auf,  ein  abgestufter  Giebelbau  in  drei  Ordnungen  von  sehr 
guten  Verhältnissen. 

Die  Entwicklung  der  kirchlichen  Benaissance  in  England  ist  für 
unsere  Übersicht  ebenso  nur  von  untergeordnetem  Wert.  Nach  einer 
formalen  Prührenaissance  wird  dort  ihre  entwickelte  Gestalt  wie  mit 
einem  Schlag  zur  Geltung  gebracht  durch  Inigo  Jones,  und  bald  ent- 
steht ein  befremdender  Klassizismus.  Die  ganze  Bewegung  war  auch 
viel  ruhiger  als  auf  dem  Festland  und  besonders  auf  den  Kirchenbau 
von  geringerem  Binfluss;  die  scharfen  Gegensätze  von  Beformation  und 
Katholizismus,  von  Benaissance  und  Gotik  konnten  sich  nicht  zu  der 
Heftigkeit  und  zu  den  Folgen  entwickeln  wie  dort. 

Das  grösste  Werk  der  englischen  Benaissance  im  Kirchenbau  ist 
Wren*s  St.- Paul-Kathedrale  in  London.  Aus  den  vom  Parlament  aus- 
gegebenen Anweisungen  ist  bekannt '),  dass  ernste  Beratungen  stattfanden 
über  die  Bildung  der  Kirche,  die  ausdrücklich  eine  Predigtkirche  werden 
sollte.  Der  erste  Entwurf, .  als  Centralbau  charakterisiert,  wurde  abge- 
löst durch  den  andern,  der  das  Langhaus  mit  der  Kuppel  brachte. 
Die  Strebebögen  des  alten  Vierungsturmes,  die  seine  Last  auf  die 
Mauern  der  Seitenschiffe  übertrugen,  machten  eigene  Pfeiler  für  die 
neue  Kuppel  unnötig,  daher  steigt  sie,  in  voller  Breite  des  dreischifßgen 

1)  Qurlitt,  a.  a.  0.  S.  336  ff. 


August  Heichensperger  und  der  Kirchenbau  der  Renaissance  27 

Hnuses,  fast  selbständig  und  getrennt  von  dem  Langbau  auf.  Das  ganze 
ist  aus  scharfer  Berechnung  hervorgegangen;  im  Äusseren  ist  der  Auf- 
bau dem  Tempietto  Bramantes  nachgebildet.  Die  Fremdheit  der  Bildung 
wird  vermehrt  durch  die  rein  dekorativ  als  Verblendung  ohne  rück- 
liegende architektonische  Räume  ausgeführten  Mauern  des  zweiten  Ge- 
schosses, die  um  drei  Seiten  umlaufen.  Die  Trennung  von  Langhaus 
und  Kuppel  enthält  einen  speziell  nordischen  Qedanken  und  birgt  eine 
eigene  Empfindung,  doch  scheint  sie  den  Charakter  der  Renaissance  zu 
vernichten. 

Hervorragende  Bedeutung  für  unsere  Betrachtung  gewinnt  die  Frage, 
wie  Deutschland  die  Renaissance  in  seinen  Eirchenbau  aufnahm.  Hier 
begegnete  ihr  die  Reformation,  sie  war  ohne  unmittelbare  Beziehung  zur 
bildenden  Kunst,  war  auch  der  Baukunst  nicht  f&rderlich,  mehr  als 
andere  Einflüsse  löste  sie  die  Abhängigkeit  der  Kunst  von  der  Kirche. 
—  Langsam  und  auf  Umwegen  kam  die  Renaissance  ins  Land,  und  in 
einer  Zeit  vorwiegend  religiöser  Interessen,  fanatischer  Konfessionsstreitig- 
keiten und  vernichtender  Religionskriege  fand  sie  keinen  Raum  sich  aus- 
zubreiten. Vielleicht  empfand  man  gerade  im  Kirchenbau  an  den  neuen 
Kunstformen  etwas  Fremdes.  Gewiss  ist  richtig,  dass  infolge  der  enormen 
kirchlichen  Bauthätigkeit  der  Gotischen  Zeit,  auch  infolge  des  Frei- 
werdens von  Klosterkirchen  neue  Bedürfnisse  sich  kaum  geltend  machten. 
Allein  es  waren  tiefere  Gründe,  welche  die  Aufnahme  der  Renaissance 
im  Kirchenbau  beschränkten.  So  wie  sie  in  Italien  geworden  war,  konnte 
sie  überhaupt  im  Norden  keinen  Fuss  fassen;  ihre  geistige  Grundlage 
und  künstlerische  Gestaltung  waren  zu  verschieden  geartet.  Sie  wird 
hier  nicht  die  Raumeskunst  wie  im  Süden;  auf  schöne  Verhältnisse, 
harmonische  Erscheinung  legt  man  wenig  Wert,  die  Rücksicht  auf  formale 
Gesetzmässigkeit  tritt  zurück.  Das  künstlerische  Grundprinzip  ist  das 
malerische,  es  beherrscht  die  Komposition,  die  Gruppierung  der  Massen 
und  ihre  Ausschmückung.  Hatte  schon  in  der  späten  Gotik  das  Ornament 
über  die  Konstruktion  die  Oberhand  gewonnen,  so  wurde  nun  eine  Menge 
neuer  Zierformen  hinzugefügt,  welche  die  deutsche  Kunst  mit  Freuden 
aufnahm  und  anwandte;  und  das  erschien  ihr  nicht  als  ein  Bruch  mit 
der  Gotik,  sondern  als  eine  Fortführung.  Man  hat  die  deutsche  Re- 
naissance geradezu  als  Dekorationskunst  bezeichnet,  und  als  solche  hat 
sie  eine  immerhin  charakteristische  Bildung  erlangt.  —  Was  die  wenig 
zahlreichen  Kirchenbauten  bieten,  reicht  nicht  entfernt  an  die  Leistungen 
auf  ihrem  eigentümlichen  Felde,  im  Profanbau,   heran.    Aber  noch  ein 


28  Otto  Honseil 

anderes,  rein  persönliches  Motiv  ist  hier  zu  beachten.  Seitdem  die  Türme 
der  stolzen  Dome  anfragten  und  die  Gotik  in  ihrer  Ausbildung  das 
Höchste  geleistet  hatte,  war  dem  deutschen  Bürger  der  Kirchturm  mit 
den  Glocken,  dem  Wächter  und  Wetterhahn  so  vertraut,  ein  Stolz  seiner 
Stadt,  ein  Stück  seines  Daseins  geworden,  dass  er  ihn  nicht  missen  wollte. 
Die  Renaissance  hat  es  aber  nicht  vermocht,  im  Turmbau  ein  recht 
organisches  Gebilde  zu  schaffen :  entweder  schichtet  sie  Stockwerke  über- 
einander auf,  oder  setzt  auf  Strebepfeiler,  die  ohne  Verjüngung  aus- 
laufen, eine  kleine  Kuppel  mit  Laterne,  also  dass  der  Charakter  des 
Turmes  verloren  geht.  *) 

Den  konstruktiven  Hintergrund  bildet  noch  lange  die  Gotik;  vor 
allem  werden  die  Gewölbeformen  beibehalten,  was  stets  die  beliebte 
malerische  Wirkung  sichert.  Zuweilen  rein  äusserlich  werden  Renaissance- 
formen verwendet  im  Detail,  zur  Dekoration.  —  Im  katholischen  Kirchen- 
bau findet  zunächst  keine  prinzipielle  Änderung  der  Anlage  statt:  die 
Hallenkirche  mit  Chorumgang  oder  Chornische  im  Osten  bleibt  die  ver- 
breitetste  Form  für  die  grösseren  Bauten.  Mit  dem  Eindringen  italie- 
nischer Grundrisse  kommt  es  zu  einer  Vereinigung  von  Langhaus  und 
Centralbau,  welche  weniger  abstrakt  und  dem  nordischen  Kunstempfinden 
entsprechender,  ausserdem  ästhetisch  bedeutend  und  sehr  modifikations- 
fähig,  den  Anforderungen  des  Kultus  Genüge  leistet.  Besonders  der 
kreuzförmige  Langbau  mit  Vierungskuppel  ist  die  wichtigste  Form  auch 
für  einfachere  Kirchen  und  später  die  Grundlage  der  Rokokobauten,  die 
sich  aber  teilweise  wieder  dem  Centralbau  nähern.  —  Der  protestantische 
Kirchenbau  tritt  in  seinen  künstlerischen  Leistungen  zurück.  Versuche, 
die  Form  aus  den  Anforderungen  des  Gottesdienstes  zu  entwickeln, 
Altardienst  und  Predigt  gleichmässig  zu  berücksichtigen,  führen  zum 
Teil  zum  Centralbau  (besonders  in  Holland  bei  den  reformierten  Kirchen); 
günstige  Erfolge  hat  die  Aufnahme  von  Emporen,  als  Galerien  oder 
Balkone  gebildet  oder  als  Obergeschosse  der  Seitenschiffe  mit  Arkaden- 
öffnungen gegen  die  Mitte.  Wesentlich  ihrer  praktischen  Vorteile  wegen 
verbreitet  ist  die  einschiffige  rechteckige  Saalkirche  mit  Emporen.  Dem 
Protestantismus  fehlte  zuerst  eine  künstlerisch  bildende  Kraft;  seine 
Schöpfungen  boten  dem  Empfinden  keinen  Ersatz  für  die  zum  Teil 
grundsätzlich  aufgegebenen  alten  Formen.  —  Zu  allgemeiner  Geltung 
und  hoher  Bedeutung  kommt  die  Renaissance  im  Kirchenbau  durch  die 
Jesuiten,  deren  Thätigkeit  eine  ganz  neue  Entwicklung  einleitet. 

1)  Die  beste  Bildung  hierin  weist  auch  Dicht  Deutschland  auf,  sondern  in  den 
Niederlanden  die  Jesuitenkirche  in  Antwerpen. 


Aagust  Heichensperger  und  der  Kirchenbau  der  HenaUsance  2d 

Unter  den  Hallenkirchen  der  Benaissancezeit  ist  eine  der  frühesten 
die  Marienkirche  in  Halle  (1530—41);  charakteristisch  für  die  Anlage 
die  ÜDgebundenheit  in  der  Verteilung  der  Enoiporenstützen,  „behag- 
liche  Weiträumigkeit^.^)  Die  Wallfahrtskirche  zu  Dettelbach,  die  Fran- 
ziskanerkirche in  Innsbruck  zeigen  an  den  Fa9aden  bereits  barocke 
Gliederung.  Gute  Verhältnisse  weist  die  Marienkirche  zu  Wolffenbüttel 
auf,  ein  Werk  des  Paul  Francke,  mit  reichem  massvoll  verteiltem 
Schmuck;  bedeutende  Raumgestaltung  die  Stadtkirche  von  Bückeburg, 
die  Fa9ade  (^exemplum  religionis,  non  structurae^)  ist  schon  reich  barock. 
Fast  überall  tritt  dieser  Widerspruch  zwischen  dem  Innern  und  Äussern 
hervor;  selten  gehören  sie  eng  zusammen  oder  sind  gleich  bedeutend 
ausgebildet.  Ein  Beispiel  für  das  konservative  Beharren  in  der  Kon- 
struktion und  den  Formen  der  Ootik  ist  die  Katharinenkircbe  in  Frank- 
furt a.  M.,  eine  jener  Saalkirchen  aus  der  Spätzeit  des  17.  Jahrhunderts. 

—  Erst  gegen  1600  kommt  reinere  Benaissance  an  den  Kirchen  vor. 
St.  Michael  in  München  (1583—97),  die  erste  grosse  einschiffige  Kirche, 
ist  eine  freie  Nachbildung  des  Gesü,  nur  fehlt  die  Vierungskuppel,  ist 
der  Chor  verlängert;  die  guten  Verhältnisse,  eine  bedeutende  Licht- 
führung bringen  Klarheit  und  Grösse  in  das  Werk,  ohne  an  ihm  eine 
tiefe  Empfindung  zu  offenbaren;  auch  hier  ist  das  Äussere  mit  der 
dürftigen  Gliederung  der  Fa9ade  unbedeutend.  Ganz  von  italienischem 
Geist  erfüllt  und  von  Italienern  gebaut  (von  Solari  nach  Plänen 
Scamozzis)  ist  der  Dom  von  Salzburg.  Die  Wirkung  des  Chors  und 
der  Vierung,  begünstigt  durch  gute  Beleuchtung,  wird  gedrückt  durch 
das  schwere  tonnengewölbte  Langhaus  mit  seinen  theatralischen  Baikonen; 
die  Formen  nehmen  hier  die  Richtung  nach  dem  italienischen  Barock. 

—  Bei  den  Kirchen  mit  Emporen  beruht  die  Wirkung  auf  der  Art  der 
Einfügung  dieses  Bauteils;  häufig  erscheinen  sie  über  den  Seitenschiffen, 
in  ein  System  von  mehreren  Ordnungen  eingebaut  (an  der  Universitäts- 
kirche Würzburgs  mit  römischem  Bogenmotiv  und  vorgelegten  Halb- 
säulen). Störend  ist  das  Abbrechen  der  Emporen,  wenn  die  Anordnung 
von  Altar  und  Kanzel  es  bedingt. 

Der  genannte  Typus  gewinnt  besondere  Bedeutung  im  protestan- 
tischen Kirchenbau  und  hat  vielleicht  in  der  Schlosskapelle  seinen  Ur- 
sprung.*) Trotz  kleiner  Verhältnisse  in  der  ganzen  Entwicklung  ein 
wichtiger  Bau  ist  das  älteste  protestantische  Gotteshaus,  die  Schloss- 


1)  V.  Bezold,  Die  Baukunst  der  Renaissance  in  Deutschland,  Holland  etc.  »Hand- 
buch der  Architektur**.  II.  7.  (Stuttgart  1900)  Kap.  11.  Art.  91. 

2)  V.  Bezold,  a.  a.  0.  Art.  93. 


30  Otto  Honseli 

kapelle  zu  Torgan  (1544  von  Luther  selbst  geweiht):  „Mit  voller. Er- 
kenntnis der  geschichtlichen  Bedeutung  des  Bauwerks  war  dasselbe  auf- 
geführt als  protestantische  Kirche  im  Gegensatz  zu  allen  übrigen  Gottes- 
häusern der  Christenheit."  ^)  Dies  Bewusstsein  findet  Ausdruck  in  der 
Anordnung.  Der  gesonderte  Chor  fällt  weg,  der  Altar  ist  nach  Westen 
verlegt,  die  Kanzel  an  die  Langseite,  auf  der  Empore  ein  Sängerchor, 
an  Stelle  der  Kapellen  werden  seitliche  Sitzplätze  angeordnet.  Praktische 
Gestaltung,  zugleich  freundliche  und  ernste  Bildung  des  Predigtsaales 
sind  auch  bei  vielen  andern  Kirchen  ähnlichen  Charakters  angestrebt. 
Überhaupt  zeigen  die  Kirchenbauten  im  protestantischen  Sachsen  ein 
dem  entsprechendes  Gepräge;  es  sind  meist  Hallenanlagen  mit  offenen, 
einheitlichen  weiten  Innenräumen,  schlanken  Stützen  und  Rippenge  wölben. 
Dasselbe  Bedürfnis  nach  praktischer  und  künstlerischer  Ausgestaltung 
des  Predigtsaales  führt  in  Holland  zu  eigenartigen  Versuchen  und  Lö- 
sungen (H.  de  Keyzers  Bauten  in  Amsterdam  mit  ihren  fast  mathe- 
matisch abstrakten  Grundrissen);  Altar  und  Kanzel  treten  zuweilen  beide 
vor  die  Mitte  der  Langseite,  und  die  Anlage  drängt  nach  Verbindung 
von  Langhausbau  mit  centralem  Motiv  (Neue  Kirche  im  Haag,  Marekerk 
zu  Leyden).  Wichtig  ist  der  Versuch  Faidherbe's  einer  Verbindung 
von  Langhaus  mit  Kuppel  an  der  Notre-Dame  d'Hanswyk  im  Mecheln. 
—  In  Deutschland  steht  als  Beispiel  einer  ähnlichen  Richtung  die  Wall- 
fahrtskirche Maria  Birnbaum  (Oberbayern)  fast  ganz  vereinzelt  da. 

Nicht  eine  Fortführung  der  Entwicklung,  sondern  den  Bruch  mit 
der  deutschen  Renaissance  bedeutet  die  an  Umfang  so  bedeutende  Thätig- 
keit  der  Jesuitenbaumeister,  die  zuerst  eine  gründliche  stilistische  Ver- 
tiefung herbeiführt.  Bedeutend  ist  ihr  erstes  Hauptwerk  auf  deutschem 
Boden,  St.  Michael  in  München,  hervorragend  zahlreiche  Bauten  in 
Österreich,  Bayern,  Böhmen  und  am  Rhein.  Aber  es  war  ein  Verhängnis, 
dass  ihre  Kunst  aufbrat  im  Gefolge  des  Kampfs  gegen  den  Protestan- 
tismus, gegen  den  Bürgerstand,  gegen  die  volkstumliche  Kunstübung. 
Das  Festbalten  an  der  Gotik  war  für  die  deutsche  Renaissance  ein  Segen 
gewesen ;  den  Jesuiten  erschien  diese  Kunst  weltlich,  ketzerisch. ')  Mittel- 
alterliche Anlagen  werden  so  viel  als  möglich  verändert,  besonders  seit 
der  Mitte  des  17.  Jahrhunderts  tritt  die  Absicht  hervor,  durch  rück- 
haltlose Umgestaltung  eine  neue,  der  antiken  sich  nähernde  Bauweise 
zu  schaffen.     Ihren  Typus  verkörpert  die  Ignazkirche  zu  Linz:  Fehlen 

1)  Gurlitt,  Geschiebte  des  Barockstils  und  des  Rokoko  in  Deutschland.  (Stutt- 
gart 1889.)  S.  4Ö  ff. 

2)  Hierzu  Gurlitt.  a.  a.  0.  S.  3,  4,  24  ff. 


August  Reichensperger  und  der  Kirchen  bau  der  EenaiBsance  31 

des  Qnerschiffs,  schmaler  Chon  Seitenkapellen  von  geringer  Tiefe,  Tonnen 
über  Langbaus  und  Chor,  reiche  Ausbildung  des  Qesimses,  korinthische 
Pilaster;  Gliederung  der  Fa9ade  durch  Vorhalle  und  zwei  Türnoe:  dies 
sind  die  Merkmale.  Die  Farbe  wird  weiss ;  geistige  Leerheit  haftet  an 
diesem  formell  der  Hochrenaissance  verwandten  Klassizismus  der  Jesuiten. 
Man  mag  hier  eine  Analogie  finden  mit  der  Thatsacbe,  dass  sie  sich 
auch  nirgends  auf  das  religiöse  Empfinden,  auf  das  Volk,  sondern  auf 
Bom  stützten.  Alsbald  beherrschen  sie  die  bauliche  Entwicklung  in 
Bayern  und  Österreich,  aber  am  Rhein  und  in  den  Niederlanden  zeigen 
sie  dieselbe  Haltung.  Von  dem  im  Profanbau  eine  Zeit  lang  bemerk- 
lichen Streben  nach  strengerer  Komposition  und  reiner  abgewogener 
Gliederung  der  Fafade  wurde  der  Kirchenbau  nicht  beeinflusst.  Die 
Jesuiten  waren  es  hauptsächlich,  die  den  Norden  in  „die  internationale 
Periode  des  Barocks  und  des  Kokoko,  wo  alle  regionalen  unterschiede 
.  .  .  verschwinden^,  einführten.^)  Dieser  , Weltstil''  ensteht  aus  dem 
italienischen  Barock;  seine  Meister  werden  neben  den  Architekten  der 
Spätrenaissance  Vorbilder  weithin.  Das  künstlerische  Empfinden  der 
nordischen  Baumeister  bleibt  geteilt  zwischen  eigener  und  fremder  Art; 
es  spricht  sich  in  allgemeinen  Formen  aus.  Ihren  Schöpfungen  fehlt 
die  Harmonie  der  italienischen  Benaissance  und  die  Dekorationsfreude 
der  deutschen;  aber  sie  offenbaren  eine  ganz  eigene  Stimmung,  die  frühere 
Werke  nicht  kannten.  Was  uns  heute  oft  kalt  und  leer  erscheint,  ist 
im  Grunde  wohl  erst  ein  sekundärer  Eindruck:  Denn  aus  vielen  redet, 
still  oder  mächtig,  eine  tiefe  Bewegung,  in  ihnen  zittert  innere  seelische 
Erregung  nach,  nicht  aber  offenbaren  sie  einen  tief  innerlichen  Drang 
des  Herzens,  sondern  eine  Hast  der  Empfindung,  des  Suchens,  eine 
leidenschaftliche  Hingabe  an  eine  mehr  gewollte  als  erlebte  Religion.') 
Dem  entspricht  es  ganz,  dass  zur  Erregung  und  Steigerung  jener  Stim- 
mung gehäufte  Dekoration  auftritt,  ein  Prunk,  der  berückt  und  die 
Sinne  verwirrt.  Dieser  Charakter  tritt  besonders  in  Süddeutschland  her- 
vor; seine  Baumeister  kennen  „kein  Gesetz  der  Schönheit  als  das  sinn- 
liche Empfinden^.  In  künstlerischer  Hinsicht  sind  darunter  bedeutende 
Werke;  viele  dürfen  auch  durch  ihre  erhöhte  Innerlichkeit  den  Anspruch 

1)  T.  Bezold,  a.  a.  0.  Art.  81.  Daselbst  auch  über  den  italienischen  Barock,  seinen 
Ursprung  als  kirchlicher  Stil,  seine  Bedeutung  als  Kunst  der  Gegenreformation,  zum 
Folgenden. 

2)  Man  braucht  gar  nicht  an  die  politische  Entwicklung  zu  denken,  an  den 
ungenügenden  Abschluss  der  religiösen  Kampfe  oder  ihre  erbitterte  Fortsetzung; 
n&her  liegende  Thatsacben,  die  ungewöhnlich  rasche  Verbreitung,  das  Aufschiessen 
der  Kirchen,  die  Hast  und  Unfertigkeit  im.  Bauen  weisen  auf  jene  Grundlage  hin. 


32  Otto  Honsell 

erheben,  religiös  zu  wirken.  Und  ein  weiter  Weg  ist  noch  bis  zu  Fischer 
von  Erlachs  St.  Borromäus  in  Wien,  mit  den  Durchfahrten  und  Trajan- 
säulen  an  der  Front,  mit  ihrer  bereits  eklektischen  Bildung.  Dazwischen 
liegt  viel  ernste  Arbeit,  die  Thätigkeit  geschlossener  Generationen,  der 
Carloni,  die  wesentlich  in  Anlehnung  an  Borromini  die  alte  Kunst  weiter- 
bilden als  Stukkatoren  und  Architekten,  die  Schöpfungen  der  Dientzen- 
hofer  in  Österreich  und  Böhmen,  liegen  die  Dome  von  Kempten,  Passau 
und  Prandauers  Klosterkirche  von  Melk.')  Auf  eigenes  Schaffen  kann 
besonders  Sachsen  hinweisen,  dort  erreicht  der  protestantische  Kirchen- 
bau seine  höchste  Blüte.  Auf  der  einen  Seite  der  Theoretiker  Sturm, 
im  Glauben  reformiert,  in  der  Kunst  bereits  klassizistisch,  der  über  den 
einfachsten  Grundformen,  Quadrat,  Dreieck,  Kreis,  Winkel,  seine  Central- 
bauprojekte  errichtet,  dem  Grundsatz  getreu :  ^der  Protestantismus  sieht 
mehr  auf  Beinlichkeit  als  auf  Pracht  und  will  nicht  prunkvolle  Kirchen- 
bauten'. Gleich  einem  der  mittelalterlichen  Meister  wendet  Georg  Bahr, 
eine  schlichte  gewaltige  Persönlichkeit,  seine  ganze  Lebenskraft  dem 
Kirchenbau  zu,  dessen  grösste  Leistung  die  Frauenkirche  zu  Dresden, 
,die  am  meisten  protestantische  Kirche  der  Welt^  ^)  wird. 

Eine  genauere  Übersicht  über  die  Bildung  und  den  Gehalt  der 
Barockkirchen  ist  hier  nicht  notwendig.  Zwischen  Barock  und  Renais- 
sance besteht,  zumal  in  Deutschland,  ein  entschiedener  Gegensatz  nicht ; 
doch  ist  eine  Sondenmg  geboten,  da  es  sich  hier  um  die  Bedeutung  der 
kirchlichen  Renaissance  handelt.  Schon  wegen  der  grundverschiedenen 
Stimmung  scheint  die  Trennung  am  Platz  zu  sein ;  dann  aber  noch  aus 
rein  künstlerischen  Gründen.  Wohl  arbeitet  der  Barock  mit  den  Formen  der 
alten  Kunst,  er  schafft  keine  neue  Formensprache ;  gelangt  er  aber  dazu, 
die  früher  architektonischen  Elemente  und  konstruktiven  Glieder  mehr 
oder  weniger  in  dekorativem  Sinn  zu  verwenden,  so  trägt  diese  Ver- 
änderung in  die  Kunst  einen  neuen  Charakter  hinein  und  giebt  ihr  eine 
selbständige  Bedeutung.  Schon  in  Italien  geschah  sie  mit  den  antiken 
Ordnungen,  mit  der  Kuppel.  Aus  der  früheren  Kunstform  geht  eine 
neue  hervor,  welche  ganz  veränderten  Wert,  ganz  andere  Wirkung  inne- 
hat. —  Infolge  des  Mangels  einer  scharfen  Grenze  mussten  die  Richtung 
und  der  Übergang  der  Renaissance  nach  dem  Barock  kurz  dargestellt 
werden. 


1)  Gurlitt,  a.  a.  0.    Über  ihre  Bedeutung  S.  246  fg. 

2)  S.  83. 


August  tteichensperger  und  der  Kirchenbau  der  Renaissance  33 

Die  Übersicht  über  die  historische  Entwicklung  der  Renaissance- 
kirche gewährt  Einblick  in  die  künstlerische,  rein  formale  Ausgestal- 
tung. Sie  weist  schon  auf  Wichtiges  hin,  was  ihren  Gehalt  betrifft: 
auf  die  Anforderungen,  die  an  sie  gestellt,  die  von  ihr  befriedigt  wer- 
den, Grundriss  und  Aufbau  verdeutlichen  die  Gliederung,  die  Einzel- 
bildungen den  Wert  und  die  Bedeutung  der  Teile.  Hier  aber  ist  be- 
stimmt zu  fragen:  wie  gestaltet  sich  die  Erscheinung,  nicht  die  des 
Bauwerks,  sondern  vielmehr  die  der  Kirche,  besitzt  sie  «Mittel,  um 
religiös  zu  wirken*,  welches  ist  ihr  Gehalt?  —  In  hohem  Grad  ver- 
langt die  Antwort  hierauf  die  Teilnahme  der  innersten  tiefsten  Empfin- 
dung: jeder  muss  sie  selber  suchen. 

Wie  stand  es  denn  überhaupt  mit  dem  religiösen  Bedürfnis,  welches 
etwa  die  Kunst  verlangte  und  trug? 

Die  Stellung  des  Volks  zu  Kirche  und  Religion  war  vor  der  Re- 
naissance eine  ganz  andre  gewesen.  Sowie  das  gesamte  Dasein,  das 
geistige  Leben,  im  Bann  der  Kirche  lagen,  war  auch  die  Kunst  an  sie 
gebunden,  und  dieser  Zusammenhang  sicherte  ihr  einen  gewissen  Wert 
und  Ernst;  gerade  in  der  Baukunst  hatten  sich  die  Konstruktion  und 
die  Formen  lediglich  an  der  Kirche  entwickelt.  Ein  grosser  Teil  der 
mittelalterlichen  Dome  war  durch  die  Liebesthätigkeit  und  Opferwillig- 
keit des  Volks  zustande  gekommen ;  die  Lehre  von  den  guten  Werken, 
ihrer  Wohlgefälligkeit  und  Notwendigkeit,  sowie  die  Erteilung  von  Ab- 
lässen thaten  das  übrige.  Vor  dem  Eindringen  der  Laienschaft  ins 
Handwerk  stellten  die  Bauhütten  eine  von  idealen  und  tiefreligiösen 
Absichten  getragene  Organisation  dar  ^).  „Gott  zum  Lob  und  redlicher 
Aufrichtung  und  Beständigkeit  des  Handwerks''  arbeiteten  sie,  aber 
das  Gott  zum  Lob  war  das  erste.  —  Mit  der  Renaissance  veränderte 
sich  dies  Verhältnis  von  Grund  aus.  Nicht  scharf  genug  kann  der 
folgenschwere  scharfe  Gegensatz  hervorgehoben  werden,  der  zwischen 
Religion  und  Kirche  sich  heranbildete.  Zuvor  deckten  sich  diese  Ge- 
biete, Quelle  und  Anhalt  des  Gottesbewusstseins  waren  im  Christentum 
und  seiner  äusseren  Machtgestalt,  der  Kirche,  gegeben.  Jetzt  war  die 
Religion  nicht  mehr  etwas  objektiv  Gegebenes,  sondern  wurde  lediglich 
das  Produkt  des  einzelnen  Menschen.  Denn  zwischen  dem  Prinzip  des 
Glaubens  und  seiner  Darstellung  riss  eine  Kluft  seit  der  Entartung  der 
Kirche.  Erklärt  schon  Machiavelli,  dass  die  Italiener  vorzugsweise  irr- 
religiös und  böse  sind,  so  erkennt  er  selber  als  Ursache:  das  üble  Bei- 

1)  Hierzu  Kraus,  Geschichte  der  christlichen  Kunst.  II. 

NEUE  HEIDBLB.  JAHRBUECHER  XU.  3 


34  Otto  HoDsell 

spiel,  das  die  Kirche  in  ihren  Vertretern  giebt.  Die  Schuld  der  Kirche, 
die  politischen  Verhältnisse,  .die  Entdeckung  der  Welt  und  des  Menschen^, 
die  übrigen  Ursachen  für  die  Loslösung  des  Menschen  von  der  Kirche, 
das  Verblassen  der  christlichen  Ideale,  ihr  Ersatz  durch  das  Ideal  der 
historischen  Grösse  und  des  Ruhmes,  der  Einfluss  der  Antike,  die 
äusserliche,  unklare  Stellung  zur  Kirche,  die  Stimmung  der  Gebildeten 
gegen  dieselbe:  über  alle  diese  Verhältnisse  giebt  uns  bekanntlich 
Burckhardt  den  besten  Aufschluss  ^).  Ihre  Einsicht  ist  durchaus  un- 
entbehrlich für  die  Erkenntnis  der  Grundlage  der  religiösen  Kunst; 
man  muss  diesen  ungelösten  Widerspruch  in  der  Tiefe  der  Entwicklung 
begreifen,  muss  erkennen,  wie  über  ihn  das  glänzende  Leben  hinzog. 
Daseinsgenuss  und  Wirklichkeitsdrang,  freie  Entwicklung  der  persön- 
lichen Kraft  und  eine  rein  ästhetische  Weltanschauung  wirkten  zu- 
sammen und  schufen  eine  äusserliche  Harmonie  des  Lebens,  das  die 
bildende  Kunst  brauchte,  in  ihr  seinen  höchsten  Ausdruck  suchte  und 
fand.  Aber  die  Benaissance  war  in  ihren  Grundlagen  keineswegs  eine 
so  ungetrübte  Einheit,  wie  sie  sich  zuerst  darstellt.  Das  Gleichgewicht 
wurde  zerstört  durch  die  schweren  politischen  und  religiösen  Umwäl- 
zungen, und  im  Gefolge  der  Gegenreformation  ward  die  innere  In- 
differenz verdrängt  durch  eine  neue  Vertiefung  des  Glaubens,  eine  weit- 
greifende, religiöse,  ja  geradezu  reformatorische  Bewegung  bis  in  die 
höchsten  Prälatenkreise  Boms.  Mit  elementarer  Wucht  drängten  die 
lange  unterdrückten  Begungen  des  Innern  hervor ;  mit  leidenschaftlicher 
Hast  suchte  der  Einzelne  wieder  nach  einem  beruhigenden  sichern  Halt, 
nach  einem  neuen  befriedigenden  Ziel  seines  Daseins.  Aber  ebenso  hastig 
und  erregt,  wie  man  sich  zuvor  über  den  Widerspruch  hinwegzusetzen 
vermocht,  wollte  man  jetzt  auch  diesen  Halt  gewonnen  haben.  Gerade 
die  Energie  dieser  Bewegung  könnte  darauf  hinweisen,  dass  hinter  aller 
Indifferenz  und  äusseren  Glauben slosigkeit  bei  den  Menschen  der  Be- 
naissance, die  so  sicher  auf  der  Erde  stehen  wollten  und  mussten,  ein 
tiefes  religiöses  Gefühl  oft  genug  verborgen  lag.*) 

In  ihrem  Verhältnis  zur  Kirche  ist  aber  anzuerkennen,  dass  neben 
einem  tiefem  Widerwillen  gegen  dieselbe  in  den  weitesten  Kreisen  .das 
Gefühl  der  Abhängigkeit  von  den  Segnungen,  Sakramenten  und  Weihen 

1)  Es  muBB  unmittelbar  aaf  ihn  verwiesen  werden,  da  jede  Citiening  seiner 
feinen  Urteile  wie  eine  YerBtammlung  auBsieht.  Hierzu  beflonders  der  6.  Abschnitt 
in  seiner  Kultur  d.  R.  in  J.:  »Sitte  und  Religion." 

2)  Vgl.  hierzu  eine  Stelle  aus  Eugene  Müntz,  Leonard  de  Vind  (Paris  1899) 
L.  II  Chap.  3  S.  277:  Les  Italiens  du  XVI.  sitele  tombaient  . . .  dans  l'h^r^sie  qui 
est  elle-ro^me  une  manifestation  si  puiBsante  du  sentiment  religieux  et  nullement 
une  manifestation  de  la  libre  pensee. 


August  Reich ensperger  und  der  Kirchenhau  der  ftenaissancd  35 

der  Kirche"  ein  wenigstens  änsserliches  Festhalten  an  ihr  verlangte. 
Auch  sorgte  eine  lange  Tradition,  die  Nähe  des  Papsttums  und  eine 
festliche,  die  Sinne  gefangen  nehmende  Pracht  des  Kultus  und  der  kirch- 
lichen Feste  dafür,  dass  der  Zusammenhang  weniger  gelockert  ward,  als 
es  die  inneren  Verhältnisse  erwarten  Hessen. 

Am  glänzendsten  —  und  verzweifeltsten  ist  unter  solchen  Verhält- 
nissen die  Stellung  des  Künstlers,  wenigstens  desjenigen,  dessen  Kön- 
nen im  Dienst  der  „Kirche"  steht.  Was  sollen  auch  Kirchenbauten 
unter  Menschen,  die  zum  Teil  die  Kirche  hassten,  ihr  innerlich  nichts 
mehr  zu  verdanken  haben  wollten,  oder  die  nur  äusserlich  an  ihr 
hafteten?  —  Aber  lag  es  denn  in  der  Absicht,  in  der  Richtung 
der  Baukünstler,  etwas  Religiöses  zu  schaffen?  Geradezu  widersinnig 
wäre  diese  Frage  für  die  Zeit  der  Gotik.  Im  Grunde  genommen, 
wissen  wir  hier  wie  dort  über  diesen  Punkt  ebensowenig  bestimm- 
tes, und  doch  ist  sie  hier  durchaus  berechtigt,  schon  deshalb,  weil 
aus  der  Menge,  die  die  Kunst  trägt,  der  einzelne  Künstler  mit  seiner 
besonderen,  mit  Stolz  betonten  Persönlichkeit  heraustritt.  In  der  Früh- 
renaissance war  wohl  auch  in  diesen  Kreisen  der  Zusammenhang  mit 
der  Kirche  noch  nicht  erschüttert,  nur  insofern  schwächer,  als  er  es  seit 
jeher  in  Italien  gewesen  war.  Noch  Brunellesco  vertraut  in  naivem 
Glauben  beim  Bau  des  Florentiner  Doms,  die  Kirche  (Sta.  Maria  del  fiore) 
sei  Gott  und  der  heiligen  Jungfrau  geweiht,  und  diese  werde  bei  einem 
Werk  zu  ihrer  Ehre  es  nicht  unterlassen,  das  Wissen  zu  erweitern,  wo 
es  fehle,  und  Geist,  Kraft  und  Kenntnisse  derer  zu  stärken,  die  es  er- 
richteten ^).  Aber  schon  Battista  Alberti  stellt  Überlegungen  an,  welchen 
Göttern  Tempel  zu  bauen  seien.  Jedoch  verlangt  er  von  der  Kirche 
eine  ernste  tiefe  Wirkung  auf  die  Empfindung.  ,,In  den  Tempeln  steigt 
das  Göttliche  (superiori)  nieder,  um  unsere  Opfer  und  Gebete  in  Em- 
pfang zu  nehmen.  Sollte  aber  das  Göttliche  sich  um  der  Menschen 
hinfälliges  Bauwesen  nicht  kümmern,  so  trägt  es  doch  viel  zur  Frömmig- 
keit bei,  dass  die  Tempel  etwas  an  sich  haben,  was  das  Gemüt  erfreut 
und  durch  Bewunderung  fesselt.  Der  Eintretende  soll  von  Erstaunen 
und  Schauder  hingerissen  sein,  dass  er  laut  ausrufen  möchte:  dieser 
Ort  ist  Gottes  würdig!*  Unter  den  kleinen  und  mittleren  Künstlern 
mögen  noch  lange  die  gewohnten  und  überkommenen  religiösen  Vor- 
stellungen äusserlich  ihre  Geltung  behalten  oder  mit  den  neuen  An- 
schauungen eine  bizarre  Vermischung  erfahren  haben.  Über  diese  Zu- 
sammenhänge sind  wir  wenig  unterrichtet,   auch   nicht  bei  den  grossen 

1)  Vasari  XLI. 

3* 


36  Otto  Honsell 

Meistern,  deren  Leben  am  schwersten  in  Konflikt  geraten  konnte  mit 
den  Verhältnissen.  Ihre  Werke  müssen  reden,  nur  weniges  von  ihren 
Worten  giebt  Aufschluss  in  dieser  Richtung.  Bramantes  tiefe  Inner- 
lichkeit mag  an  seinen  Entwürfen  zu  St.  Peter  sich  genügend  offenbaren. 
Oanz  rein  sind  die  Ideale  der  Zeit  ausgesprochen,  wenn  Raffael  bei 
Übernahme  der  Bauleitung  schreibt :  Welcher  Ort  auf  Erden  wäre  auch 
würdiger  als  Rom,  und  welches  Unternehmen  edler  als  der  Petersdom, 
denn  er  ist  der  erste  Tempel  der  Welt  und  der  grösste  Bau,  den  man 
jemals  gesehen  hat^).  Heisst  doch  selbst  in  dem  Breve  Leos  X.,  das 
die  offizielle  Ernennung  enthielt,  die  Kirche:  der  Tempel  des  Apostel- 
farsten  ^).  Dieser  Bau  hat  überhaupt  das  ganze  Leben  der  Benaissance 
mitgelebt.  Und  ebenso  haben  sich  in  Michelangelo,  dem  grössten  seiner 
Meister  nach  Bramante,  verschiedene  Strömungen  vereinigt.  Voll  Be- 
geisterung für  die  Aufgabe,  die  Kirche  von  S.  Lorenzo  in  seiner  Heimat- 
stadt zu  vollenden,  will  er  die  Fa9ade  so  herstellen,  „dass  sie  als  der 
Spiegel  der  Baukunst  und  der  Skulptur  von  ganz  Italien  erscheine*  *). 
Die  rein  künstlerische-  Bedeutung,  die  formale  Ausgestaltung  sind  so 
hervorragend,  dass  es  unzulässig  ist,  einen  anderen  «Oehalt'^  als  den 
durch  sie  gegebenen  in  dem  Werk  finden  zu  wollen,  von  ihm  zu  ver- 
langen. Ausserdem  aber  spielt  in  jede  Thätigkeit  hinein  verhängnisvoll 
das  antike  Motiv  des  Ruhms.  Wie  ganz  anders  wird  dies  im  späteren 
Leben  Michelangelos,  besonders  seitdem  er  als  «archimaestro*  die  Bau- 
leitung für  St.  Peter  in  Händen  hat.  Die  harten  politischen  und  reli- 
giösen Schicksale  haben  ihn  persönlich  berührt;  ein  langes  Leben  rast- 
losen Schaffens,  die  fast  abstrakte  Gedankenwelt,  welche  zu  gewaltiger 
Erscheinung  drängt,  der  Umgang  mit  dem  Kreis  der  Vittoria  Golonna 
machen  ihn  empfänglich  für  die  Bestrebungen  nacli  Verinnerlichung  des 
Menschen;  ja  sie  erwecken  wieder  das  Verlangen  nach  einem  positiven 
Inhalt  des  Glaubens,  der  ihm  durch  eigene  Schuld  entschwunden  sei: 

Mein  Herz  erfüllt  nicht  Meisseln  mehr  und  Malen, 

Dass  es  sich  nur  zur  Gottesliebe  wende, 

Die  ausgespannt  am  Kreuz  die  Hand  uns  reicht. 

Nur  der  Bau  von  St.  Peter  beschäftigt  noch  seine  Phantasie  und  die 
plastische  Kraft.  Das  bringt  seinem  Verlangen  Ruhe,  die  Thätigkeit 
ist  für  ihn  ein  „gottgefälliges"  Werk.  Nur  seine  Frömmigkeit  und 
Liebe  zu  Gott  und  dem  Apostelfürsten,  heisst  es  einmal,  hätten  ihn 


1)  Bei  Springer,  Raffael  und  Michelangelo  H.  S.  102.  103. 

2)  S.  199. 


August  Reichensperger  und  der  Kirchenbau  der  Renaissance  37 

bewogen,  das  Amt  des  Baumeisters  in  seinem  hohen  Alter  zu  über- 
nehmen ;  auf  irdischen  Lohn  verzichtet  er  *).  Den  Bau  kann  er  nicht 
im  Stiche  lassen,  solches  erschiene  ihm  eine  Schande  für  die  ganze 
christliche  Welt  und  eine  schwere  Sünde.  Hier  offenbart  sich  ein  In- 
einanderleben von  Mensch  und  Werk,  von  Seele  und  Schöpfung,  wie  es, 
nur  natürlicher  und  gemilderter,  in  der  gotischen  Zeit  uns  entgegentritt. 
Es  handelt  sich  hier  nicht  darum,  die  These  zu  halten,  dass  zu 
allen  Zeiten  und  in  allen  Stilen  die  Kunst  ihre  höchsten  und  voll- 
kommensten Leistungen  auf  dem  Gebiet  der  religiösen  Aufgabe  voll- 
bracht habe.  Auch  kann  es  nicht  wertvoll  sein,  abstrakte  Zusammen- 
hänge zwischen  Kunst  und  Religion  im  allgemeinen  zu  suchen  (oder  zu 
konstruieren)  und  davon  auf  die  Renaissance  Anwendung  zu  machen. 
Bei  der  kirchlichen  Baukunst  bleibt  immer  zu  bedenken,  dass  sie  aus 
künstlerischen,  praktischen  und  religiösen  Bedürfnissen  gleichmässig  her- 
vorgeht, deren  eigenartiges  Verhältnis  den  Wert  der  Schöpfung  enthält.  — 
Es  ist  aber  vielmehr  zu  fragen:  was  haben  jene  Meister  erreicht?  In 
der  Zeit  des  jugendkräftigen  Aufschwungs  nicht  minder  als  später  in 
der  Hochrenaissance  bewundern  wir  die  rastlose  kirchliche  Bauthätig- 
keit,  ein  gewaltiges  Schaffen,  aber  auch  einen  leidenschaftlichen  Eifer, 
der  sich  ebenso  im  Fertigen  offenbart  als  im  Mangel  an  Vollendung, 
in  dem  Missverhältnis,  in  dem  zuweilen  die  äussere  und  innere  Er- 
scheinung bleibt.  Die  rein  ästhetische  Lebensanschauung  der  Zeit,  die 
sich  auf  alle  Verhältnisse  auszudehnen  versuchte,  hatte  zur  Folge,  dass 
in  der  Kirche  der  religiöse  Qehalt,  der  bei  den  früheren  Bauwerken  so 
natürlich,  fast  unbewusst  zum  Ausdruck  kam,  mehr  und  mehr  einem 
rein  künstlerischen,  rein  formalen  weichen  musste.  Aber  freilich:  die 
Kunst  hatte  ein  allmächtiges  Ideal,  und  die  höchste  Kraft  war  einge- 
setzt, es  zu  verwirklichen ;  eigene  Arbeit  und  die  Einwirkung  der  Antike 
hatten  es  geschaffen,  und  es  galt  am  allermeisten  für  den  Kirchenbau. 
Es  war  die  vollkommenste  Ausgestaltung  der  lebendigen  Form,  die 
höchste  Darstellung  der  harmonischen  Erscheinung,  die  vollendete  Aus- 
prägung eines  rein  künstlerischen  Stils.  Praktische  Bedürfnisse  finden 
kaum  Berücksichtigung;  mit  einem  ausgebildeten,  komplizierten  Kult 
vertragen  sich  seine  Kirchen  nicht.  Die  schöne  Erscheinung  beherrscht 
alles  andere.  Man  hat  über  die  italienische  Renaissance,  teils  mit  Rück- 
sicht auf  ihr  Verhältnis  zum  Altertum,  teils  wegen  des  Eindrucks  ihrer 
Werke,  geurteilt,  sie  habe  keinen  sakralen  Stil  entwickelt,  habe  keine 

1)  S.  328. 


38  Otto  Honsell 

eigentlich  »heiligen  Formen**  ausgebildet.  Allerdings,  wenn  man  dabei 
ausgeht  von  einer  einseitigen  Auffassung  der  Formenwelt  des  Mittel- 
alters als  einziger  Norm.  Es  hat  aber  wie  kaum  ein  anderer  Stil  die 
Eenaissance  die  architektonische  Erscheinung  ausgebildet,  am  herrlich- 
sten und  zum  höchsten  in  ihrer  Kirche.  Die  Wertung  derselben  ist  im 
geschichtlichen  Überblick  bereits  versucht  worden;  indess  sei  hier  noch 
einmal  betont,  dass  wir  festhalten  an  einer  scharfen  Trennung  der  Ent- 
wicklung, an  deren  Ende  als  vollkommene  Schöpfung  der  Centralbau 
steht,  von  derjenigen,  die  später  über  die  Bauten  Vignolas  und  Palladios 
zu  einer  neuen  Phase  führen. 

Für  die  bedeutende  Ausbildung  des  Eirchenbaus  in  der  italienischen 
Renaissance  dürfen  einige  Motive  recht  profaner  Art  nicht  unberück- 
sichtigt bleiben ;  auf  Seiten  der  Gründer  und  der  Baumeister.  Weltliche 
Fürsten  finden  durch  den  Bau  von  Kirchen  Gelegenheit,  ihre  (oft  auf 
unsicherem  Boden  stehende)  Herrschaft  zu  befestigen,  die  Unterthanen 
zu  gewinnen,  gewaltigen  Ruhm  zu  verbreiten  und  ein  längeres  Andenken 
sich  zu  sichern.  Einigermassen  modifiziert,  sind  die  nämlichen  Beweg- 
gründe auch  für  einige  Päpste  massgebend  gewesen,  unvergängliche 
monumentale  Kirchen  vermehren  Ehre  und  Glanz,  steigern  die  Bewun- 
derung, die  „  Devotion **  der  ganzen  Christenheit,  stärken  den  Glauben 
der  Menge,  die  nur  durch  Grösse  der  Schöpfungen  hingerissen  wird 
(so  notorisch  bei  Nikolaus  Y.).  Für  die  Baumeister  selber  brachte  es 
ebenfalls  grossen  Buhm  und  auch  innere  Befriedigung,  eine  Kirche  zu 
bauen,  womöglich  schwierige  Konstruktionsprobleme  damit  zu  lösen  und 
ihr  prachtvolle  Formen  zu  geben,  wohl  gar  damit  einen  der  alten  Bauten, 
Tempel  oder  Basiliken,  zu  übertreffen.  Solche  Motive  sind  in  Zeiten 
blühender  Entwicklung,  der  höchsten  Anspannung  menschlicher  Kräfte,  bei 
politisch  klugen  Mäzenen  wie  bei  Künstlern  ganz  natürlich,  uro  so  mehr 
bei  der  ganzen  Anlage  des  Italieners  der  Renaissance  mit  der  gewal- 
tigen Phantasie  und  dem  ungemessenen  Ehrgeiz.  —  Damit  ist  aber  eine 
tiefere  Grundlage  nicht  ausgeschlossen.  Es  ist  schon  gesagt  worden, 
dass  die  Renaissance  die  rein  architektonische  Erscheinung  zur  schön- 
sten Vollendung  ausgebildet  hat.  und  dies  nirgends  mehr  als  an  der 
Kirche;  kein  Bauwerk  verträgt  sich  mehr  mit  diesem  idealen  Organis- 
mus wie  ihr  Centralbau.  Dass  es  dem  Gottesdienst  gewidmet,  dass  es 
geweihte  Stätte  ist,  ist  erst  ein  sekundärer  Eindruck.  Während  sie  die 
Wirkung  des  Bauwerks  reinigend  steigert  und  die  künstlerische  Form 
auf  die  oberste  Stufe  der  Ausbildung  hebt,  übt  sie  schon  allein  eine 
der  tiefsten  Wirkungen   aus  auf  die  Empfindung  (wenigstens  der  Men- 


August  Reichensperger  und  der  Kirchenbau  der  Renaissance  39 

sehen  der  Renaissance).  Das  bedeuten  die  erwähnten  Worte  Albertis; 
mit  einigem  Vorbehalt  kann  man  auch  einen  Ausspruch  Michelangelos 
anführen,  der  zwar  äusserlich  nur  die  Malerei  betrifft :  »die  wahre  Ma- 
lerei ist  edel  und  fromm  von  selbst,  denn  schon  das  Ringen  nach  Voll- 
kommenheit erhebt  die  Seele  zur  Andacht,  indem  es  sich  Gott  nähert 
und  vereinigt ''.  Burckhardt  sagt:  „Im  Süden  ist  alles  Grosse  und 
Schöne  von  selbst  heilig. '^ 

Wenn  es  gerechtfertigt  ist,  mit  Vorsicht  den  Wert  und  Gehalt 
eines  Bauwerks  in  Beziehung  zu  setzen  mit  den  gleichzeitigen  Ideen 
der  Menschen,  so  ist  es  nötig,  auf  die  Bedeutung  des  Centralbaus, 
speziell  der  Kuppel  hinzuweisen.  Jeder  Vergleich  mit  der  gotischen 
Kathedrale,  mit  ihrem  hochaufstrebenden  Raum  voll  angenehmen  Düsters 
oder  spielender  Farben,  muss  zurückgedrängt  werden.  Hier  herrscht 
eine  „abstrakte  Raumschönheit*'.  In  den  herrlichen  Räumen  der  Kuppel 
sucht  und  findet  auch  die  religiöse  Empfindung  neue  Kraft  und  Begei- 
sterung. Nicht  mehr  im  Jenseits  liegt  das  Ziel,  es  ist  auf  Erden  aus- 
gebreitet, es  ist  die  schöne  Wirklichkeit,  die  dem  Menschen  gehört,  die 
er  ergänzt  durch  die  Schöpfungen  seiner  Phantasie,  sie  ist  als  sichtbare 
Offenbanmg  des  Himmels  ein  Gegenstand  der  Verehrung  und  Andacht. 
Der  Gedanke  ist  nicht  abzuweisen,  dass  in  dieser  Gestaltung  leise  Ideen 
anklingen,  welche  im  Kreise  des  Lorenzo  Magnifico,  an  der  Florentiner 
Akademie  heimisch  waren.  Bereits  hinter  dem  ganzen  Leben  und  der 
Kunst  der  Renaissance  liegen  Elemente  der  vor  andern  bevorzugten 
platonischen  Lehre  und  seiner  Welt  der  Ideen,  deren  jede  einzelne  nicht 
bloss  ethisch,  sondern  —  und  das  ist  das  entscheidende  — ,  zugleich 
ästhetische  Vollkommenheit  besitzt,  und  deren  höchste  (das  ayadov) 
vom  Stifter  offenbar  mit  der  obersten  Gottheit  identifiziert  wird.  Daher 
die  enge  Verbindung  des  Schönen  und  Religiösen.  Die  Männer  jenes 
edeln  Kreises  gingen  aber  weiter,  ihre  Anschauung  lief  hinaus  auf  den 
Theismus,  wie  er  damals  in  Italien  ganz  einzeln  dastand;  ihre  Über- 
zeugung von  dem  Verhältnis  des  Menschen  zu  Gott  fasst  Burckhardt 
in  die  Worte  ^):  ,,die  Seele  der  Einzelnen  kann  durch  Erkennen  Gottes 
ihn  in  ihre  Schranken  ziehen,  aber  auch  durch  Liebe  zu  ihm  sich  ins 
unendliche  ausdehnen;  dies  ist  dann  die  Seeligkeit  auf  Erden.^  Und 
diese  Begegnung  des  Hinaufstrebens  und  des  Herabschwebens  vermag 
die  Kuppel  der  Renaissance  zur  Erscheinung,  zur  Empfindung  zu 
bringen  •). 

1)  Kultur  der  Renaissance  in  Italien,  S.  28.S  fg. 

2)  Hierzu  die  Auffassung  (die  sich  allerdings  nicht  ganz  mit  der  letzteren 


40  Otto  Honsell 

Gewiss  sind  derartige  subtile  Zusammenhänge  nicht  notwendig,  um 
den  Wert  der  Benaissancekirche  zu  erkennen. 

Wer  aber  von  der  Betrachtung  des  Mittelalters  herkommt  oder  aus 
seinen  eigenen  Gedanken  schöpft,  wird  in  ihr  vergeblich  nach  dem  Aus- 
druck einer  religiösen  Empfindung  suchen,  eine  Teilnahme  des  religiösen 
Lebens  an  der  Schöpfung  erkennen  wollen.  Er  erinnert  sich  vielleicht 
an  die  Stellung  weiter  Kreise  jener  Zeit  zur  Kirche  (wie  es  zuvor  kurz 
dargestellt  wurde),  an  einen  gewissen  Widerspruch  in  diesen^  Verhält- 
nis. Sollten  wir  dann  annehmen,  dass  die  Kunst  sich  zu  ihrer  schönsten 
Blüte  entwickelt  habe  über  einer  Kluft,  dass  man  in  ihr  Ersatz  gesucht 
habe  für  ein  tieferes  religiöses  Leben,  das  jene  Verhältnisse,  wenigstens 
in  allgemeinerer  Ausdehnung,  unmöglich  machten?  Nichts  verkehrter. 
Hätte  sie  als  Ersatz  dienen  sollen,  und  selbst  für  das  Höchste,  wäre  sie 
nicht  die  grosse  Kunst  geworden,  deren  Werke  noch  heute  herrlich  wie 
am  ersten  Tag  blühen. 

Schliesslich  aber,  ist  es  denn  überhaupt  gerechtfertigt,  wenn  manch 
einer  heute  (wie  auch  früher  in  der  Zeit  nach  der  Benaissance)  in  dieser 
Kunst  die  Wirksamkeit  religiöser  Motive  sucht,  und  nach  ihrem  Vor- 
handensein oder  Nichtvorhandensein  den  Wert  derselben  bemisst?  Ist 
es  überhaupt  zulässig,  in  der  Baukunst  zu  reden  von  .Mitteln,  um 
religiös  zu  wirken^,  in  sie  einen  religiöseü  Gehalt  zu  legen? 

Gern  erhebt  eine  kunstarme  Zeit  einem  grossen  Künstler  gegen- 
über den  Vorwurf,  er  habe  über  der  Ausbildung  der  Erscheinung  den 
„Gehalf  vergessen.  Aber  immer  aufs  neue  werden  solche  Bedenken 
überwunden  durch  die  wiederkehrende  Thatsache,  dass  die  reine  Freude 
am  Gestalten,  das  Bewusstsein  des  lang  geübten  Könnens,  der  Bewäl- 
tigung des  Stoffs  eine  —  nicht  die  einzige  —  Voraussetzung  sind  für 
die  künstlerische  Offenbarung,  und  die  wichtigste  Grundlage  für  die 
Vollendung  eines  Kunstwerks.  Es  macht  hier  GeymüUer  als  der  erste 
den  schwierigen  Versuch,  auch  für  die  Benaissancekunst  «die  Mittel, 
um  religiös  zu  wirken*^,  aufzusuchen.  Er  greift  einzelne  Elemente  her- 
aus, sucht  ihre  Bedeutung,  ihren  Wert,  die  Wirkung  auf  das  Empfinden 
zu  erkennen;  er  weist  hin  auf  den  Bundbogen,  auf  die  Verbindung  mit 
den  Schwesterkünsten,  auf  die  Behandlung  des  Lichts  und  die  Kuppel. 

deckt,  aber  nns  etwas  von  der  Wirkung  der  Enppel  auf  das  religiöse  GefCkhl  offen- 
bart) in  einem  Sonett  des  6.  B.  Strozzi  für  den  Florentiner  Dom  [bei  Vasari  XLI]: 

Tal  Bopra  sasso  sasso 

Di  giro  in  giro  etemamente  io  strussi, 

Che  cosi  pasBO  passo 

Alto  girando  al  ciel  mi  ricondussi. 


August  Reich eosperger  und  der  Kirchenbau  der  Renaissance  41 

In  der  That  vermögen  diese  Teile  den  Weg  zu  weisen  zu  einer  be* 
stimmteren  Auffassung.  Man  ist  geneigt,  auch  an  die  Bedeutung  der 
schönen  Verhältnisse,  vor  allem  der  Kaumgestaltung  zu  denken;  sie 
bergen  nicht  bloss  rein  ästhetische  Werte.  Der  französische  Gelehrte 
sieht  aber  ferner  eine  weitgehende  Übereinstimmung  zwischen  einem 
Teil  der  antiken  Ästhetik  mit  ihrem  Ideal  der  objektiven  Vollkommen- 
heit (welches  auch  für  die  Renaissance  massgebend  wurde)  und  derjenigen 
des  Christentums.  —  Es  ist  hier  nicht  nötig,  einen  grossen  psycholo- 
gischen Apparat  zu  bewegen  und  zu  zeigen,  wie  bestimmte  Formen  und 
ihre  Beziehungen  ganz  bestimmte  Wirkungen  ausüben  auf  das  Empfin- 
dungsleben. Für  die  religiöse  Empfindung  handelt  es  sich  doch  immer 
um  ein  ausgeprägt  persönliches  Verhältnis  zum  Überirdischen;  und  die 
Regungen  in  dieser  Hinsicht  sind  viel  elementarer,  als  dass  jene  Werte 
sie  wohl  bestimmen  könnten. 

Tausend  Dinge  und  Erscheinungen  sind,  die,  scheinbar  zusammen- 
hangslos, uns  erinnern  können  an  eine  Beziehung  zu  einer  Gewalt,  die 
ausserhalb  der  Grenzen  des  Menschendaseins  liegt;  gleichviel  wie  nun 
ein  jeder  sie  empfindet  oder  denkt.  Von  einer  so  realen,  materiellen 
Kunst,  wie  die  Architektur  ist,  wird  man  im  Ernst  nicht  verlangen 
können,  dass  sie  ein  religiöses  Gefühl  zum  Ausdruck  bringe,  weder  ein 
bestimmtes  noch  ein  allgemeines ;  dass  in  ihr  ein  religiöses  Bewusstsein 
eich  verkörpere  oder  auch  nur  die  eine  solche  stützende  Grundempfindung. 
Sie  wirkt  ebenso  mit  dem  Einzelnen,  den  Teilen,  wie  mit  dem  Ganzen, 
der  Fläche,  der  Masse,  dem  Raum  vor  allem.  Sicher  gehen  von  diesen 
Elementen  bessimmte  Wirkungen  aus;  diese  bestehen  aber  nicht  in  der 
Übermittlung  einer  Empfindung,  sondern  bedeuten  eine  Reinigung,  eine 
Befreiung  der  mitgebrachten  Empfindung  des  Beschauers  von  diesen 
oder  jenen  Einflüssen,  ein  stilles  Lenken,  ein  Vorbereiten  auf  etwas,  das 
unter  jenem  Gewöhnlichen  verborgen  liegt  und  entweder  keine  Kraft, 
Gelegenheit  oder  Neigung  hat,  rein  hervorzutreten.  Und  gerade  in 
dieser  Richtung  vermögen  allerdings  die  wohlbeherrschte  Masse,  der 
Baum  und  die  architektonischen  Formen  mit  einer  elementaren  Wucht 
zu  wirken.  —  In  einem  ganz  übertragenen  Sinn  darf  dann  allerdings 
der  Baukunst  eine  religiöse  Wirkung  zuerkannt  werden,  kann  man  von 
einem  religiösen  Gehalt  selbst  beim  Centralbau  der  Renaissance  sprechen. 

V. 

Bramantes  letztes  Werk  bezeichnet  ungefähr  die  Grenze  für  die 
beiden  Entwicklungen  der  Renaissancekirche,  an  deren  Trennung  wir 


42  Otto  Honsell 

festhalten,  so  lange  wir  sie  werten  und  beurteilen  wollen.  Natürlich 
hat  im  Verlauf  die  eine  auf  der  anderen  sich  aufgebaut,  hat  den  älteren 
Typus  des  Langhauses  mit  Tonnen  und  Seitenkapellen  weitergebildet  und 
von  den  Formen  des  Centralbaus  wesentliche  übernommen  und  ver- 
ändert. Allein  die  absolute  architektonische  Kraft,  welche  jene  Kunst- 
form ausgestaltet  und  beherrscht  und  alte  Elemente  zu  einer  ganz  neuen 
Erscheinung  und  Wirkung  verwertet  hatte,  war  im  Schwinden.  Die 
folgende  Zeit  verarbeitete  das  Übernommene  in  ilirem  Sinn.  „Es  kommt 
alles  auf  den  Geist  an,  der  sich  der  Formen  bediente*,  sagt  Burckhardt; 
und  dieser  Geist  war  ein  ganz  anderer  geworden. 

Rom  mit  seiner  grossen  Vergangenheit  begann  bedeutenden  Einfluss 
auszuüben  auf  die  Aufgaben,  wie  auf  die  Formgebung  und  die  Phan- 
tasie der  Künstler.  An  diesem  Punkte  ward  es  verhängnisvoll,  dass 
die  Antike  nicht  mehr  bloss  vorzugsweise  nachgeahmt,  sondern  aus- 
schliesslich massgebend,  absolut  vorbildlich  wurde,  und  nach  der  Antike 
wenige  gewaltige  Persönlichkeiten  und  Künstler,  Bramante  und  Michel- 
angelo, sogar  weit  über  Italien  hinaus.  Ganz  anders  als  bei  den  Kirchen 
der  Frührenaissance  wurde  jetzt  das  Hauptgewicht  gelegt  auf  den  Bhyth- 
mus  der  Verhältnisse,  die  feine  Abstufung  der  Glieder,  das  Gleichgewicht 
der  Teile;  von  der  Harmonie  der  Masse,  der  Symmetrie,  endlich  von 
schönen  Kontrasten  sollten  wesentliche  Wirkungen  ausgehen.  Diese 
Elemente,  die  früher  die  Baumgestaltung  bedingten,  drängen  jetzt  zur 
Herrschaft  in  der  Bildung  des  Äussern,  der  Fläche  und  der  Fa9ade. 
Sie  sind  auf  dem  Weg,  imposant,  konventionell,  gleichgültig  zu  werden. 

In  der  religiösen  Baukunst  bedeutete  nicht  die  strengere  Ausbildung 
ihrer  Formen  und  Anlagen  an  sich,  sondern  die  Konstellation,  in  der 
es  geschah,  die  Veränderung  ihres  Werts,  die  Verminderung  ihrer 
Einheit.  Darf  es  als  eine  Thatsache  betrachtet  werden,  dass  in  der 
mittleren  Epoche  einer  Stilentwicklung  der  befriedigende  Einklang 
zwischen  der  Bedeutung,  dem  Gehalt  des  Lebens  und  ihrer  künst- 
lerischen Erscheinung  nach  Möglichkeit  erreicht  ist,  im  weiteren  Ver- 
lauf aber  immer  mehr  eine  Entfernung,  ein  Zwiespalt  eintritt,  so  ist 
dieser  von  erschreckender  Tiefe  für  die  Entwicklung  der  Benaissance- 
kirche  Italiens.  Es  wurde  bereits  angedeutet,  dass  die  unerwarteten 
politischen  und  religiösen  Schicksale  das  Leben  immer  mehr  mit  einem 
neuen  Gehalt  erfüllten,  der  seine  äussere  Darstellung  durch  die  Be- 
wegung der  Gegenreformation  fand.  Sie  darf  als  mitursächlich  in 
Beziehung  gesetzt  werden  mit  der  veränderten  Bichtung  der  Baukunst. 
Sie  erzeugte  ein  stärkeres  Bedürfnis  nach  Kult  bauten,  machte  überdies 


August  Reichensperger  und  der  Kirchenbau  der  Renaissance  43 

notwendig,  neue  Kirchen  zn  bauen  und  schnell  grossartige  prachtvolle 
Werke  hinzustellen.     Die  Formen  waren  da,   wurden   durch  strengere 
Auffassung  der  Antike  weiter,  ins  Grosse  und  Ernste,  gebildet,  und  sie 
mussten  weiter  entwickelt  werden.    Aber  das  Leben,  das  einst  in  ihnen 
gewohnt,  ward  der  entschiedene  Gegensatz  zu  dem  jetzigen,  welches  sie 
auch   fernerhin   umkleiden  sollten  bis  zur  abschliessenden  Vollendung 
der  künstlerischen  Form.     Man  rede  nicht  von  der  Freiheit,  mit  der 
der  Künstler  derselben  gegenübersteht;  sie  gilt  nicht  grenzenlos  in  der 
Baukunst,   ist   noch    beschränkter   inmitten  einer   einheitlichen   ge- 
schlossenen Stilentwicklung,   auf  eine  fortlaufende  Beihe   intensiv  ar- 
beitender Kräfte  gestützt,  wie  es  auch  die  Renaissance  in  ihrer  Mitte 
war.     Es  liegt  dann  eine  elementare  Macht  in  diesen  Formengebilden, 
wenn  sie  einmal  zur  Höhe  gebracht  sind;  sie  müssen  weiter  entwickelt 
werden,  es  koste  was  es  wolle.     Und  diese  Entwicklung  findet  ihren 
Abschluss  erst  im  Barock;  ihrem  neuen  Leben  entsprechen  hier  auch 
kräftig  veränderte  Formen.  —  So  wurde  die  Stärke  und  Sicherheit  der 
künstlerischen  Entwicklung  sich  selber  im  Kirchenbau  zum  Verhängnis. 
Von  dieser  Zeit  an  offenbart  sich  leise  oder  deutlich  darin  etwas,   das 
als  ein  tragisches  Schicksal  bezeichnet  werden  könnte.    Es  regt  sich  in 
den  Schöpfungen  einzelner  Bauten,  in  dem  Leben  einzelner  Meister;  an 
St.  Peter  vor  allen.    Bramante  hatte  mit  der  ihm  eigenen  Schnelligkeit 
und  Sicherheit  die  ersten  Pläne  gemacht.    Die  Energie  Julius  IL  strebte 
nach  ihrer  Verwirklichung.    Seit  Leo  X.  kam  die  sittliche  und  politische 
Krise  zum  Ausbruch,  das  Werk  blieb  liegen,  schon  das  Geld  fehlte. 
Viele  aber,  die  in  Bramantes  Entwürfe  Einsicht  haben,   erklären,  dass 
in   ihnen  das  beste  der  Renaissance  liegen  geblieben  sei.     Schon   der 
Grundriss   eine   herrliche  Harmonie:    das   griechische  Kreuz    mit    der 
weiten  Kuppel  und  mächtigen  Eckräumen ;  das  Äussere  mit  merkwürdiger 
Verbindung  von  Türmen  mit  Kuppel  und  Nebenkuppeln,  mit  der  unter- 
schiedenen Gliederung  der  Traveen;  das  erscheint,  noch  geschlossen,  als 
die  schönste  Blüte  der  kirchlichen  Renaissance.     Und  kam  nicht  zur 
Entfaltung.   Fast  alle  berühmten  Architekten  des  Jahrhunderts  arbeiteten 
für  diesen  Bau.     Michelangelo  hält  sich  selber  für  den   esecutore  der 
Pläne  Bramantes,  allein  er  ist  es  nicht,  er  hebt  die  eigenartige,   unter- 
schiedene Gliederung  der  Traveen  auf,  die  Kuppel   und  die  Steigerung 
des  ganzen  Auf  baus  von  der  Vorhalle   bis  zum  Tambour,    das  ist  sein 
Werk.    Die  Harmonie,  der  Einklang  der  ersten  Idee   mit  ihrer  Form 
ist  gesprengt.    Wie  in  seiner  Plastik  auch  hier  das  Hinarbeiten  auf  ein 
einziges  grosses  Ziel :  ein  transcendentes  Element  lebt  unter  seinen  zum 


44  Otto  Honseil 

Teil  nüchternen  Formen,  sie  thun  ihren  Dienst  nicht,  genügen  kaum 
mehr.  Die  weitere  Entwicklung,  der  Langbau  Madernas,  die  Farads 
des  Bernini  und  seine  projektierten  Türme,  ein  fortgesetztes  Herab- 
drücken der  Euppelwirkung,  ein  stetiges  Verändern,  sagen  das  Übrige. 
Freilich,  auch  gotische  Dome  hatten  mit  ihrer  Vollendung  zu  kämpfen, 
das  Fehlen  finanzieller  Mittel  kommt  auf  beiden  Seiten  in  Betracht,  bei 
diesen  war  aber  durch  einen  Meister  oder  die  in  seinem  Oeist  arbeiten- 
den Nachfolger  ein  umfassender  Plan  gegeben ;  bei  St.  Peter  hatte 
aber  nicht  die  Ausführung  eines  Planes  Schwierigkeiten,  vielmehr  die 
Ausgestaltung  des  Planes,  der  ganzen  Erscheinung.  —  Man  kann  einen 
Beweis  für  die  Grösse  und  den  Ernst  der  kirchlichen  Renaissance  io 
der  Spätzeit  darin  sehen,  dass  sie  trotz  des  Zwiespalts,  in  dem  sie  sich 
bewegte,  nicht  stockte  oder  entartete,  sondern  eifrig  weiter  arbeitete. 
Der  künstlerische  und  der  religiöse  Mensch  rangen  beide.  Jener  ver- 
suchte immer  wieder  mit  den  Formen  seiner  Kunst,  die  doch  ein  neues 
Leben  als  das  ihnen  ursprüngliche  umklammerte.  Aber  sie  gaben  nur 
langsam  nach.  Ihren  Höhepunkt  findet  diese  Bichtung  in  Palladio, 
einem  der  letzten,  allergrössten  der  Zeit.  Er  besass  die  gründlichste 
Kenntnis  des  Alten;  und  er  war  einer  der  ersten,  der  wieder  für  einen 
reineren  Kultus,  in  einer  strengeren  Art  herrliche  Kirchen  baute.  Die 
Seitenkapellen  erscheinen  wieder,  das  Äussere  wird  ernst  und  würdig 
gestaltet,  dem  Innern  entsprechend.  Schon  verschwindet  die  Farbe. 
Aber  er  beherrscht  noch  straff  die  Formen  der  Alten,  die  für  jeden 
verhängnisvoll  werden,  der  sie  nicht  meistert,  die  unter  seiner  Hand 
ein  ganz  neues  Wesen  gewinnen.  Palladios  That  ist  es,  in  der  Zeit 
einer  ernsteren  Religion,  eines  vertieften  Glaubens  die  Mittel  geschaffen 
zu  haben  zu  einer  neuen  Gestaltung  der  Kirche.  Er  bestimmte  die 
eine  der  Hauptrichtungen,  in  denen  der  Barock  weiter  arbeitete. 

Erkennen  wir  die  kirchliche  Baukunst  der  italienischen  Renaissance 
an  als  eine,  im  Bezug  auf  das  Volk  als  Individuum,  höchst  subjektive, 
worin  dieselbe  mit  Hülfe  ihrer  speziellen,  selbst  durchgearbeiteten  Mittel 
ihre  Ideale  zu  verkörpern  sucht  und  einen  eigenen  Gehalt  aufweist,  so 
erscheint  es  schwer  denkbar,  wie  die  Übertragung  einer  so  abgeschlossenen 
Kunst  auf  fremde  Länder  möglich  ist;  und  dennoch  ist  sie  geschehen. 
Denn  es  ist  ihr  Äusseres,  ihre  Gestalt  und  Erscheinung,  so  bedeutend 
ausgebildet,  dass  man  sich  zunächst  über  ihr  Wesen,  ihre  inneren 
Werte  hinwegsetzt  und  bloss  jenes  übernimmt.  Weiterhin  ist  wahr- 
scheinlich, dass  in  der  Zeit  der  späten  Gotik  und  des  Flamboyant  eine 
Entwicklung  in  den  alten  Bahnen  zu  keinem  rechten  Ergebnis  mehr 


August  Reichensperger  und  der  Kirchenbau  der  Renaissance  45 

geführt  haben  würde,  dass  eine  Stilwandlung  nötig  war,  der  Norden 
aber  und  besonders  Deutschland  neben  den  tiefgreifenden  politischen 
und  religiösen  Kämpfen  nicht  genügend  Kraft  und  Baum  besessen  hätte, 
aus  sich  heraus  eine  wertvolle  Umwandlung  der  Formen  durchzuführen. 
Mit  Vorsicht  kann  zur  Erklärung  auch  der  Gedanke  berücksichtigt 
werden,  dass  die  einzelnen  Völker  nicht  so  abgetrennt  und  abgeschlossen, 
auch  ihre  Kräfte  nicht  gleich  und  auf  dasselbe  Ziel  hin  gerichtet  sind, 
so  dass  ungefähr  gleichzeitig  alle  ihren  , nationalen  Stil'  haben  könnten. 
Der  Vorwurf,  die  nationale  Kraft  getötet  zu  haben,  ist  der  Renais- 
sancearchitektur gegenüber  nicht  nur  in  Deutschland  erhoben  worden; 
in  Frankreich  kam  er  bereits  von  VioUet-le-Duc.  GeymüUer  hat  ver- 
sucht, die  Notwendigkeit  der  Stilwandlung  und  der  Aufnahme  der 
Renaissance  in  Frankreich  um  1500  nachzuweisen  ^).  Zwischen  der  An- 
erkennung der  Thatsache,  dass  sie  ein  ,  Aufblühen  nationaler  Elemente' 
nicht  gebracht  habe,  und  dem  Recht  hieraus  der  Renaissance  einen 
Vorwurf  zu  machen,  liege  aber  eine  weite  Kluft.  Indessen  müsste  man 
an  einen  Stillstand  der  Entwicklung  glauben,  wollte  man  ihm  darin  zu- 
stimmen, dass  ein  nationaler  Stil  nach  der  Gotik  nicht  mehr  möglich 
war,  weil  alle  nationalen  Elemente  in  der  Gotik  ihren  vollkommenen 
Ausdruck  gefunden  hatten.  —  Der  andere,  hiermit  zusammenhängende 
Vorwurf  ist  der,  sie  vermöge  nur  in  geringem  Mass,  oder  überhaupt 
nicht,  .christlich  zu  wirken^.  Er  ist  es,  der  uns  hier  hauptsächlich 
beschäftigt.  Mit  der  neuen  Bildung  der  Renaissance,  die  aus  Italien 
über  die  Alpen  vordrang,  kam  allerdings  keine  neue  Quelle  religiösen 
Lebens,  und  dies  verzögerte  von  vorn  herein  ihre  Aufnahme  im  Kirchen- 
bau, liess  Geistlichkeit  und  Volk  beharrlich  an  der  Gotik  festhalten. 
um  so  ausgedehnter  verwandte  sie  die  kirchliche  Kunst  an  kleinen 
Werken,  Altären,  Grabmälern,  kirchlichen  Geräten.  In  ihrer  Architektur 
aber  entstanden  Schöpfungen  von  ganz  eigenartiger,  speziell  französischer 
Durchbildung  der  alten  Formen  und  der  Renaissance.  In  dieser  Rich- 
tung bewegt  sich  das  Streben  bis  in  die  Zeit  Ludwigs  XIII.  hinein ;  hier 
tritt  die  Änderung  ein.  Immer  enger  wird  der  Anschluss  an  Italien, 
immer  unmittelbarer  die  Nachahmung.  In  hohem  Grade  mögen  poli- 
tische und  konfessionelle  Rücksichten  die  Anlehnung  an  römische  Vor- 
bilder zur  Folge  gehabt  haben,  deren  Typen  doch  nur  in  den  grossen 
Verhältnissen  des  Südens  ihre  wahre  Schönheit  entfalten  konnten.  Viel- 
fach machte  auch  kluge  Berechnung  der  geistlichen  Fürsten  und  des 


1)  Baukunst  der  R.  in  Fr.    Kap.  2.  3  a. 


46  Otto  FTonsell 

unter  ihrem  Einfluss  stehenden  Hofes  das  Streben  nach  italienischer 
Pracht  und  Grösse  wünschenswert.  Auf  Kosten  der  religiösen  Stimmung 
wurde  formale  Vollendung  gesucht,  und  endlich  gegen  Ende  des  17.  Jahr- 
hunderts war  man  an  demselben  Ziel  angelangt,  wie  in  Italien  etwa  ein 
Jahrhundert  zuvor').  Wie  dort  durch  Palladios  und  Vignolas  Thätig- 
keit  eine  geschlossenere  Gestaltung  der  Forraensprache  der  Antike  er- 
reicht war,  die  formalen  Bestrebungen  zurücktraten  und  eine  freiere 
Verwendung  der  Glieder  ermöglicht  wurde,  so  bewegte  sich  nun  auch 
hier  die  Arbeit  in  der  Richtung,  „den  Ton  der  Architektur  zu  verstärken', 
den  Gebilden  eine  erhöhte  Bedeutung  und  Grösse  zu  geben.  Nirgends 
tritt  die  einer  solchen  Übertragung  anhaftende  Unwahrheit  deutlicher 
hervor  als  am  Kuppelbau ').  Diese  höchste  Kunstform  der  Renaissance 
war  für  Frankreich  „nicht  das  Erzeugnis  langer  Arbeit,  nicht  geworden 
in  zahlreichen  grossen  künstlerischen  Thaten  .  .  .,  sondern  als  fertige 
Ware  überliefert.  (Es)  hatte  sich  nicht  an  der  Durchbildung  der  Idee 
beteiligt  und  empfand  daher  nicht  ihre  Grösse".  In  allen  den  drei  grossen 
Kuppelkirchen,  die  unter  direktem  Einfluss  der  Renaissance  stehen:  an 
der  Sorbonne,  an  Val-de-Gräce  und  dem  Invalidendom  hat  die  Form 
eine  unwürdige  Bildung  erhalten.  Das  Missverhältnis  des  Äussern  und 
Innern  zerstört  ihren  Wert;  die  Basis  der  äusseren  stets  aus  Holz  ge- 
bauten Schale  liegt  in  Höhe  (bei  Val-de-Gräce  noch  oberhalb)  des 
Scheitels  der  inneren ;  daher  auch  die  gestreckten  Verhältnisse  des  Tam- 
bours, die  Disharmonie  zwischen  der  Höhe  der  inneren  und  äusseren 
Fensteröffnung,  welche  den  ruhigen  Eindruck  trüben.  AufTallend  ist  an 
der  Kuppel  von  Val-de-Gräce  der  allzu  ruhige,  runde  Kontur;  an  der 
des  Invalidendoms  die  Eleganz.  Mit  ihrer  Feinheit  der  Formen  und 
Vornehmheit  der  Verhältnisse  ist  sie  auch  eher  ein  Denkmal  des  Ruhms, 
voll  festlicher  Stimmung.  —  Den  verständigen,  kühlen,  nüchternen  Cha- 
rakter der  späteren  Renaissancekirche  Frankreichs  muss  selbst  ein  be- 
geisterter Verehrer  wie  Geymüller  zugeben. 

Der  letzte  Versuch,  die  Gotik  und  Renaissance  für  Konstruktion 
und  Formen  unvereint  nebeneinander  zu  gebrauchen,  war  St.-Btienne- 
du-Mont.  In  der  Fa^ade  von  St.-Eustache  erscheint  der  Höhepunkt 
der  französischen  Kirchenrenaissance  ^) :  die  aufstrebende  Symmetrie  der 


1)  Gurlitt,  Gescbichte  d.  Barocks  und  d.  Rococo  .  .  in  Frankreich  etc.  S.  244. 

2)  S.  65. 

3)  Sie  wird  schon  damals  in  Vergleich  gestellt  mit  den  alten  und  gleichzeitigen 
Bauten:  «1a  plus  parfaicte  et  accoroplye  ouvrage  qui  se  trouve  entre  les  anticques 
et  modernes,  tant  en  France  qu^en  Itallye",  heisst  sie  in  einem  Inventaire  v.  1621; 
bei  Geymüller,  a.  a.  0.  Anm.  1047. 


August  Reichensperger  und  der  Kirchenban  der  HenaissaDce  47 

gotischen  Kathedralfront  ist  verändert  in  eine  Haimonie  von  horizontaler 
und  vertikaler  Dreiteilung,  mit  Energie  und  Klarheit  gegliedert.  Nichts 
bezeichnender  für  die  Höhe  der  künstlerischen  Entwicklung  als  die  That- 
Sache,  dass  der  erste  grosse  Bau  der  Jesuiten  der  Kirche  des  Hugenotten- 
meisters  unmittelbar  nachgebildet  ist. 

Im  Zusammenhang  hiermit  sei  in  Kürze  die  Auffassung  Geymüllers 
über  den  Wert  der  kirchlichen  Renaissance  dargestellt,  weil  er  dieselbe 
wesentlich  im  Anschluss  an  die  französische  Renaissance  gebildet  hat, 
und  ausserdem  weil  es  reizt,  sie  der  Anschauung  eines  Reichensperger 
gegenüber  zu  stellen.  Die  beiden  bedeuten  die  Extreme,  zwischen  denen 
sich  die  andern  Meinungen  bewegen  können.  Freilich  führen  GeymüUer 
nicht  minder  die  Liebe  zur  französischen  Kunst  als  das  umfangreichste 
Wissen  und  tiefes  architektonisches  Empfinden  zu  seiner  Überzeugung. 
Vorraussetzung  ist  far  ihn  der  Beginn  der  Renaissance  in  Italien  mit 
dem  Dom  von  Florenz  1296,  wobei  sich  dem  antiken  Raumgefühl  ent- 
sprungene Innenräume  in  ein  reduziertes  gotisches  Detail  hüllen.  Zwei 
Strömungen  begegnen  einander:  dort  der  Versuch,  antike  Weiträumig- 
keit, Raummajestät,  Harmonie  und  Kuppel  in  die  gotische  Formen-  und 
Ideenwelt  einzubürgern;  hier  das  Streben,  die  Prinzipien  der  vertikalen 
Komposition,  die  Zusammengehörigkeit  der  Formen,  den  Bündelpfeiler 
der  antiken  Formenwelt  zuzuführen.  Die  Aufgabe  der  Vereinigung  fällt 
der  Renaissance  zu.  Sie  ist  auf  den  Stil  der  Sehnsucht  die  Antwort 
der  Schönheit  von  Gottes  Gnaden;  sie  ist  die  vollkommenste  religiöse 
Baukunst  und  enthält  die  christliche  Ästhetik  durch  ihr  Ideal  der  ob- 
jektiven  Vollkommenheit.  Mehr  noch  als  die  Gotik  verlangt  sie  grosse 
künstlerische  Vortrefflichkeit  aller  Ausführenden,  Begeisterung  für  das 
heilig  Schöne  und  den  höchsten  christlichen  Glauben  aller  Mitwirkenden. 
In  ihr  kommt  zur  Erscheinung  die  Freiheit  des  Individuums  auf  Grund 
der  Harmonie  mit  den  Gesetzen  Gottes;  ein  höheres,  architektonisches 
Prinzip  als  dieses  ist  nicht  denkbar.  Sie  hat  alle  Mittel  für  den  voll- 
kommensten Kirchenstil  der  Christenheit  vereint  und  fertig  hingestellt. 
—  Die  Geschichte  scheint  ihm  Recht  zu  geben,  trotzdem  sie  äusserlich 
auf  das  Gegenteil  hinweist;  die  historischen  Schicksale  des  Stils  in 
Frankreich  machten  es  unmöglich,  seine  Ideale  klar  zum  Ausdruck  zu 
bringen.  Er  muss  zugestehen,  dass  die  Übertragungen  der  italienischen 
Kunst  schliesslich  kalt  und  korrekt  geworden  sind,  die  Innengruppierung 
unbedeutend,  und  dass  die  französische  Architektur  die  Mittel,  um  religiös 
zu  wirken,  lediglich  durch  Beibehaltung  gotischer  Elemente  gewonnen 
bat.     Aber  aus  Fragmenten,  Altarwerken,  kleineren  Schöpfungen,  die 


4g  Otto  HoDseti 

ihm  wie  Modelle  für  grössere  Motive,  als  Befleie  nicht  ausgeführter 
Entwürfe  erscheinen,  stellt  er  eine  fortlaufende  Reihe  von  Typen  auf, 
die  ein  Bild  der  virtuellen  Entwicklung  geben,  die  Möglichkeit  ihrer 
Entfaltung,  die  Ziele  ihres  Strebens  darstellen. 

Im  Gegensatz  zu  den  Verhältnissen  im  Westen  standen  in  Deutsch- 
land der  kirchlichen  Renaissance  zu  Anfang  der  Bewegung  nur  wenig 
künstlerische  Kräfte  zur  Verfügung.  Viel  früher  und  auch  viel  tiefer 
als  dort  griffen  hier  die  religiösen  Kämpfe  in  das  innere  und  äussere 
Leben  jedes  ernsteren  Menschen.  Fand  die  Renaissance  im  Profanbau 
neue  Aufgaben  und  ein  überreiches  Feld,  so  bedeutete  sie  für  den  Kirchen- 
bau um  so  weniger,  gewann  in  ihm  keine  Bethätigung.  Dass  er  noch 
lange  an  der  Gotik  festhielt,  ist  für  ihn  nur  von  Vorteil  gewesen;  ja 
es  mag  als  ein  Beweis  der  Stärke  gelten,  dass  er  die  neue  Formenwelt 
nicht  sogleich  aufsuchte  und  übernahm,  sondern  ohne  ihr  grossen  Ein- 
äuss  zu  gewähren  auf  Konstruktion  und  Struktur,  sie  zuerst  nur  als 
dekoratives  Element  verwendete,  um  damit  den  Schmuck  zu  veredeln 
und  die  freundliche  Erscheinung  des  Werkes  zu  erhöhen.  So  war  die 
deutsche  Renaissance  keineswegs  ein  Bruch  mit  der  Vergangenheit, 
sondern  eine  Fortführung,  eine  Ablösung,  eine  langsame  Veränderung. 
Aber  gegen  Ende  des  16.  Jahrhunderts  geschah,  was  doch  einmal  ge- 
schehen musste,  dass  ihre  Gleichmässigkeit  gestört  ward,  dass  nicht 
mehr  die  mit  der  Kleinkunst  zusammenhängenden,  in  ihrer  Art  schaffen- 
den Meister  bauten,  sondern  Bau-Meister,  die  wieder  ernster  und  archi- 
tektonischer dachten  und  arbeiteten.  Die  italienische  Spätrenaissance 
wurde  zum  Vorbild  genommen ;  zahlreiche  Architekten  aus  ihrer  Schule 
kamen  über  die  Alpen,  vor  allem  brachten  die  Jesuiten  die  Lehren  ihrer 
Theoretiker  und  die  Formen  ihrer  Künstler  herüber.  Unter  diesen  Ein- 
flüssen entstand  eine  Steigerung  der  Kräfte  und  Fähigkeiten,  erhöhte 
sich  die  Bedeutung  ihrer  Leistungen,  bis  in  die  Zeit  vor  dem  grossen 
Krieg.  Das  Erlernen  der  fremden  Kunst,  die  sich  als  so  mächtig  erwies, 
die  Beherrschung  der  italienischen  Formen  waren  die  nächsten  Aufgaben 
und  Ziele;  aber  dahinter  regte  sich  die  eigene  Arbeit.  Die  innere  Kraft 
und  Phantasie,  welche  einst  die  Gotik  ausgebildet,  hatten  ihre  Richtung 
behalten  und  suchten,  befruchtet  und  gestärkt  durch  die  Kunst  des 
Südens,  sich  zu  bethätigen,  um  mit  ihr  aus  sich  heraus  nach  eigener 
Weise  etwas  rechtes  zu  schaffen^). 


1)  Vorzüglich  schildert  Gurlitt  (Gesch.  d.  Barocks  etc.  in  Deutschland,  S.  33  fg.) 
diese  aufsteigende  Bewegupg,  das  Bestreben,  sich  aus  den  Banden  der  Kleinkunst 
zu  befreien,   die  Bildung  fester  Schulen,   das  Auftreten  kräftiger  Kflnstlererschei- 


August  Reichensperger  und  der  Kirchenban  der  Henaissance  49 

Da  zerriss  der  Krieg  die  künstlerische  Überlieferung;  das  neue 
Geschlecht  verlor  den  engen  geistigen  Zusammenhang,  ^ihm  musste  die 
Baukunst  als  vor  ihm  abgeschlossen  erscheinen^.  Auf  dem  Gebiet  des 
Eirchenbaus  macht  sich  dieser  Riss  dadurch  fühlbar,  dass  künftighin 
überwiegend  italienische  Formen  übernommen  und  angewendet  werden, 
bis  diese  Richtung  ihre  Befriedigung  findet  im  Barock,  in  dem  Stil  der 
westeuropäischen  Welt.  Die  Kunst  in  Süddeutschland  mit  ihrer  rein 
sinnlichen  Schönheit,  die  Arbeit  im  (protestantischen)  Mittel-  und  Nord- 
deutschland mit  ernsteren  Bildungen  haben  beide  noch  hohe  Leistungen 
aufzuweisen.  Bei  der  ersteren  regt  sich  unter  ihrer  Pracht  und  Festes- 
stimmung oft  eine  leidenschaftliche  Erregung  der  Seele,  welche  im 
äusseren  Leben  sich  zuweilen  zu  einer  fast  mittelalterlichen  Bussfertig- 
keit steigerte.  Indessen  eine  abgeklärte,  tief  religiöse  Empfindung  offen- 
bart sich  nur  in  vereinzelten  Erscheinungen.  Nicht  unbegründet  ist  die 
Annahme,  dass  die  Kräfte  und  Formen,  die  dem  religiösen  Bewusstsein 
einen  würdigen  künstlerischen  Ausdruck  schaffen  sollten,  in  der  Ent- 
wicklung begriffen  waren,  allein  durch  gewaltsame  Bewegungen,  äussere 
Schicksale  verhindert  wurden,  in  gemässer  Weise  sich  auszubilden.  Aber 
gerade  die  Notwendigkeit  einer  blossen  Annahme  bedeutet  die  Schwierig- 
keit in  dieser  wichtigen  Frage.  Denn  eine  umfassende  Würdigung  der 
Leistungen  der  kirchlichen  Renaissance  in  Deutschland  liegt  nicht  vor; 
fehlen  doch  schon  genauere  Aufnahmen  und  Publikationen.  Es  sei  ge- 
stattet zu  erwähnen,  wie  Gurlitt  auf  die  Bedeutung  des  gleichzeitigen 
Profanbaus  hinweist  und  die  beginnende  Durchbildung  eines  wirklich 
eigenartigen  Darstellungsvermögens  unter  anderem  in  den  Schöpfungen 
des  Elias  HoU  und  am  Nürnberger  Rathaus  deutlich  vorauserkennen 
will.    Indessen  wird  eine  Analogie  im  Kirchenbau  schwer  zu  finden  sein. 

VI. 

Die  italienische  Renaissance  hat  in  ihrer  Blut«  im  Centralbau  die 
ihrer  geistigen  Grundlage  angemessenste  architektonische  Kunstform  zu 
hoher  Vollendung  entwickelt  und  damit  zugleich  eine  ihrem  Leben  ent- 
sprechende, ihres  Geistes  würdige  Kirche  geschaffen.  Die  folgende  Zeit 
hatte  dies  Vermächtnis  zu  verwerten,  allein  unter  ganz  veränderten  Be- 
dingungen, was  angesehen  werden  darf  als  notwendige  Folge  des  neuen 
Lebens,  welches  ihr  Volk  vor  anderen  Völkern  zuerst  durchlebte.     Für 


nangen,  die  Anfänge  einer  ins  Grosse  strebenden  monumentalen  Kunst.  Was  er  dort 
mehr  von  Profanbau  sagt,  lAsst  auch  fOr  die  Entwicklung  der  Kirche  vieles  und 
wichtiges  erkennen. 


NKIR  HRIDRLB.  .TAIIRnilRCTIKK  XI  F. 


50  Otto  Honseil 

die  Länder  des  Nordens  und  Westens  aber,  die  die  Renaissance  über- 
nahmen, ergiebt  sich,  dass  auf  dem  Gebiet  des  Eirchenbaus  ihre  Bau- 
meister jene  eigentümliche  Formenwelt  der  Italiener  nicht  zu  meistern 
verstanden,  sie  in  charakteristischer  Weise  zu  verwerten  keine  Anlage 
und  Fähigkeit  besassen  und,  abgesehen  von  seltenen  Ausnahmen  und 
vereinzelten  hohen  Leistungen,  aus  dem  Derivat  eines  Derivats  Eigen- 
wertvolles nichts  hervorbringen  konnten.  Beden  wir  allein  von  der 
zweiten  Periode  der  Renaissance,  die  die  Resultate  der  Spätrenaissance 
Italiens  und  derjenigen  des  Auslandes  zusammenfasst,  so  ist  zu  sagen, 
jass  es  ihr  nicht  vergönnt  war,  ein  Gotteshaus  zu  schaffen. 

Ihre  Kultur  bot  auch  nicht  die  Grundlage  dafür ;  sie,  von  unserem 
ganzen  Leben  unzertrennlich,  hat  es  mit  sich  gebracht,  dass  die  Renais- 
sance im  Eirchenbau  eine  Unmöglichkeit  zu  lösen  unternahm.  An  ein 
Unvermögen  des  künstlerischen  Stils  an  sich  ist  alsdann  erst  in  zweiter 
Linie  zu  denken.  Es  war  der  Eirchenbau  für  die  Renaissance,  und  ganz 
besonders  far  die  deutsche,  das  schwierigste  Problem,  die  schwierigste 
Leistung.  Nicht  nach  den  Ergebnissen  allein  darf  sich  hier  das  Urteil 
richten,  sondern  auch  nach  der  Aufgabe,  nach  dem  Verhältnis  ihres 
Inhalts  zu  ihrer  Lösbarkeit  und  zu  der  aufgewendeten  künstlerischen 
Arbeit.  Nach  heutigem  Massstab  darf  die  Eritik  ihre  Schöpfungen 
nicht  messen,  es  sei  denn,  dass  ihre  praktische  Verwendung  für  eine 
neue  Anlage  in  Frage  steht. 

Bei  dieser  Auffassung  ist  die  Berechtigung  eines  Vorwurfs,  die 
Renaissance  habe  ein  Eultgebäude,  eine  Eirche  nicht  schaffen  können, 
ganz  ausgeschlossen.  Der  arbeitende  Eünstler  wird  ihn  immer  wieder 
erheben,  der  es  an  sich  spürt,  dass  die  Formen  sich  seinen  Ideen  nicht 
fügen,  die  sich  doch  so  lange  fügen  mussten  und  oft  nichts  Ernstes  und 
Wahres  bedeuteten;  der  gelehrte  Forscher  mag  ihn  aussprechen,  dem 
ebenfalls  die  künftige  Entwicklung  am  Herzen  liegt.  Geradezu  wertlos 
aber  und  nichtig  wird  der  Vorwurf,  ausgedehnt  auf  die  Baukunst  Italiens. 
Sie  ist  wie  das  Leben,  das  sie  begleitete,  so  natüriich,  so  konsequent 
und  notwendig  erwachsen  aus  dem  Boden,  worauf  sie  stand,  und  aus 
seinen  Menschen.  Endlich  aber  —  das  ist  der  Eern  der  Anschauung 
Reichenspergers  —  der  Renaissance  entgegenhalten,  sie  habe  in  der  Sorge 
um  die  Wiederbelebung  der  Antike  die  Ideen  der  mittelalterlichen  Eirche, 
die  doch  wahrlich  nicht  dieselbe  Eine  bleiben  sollte,  samt  ihren  Dogmen 
und  Offenbarungen,  Hoffnungen  und  Verheissungen  nicht  mehr  wie  die 
Gotik  „zum  Ausdruck  gebracht*',  dass  heisst  die  Gotik  schier  um  die 
Hälfte  ihres  Werts  herabsetzen  und  die  Eultur  von  vier  Jahrhunderten 


August  Reichensperger  und  der  Kirchenbau  der  RenaisBance  51 

für  nichtig  erklären.  Nicht  die  Kunst  allein  und  nicht  das  Leben, 
nicht  dies  oder  jenes  allein  trifft  überhaupt  ein  Vorwurf.  Ferner  aber, 
eine  Anklage  der  Art,  die  Renaissance  habe  keine  „heiligen  Formen", 
keinen  sakralen  Stil  ausgebildet,  verliert  überhaupt  jeden  Boden.  Denn 
es  heisst,  einen  so  fertigen  Begriff  des  Heiligen  mitbringen,  wie  es  doch 
weder  in  zwei  Religionssystemen  noch  in  zwei  Empfindungen  gleich 
vorhanden  ist;  und  darnach  ein  Kunstwerk  oder  gar  eine  ganze  Kunst- 
gattung allein  beurteilen,  bedeutet:  einen  Massstab  an  sie  anlegen,  dem 
sie  sich  völlig  entzieht. 

Es  ist  mit  Schärfe  hervorgehoben  worden,  dass  Reichensperger  eine 
erfolgreiche  Erneuerung  der  Qotik  basieren  will  auf  die  Wiederherstellung 
ihrer  mittelalterlichen  religiösen  Grundlage;  »die  Kirche*  von  heute 
steht  aber  und  blribt  auf  einem  anderen  Boden  als  früher.  Nicht  ein 
Schluss  aus  diesem  Satze  ist  die  Behauptung,  dass  die  Zukunft  mit  der 
Ootik  ihre  Kirchen  nicht  wird  bauen  können.  Man  hat  es  seither  immer 
wieder  mit  ihr  versucht.  Die  deutsche  Renaissance  hielt  an  ihr  fest, 
nnd  das  lieferte  vielfach  gute  Ergebnisse.  In  der  Zeit,  in  der  Reichen- 
sperger wirkte,  hielt  man  den  gotischen  Stil  far  den  einzig  kirchlichen 
und  verwandte  ihn  darum  zu  Kirchen  vorzugsweise.  Davor  liegt  noch 
eine  merkwürdige  Strömung  der  Romantik,  der  Wahn  Schinkels,  die 
Ootik,  „der  ergreifendste  Stil  deutscher  Bauart*',  sei  im  Mittelalter 
nicht  zu  «völliger  Vollendung''  gelangt  und  diese  sei  durch  eine  Wieder- 
geburt aus  dem  griechischen  Oeist  heraus  zu  bewirken.  Die  Frucht 
der  ernsteren  Bestrebungen  seit  der  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  war 
wenigstens  der  Beginn  der  genaueren  Erkenntnis,  wie  die  alten  Meister 
die  Kirchen  gebaut  haben.  Dass  man  die  daraus  gewonnene  Kraft  in 
Nachahmungen  erprobte  und  vermehrte,  war  natürlich;  dass  es  schöne 
Versuche  blieben,  ebenso.  Von  jener  Erkenntnis  aus  aber  werden  neue 
Versuche  im  Kirchenbau  ausgehen. 

Es  stehen  hier  auch  ganz  andere  Schwierigkeiten  im  Wege  als 
zuvor.  Die  gewaltige  Formensymbolik,  durch  welche  die  mittelalter- 
liche Kirche  so  enge  verwachsen  war  mit  der  Darstellung  der  Religion, 
belebt  das  katholische  Kultgebäude  nicht  mehr  wie  einst;  von  der  pro- 
testantischen Kunst  wurde  sie  aus  dogmatischen  Gründen  bereits  im 
Anfang  vollständig  aufgegeben  (Schlosskapelle  in  Torgau).  Die  Kirche 
war  ehedem  das  ,»Haus  Gottes*,  die  irdische  Stätte  der  Hostie,  das 
Behältnis  des  höchsten  Wunders.  Luthers  Religion  verändert  ihren 
Wert :  sie  ist  ein  Haus  der  Vereinigung  religiös  empfindender  Menschen, 
die  Stätte  der  Vertiefung  in   die  Worte  der  Schrift,  der  Ort  der  Er- 


52  Otto  Uonsell 

hebung  in  dem  Gefühl  der  Gemeinschaft  und  der  Nähe  iiires  hohen 
Stifters.  Von  allen  diesen  Elementen  hätte  wohl  am  ehesten  das  letzte 
befruchtend  auf  die  Kunst  wirken  können  (und  hat  es  zum  Teil  auch, 
besonders  in  der  Umgebung  des  Pietismus  um  die  Wende  des  17.  und 
1 8.  Jahrhunderts) ;  es  birgt  zunächst  eine  tiefe  Empfindung  der  Seele, 
enthält  aber  einen  Wert,  dem  auf  der  anderen  Seite  ein  künstlerischer, 
gerade  ein  architektonischer,  entsprechen  könnte ;  es  erweckt  ein  schwe- 
bendes Gefühl  des  Raumes  und  der  Höhe,  das  sich  in  keine  der  früheren 
Formen  kleiden  möchte. 

Eine  der  gotischen  Hoheit  und  Geschlossenheit  entsprechende  kirch- 
liche Baukunst  wird  erst  wieder  in  die  Erscheinung  treten  können,  wenn 
ein  neues,  ebenso  hohes  Gottesbewusstsein  sich  entwickelt  hat.  So  lange 
bleiben  alle  Bildungen  ein  Zurückversetzen,  ein  Stillstehen.  Inzwischen 
werden  auch  die  Vorwürfe  weiter  dauern.  So  lange  aber  auf  dem  Ge- 
biet der  Profanmonumentalkunst  die  Renaissance  nicht  überwunden  ist 
und  man  mit  äusserstem  Hass  oder  äusserster  Liebe  zu  ihr  steht,  haben 
wir  auch  noch  kein  objektives  Verhältnis  zu  ihr  gewonnen,  zum  Geist 
der  Renaissance  ebenso  wenig  wie  zur  Persönlichkeit  Luthers. 

Ein  bestimmt  entwickeltes  religiöses  Bedürfnis  einer  grösseren  All- 
gemeinheit: das  ist  die  Voraussetzung  für  die  Blüte  der  kirchlichen 
Baukunst.  Ohne  diese  findet  sie  sich  immer  in  einem  Zwiespalt  und  ist 
sich  selbst  ein  Widerspruch.  Damit  sind  aber  grosse  Einzelleistungen 
nicht  ausgeschlossen.  Mehr  als  anderwärts  erhebt  sie  sich  über  der 
zusammenhängenden  inneren  Arbeit  vieler.  Die  Baukunst  haftet  an  der 
Erde  und  ihren  Stoffen  wie  keine  andere,  nur  langsam  verändert  sie 
eine  Form ;  und  gerade  bei  der  kirchlichen  Architektur  wird  erst  hinter 
der  subjektiven  Vollendung  die  objektive  Gestaltung  möglich,  sie  er- 
scheint nicht  im  Augenblick  der  inneren  Vollendung.  —  In  dieser  Hin- 
sicht mag  der  Kirchenbau  als  ein  Problem  gelten,  dessen  Lösung  dem 
innersten  Bedürfnis  des  Menschen  am  nächsten  steht. 

Oder  er  müsste  aufhören,  einen  Sinn  zu  haben,  aufhören  zu  sein. 

Es  bedarf  zum  Ende  noch  einer  Fixierung,  die  erst  jetzt  ihre  Be- 
rechtigung erhalten  hat.  Bei  der  vorliegenden  Frage  lässt  sich  nicht 
umgehen,  für  die  Beziehungen  des  religiösen  Lebens  zum  künstlerischen 
Schaffen  bestimmte  Bezeichnungen  zu  gebrauchen :  es  war  die  Rede  von 
Formen  Symbolik,  von  der  Verkörperung  einer  Empfindung,  von  dem  ent- 
sprechenden Ausdruck  einer  religiösen  Bewegung  im  Kunstwerk. 
Nichts  liegt  mir  ferner,  als  zu  meinen,  diese  Bezeichnungen  sollten 
irgend  etwas  mehr  als  andeuten,  abkürzen.    Diese  Ausdrücke  benennen 


August  Reichensperger  und  der  Eircheobau  der  RenaisBance  53 

Dur  zwei  Enden,  sie  schlagen  Brücken  von  einer  Höhe  zur  anderen. 
Was  in  der  Tiefe  liegt,  was  sie  verbindet,  wir  wissen  es  nicht;  allein 
es  widerstrebt  uns  zu  glauben,  dass  es  ein  Nichts  sei,  man  müsste  sonst 
am  Ende  leugnen,  dass  ein  Zusammenhang  bestände  zwischen  Kunst 
und  Leben.  Jene  Worte  lassen  aber  diesen  zu  gewaltsam  erscheinen, 
zu  bestimmt,  zu  unmittelbar.  Zwischen  der  Absicht,  einer  religiösen 
Empfindung  Gestalt  zu  verleihen,  und  dem  bestimmten  Drang,  diese 
Gestalt  ans  Licht,  in  die  Wirklichkeit,  in  die  Erscheinung  zu  f&hren, 
liegt  jene  Tiefe,  wo  sich  durch  die  Menschenseele  hindurch  vereinigt, 
was  der  Glaube  erschaut  und  ersehnt,  und  was  die  Kunst  sieht  und  will. 


Stift  Neuburg. 

Von    • 

Ernst  Tranmann. 


Das  Auge  des  Wanderers,  der  auf  der  Landstrasse  von  Heidelberg 
aus  gegen  Osten  schreitet,  wird  schon  aus  der  Ferne  von  einem  hellen, 
stattlichen  Gebäude  angezogen,  das,  zwischen  dem  Harlass  und  Ziegel- 
hausen etwa  dem  Eönigstuhl  gegenüberliegend,  aus  langer  Fenster- 
flucht von  einem  Hügel  des  rechten  Neckarufers  in  das  Thal  hernieder- 
schaut. An  das  rechtwinkelige  Haus  —  mit  der  einen  Front  nach 
Süden,  mit  der  anderen  nach  Westen  gerichtet  —  schliesst  sich,  mit 
Dach  und  Turm  es  überragend  und  massig  vorspringend,  ein  epheu- 
bewachsenes  Eirchlein  an,  das  dem  Ganzen  sein  freundlich-ernstes  Ge- 
präge giebt.  Ein  Bild  des  Friedens,  ebenso  reizvoll  am  frühen  Morgen, 
wenn  die  ersten  Strahlen  der  Sonne  über  dem  Flusse  zittern,  wie  am 
Abend,  wenn  sich  die  Schatten  der  Berge  in  das  Thal  senken.  Es  ist 
das  Stift  Neuburg.  Auf  ihm  hatte  das  Auge  Goethe's  geruht,  als  er 
auf  der  Reise  in  die  Schweiz  im  Jahre  1797  von  Sinsheim  aus  am 
27.  August  schrieb :  „Aus  Heidelberg  um  sechs  Uhr,  an  einem  kühlen 
und  heiteren  Morgen.  Der  Weg  geht  am  linken  Ufer  des  Neckars 
hinaus  zwischen  Granitfelsen  und  Nussbäumen.  Drüben  liegt  ein  Stift 
und  Spital  sehr  anmutig. ""  Der  Dichter  ahnte  damals  nicht,  dass  dieser 
Ort  einmal  durch  nahe  Freunde,  die  hier  seinen  Geist  und  sein  An- 
denken pflegten,  zu  einer  Wallfahrtsstätte  für  spätere  Generationen 
werden  sollte.  ^ 

Eine  Gründung  des  Klosters  Lorsch  aus  dem  12.  Jahrhundert, 
später  ein  Stift  für  adelige  Fräulein,  im  18.  Jahrhundert  zuerst  im 
Besitze  der  Jesuiten,  dann  der  Lazaristen  —  erwarb  es  im  Jahre  1825 
der  »Rath**  Fritz  Schlosser  aus  Frankfurt.  Er  war,  1780  geboren,  der 
ältere  Sohn  jenes  Hieronymus  Peter,  den  Goethe  ebenso  wie  dessen 
Bruder  Johann   Georg  —  der  spätere  Schwager  des  Dichters  —   im 


Stift  Neuburg  55 

12.  Buch  von  „ Wahrheit  und  Dichtung*'  so  freundschaftlich  erwähnt. 
Wie  der  Vater  und  OheioQ,  so  wandte  sich  auch  Fritz  der  Bechts- 
wissenschaft  zu,  wurde  zuerst  Advokat  in  seiner  Vaterstadt,  dann  in 
der  primatischen  Zeit  Stadt*  und  Landgerichtsrat  daselbst,  späterhin 
Oberschul-  und  Studienrat,  zuletzt  Direktor  des  neugebildeten  Frank- 
furter Lyceums  —  eine  Laufbahn,  die  er  seiner  hohen,  umfassenden 
Bildung  verdankte.  Auch  ihm  „streckten  die  Musen  willig  die  Rosen- 
hände von  den  Aktenstöcken',  wie  Qoethe  von  seinem  Vater  sang.  Die 
Liebe  zur  Litteratur  und  zu  den  schönen  Künsten  blieb  in  dieser  Familie 
heimisch.  Als  er  im  Jahre  1816  seine  öffentliche  Thätigkeit  beschlossen  — 
er  hatte  noch  am  Wiener  Eongress  die  Interessen  seiner  Vaterstadt 
einige  Zeit  vertreten  —  widmete  er  sich  völlig  seinen  Neigungen. 
Ungewöhnlich  sprachkundig  —  er  lieferte  z.  B.  eine  Übersetzung  von 
«Freudvoll  und  leidvoll''  in  12  Sprachen  —  bethätigte  er  sich  besonders 
in  Übertragungen  neugriechischer,  italienischer  und  lateinischer  Dicht- 
ungen. Von  seinen  Arbeiten  verdienen  vornehmlich  «die  Lieder  des 
heiligen  Franciscus  von  Assisi**  (1842)  und  «die  Kirche  in  ihren  Liedern 
durch  alle  Jahrhunderte**  (1852)  erwähnt  zu  werden.  Seit  1809  mit 
Sophie  Dufay  in  glücklichster,  wenngleich  kinderloser  Ehe  vereinigt, 
war  er  mit  seiner  ernsten,  ihm  durchaus  gleichgesinnten  Lebensgefährtin 
im  Jahre  1814  zum  Katholizismus  übergetreten  —  ein  Ereignis,  das 
Julius  Frese  in  der  biographischen  Einleitung  zu  seiner  trefflichen 
Publikation  der  „Goethe-Briefe  aus  Fritz  Schlosser*s  Nachlass**,  abge- 
sehen von  dessen  eigener  Qeistesrichtung,  teils  aus  Einflüssen  Christian 
Schlosser's,  des  schwärmerisch  angelegten  jüngeren  Bruders,  vielleicht 
auch  Clemens  Brentano*s,  teils  aus  dem  romantischen,  der  Vergangen- 
heit zugekehrten  Zuge  jener  Zeit  erklärt.  In  seiner  Denkweise  änderte 
dieser  Schritt  nichts.  Sein  Ausspruch:  ,,der  Gläubigste  ist  auch  der 
Duldsamste*  charakterisiert  ihn  in  seiner  ganzen  Milde  und  Weitherzig- 
keit. Nirgends  aber  tritt  uns  seine  Güte,  seine  Gewissenhaftigkeit,  seine 
Freundestreue  und  Hilfsbereitschaft  so  leuchtend  entgegen  als  in  seinem 
Verhältnis  zu  Goethe.  Zu  ihm  blickte  er  zeitlebens  auf:  ^Von  unserer 
Kindheit  an^,  so  schrieb  er  nach  des  Dichters  Tode  an  Sulpiz  Bois- 
seree,  „hatte  Goethe*s  Gestirn  mit  immer  gleichem  Glänze  über  uns 
gestrahlt;  Generationen  waren  neben  ihm  aufgeblüht  und  dahin  gewelkt, 
manches  schön  aufstrebende  Talent,  manches  reiche  Gemüt  hatte  sich 
wenigstens  in  Perioden  der  Entwicklung  an  ihn  gerankt  und  seine  Ein- 
wirkungen aufgenommen  —  und  wie  manche  der  uns  Teuersten  unter 
diesen  deckt  längst  das  Grab,  während  wir  uns  gewöhnt  hatten,  dem 


56  Ernst  Traumann 

alten   Heros  gewissermassen    eine  Art  physischer  Unsterblichkeit   bei- 
zulegen.   In  ihm  und  dem  im  verflossenen  Jahre  geschiedenen  Minister 
V.  Stein  starben  die  beiden  kräftigsten  Heldennaturen,  die  mir  im  Leben 
begegnet.^    Die  von  den  Eltern  überkommene  Freundschaft  hatte  durch 
Goethe's  Weggang  nach  Weimar  (1775)  keine  Änderung  erfahren.    Im 
Jahre  1797  ward  sie,  als  Qoethe  mit  Christiane  und  August  in  Frank- 
furt weilte,  erneuert.     Der  Dichter  hat  es  seinen   dortigen   Freunden 
niemals  vergessen  und  stets  mit  rührender  Dankbarkeit  vermerkt,    dass 
sie  sowohl  damals  als  späterhin  seiner  Frau  (1807  und  1808)  und  seinem 
Sohne  (1805)  die  gastlichste  und  ehrenvollste  Aufnahme  bereiteten.    Drei 
Frankfurter  Familien   vornehmlich  sind  es,  in  deren  Freundschaft  wir 
das  Band  erkennen,   das  Goethe  in   seinen  späteren  Jahren  mit  seiner 
Vaterstadt  verknüpfte :  Schlosser,  Willemer  und  Brentano.    Sie  bildeten 
den  festen  Stamm  der  kleinen  Gemeinde,  die  Frankfurts  grössten  Sohn 
schon  zu  Lebzeiten  voll  zu  würdigen  wusste.    Mit  dem  Tode  der  Frau 
Rat,   1808,  wurden  die  Beziehungen  des  Dichters   zu  Fritz  Schlosser 
noch  enger  und  stetiger.    Goethe  trachtete  sein  Erbteil,   das  lediglich 
aus  Immobilien  bestand,  wenig  eintrug,  dagegen  in  den  Eriegsjahren 
mit  schweren  Abgaben  belastet  war,  an  sich  zu  ziehen  und  des  Frank- 
furter Bürgerrechts,  das  ihm  nur  materielle  Nachteile  brachte,  entbunden 
zu  werden.    In  den  Verhandlungen  mit  den  Behörden,  die  sich  bis  zum 
Jahre  1817  hinzogen,   war  Schlosser  der  Sachwalter  Goethe's.     Seine 
ausführliche  Denkschrift  über  diese  Angelegenheit,  die  bekanntlich  keinen 
Buhmestitel  für  die  Stadt  Frankfurt  bedeutet,  ist  uns  erhalten.    Ausser 
den  geschäftlichen  Beziehungen  —  Schlosser  besorgte  für  Goethe  nicht 
nur  die  Verwaltung  des  in   Frankfurt  liegenden   Vermögens,   sondern 
auch  den  Einkauf  von  Waren  und  Kunstgegenständen,  so  dass  wir  ihn 
in   ständiger   Verrechnung   mit  dem   Dichter  finden  —  verbanden  die 
beiden  Männer  die  regsten  geistigen  Interessen.    Schlosser  liefert  dem 
Dichter  das  gewünschte  Material  zu  „Dichtung  und  Wahrheit':   Die 
Frankofurtensien  seines  Vaters,   die  ersten  Jahrgänge  der  ,  Frankfurter 
Gelehrten  Anzeigen",  eine  Übersetzung  des  Jordanus  Brunns,  ja  sogar 
Becher  und  Stäbchen,  wie  sie  dem  Schultheiss  beim  Pfeifergericht  über- 
geben  wurden;   für  die  Farbenlehre   verschafft  er  ihm   den  Telesius. 
Goethe  übersendet  die  fertigen  Bände  seiner  Selbstbiographie,  später  die 
„Rhein-  und  Mainhefte''  u.  A.  m.    Die  künstlerischen  Bestrebungen  der 
Zeit,   insbesondere  die  der  deutschen  Kolonie  in  Rom,  werden  eifrigst 
besprochen.    Den  Höhepunkt  bilden  die  Jahre  1814  und  1815:  Goethe 
besucht  nach  17jähriger  Abwesenheit  seine  Heimat  wieder.    Vom  25.  bis 


Süft  Nouburg  57 

29.  Juli  wohnt  er  in  Schiosser's  Hause,  desgleichen  —  nach  dem  Auf- 
enthalt in   Wiesbaden  und  am  Bhein  —  vom   10.  bis   24.  Sepsember. 
An  diesem  Tag  begleitet  ihn  Christian  Schlosser  nach  Heidelberg.   Das 
nächste  Jahr  sieht  dei>  Dichter  wieder  in  der  Vaterstadt.    Nach  der 
Kur  in  Wiesbaden  und  der  teilweise  in  Begleitung  des  Freiherrn  v.  Stein 
und  E.  M.  Arndt's  unternommenen  Rheinreise  trifft  er  mit  S.  Boisseree 
am  12.  August  in  Frankfurt  ein.    Aber  sein  jetziger  Aufenthalt  steht 
im   Zeichen   Snleika-Mariannens.     Nur  vorübergehend   besucht   er   das 
Schlosser'sche  Haus.    Er  wohnt  auf  der  Gerbermühle  bis  8.  September, 
dann  eine  Woche  im   „Roten   Männchen^   in  der  alten  Mainzergasse, 
dem  Stadthause  Willemer's,  um  nochmals  für  vier  Tage  auf  die  Gerber- 
mühle zurückzukehren.    Es  war  Goethe*s  letzter  Aufenthalt  in  Frank- 
furt.   Im  Oktober  1820  besucht  das  Schlosser*sche  Ehepaar  den  Dichter 
in  Weimar,  der  in  den  Annalen  bemerkt:  „Die  lieben  Verwandten,  Rat 
Schlosser  und  Gattin,  hielten  sich  einige  Tage  bei  uns  auf  und   das 
vieljährig  thätige  freundschaftliche  Verhältnis  konnte  sieh  durch  persön- 
liche Gegenwart  nur  zu  höherem  Vertrauen  steigern.^   Der  Briefwechsel 
mit  Schlosser  dauert  nahezu  bis  zum  Tode  des  Dichters.   Er  zeigt  uns 
diesen   in   seinen    liebenswürdigsten  Eigenschaften,   dankbar  für  jeden 
Dienst,  voll  Interesse  für  die  Angelegenheiten  und  das  Schicksal  seiner 
Freunde.    Lebhaft  beschäftigt  ihn  auch  die  politische  Weiterentwicke- 
lung seiner  Vaterstadt.    Wie  innig  spricht  sich  oft  die  Sehnsucht  nach 
dem  Frankfurter  Kreise   aus   (z.B.  am  29.  Oktober  1817),   wie   tief 
empfunden   sind   die   Worte  des   Dichters  beim  Tod   der   alten  Frau 
Schlosser  (1819)!    Nicht  minder  edel  tritt  uns  das  Bild  Schiosser's 
aus  diesen   Briefen   entgegen.    Den  getreuen   Mann   und  dessen  Ver- 
hältnis zu  Goethe  kennzeichnen  am  besten  die  Eingangsworte  des  Briefes 
vom  10.  April  1818:   «Wäre  Ihnen,  mein  Teuerster,  nicht  gleich  bei 
der  Geburt  die  entschiedenste  Geschäftsthätigkeit  und  Festigkeit  von 
guten   Geistern    beigelegt   worden  und   hätten   sich   nicht   durch  An- 
strengung und  Fleiss  daraus  nach  und  nach  alle  Tugenden  Ihres  ewig 
verehrten  Vaters  entwickelt,  so  dass  Sie  mehr  für  Andere  als  für  sich 
im  Leben  zu  handeln  geneigt,  ja  genötigt  sind;  ich  wäre  bei  jeder 
neuen  Sendung  betroffen  und  beschämt,  welche  Mühe  bis  ins  Einzelne, 
Kleinste  meine,  obgleich  nicht  höchst  wichtigen  Geschäfte  Ihnen   ver- 
ursachen.  Bleiben  Sie  überzeugt  meiner  treuesten  Dankbarkeit  und  fahren 
fort,  bis  sich  dann  doch  zuletzt  dieser  Faden  nach  und  nach  abspinnt.*' 
Der  letzte  Brief  Goethe*s  an  Schlosser  (vom  28.  Mai  1830)  ent- 
hält den  Dank  des  greisen  Dichters  für  die  Sendung  einer  Abbildung 


58  Ernst  Traumann 

von  Stift  Neuburg,  «der  ernst-heiteren  Wohnung  und  der  unschätzbaren 
Gegend^.  Hier  verflossen  dem  Rührigen  —  Schlosser  starb  1852,  seine 
Gattin  1865  —  die  Jahre  teils  in  stiller  Gelehrten-  und  Sammlerarbeit, 
teils  in  angeregtester  Geselligkeit.  Ausser  dem  ausgedehnten  Frank- 
furter Verwandtenkreise  verkehrten  auf  dem  Stift  die  Häupter  der 
katholischen  Partei  ebenso  freundschaftlich  wie  die  grossen  Protestanten 
Stein,  W.  von  Humboldt  u.  A.  m.  Auch  Goethe's  Enkel  wohnten  oft- 
mals auf  dem  Stift.  Nach  ihnen  ist  das  „Goethezimmer^  des  Hauses 
benannt.  Das  Äussere  des  ehemaligen  Klosters  liess  Schlosser  unver- 
ändert, dagegen  schuf  er  aus  den  früheren  Zellen  wohnliche  Zimmer ; 
das  einstige  Refektorium  wurde  zu  einem  grossen  Saal  umgewandelt, 
die  Kirche  von  dem  Karlsruher  Hübsch  im  gotischen  Stile  derart 
restauriert,  dass  sie,  mit  dem  oberen  Geschoss  auf  gleichen  Boden  ge- 
bracht, im  Chor  die  Kapelle,  im  Schiff  den  grossen  Raum  enthielt,  der 
Schlosser's  Kunstschätze  barg.  Von  dem  damaligen  Leben  auf  dem 
Stift  hat  uns  eine  Augenzeugin,  Emilie  Kellner,  geb.  Andreae  (Goethe 
und  das  Urbild  seiner  Suleika,  Leipzig  1876),  eine  anmutige  Schilderung 
entworfen:  Wie  früh  morgens  7  Uhr  die  Glocke  in  die  Hauskapelle 
zur  heiligen  Messe  rief,  die  der  Geistliche  vom  nahen  Ziegelhausen  las; 
wie  die  würdige  Frau  Rat  Schlosser  in  einfachem  Morgenüberrock  und 
dickgarniertem  Tüllhäubchen  den  Kaffee  bereitete  und  ihre  Gäste  be- 
diente; wie  man  sich  in  den  Nachmiltagsstunden  in  der  herrlichen 
Umgebung,  sei  es  nach  der  Brunnenstube  zu,  sei  es  drüben  nach 
dem  Wolfsbrunnen  und  Schloss,  erging  und  des  abends  zu  geistvoller 
Unterhaltung  um  den  Theetisch  im  grossen  Wohnzimmer  wieder  ver^ 
sammelte. 

In  der  Gestalt,  worin  Schldsser  das  Stift  seinen  Erben  hinterliess, 
erblicken  wir  es  auch  heute  noch.  Wieder  treten  wir  zunächst  in  den 
weiten  Hof  mit  seinen  herrlichen  alten  Bäumen.  Noch  schliessen  sich  an 
das  Herrenhaus  die  ehemaligen  Ökonomiegebäude.  Wir  treten  ein  und 
die  alten  Korridore  und  Treppenwände  umfangen  uns.  Wir  steigen 
empor.  Wohl  sind  die  hängenden  Schlingpflanzen  und  die  Glaskästen 
mit  den  ausgestopften  Tieren  verschwunden,  aber  Gypsfiguren  schauen  — 
neben  neueren  Stichen  und  Photographien  —  ebenso  ernst  von  den 
Wänden  wie  zu  Zeiten  des  Herrn  Rat.  Ein  grosses  Wohnzimmer  nimmt 
uns  auf,  ein  langgestreckter  Raum.  Durch  das  Balkonfenster  blicken 
die  ehrwürdigen  Bäume  des  Parkes,  der  Springbrunnen  murmelt.  Wir 
sehen  uns  staunend  in  dem  dicht  bestellten,  behaglich-reichen  Gemache 
lim.    Wohin,  in  welche  Zeit  sind  wir  geraten?    Hier  grüsst  uns  die 


Stift  Neuburg  59 

grosse  Zeichnung  Krelings,  Faust  im  Studierzimmer,  dort  ein  Steinle, 
Overbeck's  und  Cornelius'  Selbstportr&ts  auf  Einem  Blatt;  Alfred  Rethel, 
Schraudolph,  Jos.  Anton  Eocb,  Kaulbach  mit  der  prächtigen  Zeichnung : 
„Unter  der  Linden-Tandaradei*"  schliessen  sich  an.  Über  derThüre  ein 
grosser  Schwind,  uns  umwittert  der  Qeist  jener  Zeit,  der  die  Brüder 
Christian  und  Fritz  in  seinen  zauberischen  Bann  zog.  Nazarener  und 
Romantiker  blicken  uns  aus  tiefen  Schwärmeraugen  an.  Daneben  das 
schmale  Bibliothekzimmer.  An  langen  Wänden  die  Bücherreihen.  Am 
Ende  des  Zimmers  ein  gotischer  Erker ;  durch  giBmalte  Scheiben  schim- 
mert der  grüne  Park.  Vor  dem  Seitenfenster  eine  Staffelei:  Ooethe's 
Bildnis,  von  Gerhard  von  Kügelgen  gemalt,  das  Kleinod  des  Hauses. 
Der  Dichter  hatte  es  im  Jahre  1810  nebst  dem  geschnitzten  Rahmen 
eigens  für  Fritz  Schlosser  anfertigen  lassen,  um  ihm  «für  so  viel  Liebe 
und  Treue  auch  endlich  einmal  etwas  Erfreuliches  zu  zeigen*.  Darüber 
das  Konterfei  Goethe's  aus  der  ersten  Weimarer  Zeit  von  Melchior 
Krauss:  der  Dichter  (im  Profil)  den  Schattenriss  der  Frau  von  Stein 
betrachtend.  Ist  es  die  Scene  in  Pyrmont,  als  er  ihr  Porträt  zum 
ersten  Male  erblickte  und  darunter  die  ahnungsvollen  Worte  schrieb? 
,Es  wäre  ein  herrliches  Schauspiel  zu  sehen,  wie  die  Welt  sich  in 
dieser  Seele  spiegelt.  Sie  sieht  die  Welt  wie  sie  ist,  und  doch  durchs 
Medium  der  Liebe.*'  --  Und  siehe!  hier  in  der  Fensternische  das  kleine 
Bild  einer  freundlichen  Greisin.  Unter  der  Spitzenhaube  quellen  Löck- 
chen  hervor,  helle  Augen  blicken  uns  sinnend  an,  anmutig  lächelt  der 
Mund  und  unter  dem  immer  noch  rundlichen  Kinn  schliesst  sich  die 
breite  Bandschleife.  Wahrlich,  sie  ist's :  Suleika-Marianne !  Wir  denken 
ihrer  Besuche  in  Heidelberg.  Zuerst  jener  hochbewegten  Septembertage 
des  Jahres  1815,  da  durch  die  Liebe  des  Dichters  ihr  tiefstes  Wesen 
aufgeschlossen  war  und  die  Neigung  zu  ihm  sie  selbst  unsterbliche  Töne 
finden  liess.  Das  holde  Geheimnis  des  Divans!  Gemeinsam  erblicken 
wir  sie  vor  dem  Baum  der  Gingko  biloba,  dem  Sinnbild  ihres  Doppel- 
lebens; sie  stehen  „an  des  lust'gen  Brunnens  Rand**  und  der  Dichter 
zeichnet  die  Chiffre  der  Geliebten  in  den  Boden ;  sie  verabreden,  in  der 
nächsten  Vollmondnacht,  wenn  auch  räumlich  getrennt,  so  doch  im 
Geiste  sich  nahe  zu  sein.  Dann  das  Jahr  1824,  als  sie  im  August 
Heidelberg  wiedersah,  der  Tiefbewegten  die  heiligen  Erinnerungen 
heraufstiegen  und  sie  dem  Dichter  schrieb :  „Gedenken  Sie  meiner,  und 
in  Liebe;  dass  ich  Ihrer  gedenke,  möge  Nachstehendes  beweisen,  so  wie 
dass  die  schönste  Gegend  immer  eine  fremde  bleibt,  wenn  nicht  durch 
Liebe  und  Freundschaft  sie  heimisch  geworden ;  wo  fände  sich  für  mich 


60  Erost  Traiimann 

eine  schönere  als  Heidelberg!*^  Beigelegt  war  ein  Landschaftsbildchen 
mit  einem  Motiv  aus  der  Umgebung  des  Schlosses  und  jener  Hymnus 
mit  dem  Datum  des  Geburtstags  Goethe's: 

„Euch  grüss'  ich  weite,  lichtumfloss'ne  Räume^  —  worin  sie,  in 
die  Betrachtung  der  teuren  Erinnerungsstätten  versunken  und  umklungen 
von  den  Tönen  des  Divans,  Vergangenheit  und  Gegenwart  in  wehmuts- 
voll süssem  Traume  verschmilzt.  Oft  und  gerne  hat  Marianne  auf  dem 
Stift  Neuburg  geweilt.  Dreimal,  so  viel  wir  aus  Creizenach's  rühmlich 
bekanntem  Werke  ersehen,  schrieb  sie  darüber  an  Goethe.  Am 
2.  September  1828:  „Auf  dem  Schlosse  in  Heidelberg  habe  ich  wieder 
guter  Zeiten  gedacht,  und  ich  muss  es  mit  zu  den  Ereignissen  meines 
Lebens  zählen,  dass  ich  so  oft  und  immer  wieder  dahin  komme,  wo  ich 
zu  so  verschiedener  Zeit  und  Gemütsstimmung  war.  Bei  Schlosser,  wo 
wir  uns  einen  Tag  aufhielten,  sah  ich  Tieck.*  1829,  wiederum  in  den 
Septembertagen  —  waren  diese  ihrer  lieben  Erinnerungen  wegen  ab- 
sichtlich als  Besuchszeit  von  ihr  gewählt?  —  berichtet  sie:  «Den 
30.  (August)  kamen  wir  nach  Heidelberg  und  blieben  bis  zum  3.  Sep- 
tember; nur  den  ersten  Tag  war  es  möglich,  einen  Fuss  vor  die 
Thüre  zu  setzen,  die  übrigen  verstrichen  so  gut  es  gehen  wollte,  doch 
ist  es  auch  im  Begen  schön  auf  dem  reizenden  Stift;  das  Schloss  habe 
ich  diesmal  nicht  besucht,  an  dem  Hause,  wo  Boisseröe  wohnte,  gingen 
wir  vorüber,  ich  konnte  mir  nicht  versagen,  die  Thüre  zu  öffnen  und 
tynein  zu  sehen."  Unterm  17.  Dezember  1831:  «Nur  so  viel,  dass  ich 
mit  Professor  Creuzer  bei  Schlosser's  auf  dem  Stift  Neuburg,  wo  ich 
wohnte,  viel  von  Ihnen  sprach,  und  dass  Ihrer  herzlich  und  liebevoll 
gedacht  wurde."  Augenzeugen  haben  über  diese  Besuche  berichtet.  Am 
Eingehendsten  Emilie  Kellner.  Vom  21.  Juli  1857  zeichnet  Johannes 
Janssen  (Creizenach  S.  339)  auf:  „Stift  Neuburg.  Grossmütterchen 
allerliebst.  Ich  lese  ihr^eine  Übersetzung  eines  kleinen  Gedichts  aus 
dem  Spanischen  vor;  —  ihre  schelmischen  Neckereien.  Wir  sassen 
wohl  zwei  Stunden  am  Brunnenstübchen  und  ihr  Herz  ging  voll  auf 
im  Andenken  an  Goethe.  Auf  dem  Rückwege  erzählte  sie  mir,  dass 
das  Gedicht  »Ach,  um  Deine  feuchten  Schwingen"  von  ihr  sei  und 
dass  sie  davon  noch  das  Original  besitze  mit  den  Verbesserungen  und 
Veränderungen  Goethe's.*  Sinnig,  wie  ihr  ganzes  Wesen  war,  und 
rührend  ist  ihr  letzter  Abschied  von  Stift  Neuburg  und  Heidelberg. 
Schon  ist  sie  unterwegs,  da  fällt  ihr  ein,  dass  sie  ein  Häubchen  ver- 
gessen habe.  Sie  lässt  den  Kutscher  umkehren,  doch  sie  besinnt  sich 
anders :  das  Vermisste  soll  als  Pfand  zurückbleiben,  dass  ihr  die  Bück- 


Stift  Neubnrg  61 

kehr  gesichert  sei.  Es  sollte  nicht  sein ,  am  6.  Dezember  desselben 
Jahres,  1860,  ist  sie,  sechsundsiebzigjährig,  entschlafen.  Der  Geist  des 
y, Grossmütterchens*'  aber  umschwebt,  ein  freundlicher  Genius,  heute 
noch  die  gastlichen  Räume  des  ihr  einst  so  teuren  Hauses.  .  .  .  Wir 
überschreiten  den  Korridor  und  treten  in  die  Kapelle  ein.  Sie  ist  auch 
jetzt  noch  geweiht  und  wie  ehemals  liest  der  Geistliche  von  Ziegel- 
hausen von  Zeit  zu  Zeit  hier  die  Messe.  Durch  die  hohen  Bogenfenster 
nicken  die  alten  Bäume  des  Parks.  Auch  ist  das  Schiff  der  Kirche 
wieder  zum  Museum  bestimmt.  Hier  hat  der  Vater  des  jetztigen  Be- 
sitzers die  Schätze  untergebracht,  die  er  auf  seinen  Reisen  erwarb, 
reichgeschnitzte  Renaissanceschränke,  antike  Töpfereien,  Waffen  u.  dergl. 
Die  Wände  schmücken  u.  A.  Gemälde  alter  Frankfurter  und  Heidel- 
berger Meister,  darunter  ein  Fries  und  Fohr.  Hier  steht  auch  der 
schwarze  Kasten  mit  der  silbernen  Aufschrift :  Goetheana.  Der  Besitzer 
öffnet  ihn.  Mit  ehrfurchtsvoller  Scheu  erkennen  wir  die  Handschrift 
des  Dichters,  der  Frau  Rat.  Wir  halten  einen  Brief  in  der  Hand,  den 
Fräulein  von  Klettenberg  (1773)  zur  Vermählung  der  Cornelia  Goethe 
mit  Job.  Georg  Schlosser  schrieb.  Julius  Frese  hat  den  ganzen  Briefe 
schätz  veröffentlicht :  Ausser  den  besprochenen  Briefen  Goethe's  an  Fritz 
Schlosser  das  herrliche  Schreiben  des  Dichters  an  seine  Mutter  aus 
Italien,  Briefe  Goethe's  an  Schlosser's  Bitern,  der  Eltern  Goethe's  an 
Hieron.  Schlosser,  Briefe  August's  von  Goethe  und  des  Kanzlers 
von  Müller  an  Fritz  Schlosser  und  schliesslich  die  stattliche  Anzahl 
der  Briefe  des  jungen  Goethe  an  Sophie  von  Laroche  (1772—75)  — 
Alles  in  sauberen  Umschlägen  von  der  pietätvollen  Hand  des  Herrn 
Rat  wohl  geordnet.  Keine  würdigere  Stätte  hätten  diese  Reliquien 
finden  können  als  diesen  hellen,  weiten  Kirchenraum.  Ein  hohes  Fenster 
öffnet  sich  gegen  Westen.  Vor  uns  steigt  über  Felder  und  Obstbäume 
hinweg  der  waldige  Heiligenberg  auf,  unten  fliesst  der  grüne  Neckar, 
die  Stadt  verbirgt  sich  hinter  dem  jenseitigen  Hügel,  völlig  abgeschieden 
von  der  Welt  erscheint  hier  das  Stift. 

„Wenn  man  so  in  sein  Museum  gebannt  ist^  —  mag  man  wohl 
gerne  die  Trennung  von  der  lauten  Welt  ertragen  und  sich  wunschlos 
dieser  Einsamkeit  erfreuen.  Noch  durchwandeln  wir  die  Wohnräume 
des  Besitzers  mit  ihren  ehrwürdigen  Familienbildern  —  darunter  auch 
das  Schlosser*sche  Ehepaar  —  dann  gehen  wir  durch  Hof  und  Garten 
nach  der  hinteren  Pforte.  Freudig  danken  wir  unserem  liebenswürdigen 
Wirte,  der  uns  bis  hierher  geleitet,  für  die  herzerhebende  Stunde  und 
nun  treten  wir  ins  Freie.     Vom  Rebhügel,  über  den  unser  Weg  nach 


62  Krnst  Traumann:  Stift  Neuburg 

dem  Walde  za  führt,  schauen  wir  nochmals  auf  das  Stift  zurück.  Wie 
still  es  zwischen  Flnss  und  Waldthal  unter  seinen  Bftumen  ruht!  Wie 
durch  Kunst  und  Natur  dazu  geschaffen,  teure  Erinnerungen  an  den 
zu  bewahren,  der  Beide  mit  gleicher  Liebe  umfing.  Eine  geweihte 
Stätte.  Denn,  ob  gleich  sie  der  Dichter  selbst  nie  betreten,  klingt  hier 
nicht  überall 

sein  Wort  und  seine  That  dem  Enkel  wieder? 


Nochmals  die  Relseeindrücko  Tom  Orossen 

St.  Bernhard. 


Von 

Alexander  CartelllerK 


Mein  Hinweis  auf  die  Schilderung  (vorgl.  Jahrgang  XI  S.  177  ff.), 
die  ein  englischer  Mönch  im  Jahre  1188  von  seinen  Erlebnissen  auf 
dem  Grossen  St.  Bernhard  entworfen  hat,  ist  zu  einer  Zeit,  da  tag- 
täglich jemand  in  den  Alpen  abstürzte,  freundlicher  Beachtung  ge- 
würdigt worden  und  hat  sogar  seinen  Weg  in  die  Zeitungen  gefunden. 
Den  Lesern  der  .Jahrbücher'^  möchte  ich  nicht  vorenthalten,  was  mir 
darüber  am  17. 9. 1902  Herr  W.  A.  B.  Coolidge,  Mitglied  der  Sektion  Wien 
des  Deutschen  und  Österreichischen  Alpenvereins,  geschrieben  hat.  Er  be- 
merkt, dass  W.  Stubbs,  der  Herausgeber  der  von  mir  angezogenen  Quelle, 
in  seinem  am  11.  Juni  1878  gehaltenen  Vortrage:  Learning  and  Litera- 
tnre  at  the  Court  of  Henry  II,  abgedruckt  in  den  Seventoen  Lectures 
on  the  study  of  medieval  and  modern  history  (in  der  mir  vorliegenden 
Ausgabe,  Oxford  1887,  S.  147),  jenen  Stossseufzer  Johanns  von  Bremble 
englisch  wiedergegeben  hat.  An  dieser  Stelle  war  die  Notiz  dem  deut* 
sehen  Forscher  übrigens  nur  schwer  zugänglich.  Ausserdem  nennt 
Stubbs  dort  seine  lateinische  Quelle  nicht.  Herr  Coolidge  hat  jene 
Übersetzung  im  Alpine- Journal,  Mai  1887,  vol.  XIII,  p.  271,  und  den 
lateinischen  Text  teilweise  in  seinem  Buche:  Swiss  travel  and  Swiss 
Guide-books,  London  1889,  p.  8,  160,  abgedruckt  und  gedenkt  den  Ur- 
text mit  französischer  Übersetzung  in  seinem  in  Grenoble  unter  der 
Presse  befindlichen  Werke:  Les  origines  de  TAlpinisme  zu  veröffent- 
lichen. 


64    Alexander  Gartellieri:  Nochmals  die  Reiseeindrücke  vom  Grossen  St.  Bernhard 

Ich  darf  hier  vielleicht  noch  den  Wunsch  anschliessen,  dass  alle 
diejenigen,  denen  zerstreute  Stellen  zur  Geschichte  der  Reisen  bekannt 
sind,  solche  doch  der  Vergessenheit  entreissen  möchten.  So  ergäben 
sich  für  die  älteren  Zeiten  wertvolle  Ergänzungen  zu  Jacob  Burckhards 
Viertem  Abschnitt  in  der  Kultur  der  Renaissance. 


über  das  Hagestolzenrecht  in  Kurpfalz. 


Von 

Karl  Brnnner. 


Der  Sinn  des  Wortes  , Hagestolz*  (ahd.  hagustalt,  hagastalt)  ist 
nicht  mit  voller  Sicherheit  aufgeklärt.  Die  Ergebnisse  der  mannigfach 
unternommenen  Deutungsversuche  sind,  wie  das  Grimmsche  Wörterbuch 
(IV.  2,  Sp.  154)  zutreffend  bemerkt,  „nur  die  Schattierungen  einer  nach 
und  nach  verdunkelten  Hauptbedeutung,  die  tief  das  altdeutsche  Bechts- 
leben  berührt^.  Die  vorwiegendste  Bedeutung,  die  das  Wort  nament- 
lich späterhin  in  der  Rechtsgeschichte  gewonnen  hat,  ist  ohne  Zweifel 
caelebs,  ehelos.  Das  Hagestolzenrecht  beschäftigt  sich  mit  der 
Hinterlassenschaft  des  ehelos  Verstorbenen,  die  wie  erbenloses  Qut  dem 
Heimfallsrecht  unterliegen  soll. 

Einen  sehr  dankenswerten  Beitrag  ^Zur  Geschichte  des  Hagestolzen- 
rechts^  hat  unlängst  Professor  W.  v.  Brünneck  (Halle)  in  der  Zeit- 
schrift der  Savignystiftung  für  Rechtsgeschichte,  Band  XXII,  Germa- 
nistische Abteilung,  S.  1^48,  veröffentlicht.  Hier  ist  näher  auf  die 
Entwicklung  des  Rechtes  eingegangen,  namentlich  auch  die  Litteratur 
umfassend  herangezogen.  Der  Hinweis  auf  die  vortreffliche  Untersuchung 
überhebt  mich  aller  weiteren  Angaben  in  dieser  Richtung. 

Der  Verfasser  hat  auch  eine  interessante  handschriftliche  Quelle  be- 
nützt, auf  die  ich  ihn  noch  während  seiner  Arbeit  aufmerksam  machen 
konnte.  Die  Urkunde,  die  speziell  kurpfälzische  Verhältnisse  betrifi't, 
findet  sich  im  Karlsruher  G.-L.-Archiv  in  einer  wohl  ziemlich  gleich- 
zeitigen Abschrift  (Kopialbuch  Nr.  857,  fol.  295—299).  Als  authentische 
Interpretation  eines  im  Gebrauch  mit  der  Zeit  schwankend  und  unsicher 
gewordenen  Rechtes  erscheint  sie  wertvoll  genug  im  ganzen  Wortlaut 
mitgeteilt  zu  werden,  wie  auch  die  angefühlten  praktischen  Beispiele 
die  Rechtsübung  in  gewissen  schwierigeren  Fällen,  für  deren  Entschei- 

NEUE  IIEIDKLB.  JAHRRUECHER  XII.  5 


66  Karl  Brunn  er 

duDg  die  höchste  lustanz  angerufen  wurde,  anschaulich  darthun.  Die 
von  W.  7.  Brünneck  mitgeteilten  Citate  aus  der  Urkunde  enthalten  zu- 
dem einige  störende  Lesefehler,  besonders  von  Ortsnamen,  die  ihm  eben  zu 
ferne  lagen. 

« 

Der  Hauptinstruktion  von  1609  stelle  ich  eine  andere  ebenfalls  be- 
merkenswerte Weisung  in  der  gleichen  Rechtsfrage  vom  Jahr  1584  voran 
(Karlsruhe,  G.-L.-Archiv,  Kopialbuch  Nr.  855,  fol.  31).  ^) 

1584. 
HagenstoUtz. 

Amptleuth  zu  Heidelberg  berichten,  was  ein  hagenstoltz 

in  ehesachen  seie. 

Mit  Bezug  auf  einen  1583  zu  Heiligkreuzsteinach  vorgekommenen  Fall  heisst  es: 

So  uiel  dann  diesen  vnnd  dergleichen  possessorios  actus  etc.  belangt, 
jst  es  im  Ottenwalt  vnnd  sunsten  dieser  fauthei  Heidelberg  also  beschaffen 
vnnd  vblichen  herbracht,  das,  wo  mann  vnnd  weih  ehelich  zusamen  khom- 
men  vnnd  kheine  kinder  mit  einander  gewinnen  oder  aber  betten  vnnd 
die  kinder  bei  lebzeitten  jrer  der  eitern  mit  todt  verführen  vnnd  der 
mann  für  den  weib  ohne  testament  oder  vbergab  verstürb,  so  tregt  er 
das  recht  eines  hagenstoltzs,  aber  die  hinderlassene  wittib  bleibt  bei  der 
narung  vnnd  hatt  den  beysitz  jr  lebenlang.  Do  sie  aber  auch  todts  ver- 
führe, thut  man  alsdann  die  verlassenschafft  der  herrschafft  einziehen 
vnnd  den  fall  oder  casum  einen  Gottsfall  nennen.  Was  aber  doch  in 
solcher  erb-  oder  verlassenschafft  vonn  wiederfelligen  güetern  verfangen, 
last  man  den  nechsten  agnaten  vnnd  erben  vnuerhinderlich  volgen,  das 
vbrig  alles  feilet  der  herrschafft  durchaus  heimb,  es  möge  dann  hierinnen 
vff  vorbitten  vnnd  supplicirn  ein  gnade  widerfahren,  wie  dann  verschien- 
nen  82.  jars  zu  Waldt  Michelbach')  sich  begeben,  das  Lorentz  Fautli 
für  etlichen  jähren  todts  verfahren,  seine  haussfraw  bei  dem  gute  jr  leb- 
tag  sitzen  blieben,  so  baldt  sie  aber  auch  tödtlich  abgangen,  seindt  nach 
ausrichtung  der  verfangenen  wiederfelligen  guetter,  auch  Zahlung  der 
schulden  biss  in  die  400  fl.  vberrestirendt  plieben,  daruon  SOOfl.  inn  die 
landtschreiberei  ingezogen,  auch  verrechnet,  die  vberigen  100  fl.  der  freundt- 

1)  Die  Schreibweise  der  Vorlagen  wurde  durchweg  beibehalten,  nur  habe  ich, 
mit  Ausnahme  von  Eigennamen  und  Satzanfdngen,  überall  kleine  Anfangsbuchstaben 
gesetzt. 

2)  Waldmichelbach  in  Hessen,  Kr.  Heppenheim. 


IJher  das  Hagestolzenrecht  in  Kurpfalz  g7 

schafft  laut  beuelchs  aus  besoudern  gnaden  vf  vielfeltiges  anhalten  ge- 
schenckht  worden.  Inngleichem  hatt  sich  mit  Wendell  Degen  im  stifft 
Speier  zue  Maisch^)  ein  ebenmessiger  aber  bastarts  fall  zugetragen,  so 
für  etlichen  jharen  verstorben,  sein  hinderlassene  wittib  aber  zeit  ihres 
lebens  bei  der  verlassenschafft  sitzen  blieben,  nach  ihrem  absterben  der 
fall  ererst  eingezogen,  der  wittiben  freundtschafft  jr  wiederfelliges  oder 
zubrachtes  vnnd  ein  drittigs  theil  der  errungenschafft  eingeraumbt  worden, 
das  vbrig  guett  aber  der  herrschafft  geblieben.  Vnnd  scheinen  diese  fäll 
gleich  wol  etwas  frembdt,  dieweil  sie  sich  seltten  zutragen,  vnnd  nach- 
dem dann  dis  ein  gleicher  casus,  soll  dem  beuelch  vnnd  hiebeuor  aus- 
gangenem  decret  gehorsaroblich  nachgesetzt  werden. 

Signatum  Heidelberg,  den  26.  Julij  anno  etc.  84. 

Ambtleuth  daselbsten  etc. 

1609. 
Beuelch  der  hagenstoltz  wegen  ergangen. 

Priderich  etc. 

Liebe  getrewen !  Älss  jr  hiebeuor  etliche  vnderschiedliche  feil  vnd 
strittige  fragen,  betreffendt  die  hagenstoltzerei  etc.  zu  vnserer  cantzlei 
berichtet,  vnd  was  eigentlich  ein  hagenstoltz  sei,  sarapt  was  vor  ein 
vnderscheidt  vnder  denselben  freunden  vnd  geschwisterten,  verheurateten 
vnd  lediges  standts  etc.  zu  halten,  vmb  resolution  vnd  aussschlag  vnder- 
thenigst  angehalten  vnd  gebetten,  haben  wir,  was  dieser  Sachen  wegen 
vor  alte  bericht  vnd  handlungen  bei  vnserer  cantzlei  vorhanden,  zusamen 
suchen,  mit  vleiss  ersehen,  vnd  was  eigentlich  ein  hagenstoltz  sei,  was 
wir  vnd  die  churf.  Pfaltz  vf  denselben  hergebracht,  wie  fern  sich  solche 
gerechtigkeit  erstrecke,  was  dan  auch  derentwegen  vnnd  vf  etliche  newere 
sonderbare  berichte  fragen  zu  decidiren  sein  wolle,  reifflich  bedencken 
vnd  erwegen  lassen  vnd  darauf  vns  nach  einkommener  relation  eines 
gewissen  entschlossen,  wie  wir  es  ins  künfftige  darmit  sowol  in  eurem 
anbeuohlenen  ampt  Starckenburg  als  auch  dem  ampt  Heidelberg,  ratione 
der  kellerei  Lindenfels,  gehalten  haben  wollen,  vnd  warnach  jr  euch  vf 
zutragende  fäll  jederzeit  habet  zugerichten. 

Geben  diesem  nach  euch  gnediglichen  zuerkennen,  dass  die  hagen- 
stoltzerei anders  nichts  ist  als  eine  sonderbare  gerechtigkeit,  so  wir  vnd 
vnsere  geliebte  vorfordern,  Pfaltzgrauen  Churfnrsten  etc.  christmilter  ge- 


1)  Maisch  in  Baden,  H.-A.  Wiesloch. 


5* 


68  Karl  Rronner 

dechtnus,  als  landtsfursten  vor  vDuerdencklichen  jähren  im  ampt  Starcken- 
bürg  vnd  nicht  allein  in  denen  dartzu  gehörigen  vnd  jm  Odenwaldt  ge- 
legenen sechs,  sondern  auch  in  denen  vf  der  ebene  gelegenen  dreien 
dörffern,  die  ßieddorflfer  genant,  als  Lorsch,*)  Biblis*)  vnd  Birstatt, ') 
dessgleichen  auch  in  deren  zum  ampt  Heidelberg  gehörigen  vnd  im 
Odenwaldt  gelegenen  kellerei  Lindenfels  vnd  dartzu  gehörigen  dreien 
zeutten  vf  den  leibsangehörigen  vnderthanen  also  herbracht  vnd  ersessen 
haben,  das  wir  befugt  sindtjn  gewissen  feilen  deroselben  verlassenschaflt 
gantz  oder  zum  theil  nach  vnserm  belieben  als  verfallen  mit  ausschlies- 
sung  der  negsten  beiderseits  linien  freundtschafft,  welche  sonsten  ab 
intestato  negste  erben  weren,  einzuziehen  vnd  zuhanden  zunemroen. 

Jedoch  jst  diese  successions  gerech tigkeit  nicht  simpliciter  vnd  ohne 
vnderscheidt  vf  alle,  sonder  vf  etliche  gewisse  feil  zuuerstehn  vnd  hat 
in  nachuolgenden  sechs  vnderschiedlichen  feilen  keine  statt: 

[1.]  Alss  zum  ersten  jst  sie  vngültig  in  den  stetten,  da  keine  leib- 
eigene sindt  oder  herbracht  worden,  als  zu  Heppenheim,  Benssheim  etc.,  wie 
auch  gegen  die  jenigen,  so  ausserhalb  der  stett  dess  Odenwaldts  geboru, 
aber  darein  getzogen  vnd  durch  erbschafft  oder  fursichtige  hausshaltung 
etwas  an  narung  für  sich  gebracht  haben,  es  were  dan  das  sie  ein  Zeit- 
lang ausserhalb  der  statt  vf  dem  landt  gewohnet  vnnd  als  wildtfenge  *) 
(darauf  dan  fleissige  auffacht  gegeben  sein  will)  zu  leibeigen  gemacht 
vnd  vfgenommen  worden  weren. 

[2.]  Zum  andern  hat  sie  auch  keine  statt  bei  den  jenigen,  die  sich 
verheuratet  vnd  in  die  ehe  begeben  haben,  ausserhalb  eines  fals,  wan 
nemblich  eheleutt  ohne  erzielung  kinder  von  einander  versterben,  da  das 
letzstlebendt  ehegemecht  den  beisitz  bei  der  gantzen  narung  vnd  ver- 
lassenschafft  sein  lebenlang  gleichwol  behelt,  aber  nach  seinem  todt, 
vnnd  da  es  auch  ohne  leibserben  abstirbt,  die  verlassenschafft  als  dan 
der  herrschafft  als  ein  hagenstoltz  fall  allein  heimfeit,  welches  gemeinig- 
lich ein  gottsfall,  wie  auch  ein  hagenstoltzerei  in  ohesachen  genant 
würdt. 

[3.]  Vor  das  dritte  hat  diese  gerechtsame  auch  bei  denen  dieser 
orten  gesessenen  leibeigenen  vnderthanen  keine  statt,  welche  eintweder 
eheliche  kinder  oder  enckel  etc.  oder  auch  vatter,  mutter,  altuatter  oder 

1)  Lorsch  in  Hessen,  Kr.  Bensheim. 

2)  Bibh's,  ebenda. 

3)  Bürstadt,  ebenda. 

4)  Über  das  kurpfjtlzische  Wildfangreoht  vgl.  Schröders  Rechtsgeschichte,  S.  7i«^ 
und  besonders  S.  825,  Anm.  4,  wo  auf  meine  einsclilägigen  Arbeiten  verwiesen  ist. 


über  das  Hagestolzenrecht  in  Kurpfals  69 

altniutter  etc.  verlassen,  dan  solche  eheliche  kinder  jre  vätter,  mutter 
vnnd  andere  freundt  in  vfsteigender  linien,  wie  auch  die  altern  jre  Kinder 
vnd  andere  nachuolgende  enckel  in  absteigender  linien  vermög  gemeiner 
rechten  vnd  unserer  landtsordnung  erben  vnd  die  herrschafft  aussschliessen. 

[4.J  Zum  vierten  ist  solche  gerechtigkeit  auch  in  diesem  fall  nicht 
zu  exerciren,  wan  eintweder  ein  bestendig  testament  vfgerichtet  worden 
oder  sonst  ein  ordenliche  vff-  vnd  vbergab  der  narung  ist  beschehen, 
welche  einem  letzsten  willen  gleich  gehalten  wurdt,  jedoch  auch  darbei 
jhre  sonderbare  requisita  hat,  so  diss  orts  erfordert  werden,  vnd  ohne 
welche  sie  sonsten  nicht  bestehen  kan,  alss,  dass  die  jenige  person,  so 
jre  nahrung  zuubergeben  Vorhabens  vnd  vber  15  oder  16  jar  alt  ist, 
selbst  personlich,  guter  vernunfft  in  beisein  deren  curatoren,  mit  vor- 
wissen jedes  orts  seienden  kellers  oder  zinssmeisters,  vor  einem  gantzen 
gericht  oder,  da  es  keinen  verzug  leiden  wolte,  vor  einem  schultheissen 
vnd  vier  gerichtspersonen,  ausswendig  einigen  gebewes,  ledig  vnd  vnder 
freiem  himmel  (es  were  dan,  das  die  person,  so  die  vbergab  thun  will, 
leibsvnuermöglichkeit  halben  nicht  webern  köndte)  sein  gemüth  erclere 
vnd  die  vfgab  thue,  da  dan  der  Schultheis  das  erb  von  dem  vbergebenden 
theil  nimbt  vnd  es  dem  erben  reicht,  gleich  wie  in  kauffen  vnd  ver- 
kauffen  beschieht. 

[5.]  Zum  funfften  hat  diese  gerechtigkeit  ferner  nicht  statt,  wan 
der  verstorbene  schon  weder  vatter,  mutter  oder  kinder,  jedoch  eines 
oder  mehr  ledige  vnd  noch  vnuertheilte  geschwisterten,  erben  den  ver- 
storbenen ledigen  vnuertheilten  bruder  oder  Schwester  vermög  gemeiner 
vnd  vnsers  landts  rechten  vnd  schliessen  die  herrschafft  auss. 

[6.]  Zum  sechsten  begibt  sichs  offt,  das  etwan  theils  verheurate, 
theils  vnuerheurate  geschwisterten  von  beiden  banden  in  leben  vber- 
bleiben,  vf  welchen  fall  es  also  herkommen,  dass,  woferr  nur  eines 
oder  auch  mehr  solcher  geschwisterten  noch  vnuerheuratet  vorhanden 
ist,  dasselbige  alle  andere  geschwisterten,  so  albereit  verheuratet  vnd 
vertheilt  sindt  vnd  sonsten  nichts  zuerben  hetten,  bei  der  verlassenschafft 
mit  erhelt,  also  das  sie  samptlichen  bei  dess  verlassenschafi't  gelassen 
vnd  diss  orts  abermals  die  hagenstoltzerei  gerechtigkeit  nicht  exercirt 
kan  werden. 

Auss  welchem  allem  nunmehr  erscheint  vnnd  klar  zu  sehen  ist,  das 
in  allen  vbrigen  ausserhalb  negst  vorgesetzter  puncten  sich  zutragenden 
fallen,  vnd  sonderlich  wa  dess  verstorbenen  hinderlassene  geschwisterten 
verheuratet  vnd  vertheilet  sindt,  sie  seien  gleich  von  einem  oder  beiden 
banden,   mann  oder  Weibspersonen,  jung  oder  altt,  zuuerheuraten  taug- 


70  Karl  Branner 

lieh  oder  nit,  vber  oder  vnnder  jren  funff  vnd  zwantzig  jaren,  wie  auch 
ins  gemein  bei  allen  fernem  gradibus  ohne  vnderscheid  keine  successio 
oder  erbschafft  vnder  verwandten  statt  hat,  sonder  aller  solcher  per- 
sonen  erbschafften  als  hagenstoltzer  vnns  vnd  churf.  Pfaltz  frey  vnnd 
ledig  heimfallen,  auch  von  vnsern  vorfordern  von  vnuerdencklichen  jaren 
hero  eingezogen,  ohne  was  etwan  vf  der  freundt  vnd  verwandten  vnder- 
thenigs  beschehen  ansuchen  vnd  nach  gelegenheit  der  sachen  umbstendt 
aus  gnaden  gegeben  vnd  geuolgt  worden. 

Darum ben  jr  nun  ins  kunfftig  vf  zutragende  feil  euch  ohne  zweiffei 
wol  nach  dieser  vnserer  erclerung  werdet  richten  vnd  die  Sachen  deci- 
diren  vnd  schlichten  können,  oder  da  je  eins  oder  andern  halben  mehrer 
zweiffei  vorfallen  solte,  es  jedertzeit  an  vns  zum  aussschlag  vmbstend- 
lich  gelangen  lassen. 

Vnnd  ob  wol  auch  jr  der  anfangs  vermeldten  vnderschiedlichen 
fragen  wegen,  so  jr  zu  vnserer  cantzlei  gelangen  lassen,  den  aussschlag 
auss  obiger  deduction  leichtlich  selbst  finden  möchtet,  haben  wir  doch 
vmb  mehrer  gewissheit  willen  euch  vnsere  resolution  und  meinung  da- 
rüber auch  zugleich  gnedigst  eröffnen  wollen. 

Vnnd  souiel  anfenglichs  belangt  den  fall  mit  Wolff  Dollen  zu  Bür- 
statt,  ob  wol  er  Doli  sich  zuuerheuraten  in  willens  gewesen,  dasselbig 
aber  nicht  ad  effectum  kommen,  jst  er,  wofern  er  weder  kinder,  altern 
noch  ledige  ohnuerteilte  eines  oder  mehr  geschwisterten  hinderlassen, 
auch  von  dem  seinigen  nichts  disponirt  oder  vbergeben  hat,  vor  einen 
hagenstoltz  zuhalten. 

Ferners  vnd  zum  andern  betreffendt  Laux  Dollen  gewessenen  forst- 
knecht  zu  Bürstatt,  jst  dahin  zusehen,  ob  ermelter  Doli  sein  weib  vnd 
kinder  vor  leibeigene  zuhalten  oder  nicht  etc.  Dessenwegen  nun  ercleren 
wir  vnns  dahin,  jm  fall  er,  sein  weib  vnd  kinder,  ehe  er  zu  diesem 
dienst  kommen,  vnns  vnd  churfürstl.  Pfaltz  mit  der  leibeigenschafft 
albereit  vnderworffen,  sie  durch  diesen  dienst  derselben  nicht  befreiet 
worden,  da  sie  aber  zuuor  vns  mit  keiner  leibeigenschafft  verfangen  ge- 
wesen, sie  auch,  so  lange  dieser  dienst  geweret,  darmit  nicht  zube- 
schwören gewesen  seien,  selten  aber  nach  geendetem  dienst,  er  forst- 
knecht,  sein  weib  oder  kinder  jar  vnd  tag  an  orten,  da  wir  die  ge- 
rechtigkeit  hergebracht,  gesessen  sein  oder  noch  daselbsten  sich  heuss- 
lichen  vfhalten,  werden  sie  billich  als  wildtfenge  eingetzogen  vnd  andern 
mit  der  leibsbeeth  gleich  gehalten. 

Wie  es  zum  dritten  mit  stieff-  auch  rechten  geschwisterten,  wan 
die  verheuratet  oder  ledigs  standts  sinndt,  dan  auch  zum  vierten,  wan 


über  das  Hagestolzenrecht  iu  Kurpfalz  71 

die  altern  mit  den  kindern  abgetheilt  haben,  jtem  zum  funfften,  wan 
einer  ein  altuatter,  altmutter  etc.  verlast,  desgleichen  zum  sechsten,  was 
für  ein  vnderschiedt  vnder  freunden  vnd  brüedern  zuhalten  etc.:  dass 
alles  ist  auss  demjenigen,  so  oben  aussgefürt  worden,  aller  notturfft 
nach  zuerlernen,  das  nemlich  descendentes  et  ascendentes  den  verstor- 
benen erben  ohne  allen  vnderscheidt,  ob  sie  miteinander  abgetheilt  ge- 
wesen oder  nicht,  vnder  den  coUateral  freunden  vnd  geschwisterten  aber 
ein  vnderscheidt  obangedeutermassen  zumerken  seie. 

So  ist  auch  eurer  siebenden  frage  halben  albereit  oben  decidirt, 
das  die  jenigen,  so  ausserhalb  deren  orten  vnd  enden,  da  diese  hagen- 
stoltzerei  gerechtigkeit  gültig  ist,  geboren  vnd  daselbsten  etwas  für  sich 
bringen,  hierunder  nicht  begrieffen  seien,  es  were  dan,  das  einer  her- 
nacher  sich  an  solche  ortt  begeben,  da  man,  wie  vorgemelt,  dieser  ge- 
rechtigkeit befugt,  ein  zeit  lang  alda  sesshafftig  gewesen  were  vnd  also 
hierdurch  mit  der  leibeigenschafft  sich  verfangen  gemacht  hette. 

Ferner  zum  achten  vnd  letzsten  anlangent  Hannsen  Bollen  zu 
Biblis  verlassenschafft,  deren  sich  Schultheis  vnd  gericht  daselbsten  pro 
suo  interesse  anzumassen  vnderstehen,  weil  wir  souiel  versthen,  das  er 
ausserhalb  dem  ampt  vnder  dem  ertzstifft  Meintz  geboren,  auch  im 
ambt  sich  nicht  auffgehalten  noch  jemals  vor  einen  leibeigenen  auff- 
vnd  angenommen,  zu  deme  auch  albereit  vor  etlichen  jaren  seine  ver- 
lassenschafft durch  zusehender  zeit  gewesenen  beampten  vertheilet  wor- 
den, als  lassen  wir  es  nachmals  auch  darbei  bewenden,  das  wegen 
dieser  verlassenschafft  mit  fernerer  anforderung  gegen  die  erben  jnge- 
standen,  hinfuro  aber  vf  dergleichen  feil  vnd  frembd  ankommende  per- 
sonen  desto  bessere  vfsicht  gegeben  werde.  Alss  jr  auch  vnder  dato 
den  29.  Äugusti  anno  1607  zwen  andere  strittige  feil  zu  vnserer 
cantzlei  berichtet,  jst  bei  dem  ersten,  den  schaffknecht  zu  Bibliss 
Hannss  Heblich  belangendt,  kein  zweifei,  dass  er  nicht  solte  vor  einen 
hagenstoltz  gehalten  werden,  in  ansehen  er  ledig  vnd  ohne  letzsten 
willen  vnnd  vffgab  verstorben,  dahero  vns  seine  verlassenschafft  ver- 
fallen, dieweil  wir  aber  dabeneben  berichtet  worden,  das  sein  hinder- 
lassener  Schwester  söhn  (der  sonsten  der  negste  erb  were)  ein  armer 
presthaffter  mensch  seie  vnd  sich  bei  seinen  freunden  in  der  Wetteraw 
vfhalten  soll,  also  seindt  wir  gnedigst  zufriden,  thun  euch  auch  hiemit 
beuelhen,  jhme  zu  seiner  vnderhaltung  vf  gebüerlich  quitung  vnd  jeder- 
zeit glaubwürdige  bescheinung,  das  er  noch  jm  leben  sei,  jarlichs  zehen 
oder  zwantzig  gülden  zum  höchsten  volgen  zulassen,  das  vberige  aber 
vns  einzuziehen  vnd  gebürlich  zuuerrechnen. 


72  Karl  Brunner:  Über  das  Hagestolzeurecht  in  Eurpfalz 

Den  andern  fall  Georg  Helfl'erichs  zu  Biblis  söhn,  so  von  16  jähren 
gewesen  vnd  ledigs  stand ts  gestorben,  betreffennt,  jst  es  zwar  an  denie, 
das  schultheiss  vnd  gericht  der  orts  sich  solcher  fäll  anzumessen  vnder- 
sthen  vnd  vermeinen  wollen,  wan  einer  vnder  seinen  25  jaren  versterbe, 
dass  desselben  negste  erben  die  herrschafft  aussschliessen,  desswegen  sie 
sich  dan  auch  vf  etliche  actus  referiren. 

Wan  nun  gleich wol  hierinnen  von  vorigen  amptleutten  etwas  mehr 
vfsicht  vnd  vleiss  gebraucht  worden  sein  solte,  wir  aber  diss  orts 
weniger  nicht  als  zu  Lorsch  vnd  Bürstatt  der  succession  vf  den  hagen- 
stoltzen  berechtigt,  als  wissen  wir  auch  disfals  vns  vnserer  gerechtig- 
keit  nicht  zu  begeben,  jedoch  lassen  wir  vns  gleichwol  anjetzt  nicht 
zuwider  sein,  weil  es  strittig  vnd  biss  dahero  etwas  vngleich  obseruirt 
vnd  gehalten  worden  sein  mag,  das  mit  dem  angemassten  des  verstor- 
benen negsten  erben  Hannssen  Geuders  hausfrawen  gütlich  gehandlet 
vnd  nützliche  vergleichung  vf  vnser  ratification  getroffen,  jns  künfftig 
aber  vnserer  obgesetzten  erclerung  allenthalben  nachgegangen  werden, 
jnmassen  wir  ein  solches  auch  euch  hiemit  benelhen. 

Welches  alles  wir  euch  zu  vnserer  resolution  vnnd  ewerer  gewissen 
nachrichtung  zuerkennen  geben  wollen,  mit  nachmaligem  anbeuelhen, 
demselben  vf  zutragende  feil  also  nachzusetzen. 

Datum  Heidelberg,  den  16.  May  anno  etc.  1609. 

Ans  ampt  Starckenburg. 


Derselbe  Befehl  erging  mit  einem  kurzen  Begleiterlass  am  gleichen  Tag  auch 
an  das  Amt  Heidelberg. 


I)a8  Friaiiiel. 

Beiträge  zur  Volkspoesie. 

Von 

Karl  Enling. 

I. 

iKt  um  8o  mehr,  ji;  nAtürlieher  und  kpuntanor  hIo 
auftritt,  Produkt  und  Kif^ontuin  nicht  einer  Kay«*, 
Hner Völker- oder SprftchcnfAmlU«*,  »ondorn  einer 
nationnlen  Individunlitilt  und  einer  Sprache. 

Comparetti. 

Trotz  aller  romantischen  und  spekulativen  Schwärmerei  hat  das 
deutsche  Volk  immer  zugleich  die  Kichtung  auf  das  Praktische  bewahrt, 
pjin  Lessing  war  aller  Romantik  und  Mystik  abhold,  und  Herder  sah 
den  poetischen  Charakter  der  Deutschen  wesentlich  in  Biedersinn  und 
Hausverstand,  in  treuherziger  Lehrhaftigkeit.  Wenn  nun  auch  das  Zeit- 
alter der  Aufklärung,  wie  sich  wieder  in  diesem  Urteil  zeigt,  der  Tiefe 
und  Idealität  deutschen  Wesens  nicht  gerecht  zu  werden  scheint,  so 
beweist  doch  die  Entwicklung  der  germanischen  Litteratur  von  den 
Dichtern  der  Havamal  bis  Goethe  eine  so  unverkennbar  glänzende  Be- 
gabung unsres  Volkes  für  die  Gnomik,  wie  sie,  das  indische  vielleicht 
ausgenommen,  kaum  ein  andres  besessen  hat. 

Es  ist  mit  Becht  beklagt,  dass  in  der  litterarhistorischen  Forschung 
die  Gnomik,  das  wichtigste  Kapitel  einer  nationalen  Ethik,  bisher  ver- 
hältnismässig vernachlässigt  wurde.  Allerdings  wandte  schon  Wilhelm 
Grimm  seine  liebevolle  Sorgfalt  der  Spruchdichtung  Freidanks  zu,  und 
Hermann  Paul  hat  an  Wilhelm  Grimm  wieder  angeknüpft.  Uhland  gab 
in  seiner  bewunderungswürdigen  Abhandlung  über  die  deutschen  Volks- 
lieder manchen  lehrreichen  Einblick  in  die  Stoffgeschichte  der  germani- 
schen Gnomik,  MüUenhoff  behandelte  mit  charaktervoller  Gründlichkeit 


74  Karl  Euling 

das  Meisterwerk  altnordischer  Didaktik.  Aber  die  Geschichte  der  Ge- 
samtentwicklung dieses  Litteraturzweiges  ist  bis  heute  noch  ungeschrie- 
ben und  wird  es  vielleicht  noch  lange  bleiben. 

Über  die  Bedeutung  der  Gnomik  für  die  Geschichte  der  Litteratur 
täuschte  man  sich  nicht.  Schon  der  gelehrte  Benediktiner  Sarmiento 
hat  die  Theorie  aufgestellt,  alle  poetischen  Formen  seien  aus  gnomischer 
Poesie  herzuleiten');  sicher  eine  Übertreibung,  in  der  aber  Spaniens 
erster  Litterarhistoriker  den  gesunden  Kern  nicht  hätte  übersehen  sollen. 
In  Deutschland  war  es  wieder  Herder,  der  früh  auf  die  Bedeutung  gno- 
mischer Dichtung  für  Poetik  und  Litteraturgeschichte  hinwies.  ,  Wollen 
wir  je,'^  sagt  er  im  Anschluss  an  das  Epigramm,^)  «eine  philosophische 
Poetik  oder  eine  Geschichte  der  Dichtkunst  erhalten:  so  müssen  wir 
über  einzelne  Gedichtarten  vorarbeiten  und  jede  derselben  bis  auf  ihren 
Ursprung  verfolgen.**  Unter  philosophischer  Poetik  verstand  er  dabei 
nicht  die  begriffsfrohe  und  thatsachenscheue  graue  Scholastik  unsrer 
grossen  und  kleinen  Kompendien,  sondern  ein  wirklich  entwickelndes 
Verfahren.') 

Nun  sind  ja  in  unsren  Tagen  Versuche  genug  gemacht  worden,  die 
Poetik  entwicklungsgeschichtlich  (evolutionistisch,  wie  man  zu  sagen 
pflegt,)  und  psychologisch  zu  bebandeln.  Aber  die  Schwierigkeit  scheint 
eben  darin  zu  bestehen,  die  Entwicklung  von  innen  heraus  zu  verfolgen, 
ohne  allgemeine,  vorher  gefasste  Ideen  äusserlich  an  die  Objekte  heran- 
zutragen. Man  müsste  die  Thatsachen  mehr  zu  Worte  kommen  lassen, 
die  Dinge  selbst  Rede  zu  stehen  zwingen  und  im  Sinne  Goethischer 
Ästhetik^)  das  Allgemeine  im  Besonderen  suchen,  nicht  umgekehrt. 
Meistens  ist  jene  sogenannte  evolutionistische  Poetik,  ohne  es  zu  wol- 
len, nur  eine  andre  Auflage  der  ästhetisch-philosophischen  Litteratur- 
geschichte; vor  dieser  zu  warnen  ist  ja  heute  üblich^);  weniger  leicht 
dürfte  es  sein,  ihre  Fehler  zu  meiden.  Es  bedarf  zunächst  wohl  der 
abwartenden  Kühe  des  experimentierenden  Physikers,  der  leidenschafts- 
losen Objektivität  des  historischen  Forschers.  Dabei  gilt  es,  den  präg- 
nanten Punkt  zu  finden,  aus  dem  sich  möglichst  Vieles  ableiten  lässt 
^oder  vielmehr,  der  vieles  freiwillig  aus  sich  hervorbringt.^    In  diesem 

1)  Eberts  Jahrbuch  für  romanische  und  englische  Litteratur  2,  46.  71. 

2)  Supban  15,  385. 

3)  In  der  ersten  Auflage  und  in  der  Handschrift  lautete  die  Stelle:  «Wollen 
wir  je  eine  philosophische  Poetik  oder  eine  wahre  Geschichte  der  Dichtkunst  er- 
halten" u.  8.  w. 

4)  Anzeiger  für  deutsches  Altertum  16,  314. 

5)  Vgl.  2.  B.  R.  M  Meyer,  Goethe.  Berlin  1895,  S.  608. 


Das  Priamel  75 

Sinne  wiegt  Karl  Büchers  epochemachendes  Buch  über  Arbeit  und 
Uhythnius  eine  ganze  Bibliothek  von  Poetiken.  Es  charakterisiert  die 
Unzulänglichkeit  der  landläufigen  Litteraturbetrachtung,  dass  ihr  ge- 
lehrter Fachwerkbau  für  ein  Gebilde,  wie  den  Vierzeiler,  keinen  Platz 
hat.  Vielleicht  weist  gerade  dieses  elementare  Verschen  einen  Weg,  um 
über  die  Kluft  zu  gelangen,  die  ein  geistvoller  Beurteiler  Büchers  zwi- 
schen der  Arbeits-  und  Spielpoesie  einerseits,  und  der  höheren  Kunst- 
poesie auf  der  andren  Seite  treten  lässt. ')  Richard  Gosche  scheint 
dieser  Weg  in  ahnenden  Gedanken  vorgeschwebt  zu  haben,  wenn  er 
einmal  aussprach :  „Die  Betrachtung  der  einzelnen  Litteraturformen  in 
ihrer  geschichtlichen  Entwicklung  ist  durch  die  Herrschaft  einer  ein- 
seitig formulierten  Ästhetik,  welche  allgemeine  Begriffe,  das  heisst  hier 
Bezeichnungen  von  gleichmässig  ausgebildeten,  grossen  Gattungen  an 
die  Spitze  ihrer  Untersuchungen  stellte,  in  falsche  Bahnen  gelenkt  wor- 
den. Die  geschichtliche  Forschung  hat  hier  wie  bei  allen  praktischen 
Ueihenfolgen  das  Elementare  aufzusuchen,  und  die  Litteraturgeschichte 
wird  dies  bei  sorgfältiger  und  unbefangener  Untersuchung  in  jener  Form 
der  rednerischen  Darstellung*)  finden,  welche  wir  einfach  als  Spruch 
im  weiteren  Sinne  bezeichnen  können.  Dieser  Spruch,  welcher  weder 
ganz  Poesie  noch  ganz  Prosa,  weder  episch  noch  lyrisch  noch  drama- 
tisch ist,  wird  in  der  Litteraturgeschichte  dieselbe  Stelle  einzunehmen 
berechtigt  sein,  welche  die  Wissenschaft  von  der  organischen  Natur  der 
Zelle  angewiesen  hat."  •)  Wenn  es  gilt,  in  vergleichendem  Verfahren, 
wie  Dilthey  ^)  anregt,  gleichsam  zu  Urzellen,  zu  primären  und  einfachen 
Lebensformen  der  Poesie  aufzusteigen,  kann  vielleicht  der  einfache  Volks- 
spruch eine  Kolle  spielen;  und  wenn  gar  der  epigrammatische  Spruch 
das  konzentrierteste  Produkt  der  Poesie  überhaupt  sein  soll,  wie  Bo- 
rinski^)  will,  so  müsste  doch  vielerlei  an  ihm  zu  lernen  sein;  er  müsste 
fast  in  die  Mitte  der  allgemeinen  Poetik  rücken. 

Besondre  Beachtung  hat  bisher  nur  die  kunstmässige  Spruch- 
dicbtung  gefunden.  Meister  der  deutschen  Philologie  gaben  dem  Stu- 
dium der  Spruchdichtung  Walthers  Grundlage  und  Richtung,  Roethe 
verfolgte  die  Spruchdichtung  bis  in  den  Meistergesang .  hinein  mit  ein- 


1)  Ulrich  von  Wilamowitz-Moellendorff,  Deutsche  Litteraturzeitung  21,  92. 

2)  Das  würde  im  Sinne  späterer  Darlegung  über  Poesie  und  Musik  zu  be- 
richtigen sein. 

3)  Archiv  für  Litteraturgeschichte  2,  277. 

4)  Dilthey,  Die  Einbildungskraft  des  Dichters  S.  340. 
ö)  Borinski,  Deutsche  Poetik  §  66. 


76  Karl  Euling 

dringendem  Scharfsinn;  Inhalt  und  Kunsttbrm.  Entstehung  und  Aus- 
bildung der  poetischen  Fot'men  in  der  Didaktik  waren  bis  dahin  nur 
stiefmütterlich  behandelt,  obwohl  Versuche  derartiger  Betrachtung  vor- 
lagen; Hexameter,  Sonett  und  Madrigal  in  Deutschland  fanden  ihre 
Historiker.  Den  Zusammenhang  jener  Kunstdichtung  mit  der  Volks- 
poesie hat  man  heute  noch  nicht  erledigt ;  es  werden  immei:  neue  Fixa- 
tionen sichtbar. 

Zufall  ist  es  nicht,  dass  Lessing  und  Goethe  wieder  auf  die  Gno- 
mik  des  Mittelalters  zurückgreifen,  wie  sie  im  16.  Jahrhundert  für 
Deutschland,  wie  für  die  übrigen  Kulturländer  des  Westens,  in  grossen 
Sammlungen  kodifiziert  war,  den  Nationalstolz  aller  sammelnden  Völker 
mit  leichtbegreiflichen  Übertreibungen  weckend.  Verhält  sich  Lessing 
mehr  aufnehmend  der  alten  Gnomik  gegenüber,  deren  veraltendes  Ge- 
wand zu  erneuern  er  sich  begnügte,  so  läutert  und  durchdringt  sie 
Goethe  mit  höchster  Freiheit  und  Kultur  und  gibt  ihr  die  durchgei- 
stigtste Form.  So  wird  auch  am  Ende  einer  Geschichte  der  deutschen 
Gnomik  Goethe  stehen,  als  der  grösste  Lehrer  deutscher  Lebensweisheit. 

Der  besondren  Begabung  unsres  Volkes  für  die  Gnomik  verdankt 
eine  ihm  eigene  selbständige  Kunstgattung  ihre  Ausbildung,  das  Pria- 
mel:*)  als  klassisches  Epigramm  des  15.  Jahrhunderts  ein  Erzeugnis 
Nürnberger  Kleinkunst;  keineswegs  bloss  acumina,  pointes,  maximes; 
nicht  nur  blitzendes  Aper9u,  schemenhafte  Aufschrift,  pointiertes  con- 
cetto:  sondern  voll  und  reich  aus-  und  durchgebildet  zu  einer,  trotz 
seiner  engen  Grenzen,  fast  universalen  Kunstform;  in  seinen  Grundlagen 
von  lebenskräftig  unverwüstlichem  Dasein,  in  seiner  Vollendung  so  eigen- 
artig in  dem  Nährboden  bestimmter,  national-gebundener  Kunst-,  Denk- 
und  Vorstellungsart  wurzelnd,  dass  jeder  Vergleich  mit  verwandten  Er- 
scheinungen unzulänglich  erscheint. 

Seit  dem  bekannten  Brief,^)  den  Lessing  am  10.  Januar  1779  über 
die  geplante  Herausgabe  deutscher  Volksgedichte  an  Herder  schrieb, 
spricht  man  in  Deutschland  wieder  von  dem  Priamel.  Die  altberühmte 
Wolfenbütteler  Bibliothek  beherbergt  ausser  kleineren,  freilich  wert- 
volleren Priamelhandschriften  eine  grosse  Sammelhandschrift  (2.  4.  Aug. 
fol.)  der  späteren  Nürnberger  Schule  und  eine  überaus  reiche  Folge 
alter  Lautenbücher,    deren  Wert    für    die    Musikwissenschaft    täglich 


1)  Das  seit  Lessing  übliche  Femininum  hält,  wie  sich  später  ergibt,  den  That- 
Sachen  historischer  Bezeugung  gegenüber  für  das  15.  Jahrhundert  nicht  stand. 

2)  Redlich  20,  1,  775. 


Das  Priamel  77 

steigt.  Eschenburg  betont  ausdrücklich,  dass  er  das  Wort  Priamel  sehr 
oft  in  den  Überschriften  alter  poetischer  und  musikalischer  Stücke 
tindeJ)  Dass  Lessing  die  Hainhoferschen  Sammlungen,  die  Lautenbücher 
der  Gerle,  Newsiedler,  Ochsenkuhn  und  wie  sie  alle  heissen,')  entgangen 
wären,  ist  kaum  möglich;  er  spricht  aber  nicht  davon.^)  Das  war  Les- 
sings  Material,  als  er  das  Priamel  wieder  entdeckte.  Es  ist  zu  bedauern, 
dass  Lessing  wie  Eschenburg  sich  fast  durchweg  mit  der  bequemen 
grössten  Sammelhandschrift  begnügten,  die  allerdings  den  Namen  am 
häufigsten  enthält,  und  dass  sie  das  alte  musikalische  Priamel  nur  aus 
späteren  Tabulaturen  kannten.  Die  älteren  fehlen  in  Wolfenbüttel.  So 
kam  es,  dass  Lessing  und  Eschenburg  das  echte  Priamel  in  seiner  ur- 
sprünglichen Gestalt  nur  streiften,  und  meist  dem  Wust  sehr  fragwürdiger 
Produkte  der  späten  Nürnberger  Schule  die  Ehre  widerfuhr,  eines  Lessing 
Aufmerksamkeit  zu  erregen  und  die  erste  Veröffentlichung  zu  erleben. 
Es  war  Echtes  und  Unechtes,  Altes  und  Neues,  viel  Schutt,  weniger 
edles  Gestein,  alles  bunt  durcheinander  gewürfelt,  und  hat  bis  heute 
das  Urteil  verwirrt.  So  kam  es  aber  auch,  dass  sich  in  der  Bezeichnung 
der  Gattung  das  neuere  Femininum  „Die  Priamer  einstellte.  Mit  dem 
Modewort  wusste  Niemand  recht,  wohin.  Noch  Baechtold  und  Com- 
paretti  scheinen  es  nur  auf  dem  Umweg  durchs  Französische  oder  etwa 
das  Niederländische  kennen  gelernt  zu  haben.  Handschriftlich  bezeugt 
ist  im  15.  Jahrhundert  nur  das  Neutrum,^)  das  16.  Jahrhundert  kennt 
auch  das  Masculinum, ''')  das  Französische,  und  zwar  schon  im  Mittel- 
alter, und  deutsche  Mundart  entwickelten  das  Femininum.  Veröffent- 
licht hat  Lessing  selbst  vom  Priamel  nichts,  Eschenburg  fixierte  den 
für  die  Blütezeit  der  Gattung  unhistorischen  Gebrauch  des  Femininums. 
Der  grosse  Kritiker,  der  immer  erst  während  des  Druckes  die  Arbeit 
abschloss,  hätte  wahrscheinlich  doch  den  Fehler  gesehen.  Die  Priamel- 
form  der  volkstümlichen  Dichtung  wirkt  noch  in  seiner  epigrammatischen 
Poesie  nach,  ohne  dass  er  davon  weiss;")  so  fesselten  jene  entdeckten 
kleinen  poetischen  Gebilde  ihn  lebhaft. 

1)  Zur  Geschichte  und  Litteratur  5,  188. 

2)  Der  vorläufigen  Orientierung  dient  Vogels  Katalog. 

3)  Auch  Muncker  ist  ps  nicht  gehingen,  eine  Spur  der  «längst  verschollenen'' 
bandschriftlichen  Papiere  Lessings  zu  finden.  Es  ist  also  nicht  festzustellen,  wofOr 
Lessing,  wofür  Eschenburg  allein  verantwortlich  gemacht  werden  muss. 

4)  Schon  Wendeler  hat  das  festgestellt:   De  pracambulis  S.  21  Anra.  2. 

5)  Siehe  Kapitel  III. 

6)  Auf  einiges  derart  hat  Knster  zu  Schönaichs  Neolo^ischem  Wörterbuch 
S.  564  hingewiesen. 


78  Kar]  Ealing 

Herder  empfahl  und  erläuterte  den  Fund;  aber  er  war  doch  besser 
in  der  griechischen  Anthologie  als  in  der  Kleinkunst  des  15.  Jahrhunderts 
zu  Hause.  Er  rechnete  die  Priameldichtung  zum  Meistergesang ;  in  den 
deutschen  Zünften  sollte  diese  Form  ausgebildet  sein,  und  zwar  zum 
Handwerksleisten.*)  Kein  Wunder,  dass  Goethe  fast  vergass,  für  ein 
ihm  übersandtes  Priamelmanuskript  zu  danken,  und  in  den  angeblichen 
Meistersprüchen  nur  ein  Spiel  mit  den  platten  Lebens-  und  Handwerks- 
begriffen sah.  Aber  das,  worauf  es  ankam,  hatte  Herder  doch  erkannt, 
freilich  nicht  mit  Priameldichtung  in  Verbindung  gebracht.  Er  hatte 
gewünscht,  dass  wir  von  mehreren  sinnlichen  Völkern,  statt  Beschrei- 
bungen über  den  Geist  derselben,  Proben  ihres  kindlichen  Witzes,  ihres 
sich  übenden  Scharfsinns  in  Sprichwörtern,  Scherzen  und  Rätseln  hätten, 
wir  hätten  damit  die  eigensten  Gänge  ihres  Geistes  —  gerade  diese 
Dinge  gehören  zum  Heiligtum  einer  Sprache.  Seitdem  dann  Jakob  Grimm 
im  Jahre  1812  mit  einem  kräftig  gesunden  Protest*)  gegen  den  unechten 
Namen  ,der  Priamel*,  von  der  Gattung  gerühmt  hatte,  die  ältesten 
und  erhabensten  Priameln  habe  Odin  selbst  in  dem  göttlichen  Havamal 
gesungen,  hat  das  Priamel  nicht  aufgehört  Forschung  und  Liebhaberei 
zu  beschäftigen. 

Den  Vorsprung  gewann,  wie  jedesmal,  die  edle  Liebhaberei.  Das 
umfassende  Programm  des  Wunderhorns  schloss  auch  die  Spruchpoesie 


1)  Suphan  16,  228.  226  (Andenken  an  einige  ältere  Deutsche  Dichter  6): 
^ Wanim  ich  von  den  Meistersängern  noch  nicht  gesprochen  ?  Weil  sie  mir  oft  herz- 
liche Langeweile  gemacht  haben*.  227:  nDa  ist  auch  kein  Seelenerhebender  Ton, 
keine  Gegenwart  der  Dinge,  kein  plötzlicher  begeisternder  Augenblick  (denn  wie 
konnte  der  in  ihre  Zünfte  gelangen?)  merklich".  —  „Erlauben  Sie  also,  dass  ich 
vom  grossen  Uebel  mir  das  kleinste  wähle,  mithin  auf  die  geistlichen  und  weltlichen 
Schwanke  der  mehresten  Meistersänger  Verzicht  thue  und  mich  an  ihre  GrQsse 
und  Sprüche  halte.  Sie  wissen,  die  Meister  sagen  einander  vor  der  Lade  den 
Gruss;  der  Geselle  hat  seinen  Spruch.  Solche  Grüsse  und  Sprüche  hat  auch  die 
Meistersängerzunft  fleissig  gehandhabet'.  In  der  Anmerkung:  «Eine  Sammlung 
derselben  war  diesem  Briefe  beigelegt ;  sie  mag  indess  auf  einen  andern  Ort  warten". 
Am  21.  August  1788  bittet  er  Karoline:  „Das  Manuskript,  das  ich  an  Goethe  ein- 
gcsicgelt  h^ibe,  lass  Dir  von  ihm  geben  und  bewahre  es  auf.  Es  sind  alte  deutsche 
Sprüche  und  Priameln".  Goethe  an  Herder,  September  88:  „Fast  hätte  ich  ver- 
gessen, Dir  für  die  Meistersängersprüche  zu  danken.  Es  ist  sehr  artig  zu  sehen, 
wie  sie  mit  den  platten  Lebens-  und  Hand  werk  sbegriifen  gespielt  haben."*  Suphan 
S.  G29.  Goethes  Briefe,  Weimarer  Ausgabe,  9,  19.  Aus  Ernst  Jennys  Ausführungen, 
Goethes  altdeutsche  I^ektüre,  Basel  1900,  S.  40  ist  nicht  zu  entnehmen,  dass  es  sich 
um  Priamel  handelt. 

2)  Auch  gegen  die  französische  Form  Bergmanns  La  priam^le  protestiert 
Gaston  Paris  in  der  Revue  critique  1868.  Nr.  39.  S.  193:  „La  forme  fran^aise  adop- 
tee  par  M.  B.  ne  me  paralt  pas  excellente". 


Das  Priamel  79 

ein.  „Was  der  Beichtum  uosres  ganzen  Volkes,  was  seine  eigene,  innere 
lebende  Kunst  gebildet,  das  Gewebe  langer  Zeit  und  mächtiger  Kräfte, 
den  Glauben  und  das  Wissen  des  Volkes,  was  sie  begleitet  in  Lust  und 
Tod,  Lieder,  Sagen,  Kunden,  Sprüche,  Geschichten,  Prophezeihungen 
und  Melodien,  wir  wollen  Allen  Alles  wiedergeben,  was  im  vieljährigen 
Fortrollen  seine  Demantfestigkeit  bewährt,  nicht  abgestumpft,  nur  farbe- 
spielend geglättet,  alle  Fugen  und  Ausschnitte  hat  zu  dem  allgemeinen 
Denkmale  des  grössten  neueren  Volkes,  der  Deutschen.' ')  Vieles  wurde 
allmählich  durch  den  Druck  zugänglicher  gemacht,  wenn  auch  meist 
ebenso  unkritisch  als  ungeniessbar,  manches  auch  schon  übersetzt  und 
weitesten  Kreisen  zu  vermitteln  gesucht.  Mit  heller  Freude  wurde  in 
den  reichen  Schätzen  unsrer  Vorzeit  gekramt,  und  die  Liebhaber  eines 
triftigen  Sinnes  in  ungekünstelten  Worten  machten  vielgekaufte  Bluten- 
lesen für  diejenigen,  «welche  die  Wege  und  Stege  zu  den  im  köstlichsten 
Feldblumenschmuck  prangenden  Gemeindetriften  deutschen  Witzes  und 
deutschen  Gemütes  nicht  verschmähten  und  an  frisch  und  kräftig  her- 
vortretender Eigenart  der  Sprach-  und  Denkweise  unsrer  Altvordern 
Lust  und  Erquickung  fanden*".  Das  Publikum  bekam  wieder  Urväter 
Hausrat  in  die  Hände,  und  nicht  ohne  Grund  konnte  man  hoffen,  dass 
dessen  sinn-  und  gemütvolle  Bedeutung  verständnisvoll  von  allen  ge- 
würdigt werde,  die  »mit  Liebe  und  Lust  den  Spuren  unsrer  in  der  Ge- 
schichte so  energisch  sich  entwickelnden  Nationalität  nachzugehen  wissen*'. 
Es  schien  sich  bereits  zu  verwirklichen,  was  Herder  prophezeit  hatte: 
«Mich  dünkt,  ich  sehe  eine  Zeit  kommen,  da  wir  zu  unsrer  Sprache,  zu 
den  Verdiensten,  Grundsätzen  und  Endzwecken  unsrer  Väter  ernster  zu- 
rückkehren, mithin  auch  unser  altes  Gold  schätzen  lernen.*'  *)  Bald 
war  aus  Lessings  Plane,  ^Altdeutschen  Witz  und  Verstand""  herauszu- 
geben, eine  kleine  Bibliothek  herausgewachsen.  An  den  Witz  und  Ver- 
stand reihten  sich  Weisheit  und  Witz,  Altdeutsches  Herz  und  Gemüt, 
Altdeutscher  Schwank  und  Scherz,  Kabinettstücke  in  Liebhaberausgaben, 
Sammlungen  von  feinem  Geschmack  und  geradem  Urteil.  Wie  treffend 
spricht  Sandvoss  von  der  Form!  «Es  sind  Reimsprüche",  sagt  er  von 
seiner  Sammlung,  ^deren  meist  kunstlose  Form  aber  doch  reine  innere 
Form  ist,  gewachsene  Rinde  gleichsam,  statt  der  bloss  hart  gewordenen 
Borke  der  in  eine  feste  Matritze  gekneteten  Paprika-Käschen  moderner 
Witzbolde*.^    Riehl  und  v.  Radowitz  gaben  dem  Volksepigramm  seinen 


1)  Des  Knaben  Wunderhorn  1,  463  der  ersten  Originalausgabe. 

2)  Siiphan  16,  133. 

3)  Xanthippiis,  Gute  alte  deutsche  Sprüche.    Berlin  1897,  S.  VIII. 


80  Karl  Euling 

Platz  an  der  Seite  des  Volksliedes,  und  der  grosse  Kulturhistoriker  meint, 
der  Hausschatz  deutscher  Spruchverse  sei  in  seiner  Art  nicht  minder 
reich  an  lauterem  Gold  wie  das  eigentliche  Volkslied.  ^)  Die  naive  grund- 
satzreiche  Unbeholfenheit')  durfte  nicht  abschrecken.  Die  simple  Spruch- 
weisheit, die  in  der  Lieder-  und  Bücherflut  unsrer  Tage  ganz  von  selber 
ersäuft,  fand  Freunde  wie  Otto  Sutermeister,  der  dem  Hausspruch  die 
unübertroffene  Charakteristik  widmet.  ^)  «Auch  er  zählt  mit  als  Ausfluss 
einer  im  Ganzen  gesunden,  gescheiten  und  frommen  Denkweise;  auch 
er  ist  in  der  Geschichte  des  deutschen  Hauses  ein  Moment  voll  sittlichen 
Gehalts,  ist  über  Thür  und  Bank,  auf  Hauswand  und  Dachbalken,  an 
Ofen,  Bett  und  Kasten,  und  wo  er  sich  sonst  noch  niedergelassen,  ein 
redender  Zeuge  sittigender  Macht  der  Poesie  in  vielfach  verlassensten 
Menschenkreisen. " 

Dagegen  war  die  wissenschaftliche  Priarael-Forschung  entschieden 
im  Rückstand.  Sie  tastete  zwischen  den  fingierten  Polen  der  sogenannten 
Volksdichtung  und  Kunstpoesie  hin  und  her,  um  schliesslich  in  Verwir- 
rung auszulaufen."^)  Selten  trat  Jemand  gegen  die  unhistorische  Richtung 
misslungener  Erneuerungen  auf,  wie  ihrer  Zeit  die  Grimms  sich  gegen 
die  Verfasser  des  Wunderborns  gewandt  hatten,  die  Altes  nicht  als  Altes 
wollten  stehen  lassen,  ein  Verfahren,  das  als  Notwendigkeit  für  die  Zeit 
ein  Irrtum,  und  für  das  Studium  der  Poesie  ein  Ärger.  ^)  Man  bemühte 
sich  mit  Einfällen,  Scharfsinn  und  Gelehrsamkeit  aus  dem  Namen  des 
Priamels  sein  Wesen  zu  erraten,  wandte  sich  Aufschluss  suchend  an  die 
indische,  hebräische,  lateinische  Litteratur,  an  die  Geschichte  der  Uni- 
versitäten, an  die  Fechtkunst,  an  die  Predigt,  und  versäumte  nur  eins: 
seine  wirkliche  Geschichte  —  eine  einigermassen  vollständige  Sammlung 


1)  Über  Hausinschrifien.  W.  H.  Riehl,  Die  Familie,  9.  Aufl.  Stuttgart  1882. 
S.  198  ff.  „Zeigt  uns  das  Volkslied  zumeist  die  Poesie  der  Ruhe,  des  Geniessens 
und  Genügeus,  so  führt  uns  Sitte,  Sage  und  Spruch  auf  hundert  versteckten  Pfaden 
zur  P>kenntnis  der  Arbeitslust  und  Arbeitsehre,  die  unserm  Volke  nicht  minder 
ins  innerste  Leben  gewachsen  ist."     Riehl,  Die  deutsche  Arbeit  ^  S.  149. 

2)  R.  Falck,  Deutsche  Inschriften  an  Haus  und  Geräth.  Zur  epigrammatischen 
Volkapoesie.    Berlin  1865,  S.  V. 

3)  Otto  Sutermeister,  Schweizerische  Haussprüche.  Ein  Beitrag  zur  epigram- 
matischen Volkspoesie  aus  der  Landschaft  Zürich.    Z.  1860,  S.  VH,  IX. 

4)  Freilich  ist  mir  Niemand  bekannt,  der  den  Ergebnissen  Uhls  zugestimmt 
hätte. 

5)  Briefwechsel  zwischen  Jakob  und  Wilhelm  Grimm  aus  der  Jugendzeit  h}f. 
von  Herman  Grimm  und  Gustav  Hinrichs.  Weimar  1881,  S.  i»8.  Philipp  Strauch 
in  der  Deutschen  Litteralurzeitung  1893,  366. 


Das  Priamel  Ql 

des  Materials,*)  eine  treue  Analyse  und  historisch  zusammenhängende 
Behandlung.  Nur  so  erklärt  es  sich,  dass  noch  heute  auf  diesem  Ge- 
biete der  Forschung  die  schroffsten  Gegensätze  unvermittelt  gegen  ein- 
ander stehen.  Hier  spricht  und  handelt  man  ausführlich  von  ,Priameln* 
in  der  Weltlitteratur,  *)  dort  wird  in  den  gründlichsten  Darstellungen 
deutscher  Litteraturgeschichte  das  Priamel  entweder  mit  der  grössten 
Zurückhaltung  erwähnt  oder  als  Rührmichnichtan  behandelt.«)  Hier 
wird  das  Priamel  zu  eng  *)  definiert,  dort  *)  zu  weit ;  hier  lässt  man  nur 
eine  Hauptform  des  klassischen  Priamels  gelten,  ^)  dort  soll  jeder  Witz 
schon  ,eine  Priamel'  sein.  ^)  Hier  wird  es  mit  vielen  alten  Gattungen 
zusammengeworfen, ')  dort,  unfruchtbar  isoliert,  ®)  ganz  für  sich  betrachtet. 
Hier  wird  es  für  eine  Gattung  urgermanischer  Spruchweisheit  gehalten,  *) 
und  man  glaubt  sogar  ,eine  urgermanische  Priamel'  nachgewiesen  zu 
haben,"®)  dort  leugnet  man  jede  Spur  ,der  Priamel*  auch  in  der  alt- 
deutschen Dichtung  bis  gegen  das  12.  Jahrhundert.  *')  Bei  solcher  Ver- 
wirrung kann  nur  eine  vorurteilslose,  aber  auf  wirklicher  Kenntnis  des 
Materials  beruhende  geschichtliche  Betrachtungsweise  Forschung  und 
Urteil  auf  die  richtige  Grundlage  stellen.  Erhebt  man  wirklich  im 
Sinne  Herders  die  Frage  nach   dem  Ursprung  dieser  poetischen  Form, 

1)  Eine  mit  Untorstützuag  unserer  höchsten  Unterricbtsbehörde  unternommene 
Studienreise,  auf  systematische  Durchforschung  der  wichtigsten  süddeutschen  und 
österreichischen  Bibliotheken  gerichtet,  lieferte  manche  Ergänzung. 

2)  Zum  Beispiel:  Bergmann,  La  priam^le  dans  les  diiferentes  litt^ratures  an- 
eiennes  et  modernes.  Strasbourg  et  Colmar  1868,  S.  9  ff.  Separatabdruck.  Gosche, 
Archiv  für  Litteraturgeschichte -2,  280;  aber  er  verklausuliert  seine  Zustimmung.  Uhl, 
Die  deutsche  Priamel.  Leipzig  1897,  S.  120  ff.  ohne  Einschränkung. 

3)  Z.  B.  Gervinus  II  ^  126.  Scherer,  Litteraturgeschichte  S.  254.  Deutsche  Stu- 
dien I  345  ff.    EttmüUer,  Handbuch  S.  283. 

4)  Z.  B.  Wackemagel,  Litteraturgeschichte  1  ',  368.  Golther,  Geschichte  der 
deutschen  Litteratur  1,  394. 

5)  Z.  B.  Kluge,  Etymologisches  Wörterbuch,  ^  303.  Marc  Monnier,  Litteratur- 
geschichte d.  Renaissance  (Deutsche  autorisierte  Ausgabe.  Nördlingen  1888),  S.  200. 
Werner,  Lyrik  und  Lyriker  S.  545  f. 

6)  Z.  B.  Herder,  Suphan  15,  1*21  ff.  Ehrismann,  Anzeiger  für  deutsches  Alter- 
tum 25,  165  ff. 

7)  Schild,  D'r  Grossätte  us'em  Leberberg  3  ^  46.  Uhl,  Die  deutsche  Priamel  117. 

8)  Yilmar,  Geschichte  der  deutschen  Nationallitteratur,  14.  Auflage,  S.  268.  — 
Goedeke,  Grundriss  I  ^  304.  Grassberger,  Die  Naturgesch.  des  Schnaderhüpfels  54. 

9)  J.  Grimm,  Kleinere  Schriften  6,  103. 

10)  R.  M.  Meyer,  Die  altgermanische  Poesie  434.  Man  spricht  unbedenklich 
von  «der  Priamel^  als  poetischer  Gattung  in  altgermanischer  Litteratur:  W.  Grimm, 
Freidank  CXXII;  ühland,  Schriften  2,  526;  MüUenhoff,  DAK.  5,  277;  Scherer  und 
seine  Schule;  Kelle,  Geschichte  der  deutschen  Litteratur  1,  188. 

11)  Koegel,  Geschichte  der  deutschen  Litteratur  I',  182. 

NEUE  HEIDELB.  JAHRBUECTIEK  XII.  6 


82  Karl  Euling 

SO  erweitert  sich  das  Problem  zu  einem  fast  ins  unbegrenzte  verlaufen- 
den und  gewinnt  ein  beträchtliches  entwicklungsgeschichtliches  Interesse. 

Dabei  scheint  zunächst  auch  hier  der  richtige  Weg,  über  das,  was 
das  Leben  seinen  Bedürfnissen  gemäss  geschaffen  hat,  das  Leben  selbst 
zu  befragen  und  auch  das  Eingehen  auf  poetische  Formen  der  sogenannten 
Natur-  und  Halbkultur-Völker  nicht  zu  scheuen.^)  Was  die  Erzeug- 
nisse primitiver  Volksdichtung  an  poetischem  Wert  entbehren,  ersetzen 
sie  durch  ihren  wissenschaftlichen,  welcher  der  älteren  Geschichte  unsrer 
Volksdichtung  und  der  Entwicklungsgeschichte  zu  Gute  kommt.  Auch 
auf  den  Inhalt  kommt  es  dabei  oft  nicht  an.  Gewiss,  nach  lauem  Wasser 
kann  kein  Mund  je  wässern,  und  nach  A.  W.  Schlegels  Wort  mit  Gustav 
Meyer  im  Dreck  der  Menschheit  zu  patschen,  ist  kein  Vergnügen ;  aber 
bisweilen  sind  solche  Erzeugnisse  uralter  Tradition  für  die  Geschichte 
der  Form  am  lehrreichsten.  Nichts  liegt  uns  ferner  als  damit  dem 
Leser,  was  sich  Goethe  energisch  verbat,  glorios  zu  Leibe  zu  rücken. 

Das  Phantom  eines  in  mystischer  ünfassbarkeit  dichtenden  Volks- 
geistes*) wird  unsern  Weg  nicht  kreuzen,  obwohl  sich  gerade  beim  Priamel 
so  recht  ein  Hauptcharakterzug  der  Volksdichtung  wirksam  erweist:  die 
Beteiligung  und  (der  Überlieferung  gegenüber)  autoritative  Bethätigung 
Aller.  Die  gelehrte  Forschung  bedarf  ihres  Korrektivs  durch  das  Leben, 
schon  deshalb  ist  die  Volkskunde  nicht  zu  entbehren.  Aber  sie  kann 
vielleicht  noch  mehr  leisten,  wenn  es  gelingt,  Volkskunde  und  Litteratur- 
geschichte  in  engere  fruchtbarere  Verbindung  zu  setzen,  aus  jener  diese 
zu  erläutern,  dadurch  die  Grenzen  der  Litteraturgeschichte  zu  erweitern, 
ihr  Gebiet  zu  bereichern.  Erst  aus  dieser  Vereinigung  wird  eine  wirk- 
liche Geschichte  der  deutschen  Geisteskultur  hervorgehen.') 

Freilich  bleibt  auf  dem  Gebiete  einer  zum  Teil  ungeschriebenen 
Litteratur  vieles,  besonders  das  Chronologische,  problematisch,  und  wie  wenig 
zwingend  manche  Schlüsse  hier  sind,  weiss  derjenige,  der  ihr  Zustande- 
kommen mit  einiger  Aufmerksamkeit  beobachtet  hat.    Aber  das  bringt, 


1)  Zur  Methode:  M.  Bach  in  den  Sitzungäberichten  der  gelehrten  estnischen 
Gesellschaft  in  Dorpat  1883  S.  133  und  die  glänzenden  Ausführungen  Schcrers  im 
Anzeiger  1,  199.  Dagegen  z  B.  Eugen  Wolff,  Poetik  S.  27  f.  Borinski,  Deutsche 
Poetik  S.  19f.:  durch  Büchers  Erfolg  widerlegt.  Grosse,  Die  AnfA.nge  der  Kunst 
S.  ?22  ff.     Bücher,  Arbeit  und  Rhythmus  «  S.  333. 

2)  Die  Realität  der  Volksseele  rettet  Wundt,  Völkerpsychologie  I  1,  9  ff.  — 
Vierkandt,  Naturvölker  und  Kulturvölker  S.  36. 

r>)  Beachtenswert  sind  die  Bemerkungen  Vogts  im  Vorwort  zu  den  Schlesiscben 
Weihnachtsspielen  S.  IX.  Unsere  obigen  Sätze  sind  schon  vor  vielen  Jahren  ge- 
schrieben. 


Das  Priamel  83 

wie  bei  aller  Volksdichtung,  die  Natur  des  Gegenstandes  mit  sich ;  man 
wird  deshalb  nicht  auf  Berücksichtigung  nnlitterarischer  Poesie  verzichten 
können. 

Ebenso  bedenklich,  aber  auch  ebenso  lohnend  ist  die  Heranziehung 
fremder  Litteraturen.  Alle  Volksdichtung  hat  etwas  zeitlich  und  räum- 
lich Konstantes,  ebenso  sehr  dem  sich  selbst  treuen  Oeiste  eines  grossen 
Volkes  als  der  geistigen  Einheit  verwandter  Völkerfarailien  entsprechend. 
Daraus  ergibt  sich  ein  Überwiegen  des  Zuständlichen  über  das  Indivi- 
duelle und  für  die  Forschung  eine  wenigstens  theoretische  Möglichkeit 
internationaler  Zusammenhänge.  In  der  That  ist  es  unumgänglich  nötig, 
das  Eigne  durch  Fremdes,  soweit  es  verwandt,  zu  erläutern,  und  frühere 
Litterarhistoriker  haben  die  fragmentarischen  und  leicht  gezimmerten 
Gerüste  ihrer  Konstruktionen  bis  tief  in  die  Litteraturen  des  Ostens 
hineingebaut.  Im  Gegensatz  zu  dieser  Richtung  wurde  hier  hei  der 
Vergleichung  zunächst  das  Erkennen  des  Besonderen  angestrebt,  und 
lieber  das  Beispiel  eines  Grimm,  Mommsen,  Comparetti  befolgt  als  die 
heute  beliebte  etwas  skrupellose  Methode,  ohne  rechte  Ergebnisse  Alles 
mit  Allem  zu  vergleichen. 

Man  wird  vielleicht  den  Nutzen  problematisch  finden,  den  litteratur- 
geschichtliche  Betrachtungsweise  gelegentlich  aus  den  Ergebnissen  Goethe- 
schen  Denkens  zu  ziehen  gesucht  hat.  Es  ist  wahr :  historisch  im  Sinne 
der  historischen  Einzelforschung  hat  Goethe  selten  gedacht.  Seine  Kennt- 
nisse von  altdeutscher  und  altgermanischer  Litteratur  kann  heut  jeder 
Student  korrigieren.  Aber  es  gibt  eine  höhere  Art  historischer  Auf- 
fassung, die  aus  dem  Geiste  unsers  grössten  Dichters  spricht,  wenn  sie 
auf  Grund  einer  in  der  Art  nie  wieder  erreichten  weltumfassenden  und 
harmonischen  Bildung  intuitiv  die  Anfänge  aller  Poesie  mit  den  höchsten 
Errungenschaften  des  poetischen  Genius  verknüpft.  Dem  Tiefsten  und 
Verborgensten,  was  bloss  gelehrter  Forschung  meist  unerklärt  entgehen 
muss,  ist  niemand  so  nahe  gekommen,  wie  er.  Wir  sind  ihm  um  so 
lieber  nachgegangen,  als  er  uns  von  der  Last  befreit,  die  Jahrhunderte 
gelehrt  dogmatischer  Aesthetik  auf  die  Gegenwart  gehäuft  haben.  ^) 

Eine  Geschichte  des  Priamels  kann,  abgesehen  von  allen  individuellen 
Momenten,  auch  im  allgemeinen  Goethes  Forderungen  noch  nicht  er- 
füllen, wenn  er  die  Maxime  aufstellt:  „Die  Pflicht  des  Historikers  ist 
zwiefach :  erst  gegen  sich  selbst,  dann  gegen  den  Leser.  Bei  sich  selbst 
muss  er  genau  prüfen,   was  wohl  gescheiten  sein  könnte,  und  um  des 


1)  Vprprl.  Scliprer,  Poetik  289. 


g4  Karl  Euling:   Das  Priamel 

Lesers  willen  muss  er  festsetzen,  was  geschehen  sei.  Wie  er  mit  sich 
selbst  handelt,  mag  er  mit  seinen  Kollegen  ausmachen;  das  Publikum 
muss  aber  nicht  ins  Geheimnis  hineinsehen,  wie  wenig  in  der  Geschichte 
als  ausgemacht  kann  angesprochen  werden/  Vielmehr  ist  bei  dem 
heutigen  Stande  der  Forschung  eine  solche^  glatte  Darstellung  unmög- 
lich ;  auch  in  diesem  Falle  kann  nur  die  Verbindung  von  Untersuchung 
und  Darstellung  zum  Ziele  fuhren. 

Hoffentlich  gereicht  es  der  Untersuchung  nicht  zum  Nachteil,  dass 
die  Beispiele  so  reichlich  gegeben  sind.  Zunächst  sind  sie  zur  Begrün- 
dung der  aus  ihnen  gezogenen  Schlüsse  nicht  zu  entbehren,  besonders 
wenn  es  sich  darum  handelt,  die  Struktur  dieser  Gebilde  der  Volks- 
poesie zu  beurteilen;^)  dann  war  aber  auch  bei  der  ungeheueren  Ver- 
zettelung des  Materials  für  die  eine  oder  andre  Periode  des  engeren  Ge- 
bietes annähernde  Vollständigkeit  der  Belege  erwünscht.  Jakob  Grimm 
meint  einmal:  »Es  wäre  eine  schwere,  aber  würdige  Arbeit,  alle  Kraft 
altdeutscher  Sprüche  in  einem  Band  zusammenzufassen.^ ')  Mehr  als 
irgend  eine  andre  ist  die  Priamellitteratur  das  Fragment  der  Fragmente; 
aber  wer  in  romantischer  Trauer  um  das  Verlorene  die  Vergangenheit 
um  ihren  Reichtum  beneidet,  verschliesst  Aug  und  Ohr  für  die  Gegen- 
wart. Es  trifft  nicht  zu,  dass  während  der  Reformation  auch  dieser 
Nibelungenhort  des  volkstümlichen  Spruchschatzes  in  den  Rhein  sank, 
zur  Zeit,  als  die  Bauern  Psalmen  sangen,  selbst  wenn  sie  betrunken  waren. ') 
Sondern  auch  heute  noch  strömt  der  Quell  deutscher  Volkspoesie  voll 
und  reich,  wie  je;  nach  den  jüngsten  Erfolgen  einer  gründlichen  Er- 
forschung bedürfen  die  gewöhnlichen  Vorstellungen  über  das  viel  beklagte 
Verschwinden  volkstümlicher  Überlieferungen  einer  vollständigen  Um- 
gestaltung. 

Der  deutsche  Volksspruch  im  eminentesten  Sinne,  das  Priamel,  über- 
dauert alle  Formen  der  volkstümlichen  Spruchdichtung  und  besteht  bald 
die  Probe  eines  Jahrtausends,  während  der  Parzival,  der  Tristan,  das 
Entzücken  einer  ausgesuchten  hochstehenden  kleinen  Gesellschaft  in  der 
kurzen  Blütezeit  höfischer  Kunst  nach  wenigen  Generationen  um  ihre 
Wirkung  gekommen  waren. 


1)  Vergl.  Bücher,  Arbeit  und  Rhythmus  S.  VII  ^ 

2)  Kleinere  Schriften  6,  103. 

3)  Baslerische  Kinder-  und  Yolksreime  aus  der  mOndlichen  Überlieferung  ge- 
sammelt.    Basel  1857.    S.  IV. 


Bettiiie  voii  Arnim 

und  ihr  Briefwechsel  mit  Pauline  Steinhäuser. 


Von 

Karl  Obser. 


Ludwig  Geiger')  hat  unlängst  die  vielseitigen,  trotz  alles  Gegen- 
sätzlichen im  Grunde  doch  auf  innerster  Wesensverwandtschaft  beruhen- 
den Beziehungen  Bettinens  von  Arnim  zu  König  Friedrich  Wilhelm  IV 
in  anziehender  Weise  gewürdigt  und  sich  ein  Anrecht  auf  den  Dank 
aller  gebildeten  Kreise  erworben,  indem  er  ihre  bedeutsamen  und  inhalt- 
reichen Briefe  an  den  König  erstmals  veröffentlicht  hat,  —  Briefe,  die 
uns  einen  tiefen  Einblick  in  die  Eigenart  einer  der  geistvollsten  deut- 
schen Frauen  gewähren  und  von  einer  hohen,  idealen,  menschenfreund- 
lichen Gesinnung  nicht  minder,  wie  von  einem  seltenen  Freimut  in 
beredter  Sprache  zeugen.  Es  wird  darin  auch  der  gemeinsamen  Be- 
strebungen, die  Bettine  mit  dem  Bildhauer  Karl  Steinhäuser  ver- 
banden, vorübergehend  gedacht.  Ein  günstiger  Zufall  hat  es  gefügt, 
dass  mir  in  eben  den  Tagen,  da  das  Buch  erschien,  mit  dem  hand- 
schriftlichen Nachlasse  des  Künstlers')  eine  Anzahl  von  Briefen  in  die 
Hände  fiel,  die  Bettine  an  ihn  und  seine  Gattin  gerichtet.  Wenn  gleich 
auch  hier,  wie  in  der  Geiger'schen  Publikation  manches  verloren,  manche 
Lücke  zu  beklagen  ist,  so  genügt  das  Vorhandene  doch,  um  das  freund- 
schaftliche Verhältnis,  das  zwischen  beiden  Teilen  lange  Jahre  hindurch 
bestand,  und  ihr  eifriges  Zusammenwirken  in  einer  wichtigen,  weite 
Kreise  des  Volkes  bewegenden  künstlerischen  Angelegenheit  genauer  er- 


1)  L.  Geiger:  Bettine  von  Arnim  und  Friedrich  Wilhelm  IV.  Frankfurt  a.  M., 
Lilterar.  Anstalt.    1902.   220  S.  8^ 

2)  Im  Besitze  des  Herrn  Prof.  Dr.  M.  Rosenberg  in  Karlsruhe,  dem  ich  für  die 
freundliche  Überlassung  der  Briefe  auch  an  dieser  Stelle  meinen  verbindlichsten 
Dank  auszusprechen  habe. 


86  Karl  Obser 

kennen  und  verfolgen  zu  lassen,  manches  Gehässige  und  Unwahre  aber, 
was  darüber  verbreitet  worden  ist,  zu  widerlegen.  Hermann  Grimm  bat 
einmal  von  Bettinens  Schriften  gerühmt,  dass  sie  zum  Schönsten  ge- 
hören, was  je  in  deutscher  Sprache  geschrieben  worden  sei.  Das  ist 
wohl  etwas  zu  viel  gesagt.  Aber  dass  die  seltene  Frau,  der  ein  Goethe 
einst  bekannt,  dass  er  ihr  nichts  zu  geben  vermöge,  da  sie  sich  selbst 
alles  schaffe  oder  nehme,  in  ihren  Briefen  ihr  Bestes  geboten,  das  wer- 
den auch  die  vorliegenden  Schriftstücke  erweisen,  in  denen  sich,  wie  in 
allem,  was  ihrer  Feder  entstammt,  der  volle  Reichtum  ihres  Geistes  und 
Gemüts  offenbart,  und  ihre  Mitteilung  dürfte  daher  auch  als  ein  be- 
scheidener Beitrag  für  eine  künftige  Biographie  Bettinens  willkommen  sein. 
Die  Beziehungen  der  Steinhäusers  zu  dem  Hause  Arnim  reichen 
zurück  in  den  Anfang  der  dreissiger  Jahre.  Als  Karl  Steinhäuser^) 
nach  Berlin  kam,  stand  er  noch  im  jugendlichen  Alter.  Er  war  ge- 
boren zu  Bremen  am  S.Juli  1814.')  Sein  Vater,  ein  tüchtiger  Bild- 
schnitzer, hatte  frühe  die  fränkische  Heimat  verlassen,  war  zur  Aus- 
bildung in  seinem  Berufe  weit  in  der  Welt  herumgewandert  und  hatte 
dann  in  der  Hansastadt  sein  Heim  gegründet.  In  Kopenhagen,  wo  er 
die  Eltern  Bertel  Thorwaldsens  kennen  gelernt,  war  er  einst  Zeuge  ge- 
wesen der  tiefen  Rührung,  mit  der  die  schlichten  Leute  die  Nachricht 
von  dem  ersten  grossen  Erfolge  ihres  Sohnes  vernommen.  Mit  freu- 
digem Stolz  hatte  auch  er  in  dem  eigenen  Knaben,  dem  er  in  seiner 
Werkstätte  die  erste  Anleitung  erteilt,  vielversprechende  künstlerische 
Anlagen  entdeckt  und  nach  Kräften  zu  f5rdern  gesucht.  Die  ersten 
MoJellierungsversuche  Karls  fanden  ermunternden  Beifall;  er  erhielt  vom 
Senate  den  Auftrag,  die  Büste  des  Astronomen  Olbers  nach  dem  Leben 
zu  modellieren,  und  Christian  Rauch  war  von  dem  Modelle  so  befriedigt, 
dass  er  darnach  die  Ausführung  in  Marmor  übernahm  und  den  talent- 
vollen jungen  Künstler  einlud,  als  Schüler  in  sein  Atelier  einzutreten. 
So  erfolgte  1831  Steinhäusers  Übersiedelung  nach  Berlin,  wo  er  sich 
unter  Rauchs  Leitung  eifrig  an  den  Arbeiten  für  die  Kelheimer  Wal- 
halla zu  beteiligen  begann.    Sein  erstes  selbständiges  Werk,  die  Marmor- 


1)  über  Steinhäuser  vergl.  v.  Weecb,  Bad.  Biographien,  3,  181;  Allg. 
Deutsche  Biographie,  35,  716;  Nagler,  Kunstlerlexikon,  17,  290;  Singer, 
Künstlerlexikon,  4,  335.  Die  in  diesen  Werken  enthaltenen  Angaben  sind  fibrigens 
vielfach  dürftig  und  unrichtig;  ich  folge  hier  im  wesentlichen  der  Lebensskizze,  die 
der  Architekt  H.  Müller  bei  der  Trauerfeier  für  Steinhäuser  im  Bremer  Künstler- 
verein gegeben  hat  (Bremer  Courier  vom  25.  Dez.  1879;. 

2)  Nicht  1813,  wie  meist  irrig  angegeben  wird.  Auszug  aus  dem  Totenbuch 
der  St  Stefanspfarrei  zu  Karlsruhe. 


B-T! 


Betline  v*»n  Arnim  und  ihr  Briefwechsel  mit  Pauline  Steinhäuser  87 

statue  des  «KrebsfäDgers*',  die  in  der  Gefälligkeit  der  Komposition  und 
der  sichern  Behandlung  der  Formen  schon  die  Vorzuge  seiner  späteren 
Schöpfungen  verriet,  erregte  Aufsehen  und  fand  rasch  einen  Käufer. 
Sein  Name  wurde  genannt,  seine  Erfolge  verschafften  ihm  Zutritt  zu 
allen  kunstsinnigen  Kreisen.  So  kam  er  auch  in  das  Haus  Bettinens, 
in  deren  Salons  sich  damals  alles  versammelte,  was  auf  Geist  und  Bil- 
dung Anspruch  machte,  und  der  Umgang  mit  der  in  künstlerischen 
Dingen  wohl  bewanderten  und  feinfühlenden  Frau,  die  seit  ihren  Mädchen- 
jahren selbst  gerne  zeichnete,  malte  und  modellierte,  wirkte,  wie  be- 
richtet wird,  vielfach  anregend  und  befruchtend  auf  die  Seele  des  jungen 
Bildhauers.  Für  die  künftige  Gestaltung  seines  Lebens  aber  wurde  der 
Verkehr  in  dem  gastfreundlichen  und  kunstliebenden  Hause  vor  allem 
dadurch  von  Bedeutung,  dass  er  an  der  Seite  Bettinens  eine  junge 
Malerin  kennen  lernte,  Pauline  Franke,^)  und  die  tiefe  Herzensneigung, 
durch  die  sich  beide  einander  verbunden  fühlten,  schon  1834  zur  Ver- 
lobung führte.  Die  Tochter  eines  meklenburgischen  Superintendenten, 
aufgewachsen  in  den  streng  kirchlichen  Anschauungen  und  Überliefe- 
rungen des  Elternhauses,  war  sie  nach  Berlin  gezogen,  erfüllt  von  dem 
glühenden  Wunsche,  ein  unverkennbares  Talent  zur  Beife  zu  bringen 
und  sich  zur  Künstlerin  auszubilden.  Die  ihr  später  als  der  Gattin 
Steinhäusers  begegnet,  rühmen  an  ihr  reiche  Gaben  des  Geistes  und 
Gemütes;  „eine  edle  und  hohe  Seele,  voll  tiefer  Frömmigkeit,  voll  Be- 
geisterung für  alles  Erhabene,  Echte  und  Schöne**,  —  urteilt  Wilhelm 
Lübke.')  Diese  Grundzüge  ihres  Wesens  treten  schon  in  ihrem  Brief- 
wechsel aus  der  Brautstandszeit  hervor,  vor  allem  der  frommgläubige 
Sinn,  dem  Religion  und  Liebe  in  eines  verschmelzen,  der  in  der  Religion 
das  hohe  Ideal  erblickt,  dem  alle  Kunst  dienen  müsse.  Nach  ihrer  Ge- 
sinnung und  ihrem  künstlerischen  Glaubensbekenntnisse  steht  sie  wohl 
ihrer  hochverehrten  Lehrerin  Luise  Seidler  und  Marie  EUenrieder  am 
nächsten,')    und    ihrem   Einflüsse   ist    es    zweifellos   wesentlich   zuzu- 


1)  Über  Pauline  Steinhäuser-Franke  (geb.  zu  Güstrow  26.  Dez.  1810,  gest.  zu 
Karlsruhe  21.  Juni  IS66.  Auszug  aus  dem  Totenbuch  der  St.  Stefanspfarrei)  vergl. 
Nag! er,  Künstlerlexikon,  27,  290;  Singer,  "Künstlerlexikon,  4,  336;  J.  von  Kopf, 
Lebenserinnemngen  eines  Bildhauers,  54. 

2)  Wilh.  Lübke  an  Paulinens  Tochter,  Frau  M.  Bellardi,  29.  Juni  1866.  Nach- 
lass  St. 

3)  Vergl.  Uhde,  Erinneningen  und  Leben  der  Malerin  Luise  Seidler,  446,  und 
die  dort  mitgeteilte  Stelle  aus  einem  Briefe  Paulinens.  —  In  einem  hübschen  Auf- 
satze, dessen  Konzept  sich  im  Nachlass  Steinhäusers  befindet,  hat  sie  ihre  Anschau- 
ungen über  die  verschiedenen  Kunstrichtungen  ihrer  Zeit  niedergelegt.  Die  eigentliche 
Bestimmung  der  Kirnst  erblickt  sie  hier  in  der  „Heiligung  und  Verklärung  der  sinn- 


88  Karl  Obser 

schreiben,  dass  Karl  Steinhäuser  in  den  beiden  letzten  Jahrzehnten  seines 
Lebens  sich  vorwiegend  der  christlich-kirchlichen  Kunstrichtung  zuge- 
wandt hat.  Vertraut  mit  der  Ideenwelt  der  Romantiker,  hatte  sie  sich, 
als  sie  nach  Berlin  kam,  an  Bettine  angeschlossen;  trotz  dem  Unter- 
schied der  Jahre  begegneten  beide  sich  in  ihren  Sympathien,  und  Bet- 
tine nahm  sich  der  jungen  Kunstnovize  mit  wahrhaft  mütterlicher 
Freundschaft  an.  Diese  Beziehungen  bestanden  auch  ungetrübt  fort, 
als  Pauline  Franke  sich  im  Herbst  1834  durch  häusliche  Verhältnisse 
gezwungen  sah,  ihren  Berliner  Studien  schweren  Herzens  vorläufig  zu 
entsagen  und  in  die  Heimat  zurückzukehren.  Bald  nach  ihrer  Abreise 
hat  Bettine  der  Freundin,  deren  Umgang  sie  schmerzlich  vermisste,  ge- 
schrieben: es  ist  der  erste  der  vorliegenden  Briefe,  die  mit  einer  Aus- 
nahme sämtlich  an  Paulinens  Adresse  gerichtet  sind.  Er  trägt  das 
Datum  „am  ISten*'  und  fällt,  wie  die  Ankündigung  ihres  Buches  — 
„Goethes  Briefwechsel  mit  einem  Kinde*  —  lehrt,  in  einen  der  beiden 
letzten  Monate[^des  J.  1834.  Die  Klage  um  den  Tod  Schleiermachers, 
dem  die  vielfach  verkannte  Frau  vertraute  und  der  sie  verstand,  klingt 
in  ihm  noch  nach.  Durch  ermunternden  Zuspruch  sucht  sie  die  Freun- 
din an  ihren  künstlerischen  Idealen  festzuhalten. 

1. 

Am  löten  [Nov.  oder  Dez.  1834]. 

War  wegen  Paulinens  kranker  Schwester  Auguste^)  bei  Dr.  Stuler 
und  hat  seinen  Rat  wegeti  Behandlung  der  Patientin  eingeholt. 

Ich  vermisse  Sie^sehr.  Wären  Sie  hier,  ich  wäre  schon  zwanzig 
mal  bei  Ihnen  gewesen,  obschon  ich  kaum  zu  mir  selbst  komme  vor 
vielen  Besorgungen.  Max*)  und  Arragard^)  sind  jetzt  hier,  und  so 
sind  die  Sieben^Kinder  an  einem  Tisch  und  hauen  tüchtig  in  die  Brocken 
ein.  Das  ist  ihre  beste  Kunst  und  dabei  machen  sie  einen  fürchter- 
lichen Lärm,  dass  einem  Hören  und  Sehen  vergeht,  wenn  sie  alle  Sieben 
lachen,  dann  möcht  ich  weinen ;  ich  komme  mir  vor  wie  die  gefangene 


liehen  Natur" ;  die  christliche  Kunst,  die  ihr  hiiher  steht  und  älter  ist,  als  die  übrigen 
Richtungen,  darf  darum  nicht  auf  sinnliche  Wahrheit  und  technische  Vollendiuig  ver- 
zichten. 

1  )^ Auguste  Franke,  später  Vermählt  mit  dem  Leiter  des  deutschen  archäologischen 
Instituts' in  Rom,  Prof.  Dr.  Wilhelm  Henzen  (1816—1887). 

2)  Maximiliane  von  Arnim,   die  älteste  Tochter  Bettinens  (1818—1894),  spater 
Gemahlin  des  kgl.  preuss.  Tieneralleutnants  (irafen  Eduard  Oriola. 

3)  Armgard  von  Arnim  (18*22—1880),  später  vermählt  mit  dem  kgl.  preuss.  Ge- 
sandten am  Karismher  Hofe,  Albert  Grafen  von  Flennning. 


Bettine  von  Arnim  und  ihr  Briefwechsel  mit  Pauline  Steinhäuser  g9 

Psyche.  Keiner  weiss,  was  ich  will,  was  ich  denke,  was  ich  bedarf. 
Die  Leute  leben  ihr  Leben,  und  weil  das  meine  nicht  zu  dem  ihren 
passt,  so  hält  man  mich  gradezu  für  unsinnig  und  verkehrt.  An  meinen 
Schleiermacher  ^)  denke  ich  oft,  dem  könnte  ichs  sagen  und  mir  da- 
durch deutlich  machen,  was  ich  alles  in  mir  gewahr  werde  und  was 
alles  auf  den  Ursprung  und  das  psychische  des  Geistes  geht,  dem  würde 
ichs  aussprechen;  mir  zu  lieb  kann  ichs  nicht.  Alles  lässt  sich  ver- 
einfachen und  hierdurch  der  Wahrheit  näher  rücken  und  erst  die  aller- 
jüngste  Einfachheit  ist  Wahrheit  und  giebt  der  Seele  den  Begriff,  der 
ihr  unmittelbare  Nahrung  wird,  wie  ich  glaube,  dass  die  unmittelbare 
Wahrheit  gleich  sich  in  die  Sele  verwandelt,  und  wenn  das  wäre,  dann 
wäre  alles  gut  und  die  Erlösung  hätte  sich  ins  ganze  menschliche  Da- 
sein aufgelöst  und  war  keine  Geschichte  mehr,  die  ausser  mir  läge  und 
die  wir  nie  begreifen,  so  viel  Mühe  wir  uns  auch  geben.  Ich  meine: 
wenn  der  Geist  für  alles  strebt,  was  die  Sele  bedarf,  das  war  das  rechte 
Leben,  und  wenn  die  Sele  nie  ihrem  innern  Willen  ungetreu  würde,  so 
dass  sie  noch  im  lezten  Augenblick  den  Instinkt  der  frühsten  Segungen 
habe,  dann  sey  das  beste,  was  wir  hier  nicht  erwerben  konnten,  für  die 
Zukunft  erworben.  Das  sag  ich,  weil  ich  so  dran  denk,  wie  Sie  gerne 
malen  möchten  und  welche  Schwierigkeiten  sich  Ihnen  entgegenstellen 
und  wie  auch  mir  sich  Schwierigkeiten  entgegenstellen  bei  allem,  was 
mir  lieb  ist;  ich  habe  aber  bemerkt,  diese  innere  Treue  ist  der  lern- 
samste  Weg  und  kein  andrer  ist  besser.  So  mancher  hat  grosse  Fort- 
schritte gemacht  blos  aus  Sehnsucht  und  Liebe  zur  Sache,  während  er 
bei  angestrengster  Übung  nichts  lernte.  Das  behalten  Sie  mir  ja  im 
Herzen,  dass  nichts  verloren  ist,  sobald  wir  nichts  verloren  geben.  Es 
ist  eine  gar  gewaltige  Sache,  wenn  wir  uns  mit  Leidenschaft  an  etwas 
hängen,  was  scheinbar  nur  eine  Sache  ist  (wie  die  Kunst) ;  dann  können 
wir  sicher  sein,  dass  unsere  Seele  geneigt  ist  mit  Geistern  zu  leben  und 
dass  sie  es  durch  Treue  auch  durchsetzen  wird,  dass  der  Geist  mit  ihr 
in  der  Liebe  lebt;  ja  alle  Versuche  in  der  Kunst  sind  Liebschaften  mit 
den  Geistern,  denen  wir  das  bessere  abgewinnen,  indem  wir  uns  ihr  aufs 
zärtlichste  einschmeicheln  und  Beethoven  hat  das  meiste  Glück  in 
dieser  Liebe  gehabt  von  allen,  die  ich  kenne.  Da  können  Sie  aber  auch 
gleich  sehen,  wie  tölpisch  sich  mancher  dabei  nimmt.  Am  schlimmsten 
hat  diesmal  Hansel')  um  die  Gunst  der  Geister  gefreit.   Sein  abscheu- 

1)  Ülier  Bettinens  Beziehungen  zu  Schleiermacher,  der  ihre  Söhne  konfirmierte, 
vergl.  H.  Grimm   im  Goethe- Jahrbuch,  I,  5.     Ihr   Briefwechsel  ist   noch    ungedruckt. 

2)  Wilhelm  Hensel  (1794—1861),  Historien-  und  Bildnismaler,  Professor  an  der 
Berliner  Kunstakademie.    Singer,  Künstlerlexikon,  2,  160. 


90  Karl  Obser 

lieh  grosses  Bild  machte  den  Baum,  wo  es  hing,  zu  einer  unangenehofien 
Gegend,  die  man  gerne  vermied;  er  und  seine  Frau  hatten  unterdessen 
das  Ausstellungs-Fieber  im  höchsten  Orade  und  hofften  jeden  Augen- 
blick, es  würde  verkauft  werden,  aber  leider  Gottes  ist  die  gemalte 
Judengesellschaft  zu  der  ungemalten  zurückgekehrt,  ohne  sich  zu  ver- 
silbern; wer  weiss  nun,  wenn  Hansel  diesen  Gegenstand  der  Verzweif- 
lung los  wird.  Versäumt  haben  Sie  nichts  auf  der  Ausstellung  auser 
ein  paar  herrlichen  Landschaften  und  das  beste  Bild,  eine  Frau  mit 
einem  schlafenden  Kind  betend,  von  Maes,^)  doppelte  Beleuchtung  einer 
Kircbenampel  und  Sonnenlicht,  wunderbar  schön,  halbdunkel,  —  man 
wusste  nicht  wars  Licht  oder  Schatten,  was  diese  Figur  hervorhob. 
Wären  Sie  hier  gewesen,  so  müssten  Sie  es  kopieren,  Sie  hätten  mehr 
gelernt  für  eignen  Bedarf  wie  von  Tizian,  ich  will  nicht  sagen  Coregio. 

Adieu  Bettine. 

Soll  ich,  wenn  ich  eine  Wohnung  miethe,  auf  Sie  rechnen,  wenn  es 
möglich  ist.  Es  wäre  mir  ganz  recht  wieder  mit  Ihnen  in  einem  Haus 
zu  wohnen,  man  könnte  sich  gegenseitig  erleichtern.  Ich  geh  die  Kunst 
noch  nicht  auf;  mein  Buch^)  kommt  14  Tag  nach  Neujahr.  Grüssen 
Sie  Ihre  Mutter  und  liebe  Schwester.  am  löten. 

Mit  einem  kurzen  Billet  aus  dem  Herbst  des  folgenden  Jahres  ent> 
schuldigt  Bettine,  dass  sie  ein  Schreiben  Paulinens  nicht  ausführlicher 
beantworte;  „Goethes  Briefwechsel,  der  inzwischen  erschienen  war, 
ungeheures  Aufsehen  erregte  und  der  Verfasserin  mit  einem  male  einen 
Ehrenplatz  in  der  deutschen  Litteratur  eroberte,  soll  ihr  in  Bälde 
zugehen. 

2. 

3.  Okt.  1835 

Meine  gute  Frank,  ich  habe  in  dieser  Zeit  keine  Ihnen  zu  ant- 
worten. Mein  Buch  schicke  ich,  wie  ich  von  einer  Beise  zurückkehre, 
die  ich  mit  Savignys^)  auf  das  Land  mache;  sie  suchen  Trost  in  der 
Einsamkeit,  sie  haben  eine  Tochter  in  Griechenland  verlohren.  Der 
Posten,  ihr  Tröster  zu  sein,  fällt  mir  schwer,  aber  was  schwer  ist,  ge- 


1)  Jan  Baptist  Maes  (1794 — 1856),  aus  Gent  gebürtig.  Das  hier  besprochene 
Bild  ist  wohl  die  „betende  römische  Bäuerin",  die  sich  jetzt  im  Besitz  der  Münchner 
Pinakothek  befindet.     Singer,  a.  a.  0.,  III,  75. 

2)  „Goethes  Briefwechsel  mit  einem  Kinde**,  dessen  Vorrede  vom  August  1S34 
datiert,  dessen  Ausgabe  si<'h  aber  l)is  zum  Frühjahr  1835  verzögerte. 

3)  Karl  Friedrich  von  Savigny,  der  berühmte  Rechtsgelehrte,  war  vermählt  mit 
Kunigunde  Brentano  und  Schwager  Bettinens. 


■n 


Bettme  von  Arnim  und  ihr  Briefwechsel  mit  Pauline  Steinhäuser  91 

lingt.  Das  wissen  wir  beide.  Adieu.  Wollen  Sie  wieder  herkommen 
(was  ich  Ihnen  rathe,  weil  Sie  mir  abgehen),  so  finden  Sie  die  alten 
Verhältnisse  in  meinem  Herzen 

Bettine  Arnim 
am  3ten  October 
1835. 

Damit  bricht  der  Briefwechsel  für  einige  Zeit  ab ;  wenigstens  haben 
sich  unter  dem  Steinhäuser'schen  Nachlasse  aus  den  nächsten  acht  Jahren 
Briefe  Bettinens  nicht  vorgefunden,  wenngleich  manches,  was  sich  in 
diesem  Zeiträume  ereignete,  bei  den  herzlichen  Beziehungen  zwischen 
beiden  Teilen  einen  brieflichen  Verkehr  wahrscheinlich  macht. 

Die  Hoffnung  Bettinens  auf  eine  Bückkehr  der  Freundin  nach 
Berlin  sollte  sich  nicht  erfüllen.  Pauline  Franke  wurde  zunächst  in  der 
mecklenburgischen  Heimat  festgehalten,  nach  dem  Tode  der  Mutter  war 
sie  dort  unentbehrlich.  Karl  Steinhäuser  aber  weilte  seit  dem  Herbst 
1835  in  Rom,  die  Munifizenz  einiger  Bremer  Kunstfreunde  hatte  ihm 
die  Mittel  zu  einem  längeren  Aufenthalte  in  dem  Lande  seiner  Sehn- 
sucht gewährt.  Die  grossen  Vorbilder  der  Antike,  in  deren  Studium  er 
sich  versenkte,  übten  eine  tiefe  Wirkung  auf  ihn  aus.  Es  begann  für 
ihn  eine  Zeit  sorgenfreien,  glücklichen  Schaffens,  die  ihn  von  Erfolg  zu 
Erfolg  trug.  In  rascher  Folge  entstand  eine  Anzahl  seiner  besten 
Werke:  Genrefiguren,  wie  das  bekannte  Muschelmädchen,  der  Angel- 
fischer, der  Violinspieler  und  der  Hirte  mit  dem  Lamm,  zwei  prächtige 
Marmorreliefs,  von  denen  das  eine  Psyche,  das  andere  Amor  darstellt, 
der  von  einer  Löwin  gesäugt  wird,  während  Venus  die  herandrängenden 
Jungen  abwehrt,  —  vor  allem  aber  eine  seiner  herrlichsten  Schöpf- 
ungen, der  selbst  Thorwaldsen  seine  offene  Bewunderung  nicht  versagte, 
die  Gruppe  von  Hero  und  Leander,  in  der  er  das  Hohelied  seiner  Liebe 
in  ergreifender  Weise  verkörperte.  Die  günstige  Gestaltung  seiner 
äussern  Lebenslage  gestattete  dem  jungen  Meister,  nach  langer  Warte- 
zeit seinen  sehnlichsten  Wunsch  zu  befriedigen  und  einen  eigenen  Herd 
zu  begründen.  Im  J.  1841  folgte  Pauline,  von  ihrer  Schwester  Auguste 
begleitet,  seinem  Bufe  und  wurde  in  der  ewigen  Stadt,  die  ihnen  die 
zweite  Heimat  wurde,  die  Seinige.  Auch  sie  fand  für  ihre  künst- 
lerischen Bestrebungen  auf  dem  klassischen  Boden  neue  Nahrung.  Mit 
Eifer  widmete  sie  sich  ihren  Studien ;  als  erstes  grösseres  Gemälde  ent- 
stand eine  „Esther*^,  die  sich  schmückt,  um  vor  König  Ahasverus  zu 
erscheinen. 


92  Karl  Obser 

Dieses  Bild  ist  es,  an  das  ihr  Briefwechsel  mit  Bettinen  wieder 
anknüpft.  Pauline  Steinhäuser  mochte  wohl  wünschen,  dass  der  König 
es  sehe,  wenn'  es  zur  Ausstellung  nach  Berlin  gesandt  werde ;  auch  An- 
liegen anderer  Art,  die  ihren  Mann  betrafen,  die  wir  aber  nicht  näher 
kennen,  beschäftigten  sie.  Sie  kannte  die  einilussreichen  Bjeziehungen 
der  Frau  von  Arnim  zu  Friedrich  Wilhelm  IV.  und  ersuchte  sie  daher, 
im  Vertrauen  auf  die  alte  Freundschaft,  um  ihre  Vermittlung.  Mit 
Freuden  ging  diese  darauf  ein.  Geiger,  der  das  Schreiben,  welches 
Bettine  in  dieser  Angelegenheit  an  den  König  richtete,  zum  erstenmal 
veröffentlicht  hat,')  ist  geneigt,  dasselbe  in  das  Ende  der  vierziger 
Jahre  zu  verlegen,  giebt  aber  zu,  dass  es  wohl  auch  einer  früheren 
Zeit  angehören  könne.  Im  Zusammenhang  mit  dem  Folgenden  kann 
kein  Zweifel  darüber  bestehen,  dass  es  in  die  ersten  Monate  des  J.  1843 
fällt.  Bettine  legte  den  Brief  der  Freundin  dem  Könige  vor.  „Er  ist 
geschrieben,  bemerkte  sie,  von  einer  jungen  Künstlerin,  die  in  ihren 
frühsten  Anlagen  schon  weit  über  das  gewöhnliche  Talent  hinausragte. 
In  diesem  Augenblick  malt  sie  eine  Ester,  die  sich  schmückt,  um  vor 
dem  König  Ahasverus  die  Anliegen  seines  Volkes  darzulegen."  Ein 
kurzer  Bescheid  Friedrich  Wilhelms  IV.  Hess  Gutes  hoffen,  und  Btttine 
beeilte  sich,  den  Freunden  in  Rom  davon  in  einem  Briefe  Kunde  zu 
geben,  aus  dem  ihre  warme  Verehrung  für  den  König  spricht. 

3. 

[2.  März  1843] 
„Wegen  Ihres  Künstlerpaares  werde  ich  nach  Rom  schreiben  und 
hier  den  Rauch  befragen.     Ich   hoffe  Ihnen  bald  gute  Kunde  geben  zu 
können.  Friedrich  Wilhelm.* 

Liebe  Pauline.  Am  26t«n  Februar  schrieb  mir  die  obigen  Zeilen 
der  König  in  Bezug  auf  Sie  beide.  Ich  hoffe,  dass  sie  Ihnen  neues 
Lebensfeuer  zuströmen  werden  und  dass  die  Hoffnung  auch  auf  dem 
Gesicht  Ihrer  Ester  blühen  werde.  Von  dieser  Ester  hab  ich  dem 
König  geschrieben  und  habe  das  (was  ich  ja  auch  immer  in  Ihren 
Kunstversuchen  herausfühlte)  von  Ihnen  gesagt.  Ich  weiss,  wie  oft 
eine  heilige  Energie  einem  überkommt  schon  bei  der  Ahnung  verstanden 
zu  werden.  Mögte  dies  Gefühl  Ihnen  die  bitteren  Stunden  abkürzen. 
Alles  was  Sie  haben  mit  Sorgen  erleben  müssen,  wird  auch  nicht  ohne 
Vortheile  für  Sie  beide  sein. 

1)  a.  a.  0.  192. 


Bettine  von  Arnim  und  ihr  Briefwechsel  mit  Pauline  Steinhäuser  93 

Was  kann  ich  Ihnen  noch  sagen?  —  Ich  will  mich  eilen,  den 
Brief  abzuschicken,  besseres  als  die  lieben  ersten  Zeilen  kann  ich  Ihnen 
ja  doch  nicht  geben!  Liebe  Pauline!  Da  es  mir  nun  mit  so  leichter 
Mühe,  ja  mit  Genuss  gelungen  ist,  kann  ich  Ihnen  nur  dafür  danken, 
dass  Sie  mich  ausersehen  baben  und  keinen  Andern.  Wenn  Sie  denn 
doch  gern  mit  dem  lieben  Gott  zu  thun  haben,  so  empfehlen  Sie  ihm 
den  König  recht  heiss  und  innig.  Seufzer  und  Wünsche  für  das  Wohl 
geliebter  und  geheiligter  Personen  sind  so  naturgemäss  der  Dankbarkeit 
und  Liebe,  dass  sie  doch  zu  etwas  nützen  müssen  und  so  denk  ich  mir, 
dass  sie  allenfalls  magnetisch  die  Luft  schwängern  und  so  sich  gegen- 
seitig verstärken,  so  dass  zulezt  eine  ganze  Atmosphäre  solcher  Herzens 
steigernden  Gefühle  sich  bilde,  in  der  eben  Fürsten  nur  gedeihen  können. 
Und  besonders,  liebe  Pauline,  unser  König  hats  vor  Andern  nötig  ge- 
hoben und  getragen  zu  sein  von  echten  Gefühlen  der  Begeisterung,  nicht 
von  unechten,  die  ihn  immer  umgleisen  und  nur  sich  selbst  auf  dem 
Gipfel  erhalten  wollen,  indem  sie  aber  doch  gewiss  sind,  dass  sie  weder 
Geist  noch  Glück  haben. 

Dass  Sie  in  Rom  sind  und  doch  seufzen  nach  dem  Vaterland! 
Und  ich  mein,  dass  zu  meinem  Glük  nichts  anders  dienlich  sei,  als 
blos  die  unendlich  blaue  Himmelswiese  über  der  heissen  Erde  zu  be- 
schauen, wärend  die  Pflanzen  im  Mittagschlummer  ihr  Haupt  senken, 
und  da  so  mit  ihnen  zu  ruhen,  bis  der  Thau  wieder  ihr  stilles  Leben 
erfrischt  und  ihre  feinen  schwankenden  Arme  badet  und  die  Nachtluft 
sie  wieder  kühlt.  So,  mein  ich,  möcht  ich  in  Italien  ganz  befriedigt 
leben,  und  die  Schleussen  meiner  Gedanken  würden  dann  reichlichen 
Seegen  zuströmen  lassen. 

Was  man  Glük  der  Erde  nennt,  wenn  es  einmal  nicht  mehr  das 
Ziel  unserer  Wünsche  ist,  so  wächst  man  gleich  darüber  hinaus;  ich 
zum  wenigsten  könnte  nicht  wieder  zu  dem  zurückkehren.  Die  Geistes- 
flamme  verzehrt  die  Lebens-  und  Glücksreitze.  Begeisterung  für  Ruhm 
findet  keine  Nahrung  in  mir.  Nun  das  war  auch  kaum  mehr  thunlich 
für  gesunden  Geist  auf  einer  Steppe,  wo  keine  edle  Pflanze  ihrer  Wurzel 
Nahrung  findet.    Wie  soll[*)te  da]  der  Lorbeer  sich  gefallen! 

Ich  grüsse  Sie  herzlich 

Bettine  Arnim, 
am  2ten  März 

1843 

Adr:    Signor  Steinhäuser 

Caffe  greco        Roma 

1)  Riss  und  Lücke  im  Papier. 


94  Karl  Obser 

Der  König  hielt  Wort.  Als  die  ,  Esther*  1844  zur  Ausstellung 
nach  Berlin  wanderte  und  durch  Bettine  ihm  vorgestellt  wurde,  fand 
sie  seinen  Beifall  und  ging  in  seinen  Privatbesitz  über.')  Auch  weiter- 
hin scheint  Bettine  die  befreundete  Künstlerin  nach  Kräften  gefördert 
zu  haben :  in  einem  Schreiben  an  den  königl.  Geheimkämmerer  Schöning 
giebt  Steinhäuser  wenigstens  der  Hoffnung  Ausdruck,  dass  es  seiner 
Frau  vergönnt  sein  möge,  ,,eine  gelungenere  Leistung,  wozu'Fraa  von 
Arnim  ihr  gefälligst  die  Zeichnung  entworfen  hat,  nämlich  eine  Iphi- 
genie,  die  bald  fertig  sein  würde,  Seiner  Majestät  später  vorlegen  zu 
dürfen^.  Das  Bild  ist  dann  in  der  That,  und  zwar  zweifellos  durch 
Vermittlung  Bettinens,  vom  Könige  erworben  worden,  ebenso  wie  später- 
hin ein  «Christus  mit  der  Samariterin  am  Brunnen '',  der  sich  in  einem 
der  königlichen  Schlösser  befinden  soll.  Von  den  Bemühungen  Bettinens 
wegen  eines  vierten  Gemäldes,  das  den  „Genius  der  Rebe^  darstellte, 
wird  in  dem  folgenden  Briefe,  den  wir  mitteilen,  die  Bede  sein. 

Aber  auch  der  Interessen  Steinhäusers  nahm  sie  sich  mit  all  dera 
Eifer  an,  den  sie  stets  entfaltete,  wenn  es  ein  gutes  Werk  zu  tbun 
galt.  Ihrer  Fürsprache  hatte  der  Meister  es  mit  zu  verdanken,  dass 
jene  Marmorstatue,  die  unter  dem  Namen  des  „Muschelmädchens*  be- 
kannt geworden  ist,  —  ein  junges  Mädchen  voll  Anmut  hält  eine  Mu- 
schel ans  Ohr  und  lauscht  erstaunt  ihrem  Brausen  —  im  königlichen 
Museum  Aufnahme  fand  (1843).')  Die  Vermutung  liegt  nahe,  dass  die 
hochherzige  Frau  auch  bei  späteren  Erwerbungen  mitgewirkt  hat,  so 
vor  allem,  als  es  sich  um  den  Ankauf  der  Gruppe  von  „Hero  und 
Leander'  handelte,  die  heute  im  königl.  Palais  steht.  Da  Karl  Stein- 
häuser im  Frühjahr  1846  auf  kurze  Zeit  nacl)  Deutschland  zurückkehrte 
und  im  Mai  in  Berlin  verweilte,  ist  es  möglich,  dass  damals  eine  Ver- 
einbarung darüber  getroffen  wurde.  Jedenfalls  wissen  wir,  dass  er  mit 
seiner  Frau  Bettine  besuchte  und  die  alten  herzlichen  Beziehungen  er- 
neuerte. Bei  diesem  Anlass  kam  —  wohl  zum  erstenmale  —  auch  eine 
Angelegenheit  zur  Sprache,  die  beide  Teile  fortan  lebhaft  beschäftigte 
und  auf  die  wir,  da  sie  in  allen  folgenden  Briefen  eine  bedeutsame 
Rolle  spielt,  etwas  näher  eingehen  müssen. 

1)  Nagler,  17,  201. 

2)  Undatiertes  Konzept,  aus  dem  J.  1844. 

Jj)  Steinhäuser  hatte  die  Skizze  nach  Italien  mitgenommen ;  1838  war  das  Gips- 
modell aufgebaut,  1841  die  Ausführung  in  Marmor  vollendet.  Das  Original  gelangte 
nach  Bremen  in  den  Besitz  des  Senators  Lürmann,  nach  Berlin  eine  Wiederholung. 
für  die  er  1500  Thaler  erhielt.     Nach  den  nachgelassenen  Papieren. 


Bettine  von  Arnim  nnd  ihr  Briefwechsel  mit  PauUne  Steinhäuser  95 

Es  handelt  sich  um  den  Plan  eines  Goethedcnkmals,  mit  dessen 
Schicksalen  ein  gut  Stück  Lebens-  und  Leidensgeschichte  Bettinens  ver- 
knüpft ist.    Anfangs  der  20  er   Jahre  hatte  sich  auf  Anregung   von 
Sulpice  Boisser^  ein  Ausschuss  in  Frankfurt  gebildet,  der  dem  Dichter 
ein   Denkmal   in   seiner  Vaterstadt  zu   errichten   beschloss.')    Bettine 
hatte  den  Gedanken  begierig  aufgegriffen;  in  Erinnerung  an  eine  Be- 
gegnung mit  Goethe  in  Böhmen  war,  wie  sie  erzählt,  der  Entwurf  ent- 
standen, der  späterhin  als  Titelbild  aus  ihrem  »Briefwechsel*  allgemein 
bekannt  geworden  ist :  der  Dichterfürst  auf  seinem  Throne,  mit  nacktem 
Oberkörper,   den  Mantel  über  die  Schultern  zurückgeschlagen,   mit  der 
Leier  in  der  Linken,  vor  ihm  die  zierliche,  mädchenhafte  Psyche,   die 
in  die  Leier  greift.  Wir  kennen  das  Urteil  Goethes  über  die  Zeichnung, 
die  ihm  vorgelegt  wurde.    »Die  Skizze  der  Frau  von  Arnim  — •  schrieb 
er,  im  Gegensatz  zu  dem,  was  Bettine  berichtet,  an  Staatsrat  Schulz  — 
ist  das  wunderlichste  Ding  von  der  Welt;  man  kann  ihr  eine  Art  Bei- 
fall nicht  versagen,  ein  gewisses  Lächeln  nicht  unterlassen,  und  wenn 
man  das  kleine,  nette  Schooskind  des  alten  impassiblen  Götzen   aus 
seinem   Naturzustande  mit  einigen  Läppchen  in  den   schicklichen   be- 
fördern wollte,  und  die  starre,  trockne  Figur  vielleicht  mit  einiger  An- 
muth  des  zierlichen  Geschöpfs  sich  erfreuen  liesse,  so  könnte  der  Ein- 
fall zu  einem  kleinen  hübschen  Modell  recht  neckischen  Anlass  geben.' 
Mit  Hilfe  eines  jungen  Künstlers,  Wichmann,  hatte  Bettine  dann  das 
Thonmodell  hergestellt,  das  sich  heute  im  Frankfurter  Museum  befindet. 
Christian  Kauch,  der  um  seine  Meinung  befragt  wurde,  hatte  die  Skizze 
anfänglich  nicht  ungünstig  beurteilt  und  versichert,  es  könne  ein  „in- 
teressantes, bedeutendes  Bild*^  daraus  werden;  als  aber  nach  Jahresfrist 
die  Frage  an  ihn  herantrat,  ob  er  die  Ausführung  übernehmen  wolle, 
lehnte  er  ab.    Das  Ganze  schien  ihm  zu  malerisch  gedacht;  .die  idyl- 
lische Darstellung  Goethes  auf  dem  bilderreich  verzierten  Sessel",   mit 
dem   «todten  Symbol  der  Leier*  möge    wohl  in  einem  Gemälde  oder 
Relief  gelingen,  als  „eigentliche  ikonische  Statue,  welche  die  charak- 
teristische Persönlichkeit  des  Darzustellenden  verewigen  **  solle,  sei  sie 
jedoch  unausführbar.    Der  Bildhauer  ernte  überdies  nur  Mühe,  die  Er- 
finderin alles  Lob.^)     Man   hatte  in  Frankfurt,    wie  Bettine  erzählt. 


1)  Vergl.  zum  Folgenden:  H.  Grimm,  Bettina  von  Arnim.  Goethejahrbuch 
1,  5ff.;  Eggers,  Rauch  und  Goethe,  6,  57,  (Jo,  97;  Briefwechsel  zwischen 
Ooethe  und  Staatsrat  Schultz,  ed.  Düntzer,  312;  ßcttine  von  Arnim, 
Goethes  Briefwechsel  mit  einem  Kinde.    Dritte  AuH.  (1881).    398if.,  542flf. 

2)  An  Karl  Ritter,  10.  Febr.  1825.    Eggers,  Rauch  und  Goethe.    S.  79. 


96  Karl  Ohser 

trotzdem  Neigung  gezeigt,  den  Entwurf  ausführen  zu  lassen,  aber  der 
Verzicht  Goethes  auf  sein  dortiges  Bürgerrecht  verstimmte,  und  die 
Sache  blieb  zunächst  zu  Bettinens  Leidwesen  liegen.  Allein  sie  gab  die 
Hoffnung  nicht  auf.  Als  sie  1835  den  «Briefwechsel  Goethes  mit  einem 
Kinde"  veröffentlichte,  trug  das  Titelblatt  die  schlichte  Widmung: 
„Seinem  Denkmal!*  Der  Ertrag  des  Buches  sollte  zur  Verwirklichung 
des  Planes  dienen,  der  ihr  immer  mehr  zu  einer  hohen  Lebensaufgabe 
wurde.  Aus  der  Beschreibung,  die  sie  im  dritten  Teile  giebt,  ersieht 
man,  wie  die  monumentale  Apotheose  des  geliebten  Dichters  damals 
ihrem  Geiste  vorschwebte.  Die  Komposition  ist  im  Vergleich  zu  dem 
ursprünglichen  Entwürfe  reicher  geworden,  die  Gestalten  Mignons  und 
der  in  Bettine  personifizierten  Mänade,  die  früher  fehlten,  treten  —  man 
darf  wohl  sagen,  nicht  zum  Vorteil  einer  einheitlichen  Wirkung  des 
Ganzen  —  hinzu.  ^) 

Durch  eine  Übersetznng  des  Buches  ins  Englische,  die  Bettine  1838 
veranstaltete,  dachte  sie  das  unternehmen  weiter  zu  fördern :  die  Über- 
setzung wurde  in  Amerika  nachgedruckt  und  in  England  gelang  es  trotz 
aller  Bemühungen  nicht,  sie  unter  das  Publikum  zu  bringen.')  Noch 
1847  bereitete  der  Vertrieb  der  Auflage  eine  Fülle  von  Widerwärtig- 
keiten^) und  statt  des  zu  Gunsten  ihres  Denkmals  erwarteten  Gewinns 
erwuchsen  der  Verfasserin  nur  Unkosten.  All  dies  hielt  Bettine  jedoch 
nicht  ab,  ihren  Plan  weiter  zu  verfolgen;  ,sie  kann  nicht  darauf  ver- 
zichten, —  schreibt  ihr  litterarischer  Berater  Varnhagen  —  sie  fühlt 
eine  Verpflichtung,  die  sie  erfüllen  will*.*) 

Erst  1846  kam  die  Angelegenheit  indes  in  Fluss.  Die  Begegnung 
mit  Karl  und  Pauline  Steinhäuser  wurde  dafür  entscheidend.  Nichts 
lag  näher,  als  dass  Frau  von  Arnim  mit  dem  befreundeten  Künstler- 
paare den  Entwurf  besprach  und  von  ihren  Hoffnungen  und  Enttäusch- 
ungen berichtete.  Steinhäuser  erwärmte  sich  für  die  Idee  und  hielt  sie 
im  Gegensatze  zu  Bauch  auch  für  ausführbar;  beim  Abschiede  bat 
Pauline,  dass  ihm  gestattet  werde,  auf  eigene  Gefahr  nach  der  Skizze 
das  Denkmal  herzustellen,  und  Bettine  willigte  ein.    Ein   schriftliches 


1)  Goethes  Briefwechsel  mit  einem  Kinde,  542.  »Auf  der  einen  Seite  der  Thron- 
lehne  ist  Mignon  als  Engel  gekleidet  mit  der  Iberschrift :  ..So  lasst  mich  scheinen, 
bis  ich  werde**,  jenseits  Bettina,  wie  sie,  zierliche  kindliche  Mänade,  auf  dem  Köpfchen 
steht,  mit  der  Inschrift:  ^Wende  die  Füsschen  zum  Himmel  ohne  Sorge.  Wir 
strecken  Arme  betend  empor,  aber  nicht  schuldlos  wie  Dn**.< 

2)  Geiger  a.a.O.  192. 

3)  Vergl.  S.  100. 

4)  9.  Jan.  18-12.    Tagebücher,  2.  S.  7. 


Bettine  von  Amiin  und  ihr  Briefwechsel  mit  Pauline  Steinhäuser  97 

Abkommen  wurde  nicht  getroffen,  aber  Bettine  Hess  —  wie  sie  selbst 
wenigstens  versichert  —  die  römischen  Freunde  darüber  nicht  im 
Zweifel,  dass  sie  finanziell  das  Unternehmen  nur  durch  den  Ertrag  ihrer 
litterarischen  Thätigkeit  unterstützen  könne.  Steinhäuser  mochte  gleich- 
wohl um  so  eher  geneigt  sein,  die  Arbeit  zu  übernehmen,  als  er  nach 
den  Äusserungen  Bettinens  mit  Grund  annehmen  durfte,  dass  der  König, 
der  von  ihrem  Vorhaben  unterrichtet  war,  sich  dafür  interessiere,  und 
Aussicht  vorhanden  schien,  dass  er  die  Sache  fördern  werde. 

Der  Entwurf  selbst,  an  dem  Bettine  in  der  Folge  eifrig  arbeitete, 
war  inzwischen  beträchtlich  erweitert  worden :  die  ursprüngliche  Gruppe 
wurde  in  Verbindung  gesetzt  mit  einem  Monumentalbrunnen,  der  im  Lust- 
garten vor  dem  Berliner  Museum  oder  vor  EroUs  Etablissement  seinen  Platz 
finden  sollte.^)    In  einem  Briefe  an  Varnhagen  vom  12.  Dezember  1846 
beschreibt  sie  das  etwas  phantastische  Gebilde,  wie  es  vor  ihren  Augen 
steht.^   Die  Nische,  die  sich  hinter  der  Gruppe  eröffnet,  ist  mit  einem 
^grossartigen    Basrelief    umkleidet.      ,,Die    Gottheit    der    Sonne,    ein 
Jünglingsweib,  schwebt  auf  von  der  Erde ;  mit  flammendem  Haupt  und 
gehobenen   Flügeln   trägt   sie   auf  beiden   starken   hochhinaufragenden 
Händen   den   Tierkreis,    dessen   Zeichen   alle    in    Gold   ausgefüllt   mit 
schraffierenden  Linien   die   obere  Einfassung  der  Nische  bilden.    Auf 
beiden  Seiten  dieses  emporschwebenden  Genius  steigen  zwei  riesige  Aloe 
empor,  die  mit  der  Wurzel  unter  den  Stand  der  Nische  greifen,  das 
mächtige  Blätterwerk  aber  schweift  am  Würfel  hinab,  der  den  Stuhl 
trägt,  und  bildet  so  zwei  Knaufe,  die  in  zierlichen  Schlangenlinien  sich 
verflechten;  die  Stachelsäume  des  Blattwerks  sind  alle  von  Gold.     Das 
schneeweisse  Sonnenweib  hat  einen  weiten  Mantel,  der  sich  hinter  ihr 
ausbreitet,   in   ganz  einfachen    Faltenlinien.^     Unten   am   Nischenrand 
taucht  die  Erdkugel  auf,  mit  der  Inschrift  Germania ;  ein  Lorbeerstamm 
verbreitet   sich   über   sie    «nach  antikem  Sty^ ;   seine  Verzweigungen 
tragen  Nester  mit  Vögeln,  «die  alten  Vögel  schweben  aufwärts  und  ab- 
wärts zwischen  die  Falten  des  Mantels.^     „Eine  goldene  Inschrift  füllt 
zu  beiden  Seiten   die  Ecken   aus,  wo  der  Mantel  schmal  am  Hals  des 
Mannweibs  zuläuft;  ihr  Inhalt:  Ich  schütze  die  Wölbung  des  Himmels 
und  schütze  die  Sänger  der  Erde.^     Das  Ganze,   versichert  Bettine,  ist 
indes  keineswegs  überladen,  vielmehr  sehr  einfach  «und  nur  so  belebt, 
lim  die  Seele  zwischen  geistigem  und  sinnlichem  Beschauen  zu  fesseln  **. 
Der  Würfel,  der  die  Nische  trägt,  ruht  auf  zwei  Stufen.    Die  unterste 


1)  Varnhagen,  Tageluioher  (9.  M»ii  1847)  3,  85.  ->  Vergl.  dazu  S.  108. 

NEUE  HEIDELB.  JAHRBUEGHER  XII.  7 


98  Karl  Obser 

«ist  ganz  einfach  eingerichtet,  dass  Lorbeer  und  Orangerie  darauf  zu 
stehen  kommen",  die  zweite  aber  besteht  wiederum  aus  einem  Marmor- 
basrelief. 

Es  lag  nicht  in  der  Natur  der  unsteten  Frau,  das  Gegebene  fest- 
zuhalten. Wie  der  überquellende  Reichtum  der  Phantasie  und  der 
Mangel  an  geistiger  Selbstzucht  ihre  litterarische  Produktion  beein- 
trächtigten, so  erschwerten  sie  auch  ihr  künstlerisches  Schaffen.  Immer 
neue  Ideen  tauchten,  wie  man  aus  den  folgenden  Briefen  ersieht,  in 
ihrem  beweglichen  Geiste  auf;  was  sie  heute  entworfen,  gab  sie  morgen 
einem  verlockenderen  Einfalle  preis,  und  man  versteht  es  wohl,  wenn 
die  Geduld  des  Künstlers,  der  ihr  ein  williges  Ohr  leihen  sollte,  unter 
solchen  Umständen  oft  auf  eine  harte  Probe  gestellt  wurde. 

Allein  sie  ging  mit  heller  Begeisterung  ans  Werk.  Der  Maler 
Ratti  half  ihr  bei  den  Zeichnungen;  Professor  Stier  versprach  ihr  bei 
dem  architektonischen  Aufbau  des  Ganzen  mit  seinem  Rate  an  die  Hand 
zu  gehen.  „Wenn  Sie  doch  ahnen  könnten,  —  schreibt  sie  mit  dem 
ihr  eigenen  naiven  Selbstlobe  an  Pauline  —  wie  schön  ich  das  Monu- 
ment erfunden  habe!  Ach,  das  wird  das  beste,  was  je  gesehen  wurde 
in  alter  und  neuer  Zeit!'' 

Alles  schien  auf  dem  besten  Wege.  Friedrich  Wilhelm  IV,  dein 
sie  und  ihre  Tochter  Armgard  die  Sache  vortrugen,  stand  ihrem  Pro- 
jekte sympathisch  gegenüber  und  Hess  ihr  sagen,  sein  liebster  Wunsch 
werde  dadurch  erfüllt;  »er  will  —  beteuert  Bettine  —  alles,  was  und 
wie  ich  will*".  War  auch  von  irgend  welcher  bestimmten  materiellen 
Zusicherung  allem  Anscheine  nach  nicht  die  Rede,  so  zweifelte  sie  doch 
nicht,  dass  er,  wenn  erst  das  Ganze  fertig  sei,  seinen  guten  Willen  be- 
thätigen  und  das  Monument  übernehmen  werde.  Aber  das  Schicksal 
fügte  es  anders.  Yielftltiges  persönliches  Ungemach  brach  über  Bettine 
herein.  Ein  Buch,  dessen  Erträgnis  sie  dem  Denkmal  zuwenden  wollte, 
—  ihr  Briefwechsel  mit  Philipp  Nathusius  —  wurde  polizeilich  be- 
schlagnahmt, ein  unerquicklicher  Prozess  mit  dem  Berliner  Magistrat 
und  Rechtshändel  mit  dem  Buchdrucker  und  Papierhändler  brachten 
mancherlei  Aufregung  und  Sorge,  die  wirtschaftlichen  Übelstände,  die 
das  Jahr  1848  im  Gefolge  hatte,  zogen  auch  sie  empfindlich  in  Mit- 
leidenschaft. Dazu  kam  ihre  wohlgemeinte,  aber  nicht  immer  glück- 
liche Einmischung  in  die  politischen  Wirren,  in  denen  sie,  wie  ihre 
Verwendung  für  Schlöifel,  Mieroslawski,  Kinkel  und  Corvin  bezeugt,  un- 
bekümmert um  die  realen  Verhältnisse,  lediglich  dem  Zuge  ihres  Her- 
zens folgend,    sich  eifrig  der  Verfolgten  und  Schutzbedürfbigen  annahm 


Rettine  von  Arnim  und  ihr  Briefwechsel  mit  Pauline  Steinhäuser  99 

und  gegenüber  der  drohenden  Beaktion  unerschrocken  und  mit  leiden- 
schaftlicher Beredsamkeit  bei  dem  Könige  für  freiheitliche  Reformen 
eintrat.  Ihre  Beziehungen  zu  dem  Monarchen  lockerten  sich,  gehässige 
Angriffe  der  Gegner  erweiterten  geschäftig  die  Kluft,  schliesslich  kam 
es  im  Frühjahr  48  durch  ihren  Absagebrief  vorübergehend  zum  f5rm- 
lichen  Bnich.  Unter  diesen  Umständen  war  auf  Unterstützung  durch 
den  König  vorläufig  nicht  zu  zählen,  ganz  abgesehen  davon,  dass  zur 
Zeit  auch  die  Mittel  völlig  fehlten.  Die  Lage  wurde  um  so  peinlicher, 
als  Steinhäuser,  der  nach  Vollendung  des  Gipsmodells  ^)  im  Herbst  1847 
mit  der  Ausführung  der  etwa  in  der  Grösse  des  „Moses''  von  Michel 
Angelo  geplanten  Kolossalstatue  des  Dichters  begonnen  hatte,  sich  nach 
Garantieen  für  die  Zukunft  oder  doch  wenigstens  nach  einem  Ersätze 
für  beträchtliche  Auslagen  sehnte.  Bettine  musste  ihn  aufs  Ungewisse 
vertrösten,  und  gelegentliche  Verstimmungen  konnten  nicht  ausbleiben, 
zumal  da  auch  der  Gegensatz  in  den  politischen  Anschauungen  —  Stein- 
häuser war,  dem  Beispiele  seiner  Frau  folgend,  unter  dem  Eindrucke 
der  revolutionären  Ereignisse  zur  katholischen  Kirche  übergetreten  — 
auf  die  beiderseitigen  Beziehungen  zurückwirkte.') 

Über  all  diese  Dinge  werden  wir  durch  die  nächsten  hier  mitzu- 
teilenden Briefe,  unter  denen  der  aus  dem  Mai  1848  stammende  wohl 
das  meiste  Interesse  beanspruchen  dürfte,  eingehender  unterrichtet. 

4. 

[Juli  1847]») 

Liebe  Pauline!  eben  erhalte  ich  Ihren  Mahnbrief  vom  9ten  Juli; 
ich  entschuldige  mich  nicht,  denn  früher  zu  schreiben  lag  nicht  in 
meinem  Gebein.  Dinge,  die  gar  mit  dieser  Sfäre  unsers  Verkehrs 
keinen  Connex  haben,  thürmten  sich  vor  mir  auf  und  versperrten  mir 
alle  Intressen  dieser  Art;  nehmen  Sie  an,  dass  ich  eine  Weile  Tod  war 
und  dass  man  meine  irdischen  Überbleibsel  zu  allerlei  vernüzte,  wie  man 
einen  abgehaueneu  Baum  verwendet,  wozu  er  auch  nichts  sagen  kann, 
obschon  sein  Geist  in  die  Weite  schweift  und  Thau  aufsaugen  möchte, 
aber  nicht  kann! 


1)  Varnhagen,  Tagebücher  (9.  Mai  1847)  3,  85.  Bettine  erzählt  bei  «lieser  Oe- 
le^^enheit,  sie  wolle  es  dem  Könige  anzeigen  und  ihn  fragen,  ^ob  er  den  dazu  von  ihr 
erdachten  Brunnen  und  den  i'Iatz*  herzugeben  geneigt  sei. 

2)  Vergl.  S.  119. 

3)  Das  Jahr  ergiebt  sich  aus  dem  Vermerk  ttber  Freimunds  Heirat;  da  femer 
ßetUne  «eben**  erst  den  Brief  Paulinens  vom  9.  Juli  empfangen  hat,  muss  ihr  Schrei- 
ben noch  in  den  gleichen  Monat  fallen. 

7* 


100  Karl  Obser 

DeDken  Sie  also,  dass  dies  Schreiben  Ihnen  ein  Lebenszeichen  sei 
von  einer  neuen  Auferstehung,  obschon  ich  noch  nicht  Bandenfrei  bin, 
das  heisst  obschon  noch  ein  guter  Theil  meiner  Selbst  verarbeitet  wird 
zu  allerlei  Widersprüchen,  zum  Beispiel  in  einem  Persönlichen  Prozess 
mit  dem  Magistrat  hiesiger  Stadt. ^)   Also:  meine  Auferstehung  ist  nah. 

Viel  hab  ich  indessen  gethan  fürs  Monument!  einen  Sachverstän- 
digen hab'  ich  nach  London  gesendet,  um  die  dortige  Auflage  des  Göthe- 
buchs  unter  den  trefflichsten  Bedingungen  oder  vielmehr  Auspizien  ver- 
kaufen zu  lassen.  Dieser  Mensch,  versehen  mit  ein  paar  hundert  Tblr., 
die  ich  mit  grosser  Aufopferung  erübrigte,  und  mit  einer  Vollmacht 
nach  eignem  Gutdünken  über  den  englischen  Verlag  zu  verfügen,  hat 
seit  seiner  Abreise  nun  schon  in  der  6ten  Woche  nichts  von  sich  hören 
lassen.  Wir  haben  ihm  Briefe  und  Aufträge  nachgesendet,  aber  keine 
Antworten  sind  erfolgt!  —  sollte  er  ermordet  sein,  sollte  er  durchge- 
gangen sein  mit  samt  dem  Erlöss  des  Verlags?  Sollte  er  aus  Leicht- 
sinn und  Übermuth  nicht  antworten?  —  Dieses  sind  die  Fragen,  die 
wir  jeden  Augenblick  uns  stellen.  Seine  Verwandten  sind  ausser  sich, 
ich  selbst,  da  er  mein  Geschäftsführer  war,  bin  dadurch  wieder  in  un- 
zählige Verlegenheiten  und  Geschäfte  hineingerissen.  Zugleich  habe  ich 
in  dem  heisesten  aller  Sommer  die  schwierige  Aufgabe  eine  Wohnung 
zu  suchen.  Dann  hat  mein  Sohn  Freimund  geheirathet,^)  ich  habe  seine 
Wohnung  eingerichtet,  ein  demolirtes  Landschloss  zu  einem  Zauber- 
pallast umgewandelt,  mit  eigenen  Händen;  ich  habe  von  Morgens 
4  Uhr  bis  abends  in  die  Nacht  gezimmert,  gemeiselt,  gemahlt,  geweisst 
Tapezirt,  geleimt  und  alle  Handwerker  instruirt  und  bin  beinah  alle 
Abend  ohnmächtig  vor  Müdigkeit  eingeschlafen  und  hatte  vergessen  zu 
essen  zu  trinken.  —  Dann  kam  ich  nach  der  Stadt,  hab  Ihr  Bild  ^)  an- 
gesehen, war  entzükt  über über  die  glükliche  Fährte,  auf  der 

Ihr  Pinsel  ist,  so  glüklich  zwar,  dass  ich  augenbliklich  sah,  wie  es 
durch  ein  wenigstes,  aber  Wesentlichstes  ein  unübertrefflichstes  werden 
könnte.  Ach,  warum  war  ich  nicht  dabei !  ein  einzig  Anregen  und  Sie 
hätten  die  höchste  Grazie  eines  Corregio  darin  erreicht!  Ich  habs  ge- 
sehen mit  meinen  eignen  Augen  das  Mystische  der  innern  Schauung. 
Denn  —  zürnen  Sie  nicht,  sondern  lachen  Sie  und  weinen  Sie,  liebste 


1)  Wegen  Heranziehung  ihres  Verlags  zur  Gewerbesteuer.     Geiger,  lOS. 

2)  Freimund  von  Arnim  hatte  sich  am  29.  Mai  1S47  mit  Anna  von  ßaumbach 
vermählt. 

3)  V^ermutlich,  wie  die  folgende  Beschreibung  andeutet,  das  Bild:    «Genius  der 
Bebe**,  das  1H47  entstanden  ist.    Singer,  Künstlerlexikon, 


Bettine  Ton  Arnim  und  ihr  Briefwechsel  mit  Pauline  Steinhäuser  101 

Paiiline,  zugleich  wie  an  eiuem  Tag,  wo  die  Sonne  durch  Kegengewölk 
schimmert,  —  wenn  ich  Ihnen  sage,  auf  welche  einfache  Weise  ich  den 
höchsten  Efl'ekt  in  Ihr  Bild  brachte  —  ich  nahm  die  Puderschachtel 
von  Katti')  (zum  Glük  besizt  diese  Familie  ein  so  rares  Moebel)  und 
bepuderte  das  Weinlaub  mit  Nebelflökchen.  0,  wie  unendlich  gewann 
augenbliklich  das  Ganze!  erstlich  erschien  das  Bild  noch  einmal  so 
gross ;  es  war  durch  das  etwas  zu  harte  Grün  des  Weinlaubs  nicht  mehr 
in  zwei  Hälften  zerschnitten,  und  indem  ich  diese  Floken  nach  oben  hin 
die  Figur  zart  umspielen  und  auf  den  höchsten  Blättern  tanzen  Hess, 
drängte  sich  der  neblige  Hintergrund  mehr  hervor,  ja  er  zog  gleichsam 
um  sie  her,  ganz  beweglich.  Die  Burg  rechts  vom  Beschauer  ward 
auch  mehr  Traumartig  und  die  Sonne,  welche  eine  zu  bescheidene  Zu- 
ruckgezogenheit  observirt,  ward  hierdurch  etwas  markanter.  Erinnern 
Sie  sich,  als  ich  Ihnen  die  zerstreuten  Dampffloken  der  Bisenbahn  zeigte 
und  Ihnen  bedeutete,  so  müsse  der  Herbstnebel  die  Figur  umflattern, 
grade  denselben  Efl'ekt  erzeugte  meine  Puderquaste!  Und  wie  edel! 
wie  magisch !  ja,  das  war  der  Mühe  werth,  eine  solche  Naturmagie 
durch  den  Pinsel  festzuhalten!  0  Genius!  verleihe  Muth  und  Aus- 
dauer meiner  Pauline  Steinhäuser!  !  !  Feuriges  Gebet,  nach  langer  Zeit 
zum  erstenmal  .... 

Folgen  Nachrichten  über  die  Familien  Ratti  und  Schirmer, 

.  .  .  Jetzt  komme  ich  aufs  Monument :  ich  habs  auf  die  Lezt  ver- 
spart. Dem  König  ist  durch  Armgart  das  Nötige  gesagt.  Er  will 
alles,  sagt  er,  was  und  wie  ich  will.  Ich  aber  will  viel,  das  heisst 
mein  ganz  Monument,  wie  ichs  erfunden  habe,  soll  gemacht  werden. 
Dazu  will  ich  die  alleroekonomischste  Veranschlagung,  denn  sonst  kann 
uichts  draus  werden.  Zweitens  ist  noch  eins  nothwendig,  nemlich,  dass 
alles  geschwind  oder  vielmehr  rasch  ins  Werk  gerichtet  werde.  Denn 
Zeit  zu  verlieren  ist  nicht,  da  ich  auch  dabei  sein  will,  ja  ich  muss 
dabei  sein,  sonst  wird  nichts  draus.  Also  muss  Steinhäuser  sorgen, 
dass  er  viele  Arbeiter  bekomme,  die  alle  zugleich  daran  arbeiten.  Jeder 
übernimmt  ein  Basrelief:  rechnet  also  auf  ein  Dutzend  Basreliefarbeiter, 
denn  ein  Dutzend  sind  zu  vollenden.  Mehr  sag  ich  diesmal  nicht.  Der 
König  hat  bestellt,  wenn  er  von  seiner  Reise  nach  Bresslau  zurükkehrt, 
will  er  die  Bebengeländerentsprossne^)   ansehen.     Dann  wird 


1)  Eduard  Ratti,  geb.  1819  zu  Berlin,  Historienmaler,  Schüler  Hensels.  Singer, 
Künstlerlexikon,  IV,  18. 

2)  Als  die  «Rebengeländer-Entsprossne,  Sonnengetauft e"  hatte  König  Friedrich 
Wilhelm  IV.  in  einem  Briefe  aus  dem  J.  1843  Bettine  bezeichnet  (Vamhagen,  Tage* 


/ 


102  Karl  Obser 

vom  Andern  aach  das  Nähere  zur  Sprache  kommen.  Aber,  wie  ge- 
sagt, Steinhäuser  muss  tüchtige  Leute  in  den  Basreliefs  haben.  Wenn 
ich  kann,  so  komme  ich;  ich  werde  alles  versuchen,  um  es  möglich  zu 
machen.  Warum  muss  denn  der  grosse  Marmorblock  transportirt  wer- 
den? Warum  nicht  lieber  ihn  am  Ort,  wo  er  gebrochen  wird,  be- 
arbeiten? Ein  halbes  Jahr!  Das  ist  ein  gewaltiger  Fetzen  Zeit.  Den 
erlaube  ich  nicht  dazu.  Den  Marmor  samt  Basreliefs,  samt  noch  anderem 
Nothwendigen  wollen  wir  lieber  am  Ort  des  Bruchs  machen.  Wie  soll- 
ten wir  so  lange  zu  warten  von  Gott  erbitten  können?  bei  der  Un- 
geduld in  unsern  Eingeweiden !  —  Und  wenn  ich  dort  bin,  so  malen 
Wir  beide  einen  Theatervorhang  zu  gleicher  Zeit!  —  Pauline,  denken 
Sie,  wie  jung  Sie  noch  sind,  und  dass  der  Jugendrausch  eine  erlaubte 
Sache  ist,  oder  vielmehr  eine  Bedingung  unserer  ganzen  Existenz !  Gott 
mag  keinen  Foepel,  der  vor  Nüchternheit  krepirt  ist.  Schreiben  Sie 
mir,  geben  Sie  mir  die  sichersten  Nachrichten  über  die  dortige  Exi- 
stenz, wie  man  am  wolfeilsten  da  lebt  nnd  doch  anständig,  und  wie  man 
am  billigsten  reist,  welche  Wege  die  besten  sind.  Sowie  ich  meine 
Monumentzeichnung  von  allen  Seiten  fertig  habe,  werde  ich  meine  An- 
schläge machen. 

Lachen  Sie  nicht  über  allen  sanguinischen  Unternehmungsgeist! 
Alles  ist  so  leicht,  wie  das  Tägliche  Verspeisen  des  Täglichen  Brodes! 

Sowie  der  König  Ihr  Bild  haben  wird,  werde  ich  Ihnen  darüber 
schreiben. 

Wenn  Sie  doch  ahnen  könnten,  wie  schön  ich  das  Monument  er- 
funden habe!  Ach,  das  wird  das  beste,  was  je  gesehen  wurde  in  alter 
und  neuer  Zeit! 

Aber  malen  müssen  Sie,  aber  nicht  a  la  Overbeck ! ')  Sondern  Kein, 
Sonnig,  Mark  der  Natur,  Traumdurchwebt,  denn  alles  Gemalte  ist  ge- 
träumtes  Leben,  und  alle  Heiligen  müssen  davor  zurükstehen  und  müssen 
der  göttlichen  Phantasie  den  Vorrang  lassen. 

Aber  der  König  verlangt,  dass  niemand  davon  wissen  solle,  drum 

seien  Sie  so  vorsichtig  als  möglich,  damit  keine  Pralereien  über  die 

deutsche  Bergkette   herübertönt  (sie!).    Denn  sonst  ist  alles  ein  Spiel 

des  Teufels. 

Adieu !   Bettine. 

bücher,  2,  209) ;  hier  bezieht  sich  der  Ausdruck  zweifellos  auf  Paulinens  obenerwähu- 
tes  Gemälde:  „Genius  der  Rebe". 

l)  Vergl.  oben  S.  87.  Paulinens  Verehrung  für  Overbeck  spricht  sich  schon  in 
ihrem  Briefwechsel  aus  der  Brautstandszeit  aus.  „Lass  die  alten  frommen  Bilder  zu 
Dir  reden  und  Overbeck  !*"  rät  sie  dem  Geliebten.    21.  Juni  1836. 


Bettine  von  Arnim  und  ihr  Briefwechsel  mit  Pauline  Steinhäuser  103 

5. 

[Mai  1848] ») 

—  —  —  die  Herausgabe  meiner  Werke  erwarb.    Auf  das,  was  meine 

Kinder  von  ihrem  Vater  ererbten,   habe  ich  keine  Ansprüche,  es  ist 

wenig;  sie  haben  es  immer  selbst  verbraucht. 

Nach  allem  diesem  müssen  Sie  einsehen,  dass  es  mir  nie  einfallen 
konnte,  anders  als  durch  eigne  Anstrengung  so  viel  zu  erwerben,  um 
diese  mir  ausbedungene  Vorhand  bethätigen  zu  können.  Dieser  An- 
strengungen war  ich  fähig,  denn  ich  habe  sie  gemacht;  dass  sie  nicht 
gefruchtet  haben,  ist  weder  die  Schuld  meiner  Intelligenz,  noch  meiner 
Berechnungen,  sondern  der  allgemeine  Verrat  an  der  Menschheit,  der  in 
der  vor  den  Kopf  geschlagenen  Staatsweisheit  Posto  gefasst  hatte  und 
unter  dem  sie  selbst  zu  Mist  geworden.  Selbst  wenn  es  mich  per- 
sönlich betroffen  hätte,  dass  die  Behörden:  Magistrat,  Kammergericht, 
Ministerien,  Polizei  nnd  Potsdamer  Begierungs- Präsident  nebst  der  Ober- 
censurbehörde ')  einverstanden  waren,  mir  einen  Abgrund  zu  graben,  in 
dem  sowohl  meine  Ehre,  als  auch[*meine  Erwerbsquelle  zertrümmert 
werden  mussten,  so  würde  es  dennoch  durch  die  Auflösung  aller  bürger- 
lichen Verhältnisse  und  gegenseitigen  Verpflichtungen,  die  vermöge 
jener  über  ganz  Deutschland  verbreiteten  falschen  Politik  ausgebrochen 
sind,  dennoch  denselben  Erfolg  gehabt  haben.  Der  Buchhandel  ist 
untergraben.  Die  diesjährige  Messe  hat  erklärt,  nicht  zahlen  zu  können, 
da  von  verschiedenen  Staaten,  namentlich  von  Oesterreich  verboten  ist, 
Geld  auszuführen.  Also  die  Werke,  die  mir  ohne  die  geringste  Befug- 
niss  mutwillig  durch  Polizei  und  Begierung  —  (die  Bücher,  von  denen 
ich  hoffte  etwas  für  das  Monument  zu  erübrigen)  —  sind  confiscirt 
worden,')  würden  auch  dann  nichts  eingetragen  haben,  wenn  dies  nicht 
geschehen  wäre,  da  die  Buchhändler  Bankerutt  gemacht  haben  für 
dieses  Jahr. 

Als  ich  nun  die  Höfinung  für  dieses  Kunstwerk  (für  das  ich  schon 
so  viele  Opfer  gebracht)  zu  wirken,  aufgeben  musste,  habe  ich  so  un- 

1)  Der  folgende  undatierte  Brief,  dessen  Anfang  leider  fehlt,  fallt  in  den  Mai 
1848.  Die  Schreiberin,  die  wiederholt  bei  der  Arbeit  unterbrochen  worden  ist,  hat  ihn 
am  20.  Mai  beendet  und  nach  Rom  abgesandt.  Mit  Ausnahme  der  Schlusszeilen  liegt 
er  fast  durchweg  in  Abschrift  bezw.  Diktat  vor. 

2)  Die  Stelle  bezieht  sich  auf  ihre  verschiedenen  Prozesse.   YergL^Geiger,  108. 

3)  Das  im  Mai  1844  erschienene  Buch:  ^Clemens  Brentanos  Frühlingskranz* 
war  von  der  Polizei  anfänglich  mit  Beschlag  belegt,  später  aber  auf  Befehl  des  Königs 
freigegeben  worden.  Im  November  1847  war  dann  ihre  Schrift  «Uius  Pamphilius  und 
die  Ambrosia",  ihr  Briefwechsel  mit  Philipp  Nathusius,  erschienen  und  gleichfalls  kon- 
fisziert worden,  ohne  dass  spater  eine  Freigebuug  erfolgte.    Vcrgl.  Geiger,  55 ff.,  113 ff. 


104  Karl  Obser 

gern  und  blos  aus  herzlichem  Interesse  für  Sie  mich  an  den  König  ge- 
wendet; er  nahm  es  mit  Freuden  auf  und  fügte  hinzu,  dass  es  ganz 
so  werden  solle,  wie  ich  es  ausgedacht,  ich  war  eben  damit  beschäftigt, 
eine  vollständige  Zeichnung  davon  zu  machen.  Katti  war  so  herzlich 
theilnehmend  dafür,  dass  er  gleich  sich  erbot,  meine  Erfindung  nach- 
zuarbeiten, allein  mein  Mangel  an  architektonischem  Verstand  machte 
es  nothwendig,  mich  mit  einem  Architekten  zu  berathen.  Stier  ^)  wollte 
sich  dessen  annehmen;  nachdem  er  die  Skizze  in  sein  Haus  genommen 
und  ich  ihm  alle  einzelnen  Theile  meiner  Erfindung  dazu  und  die  ge- 
naue Eintheilung  gegeben,  habe  ich  ihn  nicht  mehr  dazu  bringen  können, 
sein  Versprechen  zu  erfüllen. 

Als  der  König  noch  der  war,  der  er  heute  nicht  mehr  ist,  und  als 
ich  noch  nicht  bei  ihm  verläumdet  war,  konnte  ich  freilich  jenen  Schritt 
thun  und  Ihnen  auf  seine  Zusage  hin  die  besten  Hoffnungen  machen; 
jetzt  aber,  wa  alles  mich  bei  ihm  verrathen  hat,  blos  um  zu  hindern, 
dass  er  durch  mich  die  Wahrheit,  die  ihm  noch  Heil  bringen  konnte, 
erfahre;  jetzt  wo  er  auch  glaubt,  dass  ich  mit  an  seinem  Sturz  ge- 
arbeitet, jetzt  wo  man  auf  eine  falsche,  verrätherische  Politik  hin  daran 
arbeitet,  ihn  wieder  emporzubringen,  jetzt  wo  man  ihn  durch  die 
schauderhafte  Katastrophe  des  grausamen  Verraths  am  eignen  Volk 
selbst  in  den  Abgrund  gestürzt  hat,  aus  dem  man  vergebens  ihn  heraus- 
zuarbeiten sucht  durch  neuen  Verrath  und  durch  die  unlogischsten,  takt- 
losesten Gewaltmassregeln;  jetzt  wo  ich  ihn  zum  letztenmale  angeredet, 
gewarnt  und  endlich  mein  Vertrauen  zu  ihm  gezwungen  zurücknahm,') 
—  jetzt  ist  es  mir  weder  möglich,  an  sein  Versprechen  zu  mahnen, 
noch  dürfte  er  es  wagen,  etwas  in  dieser  ganz  detruirten  Zeit  zu  thun. 
Das  Volk  würde  ihn  steinigen.  Als  das  neue  Ministerium  in  Folge  der 
Igten  Märznacht  eingesetzt  war,  ergab  es  sich,  dass  der  ganze  Staats- 
schatz von  80  Millionen  auf  8  geschwunden  war;  auch  diese  letzten 
Gelder  sind  jetzt  für  Kriegsrüstungen  drauf  gegangen.  60000  Arbeiter 
sind  hier  in  der  Hauptstadt  als  ein  Boden  von  Zunder;  der  geringste 
Funke  erzeugt  eine  Feuersbrunst,   die   durch  ganz  Deutschland  Stoff 


1)  Wilhelm  Stier  (1799— 18Ö6),  Architekt  und  Lehrer  an  der  Bauakademie  zu 
Berlin.    A.  D.  B.,  36,  207. 

2)  In  einem,  wie  es  scheint,  verloren  gegangenen  Briefe  aus  dem  « Beginn"  des 
J.  1848,  wohl  demselben,  auf  den  in  Vamhagens  Tagebüchern,  9,  96  angespielt  wm^e: 
„er  (der  König)  rückte  ihr  auch  ihren  Absagebrief  vor**.  Vergl.  Bettinens  Schreiben 
vomJlO^Sept.  1848)  bei  Geiger,  126.  Geigers  Meinung,  dass  Bettine  damit  das 
Schreiben  vom  26.  Dez.  1847  (ibidem  96  ff.)  im  Sinne  habe,  kann  ich  nicht  teilen,  da 
von  einer  Aufkündigung  des  Vertrauens  dort  nicht  die  Rede  ist. 


Bettine  von  Arnim  und  ihr  Briefwechsel  mit  Pauline  Steinhäuser  105 

findet.  Der  König  sitzt  als  eine  Null  in  Potsdam,  der  Prinz  von 
Preussen,  vom  Volk  verjagt,  in  England.  Die  Ueaction,  um  ihn  wieder 
herzubringen,  wirkt  jetzt  noch  verderblicher,  als  wenn  man  sich  still 
verhielte.  Wenn  nun  auch  der  König  Privatvermögen  hat,  so  ist  doch 
das  ganze  Land  brot-  und  mittellos.  40000  Seelen  sind  vom  Hunger 
und  von  Krankheiten,  die  aus  schlechter  Nahrung  zur  Pest  geworden, 
durch  den  Tod  erlöst.  Dies  ist  in  Schlesien  der  Fall,  und  noch  immer 
verbreitet  sich  die  Pest  weiter.  Allein  kein  Mensch  denkt  daran,  ihnen 
in  dieser  allgemeinen  Verwirrung  zu  helfen.  Wie  könnte  der  König 
jetzt  an  ein  Monument  denken  ?  jetzt  wo  die  brotlosen  Arbeiter  umher- 
streifen und  zu  ganzen  Horden  einem  ins  Haus  fallen  und  sich  das 
Brot,  was  sie  finden,  fortschleppen! 

Folgen  Mitteilumjen  über  die  durch  die  allgemeine  Kriais  ungünstig 
beeinflusste  Gestaltung  der  eigetien  Vermögensierhältnisse. 

....  Was  ist  dies  Alles  gegen  den  scheusslichen  politischen  Ver- 
rath,  der  an  den  Polen  verübt  wird !  Niemals  sind  in  den  barbarischen 
Kämpfen  des  Mittelalters  solche  Grausamkeiten  geschehen,  wie  dort, 
von  den  Preussen  an  Polen ;  ein  Blutbad  fiber  das  andere !  Ja,  das  hat 
die  Regierung  schrecklich  ergrimmt,  als  sie  durch  das  Volk  gezwungen 
ward,  die  gefangenen  Polen  frei  zu  geben,  ihnen  die  Wiederherstellung 
Mires  Reiches  zu  gewähren.  Nun  lässt  man  diese  Polen,  die  man  früher 
gezwungen  losgeben  musste,  durch  heimliche  Späher  banditenmässig 
überfallen  und  morden.  Ein  armer  junger  Pole,  für  dessen  Mutter  ich 
selbst  die  Bittschrift  für  Begnadigung  ihres  Sohnes  gemacht,  wird  im 
Angesicht  dieser  Mutter  von  einer  wilden  Bande  preussischer  Soldaten 
im  Bett  massakrirt.')  Ganze  Lazarethe  mit  Verwundeten,  sammt  den 
Ärzten,  die  ihre  Wunden  verbanden,  verbrannt.  Der  preussische  General 
Willisen,  der  als  Komissar  hingeschickt  war  und  diesen  schrecklichen 
Unthaten  Einhalt  thun  wollte,  kam  kaum  mit  dem  Leben  davon.  Er 
wurde  des  Hochverraths  angeklagt;  während  er  sein  Leben  dran  wagte, 
diesen  Metzeleien  zu  steuern,  hat  man  ihn  mit  Koth  und  Steinwürfen 
beinahe  getödtet.*)  Hier  aber  sind  die  Blätter  gedrängt  voll  der  bos- 
haften Lugen  gegen  ihn  und,  obschon  er  dem  König  den  Verrath  an 


1)  Von  der  Bittschrift  ist  weiter  nichts  bekannt.  Über  Bettineus  Haltung  in  der 
Polenfrage,  die  hier  in  ihrer  vollen  Einseitigkeit  hervortritt,  vergl.  Geiger,  93—107. 

3)  Über  die  Sendung  des  Generalleutnants  Karl  Wilhelm  von  Willisen  nach 
Posen,  die  bekanntlich  in  Folge  seines  schwächlichen  Auftretens  kläglich  scheiterte, 
vergl.  T.  Willisen,  Akten  und  Bemerkungen  über  meine  Sendung  nach  dem  Gross- 
herzogtum Posen  im  Frühjahr  1848. 


106  Karl  Obser 

der  guten  Sache  und  ebenso  sein  strenges  Verhalten  nach  dem  könig- 
lichen Befehl  nachgewiesen,  so  bat  doch  der  König  weder  die  Macht, 
noch  aach  den  Willen,  ihn  gegen  so  harte  Verläumdungen  zu  schätzen, 
denn  leider  lag  es  in  der  sehr  falschen  Politik  der  Reaktion,  dass  die 
Polen,  zur  Verzweiflung  getrieben,  den  Russen  in  die  Arme  laufen 
sollten  um  diese  zu  ihrem  Schutz  gegen  uns  aufzurufen,  wo  denn  Russ- 
land sich  als  feindlich  sammt  den  Polen  gegen  uns  wenden  sollte  und 
dann  als  unüberwindliche  Macht  zum  Beschluss  die  neue  Staatsverfassung 
organisirte,  —  wo  denn  das  Volk  auf  russische  Art  geknechtet  würde. 
110000  Russen  stehen  an  der  Qrenze,  fraternisiren  mit  den  preussisclien 
Offizieren,  um  sammt  diesen  20000  Polen  zu  knechten  und  ihres 
verwüsteten  Vaterlandes  zu  berauben  und  sie  zu  unsern  und  ihren  Sklaven 
zu  machen.  Endlich  hat  Lamartine  den  Polen  den  Beistand  der  Fran- 
zosen zugesagt,  schon  werden  sie  in  diesem  Augenblick  im  Marsch 
gegen  Oesterreich  begriffen  sein.  Also  Russen  und  Franzosen  werden 
die  deutschen  Gauen  zu  ihrem  Kriegsschauplatz  machen.  Das  deutsche 
Volk  ist  getheilt  in  seinem  Interesse:  Aristokratie  und  Bürger  wollen 
die  Polen  verderben  mit  Hülfe  der  Russen  und  mit  diesen  auch  das 
gemeine  Volk  bändigen,  das  ihrem  Gelderwerb  mit  seinem  Communism 
und  Socialism  gewaltiges  Verderben  droht.  Dieses  aber  ist  geneigt, 
lieber  mit  den  Franzosen  für  Polen  gegen  Russland  zu  kämpfen.  Das 
Unheil  aber,  dem  wir  zu  entgehen  nicht  hoffen  können,  sind  die  Ströme 
brodloser  Arbeiter,  entweder  sie  müssen  in  den  Krieg  oder  alles  Eigen- 
thum  der  höheren  Stände  wird  ihre  Beute;  schon  sind  Anschläge  ge- 
macht, wie  die  grossen  Güter  unter  sie  vertheilt  werden  sollen. 

13.  Mai.  Liebe  Pauline,  ich  bin  vielfältig  in  diesem  Schreiben 
unterbrochen  worden;  Mord  und  Brandereignisse  sind  vorgefallen  auf 
dem  Land,  wo  die  Bauern  den  Adligen  die  Schlösser  abbrennten.  Die 
dicke  republikanische  Revolution,  die  in  Süddeutschland  immer  geschlagen 
wird  und  sich  immer  wieder  verstärkt  auf  den  Feind  wirft,  f&ngt  an 
jetzt  mehr  Gewicht  zu  haben ;  man  furchtet,  dass  sie  sich  an  die  fran- 
zösischen Truppen  anschliesst,  sobald  diese  uns  feindlich  angreifen 
werden,  und  dies  kann  keine  14  Tage  mehr  dauern.  So  steht  es  hier 
und  rund  umher  und  nah  und  fem! 

Heute,  da  ich  meinen  Brief  zu  schliessen  gedachte,  erhielt  ich  den 
Ihrigen  von  26.  April ;  er  beginnt  damit,  dass  Sie  mich  fragen,  was  ich 
oder  ob  ich  noch  etwas  für  das  Monument  zu  thun  gedenke.  Sie  sagen 
mir  ferner,  dass  man  Ihnen  vorgeworfen  habe,  keinen  Contract  mit  mir 
gemacht  zu  haben. 


Bettine  von  Arnim  und  ihr  BriefVechsel  mit  Pauline  Steinhäuser  107 

Sie  klagen,  dass  ich  Steinhäuser  und  Sie  keiner  Begeisterung  fähig 
halte,  dass  Ihr  Aufenthalt  in  Rom  sehr  schwer  noch  lange  auszuhalten 
sei,  dass  ich  Ihnen  Geld  schicken  solle.  Auf  all  Dies  antworte  ich 
ihnen  aufrichtig.  Erstens  einen  Contract  mit  Ihnen  zu  machen,  würde 
von  meiner  Seite  ein  Verbrechen  gewesen  sein.  Ich  konnte  auch  nicht 
im  entferntesten  daran  denken ;  ich  habe  bei  der  Hingabe  meiner  Skizze 
an  Steinhäuser  eine  Wehmut  gefohlt,  diese  Idee  aufgeben  zu  sollen  an 
einen  anderen.  Ich  habe  daher  in  einer  Hoffnung,  mir  noch  dies  Werk 
einer  lebenslangen  Begeisterung  zu  bewahren,  einen  Vorbehalt  ausge- 
macht, den  ich  durch  Fleiss  und  Anstrengung  aller  Art  zu  realisieren 
hoffte,  ich  habe  ein  Buch  herausgeben  wollen,  von  dem  ich  zum  wenig- 
sten 2000  Thaler  des  Ertrags  an  das  Monument  zu  wenden  hoffte.  Das 
Buch  ist  mir  von  der  Regierung  wider  alles  Recht  confiscirt  worden,*) 
es  hat  mich  in  eine  Schuld  an  die  Druckerei  und  Papierhandlung  ver- 
wickelt, die  mich  hindert,  an  der  Herausgabe  dieser  Werke  fortzu- 
arbeiten, bis  diese  Schuld  bezahlt  sein  wird.  Ich  habe  das  Geld,  das 
zu  dieser  Masse  einkommen  musste,  meinen  Gläubigern  zugewiesen;  es 
wird  aber  leider  nichts  einkommen,  weil  die  Staatsverbote,  Geld  aus  dem 
Lande  zu  bringen,  die  Buchhändler  zwingen,  nicht  zu  zahlen.  Dass  ich 
dies  all  gethan  habe,  muss  sie  überzeugen  von  dem  Eifer  für  die  Sache ; 
dass  ich  aber  nie  im  Sinn  haben  konnte,  mehr  zu  thun  als  dies  oder 
auf  eine  andere  Weise  daran  theilzunehmen,  kann  ich  Ihnen  durch  Ihre 
eigenen  Briefe  beweisen,  die  ich  von  Ihnen  auf  Ihrer  Rückreise  nach 
Rom  erhielt,  in  denen  sie  theilnehmend  mir  mehrere  Vorschläge  nnd 
mehrere  Demarchen  mittheilten,  die  Sie  selbst  zu  Gunsten  dieser  mir 
seit  so  langen  Jahren  theuem  Angelegenheit  haben  unternommen.  Die 
Vorschläge  habe  ich  nicht  unbenutzt  gelassen,  aber  es  waren  unnütze 
Opfer,  die  jetzt  nicht  wenig  auf  meiner  beschränkten  Lage  lasten,  denn 
300  Tblr,  die  ich  aus  eigenen  Mittel  zu  diesen  erfolglosen  Reisen  her- 
gab, nebst  den  Nachtheilen,  die  mir  aus  leichtsinnigen  Verfahren  ent- 
standen, haben  mit  die  Folgen  gehabt,  dass  ich  keinen  Pfennig  in  diesem 
Augenblick  zur  Fortsetzung  der  Herausgabe  meiner  Schriften  verwenden 
kann. 

Nach  Ihrer  Ankunft  in  Rom  kam  mir  ein  zweites  Schreiben  von 
Ihnen,  dessen  Inhalt  beweisvoller  ist,  dass  meine  Beziehungen  zu  diesem 
Unternehmen  ganz  dieselben  sind,  wie  ich  sie  hier  Ihnen  darlege,  und 
dass  es,  wo  nicht  eine  Unmöglichkeit,  doch  eine  Raserei  gewesen  sein 


1)  »Ilius  Pamphilius'.     Vergl.  oben  ö.  103. 


108  Karl  Obser 

würde,  auch  nur  einen  Fingerbreit  weiter  zu  gehen,  als  jene  Anstreng- 
ungen, die  ich  machte,  um  nicht  ganz  eine  mir  so  heilige  Sache,  für 
die  ich  schon  so  grosse  Opfer  gebracht,  aufgeben  zu  müssen. 

Noch  einmal  will  ich  Sie  erinnern,  wie  Sie  selbst  wenig  Tage  vor 
Ihrer  Abreise  mit  bescheidener  Bitte  sich  an  mich  wendeten,  dem  Stein- 
häuser zu  erlauben,  auf  eigenes  Kisico  nach  meiner  Skizze  diese  Auf- 
gabe zu  übernehmen ;  ich  bewilligte  es,  um  nicht  der  glorreichen  Hoff- 
nung für  dieses  Werk  in  den  Weg  zu  treten,  ich  sagte  Ihnen  aber  auf- 
richtig, dass  ich  nur  durch  eigne  Anstrengung  den  Versuch  maclien 
könne,  mich  daran  zu  betheiligen.  Wie  diese  Versuche  mir  sind  ver- 
eitelt worden,  habe  ich  Ihnen  hier  mitgetheilt:  ein  schwerer  Prozess, 
der  mit  Indignation  selbst  gegen  nahe  Verwandten  mich  erfüllen  musste, 
hat  alle  meine  Bemühungen  vereitelt  und  meine  Kräfte  paralisirt.  Aber 
während  mein  Geist  sich  aufrieb  im  Streit  wider  diese  Intriguen,  hab 
ich  nichts  versäumt  was  Ihrem  Unternehmen  zu  gut  kommen  konnte. 
Damals  forderte  ich  den  König  auf,  der  auf  alles  einging  und  alles  be- 
willigte, mit  dem  Bemerken,  dass  sein  liebster  Wunsch  realisirt  werde. 
Jetzt  war  ich  gleich  darauf  bedacht,  immer  in  Fürsorge  für  Ihr  In- 
teresse, diesem  Unternehmen  eine  festere  Basis  zu  geben;  ich  konnte 
dies  nur  werkstellig  machen,  wenn  ich  dem  König  von  allen  Seiten  den 
Aufriss  des  Monumentes  vorzeigte.  Stier  unternahm  es,  die  architek- 
tonischen Verhältnisse  zu  ordnen,  in  dieser  Zwischenzeit  drängten  sich 
ungeheure  Kalamitäten  auch  in  Bezug  auf  meine  Familie,  denen  ich 
kaum  gewachsen  war,  und  die  Versprechungen  des  Stier  sind  indess 
trotz  meiner  häufigen  Bitten  bis  jetzt  nicht  erfüllt  worden.  Indess  war 
mir  schon  die  Wahl  des  Platzes  erlaubt,  wir  bestimmten  anfangs  das 
Bassin  im  Lustgarten  dazu,  zwischen  Schloss  und  Museum,  aber  weil 
der  neue  Dom  beinah  bis  auf  diesen  Fleck  vorgerückt  werden  sollte,  so 
fanden  wir  einen  noch  beinah  schöneren  Platz  im  grossen,  neu  ange- 
legten Garten  vor  Krolls  Lokal  auf  dem  Exerziei-platze.  Während  dem 
erreichten  die  sich  kreuzenden  Verfolgungen  gegen  mich  in  öffentlichen 
Blättern  ihren  Höhepunkt,  die  mich  dem  Gerede  des  Volks  preisgaben, 
mir  aber  durch  obligate  polizeiliche  Zensur  den  Weg  zur  Widerlegung 
abschnitten.  Nun  wurde  der  König  immer  mehr  gegen  mich  einge- 
nommen, und  meine  Verhandlungen  mit  dem  König  wurden  dadurch 
unmöglich;  davon  wurde  ich  um  so  mehr  überzeugt,  da  der  Kammer- 
gerichtspräsident von  Strampff  mir  sagte  (als  sei  es  im  Auftrag),  er 
könne  mir  versichern,  der  König  habe  als  bestimmend  geäussert,  er 
wünsche   mit  nichts  in  Berührung  gebracht  zu  sein,  was  meine  An- 


Bettine  von  Arnim  und  ihr  Briefwechsel  mit  Pauline  SteinhiiuBer  109 

gelegenheiten  berühre!  Wie  konnte  ich  glauben,  dass  dies  eine  Lüge 
sei?  Dennoch  hatte  ich  Vertrauen,  ich  könnte  durch  Vorzeigung  dieser 
Aufrisse  es  noch  zu  Wege  bringen,  Ihnen  eine  festere  Basis  für  dieses 
Unternehmen  zu  erwirken.  Denn  trotz  aller  erkünstelter  Verläumdung, 
die  einen  so  weiten  Kreis  durchströmte,  als  deutsche  Zeitungen  reichten, 
drängte  mich  ein  letztes  Zucken  der  Begeisterung  für  den  König,  an 
den  ich,  und  ich  allein  unter  so  vielen,  die  heilige  Mahnung  an  der 
Vernunft  schon  so  oft  gerichtet  hatte. 

Ich  wollte  diesen  Zwiespalt  aufzuheben  versuchen  durch  die  Für- 
sprache für  eine  gerechte  Sache,  für  die  grösste  Angelegenheit  der 
heutigen  Schiksale,  und  dadurch  eine  reinere,  versöhnende  Vorbereitung 
einleiten,  ich  habe  während  drei  Wochen  Tag  und  Nacht  alle  Kräfte 
einer  feurigen  Inspiration  daran  gewendet,  um  den  Vortheil  seiner  eignen 
Zukunft,  der  Zukunft  von  ganz  Deutschland  und  seines  eignen  Bestehens 
ihm  darzulegen.  Einst  werden  diese  Documente  an  den  Tag  kommen 
und  zeugen  für  einen  prophetischen  Oeist,  der  mich  zuweilen  anfliegt.  — 
Es  war  ein  grosses  Wagniss  einem  diplomatischen  Wahnsinn  entgegen, 
einem  gefassten  Entschluss  des  Ministeriums,  in  den  der  König  sich 
wie  in  einen  Fuchsbau  verrammelt  hatte,  durch  eine  herzhafte,  aber  auch 
lockende  Sprache  für  sein  Heil,  für  seinen  Buhm  ihn  wieder  zu  ent- 
reissen,  und  gewiss  ich  hatte  ihn  wankend  gemacht;  sein  besserer  Dä- 
mon pflichtete  mir  bei,  —  aber  ich  siegte  dennoch  nicht.  Auf  ein 
Schreiben,  wie  es  noch  nie  an  einen  Monarchen  war  gerichtet  worden, 
erhielt  ich  keine  Antwort;  indess  ich  verzagte  nicht,  ich  schrieb  ein 
zweites  mal,  entschiedener,  anklagender  diejenigen,  die  ein  schwindeln- 
des Verderben  über  ihn  ausbreiteten.  —  Nun  ja!  ich  erhielt  jetzt  eine 
Antwort  vom  König,  worin  er  statt  meinen  Mahnungen  Gehör  zu 
schenken,  mir  mit  harten  Worten  entgegnete,  die  mir  bewiesen,  dass 
ich  bei  ihm  sei  angeklagt  worden,  doch  lag  etwas  versöhnendes  darin, 
dass  er  selbst  mir  schrieb,  eine  lange  Epistel,  worin  er  mich  schliesslich 
fragte,  warum  ich  böse  gegen  ihn  sei?')  Ich  fühlte  darin,  dass  er 
tiefer  von  mir  überzeugt  sei,  als  von  seiner  eignen  Meinung  und  nur  in 
ein  politisches  Netz  verstrickt,  welches  ihn  hindere,  die  Wahrheit  anders 

1)  Die  beiden  Schreiben  Bettinens  an  den  König,  dessen  Antwort  und  Bettinens 
drittes  Schreiben  fallen,  wie  sich  aus  dem  Zusammenhang  ergiebt,  in  die  Zeit  vor  dem 
Ausbnich  der  Pariser  Febmarrevolution  und  sind  allem  Anschein  nach  noch  unbekannt. 
Die  von  Geiger  S.  94 — lOß  mitgeteilten  Briefe  aus  den  J.  184*3/47  können  nicht  wohl 
gemeint  sein,  da  sie  sich  lediglich  auf  die  Angelegenheit  Microslawski  beziehen  und 
ihr  Inhalt  dem  hier  angedeuteten  wenig  entspricht. 


110  Karl  Obser 

als  feindlich  zu  behandeln,  und  daher  auch  sie  in  mir  zurückweisen 
müsse,  die  wie  ein  Geist  weder  sich  von  ihm  beschwören,  noch  leugnen 
Hess.  So  viel  ich  darunter  gelitten  habe,  holFte  ich  dennoch  auf  einen 
günstigeren  Zeitpunkt  und  beantwortete  in  dieser  Erwartung  des  Königs 
Handschreiben  entsagend,  aber  mit  gehobenem  Muth,  der  sich  von  seinen 
Stachelreden  nicht  bändigen  Hess.  Da  gleitet  plötzlich  der  mächtigste 
Thron  Europas  in  den  Staub!  Eine  Erschütterung  für  Deutschlands 
Throne!  Noch  konnte  unser  König  durch  ein  entsprechendes  Verfahren 
das  Volksvertrauen  erhalten;  aber  das  eiserne  Terroristen-System  der 
Minister  Hess  dies  nicht  zu.  —  Da  kam  das  Blutbad  vom  18.  März ! 
Politische  Verwirrung,  wahnsinniger  Hochmuth  ohne  Mass,  Volksrache 
beschworen  das  Verderben  herauf.  Das  Volksvertrauen  auf  die  feier- 
lichen Versprechen  des  Königs  ward  hart  erprobt,  bald  lernte  es  kennen, 
wie  man  es  mit  List  in  die  Netze  der  Beaction  verstrickte,  wie  die 
Polizei  ihre  Fangeisen  aufstellte,  um  es  en  canaille  wieder  dem  Abso- 
lutismus zu  verpfänden.  Von  diesem  Äugenblick  hab  ich  nicht  mehr 
einer  anderen  Sache  gedacht,  als  nur  der  Sache  der  verrathenen  Mensch- 
heit, der  Polen  nämlich,  die  man  sich  nicht  scheute  durch  die  heiligsten 
Versprechungen  zu  entwaffnen,  um  sie  dann  der  russischen  Übergewalt 
ins  Netz  zu  treiben.  Ach,  diesem  Verbrechen  wird  kein  Gott  mehr  das 
Mittel  zur  Sühnung  gewähren.  Wir  müssen  durch  diesen  blutigen  Nebel, 
dessen  erschütterndes  Geschrei:  „Es  lebe  die  RepubHk!*  nächstens  an 
den  Ohren  eines  früher  allgeUebten  Königs  anschlagen  wird!  Eben  als 
ich  dies  schreibe,  taumeln  60000  Menschen  an  unserer  Wohnung  vor- 
über in  die  Stadt,  um  das  neue  Ministerium  zu  stürzen,  weil  es  ohne 
Zustimmung  des  Volks  den  Prinz  von  Preussen  zurückberufen  hat.') 
Was  wird  sein  von  heut  bis  in  8  Tagen?  Wie  rasch  braust  die  Ge- 
schichte daher!  Oh,  seien  Sie  unbesorgt  um  Ihren  Aufenthalt  in  Rom! 
Während  wir  mitten  in  den  Flammen  stehen  zwischen  racheglühenden 
Polen,  preussischem  Verrath,  österreichischer  Mordgier  und  russischer 
Tyrannenwuth  und  vielleicht  als  letzte  Rettung  vor  der  Revolution 
einer  brodlosen  Volksmasse  die  einrückenden  Franzosen  begrüssen  werden ! 

16.  März  [sie!  Mai!].  Der  Strom  politischer  Ereignisse,  der  wie 
ein  Pfeil  unter  meinen  Augen  dahinschiesst,  lässt  mich  nicht  mehr  zu 
Wort  kommen  über  das,  was  sie  in  Frage  stellen.  Aber  doch  werden 
Sie  einsehen,  dass,  wo  Trümmer  auf  Trümmer  stürzen  und  alle  heiHgsten 


1)  t''ber  die  Volksversammlimjr  bei  den  Zelten  und  die  Demonstrationen  vom 
14.  Mai  vergl.  Varnhaj^en,  Tagebticher,  5,  20. 


Bettine  von  Arnim  und  ihr  Briefwechsel  mit  Panline  Steinhäuser  Hl 

Interessen  ihre  Anforderungen  geltend  machten,  nichts  in  seinen  Fugen 
bleibt,  Gelobungen  und  Verbindlichkeiten  mit  und  ohne  Contract  sich 
auflösen!  Bedauern  Sie  doch  ja  nicht,  keinen  Contract  gemacht  zu 
haben.  Als  die  Titanen  Jupiters  Welt  zerschlagen  wollten,  um  eine 
neue  zu  bauen,  kamen  sie  durch  den  eignen  Sturz  erst  zur  Erkenntniss, 
dass  sie  sich  wahrscheinlich  in  den  Mitteln  vergriffen  hatten.  Sie 
suchten  seitdem  noch  lange  nach  den  echten  Mitteln.  Auch  jetzt  geht 
es  so!  Ich  bedaure  Sie  während  dieser  fugenlosen  Zeit  nicht,  keinen 
Contract  gemacht  zu  haben;  sie  würde  ihn  dennoch  auflösen. 

Auf  Ihre  Frage,  was  ich  noch  für  das  Monument  zu  thun  gedenke, 
kann  ich  nur  dasselbe  antworten,  was  ich  bisher  zu  thun  mich  bestrebte, 
aber  leider  mit  weit  wenigeren  Chancen  des  Gelingens.  Bücher  werden 
in  dieser  Zeit  einer  epileptisch  gewordenen  Tagesgeschichte  nicht  ge- 
kauft. Mein  letztes  Buch  liegt  schon  längere  Zeit  zum  Versenden  be- 
reit, allein  es  ist  nicht  der  Mühe  werth.  Kein  Mensch  wird  heute 
lesen  Anderes,  als  was  auf  den  heutigen  Tag  sich  bezieht,  nämlich  die 
Zeitung.  Alle  Buchhändler  sprechen  von  Bankrutt!  Der  König  kann 
und  darf  nichts  thun,  als  alles  dem  verhungernden  Volke  zuwenden. 
Wollte  er  aber  auch,  er  kann  nicht,  denn  alles  Geld,  aller  Besitzthum 
ist  geschwunden.  Wohin?  Ich  weiss  es  nicht.  Keiner  weiss  es.  Gegen 
die  Zwangsanleihe  bewaffnet  sich  Bürger  und  Volk.  Gegen  freiwillige 
Beiträge  sind  Alle  taub,  so  sehr  man  von  oben  schreit:  „Das  Vaterland 
ist  in  Gefahr,  der  Feind  ist  vor  der  Thür!  Die  Bussen  kommen!  Die 
Franzosen  von  der  anderen  Seite !^  Die  Masse  antwortet:  „Lasst  sie 
kommen,  es  geht  uns  dann  nicht  schlimmer  als  jetzt!  wenn  sie  erst 
bei  uns  sind,  so  können  wir  sie  bequem  bekämpfen,  wir  brauchen  ihnen 
nicht  entgegen  zu  laufen.' 

Ich  hoffe  nun,  Sie  sehen  es  ein,  liebe  Pauline,  dass  nichts  von  mir 
abhängt,  was  ich  nicht  anwendete,  um  Ihr  Unternehmen  gelingen  zu 
machen,  und  dass  wahrscheinlich  von  jenen  Freunden  (von  denen  Sie  mir 
schrieben),  die  Ihnen  Vorwürfe  gemacht  haben,  dass  Sie  sich  nicht 
sicher  gestellt  haben  durch  einen  Contract,  keiner  gewesen  wäre,  der 
sich  so  Vielem  unterworfen  haben  würde  ohne  Contract,  und  dass,  wenn 
Sie  sagen,  es  gebe  eine  moralische  Sicherheit,  die  stärker  sei  und  ver- 
trauenbegründender als  Contracte,  Sie  doch  eingestehen  müssen,  dass  durch 
meine  Schuld  dies  Vertrauen  nie  konnte  gefährdet  werden.  Und  dass 
es  endlich  Schicksale  gibt,  die  alle  Contracte  vernichten,  aber  niemals 
den  guten  reinen  Willen,  der  gern  alles  Elend  abwenden  möchte,  alle 
Bedrängnisse,  allen  Kummer  erleichtern,  sich  selbst  aber  nie  hoch  an- 


112  Karl  Obser 

schlägt  und  die  eigenen  Interessen  in  nichts  geltender  findet,  als  sie  für 
andere  geltend  zu  machen.')  —  Im  Vertrauen  auf  Ihre  Freundschaft 
unterzeichne  ich  herzlich 

Bettine  Arnim. 
Nachschrift, 

Die  Ausstellung,  die  andere  Jahre  so  gedrängt  voll  war,  ist  dieses 
Jahr  so  leer,  dass  man  die  Leute  mit  der  Lorgnette  in  dem  grossen 
Salon  auffinden  muss. 

Man  hat  keine  Hoffnung  zu  verkaufen,  so  will  man's  mit  dem  Ver- 
losen versuchen.  Auch  das  wird  schwerlich  gelingen.  Der  ^Geiger*  ist 
dort  aufgestellt,  das  einzige  edle  Werk,  das  mir  geföllt,  bis  auf  den 
Kopf,  den  ich  entschieden  individueller  gewünscht  hätte.')  Allein  diesen 
gerade  nimmt  die  Gisel ')  in  Schutz,  und  ich  traue  ihr  mehr  feinen  Sinn 
für  die  Kunst  zu,  als  mir,  und  bescheide  mich  daher.  Friedrich  II.  ist 
nun  in  Bronze  gegossen  und  ausgestellt  in  einem  aparten  Local,^)  ich 
habe  nie  ein  infameres  Ungeheuer  gesehen,  als  das,  womit  Rauch  wahr- 
scheinlich seine  Künstlerlaufbahn  beschliessen  wird!  Sieht  von  Antlitz 
wie  eine  auf  dem  Maskenball  im  Faustkampf  plattgedrückte  Maske  [aus]. 
Der  Gaul  ist  mit  einem  Netz  von  Adern  überzogen,  dessen  weitgeöffnete 
Maschen  einem  auf  die  Idee  bringen,  als  sei  dies  Rennthier  in  einem 
Fischhamen  gefangen  worden !  .  .  .  . 

Noch  ein  letztes  Wort  übers  Monument.  Bleibt  der  König  und 
fügt  sich  in  die  Wickelbande  der  Constitution,  so  wird  die  Zeit  kommen, 
wo  wir  sein  gegebenes  Wort  in  Anspruch  nehmen  dürfen;  ich  wilPs 
hoffen.  Wird  durch  die  Gewalt  der  convulsiven  Bewegungen  eine  Um- 
wälzung alles  Bestehenden  [erfolgen],  was  leider  zu  befürchten  steht,  weil 
ungeheure  Krankheitssymptome  uns  beherrschen,  so  werden  vielleicht  die 
Werke  der  Kunst,  auch  sammt  den  so  hoch,  so  festgebauten  Vorrechten 
des  Bestehenden  zusammenstürzen !  Wir  liegen  nicht  ausserhalb  des 
Laufes  drohender  Geschicke! 


1)  Unterschrift  eigenhändig;  das  Folgende  wieder  Abschrift  liezw.  Diktat 

2)  Wohl  Steinhäusers  «Violinspieler",  der  18i8  vollendet  wunle,  eines  seiner 
trefflichsten  Bildwerke,  «von  wahrhaft  klassischer  Schönheit**;  eine  Wiederholung 
tindet  sich  im  Berliner  Museum. 

3)  Gisela  von  Arnim  (1827 — 1889),  Bettineus  jüngste  Tochter,  spater  vermählt 
mit  Hennann  Grimm. 

4)  Das  schroffe  T^rteil  tlher  Bauchs  bekannte  Beiterstatue  erklärt  sich  wohl  teil- 
weise  aus  seinen  abfälligen  Aussenmgen  filier  Bettinens  Denkmalentwurf.   Vergl.  unten. 


Bettine  von  Arnim  and  ihr  Briefwechsel  mit  Pauline  Steinhäuser  113 

Ich  würde  mehr  noch  wagen  und  Ihnen  versprechen  mit  demselben 
Eifer,  so  wenig  er  mir  auch  Früchte  brachte,  mich  dem  Gelingen  zu 
widmen,  wie  bisher.  Allein  wenn  Sie  nicht  auch  nach  allen  Beweisen, 
die  ich  unzweideutig  Ihnen  bisher  gegeben  (und  die  noch  stärker  ins 
Licht  treten  würden,  wenn  Sie  genauer  von  allen  auf  mich  gehäuften 
Bedrängnissen  unterrichtet  wären)  schon  von  selbst  den  Glauben  in  mich 
haben,  so  kann  meine  Betheuerung  Sie  nur  beschämen !  Kommt  der  König 
in  die  Lage,  dass  es  nicht  unverschämt  sein  würde,  an  frühere  Ver- 
heissungen  (die  er  in  diesem  Augenblick  gezwungen  ist,  unberücksichtigt 
zu  lassen)  zu  mahnen,  so  werde  ich  Sie  darüber  unterrichten  und  Ihnen 
Vorschläge  machen  zu  einem  direkten  Schreiben  an  ihn,  auf  das  er  ge- 
wiss Rücksicht  nehmen  soll,  wenn  es  in  der  Möglichkeit  steht,  darauf 
einzugehen. 

Ich  habe  nun  schon  Vorkehrungen  getrofien,  die  Zeichnungen  der 
Ansichten  ausfahren  zu  lassen;  sowie  ich  damit  im  Stande  bin,  werde 
ich  Ihnen  eine  Durchzeichnung  zukommen  lassen.  Allein  gedrängt  darf 
ich  nicht  werden,  weil  ich  nirgend  wieder  drängen  kann,  und  weil  ich 
durch  andere  Verpflichtungen,  die  viel  absoluter  auftreten,  in  jeder 
Willensmeinung  gehemmt  bin ! 

Ein  allgemeines  bouleversement  steht  bevor,  und  (sie !)  in  Folge  dessen 
der  Herr  Generaldirektor  der  Königl.  Museen  leicht  auch  als  überflüssige 
Staatsbelastung  dürfte  gestrichen  werden,  und  viele  werden  bald  ohne 
Gehalt  und  ohne  Carri^re  sein,  die  schon  ihr  ganzes  Leben  darauf  be- 
rechnet hatten.  Dies  Schicksal  wird  mich  auch  betreffen  in  meinem 
Sohn,  der  jetzt  den  Gesandtschaftsposten  in  dem  aufrührerischen  Baden 
bekleidet^),  weil  der  ordentliche  Gesandte  der  Lebensgefahr  halber  sich 
zurükzog.  —  Der  Melicher,  der  mitzuwirken  hat  bei  dem  Monument  des 
Hahnemann,  ist  auch  von  mir  angegangen  worden '),  den  Steinhäuser  zu 
berücksichtigen,  ich  habe  ihm  dieserhalb  einen  alten  Schinken  von  Portrait 
jn  Aussicht  gestellt.  Sie  werden  sich  der  Magdeburger  Bürgermeisterfrau 
noch  erinnern,  die  Sie  bei  mir  gesehen  haben !  Die  soll  er  haben,  wenn 
er  Euch  diese  Aufgabe  zukommen  lässt.  Aber  Steinhäuser  muss  sich 
auch  nicht  wehren,  den  gebändigten  Höllenhund  zu  Füssen  des  Doktor- 
fürsten zu  machen !  Was  hat  er  dagegen  ?  Ich  finde  die  Idee  trefflich ! 

1)  Sigmund  von  Arnim,  preiissischor  Gesandtschaftssekretär  in  Karlsruhe.  Nach 
freundlicher  Mitteilung  des  Herrn  Geh.  Archivrats  Dr.  Bailleu. 

2)  Steinhäuser  erhielt  infolge  dessen  den  Auftrag,  ein  Standhild  des  hekannten 
Arztes  und  Begründers  der  H()mr>opathie,  Samuel  Hahnemann,  für  Leipzig  herzu- 
stellen, das  im  August  18.>1  enthüllt  wurde.  Kin  Brief  F.  H.  Melirher's,  üher  dessen 
Persönlichkeit  ich  nichts  ermitteln  konnte,  befindet  sich  im  Nachlass  Steinhäusers. 

NEUE  UEIDELB.  JAHRBUECHER  XII.  8 


114  Karl  Obser 

Ich  ^)  habe  die  paar  Seiten  abschreiben  lassen,  weil  ich  zu  unleser- 
lich geschrieben  hatte.  Heute  am  20ten  Mai  schicke  ich  diese  Zeilen 
an  Sie;  möchten  Sie  daraus  ersehen,  dass  Ihre  Vorwürfe  in  Ihrem  letzten 
Schreiben  vom  26ten  April  ungerecht  sind.  Ich  bedaure,  dass  ich  für 
ernste  und  warme  Theilnahme  an  diesem  unternehmen,  da  ich  weit  mehr 
auf  mich  nahm,  als  ich  mir  zugetraut  haben  würde,  nichts  geerndtet 
habe  als  den  Tadel  Ihrer  Freunde,  dass  Sie  gewagt  hatten,  eine  solche 
Aufgabe  ohne  Contrakt  zu  unternehmen.  Bei  einem  allgemeinen  Erd- 
beben hat  keiner  Zeit  dem  Nachbar  Vorwürfe  zu  machen,  warum  die 
Mauer  seines  Hauses  auf  ihn  fällt,  denn  in  demselben  Augenblick  fällt 
auf  jenen  auch  die  Mauer  des  eigenen  Hauses. 

ünsre  eben  umlaufenden  Nachrichten  aus  Paris  sind  den  Anstre- 
bungen des  Königs  vorläufig  sehr  entsprechend.  Die  Reaktion  hofft  bald 
kräftiger  auftreten  zu  können  und  vielleicht  ist  es  dann  eher  möglich, 
den  König  über  das  Monument  zu  sondiren.  Ich  werde  nicht  versäumen 
Ihnen  das  Nötige  darüber  zu  berichten  und  genau  die  Schritte  anzu- 
geben, die  Sie  dann  werden  thun  können,  wenn  Sie  noch  soviel  Glauben 
in  meine  Verheisungen  haben  werden. 

Vielleicht  aber  kommt  es  auch  ganz  anders,  als  wie  man  da  oben 
hofft  und  unten  zu  verhüten  trachtet!  Dann  wird  der  Saamen  der  Er- 
bitterung mehr  schiessen  und  seine  Früchte  werden  dem  scheusslichsten 
Egoismus  zu  gut  kommen;  dann  wird  man  sich  blutiger  Erbschaften 
erfreuen  und  die  rächenden  Geister  der  geschändeten  Menschheit  werden 
lauernd  der  Vergeltung  harren,  und  dies  letzte  ist  mir  mehr  als  wahr- 
scheinlich, da  man  der  Russen  harrt,  um  der  verlorenen  Anmassungen 
gegen  Freiheit  und  Recht  sich  wieder  zu  bemächtigen,  und  jetzt  schon 
sich  nicht  scheut,  im  Gefolge  von  Lüge  und  Wuth  die  schaudemdste 
Verlezungen  der  Menschlichkeit  als  Patriotismus  und  Justiz  zu  üben. 

Indem  ich  hoffe,  dass  die  Wahrheit  alles  dessen,  was  ich  hier  mit- 
theilte, Ihnen  einleuchten  möge,  und  mit  Wünschen  für  Ihr  besseres 
Glück  Bettine. 

6. 

28.  Oktober  [1848] 

Liebe  Pauline  I  Ihr  lieber  kalter  Brief,  der  hintenan  mit  etwas 
bitzelndem  Rauch  von  glimmendem  Zorn  ausgeht,  ist  schon  von  ihrer 
lieben  Schwester  an  mich  bevorwortet  worden  und  ich  habe,  wie  natür- 
lich,  alles,  was  sie  mir  sagte,  mit  Freude  vernommen.     Es  ist  heute 


1)  Das  Folgendo  wieder  eigenhändig. 


Bettine  von  Arnim  und  ihr  Briefwechsel  mit  Pauline  Steinhäuser  115 

der  fünfte  Tag,  dass  ichs  erfahren  habe.  Wir  machten  miteinander  aus, 
dass  Ratti  eine  Durchzeichnung  von  der  Kücklehne  des  Stuhles  machen 
solle.  Leider  ist  dabei  das  Nothwendige  die  ganzen  (sie !)  Stuhlumfassung, 
auf  welche  die  Rückseite  des  Stuhls  berechnet  ist.  Sie  ist  eine  archi- 
tektonische Nothwendigkeit.  Ich  werde  sie  in  so  kurzer  Zeit  nicht  fertig 
bringen  nebst  der  ganzen  Brunnenumgebung,  auf  den  (sie!)  die  Statue 
zu  stehen  kommen  sollte  und  hier  auf  den  Exerzierplatz  berechnet  war. 
Sie  bestehen  aus  sieben  Basrelief,  von  denen  drei  schon  fertig  sind. 
O  wie  schade!  —  Dem  König  habe  ich  vor  kurzem  noch  Briefe  über 
seine  politische  Lage  geschrieben,  Dinge,  die  von  mir  allein  gefasst 
waren.  Ich  bin  aber  bei  ihm  für  einen  politischen  Phantasten  ge- 
halten! .  .  . 

Folgen  Mitteilungen  aus  dem  Familienkreise:  Erkrankung  ihres 
Sohnes  Friedmund  an  Typhus,  Niederkunft  ihrer  Schwiegertochter^)  u.  n. 

.  .  .  Alles,  was  ich  durch  Bücher  sonst  erworben  habe  und  worauf 
ich  angewiesen  war,  um  Papier  und  Druck  zu  zahlen,  ist  Kriegs-  und 
Revolutions-halber  nicht  gezahlt  worden.  Der  Buchdrucker  hat  mich 
verklagt,  der  Papierhändler  hat  mich  verklagt  und  noch  ein  zweiter 
Papierhändler.  Dafür  hat  das  Kammergericht  alle  Betrüger  und  Diebe 
meines  Eigenthums  mit  der  grössten  Unverschämtheit  unterstützt,  ja  ich 
muss  glauben,  dass  polizeilich  Gauner  aufgetrieben  werden,  um  micli 
mit  falschen  Anforderungen  zu  behelligen.  Das  ist,  was  mir  zu  schaffen 
macht.  .  .  . 

Ausserdem  hat  man  zu  Gunsten  der  reichen  Bauern  alle  ihre  Ver- 
pflichtungen gegen  die  Gutsherrn  ohne  Entschädigung  aufgehoben,  wo- 
durch alle  armen  Leute,  welche  von  dem  Gutsherrn  ihr  Brod  hatten, 
jetzt  ganz  verdorben  sind.  Noch  ist  eine  Grundsteuer  im  Werk,  wo 
jeder  Gutsherr  den  ganzen  Werth  seines  Gutes  versteuern  muss ;  da  aber 
kein  Gut  ist,  wo  nicht  grosse  Kapitale  drauf  stehen  und  zwar  so,  dass 
der  Gutsherr  oft  nur  10000,  ja  weniger  dran  hat  bei  einem  Kapital 
von  100  000,  von  denen  er  die  Zinsen  ins  Ausland  zu  zahlen  hat,  so  ist 
der  Bankrot  unvermeidlich.  Alles  ist  schon  darauf  gefasst  von  diesem 
wahnsinnigen  und  ganz  von  der  Unwissenheit  durchdrungenen  Treiben, 
welches  die  Armuth  aufs  höchste  steigern  muss,  zerschmettert  zu  wer- 
den! Das  viele  Zerschlagen  und  Demoliren  der  Eisenbahnen  und  andre 
Kriegsgräuel  haben  die  Actien  heruntergedrückt,  dass  sie  beinah  auf 
Null  stehen  und  ausserdem   dies  Jahr  nicht  gezahlt  haben;   die  Feld- 

1)  Achim  von  Arnim,  geh.  24.  März  1848,  gest.  8.  Fehr.  1891. 


116  Karl  Obser 

arbeiter  haben  die  doppelte  Lohnerhöhung  gefordert:  mein  Sohn  hat 
also  den  Kindern  ihren  kleinen  Antheil  nicht  zahlen  können.  Wir  sind 
eben  dabei  unsre  Kräfte  anzustrengen,  um  selbst  unser  Brodt  zu  ver- 
dienen. Das  ist  also,  was  andre  Menschen  Unglück  nennen,  was  mich 
aber  nicht  afiizirt  und  zum  Glük  auch  nicht  meine  Kinder  .  .  . 

Adieu,  liebe  Pauline !  rechnen  Sie  mir  meine  Fehler  nicht  zu  hoch 
an,  es  ist  keine  Versäumniss  Ihrer,  sie  haben  mir  immer  am  Herzen 
gelegen  und  werden  es  immer.  Es  ist  Mangel,  alles  zu  umfassen,  was 
wie  ein  grosser  Strom  mich  überschwemmt,  unter  dem  ich  dennoch, 
wie  gebannt  an  gewisse  heilige  Menschheitsintresse  angestrengt  arbeite. 
0,  nicht  die  Hälfte,  was  meine  Seele  und  Geist  noch  zu  bekämpfen 
haben,  ist  hier  angedeutet.  Adieu,  Adieu!  Ratti  soll  Ihnen  bald  alles, 
was  ich  jetzt  zum  ganzen  beitragen  kann,  übersenden. 

ihre  herzliche  Freundin 
28ten  October.  Bettine. 

Man  darf  nach  dem  letzten  Briefe  wohl  vermuten,  dass  die  Ver- 
stimmung nicht  von  langer  Dauer  war.  Bettine,  die  sich  wieder  eifrig 
mit  den  Zeichnungen  für  die  Basreliefs  beschäftigte,  die  Sockel  und 
Stufen  des  Denkmals  umkleiden  sollten,  bot  air  ihre  liebenswürdige 
Beredsamkeit  auf,  um  den  Künstler  zu  beruhigen  und  ihm  neuen  Mut 
einzuflössen.  Wenn  der  König  das  Monument  nicht  nehme,  müsse  Lon- 
don oder  Paris,  wie  sie  meinte,  dasselbe  erwerben;  durch  eine  Ausstel- 
lung der  Entwürfe  in  den  beiden  Städten  hoffte  sie  zum  mindesten  dem 
Denkmalfonds  eine  Summe  zuwenden  zu  können.  Auch  Steinhäuser  schien 
wieder  Hoffnung  gefasst  zu  haben  und  machte  sich  rüstig  ans  Werk. 
„Meine  grosse  Goethestatue  —  schrieb  er  am  6.  April  1849  dem  Vater 
—  geht  jetzt  vorwärts,  es  wird  fortwährend  daran  gearbeitet",  und 
nach  Jahresfrist  wieder:  „Der  Goethe  geht  immer  vorwärts,  es  ist  eine 
ganz  ungeheuere  Arbeit  daran.*'  Er  hatte  dabei  jedoch  nur  die  ursprüng- 
lich geplante  Gruppe  im  Auge;  um  den  Monumentalbrunnen  und  die 
Reliefs,  für  die  Bettine  fortwährend  neue  Vorschläge  unterbreitete,  küm- 
merte er  sich  bei  der  Ausführung  vorläufig  nicht,  in  der  richtigen  Er- 
wägung, dass  die  Statue  wohl  sicher  einen  Käufer  finden  werde,  die 
Herstellung  des  Monumentalbrunnens  ohne  besonderen  Auftrag  aber  ein 
Ding  der  Unmöglichkeit  sei.  Er  hoffte  hierbei  immer  noch  auf  Friedrich 
Wilhelm  IV,  der,  wie  Bettine  versicherte,  sich  wiederholt  darnach  er- 
kundigt hatte.  Frau  von  Arnim  gab  ihm  den  Rat,  er  möge  sieh  direkt 
an  den  König  wenden,   doch   dürfe  er  sich  nicht  darauf  berufen,  dass 


Betüne  von  Arnim  und  ihr  ßriefwechsel  mit  Pauline  Steinhäuser  117 

dieser  ihrer  Tochter  Armgard  versprochen  habe,  das  Denkmal  zu  er- 
werben. „Steinhäuser  möge  sagen,  —  so  Hess  sie  ihm  durch  eine  seiner 
Nichten  schreiben  —  die  Arnim  habe  ihm  die  Freude  gemacht,  ihm 
die  Ausführung  des  Monuments  zu  übertragen,  doch  sehe  er  jetzt,  dass 
die  Sache  zu  grossartig  werde,  als  dass  er  mit  seinen  eigenen  Kräften 
es  allein  ausfahren  könne,  deshalb  wende  er  sich  mit  der  Bitte  an  den 
König,  ob  derselbe  ihn  nicht  dabei  unterstützen  wolle.  Dann  möge 
Steinhäuser  dabei  erwähnen,  dass  Frau  von  Arnim  noch  Reliefs  dazu 
entwerfe  —  diese  könne  Steinhäuser  dann  loben,  soviel  er  wolle,  schaltete 
sie  hierbei  ein  —  besonders  aber  möge  Steinhäuser  erwähnen,  dass  die 
lieliefs  einen  Springbrunnen  bildeten,  da  der  König  diese  ganz  besonders 
liebe  und  ihn  das  besonders  interessieren  werde.  **  ^) 

Der  Meister  scheint  den  Rat  befolgt  zu  haben,  freilich  ohne  sein 
Ziel  zu  erreichen ;  Varnhagen,  dessen  Tagebücher  für  die  folgenden  Jahre 
zahlreiche  Nachrichten  über  die  Angelegenheit  enthalten,  will  wenigstens 
wissen,  der  König  habe  Steinhäuser  auf  seine  Anfrage  im  Dezember  1850 
durch  den  Generaldirektor  der  Museen,  Olfers,  eröffnen  lassen,  dass  er 
^in  diesen  Zeitumständen"  nichts  thun  könne.')  Gleichwohl  gab  der 
Künstler  seine  Sache  noch  nicht  verloren.  Offenbar  in  der  Absicht,  sich 
an  Ort  und  Stelle  klaren  Aufschluss  über  die  Lage  der  Dinge  zu  ver- 
schaffen, erschien  er  im  Juni  1851,  in  Begleitung  seiner  Frau,  in  Berlin. 
Unter  den  Augen  Bettinens  stellte  er  dort  die  Idee  des  Ganzen  vorläufig 
fest  und  baute  das  Gipsmodell  für  den  Monumentalbrunnen  auf.  Sein 
Wunsch,  den  König  zu  sprechen  und  mit  ihm  womöglich  ein  Abkommen 
zu  treffen,  sollte  sich  aber  nicht  erfüllen ;  als  er  im  August  die  Haupt- 
stadt wieder  verliess,  war  er  seinem  Ziele  nicht  viel  näher  gerückt,  das 
Schicksal  des  Denkmals  immer  noch  ungewiss.^)  Äusserungen  Hum- 
boldts, mit  dem  Bettine  sich  darüber  unterhielt,  lauteten  keineswegs 
ermutigend;  Rauch  und  Olfers,  ohne  deren  Rat  der  König  eine  Ent- 
scheidung voraussichtlich  nicht  traf,  waren  allem  Anschein  nach  dem 
Plane  wenig  gewogen;  der  erstgenannte,  dessen  Beziehungen  zu  dem 
früheren  Schüler  sich  längst  abgekühlt  hatten,  hielt  mit  seinem  abfälligen 
Urteile  über  die  Arnim*sche  Komposition  nicht  zurück.  Bettine  klagte 
offen  über  Ränke,   mit  denen  man  sie  und  ihren  Schützling  verfolge. 


1)  Marianne  Dussler  an  Pauliuc  Steinhäuser,  4.  Jan.  1850. 

2)  Tagebücher,  8,  211. 

3)  Varnhagen,   Tagebücher  (1851   Juni  11,  13,  Aug.  10,  11)  8,  208,  211, 
•294,  295. 


118  Karl  Obser 

und  verzweifelte  zeitweise  selbst  an  der  Hoffnung,  dass  der  König  seinem 
Versprechen  gemäss  das  Gipsmodell  besichtigen  werde.') 

Aus  diesen  wechselnden  Verhältnissen  und  Stimmungen  sind    die 
drei  nächstfolgenden  Briefe  entstanden. 

7. 

[16.  Aug.  1849.] 
Liebe  Pauline!    Die  Figur  mit  den  beiden  Kindern  soll  Ihr  lieber 
mit  mir  so  nachsichtiger  Steinhäuser  ja  nicht  machen,   ich  werde  ihm 
auf  beide  Seiten  viel  originellere  Kindergruppen  schicken ;  auch  ist  diese 
Figur  nicht  von  mir!  —  Wenn  Sie   sich   aus  der  kleinen  Krupelscitze 
vernehmen  können,  welche  hier  beiliegt,  so  werden  Sie  sehen,  das  bas- 
relief  des  Piedestal  läuft  von  einer  Seite  um  den   vordem  Theil  herum 
bis  zur  andern  Seite,   es  ist  ein  Bachanal,   von   dem  sie  schon  Theile 
gesehen  haben  und  welches  mit  prächtigem  Weinlaub  durchrankt  ist, 
und  wird  den  Würfel  zu  einem  grossartigen  Kunstgebilde  schaffen,  wie 
bisher  noch  keins  gesehen  worden :  in  der  Mitte  grade  der  Bachus,  wie 
er  die  Psyche  aus  dem  gährenden  Weinduft  rettet,  Tieger,  die  ihn  um- 
heulen !  —  trunkne  Bachantinnen  im  Schlaf  und  Taumel  versunken !  — 
Das  Basrelief  verliert  sich   von   beiden  Seiten   bis  nahe  an  die  Wasser 
spauzenden  Medusen  und  lässt  ganz  nachlässig  und  unbekümmert  den 
übrigen  Platz  leer.   Dies  denke  ich  mir  besonders  schön,  dass  es  unbe- 
kümmert um  den  leeren  Platz,   wie  ein  echtes  Kunstwerk  nur  für  sich 
selbst  redet.  —   Die  weissen  Marmorbasreliefs,  welche  den  Wassertrog 
bilden,  gehen  (wie  der  Würfel  von  vorne  nach  hinten)  von  hinten  nach 
vorne,   wo  sie  von  der  breiten  Marmortreppe  von  sieben  Stufen  abge- 
kantet sind  und  zu  dem  Würfel  hinaufführen,  den  weisse  Marmorplatten 
umgeben,   welche  einen  Umgang  um  das  basrelief  des  Würfels  bilden 
bis  an  das  Ende  desselben  und  weiter  oder  vielmehr  ganz  herum,  wenn 
man  das  Nasswerden  nicht  scheut,  denn  die  Medusen  speien  ihr  Wasser 
so  weit  vor,  dass  man  dahinter  weggehen  kann.  —  Die  Bäume  auf  der 
Höhe  der  basreliefs  vom  Trog   sollen  lebendige  Lorbeer,  Myrten  und 
Granaten  seien  in  schönen  Bronzekübeln,  aber  ganz  einfach  von  der  edel- 
sten antiken  Form.    Diese  basreliefs  von  weissem  Marmor  haben  eine 
bronze  Einfassung,  die  breit  genug  ist,  um  diese  Vasen  zu  tragen;  es 
ist  auch  unten  mit  Bronze  eingefasst  (vielleicht  oder  vielleicht  auch 
nicht).    Dann  steht  der  Trog  auch  auf  zwei  Stufen.    Das  basrelief,  das 
den  Trog  umgiebt,  hat  das  eigenthümliche,  dass  es  aus  zwei  Lagen  be- 

1)  Varn Lagen,  Tagebücher  (1851  Sept  21),  8,  343. 


Bettine  von  ArDim  und  ihr  Briefwechsel  mit  Pauline  Steinhäuser  119 

steht.    Alles  noch   im  Mutterleib  der  firtiodung,   aber  kein  Mohnkalb, 
sondern  eine  Kunstwirklichkeit. 

Sie  tadeln  meine  politische  Richtung!  ich  habe  nie  etwas  unter- 
nommen, was  nicht  ein  Muss  in  mir  gewesen  wäre,  und  bin  zum  wenig- 
sten nicht  unfruchtbar  für  die  Menschheit  gewesen,  denn  viele  haben 
ihre  Köpfe  noch  auf  dem  Rumpf  sitzen,  denen  sie  gewiss  verloren 
waren,  wenn  ich  nicht  mit  beinah  übernatürlicher  Anstrengung  dagegen 
gekämpft  hätte!  —  Auf  die  Zeichnungen  müssen  Sie  wenigstens  ein 
V4  Jahr  warten,  aber  wenn  mich  Gott  leben  lässt,  nicht  länger.  Die 
Zeichnungen  sollen  in  Paris  und  London  ausgestellt  werden;  viele  sehr 
bedeutende  Personen  intressiren  sich  dafür.  Es  soll  etwas  eintragen, 
und  wenn  es  meine  Reise  nach  Rom  deckt,  so  komme  ich  zu  Euch  — 
sonst  kann  ich  nicht,  denn  ich  bin  ganz  arm.  —  Geht  es  dem  König 
gut  dann  wird  er  es  gewiss  nehmen;  er  hat  schon  mehrmals  danach 
gefragt.  Gehts  ihm  aber  schlecht,  so  muss  das  brittische  oder  pariser 
Museum  es  kaufen.  Noch  viel  hätte  ich  Ihnen  zu  sagen,  aber  ich  kann 
nicht  mehr.  Es  wird  sich  alles  ausweisen.  Das  basrelief  über  dem 
Haupt  der  aufsteigenden  Figur,  die  Steinhäuser  ja  nicht  zu  klein  machen 
muss,  soll  auch  gemacht  werden.  Das  Rabenvieh,  was  Steinhäuser 
Frankfurter  Adler  nennt, ^)  kann  und  darf  nicht  vornehin,  da  mein 
Basrelief  das  ganze  Werk  emporhebt  und  davorne  bleiben  muss,  weil 
sonst  das  Individuelle  ganz  darin  verloren  geht.  Ich  begreife  auch  nicht, 
wie  diese  so  schaale  Idee  Gnade  vor  ihm  findet.  Was  würde  auch  die 
Welt  sagen,  wenn  sie  einmal  ausgestellt  wären  und  man  fände,  dass  der 
Künstler  den  Adler  dem  Bachanal  vorgezogen  hätte !  Das  war  ihm  ein 
ewiger  Vorwurf!  —  Adieu,  und  alle  Kinder  Adieu  und  die  göttlich 
schöne  Madona  soll  gelingen,  und  die  kleine  Paulline  Adieu  und  Vivat 
die  grosse  Nation,  die  Ungern,  die  so  vielen  vom  Erschiessen  helfen, 
denn  man  hat  hier  schon  Angst  vor  ihnen! 

Die  Eure  von  Herzen 
16teu  August  1849.  Bettine 

8. 

[8.  Sept.  1851] 

Liebe  Pauline.  Ich  befinde  mich  immer  noch  hier  auf  dem  Lande 
und  werde  auch  vor  4  Wochen  noch  nicht  fort  kommen;  als  ich  hier 

1)  Wohl  der  Adler,  der  auch  nach  dem  iu*sprünglicheu  Entwürfe  Bettinens  auf 
der  Stirnseite  des  Sockels  angebracht  ist.  Vergl.  das  Titelbild  zu  „Goethes  Brief- 
wechsel*. 


120  Karl  Obser 

ankam,  fand  ich  die  Gesundheit  von  Freimund  ao  sehr  geschwächt  und 
so  bedenkliche  Anzeichen,  dass  ich  ihn  schnell  nach  der  Stadt  schiken 
musste,  um  dort  ärztliche  Hülfe  zu  suchen,  was  er  nicht  anders  thun 
wollte,  bis  ich  ihm  versprach,  so  lange  hier  zu  bleiben ;  nun  ist  er  seit 
14  Tagen  dort  und  ich  sitze  hier  in  einem  grossen  Haus  ganz  allein, 
sogar  ohne  Bedienung,  denn  diese  wohnt  in  einem  andern  Gebäude. 
Jeden  Abend  um  8  ühr  wird  das  grosse  Haus  zugeschlossen.  —  Und 
nun  kommt  es  darauf  an,  dass  mich  die  Spitzbuben  nicht  ermorden,  die 
in  unserer  Gegend  häufig  einbrechen;  sonst  ists  ums  Monument  ge- 
schehen. Wir  haben  zwar  hier  6  tüchtige  Hunde,  die  bei  dem  gering- 
sten Argwohn  um  die  Wette  ein  höllisches  Gebell  verführen,  aber  kein 
Mensch  hört  nach  ihnen,  nur  ich,  und  wie  manche  Nacht  spring  ich 
aus  dem  Bett,  reiss  das  Fenster  auf,  ruf  hinaus:  „Johann!  Kunz! 
Peter!  Friederich!  —  seid  ihr  alle  wach?*  —  nur  damit  die  Diebe 
davon  laufen  sollen  aus  Furcht  vor  dieser  grossen  Volletaille,  die  im 
tiefsten  Schlaf  jenseit  des  grossen  weitläufigen  Hofes  liegt.  —  Wie  selt- 
sam wechseln  doch  meine  Geschäfte!  —  hier  bin  ich  Zimmermann, 
Tischler,  Drechsler,  Glaser  und  Schlosser,  —  in  Berlin  hatte  ich  die 
Ehre  von  Euch  unter  die  Künstler  gezählt  zu  werden.  —  Nach  3  Wochen 
werde  ich  wieder  nach  Berlin  gehen.  Dann  wird  Freimund  wieder  hier 
sein  und  hoffentlich  mit  bessrer  Gesundheit.  Ich  wollte  erst  mit  Gisel 
in  ein  Bad  gehen,  um  mich  wieder  ein  bischen  zu  erholen,  allein  ich 
habs  aufgegeben,  um  meine  Zeit  möglichst  zusammen  zu  halten,  bis  ich 
mein  Versprechen  gegen  Sie  werde  gelöst  haben. 

Der  König  ist  immer  noch  nicht  in  Berlin.  Hat  Ihnen  vielleicht 
Katti  geschrieben,  dass  ich  noch  am  Tag  vor  meiner  Abreise,  —  den- 
selben, an  dem  ich  von  Ihnen  Abschied  nahm  —  den  Humbold  ge- 
sprochen habe  und  dass  er  selbst  mir  von  der  Scitze  sprach  und  mich 
fragte,  ob  Steinhäuser  vielleicht  denke,  dass  es  vom  König  werde  be- 
stellt werden,  so  irre  er  sich  sehr,  den[n]  das  Ministerium  habe  keinen 
Heller  dazu  zu  verausgaben.  '  Ich  gab  ihm  zur  Antwort,  dass  ich  nicht 
glaube,  dass  Steinhäuser  im  Sinn  habe,  diese  Bitte  zu  äussern.  ,Nun/ 
fragte  er,  ,was  will  er  dann  damit?"  —  ich  sagte,  es  sei  ihm  eine 
angenehme  Arbeit  und  er  mache  sie  aus  Liebhaberei.  Er  fragte,  was 
die  Arbeit  denn  allenfalls  kosten  werde,  —  ich  sagte,  dass  ich  vermuthe, 
die  colossale  Statue,  welche  bereits  schon  fertig  sei,  werde  den  Preiss 
von  10000  Tbl.  nicht  übersteigen.  »Auch  10000  Tbl.  können  nicht  ver- 
ausgabt werden,  denn  es  ist  keine  Möglichkeit,  dass  auch  nur  ein  Heller 
gezahlt  werden  (sie!)."  —  „„Ja,  daran  denken  wir  auch  nicht,  die  Statue 


Bettine  von  Arnim  und  ihr  Briefwechsel  mit  Pauliue  Steinhäuser  121 

wird,  wenn  Steinhäuser  sie  verkaufen  will,  augenblicklich  verkauft  sein/' 
—  „Wohin?*  fragte  er.  —  „, Überall,  in  Paris,  Frankfurt,  Weimar, 
aber  am  schnellsten  noch  in  Amerika."*  —  „0,  man  wird  wohl  auch 
noch  in  Europa  einen  Ort  finden!*  —  «„Nein,**  sagte  ich,  ,, Amerika 
ist  der  einzige  Ort,  der  passend  sein  wird,  da  der  König  von  Preussen, 
der  sie  früher  immer  gewünscht  hat,  sie  jezt  natürlich  nicht  mehr  be- 
rüksichtigt,  da  so  viele  andre  grosse  Monumente  in  Arbeit  sind.  Auch 
denke  ich  gar  nicht  daran,  auf  ihre  Anfertigung  einen  Werth  zu  legen, 
denn  jezt  bin  ich  geborgen,  dass  sie  zum  wenigsten  nicht  in  Lieblose 
Hände  kömmt,  denn  Steinhäuser  allein  hat  die  Scitze  gemacht  und  sie 
ganz  nach  meinem  Sinn  angefertigt.**  —  Ob  sie  denn  nicht  ganz  nach 
der  Scitze  sei,  welche  vor  meinem  Briefwechsel  in  Kupfer  sei?  —  ich 
sagte:  „  Ja,  und  noch  ein  bischen  dazu,^*  und  hier  fing  Giesel  an,  ihren 
Enthusiasmus  auch  auszusprechen.  Hier  frug  er,  ob  ich  wisse,  dass 
Herr  von  Olfers  mit  dem  König  nach  HohenzoUern  gereist  sei?  Ich 
erwiederte,  dass  mich  dies  wenig  interessire,  da  ich  Herrn  von  Olfers 
sehr  wenig  kenne.  —  Er  sah  mich  verwundert  an  und  ärgerte  sich 
etwas.  Wir  nahmen  den  herzlichsten  und  ehrfurchtsvollsten  Abschied 
von  ihm  und  gingen  fort.  —  Vorgestern  kam  nun  ein  höchst  steifer 
und  diplomatischer  Brief  von  dem  Oberbaurath  Stüler  an  mich,  worin 
er  mir  meldet,  dass  er  bei  seiner  Rükkehr  von  seiner  Heise  mit  dem 
König  einen  Brief  des  Herrn  Steinhäuser  vorgefunden  habe,  begleitet 
von  einem  Schreiben  meiner  Hand  betreffend  die  unglükliche  Kassen- 
differenz der  an  den  König  verkauften  Statuen.^)  Steinhäuser  sei  abge- 
reist, ohne  diese  erledigt  zu  haben  und  ohne  auch  nur  die  ihm  anver- 
traute Auseinandersetzungen  der  Hofmarschallamtskasse  zurükzugeben 
etc.  etc.,  dass  er  sich  daher  an  mich  wenden  müsse,  weil  er  nach  mei- 
nem Schreiben  schliessen  müsse,  dass  ich  im  Besitz  von  Papieren  sei, 
welche  der  Oberrechnungskammer  gegenüber  den  Beweis  führen,  dass 
Steinhäuser  nur  die  accordirte  Summe  erhalten  habe,  was  die  Kammer 
aus  Mangel  an  hinreichendem  Beweiss  nicht  anerkennen  wolle ;  ich  solle 
daher  so  gütig  sein,  irgend  ein  offizielles  Schreiben  vorzuweissen,  aus 

1)  Es  handelte  sich  um  die  Statuen  des  „ Muschelmädchens ",  —  die  erste  war 
beim  Abladen  zerbrochen  und  durch  eine  zweite  ersetzt  worden.  Steinhäuser  hatte 
(vergl.  oben  S.  94)  i.  J.  1843  unter  Vermittlung  Bettinens  1500  Thl.  dafür  erhalten, 
wogegen  die  Oberrechnungsltanimer  nach  8  Jahren  mit  der  Behauptung  auftrat,  es 
seien  nur  1000  Thl.  bewilligt  worden,  und  von  dem  Künstler  Rückzahlung  oder  Nach- 
weis für  den  rechtmässigen  Bezug  des  Mehrbetrags  verlangte.  Der  Briefwechsel  Bet- 
tinens mit  Karl  Steinhäuser  und  dem  Oberbaurat  Stüler  über  diese  Angelegenheit,  der 
sich  bei  den  Akten  befindet,  bietet  kein  weiteres  Interesse. 


122  Karl  Obser 

welchem  die  von  sr.  M.  dem  König  bewilligten  Preise  für  beide  Sta- 
tuen und  die  nachbewilligten  Emballagekosten  ersichtlich  seien,  wäre 
dies  aber  nicht  möglich,  so  wird  und  muss  instructionsmässig  die  Ober- 
Kechnungskammer  auf  eine  Indemnitätsbill  Sr.  M.  des  Königs  bestehen 
etc.  etc.  Nachträglich  bittet  er  inständigst,  dieser  widerwärtigen  Ver- 
handlung durch  gütige  Übersendung  der  über  die  Preisse  sprechenden 
Papiere  oder  durch  Auswirkung  einer  nachträglichen  Allerhöchsten  Ge- 
nehmigung dieser  gezahlten  Summen  ein  Ende  /,u  machen.  Die  wohl- 
verdiente Gunst,  welche  ich  Steinhäuser  zuwende,  werde  mir  vielleicht 
diese  Zumuthung  weniger  unangenehm  machen.  Ich  habe 
hierauf  eine  Antwort  gegeben,  welche  mir  das  grösste  Vergnügen  macht 
—  noch  ist  sie  nicht  ganz  fertig  —  und  sie  wird  wohl  zwei  grosse 
Bogen  anfüllen.  Bei  Gelegenheit  werde  ich  sie  ihnen  nach  Rom  senden, 
es  wird  dies  mir  eine  gute  Unterstützung  sein  bei  dem  König,  wenn 
ich  ihm  die  Scitze  zeigen  werde,  denn  er  muss  sie  lesen,  sie  enthält  zu 
viel  Schmeichelhaftes  für  ihn  und  ironisiert  mit  der  grössten  Feinheit 
die  Oberrechnungskammer.  Sie  werden  aus  diesen  Mittheilungen  er- 
kennen, dass  ich  bis  jezt  noch  nicht  müde  geworden  bin,  alles,  was 
und  wie  ich  es  für  Ihr  Interesse  verwenden  kann,  sofort  zu  benützen. 
Werden  Sie  nicht  aengstlich,  wenn  es  ein  wenig  laenger  dauert,  aber 
sein  Sie  auch  überzeugt,  dass  ich  fort  und  fort  mit  Eifer  dafür  wirke. 
Reisen  Sie  glüklich  und  denken  meiner  im  Guten. 

Ihre  herzlich  ergebene 

Bettine  Arnim, 
am  8ten  September  1851 

Wiepersdorf  bei  Jüterbog 
über  Nonnendorf. 

Adr. :  An  Fr.  Pauline  Steinhäuser 

Bremen. 

9. 

[9.  Januar  1852] 

Mitteilung  eines  Schreibens  Stülers  vom  17.  Dez.  und  der  Antwoii 
Bettinens  vom  26.  Dez. 

Über  diese  Geschichte  kümmert  Euch  nicht!  Gebt  um  Gottes- 
willen kein  Geld!  ich  werde,  sowie  ich  zum  König  komme,  alles  ihm 
vorlegen  als  Aktenstük,  den  Grund  belegend,  warum  die  Zahlung,  wenn 
er  das  Monument  machen  lasst,  durch  andere  Hände  als  diese  an  Euch 


Bettine  von  Arnim  und  ihr  Briefwechsel  mit  Pauline  Steinhäuser  123 

muss  gelangen.  Ich  werde  heute  noch  an  den  König  schreiben,  um  ihn 
vorläufig  zu  benachrichtigen. 

Liebe  Pauline,  auf  der  andern  Seite  Kopie  von  Stülers  und  meiner 
Oorrespondenz.  Steinhäuser  soll  ihm  schreiben,  er  habe  sie  bei  mir  ge- 
troffen zu  haben  geglaubt,  ich  könne  sie  aber  nicht  finden.  Dies  ist 
auch  wahr,  denn  bei  meiner  Abreise  nach  Wiepersdorf  und  Transport 
vieler  Papiere  können  sie  leicht  drunter  gekommen  sein.  Wenn  ich  sie 
habe,  so  werde  ich  sie  zu  rechter  Zeit  schon  finden,  denn  dann  werd 
ich  sie  nötig  haben.  Wenn  es  wahr  ist,  was  sie  von  Reumont  gehört 
haben,  so  sagen  [Sie]  Steinhäuser,  dass  er  ohne  meinen  Gonsenz  nicht 
über  die  Statue  disponiren  könnt.  Das  wird  mich  um  so  schneller  zum 
Ziel  führen.  Seit  Ihr  fort  seid,  hat  Niemand  das  Modell  gesehen.  Wir 
haben  auch  nicht  davon  gesprochen.  Es  sind  tolle  Intriguen  im  Gang 
gegen  dies  Kunstwerk,  beinah  ärger  wie  in  der  Weltgeschichte  jezt,  ich 
aber  habe  alles  vorbereitet,  diesen  Intriguen  einen  tüchtigen  Nakenschlag 
zu  versetzen.  Ich  habe  ohne  Rast  vom  Morgen  bis  zum  Abend  daran 
gearbeitet.  In  der  Zeit,  wo  Sie  dies  Schreiben  erhalten  haben  werden, 
würde  ich  auch  bei  dem  König  angefragt  haben,  wenn  ich  nicht  jezt 
erst  warten  müsste,  ob  die  Nachricht  mit  dem  Ankauf  sich  bestätige. 
Ich  bitte,  versäumt  nicht,  zu  thun,  wie  ich  euch  sage,  dass  Ihr  nemlich 
mich  erst  fragen  müsstet.  Dies  giebt  die  beste  Gelegenheit  dem  König 
das  Monument  vorzuzeigen  und  ihn  zu  fragen,  ob  er  die  Basreliefs  nicht 
auch  will  machen  lassen.  Es  wird  hier  Monument  auf  Monument  ge- 
häuft. Die  Menschen  werden  nächstens  zusammen  rüken  müssen,  um 
ihnen  Platz  zu  machen. 

Liebe  Pauline,  glauben  Sie,  viel  muss  ich  an  Sie  denken  bei  allem, 
was  Ihnen  weh  thut.  Sie  werden  sich  aber  selbst  sagen,  dass  Schmerzen 
auch  von  Gott  geschafTen  sind  und  dass  sie  in  Bitterkeit  einem  vor 
manchem  bewahren,  was  man  sonst  mitgelebt  haben  würde.  Aber  Heiter- 
keit ist  die  wahre  Sprache  des  Göttlichen.  Ich  hoffe  gewiss,  dass  wir 
uns  sehen  werden,  vielleicht  in  diesem  Jahre. 

Ihre  treue  Freundin  Bettine 
Berlin  am  9ten  Januar:  51 

Hoffnungen  und  Enttäuschungen  lösten  einander  auch  in  der  Folge 
ab.  Auf  eine  Anfrage  der  Frau  von  Arnim  erklärte  der  König  sich  be- 
reit, das  Gipsmodell  in  Augenschein  zu  nehmen,  und  ordnete  (Febr.  1852) 
an,  dass  es  zu  dem  Zwecke  nach  Schloss  Bellevue  verbracht  werde.  Eine 
persönliche  Begegnung  mit  Bettine  wünschte  er  aber  nicht;    «früher, 


124  Karl  Obrer 

als  sie  eine  Macht  gewesen,  habe  ihre  Annäherung  ihm  geschmeichelt, 

aber  seit  1848! ^^)    Ihr  Versuch,  ihn  dennoch  zu  sprechen  miss- 

glückte.  Nach  einiger  Zeit  kam  der  Bescheid,  der  König  habe  die  Skizze 
besichtigt  und  bitte,  sie  wieder  abholen  zu  lassen.  Kein  Wort  weiter! 
Bettine  legte  dieses  Schweigen  zu  ihren  Ungunsten  aus  und  war  daher 
um  so  freudiger  überrascht,  als  sie  mittelbar  durch  den  General  von 
Willisen  erfuhr,  der  König  sei  von  dem  Modell  ganz  entzückt  und  finde 
es  , herrlich,  prächtig,  ohne  jedes  Aber/ ')  Allzu  vertrauensselig  frei- 
lich blickte  sie  nicht  in  die  Zukunft,  denn  sie  wusste  auch,  dass  der 
König  verschiedene  Künstler  und  Kunstverständige  um  ihre  Meinung 
befragt  habe,  die  den  Entwurf  nach  Kräften  herabsetzten.  Sie  nahm 
sich  vor,  einiges  daran  zu  ändern,  und  dachte  den  Herrscher  zu  bestim- 
men, dass  er  das  Modell  noch  einmal  sehe ;  zugleich  wollte  sie  ihm  mit- 
teilen, dass  eine  allgemeine  Subskription  zu  Gunsten  des  Denkmals  er- 
öffnet werde,  und  ihn  ersuchen,  seinen  Namen  als  erster  auf  die  Liste 
zu  setzen.  Vielleicht,  meinte  sie,  entschliesse  er  sich  dann  doch  zum 
Kaufe;  andernfalls  setze  sie  ihre  Hoffnung  auf  den  Grossherzog  von 
Weimar  oder  König  Ludwig  von  Baiern.  Wenn  sie  letzterem  —  fügte 
sie  scherzend  hinzu,  —  ihr  Bachanalrelief  als  Oktoberfest  demonstriere, 
werde  er  sicherlich  Feuer  und  Flamme  sein. 

Unterdessen  harrte  das  römische  Künstlerpaar  sehnlichst  auf  die 
Entscheidung.  Die  Goethestatue  mit  der  Psyche  stand  nahezu  fertig 
in  des  Meisters  Atelier :  ein  gewaltiges  Bildwerk,  das  schon  allein  durch 
seine  Grössenverhältnisse ')  wirkte,  voll  Harmonie  und  Formenschönheit. 
Der  erste  Entwurf  Bettinens  war,  von  geringfügigen  Änderungen  abge- 
sehen, pietätvoll  festgehalten  worden.  „Feierliche  Stille*  schwebt  nach 
der  Schilderung  einer  berufenen  Interpretin  über  dem  Ganzen.  „Goethe 
in  der  Majestät  des  Dichterkönigs.  Über  den  tiefen  wunderbaren  Augen 
leuchtet  herrlich  die  erhabene  Stirne,  ein  Hauch  der  Begeisterung  um- 
spielt die  riesig  grossen  Züge.  Die  Falten  des  Mantels,  wie  von  der 
Morgenluft  einer  höheren  Welt  geschwebt,  scheinen  sich  melodisch  zu 
bewegen,  während  die  kindliche  Psyche  das  Geheimnis  der  Dichterseele 
durch  die  Leier  ausspricht:  ihre  Unschuld  und  Schönheit  sind  das  Ge- 
wand, das  sie  den  Blicken  der  Gemeinheit  verhüllt.^  ^) 


1)  Varnhageu.  Tagebücher  (1852  März  2),  0,  95. 

2)  Varnhageu,  Tagebücher  (1852  April  3)  U,  148;  ebenda  9,  150,  155. 

3)  Höhe  der  Goethestatue:  8  Fuss  2^/3",  der  Psyche:  4'  IOV2". 

4)  Undatierter  Aufsatz  von  Pauline  Steinhäuser,  wohl  aus  d.  J.  1852.    Konzept 


Bettine  von  Arnim  und  ihr  Briefwechsel  mit  Pauline  Steinhäuser  125 

Aber  es  steckte  die  Arbeit  von  vier  Jahren  in  dem  Werke,  die 
Auslagen,  die  dem  Künstler  erwachsen,  waren  beträchtlich  und  beliefen 
sich  nach  seiner  Berechnung  auf  4000  Scudi:  die  nervöse  Ungeduld, 
die  sich  seiner  allmählich  bemächtigte,  war  daher  begreiflich.  Wenn 
Bettine  in  ihrem  naiven  Optimismus  die  Sache  einst  so  leicht  geschil- 
dert hatte  „wie  das  Verspeisen  des  täglichen  Brods*,  so  bewiesen  die 
Erfahrungen  der  letzten  Zeit  nur  zu  sehr  das  Gegenteil.  Als  monate- 
lang aus  Berlin  keine  Nachricht  eintraf,  konnte  Pauline  Steinhäuser  sich 
nicht  enthalten,  in  vorwurfsvollem  Tone  der  Gönnerin  und  Freundin  zu 
schreiben.^)  Die  Antwort  Bettinens  enthält  der  Brief  vom  26.  Mai,  dessen 
Inhalt  ich  oben  kurz  skizziert  habe.  Er  vermochte  den  Meister  nicht 
zu  beruhigen,  um  so  weniger,  als  dieser  bald  darauf  durch  Bettinens 
Tochter  Maximiliane,  die  zu  Besuch  in  Rom  erschien,  die  niederschmet- 
ternde Kunde  erhielt,  dass  in  Berlin  keine  Aussicht  mehr  bestehe.  Worauf 
sich  diese  Mitteilung  stützte,  entzieht  sich  unserer  Kenntnis.  „Sei  es, 
dass  die  Gegenwirkung  sehr  einflussreicher  Männer  meine  nicht  unbe- 
gründeten Hoffnungen  vereitelte,  sei  es,  dass  der  König,  durch  die  poli- 
tischen Tendenzen  der  Frau  von  Arnim  beleidigt,  ihr  und  ihrer  Unter- 
nehmung seine  Neigung  ganz  entzogen  hat,  ich  weiss  es  nicht,''  —  klagte 
Steinhäuser.^)  Er  war  entschlossen,  die  Statue  nunmehr  gegen  Ersetzung 
der  Auslagen  seiner  Vaterstadt  Bremen  anzubieten  und  schrieb  in  die- 
sem Sinne  an  seinen  alten  Gönner,  den  Senator  Klugkist,  während  seine 
Frau  Bettine  davon  benachrichtigte.  So  schlimm,  wie  er  meinte,  stand 
indes  anscheinend  die  Sache  in  Berlin  doch  noch  nicht;  Maximilianens 
Mitteilungen  erwiesen  sich  mindestens  als  verfrüht.  Ende  Juni  erfuhr 
er,  dass  Friedrich  Wilhelm  IV.  durch  seinen  Privatsekretär  von  Niebuhr 
bei  Frau  von  Arnim  nach  dem  Kostenanschlage  des  ganzen  Monumentes 
habe  erkundigen  lassen,^)  —  ein  Schritt,  der  immerhin  zeigte,  dass  der 


1)  Die  Darstelhing,  die  Vamhagen  (Briefe  von  SUigeman  n.s.w.,  270)  von  den  Be- 
ziehungen Bettinens  zn  Steinhäuser  gieht,  muss,  wie  zur  Ehre  beider  Teile  festzu- 
stellen ist,  fast  in  jedem  Satze  als  tendcnzirts  und  unzuverlässig  bezeichnet  werden. 
Es  ist,  wie  wir  sehen,  nicht  richtig,  dass  Bettine  dem  Bildhauer  vorspiegelte,  „der 
König  habe  das  Ganze  gebilligt  und  übernommen**,  während  er  thatsächlich  nichts 
davon  gevnisst  habe,  mid  es  beniht  ebenso  auf  böswilligem  Klatsch,  wenn  behauptet 
wird,  der  Künstler  habe,  als  er  sich  getäuscht  gesehen,  Bettinen  mit  einer  Forderung 
von  20000  Thl.  (!)  gedroht  und  sie  und  ihre  Familie  in  peinlichste  Sorge  versetzt. 
Der  Brief  Paulinens,  in  dem  sie  Frau  von  Arnim  versichert,  dass  sie  ihren  Kummer 
ebenso  schmerzlich  empfinde,  wie  den  eigenen,  spricht  für  ihre  vornehme  Denkweise 
und  bürgt  dafür,  dass  die  Auseinandersetzung  eine  nihige  und  würdige  war. 

2)  An  Senator  Klugkist.    Undatiertes  Konzept  aus  dem  Juni  1852. 

3)  An  Senator  Klugkist,  13.  Juli  1852.    Konzept. 


126  Karl  Obser 

König  sich  mit  dem  Gegenstande  noch  beschäftigte,  imd  den  Künstler 
bestimmte,  von  Verhandlungen  mit  Bremen  vorläufig  abzusehen.  Bettine 
ihrerseits  suchte  die  günstige  Stimmung  zu  nützen.  —  , Meine  Begriffe 
von  Eurer  Majestät  eingebornen  Grossmuth,  schrieb  sie  am  3.  August 
dem  Herrscher,  waren  wankend  geworden  als  mir  vor  einiger  Zeit  die 
Meldung  ward:  Der  Scitze  von  Goethes  Denkmal  könne  der  Platz  in 
Bellevue  nicht  länger  gestattet  werden ;  ich  glaubte,  ein  unverschuldeter 
Unwille  habe  diese  kalten  Worte  an  mich  gelangen  lassen ;  später  kam 
mir  die  bessre  Einsicht,  dass  etwa  ein  Missfallen  an  der  Scitze  selbst 
dies  veranlasst  habe,  und  jetzt  nachdem  ich  viel  Fehlerhaftes  darin  ver- 
besserte, fühle  ich  um  so  mehr,  wie  sehr  mein  Enthusiasmus  über  sein 
Verdienst  hinausgriff,  aber  doch  hoffe  ich,  das  Mangelhafte,  was  mit 
prüfender  Geduld  in  der  Scitze  nicht  überwunden  ist,  wird  im  Grossen 
sich  von  selbst  fügen;  ich  kann  trotz  vieler  hartneckiger  Gegner  die 
Schmach  nicht  auf  mich  nehmen,  jetzt  wo  ich  vielleicht  der  Vollendung 
am  nächsten  stehe,  es  fallen  zu  lassen;  da  besonders  ein  Kostenplan 
vom  Bildhauer  aufgestellt  ist,  der  unschwer  durch  Suscription  erreicht 
werden  kann;  dieser  besteht  in  einem  Vorschuss  von  etwa  6000  Thlrn. 
während  fünf  Jahren ;  im  sechsten  Jahr,  wo  seine  Vollendung  bedingt 
ist,  erhält  der  Künstler  noch  so  viel,  dass  mit  dem  Vorschuss  der  frü- 
heren  Jahre  50000  Thlr.  voll  werden.  Ich  hatte  früher  die  Hoffnung, 
dass  es  in  Sans  Souci  aufgestellt  werde,  jetzt  da  es  ein  allgemeines  deut- 
sches Denkmal  werden  soll,  darf  ich  diesen  Wunsch  nicht  mehr  aus- 
sprechen.* *) 

Es  war  ein  letzter  Versuch:  falls  er  mislingen  sollte,  war  Bettine, 
wie  wir  aus  dem  Briefe  an  Pauline  Steinhäuser  vom  5.  August  ersehen, 
gewillt,  auf  dem  Wege  einer  allgemeinen  Subskription  die  Mittel  zur 
Verwirklichung  ihrer  hochfliegenden  Pläne  flüssig  zu  machen.  Und  er 
misslang;  der  König,  bei  dem  offenbar  gegenteilige  Einflüsse  die  Ober- 
hand gewannen,  beantwortete  ihr  Schreiben  nicht  und  liess  auch  sonst 
nichts  weiter  von  sich  hören.  Ende  September  machte  sie  sich  daher, 
wie  dem  letzten  der  hier  folgenden  Briefe  zu  entnehmen  ist,  auf  den 
Weg,  um  auf  einer  Reise  durch  Deutschland  für  ihr  Denkmal  zu  werben. 
Die  Stimmung  in  Frankfurt  schien  günstig.  Ein  Zentralausschuss  wollte 
dort  die  Sache  in  die  Hand  nehmen,  in  allen  grösseren  Städten  sollten 
Zweigkomites  gebildet  werden.  In  Weimar,  das  sie  als  Heimstätte  für 
die  Monumentalanlage  ausersehen  hatte,  erklärte  Liszt  sich  bereit,  zu 


1)  Geiger,  a.  a.  0.  190 ff. 


Bettine  von  Arnim  und  ihr  ßriefwrechsel  mit  Pauline  Steinhäuser  127 

Gunsten  des  Unternehmens  Konzerte  zu  veranstalten.  Die  Prinzessin 
von  Preussen,  die  spätere  Kaiserin,  stand  dem  Plane  sympathisch  gegen- 
über; ihren  Bruder,  den  Erbgrossherzog,  hoffte  Bettine  nach  seiner  Rück- 
kehr aus  Italien  dafür  zu  gewinnen.  Von  Berlin  aus  wollte  sie  dann 
ungesäumt  einen  öffentlichen  Aufruf  erlassen. 

10. 

(26.  Mai  1852.) 

Liebe  Pauline.  Ihren  Brief  erhielt  ich  im  Augenblick,  da  ich  noth- 
gedrungen  nach  Leipzig  reisen  musste  und  konnte  dort  durchaus  keinen 
Augenblick  finden,  ihn  zu  erwiedern.  Seit  gestern  zurück  ist  es  mein 
erstes  Geschäft. 

Sie  befinden  es  unrecht  von  mir,  dass  ich  nicht  schreibe?  Wenn 
ich  Ihnen  etwas  definitives  oder  interessantes  mitzutheilen  hätte,  so  wür- 
den beflügelte  Briefe  zu  Ihnen  gelangen.  Wenn  Sie  furchten,  dass  ich 
Ihre  Interessen  vernachlässigen  könne,  so  ists  Ihre  Schuld,  denn  Was 
während  unsrer  langen  Bekanntschaft  Ihnen  beweisen  konnte,  dass  ich 
nichts  der  Art  versäume,  müssen  Sie  hinlänglich  erfahren  haben,  und  auch 
jezt  würden  Sie  dies  alles  doppelt  bewährt  erkennen  müssen  und  Sie 
würden  sich  schämen  müssen,  solche  Äusserungen  des  MisswoUens  gegen 
mich  gemacht  zu  haben,  wenn  Sie  Augenzeugen  wären  von  Allem,  was 
ich  gethan  habe.  An  Allem,  was  Steinhäusers  Ungeduld  mit  dem  Mo- 
nument beginnt  oder  vorhat,  werde  ich  ihn  nicht  hindern;  wenn  er  es 
verkauft,  werde  ich  nicht  dagegen  sprechen,  denn  ich  kann  keine  Ge- 
wissheit geben,  dass  es  gemacht  werde,  —  es  wird  mich  auch  nicht 
hindern  das  mögliche  noch  dafür  zu  thun,  allein  ich  werde  dann  auch 
nicht  mehr  dafür  wirken  können,  dass  Er  es  mache.  Denn  nur  dies 
ists,  worauf  ich  mich  stützen  könnte,  um  es  ihm  machen  zu  lassen.  — 
Dem  König  hatte  ich  geschrieben  um  die  Erlaubniss,  die  Scitze  ihm 
selbst  zu  zeigen,  ich  habe  ihn  zugleich  gebeten,  dass  er  es  ein  Geheim- 
niss  zwischen  Ihm  und  mir  bleibe  (sie!);  er  hat  es  auf  diese  Beding- 
nisse  hin  nach  Bellevue  kommen  lassen;  hat  mir  eine  bestimmte  Zeit 
brieflich  angegeben,  wann  er  glaube  dort  sein  zu  können ;  ich  war  dort, 
habe  ohne  Essen  und  Trinken  den  ganzen  Tag  dort  gewartet:  er  kam 
nicht.  Es  vergingen  14  Tage,  dann  erhielt  ich  durch  den  Kastellan 
Nachricht,  der  König  habe  die  Scitze  schon  lange  gesehen  und,  da  er 
jezt  in  diesem  seinem  Schlafzimmer  in  Bellevue,  wohin  es  auf  seinen 
Befehl  gestellt  ward,  damit  es  nach  meinen  Wünschen  niemand  anders 
sehen  möge,   Ministerrath   halten   werde,   so   wäre  es  nothwendig,  dass 


128  Karl  Obser 

ichs  wieder  abholen  lasse.  Dies  hab  ich  sofort  gethan.  Kein  einziges 
Wort  verlautete  weiter,  kein  Mensch  sagte  ein  Wort,  auch  der  König 
nicht.  Nach  6  Wochen  kamen  indirekte  Anfragen,  was  damit  geschehen 
sei.  General  Willisen  sagte,  der  König  habe  ihn  aufgefordert,  das 
Monument  in  Bellevue  zu  betrachten,  und  als  er  hingekommen  sei,  habe 
er  es  nicht  mehr  gefunden.  Dies  habe  er  dem  König  gesagt,  worüber 
dieser  schrecklich  böse  geworden  sei.  Dies  erzählte  Willisen  dem  Yarn- 
hagen  und  sagte  ihm,  —  dass  der  König  das  Monument  schöner  ge- 
funden habe,  als  ihm  je  was  anders  vorgekommen.  Darauf  kann  man 
aber  nicht  bauen,  denn  ebenso  soll  er  viele  Menschen,  unter  andern  die 
sieben  weisen  Meister  hinzitirt  haben,  die  es  ihm  schlecht  ge- 
macht haben:  man  könne  es  gar  nicht  machen,  es  sei  schlecht  als 
Scitze  behandelt.  Es.  werde  eine  Summe,  die  unerschwinglich  sei,  kosten 
etc.  Noch  mancher  andere  Tadel  ist  ihm  geworden.  Namentlich  die 
Pinienäpfel  missfielen.  Ich  habe  nun  alles,  was  man  schlecht  fand,  noch 
mehr  hervorgehoben  und  werde  möglichst  veranlassen,  dass  der  König 
es  noch  einmal  sehe.  Ich  werde  ihm  den  Preiss  schreiben,  für  welchen 
es  gemacht  kann  werden,  ich  werde  hinzufügen,  dass  jährliche  Zah- 
lungen von  vielleicht  6000  Tbl,  während  es  gemacht  wird,  dem  Künstler 
vorgeschossen  werden  müssen,  daher  die  Summe  gar  nicht  zu  berück- 
sichtigen sei,  weil  sie  in  massigen  langsam  aufeinander  folgenden  Zeit- 
räumen ausgezahlt  werden  würde.  Ich  werde  ihm  zugleich  sagen,  dass 
eine  öffentliche  Suscription  dafür  solle  in  Umlauf  gesetzt  werden,  und 
ihn  auffordern,  der  erste  zu  sein.  Vielleicht  entschliesst  er  sich  dann, 
es  dennoch  machen  zu  lassen.  Wo  dies  nicht  gelingt,  werde  ich  den 
Grossherzog  von  Weimar  und  das  ganze  Land  von  Sachsen  dazu  auf- 
fordern. Wenn  ich  den  König  von  Baiern  persönlich  darüber  spreche, 
so  ist  noch  nicht  gesagt,  dass  er  es  nicht  machen  werde  lassen,  ja  ich 
möchte  beinah  dafür  stehen,  dass  er  dazu  erbötig  sein  werde,  sobald 
ich  ihm  das  untere  Basrelief  als  Octoberheft  demonstrire.  Ferner  kann 
ebenso  gut  in  Prankfurt  eine  Suscription  eröffnet  werden,  und  es  ist  die 
Frage,  ob  dies  nicht  am  ersten  gelingen  werde.  Mitten  in  der  Stadt 
sowohl  als  auch  an  der  nahen  Grenze  sind  herrliche  Plätze  dazu.  Dies 
ist  was  ich  Ihnen  sagen  kann,  und  Sie  hätten  es  sich  selbst  sagen 
können  nach  dem,  was  Sie  schon  von  mir  erfahren  haben. 

Der  Trog  rund  ums  Monument  ist  nun  auch  ausgeführt,  dank  sei 
es  dem  Fleise  Ilatti's  und  seiner  liebenswürdigen  Schwägerin  Elise,  die 
beide  mir  Treu  bis  auf  den  heutigen  Tag  beistehen  und  alles  mir  so 
ausführten,    wie   es  meiner  Einsicht  und   Wünschen   entsprechend   ist. 


Betthie  von  Arnim  und  ilir  Briefwechsel  mit  Pauline  Steinhäuser  129 

Durch  den  Wassertrog  hat  das  Monument  unendlich  gewonnen  und 
hierdurch  erst  einen  edlen  Abschluss  erhalten.  Den  Goethe  haben  wir 
nach  meinem  Gefühl  etwas  höher  gesezt,  der  Stuhl  musste  nach  oben 
breiter  werden.  Dies  haben  wir  dadurch  bewerkstelligt,  dass  der  Stuhl 
in  der  Mitte  um  ein  gutes  Stük  weiter  gemacht  ist.  Dadurch  ist  die 
hintere  Figur  flöten  gegangen,  aber  sie  ist  sehr  gut  ersezt.  Dieselbe 
ist  nun  grösser  und  weit  bedeutender  geworden,  so  dass  sie  ein  Monu- 
ment für  sich  darstellt.  Die  Schwäne  sind  vorgerukt,  dies  wirkt  trefl- 
lieh.  Auch  noch  die  Wasserstrahlen  werden  gemacht  werden  in  Glas 
und  um  den  Trog  selbst  werden  an  jedem  Pfeiler  Wasserspeiende 
Thierköpfe  angebracht,  die  zwar  ganz  unbedeutend  scheinen,  dennoch 
zum  vollständigen  Abschluss  des  Ganzen  der  wesentlichste  Beitrag  seiner 
Vollendung  sind.  Rund  um  den  Trog  gehen  Marmorplatten  bis  nach 
vorne  hin.  Ausserdem  hängen  Kränze  aller  Art  an  den  Pinien.  Dies 
thut  mit  dem  Basrelief  hinreissende  Wirkung.  —  Es  kann  auch  noch 
ausgestellt  werden,  wo  eine  Sammlung  veranstaltet  wird.  Dies  alles  ist 
zu  überlegen  und  kann  nicht  so  geschwind  geschehen,  aber  es  ist  bis- 
her noch  immer  das  höchste  Intrese  meines  Lebens. 

Adieu!  möge  Ihnen  die  Zeit  nicht  zu  lang  werden,  bis  es  zur 
Wirklichkeit  gedeihe.  Dann  werde  ich  auch  Sie  ins  Auge  behalten 
können,  denn  ich  bin  nicht  Treulos,  wenn  ich  nicht  dazu  gezwungen 
werde  durch  die,  welche  sich  von  selbst  von  dieser  Treue  losmachen. 

Bettine. 
am  26ten  Mai  1852 

11. 

Pauline  Steinhäuser  an  Bettine  von  Arnim. 

[Juni  1852] 

Steinhäuser  trägt  mir  auf,  einige  Zeilen  an  Sie  zu  schreiben,  um 
Ihnen  seine  Ansichten  und  Wünsche  über  das  Goethedenkmal  mitzu- 
theilen.  Sie  können  sich  denken,  dass  die  Nachricht,  dass  uusre  Hoff- 
nung in  Berlin  gescheitert  sei,  ihn  sehr  schmerzlich  berührt  hat ;  es  ist 
nun  vorüber,  er  hat  Charakter  genug,  um  auch  Schwereres  zu  tragen, 
und  hat  es  soweit  überwunden,  dass  er  heiter  und  ungestört  an  seinen 
übrigen  Arbeiten  fortfährt.  Ich  kann  Sie  versichern,  dass  der  Kummer, 
den  Sie  nothwendig  dabei  gehabt  haben,  uns  ebenso  schmerzlich  fällt, 
wie  unser  eigner.  Beugen  wir  uns  dem  Schicksal  und  bleiben  treu  und 
liebend  verbunden. 

9 


130  Karl  Obser 

Um  nun  diese  Sache  zum  Abschluss  zu  bringen,  die  Steinhänsern 
mehr  Opfer  gekostet  hat,  als  der  gewöhnliche  Massstab  der  Pflicht  für 
erlaubt  halten  könnte,  um  wenigstens  so  bald  und  ungestört  wie  möglich 
zu  seinen  übrigen  Arbeiten  zurückzukehren,  hat  er  sich  entschlossen, 
den  Goethe  den  Bremern  für  die  Auslagen  anzubieten.  Wir  wollten 
Ihnen  indessen  dies  mittheilen,  wenn  Sie  noch  einen  anderen  Ausweg 
wüssten,  etwa,  wie  Fräulein  Max  meinte,  durch  den  Erbprinzen  von 
Weimar  ihn  denen  in  Weimar  anzubieten,  die  ja  ein  Goethemonnment 
haben  wollen,  auch  unter  den  möglichst  massigen  Bedingungen,  d.  h. 
eine  Sammlung  durch  ganz  Deutschland  zu  machen,  um  das  Ganze  für 
Weimar  auszufahren.  Das  ist  ja  ein  Gedanke,  der  sehr  nahe  liegt  und 
dessen  Gelingen  Fräulein  Max  für  sehr  wahrscheinlich  hielt.  Ich  weiss 
nicht,  wie  Sie  darüber  denken,  muss  aber  das  bemerken,  dass  Steinhäuser 
in  jeder  Hinsicht  ungeeignet  ist,  diese  Sammlung  zu  betreiben. 

Der  König  von  Baiern,  der  alte  Ludwig,  ist  gewiss  der  letzte,  dies 
Monument  zu  begünstigen,  da  er,  eifersüchtig  auf  Schwanthalers  Mach- 
werk, gejgen  Steinhäuser  keine  Silbe  über  seinen  Goethe  erwähnte,  den 
er  doch  hier  gesehen  hat  und  da  von  Goethemonumenten  zwischen  dem 
König,  dem  jungen  Goethe  und  Steinhäuser  an  des  Königs  Tafel  die 
Rede  war.  Meinen  Sie  aber  vielleicht  den  jetzt  regierenden  König,  so 
haben  wir  darüber  gar  kein  ürtheil. 

Konzept. 

12. 

[5.  August  1852] 

Liebe  Pauline,  hier  haben  Sie  die  Abschrift  des  Briefes  an  den 
König,  den  [ich]  vorgestern  an  ihn  gesendet  habe;  er  ist  jetzt  in  Danzig, 
von  da  nach  Putbus.  Wenn  keine  entscheidende  Antwort  darauf  erfolgt, 
so  sind  schon  alle  Vorbereitungen  zu  einer  allgemeinen  Suscription  ge- 
troffen; sie  wird  in  allen  bedeutenden  Städten  Deutschlands  sein  und 
bei  den  Listen  zugleich  Photographien  der  Hauptansichten  des 
Monumentes. 

Liebe  Pauline,  ich  bitte  dass  Sie  durchaus  vorsichtig  sind  und  nie- 
mand etwas  davon  mittheilen,  auch  ja  nicht  von  dem  Brief  an  den  König, 
denn  wenn  er  auch  die  grösste  Lust  dazu  hätte,  so  wird  er  es  nimmer- 
mehr machen  lassen  können,  wenn  es  erst  bekannt  wird,  dass  er  daran 
dächte.  —  Ich  bin  während  4  Wochen  lahm  gewesen  an  der  rechten 
Hand  in  Folge  vielen  Schreibens  und  erst  seit  einigen  Tagen  gehts 
besser.  Ich  muss  deswegen  in  ein  Bad  gehen,  um  mich  ganz  herzu- 
stellen .... 


Bettine  von  Arnim  und  ihr  Briefwechsel  mit  Pauline  Steinhäuser  131 

(Nachrkhtm  über  Kattis  Familie^  in  (Ie7'  Krankheit  herrscht.) 

Max  ist  hier  sehr  unwohl  angekommen  und  ist  nun  nach  Nordernei 
ins  Seebad;  wenn  sie  gestärkt  zurückkommt,  so  wird  sie  mir  beistehen, 
die  Suscriptionen  in  Deutschland  zu  eröffnen.  Wir  haben  schon  bedeu- 
tende Leute  dafür  angeworben.  Adieu,  liebe  Pauline!  Vertrauen  Sie! 
mehr  als  je  bin  ich  überzeugt,  dass  es  gelingen  werde.  —  Rauch  hat 
gesagt,  das  sei  eine  Composition  einer  phantastischen  Frau, 
aber  unmöglich  sei  es,  sie  insLeben  zu  rufen,  ausserdem 
sei  die  Figur  der  Psyche  ganz  obscön  und  es  würde  ein 
Scandal  sein,  sie  öffentlich  zu  sehen.^)  Ich  habe  unterdessen 
mit  Hülfe  der  Elise  Hüfner^)  die  Psyche  nach  meiner  Zeichnung  her- 
vorgebracht. Ausserdem  an  jeden  Pinienapfel,  die  ich  vergrössert  habe, 
einen  Kranz  gehängt.  Der  Sarkophag  ist  um  ein  6tel  verlängert,  die 
Treppe  verbreitert.  Das  äussere  Basrelief  um  ein  ganzes  Feld  vergrössert, 
so  dass  die  Treppe  sich  weit  vorstreckt,  unter  jedem  Pilaster  ein  Ele- 
phantenkopf—  wunderschön  —  der  mit  seinem  Rüssel  im  ablaufen- 
den Wasser  spielt,  das  in  der  Marmorrinne  weiterfliesst  rund  ums  Mo- 
nument. Ich  habe  den  Sarcophag  verlängert,  bei  Gelegenheit  schicke 
ich  Ihnen  ein  Daguerotyp  davon.  Meine  schwache  Hand  will  nicht  fort, 
ch  kann  noch  nicht  wieder  mit  voller  Kraft  schreiben.    Adieu. 

Bettine  Arnim. 

Noch  einmal  reden  Sie  zu  Niemanden  von  dem  Monument  und  nicht 
von  dem  Brief  an  den  König,  nur  um  Discretion  bitte  ich. 

13. 

[Weimar,  28.  November  185213) 
Liebe  Pauline !  Nun  bin  ich  bereits  2  Monate  auf  Reisen,  um  für 
das  Monument  zu  werben  und  habe  bereits  die  besten  Aussichten.  In 
Frankfurt  am  Main  hat  sich  ein  grosses  Komitee  gebildet  aus  den  ersten 
Häusern,  man  will  grosse  Konzerte  und  Theater  geben,  um  die  Summe 
von  60000  Thlrn.  zusamen  zu  bringen. -Der  Vorschlag  ist,  dass  es 
nach  Weimar  kommen  soll.  Damit  ist  jeder,  der  mit  bei  dem  Komitee 
ist,  zufrieden.  Von  diesem  Komitee,  welches  das  Centrum  bildet,  gehen 
noch  in  allen  Hauptstädten  Deutschlands  welche  aus,   zum  Beispiel  in 

1)  Auch  aus  späterer  Zeit  werden  abfüllige  Bemerkungen  Hauchs  über  Statue 
und  Denkmal  verzeichnet;  er  nannte  die  Psyche  einen  .greulichen  Backfisch"  und  fand 
Steinhäusers  Arbeit  „schlecht,  mürrisch  und  kalt*.   Varnhagen,  Tagebücher,  13,  117. 

2)  Rattis  Schwägerin. 

3)  Das  Tagesdatum  ergiebt  sich  aus  dem  Poststempel,  das  Jahr  aus  dem  Inhalt 
des  Briefes. 


132  Karl  übser 

Hamburg,  Bremen  etc.  Auch  in  England  hofft  man  dafür  werben  zu 
können.  Ich  selbst  habe  einige  Werke  zum  Besten  des  Monuments 
zum  Kauf  gestellt.  In  Frankfurt  selbst  haben  sich  meine  Verwandte 
sowohl  wie  auch  Freunde  erboten  beizutragen.  Ein  Programm,  an  dem 
ich  eben  schreibe  und  an  welches  sich  ein  anderes  anhängt,  welches 
den  praktischen  Theil  ausmacht,  wird  mit  meiner  Ankunft  in  Berlin 
gedrukt  werden.  Dies  leztere  hat  der  Herr  Bernus  aus  Frankfurt 
äbernommen,  welcher  nebst  seinen  Freunden  Mum[m],  Ouaita,  Bren- 
tano das  gaAze  in  Gang  bringen  werden,  (sie!)  Ich  habe  also  die  beste 
Hoffnung,  das  wir  noch  die  Basreliefs  machen  werden  können.  Eine  all- 
gemeine Stimme  ist,  dass  es  nach  Weimar  müsse ;  also  verzagen  Sie 
nicht  und  hoffen  Sie  mit  mir,  dass  wir  noch  alle  in  Bom  uns  dieses 
Werkes  freuen  werden.  Der  Erbgrossherzog  wird  hier  in  Weimar  er- 
wartet. Deswegen  bin  ich  nur  noch  hier,  um  mit  ihm  darüber  zu 
sprechen.  Einen  Platz  habe  ich  schon  ausgesucht,  grade  Goethes  Garten- 
haus gegenüber.')  Sonst  wäre  ich  schon  wieder  in  Berlin,  wo  ich  gleich 
am  Programm  werde  druken   lassen.    Denken  Si  meiner  Abreise 

von  Berlin  habe  ich  noch  einmal  an  den  König  geschrieben')  und  ihm 
dargelegt,  wie  sein  Schweigen  mir  geschienen,  als  ob  das  Monument 
Fehler  habe  und  durch  weiteres  Überlegen  seien  diese  nun  beseitigt.') 
Das  ist  jezt  grade  ein  4tel  Jahr  her,  allein  ich  habe  bis  jezt  noch  kein 
Wörtchen  von  ihm  darüber  vernommen.  —  Liszt  hat  sich  auch  schon 
anheischig  gemacht  Gonzerte  dafür  zu  geben.  Kurz,  lassen  Sie  uns  die 
beste  Hoffnung  hegen  und  freuen  Sie  sich  mit  mir  daran.  Die  Prinzess 
von  Preussen  hat  auch  mit  mir  davon  gesprochen  als  von  einer  Sache, 
die  gewiss  gelingen  werde. 

Leben  Sie  wohl,  liebe  Pauline,  und  grüssen  Sie  den  Steinhäuser 
recht  herzlich   von  mir.    Sowie  mein  Program   fertig  ist,  werde  ichs 

Ihnen  schicken. 

Adresse:    AI  illustrissima  Signora 
la  Signora  Paolina  Steinhäuser 
pittrice 

Piazza  Barbarina  No.  12 

Postdeinpel:  Weimar,  \\  10—11  N.  ^^^' 

1)  Auch  Hermann  Grimm  hat  den  Wicsenplan,  dem  Gartenhause  Goethes  gegen- 
über, mit  den  aufragenden  Baumparthien  an  der  Um  als  fernem  Hintergrunde,  nrH*h 
1889  zur  Aufstellung  von  Steinhüusers  Goethedenk  mal  warm  empfohlen,  freilich  ohne 
Erfolg.  Vergl.  „Bettinas  Goetliestatue  in  Weimar".  Deutsche  Rundschau,  1889, 
Bd.  60,  S.  469  ff. 

2)  Geiger,  3.  Aug.  52,  S.  190. 

3)  In  dem  oben  erwähnten  Briefe  vom  3.  August  1852. 


s? 


Bettiuc  vou  Arnim  iind  ihr  Briefwechsel  mit  Tauliue  Steinhäuser  133 

Inzwischen  war  aber  eine  entscheidende  Wendung  eingetreten. 
Schon  im  Juli  hatte  Steinhäuser  dem  Senator  Klugkist  in  Bremen  mit- 
geteilt, eine  wohlwollende  Gönnerin  in  Weimar  habe  den  Erbgrossherzog 
mit  der  Lage  der  Dinge  bekannt  gemacht;  dieser  habe  sich  sehr  dafür 
interessiert  und  geäussert,  er  gebe,  wenngleich  viele  ungünstige  Um- 
stände vorhanden  seien,  die  Sache  für  Weimar  nicht  auf  und  gedenke 
die  Goethestatue  bei  seinem  Aufenthalt  in  Bom  zu  besichtigen.^)  Der 
junge  Fürst  hielt  Wort.  Am  12.  August  benachrichtigte  August  von 
Goethe  den  Künstler,  der  Erbgrossherzog  wolle  im  Laufe  des  Tages  das 
Denkmal  seines  Grossvaters  in  Augenschein  nehmen.^)  Zwei  Monate 
später  aber  konnte  Pauline  Steinhäuser  an  ihre  einstige  Lehrerin  Luise 
Seidler,  in  der  wir  jene  „wohlwollende  Gönnerin*  vermuten  dürfen, 
dankerfüllt  schreiben :  ,,Mit  innigstem  Glücke  theile  ich  Dir  die  Nach- 
richt mit,  da^^Sr  Hein  lieber  Erbgrossherzog  Karl  Alexander  die  Goethe- 
statue wirklich  gekauft  hat.  Er  ist  fest  geblieben.  Seine  edle  Gemahlin 
hat  ihn  unterstützt  und  die  Sache  zur  Entscheidung  gebracht.  Ich  kann 
Dir  nicht  sage  (, ..  '.^edel  und  liebenswürdig  sie  sich  benommen  haben, 
und  wie  mein  guter  Steinhäuser  dadurch  erfreut  ist.  Auch  der  Frau 
von  Goethe  und,  ihrem  Sohn  sind  wir  vielen  Dank  schuldig;  ihre  Gegen- 
wart war  ein  grosses  Glück.  Die  Hauptsache  ist,  dass  die  Statue  nun 
doch  nach  Deutschland  und  nach  Weimar  kommt.  Wie  gern  verdanke 
ich  Dir,  liebe  Luise,  dieses  für  uns  so  überaus  freudige  Ereigniss;  ja, 
es  ist  kein  leeres  Wort,  wenn  ich  sage,  dass  es  meine  Freude  erhöht, 
zu  denken,  ich  danke  sie  Dir.''^) 

Der  Kaufpreis  war  ein  massiger,  er  betrug  4000  Scudi,  rund  6000 
Thaler,  die  ratenweise  zur  Anweisung  gelangten.  Die  Marmorgruppe 
selbst,  deren  Beförderung  auf  dem  Seewege  erfolgte,  wurde  nach  Jahres- 
frist, am  16.  Dez.  1853,  im  sog.  Tempelherrenhause  im  Weimarer  Parke 
aufgestellt^)  und  verblieb  dort,  bis  sie  im  Oktober  1865  ihren  Platz 
in  dem  neuerbauten  Museum  fand,  —  leider,  was  wiederholt  lebhaft 
beklagt  wurde,  unter  höchst  ungünstigen  Licht-  und  Eaumverhältnissen, 


1)  An  Senator  Klugkist,  13.  Juli  1852.    Konzept. 

2)  Billet  im  Nachlass  Steinhäusers. 

3)  ühde,  Erinnerungen  und  Leben  der  Malerin  Luise  Seidler,  440.  —  Wenn 
freilich  Vamhagen  (Tagebücher,  10,  20;  14,  339)  erzählt,  die  Erbgrossherzog! n  habe 
Anstoss  iui  der  Gestalt  der  Psyche  genommen  imd  hätte  diese  am  liebsten  wegmeisseln 
lassen,  so  stimmt  dies  wenig  zu  obiger  Darstellung,  die  dem  Einflüsse  der  fürstlichen 
Frau  wesentlich  den  Erfolg  zuschreibt. 

4)  Nach  gefl.  Mitteilung  des  Herrn  Geh.  Hofrat  Dr.  Ruland  in  Weimar, 


134  Karl  Obser 

die  dem  Beschauer  den  Genuss  des   herrlichen  Bildwerks  verkümniern 
und  eine  volle  Würdigung  nicht  verstatten.') 

So  hatte  Steinhäuser  wenigstens  das  nächste  Ziel  seiner  Wünsche 
erreicht.  Von  der  Ausführung  des  grossen  Denkmalentwurfes,  wie  er 
Bettiuen  und  ihm  vorgeschwebt,  war  freilich  bei  den  Verhandlungen  mit 
Weimar  nicht  die  Rede.  Nach  den  Erfahrungen  der  letzten  Jahre  war 
er  offenbar  nicht  gesonnen,  ohne  besonderen  Auftrag  eine  Arbeit  zu 
übernehmen,  deren  finanzielle  Lasten  die  eigenen  Schultern  nicht  tragen 
konnten,  und  in  dieser  Hinsicht  mochten  ihm  auch  die  jüngsten  Er- 
öffnungen Bettinens  eine  beruhigende  Bürgschaft  nicht  bieten,  so  lange 
das  Ergebni»  der  Subskription  nicht  feststand.  Wie  schwer  ihm  aber 
der  Verzicht  fiel  und  welch'  hohe  Vorstellung  er  von  dem  künstlerischen 
Wert  des  von  seiner  Gönnerin  ersonnenen  Entwurfes  hatte,  das  zeigen  die 
Worte,  die  er  damals  einem  Bremer  Freunde  schrieb:  »Unsre  Zeit  hat 
kein  Werk  hervorgebracht,  das  an  Grossartigkeit  der  Conzeption,  an 
tiefpoetischer  Bedeutung,  an  Originalität  und  Harmonie  aller  Theile 
diesem  gleichkommen  würde.  Alles,  was  ich  durch  langes  Studium  mir 
erworben,  alles  was  mir  die  Natur  gegeben  hat,  würde  ich  mit  Freuden 
an  die  Vollendung  des  Ganzen  wenden,  wie  ich  es  an  die  jetzt  fertige 
Kolossalstatue  gewendet  habe.*" 

Mit  dem  Schreiben  vom  28.  November  bricht  der  vorliegende  Brief- 
wechsel Bettinens  mit  der  Gattin  des  Meisters  ab ;  es  kann  kein  Zweifel 
darüber  bestehen,  dass  zwischen  beiden  Teilen  eine  Entfremdung  eintrat. 
Mochte  Frau  von  Arnim  sich  durch  den  Verkauf  der  als  krönende 
Spitze  ihres  Denkmals  ausersehenen  Statue  verletzt  fühlen,  da  er  ihre 
eigenen  Zirkel  störte,  —  mochte  sie  die  vorsichtige,  kühle  Zurück- 
haltung des  Künstlers  gegenüber  ihren  weiteren  Plänen  als  Kränkung 
empfinden:  wir  sind  darüber  nicht  näher  unterrichtet.  Jedenfalls  steht 
fest,  dass  sie  gründlich  verbittert  war  und  ihrem  Ärger  in  abfälligen 
urteilen  über  Steinhäuser  offen  Luft  machte.  ,,Er  hat  —  klagte  sie 
bei  Varnhagen  —  den  Goethe  verdorben;  die  Gestalt  ist  zu  kurz  und 
gedrückt,  darf  nicht  von  unten  gesehen  werden ;  sie  muss  mit  dem  Be- 
trachter auf  gleichem  Boden  stehen.^  ^) 

Die  Stimmung  schlug  freilich,  wie  es  bei  der  launischen  Frau  nicht 
selten  begegnete,  nach  einiger  Zeit  wieder  ins  Gegenteil  um.    Als  der 


1)  Vergl.   Herrn.  Grimms    BemerkuDgen   in    der   Deutschen    Rundschau    1881>, 
Bd.  60,  S.  471. 

2)  Tagebücher  (1853  Jan.  10)  10,  20.    Die  Äussenuig  befremdet  um  so  mehr, 
als  Bettine  damals  die  Originaistatue  noch  gnr  nicht  kannte. 


Bettine  von  Arnim  und  ihr  Briefwechsel  mit  Pauline  Steinhäuser  135 

Künstler  im  Oktober  1854  zu  Besuch  nach  Berlin  kam,  schien  alles 
vergessen.  Dass  er  ihren  Entwurf  rühmte  und  seine  Ausführung  dem 
König,  falls  Olfers  es  nicht  vereitelte,  dringend  zu  empfehlen  versprach, 
erfüllte  sie  mit  freudiger  Genugthuung  und  belebte  ihre  HofTnungen 
aufs  neue.  .Steinhäuser,  der  noch  vor  wenig  Tagen  nur  ein  Techniker, 
ein  Behauer  des  Marmors  sein  sollte,  ist  plötzlich  wieder  ein  begeisterter 
Künstler,  seine  Madonna  ein  Meisterwerk.''  ^)  Ob  er  Gelegenheit  ge- 
fanden, die  Sache  dem  König  vorzutragen,  ist  nicht  bekannt;  man  wird 
es  kaum  annehmen  dürfen,  sonst  wäre  Varnhagen  wohl  davon  unter- 
richtet. Jedenfalls  ist  es  das  letztemal,  dass  wir  von  Bettinens  Be- 
ziehungen zu  dem  Meister  etwas  hören.  Ihre  Wege  gingen  auseinander, 
es  fehlte  fortan  an  der  Gemeinsamkeit  der  Interessen,  die  früher  beide 
Teile  trotz  räumlicher  Entfernung  in  enger  Verbindung  erhalten  hatte. 
Steinhäuser  ist  nie  mehr  auf  die  Denkmalsangelegenheit  zurückgekommen. 
Andre  Aufgaben  lockten  ihn,  andre  Werke  entstanden,  über  denen 
er  der  alten  Pläne  vergass.  Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  der  weiteren 
Lebensläufe  des  Künstlers  zu  gedenken,  der  als  einer  der  begabtesten 
und  tüchtigsten  Vertreter  der  Plastik  seiner  Zeit  sich  in  der  Künstler- 
geschichte dauernd  einen  ehrenvollen  Platz  gesichert  hat.  In  Karls- 
ruhe, wohin  er  1863  durch  die  Gnade  des  Grossherzogs  als  Lehrer  an 
die  Kunstakademie  berufen  wurde,  hat  der  Zufall  ihn  nach  Jahren 
wieder  mit  einer  Tochter  seiner  einstigen  Gönnerin,  der  Gemahlin  des 
preussischen  Gesandten  Grafen  Flemming,  zusammengeführt ;  dort  ist  er 
bekanntlich  am  9.  Dezember  1879  verstorben,  nachdem  die  Gattin  ihm 
schon  am  21.  Juni  1866  im  Tode  vorausgegangen  war. 

Es  sei  gestattet,  mit  ein  paar  Worten  noch  die  weiteren  Wand- 
lungen und  Schicksale  der  Denkmalsfrage  zu  berühren.  Auch  nach  der 
Trennung  von  Steinhäuser  mochte  Bettine  ihrem  Lieblingsplane  nicht 
entsagen;  die  Sorge  um  ihn  begleitete  sie  bis  an  ihr  Grab.  Immer 
wieder  sann  sie  auf  neue  Wege,  um  die  Mittel  zu  seiner  Verwirklichung 
zu  beschaffen.  Bald  wollte  sie  zum  Besten  des  Fonds  die  Schriften 
ihres  Mannes  herausgeben,  bald  sollte  der  Ertrag  ihres  Goethebuches 
in  Amerika  oder  der  französischen  Übersetzung  eines  andern  Buches  da- 
für verwendet  werden.  Wie  früher  auf  Liszt,  so  setzte  sie  später  ihre 
Hoffnung  auf  Joachim  und  die  Ristori,  die  ihr  Talent  in  den  Dienst 
der  guten  Sache  stellen  und  im  Konzert  und  auf  der  Bühne  dafür  wirken 

1)  Varnhagen,  Tagobürher,  11,  277,  282. 

2)  Vergl.  zum  Folgenden  Varnhagen,  Tagebücher,  10,  29;  11,  87;  13,  4,  10, 
113,  138,  201,  247. 


136  Karl  Oliser 

sollten.  Aach  der  Gedanke  an  eine  allgemeine  Subskription  beschäftigte 
sie  unausgesetzt;  wiederholt  verhandelte  sie  mit  dem  Berliner  Bankier 
Magnus  und  anderen  darüber.  Alles  freilich  am  Ende  ohne  Erfolg.  Es 
fehlte  ihr  der  praktische  Blick  und  die  Fähigkeit,  das  einmal  Begonnene 
konsequent  durchzuführen.  Wenn  Varnhagen  ihr  mit  Recht  vorhielt, 
dass,  ehe  die  Subskription  eröffnet  werden  könne,  die  endgiltige  Gestalt 
des  Denkmals,  die  Wahl  des  Künstlers  und  der  Aufstellungsort  fest- 
stehen müssten,  so  meinte  sie  in  ihrem  unverwüstlichen  Optimismus 
bezeichnenderweise,  das  alles  werde  sich  finden,  wenn  das  Geld  einge- 
gangen sei. 

An  dem  Entwürfe  selbst  arbeitete  und  änderte  sie  fortwährend.  Vor 
allem  erhielt  die  Bückwand  des  Modells  ein  neues  Aussehen.  Wie  früher 
Steinhäuser,  zog  sie  in  den  letzten  Lebensjahren  die  Bildhauer  Albert 
Wolff  und  Ferd.  Aug.  Fischer  zur  Mitwirkung  heran.*)  WolfiF  model- 
lierte u.  A.  die  Gruppe  des  jungen  Hirten  mit  der  Königstochter  in  den 
Armen,  eine  Verherrlichung  der  alle  Standesunterschiede  aufhebenden 
Dichtung.  Auch  von  der  Komposition  eines  Genius  der  Pressfreiheit, 
von  dessen  künstlerischer  Wirkung  sie  sich  viel  versprach,  war  gelegent- 
lich die  Kede.^)  Noch  1858  trug  sie  sich  mit  dem  Gedanken  einer 
tiefeingreifenden  Umgestaltung :  an  die  Stelle  des  im  reifen  Mannesalter 
dargestellten  Dichterfürsten  sollte,  nach  dem  Vorbilde  der  bekannten 
Büste  von  Trippel,  der  jugendliche  Goethe  treten.')  Kein  Wunder,  wenn 
unter  den  Umständen  der  König,  der  längst  die  Lust  an  der  Sache  ver- 
loren, es  ablehnte,  das  Modell  nochmals  zu  sehen,  da  es  doch  stets  wie- 
der abgeändert  werde.  ,,Käme  es  zur  Ausführung,  bemerkt  Varnhagen, 
die  Verwirrung  würde  grenzenlos  sein."^) 

In  einem  blieb  Bettine  sich  immer  gleich :  in  der  begeisterten,  rück- 
haltlosen Aufopferung  für  ihre  Idee,  in  der  sie  keinerlei  Enttäuschung 
und  bittere  Erfahrung  wankend  zu  machen  vermochte.  Es  liegt  ein  Zug 
ergreifender  Tragik  in  dieser  Hingabe,  in  der  ihr  Leben  ausklingt.  , Nichts 
hörte  Bettine  lieber  in  den  allerletzten  Zeiten  —  so  erzählt  einer,  der 
ihrem  Herzen  nahe  stand  —  als  wenn  ich  ihr  ausmalte,  wie  wir  alle 
nach  Rom  reisen  und  die  Ausführung  des  Monuments  überwachen  wollten. 
Schwach  und  nicht  mehr  recht  im  Stande  zu  gehen,  Hess  sie  sich  manch- 


1)  Varnhagen,  Tagebücher,  13,  2.U,  252:  II.  Grimm  im  „Katalog  der  Ber- 
liner Goetheaiisstelhmg  vom  Mai  1861".    S.  4ff. 

2)  Varnhagen,  Tagebücher,  13,  201. 

3)  Ebenda,  li,  220. 

4)  Varnhagen,  Tagebücher,  13,  110,  235. 


Bettine  von  Arnim  und  ihr  HrielS^'eclmel  mit  Paiiline  Steinhäuser  137 

mal  zu  der  Arbeit  führen,  hielt  sich  mit  den  Händen  an  dem  Gerüste, 
auf  dem  das  Modell  aufgebaut  war,  und  betrachtete  es,  langsam  herum- 
gehend, von  allen  Seiten.*  *)  Und  als  die  ruhelose  Frau  zur  letzten  Buhe 
einging,  stand  neben  dem  Monumente  noch  ihr  Sarg,  bevor  er  in  die 
Familiengruft  nach  Wiepersdorf  übergeführt  wurde,  und  des  Dichters 
Statue  hielt  bei  ihr  Totenwacht. 

Modell  und  Entwürfe,  die  auf  der  Berliner  Goetheausstellung  von 
1861  zu  sehen  waren,  sind  heute  fast  verschollen;  von  der  Familie  von 
Arnim  mit  dem  übrigen  Nachlasse  sorgsam  gehütet,  sind  sie  nur  Wenigen 
zugänglich  geworden.  Eine  selbständige  Würdigung  ist  heut«  darum 
nicht  leicht  möglich :  wir  sind  auf  das  urteil  von  Bettinens  Zeitgenossen 
angewiesen,  und  dieses  lautete  verschieden.  Der  abfälligen  Kritik  Bauchs 
ist  oben  gedacht  worden;  sie  verdient,  wenngleich  unverkennbar  persön- 
liche Momente  dabei  eine  Bolle  spielen,  unstreitig  Beachtung.  Allein 
auch  das  Zeugnis  eines  Künstlers  wie  Steinhäuser  fällt  schwer  ins  Ge- 
wicht; wir  wissen,  wie  hoch  dieser  die  künstlerische  Bedeutung  der 
Kompositionen  eingeschätzt  und  wie  glänzend  er  durch  die  That  Bauchs 
Ansicht  von  der  Unausführbarkeit  der  Arnim'schen  Goetheskizze  wider- 
legt hat.  Und  ihm  zur  Seite  steht  ein  Mann  von  so  ausgeprägt  feinem 
Verständnis  in  künstlerischen  Dingen,  wie  Hermann  Grimm.  Wie  die- 
sem .unter  so  vielem,  was  zu  Goethes  monumentaler  Verherrlichung 
versucht  worden  ist'',  Bettinens  Entwurf  der  Statue  allein  die  Verkörpe- 
rung dessen  zu  enthalten  schien,  „was  Goethe  in  der  zweiten  Hälfte 
seines  Lebens  seiner  Zeit  war'',  so  war  er  auch  entzückt  von  der  Ge- 
samtwirkung des  grossen  Monumentalentwurfes  und  den  Detailzeichnungen 
für  die  Basreliefs,  die  er  aus  eigener  Anschauung  kannte.  «Die  Aus- 
führung des  Werkes  in  die  rechten  Hände  gelegt,  —  meinte  er,  — 
würde  ein  Denkmal  entstehen  lassen,  wie  es  für  Goethe  nicht  würdiger, 
schöner  und  grossartiger  erdacht  werden  könnte.''^ 

Man  wird  es  mit  ihm  darum  wohl  beklagen  dürfen,  dass  es  Bettinen 
versagt  geblieben  ist,  ihren  sehnlichsten  Wunsch  erfüllt  zu  sehen.  Sie 
nahm  ihre  Hoffnungen  mit  ins  Grab.  „Um  Goethes  Monument  hab  ich 
ein  Märtyrthum  erlitten,  und  hätte  wohl  verdient,  dass  eine  Hand  aus 
den  Wolken  mir  die  Palme  dafür  reiche* :  —  in  diesen  Worten,  die  sie 
einst  an  den  König  richtete,  spiegelt  sich  all  ihr  Verlangen  und  Ent- 
sagen, die  ganze  Leidensgeschichte  ihres  inhaltreichen  Lebens,  soweit  sie 
mit  jener  Frage  zusammenhängt,  in  beweglicher  Weise  wieder. 

1)  H.  Grimm,  Goetliejahrbuch  1,  15. 

2)  Katalog  der  Berliuer  Goeiheausstelluug,  S.  5. 


Der  Schauplatz  der  Kuprechrschen  Fragen« 


Von 

Richard  Schröder. 


Eine  der  wichtigsten  Femrechtsquellen  sind  die  sogenannten  Ru- 
precht'schen  Fragen  vom  29.  Mai  1408  (abgedruckt  u.  a.  bei  Lind ner, 
Die  Veme,  1888,  S.  212  ff.).  Die  Einleitung  besagt:  „Anno  domini  1408, 
feria  quarta  post  Urbani.  Nota.  Unser  herre  der  künig  bat  besant  dise 
nachgeschriben  freigreven,  mit  namen  Gobeln  von  Werdinchusen,  frein- 
greven  zu  Volmestede  (d.  i.  Volmarstein),  Clausen  von  Wilkenbracbt, 
freingreven  von  Walberth  (d.  i.  Valbert),  Stencken,  freingreven  zum 
Hamme  (d.  i.  Hamm)  und  Bernharten  Mosthart,  freingreven  der  stüle 
zu  Wilshorst,  und  hat  die  dise  nachgeschriben  frage  und  stuck  tun 
fragen.* 

Der  Schluss  lautet:  y,Nota.  Item  dicz  obgeschriben  allez  haben  die 
obgenanten  etc.  geschriben  geben  mir  Johannes  Chirchain,  hofschreiber 
des  romischen  kunigs.  dapei  ist  gewessen  Johannes  von  Laudemburg, 
zolschreiber  zu  Bacherach,  unde  geschah  zu  Heidelberg  in  Rebenstock- 
haus,  anno  et  die  ut  supra.*^ 

Man  darf  annehmen,  dass  die  Verhandlungen  an  demselben  Orte 
stattgefunden  haben,  an  welchem  die  auf  König  Ruprechts  Geheiss  nach 
Heidelberg  berufenen  Freigrafen  dem  Hofschreiber  (Hofgerichtsschreiber?) 
Johann  Kirchheim  das  darüber  aufgenommene  Protokoll  übergaben. 

Einer  der  besten  Kenner  der  Heidelberger  Ortsgeschichte,  Herr 
Landgerichtsrat  Huffschmid  in  Konstanz,  teilte  in  dankenswerterweise  über 
die  in  Frage  kommende  Örtlichkeit  Folgendes  mit :  .Bei  Zusammenstellung 
meiner  Notizen  finde  ich,  dass  1428  das  Haus  ,fZum  Ochsen*  das  Ort- 
haus an  der  Knebelgasse  war  und  am  Markt  nahe  dem  Heil.  Geiste  lag. 
Zweifellos  war  es  das  westliche  Eckhaus  der  Fischergasse.  Unten  daran 
lag  das  der  Ennel  Rebstöckin  gehörende  Haus,  das  dem  heutigen  Hause 
Fischergasse  Nr.  16  entspricht.    Schon   1376  wird  in  der  Knebelgasse 


Richard  Schröder:  Der  Schauplatz  der  Huprecht'schen  Fragen  139' 

ein  Haus  angeführt  .unten  ati  Uebstock  stossend/  Da  die  Familien 
^zum  Ochsen^  und  ^Kebstock*  zu  den  wohlhabendsten  Heidelberger 
Familien  des  15.  Jahrhunderts  zahlten,  so  ist  es  nicht  zu  verwundern, 
dass  1436  Bischof  Friedrich  von  Worms  bei  Johanns  zum  Ochsen  und 
1408  die  Femrichter  bei  Kebstock  abstiegen.  Über  die  Identität  der 
Knebel-  und  Fischergasse  kann  kein  Zweifel  sein.  «Knebel'  wird  mit 
der  Familie  der  Knebel  von  Katzenelnbogen  zusammenhängen.' 

Am  29.  Mai  1908  wird  seit  der  Aufzeichnung  der  Ruprecht'schen 
Fragen  im  Kebenstockhaus  ein  halbes  Jahrtausend  vergangen  sein. 
Hoffentlich  wird  die  Heidelberger  Stadtverwaltung  die  Erinnerung  an 
dies  denkwürdige  Ereignis  durch  Anbringung  einer  Gedächtnistafel  an 
dem  Hause  Fischergasse  1(5  ehren. 


IV. 

S«it« 

Willi«  Erb,  Über  die  wachsende  Nervosität  unserer  Zeit 1 

Emil  Kraepelin,  Über  geistige  Arbeit 31 

Fr.  Grimme,  Die  Anordnung  der  grossen  Heidelberger  Liederhandscbrift  53 

Arthur  Kleliischmidt,  Marianne,  Gräfin  von  der  Leyen 91 

Hermann  Wuudorlicli,  Zur  Sprache  des  neuesten  deutschen  Schauspiels  II.  115 
F.  r»  Duhn,  GeschichUiches  aus  vorgeschichtlicher  Zeit.    Neue  Entdeckungen 

Luigi  rigorinis 143 

A.  Y*  Domaszew^ki,   Die  Heere  der  Bürgerkriege  in  den  Jahren  49  bis  42 

vor  Christus 157 

H)tto  Kariowa,   Das  Testament  des  Veteranen  Gaius  Longinus  Castor  vom 

Jahre  189  n.Chr 189 

Karl  Zangremeister  und   Willi.  Braune,    Bruchstücke   der    altsächsischen  , 

Bibeldichtung  ans  der  Bibliotheca  Palatina 205 

V. 

Carl  Kcumann,  Über  Kunst  in  Italien  im  12.  Jahrhundert 1 

Richard  Schröder,  Eine  Selbstbiographie  von  Fritz  Reuter 18 

Richard  Schröder,  Ein  Brief  Savignys  an  einen  früheren  Schüler    ...  23 

Moritz  Cantor,  Zahlensymbolik 25 

Karl  Zangemeister,  Zur  germanischen  Mythologie 46 

Friedr.  Ohlenschlager,  Der  Name  ^Pfahl**  als  Bezeichnung  der  römischen 

Grenzlinie 61 

Karl  Zangemeister,  Der  obergermanisch-rätische  Limes 68 

A.  Y«  DomaszcYi'ski,  Zu  den  Heeren  der  Bürgerkriege       ....  .105 

A.  T.  Domaszeitski,  Die  Chronologie  des  bellum  Germanicum  et  Sarmaticum 

166—175  n.  Chr 107 

Ednard  Heyck,  Die  Staatsverfassung  der  Cherusker 131 

Karl  Schumacher,  Altes  im  Neuen '     .      .  182 

J.  Wille,  Pfalzgräfin  Elisabeth  Charlotte,  Herzogin  von  Orleans   .                  .  190 

Richard  Graf  Du  Moulin  Eckart,  Zweibrücken  und  Versailles  ....  229 

VI. 

Erwin  Bohde,  Orpheus 1 

F.  T.  Dubn,  Ueber  die  archäologische  Durchforschung  Italiens  innerhalb  der 

letzten  acht  Jahre 19 

€h.  Hülsen,  Caecilia  Meteila 50 

O.  Sixt«  Zu  den  Votivsteinen  der  equites  singulares 59 

Reinhoid  Steig,  Fi'au  Auguste  Pattberg .62 

B.  Erdmannsc^Örffer,  Eduard  Winkelmaun  f ^      .  123 

Henry  Thode,  Eine  italienische  Fürstin  aus  der  Zeit  der  Renaissance           .  129 

Alexander  Riese,  Der  Feldzug  des  Caligula  an  den  Rhein 152 

A.  Hansrath,  Luthers  Bekehrung 163 

B.  ErdmanusdÖrffer,  Kleine  Beiträge  zur  Goethe-Biographie  .  .  .187 
0«  Karioira,  Über  die  in  Briefform  ergangenen  Erlasse  römischer  Kaiser  211 

E.  Kraepelin,  Zur  Hygiene  der  Arbeit 222 

VII. 

Adolf  Hausrath,  Philipp  Melanchthon 1 

Richard  Graf  Dn  Monlin  Eckart,  Treitschke  und  das  Elsass   .  17 

Walther  Arnsperger,  Lessings  Beschäftigung  mit  der  Leibnizischen  Philosophie  43 

Fr«  Ed.  Schneegans,  Die  Volkssage  und  das  altfranzösiRche  Heldengedicht  .  58 
3Iax  Freiherr  von  Wald^berg,  Briefe  von  Jacob  und  Wilhelm  Grimm,  Karl 

Lachmann,  Creuzer  und  Joseph  von  Lassberg  an  F.  J.  Mone,  I.    .             .  6S 

Karl  Helm,  Die  liegende  von  Krzbischof  Udo  von  Magdeburg     ....  95 

F.  V.  Dnhn,  Karl  Humann 121 

K.  Schamacher,   Die  Besiedelung   des  Odenwaldes   und  Baulandes   in   vor- 
römischer und  römischer  Zeit 138 

Panl  Joseph,  Der  Weinheimer  Ilalbbrakteateufund 161 

Arthur  Kleinschmidt,  Karl  Theodor,  Friedrich  zu  Salm  und  F.  X.  von  Zwackh  199 

Carl  Schmidt,  Die  Paulusakten 217 

Mlax  Freiherr  von  Waldherg,  Briefe  von  Jacob  und  Wilhelm  Grimm,  Karl 

Lachroann,  Creuzer  und  Joseph  von  Lassberg  an  F.  J.  Mone,  II.              :  225 


Till. 

H .  Lftmmerhlrt,  Rosaliea  und  Pasqua  Kosa t 

Fr.  Ed.  Schneegans,  Frederi  Mistral .M8 

A.  Hansrath,  Luther  als  Dichter .  .xS 

H.  Baasermann,  Erziehung  und  Gesellschaft 78 

Karl  Schnmaeher,  Zurrdmischen  Keramik  u.  Geschichte  Süd  westdeutsch  landa  Dl 

Anton  Banmatark,  Zur  Chronologie  des  Bakchylides 125 

Fr.  Ed.  Sehneegans,  Die  Abtei  Th6leme  in  Rabelais'  Gargantna  .  .143 

K.  Dossier,  Giuseppe  Gioachino  Belli  und  die  römische  Dialektdichtung  .      .160 

A.  Hansrath,  Luthers  Thesenstreit 18 1 

Richard  Schröder,  Germanische  Rechtssymboük  auf  der  Marcussäule           .  2i8 

Karl  Schumacher,  Zur  ältesten  Besiedelnngsgeschichte  Badens  .      .      .      .  2ot^ 

Alexander  Cartellieri,  Die  Machtstellung  Heinrichs  II.  von  England      .      .  26i) 


Panl  Hensel,  Englische  Zustände  zu  Anfang  des  achtzehnten  Jahrhunderts  .  1 
Fritz  SehöUf  Aus  neuerworbenen  Korrespondenzen  der  Heidelberger  Univerasi- 

tätsbibliothek 17 

Walther  Arnsperger,  Einfluss  der  kirchlichen  Unionsversuche  des  13.,  14. 

und  15.  Jahrhunderts  auf  die  philosophische  Renaissance  des  Abendlandes  73 

Moritz  Cantor,  Niclaus  Koppernikus 90 

F.  T.  Dnhn,  Fundumstände  und  Fundort  der  ältesten  lateinischen  Sieininschrift 

am  Forum  Romanum 107 

Karl  Yossler,  Die  Lyrik  des  Angelo  PoÜziano 1:^1 

k.  T.  DomaszewskI,  Die  Principia  des  römischen  Lagers 141 

Albert  Krieger,  Eine  kaiserliche  Brautwerbung  in  Kopenhagen  1697  .164 

F.  Ed.  Schneegans,  BaUsto  Bonnet.  Ein  proVenzalischer  Bauer  u.  Schriftsteller  182 
Karl  H  ild,  Leibniz  als  Politiker  und  Erzieher  nach  seinen  Briefen  an  Boine- 

bürg 201 

Moritz  Ganior,  Carl  Friedrich  Gauss 234 

Karl  Schumacher,  Die  Handels-  und  Knlturbeziehungen  Süd  Westdeutschlands 

in  der  vorrömischen  Metallzeit 25B 

Karl  Helm,  Die  Legende  von  Erzbischof  Udo  vop^Magdeburg  (Nachtrag)     .  373 


Dietrich  Schäfer,  Die  Schlacht  bei  Lutter  am  Barenberge l 

Karl  Yossler,  Pietro  A ratio o's  künstlerisches  Bekenntnis 38 

Karl  Boehm,  Die  Mathematik  der  Natur 66 

Karl  Helm,  Ein  Tagebuch  aus  Matthissons  Jugend 81 

Reinhold  SMg,  Joseph  von  Görres'  Briefe  an  Achim  von  Arnim  .115 

F*  T«  Dnhn,  Der  Zeus  des  Phidias                        177 

Walther  Arnsperger,  Die  Entstehung  von  „Werthers  Leiden""   ....  195 

A*  Y.  Domaszewski,  Der  Truppensold  der  Kaiserzeit 21S 

Albert  Bftckström,  üeber  den  Orosius-Codex  F.  v.  I  Nr.  9  in  der  Kaiserlichen 

Oeffentlichen  Bibliothek  zu  St.  Petersburg 242 


Richard  Graf  Da  Moniin  Eckart,  Zum  Gedächtnis  Bernhard  Erdmanns- 

dörffers 1 

Alfred  Baasermann,  Veltro,  Gross- Chan  und  Kaisersage 28 

Th.  Leber,  Willy  Kühne 76 

Karl  YoHsler,  Danre  und  die  Renaissance 85 

J.  W'lle,  Pfalzgräfin  Elisabeth,  Äbtissin  von  Herford lOS 

J.  Wulf,  Karl  Zan^^emeister  (geb.  28.  November  1837,  gest.  8.  Juni  1902)       .  148 

F.  Ed.  Schneegans,  Mdistre  Fran^ois  Villoa löo 

Alexander  Cartellleri,  Beiträgu  zur  Geschichte  Albrechts  von  Hohenberg  aus 

dem  Vatikanischen  Archiv •  ^^^ 

Alexander  Cartellleri,  Reiseeindrücke  vom  Grossen  St.  Bernhard  aus  dem 

Jahre  11m8 177 

Beinhold  Steig,  Zeugnisse  zur  Pflege  der  deutschen  Litteratur  in  den  Heidel- 
berger Jahrbüchern 180 


Briefe  und  Mannskriptsendongen  sind  an  Professor  Dr.  Wille  in  Heidel- 
berg (Bunsenstrasse  9),  dagegen  all<^  Sendungen  den  Tanschrerkehr  l>etrefreod 
an  die  UnlversitätB- Bibliothek  in  Heidelberg  zu  richten. 

UniversitAti-Bachdruekttrei  von  J.  Hörnfng  in  Heidelberg. 


Inhalt  der  erschienenen  Bände. 

I«  Seit« 

Programm 3 

Chronik  des  Vereins * 5 

M.  Cantor,  A.  Dürer  als  Schriftsteller 17 

R«  Schröder,  Die  Landeshoheit  über  die  Trave 82 

K*  Hartfclder,  Das  Eatharinenfest  der  Heidelberger  Artistenfakultät       .      .  52 

A.  Hansratli,  Arnold  von  Brescia 72 

F.  y.  Dnhn,  Heinrich  Schliemann 145 

0.  Kariowa,  Die  Kangklassen  des  Ordo  salutationis  sportularumque  provinciae 

Numidiae,  insbesondere  die  coronati 1G5 

A.  Y*  Domaszewskiy  Beiträge  zur  Geschichte  der  Perserkriege     .  .181 

—                   Die  Entwicklung  der  Provinz  Moesia         ....  190 

J.  V.  Pflngk-Harttung:,  Keltische  Bauwerke         201 

A«  T.  Gntschmid  f ,  Die  Heidelberger  Handschrift  der  Paradoxographen  (Pal. 

Gr.  398) 227 

A.  C.  Clark,  Die  Handschriften  des  Graevius 2oS 

A.  T.  Oechelhänser,  Philipp  Hainhofers  Bericht  über  die  Stuttgarter  Kindtaufe 

im  Jahre  1616 254 

G.  Meyer,  Die  Verhandlungen  des  preussischen  Abgeordnetenhauses  über  den 

Erlass  von  Stempelsteuern  für  Fideikommisse 3P>() 

B.  Erdmannsdörifery  Zur  Geschichte  der  Heidelberger  Bibliotheca  Palatina  34i^ 
A.  Hansrath,  Festrede  gehalten  bei  der  Enthüllung  des  Scheffel-Denkmals  zu 

Heidelberg  am  11.  Juli  1891 352 

II. 

K.  Zangemeister,  Zur  Geographie  des  römischen  Galliens  und  Germaniens 

nach  den  Tironischen  Noten 1 

F.  Scholl,  Risse  und  I^rüche  in  der  Urhandschrift  Plautinischer  Komödien    .  37 

F.  V«  Duhn,  Die  Benutzung  der  Alpenpässe  im  Altertum 55 

K*  Schmnacher,  Über  den  Stand  und  die  Aufgaben  der  prähistor.  Forschung 

am  Oberrhein  und  besonders  in  Baden \)ö 

0.  Kariowa,  Zur  Inschrift  von  Skaptoparene 141 

J.  Haller,  Die  Verhandlungen  von  Mouzon  (1119).    Zur  Vorgeschichte  des 

Worroser  Konkordats 147 

R«  Schröder,  Arno,  Erzbischof  von  Salzburg  und  das  Urkundenwesen  seiner  Zeit  165 
H.  Basseriuann,  Johann  Arnos  Comenius.  Festrede,  gehalten  bei  der  Comenins- 

Feier  in  Heidelberg     . 172 

M.  Cantor,  Zeit  und  Zeitrechnung  l'JO 

L«  Leinme,  Shaksperes  König  Lear .  .212 

J«  V.  Pflugk-Harttnng,  Die  Druiden  Irlands 265 

H.  Buhl,  Hugo  Donellus  in  Heidelberg  (1573—1579) 280 

III. 

K.  Zaugemeister,  Zur  Geschichte  der  Neckarländer  in  römischer  Zeit    .      .  1 

Friedr.  v.  Weech,  Ein  Projekt  zur  Reform  der  Reichsjustiz  aus  dem  16.  Jahrb.  17 

J.  V,  Pflugk-Harttuiig,  Die  Schriften  S.  Patricks 71 

Fr.  y.  Duhn,„Eine  Bronze  der  früheren  Sammlung  Ancona 88 

Ed.  Heyck,  Über  die  Entstehung  des  germanischen  Verfassungslebens      .      .  10(> 

G.  Jellinek,  Adam  in  der  Staatslehre lo^y 

A.  v.  Oechelhäuser,  Zur  Entstehung  der  Manesse-Handschrift  .152 

A.  Y.  Doinaszenski,  Das  deutsche  Wort  Braut  in  lateinischen  Inschriften      .  19Ü 

R.  Heinze,  Magister  Conrad  Schades  Streithändel  mit  der  Stadt  Heidelberg  .  l^r» 

Ferd.  Gerhard,  Vom  Hussenkriege 224 

£d.  Heyck,  Zur  Entstehungsgeschichte  des  germanischen  Verfassungslebens  .  2.'>1 
Herrn.  Wunderlich,  Zur  Sprache  des  neuesten  deutschen  Schauspiels      .      .251 

Max  Freiherr  von  Waldberg,  Das  Jaufner  Liederbuch 260 

IV. 

Wilh.  Erb,  Über  die  wachsende  Nervosität  unserer  Zeit l 

Emil  Kraepelin,  Über  geistige  Arbeit 31 

Fr.  Grimme,  Die  Anordnung  der  grossen  Heidelberger  Liederhandschrift  53 

Arthur  Kleinsclimidt,  Marianne,  Gräfin  von  der  Leyen lU 

Hermann  Wunderlich,  Zur  Sprache  des  neuesten  deutschen  Schauspiels  II.  115 
F.  T.  Duhn,  Geschichtliches  aus  vorgeschichtlicher  Zeit.    Neue  Entdeckungen 

Luigi  Pigorinis 143 

A.  Y.  Domaszewski,   Die  Heere  der  Bürgerkriege  in  den  Jahren  49  bis  42 

vor  Christus 157 

Otto  Kar  Iowa,   Das  Testament  des  Veteranen  Gaius  Longinus  Castor  vom 

Jahre  189  n.  Chr 1S9 

Karl  Zangemei«)ter  und   Wilh.  Braune,    Bruchstücke    der    altsächsischen 

Bibeldichtung  aus  der  Bibliotheca  Palatina 205 


^s« 


Ein  neuer  juristischer  Papyrus  der  Heidelberger 

Universitätsbibliotliek. 

Mit  Faksimile. 

Von 

G.  A.  Gerhard  und  0.  Gradenwitae. 


I.  Edition  (mit  Exkursen)  von  Oerhard. 

Von  den  lateinischen  Stücken  unserer  Sammlung  wurde  eines,  das 
Fragment  aus  einem  Digestenkodex  (P.  1272)  kürzlich  publiziert.*) 
Gleichfalls  litterarisch-juristischen  Inhalt  —  merkwürdigerweise  wieder 
aus  dem  Erbrecht  —  bietet  der  P.  1000,  den  ich  in  Begleitung  einer 
Lichtdrucktafel  im  Folgenden  mitteile.  Bei  der  Lesung  und  Verarbeitung 
des  Textes  berieten  mich  in  liebenswürdiger  Weise  die  Herren  Professoren 
Otto  Gradenwitz  und  Franz  Bühl  in  Königsberg.  Ferner  muss  ich 
Herrn  Professor  Deissmann  hier  und  Herrn  Dr.  Crönert  in  Bonn 
für  gütige  Durchsicht  der  Bogen  und  nützliche  Winke  Dank  sagen. 
Herr  Prof.  Gradenwitz  hat  auch  diesmal  die  Freundlichkeit,  der  Edition 
eine  sachliche  Erläuterung  beizufügen  (S.  179  ff.).  In  letzterer  Beziehung 
macht  sich  nun  freilich  der  geringe  Umfang  und  die  schlechte  Erhaltung 
des  Blättchens  leider  besonders  schmerzlich  fühlbar.  Handgreiflich  ist 
dagegen  sein  Wert  für  das  antike  Buchwesen  und  für  die  Paläographie. 

Bis  jetzt  hatte  man  auch  in  den  ältesten  neuerdings  ans  Licht  ge- 
tretenen juristischen  Handschriften  mit  einer  eigens  zu  erklärenden  Aus- 
nahme^) Kodizes^)  erkannt.  Unser  3  cm  hoher  und  7,4  cm  breiter  Pa- 
pyrus, links  ganz  aussen  Spuren  einer  Klebung  zeigend  und  nur  auf 
dem  Bekto  der  feinen  Charta  in  der  Richtung  der  Horizontalfasern  be- 
schrieben, erweist  sich  als  ein  mit  dem  Band  erhaltenes  unteres  Ko- 
Inmnenende  aus  einer  Rolle. 

NEUE  I1EIDELB.  JAHRnUECHER  XII.  10 


142  ^-  ^'  Gerhard  und  0.  Graden witz 

Der  derzeitige  Stand  der  Frage  ^RoIIe  und  Kodex'  lässt  eine 
gedrängte  Orientierung  über  den  Ursprung  der  zweiten  Buchform  als 
wünschenswert  erscheinen. 

Nicht  neu  ist  die  These,  entsprechend  seinem  römischen  Namen 
sei  der  Buchkodex  eine  römische  Erfindung  und  tauche  bald  nach  Be- 
ginn unserer  Zeitrechnung  auf.^)  Man  kann  aber  seinen  Werdegang 
noch  schärfer  verfolgen  als  seither  geschah.  Einen  sicheren  Ausgangs- 
punkt fürs  erste  Jahrhundert  liefern  ein  paar  Epigramme  Martials.^) 
Als  äquivalente  Abart  des  den  mannigfachen  Zwecken  des  täglichen 
Lebens  dienenden  Wachstafelkomplexes,  der  (codicüli)  pugillares  er- 
scheint unter  den  Apophoräa  (XIV  7)  dessen  darnach  betitelte  Nach- 
ahmung aus  Pergament,  das  (selbstverständlich  ein  Ganzes  bildende) 
Pergamentheft,  die  pugillares  membranei.  Damit  identisch,  bloss  durch 
die  Dicke  davon  verschieden  ist  nun  auch  der  litterarische  Pergament- 
kodex, aus  dessen  bekannten  Exempeln,  dem  Homer,  Virgil,  Cicero, 
Livius  und  Ovid  im  vierzehnten  Buch  (184.  186.  188.  190.  192)  im 
Verein  mit  einer  vom  Dichter  selbst  (I  2)  angepriesenen  analogen 
Edition  eigener  Epigramme  sicher  hervorgeht,  dass  solche  handlichen 
und  dabei  sehr  viel  fassenden  Bände  damals  nur  erst  als  rare  und  be- 
gehrte, darum  aber  auch  recht  teure  ^)  Extraausgaben  vorkamen.  Das 
erste  Beispiel  (184)  trägt  die  Überschrift:  Hotnerus  in  pugillaribus 
menibraneis.^)  Genau  wie  der  spätere  (s.  u.)  dokumentiert  also  schon 
dieser  frühe  gleich  dem  Notizheft  als  pugillares  membranei  bezeichnete 
Pergamentkodex  deutlich  seine  Abhängigkeit  von  den  römischen  Holz- 
tafeln. Statt  jener  umständlichen  Benennung  genügte  meist  die  einfache 
nach  dem  Material.  Der  Virgil  (186)  heisst  Vergilius  in  membranis 
und  ebenso  die  folgenden  klar  als  Pergamentkodizes  gekennzeichneten 
Klassiker.  Die  Kodexform  war  also  hinreichend  charakterisiert  durch 
das  Wort  memhranae.  Neben  dem  Plural  begegnet  uns  im  Text  der 
Epigramme  (I  2.  3;  XIV  186.  188)  gleichwertig  der  Singular  menibrana. 
Das  Verhältnis  beider  Formen  ist  etwa  vergleichbar  dem  von  codex 
und  codicilli.  Die  zum  Diptychon,  Triptychon  etc.  verbundenen  tabulae 
nennt  man  codeXy  wenn  man  den  durch  sie  gebildeten  Holzblock  be- 
trachtet, aus  dem  sie  durch  Zerschneiden  entstanden,  codicilli  dagegen 
mit  Rücksicht  auf  ihren  Charakter  als  Teile.  Ähnlich  ist's  mit  dem 
Pergamentkodex.  Metnbrana  nimmt  ihn  als  Ganzes,  metnbranae  deutet 
an,  dass  er  ans  Blättern  besteht.  Das  scheint  selbstverständlich,  doch 
ich  musste  es  konstatieren,  weil  sich  K.  Dziatzko  in  seinen  lehr- 
reichen  'Untersuchungen   über  ausgewählte  Kapitel  des  antiken  Buch- 


Ein  neuer  juristischer  Papyrus  der  Heirlolberger  Universitätsbibliothek     143 

Wesens*  unter  membranae  meist  lose  und  unverbundene  Einzelblätter 
denkt,  die  nach  seiner  das  moderne  Zettelsystem  aufs  Altertum  an- 
wendenden Ansicht  ebenso  wie  ihr  vermeintliches  Korrelat  aus  Papyrus, 
die  ;(dpTat  (chartae)  sogar  fortlaufende  litterarische  Texte  getragen  haben 
sollen.^)  unsere  Erklärung  können  wir  gleich  an  einer  Quin  tili  an- 
stelle^) erproben.  Die  tneinbranae  dienen  da  neben  den  cerae  dem 
litterarischen  Entwurf,  dem  Mittelglied  zwischen  Schreibtafel  und  Buch. 
Wenn  nun  dem  Studenten  empfohlen  wird,  in  den  menibranae  wie  in 
den  cerae  jeweils  die  Seite  gegenüber  für  nachträgliche  Zusätze  frei  zu 
lassen,  so  passt  das  klärlich  nur  auf  ein  festes  Pergamentheft.  Dieses 
werden  wir  somit  auch  bereits  da  vorauszusetzen  berechtigt  sein,  wo 
wie  bei  Horaz '®)  noch  im  ersten  Jahrhundert  v.  Chr.  von  membranae 
als  Schriftstellerkonzepten  die  Bede  ist.  Doch  zurück  zum  Pergament- 
kodex mit  dem  fertigen  Werk!  Dass  auch  er  vereinzelt  mindestens  zum 
Anfang  unserer  Ära  heraufreicht,  lehrt  uns  eine  Äusserung  des  der 
ersten  Hälfte  des  ersten  Jahrhunderts  angehörigen  Juristen  G.  Gassius 
Longinus,  die  zitiert  wird  von  ülpian.  Als  der  Normen  für  Bücher- 
vermächtnisse aufstellt,  sieht  er  sich  vor  der  Frage,  ob  unter  den  streng- 
genommen nur  Bollen  bezeichnenden  Titel  libri  auch  die  Eodizes  fallen. 
Wie  Paulus'^)  bejaht  er  sie,  mit  Berufung  auf  den  Bescheid  eines 
älteren  Juristen  über  membranae.  Unter  ihnen  richtige  litterarische 
Pergamentkodizes  zu  verstehen  wäre  man  schon  hier  dem  allgemeinen 
Gebrauche  wie  der  Logik  des  Zusammenhangs  schuldig.  Jeden  Zweifel 
daran  entkräften  Ulpians  eigene  Worte  in  §  5,  wo  er  sich  anders  als 
in  der  einleitenden  Definition  der  codier  für  sie  selber  jenes  damals 
noch  keineswegs  abgekommenen '')  zwangloseren  Namens  bedient  und 
den  libri  im  engeren  Sinn,  den  zwar  zu  Ende  geschriebenen,  aber  noch 
Dicht  zusammengesetzten  und  ausgestatteten  Papyrusrollen  die  noch  nicht 
gehefteten  Pergamentkodizes  zur  Seite  setzt.  ^')  Die  gewonnene  Einsicht 
in  das  Verhältnis  der  Begriffe  libri  und  membranae  als  Termini  des  litte- 
rarischen Buchwesens  befähigt  uns  nun  auch  zu  einem  Urteil  über  jenen 
vielbesprochenen  Vers  des  zweiten  Timotheusbriefes,  in  welchem 
die  Theologie  ein  Stück  aus  einem  echten  Schreiben  des  Apostels  zu 
erblicken  geneigt  ist.")  Wenn  man  dort  (4.  13)  liest:  Tov  ^skovr^u, 
Sv  dzüdTtov  kv  Tpiüddt  mipa  KdpTicp^  ipj^o/uvoQ  tpipe  xdi  rd  ßtßXia^ 
fmXtara  {de\  tuq  pBpßpdvaq,  so  zerfallen  die  ßißXia  (=  libri)  genannten 
Schriftwerke  augenscheinlich  wieder  in  Papyrusrollen  und  Pergament- 
kodizes. '^)  Dieses  früheste  Zeugnis  über  den  schon  hier  höher  taxierten 
christlichen  Kodex  aus  dem  ersten  Jahrhundert  ist  um  so  wertvoller, 

10* 


144  0.  A.  Gerhard  und  0.  Gradenwitz 

als  es  ihn  durch  den  römischen  Namen  unverkennbar  als  Folgeerscheinung 
des  römischen  Vorgangs  erweist. 

Auch  im  zweiten  Jahrhundert  fehlt  es  dem  Pergamentkodex  nicht 
an  Belegen.  Nichtlitterariscb  fungieren  beispielsweise  in  den  Sattel- 
taschen untergebrachte  membranulae  als  geschäftliche  Journale  beim 
Juristen  Q.  Cervidius  Scaevola,*^  und  bei  Qaius")  hat  fürs  Haupt- 
buch des  Bankiers  der  codex  als  ebenbürtige  Stellvertretung  neben  sich 
die  membranae.  Bloss  die  den  Einzelfall  berührende  Partie,  so  heisst  es, 
braucht  der  argeniarius  vorzulegen,  nicht  totum  codicem  rationum  iotasque 
membranas.  In  diesem  letzteren  Ausdruck  treten  uns  die  membranae 
wieder  deutlich  als  geschlossene  Einheit  entgegen.  Mehr  interessiert 
uns  das  wirkliche  Buch.  Gaius'^)  bestimmt,  dass  das  Eigentumsrecht 
an  einer  Skriptur  bedingt  ist  durch  das  am  beschriebenen  Stoff.  Für 
den  kennt  er  die  zwei  gleichgeltenden  Möglichkeiten  der  chartae  (char- 
tulae)  oder  libri  und  der  membranae,  d.  h.  der  Papyrusrollen  und  der 
Pergamentkodizes.  Zugleich  giebt  er  einen  schätzbaren  Vermerk  über 
deren  etwaigen  Inhalt,  indem  er  die  eventuell  sogar  in  Goldschrift  ge- 
dachten Texte  als  ^Dichter  oder  Historiker  oder  Bedner'  exemplifiziert. 
Gerade  solch  einen  Bednerpergamentkodex  aus  dem  zweiten  Jahrhundert 
hat  uns  nun  Ägyptens  Boden  schon  thatsächlich  wiedergeschenkt. 
F.  G.  Eenyon  setzt  ein  Doppelblatt  des  Britischen  Museums  mit  einem 
Stück  von  Demosthenes  irepi  itapanp^a^tiac,  in  jene  Zeit.  *^)  Wenn  also 
selbst  griechische  Klassiker  so  zeitig  als  Pergamentkodizes  auftreten, 
so  darf  man  ein  Gleiches  füglich  um  so  eher  erwarten  von  den  Hand- 
schriften römischer  Jurisprudenz,  für  welche  nach  der  landläufigen  An- 
sicht jene  bequeme  Buchform  mit  am  frühesten  zur  Verwendung  ge- 
langte. Die  erst  seit  ca.  294  mit  dem  Codex  Gregorianus  und  seinen 
Nachfolgern  ins  helle  Licht  rückenden  Publikationen  dieser  Art  (s.  u.) 
haben  zweifelsohne  auch  mehr  als  einen  Vorläufer  gehabt.  Für  des 
Papirius  Justus  Konstitutionensammlung  vom  Ende  des  zweiten 
Jahrhunderts  bleibt  die  Zugehörigkeit  dazu  trotz  mangelnder  Beweise 
mindestens  wahrscheinlich,  *®)  evident  aber  ist  sie  für  die  sieben  Bücher 
Entscheidungen  von  Trajans  Zeitgenossen  Neratius  Priscus  mit  dem 
charakteristischen  Titel  membranae}^)  Ein  Jahrhundert  später  hätte  sich 
das  Werk  codex  genannt  so  gut  wie  die  bekannten  Bechtsbücher  der 
byzantinischen  Epoche. 

Im  dritten  Jahrhundert,  in  das  wir  damit  Vorschauen,  ist  der  Per- 
gamentkodex naturgemäss  immer  weiter  gedrungen.  Dem  ursprünglichen 
Holzkodex  macht  er  jetzt  so  starke  Konkurrenz,  dass  schon  bei  Ulpian 


Eiu  neuer  juristischer  Papyrus  der  Heidelberger  Uuiversitätsbibliothek     145 

und  Paulus  (A.  11)  das  alte  Wort  für  den  Klotz  die  spezielle  Material- 
bedeutung völlig  abgestreift  und  den  allgemeinen  Sinn  der  Eodexbuch- 
form  angenommen  hat.  Keichlicher  strömen  nun  die  Quellen  Ägyp- 
tens. Von  den  nachher  besonders  zu  besprechenden  —  profanen  wie 
christlichen  —  Papyruskodizes  des  dritten  Jahrhunderts  sehen  wir  vor- 
läufig ab.  Der  gleichzeitige  Pergamentkodex  ist  wenigstens  bereits  ver- 
treten durch  Proben  der  Dreizahl  carmen  historia  oratio.  Es  sind  ein 
Stück  Odyssee  (s.  III/IV  Amh.  II  23),  ein  Fragment  von  einem  lateini- 
schen Historiker  (s.  III  Oxy.  I  30)  und  ein  Blättchen  aus  des  Demo- 
sthenes  zweiter  Philippika  (s.  III  **)  Amh.  II  24).  Die  litterarischen  Zeug- 
nisse ergeben  ein  Überhandnehmen  der  Kodexform  vorerst  nur  für  die 
christlichen  **)  (seit  249)  und  für  die  juristischen**)  Werke  (seit  294  s.o.). 
Über  diese  zwei  Gebiete  haben  wir  sorgfaltige  Untersuchungen  von  Fach- 
männern, und  auch  die  übrige  Geschichte  des  Kodex  vom  vierten  Jahr- 
hundert an  kann  als  genügend  erforscht  gelten.*^) 

Wir  müssen  aber  noch  einmal  zurückkehren  zum  Problem  seiner 
Entstehung.  Die  Terminologie  hatte  uns,  wie  ich  meine,  untrüglich 
gelehrt,  dass  der  Pergamentkodex  etwa  mit  dem  Beginn  der  Kaiserzeit 
auf  römischem  Boden  aus  dem  Prinzip  der  Wachstafeln  hervorwuchs. 
Dieses  Resultat  ist  noch  weit  entfernt  von  allgemeiner  Anerkennung. 
Die  Mehrzahl  der  einschlägigen  Litteratur  hält  jene  Buchform  für  nicht- 
römisch und  für  bedeutend  älter.  Eine  vereinzelte  ganz  unbeweisbare 
Hypothese,  welche  sie  gar  in  den  alten  Orient  hinaufschiebt  und  von 
da  allmählich  zu  den  Hellenen  dringen,  durchs  Christentum  nachher 
einen  erneuten  Verstoss  machen  lässt,  können  wir  ohne  Schaden  über- 
gehen.'*) Beachtung  heischt  dagegen  die  weitverbreitete  Meinung,  der 
Kodex  stamme  von  den  Griechen.  Zugrunde  liegt  ihr  die  Bücksicht 
auf  eine  von  Plinius  aus  Varro")  zitierte,  durch  spätere  Zeugnisse*®) 
ergänzte  antike  Tradition,  die  Bivalität  zwischen  den  zwei  grossen 
hellenistischen  Bibliotheken  habe  in  der  ersten  Hälfte  des  zweiten  Jahr- 
hunderts zur  'Erfindung  der  Membrane'  in  Pergamon  geführt.  Mit  Recht 
denkt  man  dabei  an  das  Aufkommen  einer  feineren  Technik,  die  den 
längst  bekannten  Schreibstofif  des  Leders,  die  dt<pOipa  zum  wirklichen 
'Pergament'  machte.  Das  Wesen  der  Verbesserung  findet  man  neben 
der  Glätte  vor  allem  in  der  Möglichkeit  der  Opisthographie.  Sie  musste 
auf  jeden  Fall  ausgenutzt  werden.  Für  die  Rolle  ging  das  nicht  an. 
Ihr  Beschreiben  auf  beiden  Seiten  war  wegen  der  praktischen  Unbe- 
quemlichkeit stets  nur  eine  seltene  Ausnahme.  *®)  So  bot  sich  als  ein- 
ziger Ausweg  die  Vermutung,  das  neue  Material  sei  schon  damals  ge- 


146  ^'  ^-  Gerhard  und  0  Gradenwitz 

faltet  worden  zum  Kodex.  Der  erste,  dessen  Gedankenfolge  diese  Richtung 
einschlug,  war  der  alte  Isaak  Vossius  in  seinen  Bemerkungen  zum 
Gatull.'^)  Noch  Oe'raud  (S.  126)  bezeichnete  das  Ergebnis  mit  Recht 
als  une  conjecture  inginieuse  qui  ne  s'appuie  sur  aucune  preuve  solide. 
Anders  die  Neueren,  bei  denen  es  als  zweifelsfreie  Thatsache  auftritt, 
so  in  J.  Marquardt's  Privataltertümern,'')  im  Blassschen  Abriss 
des  Buchwesens  bei  Iwan  Müller, '')  in  Wattenbachs  'Schriftwesen 
des  Mittelalters*  ('  S.  113  f.).  Kein  Wunder  also,  dass  auch  andere 
Gelehrte  bei  gelegentlicher  Berührung  der  Frage  den  litterarischen  Kodex 
ohne  weiteres  der  vorchristlich-alexandrinischen  Zeit  zuschreiben,  so 
ausser  Land  wehr '*)  auch  Roh  de  in  seiner  berühmten  Rezension  von 
Birts  Buchwesen '^)  und  C.  Haeberlin.'^)  Der  gleichen  Meinung  huldigt 
C.  Wachsmut h,  dessen  Satz,  Pentaden  seien  nur  als  Pergamentkodizes 
denkbar,  noch  des  Beweises  bedarf,'^)  und  in  einer  Andeutung  ü.  von 
Wilamowitz-Möllendorff.'^)  Selbst  Dziatzko  (s.  A.  8)  bekennt 
sich  im  Widerspruch  mit  dem  eigenen  Standpunkt  zur  frühen  Ansetzung 
der  Kodexform.  Die  wäre  ja  durch  seine  'von  Pergamon  aus  ein- 
gedrungenen* gleichmässig  beschnittenen  und  opisthograph-kontinuier- 
lichen  einzelnen  Pergamentblätter  notwendig  bereits  involviert.  Doch 
vergessen  wir  nicht  die  Argumente,  welche  E.  Rohde  für  seine  An- 
sicht geltend  machte.  Kodizes  sollen  erstlich  schon  für  die  Zeit 
300  Jahre  vor  ihm  bezeugt  werden  von  Galen. '^)  In  Wahrheit  spricht 
jedoch  die  auch  nach  der  Cobetschen  Emendation  noch  verderbte  und 
missverstandeue  Stelle,  wie  ich  hier  nicht  weiter  ausführen  kann,  ledig- 
lich von  Rollen.  Als  Rollen  erweisen  sich  ferner  bei  genauer  Prüfung 
die  zum  Beweis  herangezogenen  reujnf^  des  Aristeasbriefs, '^)  und  eben- 
sowenig ist  dann  natürlich  mit  dem  Vorkommen  jenes  bisher  nicht 
plausibel  erklärten  Wortes  ^^)  bei  dem  unter  Augustus  lebenden  Antho- 
logiedichter Krinagoras  von  Mytilene^^)  anzufangen.  Also  der  An- 
nahme mangelt  jegliche  Stütze.  Gegen  sie  erheben  sich  gewichtige 
Gründe.  Schon  Birt  (S.  53)  wies  treffend  darauf  hin,  dass  eine  so 
epochemachende  Neuerung,  wie  sie  der  Pergamentkodex  bedeutete,  un- 
bedingt wenigstens  in  einem  neugeprägten  Terminus  ihre  Spur  hinter- 
lassen haben  müsste.  Auch  hätte  es  der  praktische  Sinn  der  Römer, 
denen  der  Überlieferung  zufolge  thatsächlich  Proben  des  pergamenischen 
Fabrikats  präsentiert  wurden,^')  gewiss  schon  damals  nicht  versäumt 
sich  die  später  bei  Martial  ob  ihrer  Vorzüge  bewunderte  Erfindung  an- 
zueignen. Wir^ehen,  der  aus  der  Pergamonanekdote  abgeleitete  Schlass 
führt  ad  absurdum.  Falsch  war  also  wohl  die  Prämisse  von  der  Opistho- 


Ein  neuer  juristischer  Papyrus  der  Heidelberger  Universitätsbibliothek     147 

graphie.  Was  uns  über  die  neuartige  Präparierung  des  Stoffes  berichtet 
wird/')  widerstreitet  keineswegs  der  Deutung,  dass  die  Bucher  des 
Attalos  als  Rollen  dem  fundamentalen  Prinzip  des  alexandrinischen  Buch- 
wesens treu  blieben,  und  dass  man  sie  entsprechend  dem  Rekto  der 
Papyrusvolumina  nur  auf  der  feiner  behandelten  helleren  Fleischseite 
beschrieb.  Dass  solche  teuern  Exemplare  die  Römer  wenig  zur  Nach- 
ahmung reizten,  begreift  sich  leicht.  Die  übliche  und  weit  wohlfeilere 
Charta  stand  ihnen  reichlich  zur  Verfügung.  So  geriet  die  Membran- 
rolle aus  Pergamon,  von  vereinzeltem  Weiterleben  abgesehen,  schnell 
wieder  in  Vergessenheit.  Das  Schicksal  der  Sache  spiegelt  sich  auch 
diesmal  im  Namen.  In  den  Handbüchern^^)  liest  man,  das  Wort  per- 
gamena  für  membrana  komme  zuerst  in  einem  Diokletianedikt  von  301 
vor,  das  nächste  Mal  bei  Hieronymus.  Dieser  sowohl  als  Joh.  Laurentius 
Lydus  und  das  aus  ihm  schöpfende  Boissonadesche  Anekdoten  vei*sichern 
aber  nun,  dass  die  Bezeichnung  seit  jener  denkwürdigen  Zeit,  der  sie 
entsprungen,  ununterbrochen^^)  fortbestand.  Bis  ins  zweite  Jahrhundert 
vermögen  wir  ihrer  Spur  auch  noch  wirklich  zu  folgen.  Denn  nach 
R.  Wünsch's  Vermutung*^)  war  des  Lydus  Gewährsmann  für  diese  Buch- 
fragen Sueton.  Archaisierende  Neigung  ist  es  wohl  gewesen,  die  den 
selten  gewordenen  Ausdruck  wieder  zu  Ehren  brachte  und  —  ohne  den 
ihm  von  Hause  aus  anhaftenden  Rollenbegriff  —  auf  die  Nachwelt  ver- 
pflanzte. 

Bisher  verstanden  wir  unter  Kodex  immer  ausschliesslich  den  Per- 
gamentkodex.  Mit  Fug  und  Recht.  Zeigte  sich  doch  die  Kodexform 
in  den  Anfangsstadien  ihrer  Entwicklung  so  unzertrennlich  gerade  mit 
jenem  Materiale  verknüpft,  dass  memhranae  zunächst  für  jedermann  den 
Kodex  aus  Pergament  bedeutete  so  gut  wie  charta  die  Rolle  aus  Pa- 
pyrus. Dem  Papyruskodex,  auf  den  wir  nun  unser  Augenmerk  rich- 
ten, ist  damit  bereits  sein  Platz  bestimmt.  Er  muss  notwendig  jünger 
sein  als  der  Pergamentkodex  und  ganz  von  ihm  abhängig.  Alle  neuer- 
dings dagegen  geäusserten  ZweifeH^)  könnten  wir  schon  jetzt  mit  gutem 
Qrunde  zurückweisen,  auch  ohne  die  triftigen  Erwägungen,  welche 
unsre  Position  des  weiteren  verstärken.  Zum  unterschied  von  der  die 
Opisthographie  bequem  ermöglichenden  und  darum  zum  Gebrauche  im 
Kodex  auffordernden  Membrane  wurde  von  der  charta  bekanntermassen 
nur  die  sogenannte  Rektoseite  fürs  Schreiben  hergerichtet,  während  man 
das  Verso  höchstens  im  Notfall  benutzte.  *®)  In  einem  der  ältesten  Bei- 
spiele des  Papyruskodex  aus  dem  dritten  Jahrhundert  steht  der  Ilias- 
text  in  der  That  bloss  auf  einer  Seite  jedes  Blattes.    Erst  nachträglich 


148  ^*  ^'  Gerhard  und  0.  Gradenwitz 

hat  ein  Teil  der  frei  gebliebenen  Seiten  noch  zur  Aufnahme  eines  gram- 
matischen Tryphontraktates  gedient.  ^^)  Die  Faltung  des  Doppelblattes 
ferner,  auf  der  der  Kodex  beruht  und  zu  der  sich  das  Pergament  eben 
hervorragend  qualifizierte,  vertrug  der  Papyrus  schlecht.  Fast  überall 
in  den  aus  Ägypten  kommenden  Kodizes  dieses  Steifes  sind  die  Bruch- 
falten gerissen,  so  dass  beispielsweise  unter  den  27  Blättern  der  Heidel- 
berger Septuaginta  ^^)  und  den  40  Blättern  der  koptischen  Paulusakten  ^^) 
nur  je  zweimal  ein  Bogen  mehr  oder  minder  zusammenhielt.  Hier  liegt 
die  einfache  Erklärung  für  die  vielen  Werke  auf  ^Einzelblättern',  welclie 
Dziatzkos  bedauerlichem  Irrtum  Nahrung  gegeben  hatten.  ^^)  Noch  ärger 
als  die  Faltung  that  dem  zarten  Gewebe  die  nähende  Heftung  weh.  Sie 
zu  bewerkstelligen,  nahm  man  —  bezeichnend  genug  —  als  Unterlage 
wieder  Falze  von  Pergament.*^)  Noch  in  späterer  Zeit  wurden  ja  auch  bis- 
weilen geradezu  unter  die  Papyrusdoppelblätter  etwa  zu  äusserst  und  zu 
innerst  in  der  Lage  infi  Interesse  festerer  Dauer  solche  aus  Pergament 
gemischt.^)  Der  surrogative  Charakter  des  Papyruskodex  könnte  sich 
nicht  deutlicher  manifestieren.  Die  gleiche  Sprache  reden  Fälle  wie  der, 
dass  die  Kopten  des  fünften  Jahrhunderts  Papyrusurkunden  aus  fern 
zurückliegender  Zeit  mit  den  vollgeschriebenen  Rektoseiten  aufeinander- 
klebten,  um  Blätter  zu  gewinnen  für  einen  Bibelkodex.  ^^)  Um  sich  die 
Vorteile  des  kostspieligen  Pergamentkodex  zunutze  zu  machen,  hat  man 
ihn  also  o£fenbar,  wie  sich  das  noch  durch  manche  technische  Einzel- 
heit, z.  B.  das  jeweilige  Gegenüberstellen  von  Bekto  und  Rekto,  Verso 
und  Verso  entsprechend  dem  bekannten  Verhältnis  der  Fleisch-  und  der 
Haarseiten  illustrieren  lässt,^^)  so  gut  es  ging,  in  dem  billigeren,  wenn 
auch  minder  haltbaren  Chartamateriale  nachgeahmt.  Eigentlich  selbst- 
verständlich ist  dies  seit  dem  fünften  Jahrhundert,  wo  die  Buchrolle 
ausser  Gebrauch  kam  und  man  sich  doch  auch  für  litterarische  Werke 
noch  immer  zum  guten  Teil  auf  Papyrus  angewiesen  sah.  Aber  auch 
für  viel  frühere  Zeit  wäre  es  keinesfalls  wunderbar,  am  wenigsten  im 
Papyruslande  Ägypten.  Allein  die  Rücksicht  auf  Ulpian  (A.  11),  der 
uns  ja  sicher  für  den  Anfang  des  dritten  und  vielleicht  sogar  schon 
fars  Ende  des  zweiten  Jahrhunderts  als  ausnahmsweise  Substitute  der 
regelrechten  Papyrusrollen  (chartae)  und  Pergamentkodizes  (mefnbranae) 
neben  den  Pergamentrollen  auch  die  Papyruskodizes  bezeugt,  hätte  ver- 
hüten sollen,  dass  man  die  Bedeutung  der  neuerdings  zahlreich  einlau- 
fenden besonders  christlichen  Codices  chartacei  des  dritten  Jahrhunderts 
so  stark  überschätzte  und  sich  einbildete,  ^die  Frage  über  Rollen-  und 
Kodexformat'  werde  dadurch  'auf  eine  neue  Basis  gestellt'.^')    Wohl- 


Ein  neuer  juristischer  Papyrus  der  Heidelberger  Universitätsbibliothek     ]  49 

begreiflich  erscheint  es  wie  gesagt,  dass  gerade  Ägypten  den  Papyras- 
kodex  frühe  ausgiebiger  als  andre  Provinzen  des  Imperiums  verwandte. 
Von  christlichen  Exempeln  des  dritten  Jahrhunderts  wie  den  Aoyta  ^Irjaou 
(Oxy.  1 1),  einem  Matthäus  (Oxy.  I  2),  einem  Johannes  (Oxy.  11  208)  und 
einem  unbestimmbaren  theologischen  Werke  (Oxy.  11  210)  abgesehen  ist 
in  dieser  Zeit  auch  schon  die  klassische  Litteratur  vertreten.  Ausser 
dem  bereits  erwähnten  Londoner  Homer  (A.  49)  gehören  dahin  eine 
Pariser  Homerparaphrase/®)  ein  andrer  Epiker  (Oxy.  11  214)  und  ein 
Platonischer  Gorgias  aus  Wien.^^)  Ein  beachtenswertes  Kontingent  stellt 
der  Papyruskodex  auch  zu  den  unten  (S.  154  f.)  aufgeführten,  aus  späteren 
Jahrhunderten  stammenden  juristischen  Stücken.  Verhältnismässig  der 
grösste  Prozentsatz  an  Papyrus  entfällt  im  Ganzen  auf  die  Bücher  der 
Christen.  Ich  will  aus  den  relativen  Zahlen  einer  beschränkten  Auslese 
beileibe  keine  sicheren  Schlüsse  ziehen.  Aber  wenn  die  4itterarischen' 
Eodizes,  über  die  W.  Crönert  seit  den  letzten  Jahren  im  Archiv  zu 
berichten  hatte,  neben  11  Pergamenten  9  Papyri  zeigten,  unter  C.  Schmidts 
gleichzeitigen  'christlichen  Texten'  hingegen  diese  etwa  um  das  Fünf- 
fache überwogen  (26 : 5),  so  ist  das  vielleicht  doch  mehr  als  ein  blosser 
Zufall.  Das  christliche  Publikum  war  zumal  in  der  Spätzeit  zahlreicher, 
aber  weniger  wohlhabend  als  der  mehr  und  mehr  zusammenschmelzende 
Leserkreis  der  'profanen'  Autoren.  Der  Pergamentkodex  blieb  natürlich 
auch  für  die  Christen  des  Wunsches  Ziel,  das  sich  am  ehesten  in  der 
Bibliothek  der  Gemeinde  erreichen  Hess.  Das  vielzitierte  Dorfkirchen- 
inventar aus  dem  fünften  oder  sechsten  Jahrhundert^^)  weist  21  ßtßXia 
depfidzivay  aber  nur  drei  yapxia  auf.  Bei  der  wichtigen  ßoUe,  die  der 
Papyruskodex  vor  unsern  Augen  in  Ägypten  spielt,  erhebt  sich  die  Frage, 
ob  denn  solche  Exemplare  wirklich  immer  bloss  geringe  und  unsorg- 
fältige Privatabschriften  waren  und  nicht  unter  Umständen  auch  neben 
dem  überlegenen  Vorbild  aus  Membrane  in  den  Handel  gelangten.  Ich 
möchte  die  letztere  Möglichkeit,  die  für  junge  Fälle  wie  den  glossierten 
Heidelberger  Digestenkodex  (A.  1)  zur  Wahrscheinlichkeit  wird,  in  Er- 
wartung weiterer  Funde  und  Untersuchungen  selbst  für  die  frühere  Zeit 
mindestens  nicht  vorschnell  verneinen.  ^^) 

Über  die  Entstehung  des  Kodex  wären  wir  uns  im  allgemeinen 
leidlich  klar.  Eine  lohnende  Aufgabe  bleibt  es  nun  noch,  seine  Ent- 
wicklung im  Anschluss  an  die  Wachstafeln  des  näheren  zu  studieren. 
Die  Mittel  dazu  bieten  neben  den  gar  nicht  so  spärlichen  Schriftsteller- 
zeugnissen auf  der  einen  Seite  die  erhaltenen  litterarischen  wie  nicht- 
litterarischen  tabulae  ceratae  **)  und  auf  der  andern  —  je  älter,  je  wert- 


150  G.  A.  Gerhard  und  0.  Gradenwitz 

voller  —  die  gewiss  noch  mancher  Bereicherung  entgegensehenden  Per- 
gament- und  Fapyruskodizes,  deren  unglückselige  Scheidung  nach  dem 
Material  von  den  Verfassern  der  referierenden  Kataloge  erst  neuerdings 
glücklich  überwunden  ist.  ^^)  Unerlässlich  ist  eine  treue  und  zuverlässig 
eingehende  Beschreibung  der  meistens  ja  leider  fragmentarischen  Stücke 
durch  die  Herausgeber,  dringend  erwünscht  die  jeweilige  Beigabe  einer 
Photographie.  Auf  ein  paar  Hauptpunkte  darf  ich  vielleicht  schon  jetzt 
in  Kürze  hindeuten.  Von  Interesse  ist  zunächst  das  Format  und  sein 
allmählicher  Wandel  von  der  Pugillargrösse  bei  Martial  zum  stattlichen 
Folianten  des  Mittelalters.  Damit  hängt  zusammen  die  Bichtung 
und  Anordnung  der  Schrift.  In  den  römischen  Diptycha  und  Triptycha 
läuft  sie  der  Falzlinie  parallel  über  die  ganze  aufgeschlagene  Fläche. 
Beim  litterarischen  Kodex  trägt  nach  dem  Prinzip  der  Buchrolle  jede 
Seite  ihre  senkrechte  Kolumne  oder  deren  mehrere.  Daten  und  Auf- 
schlüsse über  diese  scheinbar  nebensächlichen  Dinge  versprächen  Hilfe 
bei  der  chronologischen  Fixierung.  Sodann  die  Lagen  oder  Hefte. 
Unsre  sichere  Kenntnis  einer  bestimmten  Kodexeinteilung  gewöhnlich 
in  Quaternionen  beginnt  erst  mit  dem  vierten  Jahrhundert.  **)  Der  vor- 
aufliegende Zustand  harrt  noch  der  Erforschung,  wenn  auch  schon  ein 
Beispiel  Martials  wie  sein  dicker  Sammelband  mit  beiden  Epen  Homers  ^^) 
Zusammensetzung  aus  einer  Mehrzahl  von  Faszikeln  vermuten  lässt 
Vereinzelt  steht  jedenfalls  ein  merkwürdiger  Papyruskodex  des  Hesiod 
(s.  IV)  in  Unionen  da,  d.  h.  Doppelblatt  neben  Doppelblatt  gelegt.  ^*) 
Sonst  scheint  es  gerade  umgekehrt  vielmehr  eine  beliebte  Sitte  vielleicht 
aus  der  Frühzeit  gewesen  zu  sein,  möglichst  viele  Bogen  in  eine  einzige 
Lage  zu  stopfen  und  in  ihr  wenn  th unlieb  das  ganze  Werk  oder  Werk- 
chen unterzubringen.  Noch  aus  dem  fünften  Jahrhundert  hat  man  ein 
monströses  Exempel  dieser  Art  in  den  über  vierzig  ineinandergelegt  zu 
denkenden  Doppelblättern  unserer  hiesigen  Acta  Pauli  (s.  A.  51),  wo  ein 
wirkliches  Zusammenklappen  des  unmässig  starken  Heftes  kaum  noch 
angehen  konnte.  Ins  dritte  Jahrhundert  gehört  das  mit  ungefähr  25 
Bogen  gleichfalls  bloss  einen  Faszikel  bildende  Johannesevangelium  aus 
Oxyrhynchos  (II  208).  Solch  ein  Evangelium  in  einem  veoyoQ^  das  übrigens 
litterarischer  ^')  und  bildlicher  ^^)  Analogien  nicht  entbehrt,  mag  einem 
die  für  die  Geschichte  des  Kanons  nützliche  Lehre  geben,  dass  das  Be- 
stehen der  Kodexform  in  einer  bestimmten  Zeit  noch  nicht  gleich  not- 
wendig die  Vereinigung  mehrerer  Schriften  zu  einem  Kollektivbande  zu 
bedingen  braucht. ^^)  Weiter  käme  in  Frage  der  Einband,  über  den 
wir  auch  noch  herzlich  wenig  wissen.''^)   Der  Klärung  bedürfen  ausser- 


Ein  neuer  juristischer  Papyrus  der  Heidelberger  Universitätsbibliothek     151 

dem  die  bis  heute  recht  verworrenen  Yorstellungeu  vom  Titel-  und 
Schmutzblatt  und  von  der  Paginierung.''*) 

Wir  wenden  die  vorausgeschickten  Erörterungen  auf  unsere  juristi- 
sche Papyrusrolle  an.  Nach  dieser  ihrer  Form  muss  sie  spätestens  ins 
dritte  Jahrhundert  fallen.  Ein  gleiches  Ergebnis  liefert  nun  ferner  die 
Schrift. 

Gerade  von  den  Bechtsbüchern  zeigten  sonst  schon  die  frühesten 
Manuskripte  durchweg  die  ünziale,^^)  jene  durch  ihre  allgemeine 
Tendenz  zur  Bundung  und  die  direkte  Aufnahme  einzelner  kursiver 
Elemente  gekennzeichnete  Majuskelart,  deren  merkwürdig  plötzliches  und 
fertiges  Auftreten  ^')  seit  dem  vierten  Jahrhundert  man  mit  dem  gleich- 

« 

zeitigen  Umsichgreifen  des  sie  begünstigenden  Pergaments  als  Schreib- 
stoff zusammenbringen  zu  dürfen  scheint.  ^^)  Voraus  liegt  dieser  Epoche 
der  P.  1000  mit  der  in  seinem  Gebiete  einzigen  rustiken  Kapitale. 
In  voller  Blüte  treffen  wir  die  so  genannte  zwanglosere  Gestaltung  des 
quadratischen  Typus  bereits  in  den  Bollen  aus  Herkulaneum.  Für  die 
Folgezeit  geben  uns  die  ägyptischen  Funde  neben  einem  äusserst  in- 
teressanten Buchbeispiel  begonnener  Unzialisierung  ^^)  bisher  nur  spär- 
liche Proben  von  nichtlitterarischem  Charakter.  ''^  Ihr  echter  Gebrauch 
war  um  300  zu  Ende  und  durch  die  aus  ihr  entwickelte  Unziale  ver- 
drängt. Nur  für  wertvolle  Elassikerhandschriften,  vor  allem  Virgile 
verwandte  sie  die  Schreibertradition  noch  ein  paar  Jahrhunderte  lang 
weiter.  Die  Datierung  solcher  Zeugen  des  künstlichen  Nachlebens  ist 
darum  begreiflicherweise  unsicher  und  vielumstritten. '''^)  Schon  etwas 
plump  und  bequem,  aber  noch  völlig  rein  erscheint  die  Schrift  unseres 
Fragmentes  mit  seinen  mangels  einer  Liniierung  entsprechend  den  Fasern 
des  Papyrus  ziemlich  ungleichmässig  und  ungerade  verlaufenden,  durch- 
schnittlich ca.  3^401111  von  einander  abstehenden  neun  Zeilen  und  den 
in  der  Höhe  von  ungefähr  i^j^mm  wie  auch  in  der  Form  am  ehesten 
an  die  Schedae  Vaticanae  des  Virgil  ^®)  erinnernden  Buchstaben.  Wort- 
trennung haben  wir  nicht,  von  Satzzeichen  ausser  dem  Punkt  in  der 
Mitte  nach  den  Abkürzungen  (die  unten  besprochen  werden)  viermal 
(Z.  2.  6.  8.  9)  den  Punkt  nach  oben,  an  einer  Stelle  (Z.  6)  unverständ- 
lich. Die  der  rustiken  Kapitale  eigene  Scheidung  von  Haar-  und  Grund- 
strichen ist  insofern  nur  unvollkommen  befolgt,  als  feiner  bloss  die 
schräg  aufwärts  gehenden  Linien  von  a  tn  n  r  x  aussehen,  die  Senk- 
rechten dagegen  durch  ungehörige  Stärke  auffallen.  Als  weiteres  Charak- 
teristikum kennt  man  die  Kürze  der  Horizontalen.  Sehr  klein  ist  das 
über  der  Mitte  angebrachte  Mittelstrichlein  des  e  und  f  (Z.  5).    Den 


152  ^«  A.  Gerbard  und  0.  Gradenwilz 

zirkumflektierteD,  mitunter  absetzenden  Deckstrich  oben  haben  bloss  e 
und  U  Bei  i  und  dem  von  ihm  kaum  verschiedenen  Z,  wie  es  scheint, 
auch  bei  f  ist  lediglich  der  Kopf  verdickt.  Den  unteren  Abschluss 
bildet  für  a  m  etc.  der  auf  eine  Ecke  gestellte  quadratische  Punkt  an 
der  inneren  Seite  des  Anfangsstrichs,  e  i  l  p  t  biegen  einfach  ihre  hasta 
unten  nach  rechts  ein  wenig  um.  Winzig  und  o£fen  wie  üblich  ist  der 
obere  Bogen  von  b  p  r.  Auch  der  untere  steht  ganz  frei  beim  6.  Ein- 
mal (Z.  9  Abbreviatur)  möchte  man  die  Schleife  von  p  für  geschlossen 
halten.  Das  r  gleicht  beinahe  dem  a.  Der  Bogen  wird  zur  schwachen 
Verdickung  in  dem  gerade  herunterführenden  schrägen  Abstrich.  Wenn 
wir  noch  bemerken,  dass  beim  a  (ähnlich  m  n  r)  der  zweite  Balken 
den  ersten  nur  unbedeutend  überragt,  f  nach  dem  einen  Exempel  (Z.  5) 
zu  schliessen  etwas  unter  die  Zeile  geht,  von  m  der  zweite  und  vierte 
Strich  parallel  sind  und  der  letztere  vom  dritten  unter  der  Mitte  ge- 
tro£fen  wird,  die  Mittellinie  von  n  gekrümmt  läuft  und  sein  Endstrich 
wie  der  des  u  sich  gern  zu  einer  abwärts  reichenden  Spitze  verjüngt, 
das  regelmässige  q  (über  dessen  abweichende  Form  in  der  Abkürzung 
s.  u.)  einen  fast  wagrechten  Querstrich  als  Schluss  hat,  der  Endpunkt 
des  seitlich  schmal  zusammengedrückten  s  zum  isolierenden  Absetzen 
neigt,  und  das  u  nicht  mehr  die  spitze  t^-Gestalt  bietet,  so  ist  die  Schrift 
des  Bruchstücks,  in  welchem  die  Buchstaben  g  hky  z  nicht  vorkommen, 
wohl  genügend  geschildert. 

Ein  Bätsei  bleibt  uns  aber  noch  zu  lösen.  Was  bedeutet  das  am 
Ende  von  Z.  4  zweimal  hintereinander  jeweils  mit  einem  (mittleren) 
Punkte  darnach,  im  zweiten  Falle  überdies  mit  einem  schrägen  Striche 
aufwärts  durch  den  Rumpf  gebrauchte  Zeichen,  das  ans  unziale  a  er- 
innert? Es  ist  augenscheinlich  ein  9,  nicht  das  sonst  im  Texte  ange- 
wandte kapitale,  sondern  das  der  altrömischen  Kursive,  kenntlich  an 
dem  von  der  Spitze  des  ovalen  Körpers  kräftig  und  tief  nach  rechts 
meist  bis  unter  die  Zeile  geführten  schiefen  Schlussbalken,  der  später 
seit  dem  zweiten  Jahrhundert  dank  dem  allgemeinen  Wandel  des  kur- 
siven Duktus  allmählich  vielmehr  eine  nach  links  rückwärts  gekehrte 
oder  mindestens  vertikale  Bichtung  annahm.  ^^)  In  letzterer  Gestalt  ist 
ja  dann  der  Buchstabe  nachmals  in  die  Unziale  übergegangen  und  aus 
ihr  in  die  noch  heute  übliche  Minuskel.  Was  soll  nun  jene  vereinzelte 
Kursivform  mitten  in  einem  sonst  konsequenten  kapitalen  Alphabet? 
Sie  giebt  sich,  was  man  nicht  übersehen  darf,  als  Abkürzung,  deren 
Deutung  uns  weiter  unten  beschäftigen  wird.  Schon  jetzt  aber  ver- 
muten wir  in  ihr  den  Repräsentanten  eines  alten  und  stereotypen  juristi- 


Ein  neuer  jaristiscfaer  Papyrus  der  Heidelberger  üniTersitätsbibliothek     153 

sehen  Notensystems,  welches  auch  noch  der  Schreiber  unserer  Rolle  im 
Widerspruch  mit  seinem  eigentlichen  Typus  befolgt  zu  haben  scheint. 
Über  die  diesem  System  zugrunde  liegende  Hand  lässt  sich  vorsichtiger- 
weise soviel  sagen:  sie  war  nicht  streng  kapital  und  hatte  wenigstens 
in  gewissen  Charakteren  wie  dem  q  Anleihen  von  der  Kursive.  Wenn 
wir  hinzunehmen,  dass  die  wie  schon  erwähnt  (A.  3)  aus  der  ersten 
Hälfte  des  dritten  Jahrhunderts  erhaltene  juristische  Bolle  mit  einem 
Trajanmandat  thatsächlich  in  vollkommen  durchgeführter  korrekter  Kur- 
sive geschrieben  ist,  so  ergiebt  sich  für  das  vordiokletianische  Rechts- 
buch ein  seltsames  Nebeneinander  von  Kapitale,  Kursive  und  vielleicht 
einer  aus  beiden  gebildeten  Mischung.  Ergänzt  und  illustriert  wird  dies 
Resultat  durch  die  lateinischen  Rollenfunde  aus  Herkulaneum.  Ihre 
Zahl  ist  ja  nur  gering  und  eine  Bestimmung  des  Inhalts  der  Fragmente 
fast  immer  unmöglich.  Aber  in  den  davon  hergestellten  Reproduktions- 
proben, besonders  bei  Sir  Humphrey  Davy,  ^®)  so  mangelhaft  sie  sind, 
finden  wir  was  wir  suchen.  Sie  bieten  wirklich  in  mannigfacher  Ab- 
stufung die  oben  postulierten  Übergangsformen  von  der  Kapitale  zur 
Kursive.  Man  kann  die  Davyschen  und  die  von  Zangemeister- Watten- 
bach mitgeteilten  Beispiele  zu  einer  förmlichen  Skala  ordnen,  die  von 
der  mehr  oder  minder  scharf  ausgeprägten  rustiken  Kapitale  durch  eine 
kursive  Elemente  wie  b  d  e  q  r  s  aufnehmende  ^Semikursive'  zur  fertigen 
Kursive  herabführt.  ®^)  Wir  sehen,  die  juristische  Schrift  der  drei  ersten 
Jahrhunderte  ist  nur  ein  Sonderexempel  für  die  gemeinlitterarische  Ge- 
wohnheit. Doch  darf  es  im  Hinblick  auf  die  Frage  der  Abkürzungen 
(s.  0.)  immerhin  als  eine  Eigentümlichkeit  gerade  jener  Oattung  be- 
zeichnet werden,  dass  sie  in  der  Regel  dem  unteren  Ende  der  Reihe 
näherstand  und  entsprechend  ihrem  praktischen  Zweck  von  Natur  zur 
kursiven  Beeinflussung  neigte,  so  dass  Rechtsbücher  in  echter  Kapitale 
wie  unser  Papyrus  zu  den  Ausnahmen  gehören  mochten.  Das  über  die 
frühe  juristische  Schrift  gefällte  Urteil  gewinnt  an  Wahrscheinlichkeit, 
da  wir  den  gleichen  Zug  in  ihrer  späteren  Entwicklung  wiederkehren 
sehen.  Der  allzufreien,  mitunter  zügellosen  Kursivierung  der  römischen 
Buchhände  gegenüber  trat  eine  Reaktion  ein  mit  dem  Beginn  der  byzan- 
tinischen Epoche.  Je  weniger  produktiv  sie  selbst  noch  war,  um  so 
lebhafter  empfand  sie  für  die  sichtende  und  zusammenfassende  Weiter- 
überlieferug  der  alten  Werke  das  Bedürfnis  nach  einer  streng  kalli- 
graphischen Regelung  der  Schrift.  Gewahrt  wird  der  Charakter  der 
bloss  etwas  rundlicher  geschliffenen  Majuskel.  Die  kursiven  Einflüsse 
werden   abgedämmt   und   endgiltig   beschränkt   auf  wenige  bestimmte 


154  6.  A.  Gerhard  und  0.  Gradenwitss 

Zeichen,  vor  allem  d  m  q.  So  entsteht  der  Typus,  den  wir  Unziale 
nennen.  Wie  verhalten  sich  zu  dieser  Noroi  die  juristischen  Manuskripte? 
Die  herkömmliche  Behauptung,  sie  seien  von  Anfang  an  eine  ausschliess- 
liche Domäne  der  Unziale,  hat  zumal  für  die  frühesten  Beispiele  aus 
Ägypten  eine  sorgfältige  Prüfung  vonnöten.  Da  findet  man  denn  eine 
wirklich  reine  Unziale  in  vorjustinianischer  Zeit  bisher  nur  zweimal: 

I.  s.  IV/V  Pergamentkodex.  Papinians  Responsa  in  Berlin  und 
Paris.  Text  mit  Litteratur  jetzt  in  der  Erüger-Mommsen-Studemund- 
sehen  Collectio  librorum  iuris  anteiustinianei  III  (1890)  S.  286 — 296. 
Faksimile  bei  R.  Dareste  in  der  Nouvelle  revue  historique  de  droit 
franfais  et  ötranger  VII  (1883)  pl.  I.  II  (am  Schluss)  zu  S.  361ff. 

II.  s.  V  Papyruskodex.  Scholia  Sinaitica  ad  Ulpiani  libros 
ad  Sabinum.  Text  mit  Litteratur  in  der  Collectio  S.  267—282.  Schrift- 
probe (Latein  ins  Griechische  gemischt)  nach  einer  Gardthausenscben 
Zeichnung  bei  0.  Lenel,  Savigny-Zeitschr.  II  (1881)  B.  A.  (am  Schluss) 
zu  S.  233  flf. 

Sonst  macht  sich  besonders  in  dem  einschleifigen  b  mit  senkrecht 
aufragender  Hasta,^^)  dem  ähnlich  emporgerichteten  d,^^)  dem  m  mit 
geraderen  und  parallelen  Schenkeln,  oft  auch  dem  bekannten  stumpf- 
winklig gebrochenen  s  gleich  im  vierten  Jahrhundert  eine  erneute 
Wirkung  der  Kursive  geltend  und  erzeugt  zusammen  mit  dem  schon 
etwas  minuskelhaften  Duktus  eine  frühe  Art  der  gewöhnlich  erst  vom 
fünften  Jahrhundert  an  gerechneten®^)  Halbunziale.  Zwei  Typen  lassen 
sich  dann  wieder  scheiden.  Den  ersten  aufrechten,  meist  kräftigen,  der 
uns  beispielsweise  auch  in  einem  neuerdings  gefundenen  Papyruskodex 
von  Virgils  Äneis®*)  sowie  in  der  zwölften  Hand  der  Florentiner  Pan- 
dekten ®^)  entgegentritt,  repräsentieren : 

III.  s.  V/VI  Papyrusrolle  (s.  A.  2).  'Juristisch-litterarische  Samm- 
lung von  Reskripten  und  vielleicht  Juristenexzerpten*  (Oradenwitz). 
Amh.  II  27.  [Vgl.  Seymour  de  Ricci,  Revue  des  et.  gr.  XV  1902  S.  441. 
445  f.,  dazu  0.  Gradenwitz,  Rescripte  auf  Papyrus  I,  Sav.-Z.  XXIII 
1902  R.  A.  S.  356-379.]    Faksimile  plate  VL 

IV.  s.  V/VI  Papyruskodex.  Schollen  beim  Text  eines  unbekannten 
Juristen.    Wessely  Taf.  X  Nr.  24. 

V.  s.  VI  Pergamentkodex.  Incerti  auctoris  de  iudiciis  fragmenta 
Derolinensia,  Text  Collectio  III  S.  298  f.  Faksimile  in  der  ed.princ.  bei 
Mommsen,  Monatsber.  d.  Berl.  Ak.  1879  zu  S.  503  I.  II.  Darnach  Probe 
bei  Wess.  Taf.  XIX  Nr.  43. 


£m  neuer  juristischer  Papyrus  der  Heidelberger  Universitätsbibliothek     155 

Leichter  und  liegend  ist  der  Charakter  der  zweiten  Gruppe,  mit 
der  die  englischen  Papyrologen  treffend  die  Schrift  des  Oxforder  Bod- 
lejanischen  Hieronymus ^^)  vergleichen.    Hierhin  gehören: 

VI.  s.  IV  Pergamentkodex.  Wiener  Fragment  de  formula  Fabiana. 
Text  Coli  III  S.  299—301.  Faksimile  in  der  ed,  princ.  von  L.  Pfaff 
und  F.  Hofmann  Taf.  I.  II  am  Schluss  von  Band  IV  der  Mitteilungen 
F.  Eainer  (1888)  zu  S.  1  ff.    Darnach  Wessely  Taf.  XIX  Nr.  43. 

VII.  s.  IV/V  Papyruskodex.  Unbekannter  Jurist.  Amh.  II  28 
mit  Faksimile  pl.  VI.  Den  Text  nebst  dem  von  Nr.  III  (Amh.  II  27) 
wiederholte  Mommsen,  Sav.-Z.  XXII  1901  R.  A.  S.  195  ff. 

VIII.  8.  V  Pergamentkodex.  Paulus  ad  edictum  Buch  32  (Dig. 
XVII  2,  65  §  16  und  67  §  1).  Grenf.  II  107  S.  156  f.  Nachträglich 
bestimmt  von  V.  Scialoja  und  P.  Krüger.  Vgl.  die  Litteraturangaben 
bei  Seymour  de  Bicci,  Revue  des  et.  gr.  XV  (1902)  S.  432.  Faksimile 
bei  P.  Krüger,  Sav.-Zeitschr.  XVIII  (1897)  R.A.  zu  S.  224. 

Wenn  man  nach  dem  zur  Zeit  vorliegenden  Materiale  schliessen 
darf,  überlässt  sich  also  auch  unter  der  Herrschaft  der  Unziale  die 
Schrift  der  Rechtsbücher  mit  am  ersten  ihrer  Hinneigung  zur  geläufigen 
Kursive.  Dass  daneben  die  strenge  Norm  nicht  unbefolgt  blieb,  davon 
zeugen  ausser  den  schon  angeführten  Beispielen  fast  alle  erhaltenen 
Exemplare  vorjustinianischer  Jurisprudenz,  obenan  Gaius,  Fragmenta 
Vaticana  und  Codex  Theodosianus. ®®)  Mit  verstärktem  Eifer 
drang  man  auf  Einhaltung  der  korrekten  Buchunziale  seit  der  definitiven 
Kodifikation  des  Justinian.  Als  Beweis  dienen  nicht  allein  die  Digesten 
aus  Florenz,  sondern  auch  ihre  beiden  Zeitpfenossen : 

IX.  s.  VI/ VII  Papyruskodex.  Digesten  in  Pommersfelden.  Re- 
vidierter Text  in  Mommsens  grosser  Digestenausgabe  I  Additam.  2 
S.  11*— 16*  mit  Nachträgen  praef.  S.  LXXXXIl  f.  Faksimile  Taf.  5—10 
hinten  in  Band  II  und 

X.  s.  VI/ VII  Papyruskodex.  Digesten  in  Heidelberg  s.  oben  A.  1. 
Aber  selbst  diese  Musterkodizes  sind  von  Lizenzen  nicht  ganz  frei. 

Was  das  Florentiner  Manuskript  betrifi't,  so  wurde  die  laxe  Hand  seines 
zwölften  Schreibers  bereits  erwähnt,  r  und  namentlich  s  zeigen  zumal 
am  Zeilenschluss  wie  z.  T.  im  Veroneser  Gaius  ®®)  so  auch  hier  beispiels- 
weise in  der  ersten®^)  und  fünften^*)  Hand  öfter  die  kursiven  Formen. 
Das  Gleiche  gilt  vom  Heidelberger  Papyrus,  ^*)  und  sogar  in  der  grossen 
schönen  ünziale  der  Pommersfeldener  Fragmente  fand  sich  einmal  (3 '. 
19)  jene  abweichende  Gestalt  des  s.^^) 


156  G'  A.  Gerhard  und  0.  Gradenwitz 

Es  wird  endlich  Zeit,  das  Bruchstück  selbst  zu  geben.  Auf  eine 
Seite  setze  ich  die  getreue  Kopie  des  Vorhandenen  in  Kapitale,  rechts 
gegenüber  den  Versuch  einer  geniessbareren  modernen  Umschrift  (S.  158  f.). 
Genauere  Nachweise  über  Lesung  und  Ergänzung  bieten  die  angefugten 
Noten.  Vorausbemerken  muss  ich,  dass  der  Anfang  der  Kolumne  unten 
noch  nahezu  komplett  vorliegt  und  für  das  Fehlende  an  ihrem  Schluss 
die  mit  Wahrscheinlichkeit  supplierten  Zeilen  5  f.  nepotfi  vel  /  prjonepoti 
und  6  f.  avfi  veljpjroavi  genügenden  Anhalt  schaffen.  Die  Zeile  belief 
sich  darnach  durchschnittlich  auf  ca.  22  Buchstaben.^) 


Z.  1—4.  Der  erste  Abschnitt  des  Textes  gilt  der  Qarantierung  der 
Pflichtteilsquart  für  den  Sohn.  So  klar  dieser  Gesamtsinn,  so  verwickelt 
ist  die  Interpretation  des  Einzelnen.  Einen  Einschnitt  bildet  das  Kolon, 
das  man  in  Z.  2  vor  si  minus  wahrzunehmen  meint.  Von  der  voraus- 
gegangenen positiven  Hauptentscheidung  bleiben  uns  in  der  Mitte  der 
Z.  1  und  dem  konjunktivisch  ausschauenden  Anfang  von  Z.  2  (niadeu 
—  set)  anscheinend  nur  Reste  eines  schliessenden  Nebensatzes.  Wie  der 
etwa  lauten  mochte,  kann  man  ungefähr  schon  aus  der  von  Gradenwitz 
(S.  182)  zitierten  Digestenstelle  V  2.  8  §  6  (Ulpian)  schliessen :  Si  quis 
mortis  causa  filio  donaverit  quartam  partem  eins  quod  ad  eum  esset 
perventurum,  si  intestatus pater  familias  decessisset,  puto  secure  eum 
testari.  Indem  ich  m  vor  ad  eu[m]  mit  Berufung  auf  Dig.  XII  6.  61 
(Scaevola)  Tutores  pupilli  quibusdam  creditoribus  patris  ex  patri- 
monio  paterno  solverunt  als  [patrimo- 1  nii  paterjni  deute,  wobei 
dann  allerdings  der  erwünschte  Gedanke  der  Intestatportion  ^^)  nicht 
mehr  gut  unterzubringen  ist,  und  mich  fürs  Übrige  an  Parallelen  wie 
Dig.  XXXVI  1.  33  (Celsus)  Rebellianus  si  caverit  coloniae  PhiUppensium, 
si  sirie  liberis  morietur,  quantacumque  pecunia  ex  hereditate  deve 
bonis  meis  ad  eum  pervenit,  eam  pecuniam  omnem  ad  coloniam  Philippen- 
sium  perventuram  erinnere,  schreibe  ich  unsere  Partie  ohne  Anspruch 
auf  Sicherheit  probeweise  so:  [filius  accipiet  quartam,  j  quantacumque 
pars  patrimo'lnii  paterjni  ad  eufm  perventu'\ra  fuisjset.  —  Z.  2 — 4. 
'Hat  er  weniger  als  die  gesetzliche  Quart  bekommen',  so  wird  vervoll- 
ständigend beigefugt,  'dann  ist  sie  ihm  aufzufüllen*.  Die  Herstellung 
der  Prodosis  wäre  leidlich  zuverlässig.  Den  Anfang  si  minus  quafrla] 
belegen  die  Worte  des  Paulus,  welche  Gradenwitz  (S.  181)  beibringt: 
Sent.  IV  5.  7  Filius  iudicio  patris  si  minus  quarta  portione  const- 
cutus  sitj  ut  quarta  sibi  a  coheredibus  citra  inofficiosi  querellam  impleatur, 


Ein  neuer  juristischer  Papyrus  der  Heidelberger  Universitätsbibliothek     157 

iure  desideraf.  Die  Gruppe  ssit  *^)  (Z.  3)  vermag  ich  nur  als  [cejssit 
'zuteil  wurde'  zu  verstehen.  Schwierigkeit  macht  der  Nachsatz  von 
supplend . .  .  (Z.  3)  bis  quartam  (Z.  4).  Wie  es  eben  bei  Paulus  hiess 
quarta  impletur,  so  entsprechend  gewöhnlich  qtiarta  suppletur  vgl.  z.  B. 
Dig.  XXXVIII  2.  44  §  1  legato  ei  servo^  per  quem  suppleretur  debita 
ei  portio,  Dig.  XXXVIl  14.  21  %  l  id  quod  deest  ad  supplendam 
debitam  portionem  .  .  .  quaeri  potest,  Dig.  XXXV  2.  94  respandit  .  .  . 
(filiam)  ea  quae  ei  data  sunt  accepturam,  si  modo  ea  quartam  suppleant 
etc.  Die  analoge  Auffassung  unserer  Papyrusverse  erweist  sich,  da  wir 
keinesfalls  eine  oblique  Bede  haben,  durch  den  sichern  Akkusativ  quartam 
in  Z.  4  als  ausgeschlossen.  Er  nötigt  vielmehr  zu  der,  soweit  ich  sehe, 
sonst  nicht  nachweisbaren  Verbindung :  supplere  in  quartam^  So  dachte 
Prof.  Gradenwitz  früher  an  supplend[a]  sun[t  /  in]  quartam.  Aber  weder 
dies  noch  sein  zweiter  Vorschlag  supplendfo]  succ[edit  /  in]  quartam  will 
zu  den  überlieferten  Spuren  passen.  Die  letzten  Buchstaben  in  Z.  3 
scheinen  vid  zu  sein,  wodurch  man  auf  die  merkwürdige  VITendung  ge- 
führt würde:  supplend[u]s  vid[eturlin]  quartam.  Von  dem  u  zwischen 
d  und  8  im  ersten  Wort  sollte  man  trotz  des  hier  klaffenden  Loches 
Beste  zu  finden  erwarten. 

Z.  4—9.  Die  äusserlich  ohne  Interpunktion  folgende  zweite  Hälfte 
des  Bruchstücks  enthält  die  Bestimmung,  ins  Becht  auf  die  Quart  rücke 
statt   des   nicht   mehr  lebenden  Sohnes  Enkel  oder  Urenkel  ein.    Zu 
diesem,  wie  die  Ausführungen  von  Prof.  Gradenwitz  lehren,  keineswegs 
selbstverständlichen  und  bedeutungslosen  Satz  sähe  man  demgemäss  auch 
gern  einen  logisch  scharf  absetzenden  Übergang,  vielleicht  ein  si  vero  ^^) 
oder  ein  quod  si.^^)    Die  Anknüpfung  geschieht  aber  einfach  mit  sive: 
^oder  wenn  der  Sohn  tot  ist  etc.'^^)    Zum  Überblick  über  den  ganzen 
Passus  müssen  wir  vor  allem  das  Gerüst  seines  Baues  festlegen.    Ich 
finde  bloss  eine  Möglichkeit.    Nach  der  voraufgeschickten  konditionalen 
Angabe  (sive  Z.  4  f.)  kommt  der  Hauptsatz  mit  cedä  (Z.  5),  ^wird  zu- 
teil, fällt  zu*  (vgl.  Z.  3)  als  verbum  finitum  und  quarta  (Z.  7)  als  nach- 
gestelltem Subjekt.   Appositionen  schliesst  sich  daran  danda  (Z.  7),  um 
mit  seinem  Adverbialausdruck  pro  portione  (Z.  8)  und  dessen  relativem 
Anhängsel  quam  —•  tenet  (Z.  8  f.)  die  Übertragung  der  Quart  auf  die 
Nachkommen  genauer  zu  regulieren.    Nun  zum  Einzelnen.    Genug  zu 
denken  giebt  uns  gleich  der  einleitende  Bedingungssatz  von  sive  (Z.  4) 
bis  filios  (Z.  5),   dessen  Inhalt  sein  muss :    'wenn  der  Sohn  nicht  mehr 
lebt*.  Wie  hatte  das  der  Jurist  ausgedrückt?  Das  nach  dem  Früheren 
durch  seine  Mehrzahl  befremdende  Akkusativobjekt  filios  (Z.  5)  gestattet 

NRUE  HRIDRLB.  JAIIRBITRCHRR  XII.  ly 


158  0.  A.  Gerhard  und  0.  Gradenwitz 


P.  Heid.  1000. 


1  NIADEü 

2  SETSIMINUSQUA 

3  SSITSUPPLENDIISUID 

4  QIJARTAMSIVEQQA 

5  TFILIOSCEDBTNCIPOT 

•  •  •    — —  — — 

6  ONEPOTr-EXBONISAlT 

7  ROAUIQUARTADANDA 

8  1PR0P0ETC30NEQUAMA 

9  SüCCESSIOPT[]NETISLIB 


Ein  neuer  juristischer  Papyrus  der  Heidelberger  üniversitfttsbibliothek     159 


P.  Heid.  1000. 


1 


8 


.]ni  ad  eu[m  perventu-] 


ra  fuisjset.     Si  minus  qua[rta] 
ei  ce]ssit,  supplend[u]s  vid[etur?] 
in  ?]quartam.     Sive  q(uis?)  a[mise-] 
ri]t  filios,  cedel  n[e]pot[i  vel] 
pr]onepoti  ex  bonis  av[i  vel] 
p]roavi  quarta,  danda  [ 
i  pro  port[i]one,  quam  a[vita?] 


9       successio  p(atris?)  l[e]net.     Is  lib[ 


160  ^-  A-  Gerhard  and  0.  Graden witjs 

einen  Bückscbluss  aufs  Zeitwort,   von  dem  wir  heute  bloss  noch  spär- 
liche Überbleibsel  des  t  der  Endung  erblicken  (vor  filios).  Es  verbieten 
sich  dadurch  naheliegende  Konjekturen  wie  si . . .  [decessijt  filius  (Qr.). 
Man  braucht  ein  Transitivum.  Unter  Berücksichtigung  der  Buchstaben- 
spur zu  hinterst  in  Z.  4,  die  zu  n  oder  r,  aber  auch  zu  a  stimmt,  ver- 
mute ich  sive  a[mise-lri]t  filios.    Vergleichen  lässt  sich  z.  B.  Dig.  V 
1.  36  pr.  humanuni  est  propter  fortuitos  casus  dilationem  accipi,  veluti 
quod  pater  litigcUor  filiumvd  filiam  vel  uxor  virutn  vel  filius  parentem 
amiserit  eqs.  Nun  fehlt  noch  das  Subjekt.   Es  steckt  in  jenen  beiden 
vom  Abkürzungspunkt  gefolgten  kursiven  q  (Z.  4),   deren  letztes  schief 
nach  oben  durchstrichen  ist.   Diese  Proben  einer  altverschollenen  Siglen- 
art  erregen  unser  Interesse  und  fordern  auf  zur  Eonfrontierung  mit  den 
späteren,   bisher  einzig  bekannten  Systemen  der  Unziale.    W.  Stude- 
mund^^)  machte  einst  die  feine  Bemerkung,   manche  Abbreviaturen 
der  vorjustinianischen  Rechtsbücher  schienen   bloss  auf  die  ünziale  be- 
rechnet und  ihr  geradezu  auf  den  Leib  geschnitten.  Zum  Beweis  nannte 
er  die  Durchkreuzung  der  vertikal  unter  die  Linie  reichenden  Endschäfte, 
wie  sie  bei  p  und  q  den  unzialen  Formen  und  nur  diesen  eignen.   Wir 
können  jetzt  thatsächlich  Zeichen  einer  früheren  z.  T.  kursiven  Schrift- 
stufe auf  solche  Kriterien  hin  prüfen.    Die  uns  da  gebotenen  Buchstaben 
sind  zufällig  auch  wieder  gerade  p  (Z.  9)  und  q.    Dass  die  altertüm- 
lichere Kürzungsweise  selbst  beim  Gebrauch   der  gleichen  Mittel   wie 
des  Punkts  hinten  oder  des  Strichs  oben   öfters  doch  nach  andern  me- 
thodischen Grundsätzen  als  die  nachmalige  Übung  verfahren  sein  muss, 
ist  unten   zu  zeigen.    In  einem  Falle  aber  glaubt  man  überdies  ent- 
sprechend dem  verschiedenen  Charakter  auch  eine  verschiedene  graphische 
Notierung  verwendet  zu  sehen.    Während  beim  unzialen  q  der  abbre- 
viierende  Strich  die  abwärts  ragende  hasta  trifft  (s.  o.),  durchschneidet 
er  von   der  zweiten  kapital-kursiven  Vertretung  unseres  Papyrus  den 
Rumpf,  eine  Erscheinung,  die  für  ähnlich  gebaute  Buchstaben  (vgl.  z.  B. 
bdilnrst  in  Studemunds  Gaius  S.  258  ff.)  auch  in  der  Unziale 
die  Kegel  bildet.    Freilich  tritt  einer  derartigen  Auffassung  des  zweiten 
g  in  Z.  4  ein  schweres  Bedenken  entgegen.    Bei  der  Deutung  der  zwei 
das  Subjekt  des  Satzes  repräsentierenden  und  notwendig  als  Pronominal- 
formen aufzulösenden  q  kommt,  da  ein  quisquam  gegen  die  Syntax  ver- 
stiesse,    wirklich   bloss  quis  in  Frage:    sive  quis  amiserit  filios.    Wir 
hätten  demnach  das  doppelte  q  als  Dittographie  des  Schreibers  und  die 
Auszeichnung   des  zweiten  als   Durchstreichung  d.  h.  Tilgung  zu  be- 
trachten.   Das  erste  q  wäre  also  =  quis.    Das  stimmt  nun  allerdings 


Ein  neuer  jaristischer  Papyrus  der  Heidelberger  Universitätsbibliothek     161 

schlecht  zu  den  bekannten  natae.  Sie  geben  quisy  wo  sie  es  überhaupt 
abkürzen  (der  Veroneser  Gaius  z.  B.  vermeidet's),  gar  nicht  durch  den 
einfachen  Anfangsbuchstaben,  sondern  entweder  als  q^s*^^^)  oder  als 
qs  ^^^).  Nur  einmal  ^^^)  finde  ich  in  diesem  Sinn  blosses  q  mit  senk- 
rechtem Strichlein  über  sich:  q,  das  gewöhnliche  Zeichen  für  qui.^^) 
Das  in  unserem  Papyrus  für  quis  zu  nehmende  q  mit  folgendem  Punkt 
ist  sonst  regelmässig  =  que  ^^)  (vgl.  bes.  Gaius  S.  290).  Kommt  noch 
ein  Strich  darüber  hinzu  q. ,  so  entsteht  quae  '^*)  (Gaius  S.  290).  Unter- 
strichenes q  endlich,  um  die  Liste  voll  zu  machen,  fungiert  von  Aus- 
nahmen abgesehen  als  quam  '^^)  (Gaius  S.  291)  und,  wenn  der  Strich 
gehakt  ist,  als  quod  (Gaius  S.  294).  —  Z.  5.  Für  die  Gruppe  nach 
filiosj  wo  an  erster  Stelle  nur  noch  ein  Punkt  vom  Kopfe  übrig  ist, 
ziehe  ich  der  an  sich  möglichen,  aber  zum  Beginn  des  Nachsatzes  un* 
brauchbaren  konjunktionalen  Erklärung  [sjed  et  das  erforderte  Verb 
cedet  vor.  Die  von  ihm  regierten,  der  Fortsetzung  (Z.  6  f.)  ex  bonis 
avfi  veljpjroavi  quarfa  gegenüber  scheinbar  durch  eine  unbegreifliche 
Interpunktion  abgegrenzten  Dative  n[e]pot[i  vel  j prjanepoti  (Z.5f.)  zeigen 
anders  als  vorhin  filios  (Z.  5)  wieder  den  Singular.  In  nepoti  (Z.  5)  ist 
das  e  kaum  mehr  sichtbar,  vom  r  in  [pjroavi  (Z.  7)  nur  noch  das  aller- 
änsserste  Ende.  Eine  ungewöhnliche  Gestalt  (verdickte  Wendung  nach 
rechts)  hat  der  vorhandene  Gipfel  des  t.  Quarta  danda  (Z.  7)  verstehe 
ich,  wie  bereits  bemerkt,  nicht  als  quarta  danda  est,  sondern  nehme 
die  beiden  Wörter  getrennt.  —  Ungewiss  ist  dann  wieder  wie  das  ganze 
Verständnis  so  die  Einzelrestitution  der  Bestimmungen  zu  danda.  Dessen 
verlorenes  Objekt  zunächst  wird  am  Schluss  von  Z.  7  und  am  Anfang 
von  Z.  8  zu  suchen  sein,  wo  eine  erhaltene  Spur  vielleicht  auf  i  weist. 
Statt  ri  entspräche  eis  besser  der  freilich  auch  ihrerseits  rätselhaften 
Verbindung  pro  portione  (Z.  8).  Am  liebsten  dächte  man  ja  bei  diesem 
'Verhältnis'  an  eine  Mehrheit  der  Enkel  oder  Urenkel,  auf  deren  Köpfe 
sich  jene  dem  Vater  oder  Grossvater  aus  dem  Nachlass  des  Grossvaters 
oder  Urgrossvaters  gebührende  Quart  verteilt  —  nach  Art  von  Stellen 
wie  Dig.  XXXVI  1.  80  §  1  fidei  .  .  heredum  meorum  committOj  tUi 
omnis  substantia  mea  sit  pro  deposito  sine  usuris  apud  Gaium  Seium 
et  Lucium  Titium^  quos  etiam^  si  licuissetj  curatores  substantiae  meae 
dedissem  remotis  aliis,  ut  hi  restituant  nepotibm  meis,  prout  quis  eorutn 
ad  annos  viginti  quinque  pervenerit,  pro  portione,  vel  si  unus,  ei 
omnem.  Doch  damit  verträgt  sich  weder  die  vorherige  Einzahl  des 
nepos  und  pronepos  noch  auch  der  angeschlossene  Relativsatz  zu  pro 
portione.    Die  paar  einigermassen  sicheren  Stücke  in  seinen  Trümmern 


162  0'  A.  Gerhard  und  0.  GradenwiU 

legen  es  vielmehr  nahe,  unter  der  portio  quam  .  .  /  successio  .  .  tenet 
(Z.  8  f.),  dem  Anteil,  den  das  (für  die  Übertragung  auf  die  Deszendenten 
in  Betracht  kommende)  Erbe  (sc.  von  der  gesamten  Hinterlassenschaft 
des  Testators?)  ausmacht,  die  Quart  selber  zu  verstehen,  so  einfältig 
hier  auch  eine  derartige  Selbstverständlichkeit  klingt.  Das  durch  den 
kleinen  Horizontalstrich  überm  Kopf  und  den  folgenden  Punkt  trotz 
seiner  minder  guten  Erhaltung  genügend  als  Abkürzung  gekennzeichnete 
p.  (Z.  9)  nach  successio  mit  t[*]net  zu  p(er)t[i]net  zusammenzunehmen 
und  an  die  zudem  nicht  ganz  klare  Stelle  Dig.  Y  4.  6  pr.  (Ulpian) 
Sorori  quam  coheredem  fratribus  quattuor  in  bonis  patris  esse  plaeuit, 
quinta  portio  pro  portionibus  (portione?  Mommsen)  quae  ad  eos 
pertinuit  cedetf  ita  ut  singuli  in  quarta,  quam  antehac  habere  credebantur, 
non  amplius  ei  quintam  conferant  zu  erinnern,  müsste  uns  schon  das 
dabei  unerklärliche  quam  abhalten.  Wie  lösen  wir  aber  die  Abbreviatur 
auf?  Keinesfalls  wohl  als  Präposition,  wofür  auch  der  Punkt  ungewöhn- 
lich wäre.  In  dem  uns  geläufigen  System  bedeutet  p  mit  Oberstrich 
prae  (Gaius  S.  285),  per  wird  durch  den  Unterstrich  bezeichnet  (S.  284). 
Die  Umschau  nach  einer  anderweitigen  Auskunft  führt  leicht  auf  successio 
p(atris).  Nicht  unbedenklich  wäre  freilich  auch  daran  der  casus  obliquus 
und  das  Einzelstehen.  Sonst  kennt  man  höchstens  Gruppen  wie  pf 
=  p(ater)  f(amilias)  (vgl.  z.  B.  Gaius  S.  283).  Diesem  p(atris)  ent- 
sprechend fiel  mir  dann  auch  für  den  Best  eines  a  am  Ende  der  Zeile  8 
die  Ergänzung  afvitaj  ein.  Den  Ausdruck  avita  successio  liest  man 
z.  B.  C.  XI  59.  7  pr.  Quicumque  defectum  fundum  patrimonialetn  exer- 
cuerit  fertilem  . . ,  .  .  defendat  velut  domesticum  et  avita  successione 
quaesitum  eqs.  Strenggenommen  hätte  man  allerdings  avita  vel  proavUa 
successio  zu  erwarten,  wie  Prof.  Gradenwitz  mit  Recht  bemerkt.  Ich 
verweise  dafür  auf  C.  VI  52.  1  Per  hanc  iubemus  sanctionem  .  .  filios 
etc.  ...  in  liberos  suos  .  .  .  hereditariam  portionetn  posse  transmiitere 
.  .  . :  si  quidem  perindignum  est  fortuitas  ob  causas  vel  casus  hutnanos 
nepotes  aut  neptes^  pronepotes  aut  proneptes  avita  vel  proavita  suc- 
cessione fraudari  etc.  Analog  sollte  es  ja  dann  auch  avita  vel  proavita 
successio  patris  vel  avi  heissen.  —  Über  den  weiteren  Verlauf  des  Textes 
nach  dem  Kolon  in  Z.  9  lässt  sich  natürlich  gar  nichts  ausmachen,  nicht 
einmal  über  die  Vervollständigung  der  nach  meiner  Lesung  vorhandenen 
Buchstaben  i$  Hbf-  -J.    Is  lib[eroru7n?/  G.,  is  leg[atorum'^J  Gr. 


£in  neuer  juristischer  Papyrus  der  Heidelberger  Universitätsbibliothek     163 


Anmerkungen. 


1)  0.  Gradenwiiz,  Glossirte  Paulusreste  im  Zuge  der  Digesten,  Savigny-Zeit- 
Schrift  XXIII  (1902)  R.  A.  S.  458  f.  Die  gleichnamige  Hauptpublikation  mit  Faksi- 
mile  von  G.  A.  Gerhard  u.  0.  Gradenwitz,  Philo!.  LXII  (N.  F.  XVI)  1903  S.  95—124. 

2)  P.  Amh.  II  27  (s.  V/VI)  mit  pl.  VI  vgl.  oben  S.  154.  Weil  da  der  Text 
vertikal  zu  den  Rektofasern  einkolumnig  transversa  Charta  verlief,  so  haben  wir 
nicht  ein  Beispiel  der  litterarischen,  sondern  vielmehr  der  noch  im  Mittelalter  be- 
folgten urkundlichen  Rollenpraxis.  Vgl.  K.  Dziatzko,  Unters,  über  ausgew.  Kap.  des 
antiken  Buchw.  (1900)  S.  124  f.,  W.  Wattenbach,  Das  Schriftwesen  im  Mittelalter 
5 1896  S.  162  f.,  F.  G.  Kenyon,  Palaeogr.  etc.  1899  S.  20  f. 

3)  Einer  Rolle  (am  linken  Rand  meint  man  auch  noch  Spuren  einer  voraus- 
gegangenen Schriftkolumne  zu  gewahren)  entstammt  augenscheinlich  das  singulare 
Stack  in  Buchkursive  P.  Fay.  X  S.  99  f.  mit  Faksimile  auf  pl.  V  s.  oben  S.  153, 
welches  0.  Piasberg,  Wochenschr.  f.  kl.  Ph.  18  (1901)  Sp.  141  f.  und  G.  Ferrini, 
Rendir.  d.  R.  1.  Lombarde  34  (1901)  S.  1087  f.  nach  dem  ülpianschen  (1.  45  ad  edic- 
tum)  Zitat  in  den  Digesten  (XXIX  1.  1  pr.)  als  ein  Mandatum  des  Kaisers  Trajan 
bestimmt  haben.  Zur  Rollenform  passt  hier  das  Alter.  Das  Verso  zeigt  griechische 
Kursive  etwa  aus  der  Mitte  des  dritten  Jahrhunderts.  Höchstens  bis  in  dessen 
erste  Hälfte,  die  Zeit  Ulpians,  darf  man  also  mit  der  Vorderseite  gehen. 

4)  Ausdrücklich  vertritt  diese  Ansicht  Dziatzko,  R(eal)-E(nzyklop&die)  iL  d. 
W.  Buch  111  (1897)  Sp.  948  u.  Unters.  S.  130  f.  Minder  bestimmt  Mommsen,  Sav.- 
Zeitschrift  X  (1889)  S.  349,  Kenyon,  Palaeogr.  of  greek  Papyri  (1899)  S.  24.  112  f. 
und  Facs.  of  bibl.  mss.  in  the  Brit.  Mus.  (Lond.  1900),  Text  zu  Taf.  I.  Der  eng- 
lische Gelehrte  setzt  das  erste  Aufkommen  des  Buchkodex  ins  zweite  Jahrhundert, 
also  mindestens  ein  Säkulum  zu  spät. 

5)  Ihre  erste  richtige  Erklärung  und  Verwertung  für  die  Geschichte  des  Ko- 
dex verdankt  man  H.  Gcraud's  noch  immer  nicht  veraltetem  Essai  sur  les  livres 
d€ins  Vantiquite,  particulierement  chez  les  Boniains  (Paris  1840)  S.  132  f.  134. 
Vgl.  auch  Dizatzko,  R.  £.  11 1  Sp.  948,  Unters.  S.  133  ff. 

6)  Tb.  Birt's  (Das  antike  Buchwesen  etc.  1882  S.  70  ff.)  paradoxe  Behauptung, 
Pergament  sei  billiger  gewesen  als  Papyrus,  halte  ich  für  überwunden.  Vgl. 
bes.  E.  Rohde,  Gott.  gel.  Anz.  1882  S.  1550,  H.  Landwehr,  Phil.  Anzeiger  XIV 
(1884)  S.  367  f.,  P.  Krüger,  Sav.-Zeitschr.  VIU  (1887)  R.  A.  S.  76  A.  2  (mit  Be- 
rufung auf  Friedläoder),  Tb.  Zahn,  Gesch.  d.  neutestam.  Kanons  I  (1888)  S.  71  f. 
m.  Ä.  2  (Verweis  auf  Beckers  Gallus),  W.  Wattenbach,  Schriftw. »  S.  100  m.  A.  1 
(nach  L.  Fr.,  Lit.  Centralbl.  1882  Sp.  1113  f.),  K.  Dziatzko,  R.  E.  HI  Sp.  944  und 
Unters.  S.  70  f.  130  f.,  R.  Wünsch,  R.  E.  III  (1899)  s.  v.  Charta  Sp.  2191  f.  — 
Auf  der  Seite  von  Birt  [vgl.  qentralbl.  f.)  B(ibliotheksw.)  17  (1900)  S.  561  f.] 
stehen  F.  Blass,  Iw.  Müllers  Handbuch  I  >  (1892)  S.  337,  C.  Haeberlin,  C.  B.  14 
(1897)  S.  6,  F.  G.  Kenyon,  Palaeogr.  (1899)  S.  113. 

7)  Mit  Recht  verlangt  Birt  S.  85  auch  hier  diesen  Ausdruck  (vgl.  Dziatzko, 
Unters.  S.  185)  statt  der  unbrauchbaren  Vulgatlesart  in  pugiüaribus  membranis, 

8)  Über  die  'einzelnen'  membranaet  litterarisch  wie  nichtlitterarisch,  s.  S.  129  ff. 
135  ff.  Ob  sie  irgendwie  äusserlich  zusammenhängend  zu  denken  sind,  wird  fast 
immer  unklar  gelassen.  Noch  viel  verhängnisvoller  wirkt  Dziatzkos  falsche  Definition 
von  Charta  {j^dpvfjQ)^  die  man  bisher  merkwürdigerweise  allgemein  ruhig  hinnahm. 
Als  scheinbar  positivstes  Resultat  des  dritten  Abschnitts  BußkoQ.  IldnupoQ.  XdprTjg 


164  0.  A.  Gerhard  und  0.  Gradeowitz 

tritt  in  Kapitel  V  *Bachrolle  und  Chartablatt  Das  Aufkommen  dee  Pergamentkodex' 
die  aus  ein  paar  missverstandenen  Zeugnissen,  besonders  einem  solchen  des  Galen 
(s.  A.  38)  abgeleitete  und  ihrerseits  einer  Reihe  von  Stellen  (deren  Behandlung  ich 
mir  vorbehalte)  das  Verständnis  verschliessende  Lehre  auf,  ^dpzrjQ  {charta)  sei 
zum  Unterschied  von  ßußkoQy  der  fertigen,  beschriebenen  oder  unbeschriebenen 
Papyrusrolle  nur  das  einzelne  Papyrusblatt  oder  -doppelblatt  und  habe  neben  jener 
bereits  erwähnten  litterarischen  Funktion  fQr  die  fliegende  Blättersammlung  schon 
frah  vorwiegend  Zweck  und  Bedeutung  der  Urkunde.  Um  mit  der  letzten  Annahme 
zu  beginnen,  so  bietet  sich,  soweit  ich  sehe,  ein  wirklicher  Anhalt  fOr  sie  erst  seit 
der  Zeit  Justinians  (vgl.  z.  B.  Nov.  44.  2).  Noch  weniger  hält  die  fflrs  Verhältnis 
von  •j[dpTq(;  und  ßoßkoq  im  Buchwesen  statuierte  Regel  Stich.  Um  das  Einzelblatt 
nach  seiner  technischen  Seite  statt  nach  dem  Inhalt  zu  bezeichnen,  brauchte  man 
Namen  wie  plagula  (vgl.  Plin.  n.  h.  XIII  77,  Birt  S.  232,  Dziatzko  selbst  S.  87  f.) 
oder  scheda  (vgl.  Birt  S.  229  A.  2).  Das  Wort  ydpvrfi  oder  Ovaria  zeigt,  wo  es 
nicht  ganz  allgemein  dem  Papyrus  als  Schreibmaterial  gilt,  seit  alters  durchweg  den 
von  Dziatzko  erst  den  'späten  Römern*  (S.  44  f.)  zugeschriebenen  Sinn  der  Papyrus- 
rolle, fQr  den  einem  Belege  auf  Schritt  und  Tritt  begegnen.  Es  ist  ein  höchst  dan- 
kenswertes, leider  noch  wenig  gewürdigtes  Ergebnis  von  Dziatzko  (Unters.  Kap.  III), 
dass  nach  der  bloss  etwas  zu  scharf  gefassteo,  in  ihrer  prinzipiellen  Richtigkeit 
aber  durch  die  Geschichte  des  Terminus  japvr^Q  vollkommen  bestätigten  Angabe 
Varros  (Plin.  n.  h.  XIII  69)  das  berahmte  Fabrikat  aus  dem  Mark  des  ägyptischen 
Papyrus,  von  vereinzelten  früheren  Ausnahmen  abgesehen,  thatsächlich  erst  seit  dem 
vierten  Jahrhundert  bei  den  Griechen  eindrang.  So  behielt  denn  der  junge  Ausdruck 
noch  lange  ungeschwächt  seine  frische  konkrete  Beziehung  auf  jenen  importierten 
Stoff.  XdpTTjQ  (Charta)  war  und  blieb  die  Rolle  aas  Papyrus  und  im  Zweifelsfalle 
bei  pedantischer  Scheidung  eveotuell  die  leere  (vgl.  Ulpian,  Dig.  XXXII  52  §  4). 
Wie  steht's  aber  nun  mit  der  ßoßXoQ,  deren  Sphäre  Dziatzko  natürlich  ebenfalls  un- 
richtig umgrenzt  hat?  Der  Gedanke  an  ihr  wahrscheinlich  wie  beim  liber  ursprüng- 
lich aus  Baumbast  gebildetes  Material  verschwand  völlig,  seit  dieses  selber  durch 
die  neue  Charta  verdrängt  war.  Was  an  ßußXog  noch  weiterhin  bis  ins  erste  Jahr- 
hundert unserer  Zeitrechnung  von  Äusserlichem  haftete,  beschränkte  sich  auf  den 
Rollenbegriff.  BfjßXoQ  hiess  generaliter  die  Buchrolle,  mit  charta^  der  Papymsrolle 
(ähnlich  wie  liher)  nur  insofern  identisch,  als  diese  eben  immer  das  Hauptkontingent 
zu  ihr  stellte,  keineswegs  aber  notwendig  daran  geh  mden,  sondern  mit  gleichem 
Recht  auf  andere  Stoffe,  pflanzliche  oder  tierische  wie  Leder  und  Pergament 
(diifOipat)  anwendbar.  Je  mehr  so  das  Wort  vom  stofflichen  Moment  abstrahierte, 
desto  nachdrücklicher  betonte  es  andererseits  den  Inhalt.  Das  fertige  Beschrieben- 
sein ist  beim  liber  im  Gegensatz  zur  Charta  unerlässliche  Bedingung  (vgl.  Ulpian 
a.  a.  0.  §  4  f.).  BißXoQ  (liber) ,  ßtß?Jov  nennt  sich  das  litterarische  'Buch'.  Un- 
willkürlich stellte  man  sich  darunter  eine  Rolle  vor,  solange  die  alleinherrsdite. 
Aber  die  ausschlaggebende  Idee  des  Schriftwerks  war  in  dem  Namen  stark  genug, 
um  schliesslich  auch  noch  die  Rücksicht  auf  die  spezielle  Buchform  fallen  zu  lassen. 
Er  gewährt  dem  neben  der  Rolle  später  aufkommenden  Kodex  (s.  d.  Text)  von  An- 
fang an  willig  Aufnahme  in  seinen  Bereich  und  geht  der  thatsächlichen  Entwick- 
lung entsprechend  am  Ende  ganz  auf  ihn  über  (s.  u.  A.  15).  Xdp'OjQ  hingegen  hat 
nicht  allein  seine  Materialbedeutung  bis  tief  in  die  byzantinische  Epoche  bewahrt, 
sondern  auch  die  Verknüpfung  mit  der  Rollenform.  Vgl.  Gloss.  Labb.  (1606)  S.  116 
V<yref>v   ort    to    pkv    h    o^rfipoLZi    zerpdäo^    if   olaadijTzoTe    at/ifztffifxeuou 


Ein  neuer  juristischer  Papyrus  der  Heidelberger  Universitätsbibliothek     165 

xai  de^^ofjtevoy  tt^v  diaOi^xTiu  zdßooXXa  Xij'eTac,  rä  8k  i^eiXyjnaza 
ydp-coij  adro  rouzo  )fäpT7j  xaXeiTat  xrL  —  S.  108  l'exo6u3oü/jL  xudpTag'  ij 
ix  j^aprwvj  ^youu  t^q  iv  elXrjzapiw  diaOrjxrjQ  diaxazopj. 

9)  Quint.  I.  0.  X  3.  81  f.  lila  quoque  minora  (sed  nihü  in  studiis  parvum 
est)  non  sunt  transeunda:  scribi  optime  eeris,  in  quibus  facülima  est  ratio  de- 
lendi,  nisi  forte  visus  infirmior  membranarum  potius  usum  exiget,  quae  ut 
iuoant  aciem,  ita  crebra  relatume,  quoad  intinguntur  calami,  morantur  manum 
et  cogitationis  impetum  frangunt.  relinquendae  autem  in  utrolibet  genere  contra 
erunt  taeuae  tabeüae,  in  quibus  libera  adiciendo  sit  excuraio. 

10)  Die  Stellen  findet  man  bei  Dziatzko,  Unters.  S.  131  f.  Auch  Ciceros  (ad 
Alt.  XIII  24)  bekannte  di<pOipat  gehören  vermutlich  hierher. 


Paul.  sent.  III  6  §  87 
Libris  legatis  tarn  Char- 
tas Volumina  vtl  membra- 
nae  et  philyrae  continetitur: 

Codices  quoque  de- 
bentur:  librorum  enim  ap- 
pdlatione  non  volumina 
chartarum,  sed  scripturae 
modus  qui  certo  fine  con- 
cluditur  aestimatur. 


II)  Ulpian  Dig.  XXXII  52  §  1  Librorum 
appeüatione  continentur  omnia  volumina  sive  in 
Charta  sive  in  membrana  eint  sive  in  quavie  alia 
materia:  sed  et  si  in  phüyra  aut  in  tüia  (ut  non- 
nuUi  conficiunt)  aut  in  qiw  alio  corio,  idem  erit  di- 
cendum,  quod  si  in  codicibus  sint  membraneis 
vel  chartaceis  vd  eliam  thoreis  vd  aUerius  materiae 
vd  in  ceratis  codicülis,  an  debeantur,  videamus.  et 
Oaius  Cassius  seribit  deberi  et  membranas  libris 
legatis:  consequenter  igitur  cetera  quoque  debebuntur, 
si  non  adversetur  voiuntas  testatoris. 

Übereinstimmend  lauten  also  die  Konsequenzen,  welche  die  zwei  grossen  zeit- 
genössischen Juristen  aus  dem  fQrs  Buchwesen  schon  lange  üblichen  Sprachgebrauche 
ziehen.  Dass  ein  Legat  von  *BQchern'  (Itbri)  auf  jeden  Fall  s&mtliche  Rollen,  gleich- 
giltig  aus  welchem  Stoffe,  umfassen  muäs,  ist  ihnen  von  vornherein  klar.  Aber  auch 
auf  die  Kodizes  dehnen  sie  den  Titel  aus,  jeder  in  seiner  Weise.  Ulpian  verfährt 
praktisch  und  beruhigt  sich  bei  der  Autorität  eines  frdhen  Growährsmanns.  Paulus 
möchte  seinen  Ausspruch  theoretisch  formulieren  und  durch  eine  logisch  überzeugende 
Definition  erhärten.  So  erklärt  er  denn  liber  als  äusserlich  ein  geschlossenes  Ganzes 
bildenden  Schriftkomplex,  der  nicht  abhänge  von  den  seiner  gewöhnlichsten  Gestalt, 
der  Rolle  aus  Papyrus  eigenen  Besonderheiten  des  Materials  und  der  Form.  Wir 
könnten  uns  keine  schönere  Bestimmung  des  Begriffes  'Buch'  denken  (s.  A.  8).  Wie 
gross  ein  solches  in  einem  Band  enthaltenes  *Buch'  sei,  ob  und  wieviele  bekanntlich 
ja  ebenfalls  libri  oder  ^Bücher'  genannte  Unterabteilungen  es  zähle,  das  bildet  eine 
Frage  für  sich,  die  in  unserm  Zusammenhang  nicht  nur  ganz  unwesentlich,  sondern 
geradezu  unpassend  erscheint.  Jenes  Urteil  gilt  so  gut  von  einer  Rolle  oder  einem 
Kodex  mit  einem  einzigen  Gesang  aus  Homer  (vgl.  Ulpian  a.  a.  0.  §  2)  als  von 
einer  Rolle  oder  einem  Kodex  mit  allen  48  Büchern  beider  Epen,  wie  ihn  Ulpian 
(§1)  ausdrücklich  als  einen  liber  rechnet.  Man  wundert  sich,  wie  Birt  (Buchw. 
S.  100)  und  mit  ihm  Krüger  (Sav.-Zeitschr.  VIII  (1887)  S.  81  m.  A.  4  f.)  gegen  die 
letztere  Aufstellung  Ulpians  aus  des  Paulus  eben  erläuterten  einfachen  W^orten  eine 
Polemik  herausinterpretieren  können.  Anfechtbar  scheint  mir  ihre  Meinung,  Paulus 
habe  .bei  den  'Büchern'  eines  Testaments  bloss  an  liber  als  Teilungsprinzip  gedacht 
und  demgemäss  etwa  jenes  volumen  Homeri  als  48  libri  notiert.  —  Ebenfalls  unzu- 
treffend, wie  ich  meine,  wird  neuerdings  Ulpians  Zitat  aus  C.  Cassius  bebandelt:  et 
Oaius  Cassius  seribit  deberi  et  membranas  libris  legatis.  Obschon  in  der  ganzen 
lex  überhaupt  nur  von  eigentlichen  Schriftwerken  die  Rede  ist,  und  nach  der  gerade 
darauf  als  Pointe  abhebenden  Argumentation  Ulpians  in  diesen  membranae  not- 
wendig der  Begriff  der  Kodexform  steckt,   sucht  man  ihrer  einzig  möglichen,  nach 


166  G.  A.  Gerhard  und  0.  Gradenwitz 

Salmasius  bereits  von  Gcraud  (S.  132),  späterhin  wieder  von  Rohde  (S.  1548)  ver- 
tretenen Deutung  als  litterarische  Pergamentkodizes  um  jeden  Preis  zu  entgehen. 
H.  Landwehr  (Anz.  S.  372;  Arch.  S.  423  f.)  will  bei  Cassius  den  die  Buchform  be- 
treifenden Gegensatz  zwischen  libri  und  membranae  ohne  die  geringste  Berechti- 
gung auf  einen  solchen  des  Stoffes  (Papyrus  und  Pergament)  hinausspielen.  Birt 
(S.  98)  spricht  unsern  membranae  den  Charakter  von  'Büchern'  ab  und  billigt  jetzt 
(C.  B.  17,  1000  S.  562)  die  im  Wortlaut  nicht  begründete  Dziatzkosche  (Unters. 
S.  133  f.)  Auffassung  als  'litterarische  EntwQrfe'. 

12)  Noch  im  vierten  Jahrhundert  heisst  es  z.  B.  von  der  vielbesprochenen 
Umschrift  der  Pamphileischen  Bibliothek  in  Pergamentkodizes  Hier.  ep.  34  ("22 
Sp.  448  Migne)  Beatus  Pamphüus  Martyr  .  .  .  vd  maxime  Origenis  libros  im- 
pefisius  prosecutus  Caesariensi  Ecciesiae  dedicavU:  quam  ex  parte  corruptam 
Acacius  dehinc  et  Euzoius  eiusdem  Ecclesiae  sacerdotes  in  membranis  instau- 
rare  conati  sunt.  Ein  griechischer  Vermerk  in  einer  Wiener  Handschrift  des  Phi- 
lon  fvgl.  C.  Haeberlin,  C.  B.  VII  1890  S.  286)  sagt  vom  gleichen  Vorgang:  "Eu^mog 
^TtiaxoTZOQ  iv  acDfiariotQ  (=  in  codicibus)  dveuedaaro. 

13)  Dig.  XXXII  52  §  5  Unde  non  male  quae- 
ritur,  si  libri  legati  sint,  an  contineantur  nondum 
perscripti.  et  non  puto  contineri^  non  magis  quam 
vestis  appellatiofie  nondum  detexta  continetur,  sed 
perscripti  libri  nondum  mäUeati  vel  ornati  continC' 
buntur:  proinde  et  nondum  conglutinati  vel  emen- 
dati  continebuntur :  sed  et  membranae  nondum 
consutae  continebuntur. 


Bas.  XLIV3,50§5(IV 
S.  382  Heimbach)  Aal  riva 
od  Ttepti^ovTac  Tai  hjfd- 

TCO     Tibv    ßtßkiiOVn     €OQ 

Tfi  fi7^  Teksi(s}Q  fpaipivTa, 
et  3k  kypdfpT]  fjLi)^^  a/>- 
patpa  3e  tuoq  elah  ij 
diKXfiipiaaz  «,  Tzeptzynif- 
Tai.  xac  iffß^Tog  yap  h^- 
yaTEOOfiiyT^Q  tu.  firjTtio  6- 
fuvfliuTaod  7:sptiyo)^TUi, 

Instruktiv  ist  wieder  die  Redeweise  des  Römers.  Zunächst  scheinen  für  ihn 
bei  der  Frage  nach  der  Technik  der  libri  legati  einzig  Rollen  in  Betracht  zu  kom- 
men und  zwar  nur  solche  aus  Papyrus.  Er  sprach  da  eben  a  potiori.  Sogleich  aber 
wird  er  seine  Ungenauigkeit  gewahr.  Es  giebt  ja  noch  eine  andre  Art  von  /t6rf, 
der  er  selber  volle  Gleichberechtigung  einräumen  musste.  So  nimmt  er  denn  nach- 
träglich auch  auf  die  Kodizes,  die  membranae  die  gebührende  Rücksicht.  Aus 
diesem  Ergiinzungsverhältnis  zwischen  libri  und  membranae  einen  Kontrast  von 
^Bnch'  und  'Nicht-Buch'  zu  machen  (Birt  S.  98)  ist  darum  schwerlich  angängig. 
Für  den  Basilikenschreiber,  den  ich  dem  Ulpian  gegenüberstelle,  war  jene  Zwei- 
teilung nicht  mehr  nötig.  In  seiner  Zeit  hatte  man  bloss  noch  Kodizes.  Somit  lies- 
sen  sich  unter  äusserlich  in  ihrer  Herstellung  nicht  vollendeten  Büchern  oder  Bän- 
den nur  ßtßXia  ohne  Heftung  (äppaifo)  oder  ohne  Einbanddecke  {duap^istna) 
verstehen.  Dass  entsprechend  auch  Ulpians  membranae  nondum  consutae  als  noch 
ungeheftete  Pergamentkodizes  zu  erklären  sind,  hat  sonst  kein  Gelehrter,  der  sich 
auf  die  Worte  einliess,  verkannt.  Wattenbach  (Schriftw.  »  S.  175  f.)  allein  dachte 
ans  ^Zusammennähen  von  Membranen  zu  einer  Rolle'. 

14)  Vgl.  Encyclopaedia  Biblica  III  (1902)  Sp.  3586  u.  d.  W.  Pardment.' 

15)  Man  findet  hier  eine  ganz  ähnliche  Erscheinung  wie  vorhin  (A.  13)  bei 
Ulpian.  Der  Apostel  verlangt  seine  Bücher  zurück.  Er  braucht  den  in  seiner 
höheren  inhaltlichen  Bedeutung  von  Stoff  und  Form  absehenden  allgemeinen  Aus- 
druck (tu  ßtßXia).  Plötzlich  tritt  ihm  aber  nun  die  dem  Worte  doch  anhaftende 
Zweideutigkeit  ins  Bewusstsein.  Gemeinhin  dachte  man,  wo  von  ^Büchern'  die  Rede 


Ein  neuer  juristischer  Papyrus  der  Heidelberger  Universitätsbibliothek     167 

war,  ausschliesslich  an  Rollen,  in  der  Regel  aus  Papyrus.  Für  ihn  selber  hätte 
eine  derartige  Auffassung  seines  Auftrags  darum  die  unangenehmsten  Folgen  gehabt, 
weil  es  ihm  ja  gerade  auf  den  ungewöhnlich  gestalteten  Teil  der  Bücher,  auf  die 
Kodizes  in  erster  Linie  ankam.  So  fügt  er  denn,  um  jedes  Missverstäodnis  zu  ver- 
hüten, weislich  hinzu :  fidXtaza  [de]  raQ  fiSfißpdvaQ.  Die  von  den  meisten  Hand- 
schriften gebotene  Partikel  di^  an  die  sich  die  Gegner  unserer  Interpretation  (Zahn, 
Dziatzko  s.  u.)  als  vermeintliche  Stütze  anklammern,  kann  uns  nur  willkommen  sein. 
Wie  in  der  Ulpianstelle  (libri  —  sed  et  membranae)  verstärkt  sie  den  vom  Sinn 
erforderten  Nachdruck  der  korrigierenden  Anknüpfung.  Wir  sehen,  die  richtige  Er- 
klärung des  Paulinischen  Passus  ist  nur  möglich  auf  Grund  der  Buchterminologie  der 
römischen  Zeit.  Eben  darum  gingen  die  späteren  Kommentatoren  wie  Theodor  von  Mop- 
sucstia  und  Theodoret  (vgl.  Zahn  H  S.  940  f.)  so  sehr  in  die  Irre.  Das  Verhältnis 
von  Rolle  und  Kodex  war  für  sie  umgedreht.  Mit  dem  Titel  *Buch'  verband  man  wie 
noch  heutzutage  notwendig  den  Begriff  der  Klappform.  Bißkiov  bedeutete  'Perga- 
mentkodex'. Wenn  also  der  Pastoralbrief  von  ßtßXiuy  offenbar  als  besondere  Buch- 
form, noch  pzfxßpwjat  unterschied,  so  blieb  für  sie  bloss  die  natürlich  verkehrte 
Deutung  als  Rollen.  Kaum  zusagender  finde  ich  die  Ergebnisse  der  Neuzeit.  Während 
schon  der  alte  Christian  Gottlieb  Schwarz  (De  omamefniis  librorum  et  varia  rei 
librariae  veterum  supeVectüe  äissertationum  antiquariarum  hexas,  ed.  J.  Chr. 
Lenschner,  Leipzig  1756)  mit  vorurteilsfreier  Logik  das  Rechte  gefunden  (IV  3 
S.  129  ff.),  plädieren  die  modernen  Autoritäten  des  Buchwesens  (Birt  S.  88  f..  G. 
B.  17,  1900  S.  562;  Dziatzko,  Unters.  S.  136  ff.)  eifrig  für  die  m.  E.  entbehr- 
liche Hypothese,  des  Apostels  membranae  seien  keine  ^Bücher',  sondern  nlcht- 
litterarischen  Charakters,  etwa  'geschäftliche  Aufzeichnungen'.  Man  verbaut  sich  da- 
mit das  Verständnis  des  neben  den  ßtßXia  eindringlich  genug  redenden  (s.  den 
Text)  lateinischen  Lehnworts.  Vgl  Dziatzkos  Verlegenheit  S.  138  A.  1 ;  Thompson, 
Palaeogr. '  S.  36.  Eine  Trennung  des  Paulus  von  seinen  'Notizheften'  lässt  sich 
schwer  glaubhaft  machen.  Dass  er  unter  anderen  Texten,  deren  Inhalt  zu  ermit- 
teln uns  versagt  ist,  ein  paar  teure  Kodizes  zeitweise  zur  Lektüre  und  Abschrift 
an  Mitchristen  verlieh,  erscheint  in  hohem  Grade  plausibel.  Zum  gleichen  Resul- 
tat wie  Birt  und  Dziatzko  gelangte  auch  Theodor  Zahn's  gelehrte  und  umsichtige 
Untersuchung  in  einem  Exkurs  seiner  'Geschichte  des  neutestamentlichen  Kanons' 
II  (1890)  S.  938 — 942.  Für  ihn  hat  darum  nichts  andres  herauskommen  dürfen, 
weil  ihn  die  vorgefasste  Meinung  beherrscht,  vor  220  habe  der  (neutestamentliche 
Buchkodex  nicht  existiert  (I  S.  60  ff.  bes.  S.  76}.  Früher  kann  er  ihn  deshalb  nicht 
brauchen,  weil  jener  Anfangszeit  noch  der  Kanon  fehlte,  dieser  aber  aus  dem  Sam- 
melprinzip der  Kodexform,  wie  er  wähnt,  sofort  mit  zwingender  Naturnotwendigkeit 
hervorgehen  musste.  Die  Wahrheit  dieser  Folgerung  hatte  ihm  andeutungsweise 
bereits  A.  Harnack  (Das  neue  Testament  um  das  Jahr  200,  Freib.  1889,  S.  33  A.) 
bestritten.  Die  vermeintliche  Abhängigkeit  des  Kanons  vom  Kodex  besteht  nicht. 
Erst  als  das  Gefühl  der  Zusammengehörigkeit  einer  Schriftengruppe  reif  war,  kam 
für  sie  die  äussere  Vereinigung  im  Kodex  in  Frage.  Bestehen  konnte  der  lange  vor- 
her und  er  hat  lange  vorher  bestanden.  Das  glauben  wir  durch  unsre  Darlegung  zu 
erweisen.  Die  hochentwickelte  Technik  der  Kollektivbände  bei  Martial  spottet  jeder 
Anzweiflung.  Beachtung  verdient  dabei  u.  a.  der  Titelkupfer  mit  dem  Porträt  des  Virgil 
(XIV  186).  Und  jene  Beispiele  ragen  nicht  etwa  vereinzelt.  Hindurch  durch  die  zwei 
ersten  Jahrhunderte  verfolgen  wir  ohne  Unterbrechung  das  Leben  des  Kodex.  Geradezu 
zu  postulieren  wäre  schon  für  diese  Epoche  neben  dem  klassischen  sein  christlicher 
wie  juristischer  (s.  S.  144)  Gebrauch.  Um  so  weniger  also  sollte  man  dem  die  er- 
wünschte Bestätigung  bringenden  klaren  Zeugnis  der  Paulusstelle  gegenüber  die 


168  G,  A.  Gerhard  und  0.  Gradenwitz 

Augen  verschlieBsen.  —  Eine  eigenartige  Parallele  zu  ihr  finde  ich  nachtrfiglich  in 
den  apokryphen  Barnabasakten,  weiche  nach  der  Untersuchung  von  R.  A.  Lipsius, 
Die  apokr.  Apostelgeschichten  etc.  II  2,  Braunschw.  1884  S.  294  ff.  (vgl.  auch  A.Har- 
nack,  Gesch.  der  altchr.  Litt  I  1,  1893  S.  139)  ein  Cyprier  bald  nach  485  verfasst 
hat.    Bei   der  Erzählung  von  dem  bekannten   Ttapo^üff/iog  zwischen  Paulus  und 
Barnabas  in  Antiochia  (Act.  XV  39)  berichtet  der  verkappte  Autor  (^Johannes  Mar- 
kos'), wie  unversöhnlich  dort  der  Apostel  aus  Tarsos  ihm  selber  grollte,  weil  er  die 
Mehrzahl  der  metnbran<ie  in  Pamphylien  behalten.    Act.  apost.  apocr.  ed.  Lipsius  et 
Bonnet  II  2  (Bonnet)  1903  S.  294,  14  f.:  ^  de  mkXij  Xutoj  aÖTou  ijv  npoQ  fiB 
diä   T()   lyeiv  /le  rag  nkeioug  pefißpävag  iv  IlafiiptjXia  (Bonnets  ZusaU 
xazaXiTTovza  oder  xazeff^xora  ist  unnötig).  Unser  spätes  Machwerk  zeigt  also  in 
diesem  von  der  Hauptgruppe  der  Handschriften  (^  bei  Bonnet,  vgl.  praef.  S.  XXVII) 
unterdrückten  (s.  Lipsius  a.  a.  0.  S.  276  f.  m.  A.  1)  und  auch  vom  Parisinus  1470 
(vgl.  Act.  apost.  apocr.  ed.  Tischendorf  1851   S.  66  f.)   durch  eine  Randglosse  ent- 
schuldigten  Abschnitt  (§  6  f.)   wiederum   Pergamentkodizes  (Lipsius   S.  381: 
Pergamentrollen)   in  intimer  Verknüpfung  mit  Paulus.    Der  Zug  erinnert  an  die 
Worte  des  Timotheusbriefs,  erscheint  aber  in  seinem  Zusammenhang  doch  so  selb- 
ständig und  bezeichnend,  dass  man  an  Benutzung  einer  eigenen  Tradition  glauben 
könnte.   Eine  andre  Frage  ist  es,  was  sich  der  Pseudonymus  unter  den  hier  allein- 
stehenden menibranae  dachte.  Vermutlich  Kodizes.   Das  wundermächtige  Malthäus- 
evangelium  von  Bamabae  Hand  (Act.  Bam.  §  15.  22.  24),  dessen  angeblichen  Fund 
die  cyprische  Kirche  gerade  damals  gegen  Antiochien  ausspielte,  und  das  nachher 
der  Kaiser  bekam  (Lipsius  S.  291  ff.),   hat  mit  seinen  Holztäfelchen  (l/ov  ix  Out- 
V(üu  ^6lü)V  zä  Ttzü^ia,  vgl.  Lipsius  S.  293  f.  u.  A.A.)  sicher  diese  Buchform  gehabt. 

16)  Dig.  XXXII  102  pr.  Idem  libro  septimo  deeimo  digestorum,  His  verbis 
Ugavit:  'uxori  meae  laterMa  mea  viatoria  et  quidquid  in  his  eonditum  erü^  quae 
membranulis  mta  manu  scriptis  continebuntur  nee  ea  sint  exaeia  cum  moriar, 
licet  in  rationea  meas  translata  sint  et  cautiones  ad  actarem  meum  transtüUrim^ 
etc.    Vgl.  Dziatzko,  Unters.  S.  131. 

17)  Dig.  II  13.  10  pr.  Qaius  libro  primo  ad  edictum  provinciaU,  Argentarius 
rationes  edere  iubetur  ...  §  1  Edi  autem  ratio  ita  inteUegüur,  si  a  capite  edatur, 
nam  ratio  nisi  a  capite  inspiciatur,  intellegi  non  poteH:  sciUoet  ut  non  tatum 
cuique  codicem  rationum  totasque  membranas  inspiciendi  deseribendique  pO' 
testas  fiatj  sed  ut  ea  sola  pars  rationum,  quae  ad  instruendum  aJliquem  pertineai, 
inspiciatur  et  describatur. 


18)  Dig.  XLI  1.  9  Gaius  libro  seeundo 
rerum  cottidianarum  sive  aureorum,  —  §  1 
Litter ae  quoque  Ucet  aureae  sint,  perinde 
chartis  membranisque  cedunt,  ae  solo 
cedere  sdent  ea  quae  aedificantur  aut  seruntur. 
ideoque  si  in  chartis  membranisve  tuis 
Carmen  veil  historiam  vel  orationem 
scripsero,  huius  corporis  non  ego,  sed  tu 
dominus  esse  inteüegeris,  sed  si  a  me  petas 
tuos  libros  tuasve  membranas  necimpensas 
scripturae  sölvere  velis,  potero  me  defendere  per 
exceptionem  doli  mäli,  utique  si  bona  fide 
eorum  possessionem  nanctus  sim,  §  2  Sed 
non  Uli  litterae  chartis  membranisve 
cedunt,  ita  solent  picturae  tahulis  cedere    etc. 


Gai.  inst.  II  §  77. 

Eadem  ratione  prc^tum  est, 
quod  in  chartulis  sive  mem- 
branis  meis  aUquis  scripserit, 
licet  aureis  litteris,  meum  esse, 
quia  litterae  chartulis  sive 
membranis  cedunt. 

Itaque  si  ego  eos  libros  easve 
membranas  petam  nee  impen- 
sam  scripturae  solvam,  per  excep- 
tionem doli  malisummoveripotero. 
§  78  Sed  si  in  tabula  mea  aliquis 
pinxerit  vduti  imäginem,  contra 
probatur  eqs. 


Ein  neuer  juristischer  Papyrus  der  Heidelberger  Universitätsbibliothek     169 

19)  Add.  MS.  34473.  In  der  editio  prineeps,  The  Journal  of  philology  XXTI 
(1894)  S.  248  urteilte  er  über  das  Buch  weit  günstiger:  The  wrüing  and  spdling 
are  careful  and  the  text  good,  so  that  it  was  probably  a  copy  intended  for  com- 
mereial  circulation.  Neuerdings  (Palaeogr.  1899  S.  113f.)  stempelt  er  es  zur  minder- 
wertigen Privatabschrift:  It  is  plainly  not  an  elaborately  written  copy,  There  is 
nathifig  of  the  appearanee  of  an  'Edition  de  lux^  , , .  It  may  weü  have  been  regarded 
OS  an  inferior  dass  of  hook  to  the  best  papyrus  MSS,  of  the  period.  Zu  diesem 
Urteil  Kenyons  vgl.  auch  A.  6. 

20)  Dass  bisher  die  Entscheidung  über  diese  Frage  durchweg  negativ  ausfiel, 
darf  nicht  wundernehmen,  vgl.  Birt,  Buchw.  S.  104  f.,  Mommsen,  Sav.-Zeitschr.  X 
1889  R.  A.  S.  345. 

21)  Zweifelnd  anerkannt  wird  die  Thatsache  von  P.  Krüger,  Sav.-Ztschr.  YIII 
1887  R.  A.  S.  76  u.  A.  2.  Die  unantik  modernisierende  inhaltliche  Auslegung  des 
Titels  membranae  als  intime,  anspruchslose  'Notizen'  (Birt  S.  93  f.)  oder  *lose  Ent- 
würfe' (Dziatzko,  Unters.  S.  133  A.  5  a.  E.)  findet,  wie  ich  glaube,  auch  an  den 
codicüli  (nach  den  Erklärern  =  Testament)  .genannten  Schmähschriften  des 
Fabricins  Vejento  (Tac.  Ann.  XIV  50  zitiert  von  Birt,  C.  B.  17,  1900  S.  562  Haud 
dispari  crimine  Fabricius  Veiento  conflictatiM  est,  quod  mtdta  et  probrosa  in  patres 
et  sacerdotes  composuisset  iis  libris  qutbus  nomen  codicillorum  dederat)  keine 
Stütze.  Das  Wort  membranae  hat  im  litterarischen  Buchwesen  seine  festbestimmte 
Bedeutung. 

22)  Dem  dritten  Jahrhundert  weist  W.  CrOnert,  Archiv  II  (1903)  S.  361  das 
Bruchstück  zu,  die  Heransgeber  selber  (S.  24)  dem  vierten. 

23)  Vgl.  bes.  Birt,  Buchw.  S.  105  ff.,  Zahn,  Gesch.  d.  neut.K.  I  (1888)  S.69ff., 
Dziatzko,  Unters.  8. 140  f.  V.  Schnitze,  Rolle  und  Kodex.  Ein  arch&ologischer  Bei- 
trag zur  Geschichte  des  Neuen  Testamentes.  Greifswalder  Studien  —  Herm.  Cremer 
dargebracht.  1895  (vgl.  Beer  und  Weinberger  in  Bursians  Jahresb.  98  (1898)  S.  194) 
ist  mir  nicht  zugänglich,  s.  auch  Birt  S.  122  m.  A.  1. 

24)  S.  Birt  8.  104,  Dziatzko,  R.  E.  III  Sp.  948,  Unters.  S.  200  f.  Dazu  kommen 
zwei  schon  öfter  angeführte  juristische  Arbeiten.  P.  Krüger,  Über  die  Ver- 
wendung von  Papyrus  und  Pergament  für  die  juristische  Lilteratur  der  Römer,  Sav.- 
Zeitschr.  VIII  (1887)  S.  76-  85,  bes.  8.  81  f.,  der  den  Wechsel  der  Buchform  unter 
allgemeinen  Gesichtspunkten  betrachtet,  und  Th.  Mommsen,  Die  Benennungen  der 
Constitutionensammlungen,  Sav.-Zeitschr.  X  (1889)  R.  A.  S.  345 — 351,  der  in  An- 
knüpfung an  einen  früheren  Aufsatz  über  die  Holztafel  im  Archivwesen  der  Römer 
(Sardinisches  Decret:  Herm.  II  (1867)  S.  102—127,  bes.  S.  115ff.)  den  Kodex  auf 
die  tabulae  pvhlieae  zurückführt.  Die  Eingliederung  in  die  von  uns  skizzierte  Ge- 
samtentstehnngsgeschichte  der  Kodexform  mnss  diese  isolierten  Spezialergebnisse  im 
Einzelnen  selbstverständlich  ergänzend  modifizieren. 

25)  Vgl.  bes.  Birt  S.  113  ff.,  Dziatzko,  R.  E.  HI  Sp.  949.  Unters.  S.  141. 

26)  Landwehr,  Pap.  Berol.  Nr.  163  etc.  (Gotha  1883)  S.  8,  Phil.  Anz.  XIV  1884 
S.373,  Arch.  f.  Lexikogr.  VI  1889  S.422f.  432.  Dagegen  schon  Dziatzko,  R.  E.  III 
Sp.  946  f. 

27)  Plin.  n.  h.  XIII  70  mox  aemülatione  circa  bybliothecas  regum  Ptokmaei 
et  Eumenis,  supprimente  Chartas  Ptoiemaeo,  idem  Varro  membranas  Pergami 
tradit  repertas.  postea  promiscue  repatuit  usus  rei  qua  constat  immortalitas 
hominum,  —  Für  'viel  älter  als  Eumenes'  erklärt  das  Tergament'  C.  R.  Gregory, 
Textkr.  des  N.  T.  I  1900  S.  8. 


170 


6.  A.  Gerhard  und  0.  Gradenwitz 


Boisson.  Anecd.  Gr.  I  S.  420 

h  8k  rizoXenaioQ  l^iov  *  Apiarap- 
jj^öu  YpaiifJLaTtxoy  (PjpßotfXeuadfisi/o]/ 

dTritrreUe  TrpwTOQ  ^dpTT^v  eeg 
'^PwfiTjv  xdi  i$eui(Teu  auToog.  y>0ovr^' 
aag  Sk  z(p  ^Aptardp^o)  Kpdzr^q  o  ypuft- 
fxauxoQ  bizdpymv  perä  'AzzdXofj  rofj 
ntpyaprjvoo 

ix  dappduov  exa/te  fiepßpd" 
vag  xa)  knoirjfft  tov  ''Azzakov  dTzo- 
azEtkai  wjzäg  elg  ^  Pwptjv 

fWsv  elg  fi\frjfxr^v  zoTj  dTrotnsc" 
kauzog  pi/pt  zoü  vov  Tzepyapy^- 
vag  zag  pEpßpdvag  xaXouaiy. 


28)  Lyd.  de  mens.  ed.  R.  Wuensch 
(1898)  S.  14,  11—20  XP^'^^V  ^^  ^^^■ 
pou  o  llzoXepalog  arj/ißouXedovzog 
adz<ji  'Apiazdpyotj  zou  ypappaztxoo 
zijv  'Fwpalwu  daTzdaaadai  Ttpoaza- 
ffiav  Kpojzog  ydpvrju  dTroffzeiXag  zi/v 
'Pdfpr^u  i^iutaeu.  dvzeodnxtpeizat  8k 
opcog  Ttapd  zou  nepyapyjvou  'Az- 
zdkoü,  KpdzTjZog  zou  ypappazixou 
fjPjaapiuou  z^g  <T7:ou8^g  npog  iptv 
^ApuTzdpyou  zoü  duztziyyou  adzou, 
8ipiiaza  yäp  zä  ix  Tzpoßdzwv  dno» 
H(f<ig  slg  kenzov  iffzede  zo7g  "^Po}- 
paiotg  zä  kep'tpsua  nap'  auzolg 
pipßpaua*  elg  purjprjv  8e  zoü 
dTToazedauzog  izi  xai  uüu  '  Piopalot 
zä  pipßpava  Fle pyapTjvä  xa- 
Xoüavy. 

29)  Vgl.  Wattenbach,  Schriftw.  '  S.  161  f.  Zufrieden  giebt  sich  mit  der  An- 
nahme opisthographer  Pergamentrollen  Dziatzko,  R.  E.  m  Sp.  947. 

30)  CatuUm  et  in  tum  Isaaci  Vossii  öbservationes.  Lond.  1684  S.  51  Primus 
qui  libros  quadratos  sive  Codices  tnembraneos  fcuxre  instituit,  is  ut  ptUo  fuü  AU<dus 
rex,  cuius  demum  aetate  innotuit  facüior  ratio  emundandi  peües  ab  utraque  parte^ 
cum  antea  non  nisi  ab  una  parte  conscriberentur,  quemadmodum  fit  in  vötuminOms. 
Dass  er  selber  die  schwache  Fundamentierung  seiner  These  doch  noch  empfand, 
zeigen  seine  sp&teren  Worte:  Caetemm  quamvis  codicum  membraneorum,  id  est 
librorum  qtiadratorum  usus  ab  Attalo  demum  incoeperit,  non  tamen  cesaavit  prior 
ratio,  quin  potius  non  tantum  Catuüi  et  Ciceronis  seculo,  sed  et  dliquamdiu  posiea 
totae,  ut  diximuSf  bibliothecae  e  solis  componebantur  voluminibus,  nuUa  facta  mem- 
braneorum codicum  mentione. 

31)  In  der  ersten  Bearbeitung  des  Werkes  (Becker- Marquardt  V  2  [1867] 
S.  398  f.)  waren  die  Konsequenzen  der  Theorie  für  den  Kodex  als  Sammelb&od  noch 
schärfer  gezogen  als  jetzt  in  der  neuen  (Marquardt-Mommsen  VII  2  *  [Mau]  1886 
S.819f.). 

32)  Den  bezeichnenden  Zusatz  hat  erst  die  zweite  Auflage  I  >  (1892)  S.  336  f., 
vgl.  I  1  (1886)  S.  310  f. 

33)  Seine  zwei  teilweise  genau  übereinstimmenden,  teilweise  aber  auch  unver- 
merkt kontrastierenden  Aufsätze,  die  Rezension  von  Birts  Buchwesen,  Philol.  Anzeiger 
XIV  1884  S.  357— 377  (hierhergehörig  S.  374f.)  und  die  ^Studien  über  die  antike 
Buchterminologie',  Abschnitt  VI  *Der  Übergang  von  der  Rolle  zum  Codex',  Arch.  f. 
lat.  Lexikogr.  etc.  VI  1889  S.  419—433  (bes.  S.  429)  scheinen  mir  nicht  durchweg 
einwandfrei. 

34)  Gott.  gel.  Anz.  1882  S.  1537—1563,  jetzt  in  den  »Kleinen  Schriften'  II 
(1901)  S.  428-448,  vgl.  bes.  S.  1546  (bezw.  435).  Rohde  spricht  da  von  Tergament- 
roUen  oder  Pergamentcodices'  der  »grossen  Bibliotheken  (vornehmlich  der  pergame- 
nischen)'  allerwenigstens  zu  Varros  Zeit. 


Ein  neuer  juristischer  Papyrus  der  Heidelberger  Universitätsbibliothek     171 

35)  G.  HaeberliD,  Beitr&ge  zur  Kenntnis  des  antiken  Bibliotheks-  und  Buch- 
wesens III  Zur  griechischen  Buchterminologie,  G.  B.  Yll  1890  S.  271—302.  —  An- 
hänger der  Rohdeschen  Anschauung  vom  'ziemlich  frühen  Vorkommen  Ton  Membran- 
handschriften für  Litteraturwerke'  (S.  283),  obgleich  uns  aus  der  Vorchristlichen 
Zeit  nnd  den  ersten  beiden  Jahrhunderten  unserer  Zeitrechnung  so  wenig  Material 
zu  Gebote  steht'  (S.  288),  bescheidet  er  sich  zu  den  wenig  sagenden  Vermutungen, 
die  unterste  Schrift  (Sallusts  Historien  ?)  des  K&mthener  doppelten  Pliniuspalimpsestes 
reiche  bis  etwa  ins  dritte  Jahrhundert  (8.  281—283)  und  die  *KodifizieTung'  der 
griechischen  Anthologie  sei  im  zweiten  oder  dritten  Jahrhundert  erfolgt  (S.  287  f.). 

86)  G.  Wachsmuth,  Pentadenbände  der  Handschriften  klassischer  Schriftsteller, 
Hh.  M.  46  (1891)  S.  329-331.  Vgl.  dazu  Beer  und  Weinberger  in  Bursians  Jahresb. 
98  (1898  III)  S.  194  f. 

37)  Gott.  gel.  Anz.  1900  S.  30:  Rezension  des  zweiten  Bands  der  Oxyrhynchos- 
papyri.  —  Herrschend  scheint  die  Ansicht  von  der  koinzidenten  Einfahrung  des 
Pergaments  nnd  der  Kodexform  auch  bei  den  Theologen.  Vgl.  z.  B.  G.  R.  Gregory, 
Textkr.  des  N.  T.  I  1900  S.  10  (vorsichtig)  und  Encyd.  Bibl.  1902  Spr.  3586  (s.  v. 
Parchment);  anders  Deissmann  ebenda  Sp.  3557  (s.  v.  Papyri). 

38)  Galen,  Gomm.  I  zu  * ImzoxpdzofjQ  xax'  h^Tptiov  ßtßXiov  XVIII  2  S.  630 
Eohn.  td^Iq  filv  yap  xai  nduu  nakaiiov  ßtßXiwv  [naXatä  ßtßkia  Gebet] 
dveoptlv  koTzoodaaav  itph  zptaxoamv  iriov  ytypapiiiva^  rä  fihv  bj^outsq 
[ivovra  Rohde]  iu  to7q  ßißXioiQ^  rä  8k  iv  toIq  ^äpTotq,  rä  8k  h 
SiatpopotQ  iftXupaiQy  moTitp  rä  nap^  ijiüv  iu  TlepYdptp.  Einen  Schaden 
fand  man  meist  bloss  in  der  schwierigen  Gruppe  iv  8ta(popotQ  (pdipatQ  und 
brauchte  zu  seiner  Heilung  unbedenklich  die  Gobetsche  (Mnemosyne  VIII  1859 
S.  436)  Radikalkur:  rä  8k  h  8i<p0ipatQ^  welche  jenen  ungewöhnlichen  Ausdruck 
in  die  ganz  gewöhnliche  Verbindung  von  ^dprat  und  SifSipat^  d.  h.  Papyrus-  und 
Pergamentrollen  yerwandelt.  Die  handschriftliche  Verwechslung  von  8t(p0ipai  und 
diaipopot  hat  der  Holländer  später  (Mnemosyne  N.S.  III 1875  S.233f.)  in  der  That 
durch  ein  weiteres  Galensches  Beispiel  (XVII 1  S.922)  belegt,  und  einen  dritten  aus 
Pittographie  zu  erklärenden  Fall  kann  ich  aus  dem  Aristeasbrief  anführen.  §  176 
heisst  es  hier:  napeXOovcwv  8k  auv  rolQ  dnearaXpivoiQ  8wpotQ  xai  raiQ 
8ta(p6poiQ  8i<p6ipatQ  .  .  .  iirrjpaira  (o  ßafftXeuQ)  Tiepl  rutv  ßtdXiwVj  und 
jenes  seltsame  Adjektiv  klammert  Mendelssohn  ein.  Allein  das  Übel  ist  doch  nur 
weitergeschoben.  Die  raren  ipMpai  dürfen  wir  nicht  als  von  einem  itiolM  einge- 
schmuggelt über  Bord  werfen.  Wir  müssen  suchen  sie  zu  verstehen.  Ich  kann  jetzt 
nur  kurz  andeuten,  dass  man  in  diesen  ipMpai  die  Nachfolger  der  alten  ßfjßXoi^ 
d.  h.  Bastrollen  vor  sich  hat.  Die  starben  eben  auch  nach  dem  Eindringen  der 
Charta  nicht  völlig  aus.  Fürs  dritte  Jahrhundert  bezeugt  uns  ihren  vereinzelten 
Gebrauch  Ulpian  (A.  11)  und  Martianus  Gapella  (II  136)  gar  noch  fürs  fünfte.  Die 
herrschende  Ansicht  freilich,  welche  ß6ß)MQ  und  Papyrus  von  Anfang  an  identifi- 
ziert (vgl.  A.8),  weiss  mit  ^ex  phüyra  nichts  Rechtes  anzufangen.  Sie  wegzuschaffen, 
scheut  man  nicht  einmal  das  Experiment,  der  Stelle  des  Juristen  Ulpian  'die  Be- 
weiskraft zu  nehmen'  (vgl.  Landwehr,  Arch.  f.  Lex.  VI  1889  S.  224  f.).  Die 
so  deutlich  redenden  *BasUtreifen'  (phüyrae)  beim  Plinius  (XIII  74)  werden 
hinauskoiyiziert  (Birt,  Buchw.  S.  230.  243).  Auch  Dziatzko  (Unters.  S.  77) 
bringt  eine  Änderung  in  Vorschlag.  Von  ßißXia  h  (f  t  X  6  p  a  t  Q  loar^tp 
rä  Ttap'  ijfuv  h  nepydpw  spricht  nun  Galen.    Also  in  Pergamon  kannte  man 


172  0.  A.  Gerhard  und  0.  Gradenwitz 

ebenfalls  noch  im  zweiten  Jahrhundert  n.  Chr.  die  Rollen  ans  Bast.  Di^  Nachriebt 
von  der  Verwendung  dieses  weiteren  Surrogats  wird  uns  nach  den  attalidiscben 
Antezedenzien  (Pergament)  gerade  dort  am  wenigsten  befremden.  Sie  macht  uns 
auch  misstrauisch  gegen  das  Bestreben  der  Gelehrten,  die  lehrreiche  Überliefe- 
rung zu  dem  selbstverständlichen  Hinweis  auf  die  pergamenische  Proyenienz  der 
MemhranroUen  umzubiegen.   Abzuweisen  wäre  also,  um  von  Marquardts  (II  '  S.  820 

A.  2)  unwahrscheinlichem  Einfall  ii/^e^^£/>eW<C  fMpdiQ  zu  schweigen,  ausser  der 
Cobetscheo  Änderung  auch  Dziatzkos  (Unters.  S.  44  A.  4)  umstellender  Kompromlss 
rä  de  iv  (pMpatq  xai  dtipOipatq.     Jener'  gleichen   Versuchung  war  vielleicht 
schon  irgend  ein  antiker  Leser  erlegen,   der  bei  dem  Wortlaut  rä  8h  iv  ^dprosg 
(zu   dieser  ungewöhnlichen  Form  vgl.  Dziatzko,   Unters.  S.  44  A.  3)   zä  3k   iv 
ipMpaiQj    ioantp   ra   itap'  ij/ilv   iv   flepYdptp  stutzend   neben   den   "jfdpzax 
statt  der  ihm  unklaren  ipiküpai  wie  sonst  die  8t<p6ipai  erwartete  und.  das  Substitut 
auch   hinschrieb.     Nachher   in   den   Text  gedrungen,    hätte   sich   8t<pßipatQ  vor 
<pMpatQ  ähnlich  wie  bei  Aristeas  (s.  o.)  vor  8t<p6ipaiQ  zu  dem  wenigstens  ausser- 
lieh   befriedigenderen   8ia<p6poiQ  umgeformt.    Vorhanden   ist   natdrlich  auch  die 
Möglichkeit,  dass  unsre  nachträglich  verstammelte  Partie  nrspranglich  etwa  lautete: 
rä  8e  iv  toIq  ^dproiQy  rä  8k  iu  8tf0ipaiQ,  (rä  8k  iii)  <pMpaiQ.    Die  Folge 
wäre  dann  die  gleiche  wie  oben  (A.  11)  beim  Juristen  Paulus   (und  ähnlich  bei 
Ulpian):  tarn  chartae  vcHumina  vel  menibranae  et  phüyrae,  —  Es  bleibt  uns  noch 
immer  der  wahre  Hauptfehler  der  Stelle  in  den  Worten:  rä  pkv  ij^oureg  iu  rolg 
ßißXioigy  rä  8k  h  zoJg  ^^dproig,  rä  8k  h  iptkopatg  etc.    Also  drei  Sorten 
der  TzaXatd  ßißXia  zählt  uns  der  Autor  auf:  1.  ßtßXla,  2.  jdpzai  (Papymsrollen) 
und  3.  ipMpat  (Bastrollen).   Der  unerträgliche  Widersinn  im  vordersten  Gliede  der 
Reihe  springt  sofort  in  die  Augen.    Für  ßtßUov  (noch  mehr  als  ßißXog)  ist  uns 
der  alle  besonderen  Möglichkeiten  ¥rie  Papyrusrollen  (j^dpTai)^  Bastrollen  {iptXipai)^ 
Pergamentrollen  {8t(p6ipat)  umfassende  allgemeine  Oberbegriff  der  Buchrolle  mit 
litterarischem   Inhalt   nicht   nur  sonst  zumal  in  der  Kaiserzeit  vorzOglich  vertraut 
(vgl.  A.  8),  er  erscheint  folgerichtig  auch  in  den  naXatä  ßtßXia  des  Arztes  selbst 
Tä  pkv   (sc.  ßißXia   s.  o.  Cobets  Lesung)  ej^ovreg  iv  TOtg  ßtßXiotg :  in  einem 
Atem   soll   er  neben  j^dpzat  und  (ptXüpai  als  erste  Unterart  der  ßtßXla  wiede- 
rum ßtßXia   nennen !    Das   ist  undenkbar.    Kein  Wunder,  dass  die  Hinnahme,  ja 
Ausbeutung  eines  derart  verwirrten  Passus  durch  fast  alle  Interpreten  verhängnisvoll 
gewirkt  hat.    Kopfzerbrechen  machte  der  Kontrast  zwischen  ßißXla  und  ydpzai, 
Fasste  man  die  letzteren  richtig  als  Papyrusrollen  auf,  so  geriet  man  ins  Gedränge 
mit  den  ersten.    Die^mussten  sich  denn  wohl  gar  zu  Codices  ccrati  stempeln  lassen 
(Marquardt).    Wer  umgekehrt  die  Papyrusrollen   in   den  ßißXia  suchte,  fttr  den 
wurden   die  ydpzat  Papyruskodizes  (Rohde  S.  15 i7)  oder  einzelne  Papyrusblätter 
(Birt,  Buchw.  S.503f.,  Dziatzko,  Unters.  S.44. 92. 133  A.  4. 136  A.  1).  An  Dziatzkos  nn- 
plausibler  Vorstellung  von  den   'Einzelblättern'  aus   Papyrus  {jdpzat)  oder  Per- 
gament {ßiifOipai)  trägt  dieser  illlusorische  Beleg  mit  die  Hauptschuld  (vgl.  A.  8). 
Wie  kam  aber  jene  fatale  Korruptel  zustande  und  wie  ist  sie  zu  heben  ?  Die  von  Land- 
wehr (Anz.  S.  374  f.  A.  7),   dem  einzigen,   der  den  wunden  Punkt  erkannte,  vorge- 
schlagene Einrenkung  des   Satzes  durch  Vorausnähme  der  ßtßXia  und  Reduktion 
der  Antithese  auf  ^dpzat  und  fiXupat  (s^ouzsg  iv  zo7g  ßtßXiotg  zä  pkv  iv 


Ein  neuer  juristischer  Papyrus  der  Heidelberger  Universitätsbibliothek     1 73 

TotQ  ^dpzatgy  TU  8k  iu  dtfOepivaiQ  (ptkopaiQ  sie)  wäre  kühn  und  pleonastisch 
angeschickt  zugleich.  Ratsamer  dOnkt  es  mir,  nach  dem  eigentlichen  Ausdruck  für 
die  erste  Form  der  *Bücher'  zu  fahnden,  der  heute  durch  die  einst  dem  Verfasser 
oder  einem  massgebenden  Schreiber  von  vorher  im  Sinne  gebliebenen  und  versehent- 
lich nochmals  in  die  Feder  geflossenen  ßißUa  verdrängt  ist.  Zwei  Parallelstellen, 
die  Cobet  (Mnemos.  1S75  s.  o.)  aus  Galen  zitiert,  bieten  in  verwandtem  Zusammen- 
hang als  Eventualitäten  von  Textniederschriften  jeweils  )^dpTai,  dtftiipat  und 
öikroi.  Analog  könnten  in  unserem  Falle  die  izaXaiä  ßißXia  enthalten  sein 
rä  peu  —  iv  tuTq  diXzoiQy  ru  dt  iv  toIq  ydpzoiQ,  zä  dk  iv  [dta^opoco] 
^UupaiQ  oder  zä  8k  iu  St^OipaiQ,  {zä  8k  kv)  (piXopatq  xzL 

39)  Rohde  S.  1549  f.,  schon  vorher  Birt  S.  107  m.  A.  4,  nachher  Landwehr, 
Anz.  S.  373,  Arch.  S.  428.  Man  benutzte  aus  der  Epistel  für  zeü^oq  =  codex  nur 
den  einen  bei  Josephus  (XII  §  108 — 110)  nicht  genau  wiedergegebenen  Satz  von 
der  fertigen  griechischen  Übertragung  der  vopoOeaia  §  310  xaOwg  8k  dvep^cü- 
aOrj  zä  zeu^rj,  (Tzdvzeg  oi  tepelg  .  .  .  elTiov.  An  Rollenform  zu  denken 
hätte  schon  hier  der  damalige  Usus  des  griechischen  wie  des  jüdischen  Schrift- 
wesens verlangt  Rein  unmöglich  aber  war  jeder  Zweifel,  wenn  man  die  frühere 
(§  176  f.)  Beschreibung  der  von  den  Delegierten  mitgebraohten  hebräischen  Original- 
manuskripte verglich.  Nachdem  diese  des  Aufrollens  (ai/sXhaeiv)  bedürfenden 
8i<p6ipai  (vgl.  A.  38)  mit  ihren  Futteralen  (dvadi^paza),  ihrem  feinen,  unsichtbar 
zusammengefügten  Pergament  (opijv)  und  ihren  Goldbuchstaben  {ypuad^patpifi) 
aufs  unzweideutigste  charakterisiert  sind,  steht  zum  Schluss  auch  von  ihnen  jener 
fragliche  Terminus  zvj)(()g^  Der  sonst  fast  wörtlich  mit  der  Vorlage  übereinstim- 
mende Josephus  (XII  §  90  f.)  nimmt  statt  dessen  die  weniger  rare  Bezeichnung 
ßißXiov : 

Jos.  XII  §  91  xeksitrag  ok  zä 
ßtß Äux  8ouvat  zolg  im  z^g  zd^sojc^ 
zoze  zoug  dv8pag  rjfT7:daazo. 


Aristeasbr.  §  179  xBXeoaag  8k 
elg  zd^tv  d7:o8ouwit  zä  zs6j(rjy  zo 
ZTjvtxdrjza  daTzaadpevog  zoug  äv8pag 


eine. 


Zu  den  beiden  Aristeasstellen  vgl.  übrigens  auch  die  zutreffende  Bemerkung 
von  Zahn,  Gesch.  d.  n.  K.  I  S.  66  f. 

40)  Birt  (S.  90  ff.)  hat  für  zeuyog  =  codex  eine  ähnliche  Grundbedeutung 
angenommen,  wie  sie  bei  den  mittelalterlichen  Sammelkodcxnamen  pandectes  und 
bibliotheca  (vgl.  Wattenbach  ^  S.  152  ff.  156  f.)  thatsäcblich  feststeht:  capsa  oder 
Rollenbehälter.  Blass  (Handb.  I '  S.  338  u.  A.  3)  und  Thompson  (Palaeogr.  ^  S.  55) 
pflichten  ihm  bei  trotz  Rohdes  (S.  1549  m.  A.)  Einwurf,  dass  *für  zeu/og  als  capsa 
jedes  Zeugnis  fehle'.  Von  der  Birtschen  Deutung  sind  auch  die  Vorschläge  Land- 
wehrs  (Arch.  S.  429  'grössere  Raumeinheit'  —  trotz  S.  428)  und  Dziatzkos  (Unters. 
S.  134  A.  2  'Hülle,  Band')  nur  scheinbar  verschieden.  Hüten  muss  man  sich  vor 
allem,  dem  Worte  einen  Kollektivbegriff  zu  vindizieren.  Dass  es  im  Gegenteil  ur- 
sprünglich eher  einem  kleinen  Faszikel  mit  einer  Piinzelschrift  gilt  (vgl.  u.  a. 
J/evzdzsuyog  und  dazu  Zahn  S.  66),  tritt  gerade  in  den  ersten  christlichen  Jahr- 
hunderten deutlich  hervor  (s.  auch  A.  69).  Nehme  ich  hinzu,  dass  zeuyog  von  Hause 
aus  *ein  allgemeiner  Ausdruck  für  Buch'  (vgl.  Wattenbach  S.  152)  ohne  Ansehen 
der  Form  war,  so  wird  mir  ein  verengernder  Übergang  von  dem  allgemeinen  Sinn 
'Schreibzeug,  Schreibmaterialien'  zu  dem  spezielleren  'Schreibstoff,  Schreibmaterial' 

NEUE  IIEIDELB.  JAHRBUECHER  XII.  12 


174  ^*  A.  Gerhard  und  0.  Gradenwitz 

wahrscheinlich,  zumal  ich  Spuren  einer  analogen  Entwicklung  bei  fpamLaTtiov 
zu  linden  meine.  Zahns  (S.  67  A.  1)  Auffassung  von  Teü^og  (vgl.  (Txeuog)  als  'Ge- 
rät, Werkzeug'  (vgl.  paratura,  instrumentum  =  *Litteratur')  krankt  m.  E.  an  allzu 
ungreifliarer  'Weitschichtigkeit'. 

41)  Anthol.  Pal.  IX  239,  Nr.  XXIX  S.  85  Rubensohn,  v.  1  f.  Oiß?.€0)^  ^  y^jj- 
xEfiTj  hypixibv  hÄ  Ttdyti  rw8e  \  Tzei^räq  äfUfiY^Tcov  epya  <pip£i  yapiTtov, 
Auch  die  Interpretation  dieser  Verse  stand  im  Bann  des  Irrtums,  Tsuyog  bezeichne 
notwendig  den  Kodex.  Für  einen  Pergamentkodex  entschied  sich  in  unserem  Fall 
Rohde  (S.  1548  f.),  Landwehr  sagt  der  Papyrnskodex  besser  zu  (Anz.  S.  372  f., 
Arch.  S.  428).  Eben  um  jenem  vermeintlichen  Zwang  zu  entgehen,  hatte  Birt  (S.  89  ff.) 
seine  Zuflucht  zur  Rollenschachtel  genommen.  Freier  blickt  erst  Zahn  (S.  67  A.  1) 
mit  der  Erkenntnis,  die  fünf  AnakreonbQcher  4n  einem  Bande'  könnten  'eine  zier- 
lich geschriebene  Papyrusrolle'  gewesen  sein. 

42)  Vgl.  A.  28.  dipfifiTa  yap  zä  ix  Ttpoßdrio)^  aTioHoaQ  eeg  hzzou 
lazeike  toIq  '^  P(o/iaiocg  za  XtYupvja  nap*  adztng  pipßpai^a  (Lydus)  — 
e;if  (hp/idzMif  exa/ie  pepfSpävag  xat  iTrocT^as  ztw  ^ Azzah)\f  d7roaz£t/.at 
fVjzaQ  etQ  '  PwuTjv  (An.  Boiss.). 

43)  Hippaza  zä  ix  Tipoßdziov  d7Ta$i(Tag  eig  ^STtzov  vgl.  A.  28.  42. 

44)  Birt,  Buchw.  S.  52,  Marquardt  *  S.  819  A.  2,  Blass  I  >  S.  336,  Thompson  ' 
S.  36,  Wattenbach  '  S.  113  f.  m.  A.  2.  Seit  dem  Ende  der  Republik  brauchte  man 
den  damals  doch  bereits  mit  dem  Begriff  der  Kodexform  verknüpften  Namen  mem- 
branae  daneben  meist  auch  noch  von  jenen  alten  Pergament  rollen.  Membrnnas 
Pergami  repertas  hörten  wir  ja  z.  B.  Plinius  aus  Varro  zitieren  (A.  27).  Die  Kun- 
digen wussten  Bescheid.  Einer  ganz  korrekten  Bezeichnung  wie  volumina  in  mem- 
brana  bedurfte  höchstens  die  Definition  des  Juristen  (A.  11).  Umgekehrt  wurde  das 
ursprünglich  nur  den  Lederrollen  gebührende  Wort  di(p6ipai  unbedenklich  nicht 
allein  auf  die  Pergamentrollen  (vgl.  z.  B.  Galen  A.  38 ;  Thompson  S.  35  f.),  sondern 
selbst  auf  die  Pergamentkodizes  übertragen.  Ein  vermutliches  Beispiel  aus  Cicero 
wurde  oben  (A.  10)  angeführt.    Ein  andres  aus  Libanios  giebt  Birt,  Buchw.  S.  503. 

45)  Vgl.  ausser  den  griechischen  Stellen  ( A.  28)  Hier.  ep.  VII  (22  Sp.  339  Migne) 
Chartam  defuisse  non  puto,  Aegypto  ministrante  commercia.  Et  si  alicubi  PtoUh 
maeiis  maria  clausisset,  tarnen  rex  Ättalus  membranas  a  Pergamo  misercU,  tU 
penuria  chartae  pdlibus  pef^saretur,  Unde  et  Pergamenarum  nomen  ad  hunc 
usque  dient,  tradente  sibi  invicem  posteritate,  servatum  est, 

46)  Berl.  phil.  Wochenschr.  XXI  (1901)  Sp.  686  (Rezension  von  Dziatzkos 
Unters.). 

47)  Besonders  eifrig  focht  für  die  Gleichberechtigung  des  Papyrnskodex  Land- 
wehr, Anz.  S.  368,  Arch.  S.  420,  derselbe,  der  sich  anderwSrts  im  direkten  Gegensatz 
dazu  veranlasst  sieht,  Mie  Membrane'  als  ^die  Brücke'  zu  betrachten,  'über  welche 
das  Kodexformat  sich  Eingang  verschaffte'.  Neuerdings  geben  U.  v.  Wilamowitz- 
Möllendorff  (Gott.  gel.  Anz.  1900  S.  30)  und  R.  Wünsch  (Sp.  690  s.  A.  46)  dem  Ge- 
danken an  des  codex  chartaceus  Selbständigkeit  Raum. 

48)  Vgl.  Schwarz  a.  a.  0.  S.  140  (IV  7).  N.  Alianelli,  Dei  lü>ri  presso  %  Ro- 
mani.  Cenni  storici,  Vortrag.  Napoli  1866  S.  7.  W.  Crönert,  Denkschr.  betr.  eine 
deutsche  Papyrusgrabung,  Bonn  1902  S.  4.  S.  auch  Kenyon,  Paläogr.  S.  19  f., 
Wilcken,  Archiv  I  S.  366. 

49)  P.  Brit.  Mus.  126  in  Kcnyons  Classical  Texts  1891  S.  81  ff.  mit  p1.  VI, 
vgl.  dess.  Verf.  Palaeogr.  S.  25.  105  f.  116.    S.  auch  Birt,  Buchw.  S.  120  A.  8. 


Ein  neuer  juristischer  Papyrus  der  Fleidclberger  Universit&tsbibliotbek     175 

50)  Vgl.  meine  Bemerkungen  zu  der  im  Druck  befindlichen  Ausgabe  von  Deiss- 
mann  (Heidelberg  C.  Winter)  S.  3. 

51)  S.  die  eben  erscheinende  Publikation  von  G.  Schmidt. 

52)  Kodizes  anzunehmen  traute  er  sich  nur  bei  ^sicherer  Faltung'  (Unters. 
S.  143  f.).  Alle  übrigen  opisthographen  Papyrusfragmente  litterarischen  Inhalts  (ein- 
seitig beschrieben  ist  bloss  die  Achmimer  Homerparaphrase  S.  218  Nr.  32  Haeberl.), 
fQr  welche  die  Herausgeber  mit  gutem  Grund  die  gleiche  Diagnose  gestellt,  zählte 
er  lieber  seinen  Bl&tterhaufen  zu  (S.  128  f.).  Durch  ein  Versehen  erscheint  darunter 
sogar  die  nachher  (S.  145  ff.)  von  ihm  ausdrQcklich  als  Ghartakodex  anerkannte 
Berliner  'Affrjvalwv  floXiTeia  (S.  34G  Nr.  102  Haeberl.).  BezOglich  des  Genfer 
Menander  (S.  127  f.)  hat  Dziatzko  seinen  Zweifel  an  der  Kodexform  im  Nachtrag 
(S.  206)  noch  selber  eingeschränkt. 

53)  Proben  bieten  die  Ascensio  lesaiae  der  Sammlung  Amherst  (I  1  S.  2  mit 
pl.  III— IX)  8.  Y/YI  und  die  Heidelberger  Septuaginta  (A.  50)  vgl.  S.  3  f.  u.  Taf.55f. 

54)  Vgl.  Schwarz  S.  152  f.  (IV  11);  Wattenbach  S.  105.  149  (Papier). 

55)  Vgl.  ü.  Wilcken,  Die  Achmtm-Papyri  in  der  Bibliothöque  Nationale  zu 
Paris,  Sitznngsb.  d.  Berl.  Ak.  1887  II  S.  807. 

56)  Vgl  die  Aseensio  lesaiae  (A.  53)  S.  2.  Einen  Stoss  erfährt  also  das  ver- 
meintliche Sondergesetz  des  Papyruskodex  (Abwechslung  von  Rekto  und  Verso). 
Vergl.  ausser  meinen  Notizen  zur  Heidelberger  LXX — Ausg.  S.  3  m.  A.  5  W.  Weinberger, 
Bnrsians  Jahresb.  106  (1900  III)  S.  184.    S.  auch  Dziatzko,  Unters.  S.  144  A.  1. 

57)  W.  Weinberger,  Zeitechr.  f.  öst.  G.  52  (1901)  S.  41.  GrQndlich  widerlegt 
haben  die  Funde  jedenfalls  die  schon  in  Dziatzkos  Unters.  (S.  143)  vermiedene 
Ansicht  (Kenyon,  Palaeogr.  S.  24  f.,  W.  Grönert,  Denkschr.  S.  4)  von  des  Papyruskodex 
später  Entstehung  und  geringer  Verbreitung.  Vgl.  Grenfell  und  Hunt,  P.  Oxy.  II 
S.2f. 

58)  8.  III/IV  Hsg.  von  ü.  Wilcken  a.  a.  0.  (A.  55.  52)  S.  816  ff.  vgl.  809. 

59)  Hsg.  von  K.  Wessely,  Mitt  P.  R.  II/III  (1887)  S.  76  ff.,  bei  Haeberlin 
S.  274  Nr.  71. 

60)  Grenf.  U  (1897)  111  S.  161  Z.  27  f.  ßißiia  depndrt{va)  xa  \  ofxoi(a}Q) 
'/apxia  y.  Vgl.  Haeberlin,  G.  B.  14  (1897)  S.  475  f.  Nr.  175,  Dziatzko,  Unters.  8.  137 
A.  1,  Delssmann,  Heidelb.  LXX  S.  7  A.  3. 

61)  Es  neigt  dazu  Dziatzko,  Unters.  S.  128.  143.  153,  der  sich  (S.  128)  auch 
aber  die  technische  Zusammensetzung  der  Papyrusdoppelblätter  und  die  dadurch 
ermöglichten  Buchformate  nicht  klar  ist.  Vgl.  meine  Bemerkungen  (A.  50)  S.  4 f. 
Über  Foliohandschriften  auf  Papyrus  s.  W.  Grönert,  Beil.  z.  Allg.  Ztg.  1903  Nr.  44 
(24.  Febr.)  S.  351  f.  -~  Fflr  die  allgemeine  Frage  nach  den  Schreibmaterialien  dürf- 
ten unsre  Notizen  zum  Chartakodex  genugsam  erwiesen  haben,  dass  Kenyons 
(Palaegr.  Kap.  VI  iht  transüion  to  vellutn,  vgl.  dazu  U.  Wilcken,  Archiv  I  S.  370) 
Vorstellung,  seit  dem  vierten  Jahrhundert  sei  für  litterarischc  Zwecke  der  Papyrus 
fast  ausnahmslos  und  mit  einem  Schlag  dem  Pergamente  gewichen,  etwas  zu  weit 
ging.  Diesem  Urteil  mangelt  m.  E.  eine  rechte  Schätzung  des  Wertverhältnisses 
beider  Stoffe  (vgl.  A.  6.  19).  Was  Kenyon  (S.  25.  119)  bloss  den  Kopten  einräumen 
wollte,  gilt  in  Wahrheit  nicht  allein  von  allen  christlichen  Werken,  sondern  in  ent- 
sprechendem Massstab  auch  von  der  klassischen  Litteratur  —  in  andern  Gegenden 
(vgl.  Birt,  Bnchw.  S.  121  ff.)  sowohl  als  besonders  in  Ägypten. 

62)  Vgl.  K.  Zangemeister's  Bearbeitung  der  Wachstafeln  aus  SiebenbQrgen 
(CIL  III  2)  und  Pompeji  (IV  Suppl.  1).  Für  griechische  Ilolztafeln  aller  Art  s.  die 
Angaben  von  W.  Weinbergor,  Burs.  Jahresb.  98  (1898  III)  S.  191  und  106  (1900  III) 
S.  182. 

12* 


1 76  0.  A.  Gerhard  und  0.  Gradenwitz 

63)  Vgl.  W.  Crönert's  und  C.  Schmidt's  regelmässige  Berichte  im  ArcB?  far 
Papyrusf.  C.  Hacberlin's  ^Griechische  Papyri',  C.  B.  14  (1897)  S.  6  und  M.  Ihm'a 
'Lateinische  Papyri',  C.  B.  16  (1899)  S.  341—357  (vgl.  z.  B.  S.  348  A.  3)  hatten  die 
Pergamente  leider  noch  beiseite  gelassen. 

64)  Vgl.  Schwarz  S.  155  ff.  (IV  13),  Wattenbach  »  S.  176  ff. 

65)  Ungegründet  ist  hier  (XIV  184)  Haeberlins  Annahme  von  der  Verteilung 
des  Homer  auf  zwei  Bände:  C.  B.  VI  (1889)  S.  482  m.  A.  3. 

66)  Hsg.  von  C.  Wessely,  Hesiodi  carminum  fragmenta  antiquissima,  Stud. 
z.  Palaeogr.  u.  Papyrusk.  I  (1901)  S.  III  ff.  W.  Crönert,  Archiv  f.  Papyrusf.  II  (1903) 
S.  347  spricht  irrtümlich  von  einem  Pergamentbuch. 

67)  Vgl.  Birt,  Buchw.  S.  117  m.  A.  6,  Zahn,  Gesch  d.  n.  K.  1  S.  62  f.  m.  A  1. 

68)  S.  Birt  S.  122  f.  A.  1,  Zahn  I  S.  75  A.  2. 

69)  Zahn  a.  a.  0.  wird  dem  Kodex  als  biblischem  Einzelbuch  nicht  gerecht, 
vgl.  oben  A.  40.  Die  zu  seiner  Anerkennung^  nötigenden  Zeugnisse  schwächt  er  ab.  So 
meint  er  z.  B.  bezüglich  des  vor  250  von  den  heiligen  Handschriften  üblichen  Ter- 
minus fi)^TiYpa(pa  S.  69  A.  2 :  'Es  hat  nichts  zu  bedeuten,  wenn  der  Ausdruck  oft 
so  lautet,  als  ob  die  'Abschriften'  nur  je  ein  biblisches  Buch  umfassten'  etc.  — 
Wer  vom  Ausseren  der  frühen  altchristlichen  Bücher  ein  Bild  gewinnen  will,  rauss 
in  Zukunft  auch  mit  der  Kodexform  rechnen  als  wichtigem  Faktor  neben  den  Fragen 
des  Stoffes  und  der  Schrift.  Der  letzteren  Bedeutung  für  die  Textgeschichte  hat  be- 
reits Kenyon  gelegentlich  (Palaeogr.  S.  92  f.)  gewürdigt.  Seine  neueste  interessante 
Arbeit  über  den  Gegenstand  (Handbook  to  the  textual  criticism  of  the  New  Testa- 
ment 1901,  vgl.  S.  de  Ricci,  Revue  des  et.  gr.  XV  1902  S.  422)  ist  mir  leider  nicht 
erreichbar.  —  Erwähnung  verdiente  noch  ein  naheliegendes  Problem.  Welche  Stel- 
lung nahm  das  altchristliche  Bachwesen  zum  jüdischen  ein  P  Eine  überraschende 
Antwort  darauf  gicbt  Ludwig  Blau  in  seinen  anregenden  'Studien  z.  althebr.  Buch- 
wesen und  zur  bibl.  Litteraturgeschichte'  (25.  Jahresb.  der  Landesrabbinerschule  in 
Budapest,  1902).  Wie  er  selbst  auf  klassischem  Gebiet  die  Scheidung  der  Gruppen 
'Rolle— Papyrus'  und  'Kodex — Pergament'  beanstandet  (S.38  f.  43)  und  den  griechisch- 
römischen Gebrauch  des  letzteren  Stoffes  auf  orientalisches  Master  zurückführen 
möchte  (S.  82  f.),  so  behauptet  er  solchen  Einfluss  besonders  nachdrücklich  für  die 
Volumina  der  Christen  (8.  43  ff.).  Aus  Pergament  und  jüdisch,  nicht,  wie  man 
glaubt,  aus  Papyrus  und  griechisch  sollen  die  Rollen  sein,  die  sich  auf  christlichen 
Darstellungen  finden.  Schon  unsere  Nachweise  über  den  unjüdischen  christlichen 
Kodex  hätten  die  Hypothese  widerlegt.  Man  kann  sich  aber  auch  diurch  allgemeine 
Erwägungen  von  ihrer  Unhaltbarkeit  überzeugen.  Der  Charakter  des  hebräischen 
und  der  des  urchristlichen  Schrifttums  sind  grundverschieden.  Dort  haben  wir  einen 
in  konservativer  Heiligung  erstarrten  Kanon  mit  übertriebener  Betonung  des  for- 
mellen Moments  und  peinlich  minutiöser  Regelung  von  Buchtechnik  und  Schrift, 
hier  aus  der  Fülle  intensiven  innerlich  religiösen  Lebens  quellende  und  zunc'&chst 
nur  fürs  praktische  Bedürfnis  der  Gegenwart  berechnete,  zwang-  und  anspruchslose 
Aufzeichnungen,  die  aufs  Äussere  keinen  Wert  legen  und  sich  mit  dem  bescheiden- 
sten Gewände  begnügen.  Für  sie  erschienen  einzig  passend  die  billigen  und  beque- 
men Bücher  der  hellenistisch-römischen  Welt,  in  deren  Mitte  der  neue  Glaube  em- 
porwuchs. Zu  einer  Nachahmung  des  schwerfälligen  mosaischen  Lederrollensystcms 
bestand  in  den  Anfängen  des  Christentums  so  wenig  ein  Anlass  wie  später,  wo  das 
'neue  Testament'  selber  der  Kanonisierung  verfiel.  Griechisch  sind  also  die  chariae 
der  christlichen  Bilder  und  übernommen  von  griechischer  Kunst.  Die  Rolle  ward 
darin  sicher  auch  dann  noch  geraume  Zeit  beibehalten,  als  daneben  die  Faltform 
thatsachlich  bereits  festen  Boden  gewonnen  hatte. 


£iD  neuer  juristischer  Papyrus  der  Heidelberger  Universitätsbibliothek     177 

70)  Vgl.  Schwarz  S.  166  ff.  (IV  17),  Geraud  8.  138  f.,  Wattenbach  S.  386  ff.  62, 
s.  auch  Dziatzko,  Unters.  S.  109  A.  2. 

71)  Vgl.  Schwarz  S.  155  (IV  12),  Geraud  S.  141  f.  S.  auch  z.  B.  Dziatzko, 
Unters.  S.  127  f.  129  A.  1,  Birt,  C.  B.  17  (1900)  S.  561  A.  1. 

72)  Bemerkt  und  durch  Sammlung  der  Beispiele  aufgezeigt  von  W.  Stude- 
mund,  Ausg.  von  Seneca,  Quomodo  amicitia  continenda  sit  und  De  vita  patris 
vor  0.  Rossbach,  l)e  Senecae  philos.  libr,  rec.  et  «w.,  Bresl.  phil.  Abb.  II  3  (1888) 
S.  VI  ff.  A.    Vgl.  Blass,  Handb.  I  *  S.  325  und  Dziatzko,  Unters.  S.  200  f. 

73)  Vergl.  W.  Wattenbach,  Über  die  Hamiltonsche  Evangelienhandschrift, 
Sitzungsb.  d.  Berl.  Ak.  1889  I  S.  143—156  bes.  S.  146. 

74)  Dziatzko,  Unters.  S.  200;  ähnlich  schon  Wattenbach  (A.  73)  S.  146. 

75  9.  III  Oxy.  I  30  (Historischer  Pergamentkodei,  s.  oben  S.  145)  mit  pl.  VIII, 
darnach  Wcss.  Taf.  XX  Nr.  48.    Vgl.  Dziatzko,  Unters.  S.  200. 

76)  s.  I  Die  Genfer  Ärchives  militaires  (1900),  ca.  143  Wess.  Taf.  V  Nr.  9 
(Wiener  Soldatenmatrikel),  a.  156  Wess.  Taf.  III  Nr.  6  (Berliner  Soldatenmatrikel), 
8.  ni  Wess.  Taf.  XVI  Nr.  23  (vgl.  A.  77). 

77)  Als  ter minus  ante  quem  galt  meist  das  Jahr  494  nach  der  subscriptio 
des  Codex  Mediceus  (Laur.  39,  1),  Faksimile:  Z(angemeister  u.)  W(attenbach), 
Exempla  T.  10,  Palaeographical  Society  I  86,  darnach  Wess.  Taf.  XVII  Nr.  38, 
vgl.  Thompson,  Palaeogr.  S.  188  f.  Besonders  lehrreich  für  die  Schwierigkeit  der 
chronologischen  Fixierung  ist  ein  audrer  der  alten  Kapital virgile,  der  sogenannte 
Codex  Romanus  (Vatic.  3867).  Faksimile:  Z.-W.  11,  Pal.  See.  I  113,  darnach  Wess. 
Taf.  XV  Nr.  34,  jetzt:  Codices  e  Vaticanis  selecti  phototypice  expr.  iussu  Lemm 
PF.  XIII,  Vol.  II  Picturae  ornamenta  complura  scripturae  sjtecimina  codicis 
Vat.  356*7  etc.  phototypice  expr.  consilio  et  ojjera  curatorum  biblioth.  Vatic.  Rom 
1902.  Nach  den  schwankenden  Urteilen  der  P'rühcren  (vgl.  Dziatzko,  Unters. 
S.  181  f.  189  A.  5)  hatte  ihn  C.  Wessely  noch  1901  ('Über  das  Alter  der  lateinischen 
Kapitalschr.  i.  d.  Fragm.  Nr.  23  der  Schrifttaf.'  etc. :  Stud.  z.  Palaeogr.  und  Papy- 
rusk.  I  S.  I  f.)  auf  Grund  jener  mit  griechischer  Kursive  vom  Endo  des  dritten 
Jahrhunderts  zusammenstehenden  Papyruskapitale  (Tafel  XVI  Nr.  23  vgl.  A.  76) 
unter  'Lösung  der  Streitfrage  um  das  Alter  der  eckigen  Majuskelschrift'  früh  (s.  III 
— IV)  ansetzen  zu  dürfen  geglaubt.  Inzwischen  aber  wurde  er  von  L.  Traube,  Das 
Alter  des  Codex  Romanus  des  Virgil  (Strena  Ilelbigiana  1900  S.  307 — 314)  wegen 
gewisser  Abkürzungen  (Kontraktionen)  fürs  sechste  Jahrhundert  in  Anspruch  ge- 
nonamen.  Die  römischen  Herausgeber  der  phototypischen  Reproduktion  (s.  o.,  praef. 
S.  lll  f.)  gingen  wieder  gerne  um  ein  Jahrhundert  weiter  zurück. 

78)  Cod.  Vatic.  3225  s.  IV/V.  Faksimile:  Z.-W.  13,  Pal.  Soc.  I  116  f.,  darnach 
Wess.  Taf.  XVI  Nr.  86.  Neue  vollständige  Faksimilierung :  vol.  I  (Rom  1899)  der 
eben  (A.  77)  erw&hnten  päpstlichen  Serie. 

79)  Vollzogen  ist  der  Wandel  schon  in  dem  Brieffragment  vom  J.  167  bei 
Grenfell  II  108  S.  157  f.  m.  pl.  V  (darnach  Wess.  Taf.  V  Nr.  10).  Vereinzelt  er- 
scheint die  neue  Form  auch  in  dem  Soldatenbrief  des  zweiten  Jahrhunderts  Oxy.  I 
32  S.  61  f.  mit  pl.  VHI  (darnach  Wess.  Taf.  XX  Nr.  50),  durchweg  a.  293  Grenf.  II 
110  S.  159  f.  (Quittung)  mit  pl.  V.  Über  ihr  Vorkommen  auf  den  Wachstafeln  vgl. 
Zangemeister,  CIL  III  S.  965.  Im  Kampfe  liegen  beide  Charaktere  noch  in  dem  in- 
schriftlichen Diokletianedikt  vom  J.  301  (Pal.  Soc.  II  127,  darnach  Wess.  Taf.  VI 
Nr.  13).  Den  älteren  bieten  im  dritten  Jahrhundert  auch  die  bereits  zitierten  Stücke 
Oxy.  I  30  [Historiker,  Kapitale  mit  unzialen  (kursiven)  Elementen,  s.  A.  75]  und 
Fay.  X  [mandatum  Traiani,  Kursive,  s.  A.  3]. 

80)  Some  observations  and  ex^ieriments  on  the  papyri  found  in  the  ruins  of 
Herculaneum.    Philosophical  Transactions  1821  S.  191—208  mit  pl.  XIII.  XVI.  XVII. 


178  6*  A.  Gerhard  und  0.  Gradenwitz 

XVlIIa  =  pl.  III.  VI.  VII.  Villa  bei  Edward  Edwards,  Memoirs  of  libraries  I 
(Lood.  1859)  zu  S.  72.  Vgl.  Zangemeister,  enarratio  zu  Taf.  III  der  Ezempla  S.  1, 
Watteobach  a.  a.  0.  (A.  73)  S.  146. 

81)  Rnstike  Kapitale:  Davy  XVI,  Z.-W.  1.  2a.  3  (BtUum  Actiacum,  vgl. 
jetzt  die  nach  Hayters  Stichen  gefertigten  besseren  Tafeln  A — U  bei  W.  Scott, 
Fragm.  Herculancnsia,  Oxf.  1885)  —  Somikursive:  Davy  Xllf.  XVII a,  Z.-W. 
2b.  Davy  XVIIc  —  Kursive:  Davy  XVIII a.  XVIIb,  Fay.  X. 

82)  Dieses  zeigt  beispielsweise  auch  der  Turiner  Codex  Theodosianua  Nr.  X 
bei  Studemund  (A.  72). 

83)  Begegnend  auch  in  den  oben  (Nr.  11)  erwähnten  Frafftnenta  Sinaitica. 

84)  Vgl.  Thompson,  Palaeogr.  S.  199  f. 

85)  8.  V  Oxy.  I  31.    Faksimile:  pl.  VIII,  darnach  Wessely  Taf.  XX  Nr.  49. 

86)  Z.-W.  Suppl.  54.  Vgl.  Thompson,  Palaeogr.  S.  199,  Mommsen,  grosse  Di- 
gestenausgabe  I  praef.  S.  XX VII. 

87)  Faks.:  Pal.  Soc.  II  130,  darnach  Probe  bei  Wess.  Taf.  XX  Nr.  46  (durch 
ein  Versehen  mit  45  bezeichnet). 

88)  Erschöpfende  Aufzählung  bei  Studemund  (A.  72). 

89)  Z.-W.  24,  bei  Wessely  Taf.  XIX  Nr.  40. 

90)  Taf.  1  in  Band  II  der  Mommsenschen  Dig.  —  Bis  Buch  XIII  (1.  7)  reicht 
bereits  die  neue  italienische  Lichtdrnckausgabe  der  Handschrift:  lustiniani  Au- 
gusti  Digestorum  seu  Pandectarum  cod.  Hör,  olim  Pisanua  phototypice  expr. 
Vol.  I  fasc.  I.  II.  A  cura  ddla  commissione  miniateriak  per  la  riproduzione  deüe 
Pandette.    Roma  1902. 

91)  Pal.  Soc.  II  108,  darnach  Wessely  Taf.  XVIII  Nr.  39. 

92)  Als  kursive  8  fasse  ich  jetzt  lieber  die  Buchstabenreste  am  Ende  von 
Z.  27  und  28  der  Vorderseite. 

93)  Vgl.  Mommsen,  Dig.  I  praef.  S.  LXXXXII. 

94)  Über  die  Zeilenlänge  in  juristischen  Handschriften  vergl.  P.  Krflger's  Za- 
sammenstellungen,  Sav.-Z.  VIII  1887  R.  A.  S.  83  f. 

95)  Vgl.  die  ülpianstelle  oben,  [ex  bonis  patris  intestoH  mortjui  ?  Gradenwits. 

96)  Auch  vom  zweiten  a  ist  der  untere  Schlusspunkt  erkennbar. 

97)  Vgl.  z.  B.  Dig.  XIX  1.  13  pr.  (Ulpian)  ait  enim  (lulianua),  qui  pecus 
morboaum  aut  tignum  vitioaum  vendidit,  ai  quidetn  ignorana  fecU,  id  tatUum . . 
praeataturwn  etc.,  ai  vero  aciena  reticuit  et  emptorem  deeepü,  omnia  detrimenta 
.  . .  praeataturum  ei. 

98)  Vgl.  z.  B.  Dig.  XXXVI  1.  59  §  1  (Papinianus)  fidei  ßiarum  meorum 
cofumiUo,  ut,  ai  quia  eorum  aine  liberia  prior  dient  auum  obierit,  partem  auam 
auperatUi  fratri  reatüuat,  quod  ai  uterque  aine  liberia  dient  auum  obierit,  omnem 
hereditatent  ad  nepiem  nteam  Claudiam  pervenire  volo, 

99)  Vgl.  etwa  Dig.  XXXI  77  §  32  (Papinianus)  A  te  peto,  marUe,  ai  quid 
liberorum  häbueria,  iüia  praedia  relinquaa,  vel,  ai  non  habueria,  tuia  aive  weis 
propinquia  aut  etiam  libertia  noatria, 

100)  A.  a.  0.  (A.  72)  S.  VIII  A.  g.  E. 

101)  Notae  Papianae  et  Einsidlenses  in   Tb.  Mommsen's   Notarum  latercuU, 

Keils  Grammatici  Lat,  IV  (1864)  S.  327  q  48  —  qs :  Notae  Magnonianae  S.  298  q  11. 

102)  Notae  Vaticanae  S.  312  q  5. 

103)  Notae  Lindenbrogianae  S.  298  q  10. 

104)  Notae  Lugdunenses  S.  280  q  1,  Notae  Vaticanae  S.  312  q  33,  Studemunds 
Gaius  (1874)  S.  292,  Mommsens  Fragmenta  Vaiticana  (Abb.  Berl.  Ak.  1859)  S.  387. 

105)  Jßleich  qui  nur  Notae  Einsidlenses  S.  327  q  47. 

106)  q  •  =  qui  allein  Notae  Magnonianae  S.  298  q  14. 

107)  Als  qui  nur  im  Berl.  Papinian  (s.o.S.154),  Monatsb.  Berl.  Ak.  1879  S.  515. 


Ein  Deuer  juristischer  Papyrus  der  Heidelberger  Universitätsbibliothek     179 


II.  Juristische  Bemerkungen  von  Gradenwitz. 

Das  vorstehend  entzifferte  und  behandelte  Fragnaent  spricht  von 
einer  quarta.  Das  Viertel  spielt  im  römischen  Erbrecht  eine  Rolle  in 
mehrfacher  Hinsicht,  es  ist  ein  Bruchteil,  welcher  der  freien  Verfügung 
des  Testators  entzogen  und  einem  Berechtigten  reserviert  ist: 

1.  Als  quarta  Falcidia:  Der  Erblasser,  dem  mehrere  Personen 
teuer  sind,  kann  nicht  nur  mehrere  Erben  auf  Bruchteile  einsetzen ;  er 
kann  auch  einen  auswählen,  der  Vollerbe  sein  und  den  Anderen,  dem 
Testator  nahestehenden,  als  Vermächtnisnehmern,  Wertobjekto  aus  der 
Erbschaft  ausfolgen  soll.  Dann  ist  mit  den  Vermächtnissen  der  Erbe 
beschwert,  der  Vermächtnisnehmer  bedacht.  Wird  die  Erbschaft  durch 
die  Vermächtnisse  ganz  ausgeschöpft,  so  dass  für  den  Erben  nichts 
bleibt,  so  ist  das  ein  Missbrauch,  der  zur  Folge  haben  wird,  dass  der 
eingesetzte  Erbe  die  Erbschaft  ausschlägt,  und  es  tritt  dann  der  nächst- 
berufene, eventuell  der  Intestaterbe  an  dessen  Stelle.  Dabei  kann  das 
Becht  verschieden  reagieren:  unser  B.6.B.  fasst  die  Vermächtnisse  als 
eine  dem  Erben  als  solchem  obliegende  Last  und  verpflichtet  jeden 
(auch  den  Intestat-  oder,  wie  es  ihn  nennt,  gesetzlichen  Erben)  die 
Vermächtnisse  zu  tragen.  Das  römische  Becht  fasst  die  Vermächtnisse 
als  nur  zu  Lasten  des  Eingesetzten  bestehend  auf  (a  scripto  herede  = 
von  ihm  weg,  legatur),  und  lässt  in  Folge  dessen  die  Vermächtnisse 
ausfallen,  wenn  der  eingesetzte  Erbe  ausschlägt  und  das  Testament  zum 
testamentum  destüututn  wird.  Es  entsteht  daher  für  das  römische  Becht 
eine  Schwierigkeit,  die  dem  heutigen  fremd  ist:  wenn  der  Erbe  schier 
die  ganze  Erbschaft  an  Vermächtnisnehmer  weitergeben  soll  und  also 
auf  die  Bolle  eines  Testamentsvollstreckers  herabgedrückt  wird,  so  wird 
er  in  den  meisten  Fällen  die  Erbschaft  ablehnen :  dann  aber  fallen  nach 
römischem  Becht  auch  die  Legate  fort,  und  die  übergrosse  Sorge  für 
die  Vermächtnisnehmer  schafft  das  Gegenteil  des  Erstrebten.  Gegen  diese 
Gefahr  hat  das  römische  Becht  nach  zwei,  uns  von  Gaius  II  224  ff. 
überlieferten  Anläufen  eine  Sicherung  darin  gefunden,  dass  die  Lex 
Falcidia  (tit.  D.  35,  2,  vgl.  Z.  4  d.  Textes)  dem  Erben  das  Becht  gab, 
unter  allen  Umständen  ein  Viertel  seines  Erbteils  für  sich  zu  behalten, 
und  also  die  Legate  nötigenfalls  verhältnismässig  zu  kürzen.  Wenn  der 
Testator  1000  im  Vermögen  hatte  und  950  (etwa  570  +  380)  an  Ver- 
mächtnisnehmer vergab,  so  behielt  der  Erbe  250  für  sich  und  zahlte 
nur  750  (450  +  300)  aus. 


180  G-  A.  Gerhard  und  0.  Gradenwitz 

Diese  Bestimmung  der  Lex  Falcidia^)  vom  Jahre  40  vor  Christus, 
iu  der  Durchführung  eine  der  schwierigsten  des  Privatrechtes,  war  noch 
im  gemeinen  Kecht  in  Geltung.  Das  B.G.  B.  hat  einen  solchen  Salz 
nicht,  denn  es  braucht  ihn  nicht,  weil  es,  wie  oben  angeführt,  die  Ver- 
mächtnisse als  im  Zweifel  jedem  Erben,  auch  dem  gesetzlichen,  auferlegt 
ansieht.  *) 

2.  Die  Quart  blieb  den  Kömern  als  geeignete  Belastungsgrenze  im 
Sinne:  Kaiser  Antoninus  Pius  gestattete  es,  auch  Unmündige  zu  adro- 
gieren,  was  bis  dahin  wegen  der  Gefahr  für  des  adrogandus  Person  und 
Vermögen  nicht  zugelassen  wurde.  Da  umgab  er  diese  adrogatio  mit 
Sicherungen,  und  zu  diesen  gehörte,  dass  der  adrogandus  einen  unent- 
ziehbaren  Anspruch  auf  den  vierten  Teil  des  Vermögens  des  adrogator 
haben  solle,  wenn  dieser  stürbe,  bevor  der  adrogatus  das  Alter  der 
Mündigkeit  erreicht  habe:  quarta  divi  Pii:  die  quarta  ist  die  Grenze, 
bis  zu  der  die  freie  Verfügung  des  adrogator  reicht. 

3.  Als  die  Centumvirn  ein  Testament  für  lieblos  und  anfechtbar 
erklärten,  das  den  Nächsten  nicht  einen  Teil  des  Vermögens  liess, 
wählten  sie  als  Teil  die  quarta,  und  erst  Justinian  hat  diese  quarta 
erhöht  auf  V«  bezw.  Va- 

Für  unsern  Papyrus  scheint  auf  den  ersten  Blick  die  quarta  Fol- 
cidia  in  Betracht  zu  kommen,  deren  Ergänzung  Aufgabe  des  Richters 
ist:  allein  schon  das  könnte  nur  durch  die  Einzelheiten  eines  Rechts- 
falles erklärt  werden,  dass  gerade  der  Sohn  es  ist,  der,  wenn  er  minus 
quarta  erhalten,  zur  Quart  aufzubessern  sein  soll,  und  es  zeigt  auch  die 
Übertragung  auf  die  Enkel  und  Urenkel,  dass  hier  ein  besonderes  Familien- 
erbrecht, nicht  aber  das  allgemeine  Recht  eines  heres  in  Frage  kommt.  Die 
quarta  divi  Pii  ist  aber  nicht  nur  dadurch  hier  unwahrscheinlich,  dass 
von  Enkeln  die  Rede,  da  doch  der  adrogatusy  um  die  quarta  zu  bean- 
spruchen, vor  der  Geschlechtsreife  den  pater  adrogator  verloren  haben 
muss,  sondern  es  würde  auch  wohl  vom  adrogatus,  nicht  lediglich  vom 
filiusj  nepos  u.  s.  f.  die  Rede  sein,  wenn  dieser  Fall  in  Frage  käme. 

Somit  bleibt  für  unsern  Papyrus  nur  die  Annahme,  dass  er  ein 
Bruchstück  aus  einer  Erörterung  über   die  quarta  des  inoffiziösen  Te- 


1)  Abwandhmgen  der  quarta  Falcidia  bei  Uoiversalfideikommissen  bietet 
Paul.  IV  2.  3. 

2)  §  2161 :  Ein  VermächtDis  bleibt,  sofern  nicht  ein  anderer  Wille  des  Erb- 
lassers anzunehmen  ist,  wirksam,  wenn  der  Beschwerte  nicht  Erbe  oder  Vermächt- 
nisnehmer wird.  Beschwert  ist  in  diesem  Falle  derjenige,  welchem  der  Wegfall  des 
zunächst  iJeschwerten  unmittelbar  zu  statten  kommt. 


Ein  neuer  juristischer  Papyrus  der  Heidelberger  Universitätsbibliothek     181 

staments  bietet,  und  es  mag*  hervorgehoben  werden,  dass  die  beiden 
Heidelberger  Stöcke,  die  Paulusreste  (P.  Heid.  1272)  und  unser  Frag- 
ment, von  demselben  Bechtsinstitut  handeln. 

Der  kleine  Ausschnitt  zeriallt  sachlich  in  zwei  Teile,  deren  erster 
sich  mit  der  Frage  beschäftigt,  wie  es  zu  halten  sei,  wenn  der  Sohn 
zu  wenig  bekommen  hat,  der  zweite  überträgt  die  Bechte  des  wegge- 
fallenen Sohnes  auf  den  Enkel  oder  Urenkel  nach  dem  Bechte  der  sog. 
successio  in  stirpes.   Wie  wenig  auch  leider  die  Lesung  vollständig  und 

lückenlos  sein  kann,  so  genügen  doch  die  drei  Worte  minus,  suppl , 

filius,  um  uns  erkennen  zu  lassen,  dass  hier  einem  Sohne  etwas,  aber 
nicht  genügend  hinterlassen  ist,  und  dass  er  einen  Anspruch  zu  haben 
scheint  auf  Ergänzung  bis  zur  Höhe  der  Quart. 

Nun  ist  uns  folgendes  durch  Justinian  überliefert:  1.  In  Nov.  18c.  1. 
hat  er  den  Pflichtteil  von  V4  ^^^  Intestatportion  auf  V31  bezw.  Va  er- 
höht. ^)  Da  unser  Stück  von  einer  quarta  spricht,  so  muss  es  zeitlich 
früher  sein,  als  Justinians  Novelle.  2.  In  C.  3,  28,  30  sagt  er,  die 
Vorzeit  habe  auch  dann  auf  Vernichtung  des  Testaments  erkannt,  wenn 
einem  Pflichtteilsberechtigten  wohl  etwas,  aber  nicht  der  ganze  Pflicht- 
teil ^hinterlassen  sei.  Nur  wer  ausdrücklich  in  seinem  Testament  Er- 
gänzungen bis  zur  Höhe  des  Pflichtteils  vorschrieb,  habe  sich  salviert. 
Er,  Justinian,  erklärt  diese  ausdrückliche  Klausel  für  überflüssig,  viel- 
mehr solle  allemal  angenommen  werden,  wer  etwas  hinterlasse,  wünsche, 
dass  es  event.  bis  zum  Betrage  des  Pflichtteils  ergänzt  werde.  Mit 
diesem  Bericht  Justinians  wurde  schwer  vereinbart  die  Stelle  Paul.  sent. 
IV  5,  7,*)  welche  bei  unbefangener  Betrachtung  kaum  eine  andere 
Deutung  zulässt,  als  dass,  mindestens  schon  zur  Zeit  der  Lex  Romana 
Visigothorum,  die  gleiche  Begel  galt;  ja,  die  Fassung  dieser  Stelle  und 
die  Bezugnahme  auf  die  Erbteilungsklage  machen  es  wahrscheinlich, 
dass  sie,  unverfälschter  Paulus,  das  Becht  der  Severischen  Zeit  wider- 
spiegelt. Nun  ist  unser  Fragment  in  seinem  ersten  Teil  geradezu  eine 
Parallelstelle  zu  der  zitierten  Paulusstelle,  und  man  wird  nicht  mehr 
zweifeln  dürfen,  dass  der  Bechtssatz,  dessen  Erfindung  Justinian  sich 
zuschreibt,  schon  von  länger  her  datiert.  Dies  muss  im  allgemeinen 
den  Kredit  von  Justinians  derartigen  Äusserungen  mindern.  Es  ist  für 
die  Kontinuität  und  stetige  Entwickelung  des  Bechts  eine  erfreuliche 


1)  Auch  im  B.G.B.  beträgt  der  Pflichtteil  'ji. 

2)  Filius  iudicio  patris  si  minus  quarta  portione  consecutus  sit,  ut  quarta 
sibi  a  coheredibus  citra  inofficiosi  quereüam  impleatur^  iure  desiderat. 


I 

■  I 

182  C}.  A.  Gerhard  und  0.  Gradenwitz 

Erscheinung,  wenn  die  Zahl  der  Neueningen,  die  wir  noch  Justinian 
zuschreiben,  sich  in  etwas  verringert.  Zu  Gute  kommen  muss  dies  im 
Allgemeinen  der  nachklassischen  Praxis,  Justinian  wird,  was  sich  bei 
den  Klassikern  noch  nicht  fand,  einfach  als  seine  That  auszugeben  sich 
für  berechtigt  gehalten  haben.  Jedenfalls  ist  der  Sinn  des  ersten  Teils 
unserer  Stelle  der:  Wenn  der  Sohn  weniger  als  den  vierten  Teil  seiner 
Intestatportion  bekommen  hat,  so  ist  dies  zu  ergänzen  bis  zum  Betrage 
der  quarta.  Man  kann  für  das  Formelle  vergleichen:  D.  5,  2,  8,  6: 
quartam  partem  eius  quod  ad  eum  esset  perventurum,  si  intestatus  pater 
familias  decessisset;  den  Versuch  wörtlicher  Restitution  wage  ich  nicht. 
Die  Erörterung  geht  sodann  über  auf  den  Fall,  wo  nicht  Söhne, 
sondern  Enkel  oder  Urenkel  vorhanden  sind,  und  das  Pflichtteilsrecht 
nicht  dem  Vater,  sondern  dem  Qrossvater  bezw.  Urgrossvater  gegen- 
über in  Frage  kommt.  Es  ist  klar,  dass  in  diesem  Falle  mehrere  Enkel 
zusammen  nur  soviel  beanspruchen  können,  wie  ihr  weggefallener  Vat«r, 
der  Sohn  des  Testators,  für  sich  allein  gehabt  hätte,  und  die  Worte 
pro  portione  der  vorletzten  Zeile  scheinen  auf  dieses  Verhältnis  hinzu- 
deuten, obwohl  der  Singular  nepoti  vel  pronepoti  Bedenken  erregt. 
Man  kann  zum  Vergleiche  heranziehen  D.  5,  4,  6,  pr. :  Sorori,  quam 
coheredein  fratribus  quattuor  in  bonis  matris  esse  placuit^  quinta  portio 
pro  portionibus  quae  ad  eos  pcrtinuit  cedet,  ita  ut  singnli  in  quarta^ 
quam  antehac  habere  credebantur,  non  amplius  ei  quintam  conferant  und 
allgemeiner:  Paul,  IV  5,  6:  Qnartae  j^orfioius portio  liberis  .  .praestanda 
est.  Hiernach  würde  in  der  zweiten  Hälfte  unseres  Fragments  die  That- 
Sache  erläutert  sein,  dass  Enkel  und  Urenkel  nach  dem  sogen.  Bepräsen- 
tationsrecht  in  die  Quart  des  einzigen  Sohnes  succedieren.  So  aufge- 
fasst,  ist  die  Äusserung  klar,  aber  nüchtern;  will  man  einen  feineren 
Fall  destillieren,  so  könnte  man  an  den  von  Justinian  in  C.  3,  28, 34  behan- 
delten denken:  ein  Vater  enterbt  den  Sohn,  übergeht  dessen  Sohn  und 
setzt  einen  Fremden  ein.  Wenn  nun  der  enterbte  Sohn  nach  dem  Vater 
stirbt,  aber  bevor  der  eingesetzte  Fremderbe  sich  entschieden  und  dem 
enterbten  Sohn  die  Möglichkeit  gegeben  hat,  seinerseits  die  Quart  an- 
zustellen oder  wenigstens  vorzubereiten,  so  ist,  streng  genommen,  der 
Enkel  übel  dran;  denn  das  Kecht  auf  die  Quart  vererbt  sich  nicht. 
Wäre  der  Sohn  vor  dem  Vater  gestorben,  so  hätte  der  Enkel  die  Quart 
aus  eigenem  Kecht.  Wie  die  Dinge  in  diesem  Fall  liegen,  hat  der 
Enkel  die  Klage  nicht  aus  der  Person  des  Vaters,  denn  sie  vererbt  sich 
nicht,  und  nicht  aus  eigenem  Recht,  denn  da  hatte  sie  der  Vater. 
Diesem  Zustand  hat  Justinian  ein  Ende  gemacht,  indem  er  die  querelb 


Ein  neuer  juristischer  Papyrus  der  Heidelberger  Universitätsbibliothek     183 

dem  Enkel  auch  fär  diesen  Fall  gewährt,  so  wie  sie  dem  Vater  zustand. 
Es  wird  aber  schwer  sein,  die  vorhandenen  Reste  mit  diesem  kompli- 
zierten Thatbestande  zu  füllen,  und  es  scheint,  dass  nichts  andres  ent- 
halten war,  als  die  Ergänzung  einer  allzu  schmalen  Portion  für  den 
Sohn  zur  Quart  und  die  Feststellung  der  Thatsache,  dass  Enkel  und 
Urenkel  auch  ihrerseits  im  Verhältnis  ihrer  Intestatportion  an  dem 
benefidum  der  Quart  teilnehmen. 

Unser  Fragment  ist  anderweitig  nicht  erhalten,  soweit  ich  habe 
nachforschen  können.  Was  die  Zeit  der  Entstehung  betrifft,  so  würde 
es  wohl  gleichzeitig  mit  der  Paulinischen  Stelle  angesetzt  werden  können, 
vorausgesetzt,  dass  sich  quarta  danda  unterbringen  lässt,  und  dies  lässt 
sich  bewerkstelligen,  sowohl  wenn  man  mit  Herrn  Dr.  Gerhard  cjedei 
quarta  danda  eis  ergänzt,  als  auch  wenn  man  sjed  et  quarta  danda  est 
vorzieht. 


Ulrich  Yon  Hutteus  Streit  mit  den  Strassburger 

Karthäusern. 


Von 

Ifans  Rott« 


Im  Sommer  1521  rückte  Franz  von  Sickingen  auf  die  Aufforderung 
Karl  V.  gegen  den  Herzog  von  Bouillon,  Robert  von  der  Mark  und  gegen 
das  sie  unterstützende  Frankreich  in  den  Krieg.  Derweilen  hatte  Hütten 
auf  der  Ebernburg,  wo  er  sich  bis  Ende  Mai  aufgehalten,  lange  Weile 
bekommen,  und  sein  unruhiger  Geist  suchte  sich  nach  den  ungestümen 
Angriffen  mit  der  Feder  jetzt  gelegentlich  auch  mit  dem  Degen  und  in 
handhafter  That  Luft  zu  verschaffen.  Sowohl  gegen  Bucer,  der  Hof- 
kaplan bei  dem  flauen  Friedrich  II.  von  der  Pfalz  geworden,  als  auch  gegen 
Kapito  war  er  entrüstet,  über  diesen  auf  Grund  des  falschen  Gerüchts, 
er  hätte  unter  anderm  Namen  gegen  die  evangelische  Sache  gepredigt. 
In  solcher  Zeit  der  Thatenlosigkeit  und  persönlichen  Unmuts  kam  ihm 
eine  Beleidigung  der  Strassburger  Karthäuser  eben  recht. 

Euch  den  Prior  und  Convent  klage  ich  an,  so  etwa  lautet  sein  Brand- 
brief an  die  Strassburger  Karthäuser,  dass  ihr  mich  einen  Ketzer  gescholten 
und  infamer  Weise  verleumdet  habt,  auch  in  schwerem  Verdacht  be- 
findet „an  etlich  meyner  biltnus  contrafedt,  die  ausserhalb  meins  bevelchs 
uff  papier  gedruckt,  mir  zu  veracht,  schmach  und  hon  zu  seuberung  un- 
reyniger  ewers  leibs  orten  gebrucht  zu  haben,  sonder  alle  schäm,  helung 
und  schwew^.^)  Geld  konnte  der  arme  Bitter  der  deutschen  Nation  und 
des  jungen  Evangeliums  immer  brauchen,  und  in  den  Klöstern  war  noch 
viel  totes  Kapital  zu  holen  bei  nachdrücklicher  Begründung  des  An- 
spruchs. Persönlicher  Stolz  und  angestammte  Rauf-  und  Raublust,  die 
Freude  am  kühnen  Wagen  und  die  Begierde,  den  Lieblingen  seiner  ersten 


1)  Böcking,  Ulrich  von  Huttena  Schriften  II.  84. 


Ulrich  von  Huttens  Streit  mit  den  Strassburger  Karthäusern  165 

Jugendtagen,  den  Mönchen,  denen  er  recht  sein  fahrendes  Leben  ver- 
dankte, wieder  reichlich  zu  vergelten,  all  dieses  trieb  ihn  gern  hinter 
den  Bettelkutten  her.  Der  Handel  ist  bekannt  durch  Straussens  Buch, 
das  sich  auf  die  Akten  aus  dem  Strassburger  Stadtarchiv  stützt,  die 
allerdings  von  dem  sonst  so  verdienstvollen  Ludwig  Schneegans  in  nach- 
lässiger Weise  abgeschrieben  und  in  Niedners  Zeitschrift  für  die  histo- 
rische Theologie  und  später  bei  Boecking  zum  Abdruck  gelangt  sind. 
Hierzu  hat  sich  ergänzendes  Material  im  Münchener  Beichsarchiv  unter 
Neuburger  Akten  gefunden.  Wahrscheinlich  ist  es  noch  der  letzte  Rest 
aus  der  Sickingischen  Beute,  an  der  Ott  Heinrich  als  Teilnehmer  parti- 
zipierte,*) und  unter  welcher  nachgewiesener  Massen  sich  ebenfalls  Hutten- 
schriften  befanden.  Die  beiliegenden  Dokumente  enthalten  namentlich 
Korrespondenz  Billikans  aus  den  30er  und  40er  Jahren.  Den  auf  den 
Earthäuserhandel  bezüglichen  Schriften  liegt  ein  gleichzeitiges  Volkslied 
bei,  welches  diesen  kühnen  Streit  Ulrichs  von  Hütten  verherrlicht,  das 
deshalb  schon  wichtig  ist,  weil  es  Huttens:  Ich  habs  gewagt,  bereits 
im  Beim  verwendet.  Der  Sänger,  wahrscheinlich  ein  Knappe  aus 
Huttens  Begleitschaft,  wenigstens  einer  von  den  Gesellen,  die  zu  einem 
lustigen  Handstreich  stets  willfährig  waren  und  wohl  ein  paar  Mönche 
lim  ihre  Ohren  bringen  konnten,  nennt  sich  am  Schlüsse  selbst,  Hans 
Breuning.  Abgesehen  von  einem  Bruder  Brenning  ist  in  den  historischen 
Volksliedersammlungen  nur  ein  Georg  Breuning  zu  entdecken,  der  sich 
selbst  einen  Weber  aus  Augsburg  bezeichnet.  Der  Hans  Breuning  dieses 
frischen  Eeiterliedchens  hat  kaum  etwas  mit  diesem  zu  thun. 

Am  24.  Oktober  1521  hatte  Hütten  drei  Schreiben  zugleich  abge- 
sandt, an  Gregorius,  den  Prior  der  Freiburger  Karthäuser,  der  damals 
zugleich  Visitator  der  rheinischen  Provinz  war,  an  die  Strassburger 
Karthäuser  und  an  den  Bat  zu  Strassburg. 

Die  Antwort  des  Freiburger  Priors  liegt  jetzt  vor  in  einem  Schreiben 
vom  1.  November  1521.  Er  spricht  darin  sein  Bedauern  aus  wegen  des 
Vorfalles  und  verheisst  eine  genaue  Untersuchung  der  darauf  bezüglichen 
Anklage  Huttens.') 

Die  Strassburger  melden  am  4.  November,  dass  sie  die  Karthäuser 
bereits  vernommen  hätten  und  stellen  baldige  Antwort  in  Aussicht,  da 
der  jetzige  Bote  schon   verritten  ist.')     Diese  erfolgte  in  den  nächsten 


1)  Salzer,  Beitr.  zu  einer  Biogr.  Ott  Heinrichs  S.  18. 

2)  S.  das  Schreiben  im  Anhang. 

3)  S.  das  Schreiben  im  Anhang. 


186  Hans  Rott 

Tagen,  da  Ulrich  von  Hütten  in  seinem  Schreiben  an  den  Strassburger 
Rat  vom  13.  November  schon  darauf  Bezog  nimmt.  Nur  nngern  und 
aus  Freundschaft  zu  Strassburgs  Bürgerschaft  will  er  sich  auf  einen 
Tag  und  eine  zu  vereinbarende  Malstatt  einlassen,  weil  er  sich  zu  sehr 
von  der  Wahrheit  des  ihm  zugefägten  Unrechts  überzeugt  hält.  Vom 
20.  November  an  will  er  acht  Tage  lang  auf  der  Burg  Wartenberg 
verweilen,  um  mit  den  Strassburger  Gesandten  über  die  Angelegenheit 
mit  den  Earthäusern  zu  verhandeln.') 

Strauss  berichtet  in  seiner  Biographie  Huttens  von  dem  weitern 
Verlauf  des  Streites  nur  auf  Grund  des  Entwurfes  einer  Übereinkunft 
und  zweier  Briefstellen  bei  Gerbel ')  und  Erasmus.  Letzterer  spricht  in 
einem  Brief  an  Luther  vom  8.  Mai  1524  nur  de  extorta  a  Garthu- 
siensibus  pecunia.*) 

Sowohl  der  Vertrag  zwischen  Ulrich  von  Hütten  und  den  Kart- 
häusern als  auch  die  einseitige  Ehrenerklärung,  von  der  bei  Böcking 
nur  ein  teilweiser  Entwurf  vorliegt,  ist  im  Münchener  Reichsarchiv  vor- 
handen. Zwischen  den  Strassburger  Abgesandten,  Claus  Knicbis  und 
Hans  Bock,  und  den  Vertrauensmännern  Huttens,  Wolf  von  Waldeck, 
Konrad  Kolb  von  Wartenberg,  Keinhart  von  Rotenburg,  Siegfrid  Horn- 
eck  von  Heppenheim  und  Hans  vom  Oberstein,  war  auf  der  Burg 
Wartenberg  verhandelt  worden.  Darauf  bestimmte  der  Rat  Strassburgs, 
dass  seine  Karthäuser  verpflichtet  würden,  eine  Abbitte  zu  leisten  und 
Ehrenerklärung  zu  thun,  Hütten  es  ausserdem  in  keiner  Weise  ent- 
gelten zu  lassen,  dass  er  gegen  sie  vorgegangen  war.  Als  Schaden- 
ersatz für  die  bei  dem  Handel  aufgelaufenen  Kosten  wird  den  Kar- 
thäusern die  Summe  von  2000  Gulden  an  gutem,  gewichtigem  Golde 
auferlegt,  die  sie  dem  Steckelberger  Ritter  auf  eigne  Gefahr  nach 
Wartenberg  entrichten  müssen.  Darauf  folgte  dann  die  fl^rmliche  An- 
erkennung und  Abbitte  der  Schuld  von  der  Strassburger  Karthause,  die 
feierliche  Anerkennung  von  Huttens  Ehrenhaftigkeit  und  die  Beschwörung 
einer  Urfehde  für  ewige  Zeiten. 


1)  Datnm  des  Briefs  ist  der  21.  November,  nicht  wie  bei  Böcking  II.  88  der  20. 

2)  Hattenus  Cartbusianos,  quia  imagine  siio  pro  anitergiis  usi  sunt,  iu  doobns 
millibns  anreornm  nummum  mnitavit  Böcking  II.  91. 

3)  Böcking  II.  409. 


Ulrich  TOD  Huttena  Streit  mit  den  Strassburger  Karthäusern  187 

Die  Beilagen. 

München  Reichs-Archiv.  Neuburg. 
Religions-  und  Eirchensachen 

Nr.  25  fol.  2.  l.Nov.  1521. 

Dem  Edlen  vesten  und  Strengen  Herrn  Ulrichen  von  Hütten  meinem 
günstigen  lieben  Hern. 

Edler  vester  Strenger  gunstiger  lieber  Her  mein  willig  dinst  und 
gepett  euch  zuvor.  Ewer  schreiben  hab  ich  mit  beschwertem  traurigem 
hertzen  verlesen  und  ist  mir  solch  untzymliche  misshandlung  und 
schmehung  sonder  so  von  mines  Ordenspersonen  solte  beschehen  hertz- 
lichen und  trulichen  leidt.  Darumb  wil  ich  durch  selbs  auch  durch  das 
gemein  capittel  unsers  ordens  darin  handeln,  damit  die  schuldigen  ge- 
strafft werden  dermassen  als  sich  gepurt  und  solchs  und  dergleichen 
hinfur  zu  vermideu  not  erfordert.  Darumb  strenger  lieber  her  ist  mein 
demütig  und  ernstlich  bitt,  wollent  in  der  sach  nit  gaben,  Ewers  Standes 
und  gntten  leymut  und  gerücht  schonen  und  die  unschuldigen  der  schul- 
digen nit  lassen  entgelten.  Will  ich  mit  sampt  dem  gantzen  charthuser 
Orden  gegen  E.  Strengheit  in  müglicher  weyss  zuverdienen  alltzeit  gut- 
willig sein.  Datum  in  der  carthuss  zu  Friburg  uff  aller  heiigen  tag 
im  jar  nach  Christi  unser  lieben  Hern  gepurt  tusent   funffhundert  und 

in  XXI. 

Bruder  gregorius 

prior  der  karthus  zu  Fryburg. 

M.  Reichs- Archiv.  Neuburg. 
Religions-  und  Eirchensachen 

Nr.  25  fol.  2.  4.  Nov.  1521. 

Wir  philips  von  Ramstein  der  meister  und  der  Rat  zu  Strasburg 
Embitten  dem  Ernvesten  und  hochgelerten  Ulrichen  von  Hütten,  zum 
Steckelberg  dem  Jungern,  was  wir  freunntschafft  und  guts  vermögen. 
Ewer  schreiben  Ir  uns  die  geistlichen  hern  prior  Schaffnern  und  convent 
der  carthuser  bey  unser  stat  gelegen  beruven  haben  (sie !),  wir  alles  inhalts 
verlesen  auch  ernante  heren  boren  lassen  und  als  ewer  bot  wegevertig 
und  der  antwurt  nit  erwarten  mögen,  wollen  haruff  für  uns  des  gleichen 
die  hern  für  sich  selbs  unser  beyder  antwurt  bey  eyner  botschafft  in 
kurtz  euch  nit  verhalten,  sonder  zuschicken,  das  wir  euch  nit  bergen 
weiten,  dan  euch  lieb  und  freuntschafft  zubewisen  sein  wir  wol  geneigt. 
Datum  mondag  post  animarum  anno  XXI. 


188  Hans  Rott 

M.  Reichs-Arcbiv.  Neuburg. 
ReligioDS-  und  Kirchensachen 

Nr.  25  fol.  24.  I.Dez.  1521. 

Vortrag  zwischen  Ulrichen   von  Hütten  unnd  den  Carthusern    zu 
Strasburg  uffgericht. 

Zu  wissen  sey  menigklich,  nach  dem  als  sich  etzwas  spann  und  Un- 
willen erhaben  zwischen  dem  hochgelärten  und  Edlen  hern  Ulrichen  vom 
Hütten  zum  Steckelberg  dem  Jüngern  an  eynem,  und  den  wirdigen  an- 
dächtigen Prior  Schaffener  und  Convent  der  Carthus  bey  Strasburg  ge- 
legen zum  andern,  umb  etzliche  schmähwort,  so   die  gedachten  Prior 
Schaffener  und  etzliche  des  Convents,  dem  vorgenanten  hern  Ulrichen 
vom  Hütten  hinterwerticklich  zugelegt,  nämlich  das  sie  In  eynen  Ketzer, 
und  abgesonderten  von  der  heyligen  Christlichen  Kirchen  gescholten,  In 
auch  gezigen,  das  er  Inen  zwen  münich  Ires  Ordens,  uss  Irem  Kloster 
mit  gewalt  entfürt  sölt  haben,  weytter,  das  auch  die  selbigen  Carthuser 
seyn   her  Ulrichs  vom  Hütten   etzliche  Contrafact  und  biltnüs.   Im   zu 
wider,  unzimlicher  weys,  und  mit  mercklicher  unzucht  geschmäht,  des- 
halb der  itzgenennt  her  Ulrich,  den  Strengen  Ernvesten  fursichtigen  und 
weysen,  meyster  und  rat  zu  Strasburg  geschrieben,  sich  Inhalt  der  selbigen 
schrifft  beklagt,  unnd  dar  uff  seyn  rachbegirig  gemüt  eröffnet.    Darnmb 
die  von  Strasburg  genante  Carthuser  erfordern  lassen,  und  nach  dem 
sie  die  Carthuser  uff  die  schrifft  vorhört,  haben  sie  beyden  Partheien 
zu  gut,  als  die  jhenen,  so  Unwillen  und  widerwertikeyt  gern,  so  vil  an 
Inen   vorkommen  wölten,  an  genanten  vom  Hütten  das  er  Inen  in  ge- 
melter  sach  eyner  gütlichen  Unterhandlung  vorvolgen  wolle,  bitlich  ge- 
sinnen,  das  der  offtgemelt  her  Ulrich  vom  Hütten  Inen  den  von  Stras- 
burg zu  eren  und  wolgefallen  fruntlich  bewilligt,  und  Inen  alhier  gen 
Wartenburg  maistat   zu  sollicher  Unterhandlung  ernannt,  daruff  itz  ge- 
melt  meyster  und  rat  zu  Strasburg,  den  Strengen  und  Edlen  hern  Hansen 
Bock  ritter,  und  hern  Clasen  Kniebis  altstät  und  ammeyster  Ire  rats- 
fründ,  uff  zinstag  nach  sanct  Katherin   tag  abzureyten  bevolhen,  die 
auch  soUichs  gethan,   und  uff  freytag  sanct  Andres  abent  gen  Warten- 
burg kommen,  da  sie  dan   die   selbigen   zeyt,   uns  die  nachbenanten, 
Wolfen    marschalck   von   Waldeck,    Chunrad  Kolben   von  Wartenburg 
ßeynhart  von  Rotenburg,  Sifrid  Hornecken  von  Heppenheym  und  Hansen 
vom  Obernsteyu,  an  alles  geferd  funden,  welche  wir  als  uns  angezeygte 
sach,  durch  bericht  beyder  der  geschickten  von  Strasburg,  und  auch  herr 
Ulrichs  vorstanden.     Haben  uns,  als  die  fridens  und   eynikeyt   begirig 


riricb  von  Huttens  Streit  mit  den  Strassburger  Karth&usem  180 

weytterer  Unterhandlung,  zwischen  den  gemelten  geschickt  und  dem  ge- 
nanten vom  Hütten,  Im  beyden  zu  gut,  und  fordernus  der  sach,  ange- 
nommen, in  der  wir  nach  vil  reden  und  gegenreden,  auch  vilflussiger 
gehaltener  handlung,  in  guter  meynung,  zwischen  Inen  nachvolgender 
massen  abgeredt  und  bethedingt,  das  die  obgenenten  Carthuser,  sollen 
gemelten  vom  Hütten,  zu  ewiger  seyner  unschult  erkäntnus,  mit  Iren 
brifen  sigeln  und  genügsamen  wistumb,  seyner  angetasten  Eren,  gerüchts, 
und  guten  leumuts  öffentlich  und  gegen  iderman  entschultigen,  und  alles 
bezigs  frey  und  ledig  sagen  und  schreyben,  sich  auch  vorter  sollicher 
Schmähung,  injurien  und  aller  ungebür  gegen  Im,  gentzlich  und  gar  zu 
enthalten,  gereden  und  Versicherung  thun.  Und  dem  nach  benantem 
vom  Hütten,  diser  sach  halben  etzwas  mercklicher  Kost  uffgelauffen, 
ist  weytter  durch  uns  betheidingt,  das  die  gedachten  Prior  Schaffener 
und  Convent,  Im  h«rn  Ulrichen  für  den  selbigen  Kosten  und  was  er 
des  schaden  oder  unrat  entpfangen  bette,  zwey  tausent  gülden,  an  gutem 
wichtigem  reynischem  golt,  uff  Iren  Kosten  und  abentewer,  uff  das  schloss 
Hohenburg  im  Wasgawe,  bey  Wegelburg  gelegen,  vorschaffen,  und  zu 
nebst  hin  zwischen  sanct  Thomas  des  heylichen  zwelfbotens  tag,  mit 
sampt  obenangezeygter  schrifftlichen  entschultigung  und  besigeltem 
wistumb,  an  weyttere  Verhinderung,  überreychen  und  behändigen.  Doch 
ist  das  alles  und  jedes,  wie  obgesch rieben,  den  gesandten  von  Strasburg, 
hinter  sich  an  die  Carthuser  zu  bringen,  gütlich  zugelassen,  der  mass, 
das  die  selbigen  Carthuser,  gedachten  vertrag  in  genanter  zeyt,  zu  oder 
ab  schreyben  mögen.  Und  hat  genanter  her  Ulrich  vom  Hütten  uff 
heut  dato  für  sich,  sollichs  frey  begeben  und  zugesagt  (so  anders  sollichs 
zu  geschrieben)  darbey  zu  bleyben.  Und  so  sollichs  also  angenommen 
würde,  so  sollen  sie  der  und  aller  Spann,  Irrung  und  Unwillens  gantz 
vortragen  und  gericht  seyn,  deshalb  keyn  teyl  an  das  ander  anspruch 
oder  forderung  nymmer  mer  zu  haben,  noch  zu  gedencken.  Es  sol  auch 
als  dan  zu  erkäntnus  unnd  bevestigung  solchs  Vortrags  zwischen  beyden 
teylen,  brief  und  sigel  uffgericht  und  übergeben  werden.  Das  haben 
wir  obgemelten  fünff  vom  adel,  in  guter  meynung  also  abgeredt,  und 
des  zu  urkund,  zwen  gleychlautende  brief,  eynen  den  geschickten  von 
Strasburg,  den  andern  Im  hern  Ulrichen  vom  Hütten  gegeben,  und  die 
mit  unser  zweyer,  meyn  Chunrads  Kolbens  von  Wartenburg,  und  meyn 
Sifrid  Hornecks  von  Heppenheym,  angebornen  insigeln  versigelt,  das  dan 
wir  genanten  zwen  also  beschehen,  hiemit  bekannt  haben  wollen.  Datum 
nff  den  ersten  tag  des  monats  Deceraber,  im  jar  nach  Christi  unsers 
hern  gepurt  tausent  fünfhundert  und  im  oyn  und  zwantzigsten. 

MEDE  HEIDELB.  JAHKBUECIIER  XII.  ]^3 


190  Hans  Rott 

M.  Reichs-Archiv.  Neuburg. 
Religions-  und  Kirchensachen 

Nr.  25  fol.  24.  12.  Dez.  1521. 

Vorschreybung  der  Garthuser,  so  sie  her  Ulrichen  über  sich  haben 
gegeben. 

Wir  Martinus  Prior,  Burchardus  Schaifener  unnd  das  gantz  Convent 
der  Carthusen  bey  Strasburg  gelegen,  bekennen  öflfentlich  und  für  ider- 
mann.    Nachdem  der  Ernvest  und  hocbgelärt  her  Ulrich  vom  Hütten 
zum  Steckelberg  der  Jünger,  uns  bey  eym  Ersamen  rat  zu  Strasburg 
beklagt,  das  wir  der  Prior  Schaffener  und  etzliche  andere.  In  an  seynen 
Eren,  ritterlichem  herkommen,  und  gutem  gerücht,  angetast,  gescholten, 
und  zu  schmähen  unterstanden,  nämlich  eynn  Ketzer  und  der  gleychen 
nennendt,  Im  auch  zu  schmach  und  behönung  seyne  biltnus  und  contra- 
fact,   ungebürlicher  weys,  und  mit  Unzuchten  schmälichen  gehandlet, 
noch  mer  In  gezigen,  als  solte  er  uns  zwey  münich  us  unserm  Kloster 
mit  frevelichem  gewalt  und  gewoppeter  handt  entfürt  haben,  so  haben 
wir  in  bedenckung  seyner  her  Ulrichs  unschult.  In  für  solche  Im  durch 
uns  angelegte  schmach,  iniurien,  und  was  wir  der  gleychen  wider  In  je 
geredt  oder  gehandlet  betten,   unterthäniglichen   umb  gots  willen,  uns 
das  alles  nach  zu  lassen  und  zu  vorzeyhen  gebeten.    Das  der  genannt 
vom  Hütten  uf  das  selbig  unser  ansuchen  und  bit,  us  miltem  und  barm- 
hertzigem  gemut,  gethan  und  uns  gutlichen  und  milticklich  gewert, 
darumb  wir  obgemelten  Garthuser  zu  ewiger  erkantnus  seyner  her  Ulrichs 
unschult  öffentlich  sagen  und  bekennen,  das  wir  von  Im  anders  nit  dan 
eym  frommen  redlichen  und  cristlichen  ritterman  wissen,  auch  nie  er- 
kannt haben,   das  er  anders  den  eym  christlichen   vom  adel  wolgepürt 
und  gezimpt,  gehandelt  oder  gewandelt  solt  haben.    Wir  haben  auch 
eygentliche  Kuntschafb,  und  gewisse  erfarnus,  das  er  in  dem  die  zwen 
münich  von  uns  kommen,  gantz  keyn  Wissens  gehopt,  und  ist  die  war- 
heyt,  das  die  selbigen  zwen  münich,  an  eynich  seyn  des  vom  Huttens 
zuthun,  hilf,   ret,  oder  anregen,  sich  us  unserm   Kloster  gethan,  der 
halben  wir  In  auch  solcher  that,  frey  ledig  sagen,   und  wollen  In  also 
mit  disem  unserm  offen  brief,  boy  iderman  entschultigt  haben.    Begeben 
und  vorzeyhen  uns  auch  hirmit,  in  Kraft  dis  briefs,  aller  Zuspruch  und 
anforderung,  so  wir  sampt  oder  sonder,  solcher  und  aller  anderer  hand- 
lung  halb,   wie  die  durch  In   her  Ulrichen,   bis  uf  datum   des  briefs, 
zwischen  Im   und  uns  sich  begeben,  und  geübt  sindt,   die  selbig  gegoD 
Im  her  Ulrichen,  und  allen  andern,  so  in  disem  handel  vorwannt  seya, 


Ulrich  von  Hattens  Streit  mit  den  Strassburger  Karth&usern  1$1 

möchten  nymmer  zu  ewigen  tagen,  in  oder  ausserhalp  rechtes,  zu  eyfern 
und  anzutasten,  weder  durch  uns  selbs,  oder  durch  andere  von  unser 
wegen  schaffen  gethan  zu  werden,  es  sey  heymlich  oder  öffentlich, 
sonder  wollen  uns  der  selbigen  gantz  renuntiirt  haben,  und  ruwig  steen, 
alles  getreulich  und\ungeverlich,  und  des  auch  zu  weytterm  gezeugnus 
und  urkund,  haben  wir  den  Erwirdigen  und  geystlichen  hern  Gregorium 
Prior  der  Carthuser  bey  Friburg,  und  visitator  der  provintz  Carthuser 
Ordens  am  Reynstrom,  gebeten,  seyn  und  seyns  convents  insigel,  neben 
unser  insigel  unten  an  diso  schrift  zu  trücken,  das  ich  itzgenanter  Ore- 
gorius  prior,  von  bit  wegen  also  gethan  und  ist  diso  schrift  gegeben  in 
der  Carthusen  bey  Strasburg  gelegen,  uf  Donderstag  nach  conceptionem 
Marie,  in  dem  jar  nach  der  gepurt  Christi  unsers  herrn  tausent  fünf- 
hundert eyns  und  zwantzig. 

M.  Reichs-Archiv.  Neuburg. 

Religions-  und  Kirchensachen 

Nr.  25  fol.  1. 

Frisch  ufF  mit  reycfaem  schane 
Ir  werden  reatter  gut, 
darzu  ir  krigsleat  aUe, 
und  hapt  eynn  freyen  mui 
Ich  hoff  ea  hab  nit  not, 
der  Hatten  ist  lebend  worden, 
das  schafft  an  zweyfel  got. 

Man  meynnt  e3  war  ent schloffen, 

Ich  sprach  er  ist  nit  weyt, 

hat  noch  die  angen  offen, 

und  wartet  seyner  zeyt, 

die  wir  erlebet  han, 

das  weyss  Carthuser  orden, 

den  hat  er  gegriffen  an. 

Sie  weiten  in  verachten, 
die  kugelbuben  frech, 
eynn  arswisch  aussm  machen, 
seht  nun  was  Inn  gebrech. 
Ich  meynnt  sie  wären  gut, 
80  scheynnt  in  diser  Sachen, 
dass  treyben  Qbermut. 

Vil  trinnken  und  vil  essen, 

darueber  massig  gan, 

macht  eynen  offt  vergessen, 

das  im  stund  besser  an. 

Der  fflrbitz  sollichs  schafft. 

Ich  muss  der  schalkheyt  Ineben, 

Er  hat  sie  wol  gestrafft. 

13* 


192     Hans  Rott:  Ulrich  von  Huttens  Streit  mit  den  Strassburgcr  Karthftasem 

Hand  viderruffen  müssen, 
all  Ire  böse  wort, 
man  hat  sie  sehen  bQssen, 
Ir  sflnd  an  eynem  ort. 
Zwcy  tausent  gülden  gut, 
hat  er  Inn  abgenommen, 
Ich  lob  das  Edel  blut. 

Nun  wöln  wir  vorter  lassen, 
Garthuser  orden  stan, 
und  lugen  uff  der  Strassen, 
wo  komm  eyn  Curtisan, 
darzu  das  betel  gesind, 
das  sonder  allen  frommen 
beraubt  die  weit  geschwind. 

Got  frist  den  werden  Hütten, 
geh  Im  die  hilfc  seyn, 
das  er  die  bettelkutten, 
mit  Irem  falschen  scheyn, 
treyb  von  der  Cristenheyt, 
die  sie  bis  her  betrogen, 
verfüret  weyt  und  breyt. 

So  wöln  wir  zu  Im  setzen, 
all  unser  leyb  und  gut, 
eyn  schindlin  mit  Im  netzen, 
er  hat  eynn  frischen  mut, 
und  weys  der  Sachen  grundt, 
würt  er  drumb  angezogen, 
zu  reden  mit  dem  mund. 

Ich  weys  der  orden  eynen, 
US  diser  gleysnerey, 
sol  noch  dorüber  weynen, 
deucht  er  sich  noch  so  frey, 
hab  ich  Inn  offt  gesagt, 
fart  schon  Ir  falsche  zungen, 
Der  Hütten  hats  gewagt. 

Wem  dan  nit  ist  zu  raten, 
dem  ist  zu  helfen  nit, 
man  solt  die  Ketzer  braten, 
umb  Im  vorkerten  sit, 
Es  muss  zu  boten  gau. 
Hans  Breuning  hats  gesungen, 
wil  selbs  mit  bänden  dran. 

f.     •  _ 
1  n  1  s. 


Die  spanische  Litteratur 

von  ihren  Anfängen  bis  zu  den  katholischen  Königen. 


Von 

Pli.  Aug.  Becker. 


Yorgoschichte. 

In  viereckiger  Breite,  die  Südkante  gegen  Afrika  vorgereckt,  erhebt 
sich  die  iberische  Halbinsel  im  äussersten  Südwesten  Europas  zwischen 
dem  mittelländischen  Meer  und  dem  atlantischen  Ozean.  Ihren  Grund- 
stock bildet  eine  ehrwürdige  Scholle  der  paläozoischen  Urfeste,  deren 
nordöstliche  Abdachung  in  mächtigen  Staffeln  die  Kreideanlagerungen 
des  früheren  Mittelmeers  trägt,  während  sie  nach  dem  Ozean  und  dem 
andalusischen  Tiefland  zu  durch  scharfe  Bruchränder  abgegrenzt  wird. 
Stark  abgehobelte  Faltenzüge  aus  der  Karbonzeit,  gleichaltrig  mit  Su- 
deten und  Vogesen,  bedecken  in  flachem  Bogen  den  Westen  der  Tafel, 
und  ein  nordostwärts  abschwenkender  Ast  derselben  durchquert  die  breite 
Fläche  und  zerlegt  sie  in  zwei  Plateaux;  die  einstmals  zu  mächtigen 
Binnenseen  aufgestauten  Gewässer  aus  dem  Innern  mussten  sich  ihren 
Weg  zum  Ozean  in  schmalen  Rinnen  durch  das  Bandgebirge  bahnen. 
Zwei  jüngere  Gebirgsketten,  Pyrenäen  und  granadinische  Terrasse,  Zeit- 
genossen unserer  Alpen,  haben  sich  dem  alten  Horste  angegliedert  und 
den  Bau  der  Halbinsel  vollendet. 

So  liegt  Spanien,  abgeschieden  für  sich,  an  der  Pforte  des  Ozeans, 
wie  eine  Brücke  zwischen  Europa  und  Afrika,  von  jenem  durch  steile 
Bergwände,  von  diesem  durch  eine  felsige  Meerenge  getrennt,  nur  von 
der  Meerseite  dem  Verkehr  geöffnet  und  deshalb  auf  die  Beherrschung 
des  Meeres  hingewiesen,  aber  ohne  bequemen  Zugang  nach  dem  inneren 
Hochland,  und  somit  durch  die  Bodengestalt  noch  mehr  als  durch  die 
geographische  Lage  gegen  die  Aussen  weit  abgeschlossen. 


194  Ph.  Aug.  Becker 

Die  Ureinwohner  der  pyrenäischen  Halbinsel,  die  Iberer,  sind  der 
indogermanischen  Yölkerfamilie  fremd;  das  zeigt  uns  die  Sprache  der 
Basken,  wenn  diese  wirklich,  wie  man  vermutet,  die  Abkömmlinge  jenes 
Stammes  sind,  die  letzten,  die  sich  bis  jetzt  der  Romanisierung  ent- 
zogen haben.  Früh  gesellten  sich  andere  Völkergruppen  zu  ihnen.  Wahr- 
scheinlich vom  Meere  her  drangen  Kelten  in  das  Land,  setzten  sich  an 
der  Mündung  des  Tajo  fest  und  verbreiteten  sich  über  das  zentrale 
Hochland  bis  zum  Quellgebiet  der  grossen  Flüsse.  Beide  Stämme,  Iberer 
und  Keltiberer,  wie  die  Alten  sie  nannten,  lebten  in  viele  Völkerschaf- 
ten vereinzelt  ohne  einheitlichen  nationalen  Zusammenschluss  und  setzten 
fremden  Eindringlingen  und  Eroberern  keinen  gemeinsamen  Widerstand 
entgegen.  Im  12.  Jahrhundert  vor  unserer  Zeitrechnung  entdeckten 
phönizische  Seefahrer  das  metallreiche  'Tarschisch'  und  legten  längs  der 
Südküste  Handelsplätze  an.  Griechische  Ansiedler  folgten.  Zuletzt  er- 
schien Karthago  auf  dem  Plan  und  versuchte  nach  dem  unglücklichen 
Ausgang  des  ersten  punischen  Krieges  auch  im  Binnenland  festen  Fuss 
zu  fassen,  um  sich  für  den  Verlust  von  Sardinien  und  Sicilien  schadlos 
zu  halten.  Hispanien  wurde  der  Anlass  und  der  Schauplatz  des  gewal- 
tigen Entscheidungskampfes  zwischen  Karthago  und  Rom  und  fiel  als 
Preis  dem  Sieger  zu. 

Zwei  Jahrhunderte  fortgesetzter  blutiger  Kriege  bedurften  die  Römer 
zur  vollständigen  Unterwerfung  der  Halbinsel;  erst  unter  Augustus 
beugten  sich  die  letzten  Völkerschaften  in  den  cantabrischen  Bergen 
ihrer  Herrschaft.  Dank  der  Empfunglichkeit  der  Ureinwohner  und  der 
Mehrung  der  Kolonien  ging  aber  die  Romanisierung  rasch  vor  sich. 
Auch  Spanien  verspürte  den  kulturellen  Aufschwung  unter  den  ersten 
Kaisern,  und  seine  begabten  Söhne  warben  in  der  Hauptstadt  um  Ruhm 
und  Erfolg.  Einen  Namen  machten  sich  hier  der  Rhetor  Porcius  Latro 
und  der  Grammatiker  Hyginus;  und  noch  heute  feiern  die  Spanier  die 
beiden  Seneca,  Lucanus,  Martialis,  Quintilianus  und  Pomponius  Mela, 
den  Geographen,  als  nationale  Grössen.  Mit  Hadrian  hörte  jedoch  der 
Zuzug  nach  Lorbeer  begieriger  Spanier  auf.  Der  despotische  Druck  der 
Verwaltung  ertötete  auch  in  dieser  Provinz  Wohlstand  und  geistiges 
Leben.  Neue  Regung  brachte  das  Christentum,  nach  dessen  Sieg  auch 
Spanien  wieder  Anteil  nimmt  an  der  Litteratur  und  selbst  bahnbrechend 
voranschreitet.  Ihm  entstammen  Juvencus,  der  Vater  der  christlichen 
Epik,  Prudentius,  der  originellste  und  schöpferisch  begabteste  unter 
allen  christlichen  Dichtern,  und  Orosius,  der  erste  christliche  Universal- 
historiker. 


Die  spanische  Litteratur  von  ihren  Anfängen  bis  zu  den  katholischen  Königen     195 

Yor  den  Heimsuchungen  der  Völkerwanderung  schützte  der  Grenz- 
wall der  Pyrenäen  die  iberische  Halbinsel  nicht.  409  brachen  die  ersten 
Schwärme  ein.  Nur  vorübergehend  hausten  die  Yandalen  im  Land ;  län- 
ger trieben  die  unstäten  Sueven  ihr  Verheerungswerk,  bis  sie  stark  zu- 
sammengeschmolzen in  der  Bevölkerung  Galiciens  aufgingen.  Bei  der 
vollkommenen  Auflösung  des  weströmischen  Beiches  fiel  Spanien  schliess- 
lich den  Westgoten  zu.  Von  allen  Germanen  waren  diese,  für  die  einst 
Ulfilas  die  Bibel  übersetzte,  bereits  am  längsten  und  nachhaltigsten  mit 
der  griechisch-römischen  Kultur  in  Berührung,  und  ihre  dauernde  Nieder- 
lassung in  Gallien  hatte  sie  dem  römischen  Wesen  noch  näher  gebracht, 
wie  ihr  Volksrecht  zeigt,  unter  ihrer  Botmässigkeit  sank  demgemäss 
die  Bildung  nie  so  tief  wie  beispielsweise  im  Beiche  der  Franken,  zu- 
mal sie  nach  ihrem  Übertritt  vom  arrianischen  zum  katholischen  Glau- 
ben der  Geistlichkeit  einen  übermässigen  Einfluss  auf  die  Staatsleitung 
einräumten.  Jedes  Jahrhundert  hat  wenigstens  seinen  Chronisten,  und 
zum  Schluss  begegnen  wir  noch  Isidor  von  Sevilla,  dem  fleissigen 
Sammler  und  belesenen  Encyklopädisten.  Dafür  fehlen  die  kräftigen  An- 
sätze zu  frischer  Entwicklung;  denn  durch  die  Barbarei  führte  damals 
der  Weg  zur  Gesundung. 

Die  Schäden  der  römischen  Wirtschaft  abzustellen,  verstanden  die 
Goten  nicht,  noch  vermochten  sie  einen  in  sich  gefestigten  Nationalstaat 
zu  gründen.  So  genügten  die  zu  einer  Razzia  ausgezogenen  zwölf- 
tausend Mann  Täriks,  um  das  wurmstichige  Beich  jählings  zum  Ein- 
sturz zu  bringen.  Binnen  dreier  Jahre  war  Spanien  bis  zu  den  Pyre- 
näen erobert,  und  nach  den  Wirren  des  Anfangs  bildete  sich  unter  den 
Omaijaden  ein  unabhängiges  Ebalifat,  das  an  Machtentfaltung,  mate- 
rieller Blüte,  Pflege  der  Kunst  und  Wissenschaft  dem  Beiche  der 
Abassiden  nicht  nachstand;  als  Sitz  der  Reichtümer  und  der  Gelehr- 
samkeit, des  Gewerbefleisses  und  des  Handels  konnte  sich  Cördova  stolz 
mit  Bagdad  vergleichen.  Auf  Jahrhunderte  blieb  solchermassen  der 
grösste  Teil  der  Halbinsel  losgerissen  von  der  romanisch  christlichen 
Welt ;  arabische  Sprache  und  arabische  Bildung  herrschten  von  den  Ufern 
des  Tajo  bis  an  die  Meeresenge.  Auch  die  alteingesessene  Bevölkerung 
dieser  Gebiete  bequemte  sich  den  Eroberern  an.  Das  kurze  Auflodern 
der  religiösen  Begeisterung,  dessen  Zeugen  Eulogius  nnd  Älvarus  wurden, 
und  das  Wiedererwachen  spanischen  Nationalgefühls  bei  Renegaten  wie 
Christen  führte  im  9.  Jahrhundert  nach  zeitweiligen  Erfolgen  nur  zur 
Beschleunigung  ihres  Untergangs  und  zur  Überschwemmung  des  Landes 


196  Pb.  Aug.  Becker 

durch  die  Berberstumrae  Afrikas,  die  Almoraviden  xuerst  und  später  die 
Almobaden. 

Die  WiederbefreiuDg  der  spanischen  Erde  ging  vom  Norden  aus. 
Das  baskische  Navarra  hatte  sich  nie  völlig  gebeugt.  In  den  unweg- 
samen Felsenschluchten  Asturiens  hielt  sich  auch  eine  kleine  Schar 
unter  der  Anführerschaft  des  Goten  Pelayo.  Diese  feuerten  ihre  Lands- 
leute an,  das  Joch  der  Fremdherrschaft  abzuschütteln,  und  mit  der  Gunst 
der  Umstände  drangen  die  Christen  bis  an  den  Duero  vor  und  wussten 
sich  unter  wechselnden  Geschicken  dort  zu  halten.  Von  der  anderen 
Seite  überschritten  die  Franken,  nachdem  sie  dem  Vordringen  der  Un- 
gläubigen bei  Tours  Einhalt  geboten,  die  Pyrenäen  und  gründeten  die 
spanische  Mark,  die  Wiege  Cataloniens,  mit  Barcelona  als  Hauptstadt. 

So  entstanden  und  befestigten  sich  im  Norden  der  Halbinsel  christ- 
liche Staaten,  die  bald  vereinigt,  bald  geteilt,  bald  unter  sich  in  Zwist 
und  zeitweilig  von  den  Mauren  in  ihrer  Selbständigkeit  bedroht,  doch 
mit  der  Zeit  siegreich  hervorgingen  und  den  Grund  zu  bleibenden  Staaten- 
gebilden legten.  In  dieser  Zeit  unaufhörlichen  Bingens,  täglicher  An- 
spannung und  fortwährender  Unsicherheit  bildete  sich  der  spanische 
Nationalcharakter  aus,  so  wie  er  sich  im  wesentlichen  bis  heute  erhalten 
hat;  da  wurden  ihm  jene  Züge  kriegerischer  Ritterlichkeit,  leicht  ver- 
letzbaren Ehrgefühls  und  leidenschaftlichen  Unabbängigkeitssinnes,  jener 
empfindliche  Nationalstolz  und  exklusive  Glaubenseifer,  aber  auch  der 
auf  Selbstachtung  beruhende  Freimut  im  Verkehr  der  verschiedenen  Ge- 
sellschaftsklassen unter  einander  zu  eigen. 

Das  11.  Jahrhundert  ist  die  ruhmvolle  Heldenzeit  der  spanischen 
Befreiungskriege.  Die  Begeisterung  der  Ereuzzüge  belebte  und  steigerte 
den  Eampfesmut  der  Christen  und  führte  ihnen,  besonders  aus  Frank- 
reich, Scharen  von  Bundesgenossen  zu.  Damals  eroberte  Fernando  I. 
Coimbra,  und  sein  Sohn  Alfonso  VI,  der  Galicien,  Asturien,  Leon  und 
Navarra  mit  seinem  Erbteil  zum  ^Kaisertum'  Eastilien  vereinigte,  setzte 
sich  in  Besitz  von  Toledo;  das  kleine  Aragon  stieg  in  die  Ebene  des 
Ebro  herunter  und  bereitete  sich  zum  Sturm  auf  Zaragoza;  die  Grafen 
von  Barcelona  bedrohten  die  Eüstenstädte,  und  der  glorreiche  Cid  nistete 
sich  in  Valencia  ein.  Auf  der  ganzen  Linie  drangen  die  christlichen 
WaflFen  siegreich  vor.  Nach  langer  Abgeschiedenheit  trat  jetzt  Spanien 
auch  wieder  mit  der  grossen  mitteleuropäischen  Gemeinschaft  in  Be- 
rührung. Das  gesunkene  Elosterwesen  zu  heben,  wendete  sich  Sancho 
der  Alte  an  Cluni  und  führte  dessen  Reformen  in  den  ihm  gehorchenden 
Reichen  ein.     Von  Rom  unterstützt,   grifif  der  französische  Einfluss  so 


Die  spanische  Litteratur  von  ihren  Anfängen  bis  zu  den  katholischen  Königen     197 

« 

rasch  um  sich,  dass  Sanchos  Enkel,  Alfonso  VI,  die  ererbte  Liturgie 
zu  GuDsteu  der  gregorianischen  abschaffen,  und  das  Konzil  von  Leon 
den  Gebrauch  der  fränkischen  Minuskel  an  Stelle  der  Nationalschrift 
vorschreiben  durfte. 

Die  Erhöhung  der  Bildung,  welche  die  kirchlichen  Reformen  mit 
sich  brachten,  zeigte  ihre  Früchte  zunächst  in  der  Neubelebung  des 
lateinischen  Schrifttums.  Die  Chroniken  mehren  sich  und  fliessen  wieder 
reichhaltiger.  Man  verfasst  Legenden,  dichtet  Aufschriften  und  Grab- 
inschriften. Auch  der  Verherrlichung  ruhmvoller  Zeitereignisse,  wie  der 
Thaten  des  Cid  oder  der  Einnahme  von  Almeria,  macht  sich  die  latei- 
nische Verskunst  dienstbar.  Besondere  Erwähnung  verlangt  eine  Prosa- 
schrift, die  Disciplina  clericaUsj  Gespräche  eines  Vaters  mit  seinem 
Sohne,  den  er  mit  Sprüchen,  Erzählungen  und  Gleichnissen  über  Freund- 
schaft, Liebe,  Frauentrug,  Leben  und  Tod,  Armut  und  Reichtum  und 
ewige  Seligkeit  belehrt.  Es  ist  das  Werk  eines  1106  getauften  Juden 
von  Huesca,  Petrus  Alfonsus,  und  deshalb  von  Bedeutung,  weil  es  das 
erste  im  Abendlande  ist,  das  aus  den  Schätzen  orientalischer  Weisheit 
schöpft  und  sich  der  später  so  bliebten  Form  der  Bahmenerzählung  be- 
dient. Um  dieselbe  Zeit,  gegen  1140,  entstand  in  Santiago  de  Com- 
postella  die  Fälschung  des  liher  Jacobi,  dessen  viertes  Buch  die  be- 
rüchtigte ^Chronik  Turpins*  bildet,  das  älteste  Zeugnis  für  das  Hinüber- 
dringen französischer  Heldensage  nach  Spanien. 

Wie  die  Erfahrung  lehrt,  musste  die  Neubelebung  der  Studien 
schliesslich  auch  dem  Volksidiom  frommen.  Denn,  war  man  bislängst 
für  die  Predigt  und  für  Rechtsgeschäfte  mit  dem  barbarischen  Verkehrs- 
latein ausgekommen,  so  blieb  die  jetzt  angestrebte  korrektere  Latinität 
dem  Volke  wie  dem  ungeschulten  Adel  unverständlich;  das  Bedürfnis 
an  seiner  Statt  die  lebende  Volkssprache  zu  gebrauchen,  machte  sich 
u  nah  weislich  fühlbar.  Das  geschah  in  Spanien  dreihundert  Jahre  später 
als  in  Frankreich.  Das  älteste  Dokument,  in  dem  die  Vulgärsprache 
entschlossen  zur  Verwendung  kommt,  ist  das  1155  von  Alfonso  VII  be- 
stätigte Stadtrecht  von  Aviles  in  Westasturien,  dem  langsam  ähnliche 
Urkunden  folgen. 

Die  spanische  Sprache,  die  uns  hier  zum  ersten  Male  entgegentritt, 
ist  die  von  den  Römern  nach  Iberien  gebrachte  lateinische  Sprache,  wie 
sie  sich  im  Volksmund  lebend  erhielt  und  im  Wechsel  der  Zeiten  fort- 
bildete. Seinen  ererbten  Wortschatz  hat  das  Spanische  dem  Gang  der 
Geschichte  gemäss  um  germanische  und  arabische  Elemente  vermehrt. 
In  seiner  lautlichen  Entwicklung  gleicht  es  dem  Italienischen  durch  die 


198  Pb.  Aug.  Becker 

Beinheit  der  Vokalkläuge  und  die  Sonorität  der  Endungen,  ist  aber  weiter- 
gescbritten  in  der  Verschleifung  unbetonter  Silben  und  Schwächung  von 
Konsonanten,  und  fallt  unter  den  romanischen  Schwestern  durch  seine 
gutturalen  Reibelaute  und  interdentalen  Sibilanten  auf.  Was  die  Aus- 
sprache betrifft,  hat  es  die  scharfe,  genaue  und  leichtfliessende  Lautung 
der  meridionalen  Idiome,  es  fehlt  ihm  aber  der  melodische  Schmelz  des 
Toskauischen. 

Zur  Zeit  nun,  da  Spanien  sich  zu  litterarischer  Bethätigung  in 
seiner  mündig  gewordenen  Landessprache  anschickte,  besass  Frankreich, 
dem  die  geistige  Führung  in  Europa  gehörte,  eine  in  voller  Blüte 
stehende  Poesie.  Entzückte  die  Provence  durch  die  zierlichen  Liebes- 
weisen seiner  Troubadours,  so  fesselte  und  entflammte  Nordfrankreich 
die  Gemüter  mit  seinen  von  Eriegslust  und  Vaterlandsliebe  durchglühten 
Heldengesängen  und  versuchte  durch  Werke  belehrenden  Inhalts  auch 
ernsteren  Ansprüchen  entgegenzukommen.  Die  altspanische  Dichtkunst 
bildete  sich  nun  vollkommen  unter  französischem  Einfluss,  wenn  auch 
in  ausgesprochen  nationaler  Bichtung  aus.  Von  Anbeginn  aber  vollzog 
sich  eine  eigentümliche  Scheidung.  Während  sich  in  Eastilien  gewisser- 
massen  aus  dem  Volke  heraus  eine  nationale  Epik  nach  französischem 
Muster  entwickelte,  erblühte  in  Galicien  die  Lyrik  im  Geschmack  der 
Provenzalen  und  gewann  solches  Ansehen,  dass  selbst  geborene  Kastilier 
lyrische  Verse  lange  nur  galicisch  oder  portugiesisch  schrieben,  was  für 
jene  Zeit  das  gleiche  bedeutet,  da  die  portugiesische  Sprache  die  Tochter 
der  galicischen  Mundart  ist.  So  bereitete  sich  litterarisch  die  Trennung 
der  beiden  Völker  vor,  wie  sie  ethnologisch  im  Gegensatz  von  Sueven 
und  Goten  begründet  war  und  bald  durch  die  politische  Sonderexistenz 
Portugals  unausgleichbar  werden  sollte. 

Die  altkastilische  Heldendichtang. 

1150—1250. 

Die  erste  Lebenserscheinung  der  spanischen  Litteratur  ist  also  die 
kurze,  aber  kräftige  Blüte  der  volkstümlichen  Heldendichtung,  der  zwar 
die  üppige  Entfaltung  der  französischen  nicht  beschieden  war,  die  aber 
dafür  ihren  heroisch-patriotischen  Gehalt  nicht  so  völlig  von  romanhafter 
Erfindung  überwuchert  sah  wie  diese.  Auch  trennt  keine  so  weite 
Spanne  die  Ependichtung  von  der  verherrlichten  Heldenzeit,  so  dass 
zwar  nicht  die  historischen  Einzelheiten,  wohl  aber  das  Gesamtbild  ge- 
treuer bewahrt  erscheint.    Die  spanische  Heldendichtung  ist  im  engsten 


Die  spanische  Litteratur  von  ihren  Anfängen  bis  zu  den  katholischen  Königen     199 

Sinne  kastilisch.  Ihre  Schöpfungen  verkörpern  jene  Ideale  der  Bitter- 
lichkeit, der  Vaterlandsliebe  und  des  trotzigen  Freiheitssinnes,  die  die 
ganze  Nation  im  Zeitalter  der  Maurenkriege  belebten  und  begeisterten. 
Das  musste  ihnen  eine  ebenso  tiefe  als  nachhaltige  Einwirkung  auf  das 
Volksgemüt  sichern.  Mochte  darum  auch  der  Gesang  der  jttglares  früh 
verstummen  und  die  ersten,  rohen  und  unfertigen  Denkmale  ihrer  Muse 
bald  wieder  in  Vergessenheit  geraten:  die  Gestalten,  die  sie  geschaffen, 
waren  unvergänglich  und  lassen  noch  heute  wie  ehedem  das  Herz  eines 
jeden  Spaniers  höher  schlagen. 

Im  Mittelpunkt  der  spanischen  Heldensage  steht  der  Cid,  Ruy  Diaz 
de  Bivar,  in  Wahrheit  wie  in  der  Dichtung  ein  unerschrockener  Kämpe. 
Sprosse  eines  edlen  kastilischen  Geschlechts,  war  ßodrigo  unter  Sancho  II 
durch  seine  Feldherrngaben  zu  hohem  Ansehen  emporgestiegen  und  be- 
hielt es  auch,  als  Sancho  vor  Zamora  ermordet  wurde  und  sein  Bruder 
Alfonso  VI  aus  der  Verbannung  zurückkehrte  und  das  Reich  übernahm. 
Der  neue  König  gab  ihm  seine  Base  Ximena  zur  Frau;  als  er  aber 
festen  Boden  gefasst  hatte,  verbannte  er  den  übermächtigen  Vassallen. 
Von  da  an  führte  Bodrigo  das  Leben  eines  Condottiere,  zuerst  im  Dienste 
des  maurischen  Herrschers  von  Zaragoza,  dann  auf  eigene  Faust,  bis 
ihm  die  Eroberung  von  Valencia  gelang,  in  deren  Besitz  er  sich  bis 
zu  seinem  Tode  (1099)  behauptete.  Als  seine  Witwe  sich  genötigt  sah, 
diesen  vorgeschobenen  Posten  aufzugeben,  nahm  sie  seine  Gebeine  mit 
und  setzte  sie  in  San  Pedro  de  Cardefla  vor  Burgos  bei,  wo  sie  neben 
ihm  ruht. 

Man  kann  sich  den  Eindruck  denken,  den  das  Glück  dieses  ver- 
wegenen und  verschlagenen  Söldnerfürsten  auf  die  Volksphantasie  machen 
musste,  und  wie  sich  seine  in  Wirklichkeit  oft  grausame  und  hinter- 
listige Persönlichkeit  im  Andenken  der  Enkel  verklärte.  So  treu  als  der 
idealisierende  Zug  der  Poesie  es  verträgt,  spiegelt  sich  sein  Bild  im 
ehrwürdigsten  und  ältesten  Denkmal  der  spanischen  Heldendichtung 
wieder,  im  Poema  del  Cid,  das  um  die  Mitte  des  12.  Jahrhunderts  ent- 
standen sein  mag  und  ein  einzigartiges  Beispiel  dafür  bietet,  wie  kaum 
verblichene  geschichtliche  Erinnerungen  unvermittelt  in  Heldensage  um- 
gesetzt werden. 

Als  Verbannten  sehen  wir  den  Helden  sein  Stammschloss  verlassen; 
seufzend  betrachtet  er  die  verwüstete  Stätte.  Kein  gastlicher  Gruss  em- 
pfingt ihn  in  Burgos,  wo  schon  der  Achtbrief  des  Königs  eingetroffen 
ist.  Mio  Cid  niuss  vor  dem  Thore  im  Zelte  übernachten.  Von  allem 
entblösst  verschafft  er  sich  das  nötige  Geld  durch  List,  indem  er  den 


200  Pb.  Aug.  Becker 

Juden  Bachel  und  Vida  zwei  trüglich  mit  Sand  gefüllte  Koffer  ver- 
pfändet. Beim  Hahnenruf  klopft  er  an  der  Pforte  von  San  Pedro  an; 
denn  er  möchte  dem  Abt  einen  Yorschuss  zum  Unterhalt  der  Seinen 
hinterlassen,  dass  dem  Kloster  kein  Schaden  erwachse.  Tief  bewegt  be- 
grüsät  er  dotla  Ximena,  und  indem  er  seine  beiden  Töchterchen  in  seine 
Arme  schliesst,  entringt  sich  seiner  beklommenen  Brust  das  Gebet: 
«Gott  gebe,  dass  ich  euch  beide  noch  mit  eigener  Hand  vermählen  und 
eurer  Mutter  ihre  Treue  lohnen  könne!''    Es  sollte  in  Erfüllung  gehen. 

Schon  sammelt  sich,  Haus  und  Hof  verlassend,  eine  Schar  von 
Getreuen,  entschlossen  Gefahren  und  Gewinn  mit  dem  Verbannten  zu 
teilen.  An  der  Spitze  von  300  Lanzen  überschreitet  Mio  Cid  den  Ducro, 
und  der  Erzengel  Gabriel  erscheint  ihm  im  Traum  und  verheisst  ihm 
Glück  zu  seiner  Fahrt.  Gleich  der  erste  Streifzug  durch  das  Thal  des 
Henares  gelingt  glänzend;  doch  mag  Ruy  Diaz  sich  hier,  in  so  grosser 
Nähe  seines  ergrimmten  Königs  nicht  festsetzen.  Auch  Alcocer  am 
Xalon,  seine  zweite  Beute,  bewährt  sich  nicht:  durch  die  Mauren  be- 
lagert und  vom  Wasser  abgeschnitten,  rettet  er  sich  nur  dank  einem 
verzweifelten  Ausfall,  bei  dem  er  die  feindliche  Übermacht  auseinander 
sprengt.  Monatelang  streift  dann  der  Heimatlose  im  Berggelände  umher, 
nachts  im  Sattel,  tags  hinter  Feldschanzen,  und  eine  Stadt  nach  der 
anderen  bis  hinunter  zum  Ebro  muss  sich  zu  einem  Tribut  verstehen. 

Diese  Erfolge  rufen  den  alten  Groll  des  Grafen  Baymund  Berengar 
von  Barcelona  wieder  wach;  trotz  aller  Beschwörungen  treibt  er  zum 
Kampfe,  wird  geschlagen  und  gefangen,  und  es  fallt  dem  Kämpen  von 
Bivar  nicht  leicht,  den  Störrischen,  der  im  Missmut  jede  Speise  aus- 
schlägt, wieder  versöhnlicher  zu  stimmen.  Nun  richtet  der  nimmermüde 
Campeador  sein  Unternehmen  gegen  die  Küstenstädte.  Burriana  und 
Murviedro  fallen  in  seine  Gewalt,  die  Valencianer  können  das  Feld  vor 
ihm  nicht  halten.  Drei  Jahre  kriegt  und  haust  er  in  jener  Gegend 
und  zieht  seine  Kreise  immer  enger  um  die  ratlose  Stadt,  die  vergeb- 
lich nach  Hilfe  späht.  Der  König  von  Marocco  ist  fern  in  Krieg  ver- 
wickelt. Valencia  muss  sich  ergeben,  und  Ruy  Diaz  kann  nun  daran 
denken,  seine  Frau  und  seine  Töchter  zu  sich  zu  rufen  und  sie  in  sei- 
nen Herrschersitz  einzuführen. 

Mit  stattlichem  Geleit  werden  die  Frauen  abgeholt,  und  kaum  hat 
den  Rodrigo,  der  Cid,  sie  die  herrliche  Lage  Valencias  bewundern  lassen 
können,  so  bietet  sich  ihm  die  Gelegenheit,  seine  Tapferkeit  vor  ihren 
Augen  zu  entfalten.  Tusef  von  Marocco  ist  über  das  Meer  gekommen 
und  bringt  den  Christen  neue  Reichtümer,  wie  der  Held  scherzend  be* 


Die  spanische  Litteratur  von  ihren  Anfängen  his  zu  den  katholischen  Königen     201 

merkt.  So  glänzend  wie  der  Sieg,  so  unermesslich  ist  die  Beute.  Bis- 
her hatte  Ruy  Diaz  es  nicht  yersäumt,  nach  jedem  errungenen  Erfolg 
seinem  Könige  ein  würdiges  Geschenk  zu  übersenden.  Zum  Dank  für 
diese  Anerkennung  seiner  Lehensoberherrlichkeit  hatte  Alfonso  zuerst 
das  Zuströmen  von  Freiwilligen  zu  den  Fahnen  des  Cid  gestattet,  dann 
seiner  Gemahlin  das  Geleite  bis  zur  Grenze  geben  lassen  und  die  Acht 
zurückgenommen.  Sein  jüngster  Sieg  und  Zuwachs  an  Macht  veran- 
lassen jetzt  die  Söhne  des  Grafen  von  Carrion  um  die  Hand  seiner 
Töchter  anzuhalten.  Auf  Wunsch  des  Königs  begegnen  sich  die  wieder- 
versöhnten Sieger  von  Toledo  und  Valencia,  Alfonso  und  sein  Vassall, 
an  den  Ufern  des  Tajo  und  verabreden  die  Verlobung,  die  im  Palast 
zu  Valencia  nicht  vom  Vater,  sondern  vom  Abgeordneten  des  Königs 
vollzogen  und  mit  Prunk  gefeiert  wird. 

Es  war  eine  ungleiche  Verschwägerung :  denn  der  Mut  war  gerade 
die  hervorstechendste  Eigenschaft  der  Jungherrn  von  Carrion  nicht. 
Das  zeigte  sich  bald.  Eines  Tages  bricht  im  Palast  ein  gefangener 
Löwe  aus;  da  verkriecht  sich  der  eine  unter  dem  Bette,  der  andere 
hinter  einer  Weinkelter,  während  der  Cid  geraden  Schritts  auf  das  Tier 
zugeht,  es  beim  Genick  packt  und  ins  Netz  zurückwirft.  Zum  Über- 
druss  erfolgt  ein  neuer  Einfall  der  Maroccaner;  die  Infanten  müssen 
trotz  ihres  inneren  Widerstrebens  zum  Gefecht  ausreiten  und  sich  nach- 
her die  unverdienten  Lobsprüche  ihres  Schwiegervaters  gefallen  lassen, 
die  sie  wie  Hohn  treffen.  Sie  beschliessen  nach  Carrion  zurückzukehren 
und  erhalten  beim  Abschied  abermals  reiche  Geschenke  von  Bodrigo, 
der  nichts  ahnt  von  ihrer  niederträchtigen  Heimtücke.  Denn  Gewinn- 
sucht war  ihre  einzige  Triebfeder.  Ein  Anschlag  auf  den  Mauren  Aben- 
galvon  von  Molina,  den  treuen  Klienten  des  Cid,  der  ihnen  das  Geleite 
über  die  Wasserscheide  giebt,  misslingt.  Aber  jenseits  des  Duero,  im 
Eichwaldgrunde  von  Corpes  bleiben  sie  mit  ihren  Frauen  hinter  dem 
Tross  zurück,  und  nachdem  sie  ihnen  die  Kleider  vom  Leibe  gerissen 
und  sie  mit  Sporen  und  Sattelgurt  blutig  geschlagen,  geben  sie  sie  den 
Tieren  und  Vögeln  des  Waldes  preis.  Zum  Glück  hatte  ihr  Vater 
einen  seiner  Neffen  mitgeschickt,  um  rascher  Nachricht  von  ihrer  An- 
kunft zu  erhalten.  Dieser  schöpft  Verdacht,  kehrt  unbemerkt  um  und 
findet  die  Unglücklichen  in  der  Einöde  verlassen  und  halb  entseelt. 
Rasch  ruft  er  sie  zu  sich  und  labt  sie  mit  einem  Trunk  Wasser  und 
bringt  sie  zurück  nach  San  Esteban,  wo  er  sie  pflegt,  bis  ihr  Vater  be- 
nachrichtigt ist  und  sie  abholen  lässt. 


202  Ph-  Aug.  Becker 

Nicht  minder  als  der  Vater  ist  der  König  durch  diese  freche  Ver- 
letzung der  von  ihm  betriebenen  Ehen  beleidigt.  Auf  die  Klage  des 
Cid  ladet  er  die  Missethäter  vor  seinen  Hof  nach  Toledo.  In  würdigem 
Aufzug  erscheint  der  gekränkte  Held,  und  nachdem  die  Bichter  ernannt 
sind,  fordert  er  zuerst  die  beiden  Schwerter  zurück,  die  er  seinen  Schwieger- 
söhnen beim  Abschied  gab,  dann  die  Dreitausend  Mark  Silber  der  Mit- 
gift, und  zum  Schluss  verlangt  er  Rechenschaft  für  den  an  seinen 
Töchtern  begangenen  Schimpf.  Stolze,  herausfordernde  Worte  fallen  von 
beiden  Seiten,  bis  ein  dreifacher  Zweikampf  zwischen  den  Söhnen  Gon- 
zales von  Carrion  und  drei  Getreuen  des  Cid  vereinbart  ist.  und  da- 
mit die  Genugthuung  vollkommen  sei,  treten  die  Infanten  von  Navarra 
und  Aragon  hervor  und  bitten  für  sich  um  die  Hand  der  beiden  ver- 
lassenen Frauen.  An  den  ufern  des  Carrion  findet  der  gerichtliche  Zwei- 
kampf statt  und  endet  mit  der  gerechten  Sühne. 

So  steigert  sich  die  Dichtung,  die  etwas  breit  und  fast  im  Ton 
einer  Biographie  anhebt,  zum  Schlüsse  zu  einem  leidenschaftlich  packen- 
den Drama.  Für  die  Zeitgenossen  brauchte  die  unverhältnissige  Länge 
der  Einleitung  eine  Rechtfertigung  nicht;  in  jenem  Siegeszug  des  Helden 
bis  zur  Einnahme  von  Valencia  bejubelten  sie  ein  Stück  vaterländischer 
Geschichte,  einen  der  glorreichsten  Momente  ihrer  nationalen  Expansion. 
Allein,  die  höhere  Einheit  der  Handlung,  wie  sie  die  Poesie  erfordert, 
bringt  erst  die  verhängnisvolle  Vermählung  mit  ihren  tragischen  Folgen. 
Wie  uns  diese  Verwicklung  den  Helden  menschlich  näher  rückt,  so  führt 
sie  auch  die  befriedigende  Lösung  herbei;  denn  von  richtigem  Gefühl 
geleitet,  hat  der  unbekannte  Dichter  die  Bache  des  gekränkten  Vaters 
in  würdiger  Weise  mit  der  Versöhnung  zwischen  König  und  Vassall  zu 
verbinden  und  diese  geschickt  vorzubereiten  gewusst. 

Der  dichterischen  Bedeutung  des  Poema  del  Cid  thut  es  nun  keinen 
Abbruch,  dass  die  Einzelheiten  der  Geschehnisse  und  vor  allem  die  Haupt- 
begebenheit selbst,  die  erste  Vermählung  der  Töchter  des  Cids,  nicht 
geschichtlich  sind.  Denn  der  Wert  eines  Heldenliedes  liegt  ja  nicht 
darin,  dass  es  uns  eine  Chronik  ersetzen  kann,  sondern  in  der  Anschau- 
lichkeit und  Lebhaftigkeit,  mit  denen  es  uns  Leben  und  Sitten,  Denken 
und  Fühlen  vergangener  Zeiten  vor  Augen  führt;  und  wahrlich  wenige 
Dichtungen  sind  in  gleichem  Masse  vom  Zauber  einer  eigenartigen 
Zivilisation  durchwoben  und  geben  uns  so  voll  die  Vision  der  Wirklich- 
keit wie  das  alte  Cidpoem.  Fügen  wir  noch  die  schlichte  Kraft  der 
Sprache,  die  die  Unfertigkeit  der  Verskunst  etwas  ungelenk  überwindet^ 
die  plastische,  oft  dramatisch  belebte  Darstellung  und  die  sympathische 


Die  spanische  Litteratnr  von  ihren  Anfangen  bis  zu  den  kathoh'schen  Königen    203 

Wärme  der  Erzählung  hinzu,  so  muss  man  bekennen,  dass  Spanien  an 
dieser  ersten  Eingebung  seiner  Muse  eine  Perle  ächter  und  unvergäng- 
licher Poesie  und  einen  wahren  nationalen  Schatz  besitzt. 

Schade  ist  es  um  den  Verlust  einer  zweiten  Ciddichtung,  des  Cerco 
de  Zamora  (Belagerung  Zamoras).  Sie  berichtete  von  der  Reichsteilung 
Fernandos  I,  vom  Bruderkrieg  unter  seinen  Söhnen,  von  der  Flucht 
Alfonsos  nach  Toledo  und  der  Belagerung  der  Infantin  Dofia  ürraca 
in  Zamora,  von  der  meuchlerischen  Ermordung  Sanchos  durch  Yellido 
Dolfos,  der  Rückkehr  Alfonsos  und  dem  Eidschwur,  mit  dem  ihn  der 
Cid  und  die  Kastilier  zwingen,  seine  Unschuld  an  der  Ermordung  seines 
Bruders  zu  erhärten,  —  eine  stolze  Scene,  die  den  nachhaltigen  Groll 
Alfonsos  begreiflich  macht. 

Ein  Denkmal  des  raschen  Verfalls  der  Juglarpoesie  ist  der  Rodrigo^ 
auch  Grönica  rimada  oder  Leyenda  del  Cid  genannt,  der  uns 
mit  der  Jugendgeschichte  des  Helden  von  Bivar  auf  Grund  willkürlicher 
Erfindung  bekannt  macht.  Eine  Privatfehde  ist  zwischen  dem  Grafen 
Gomez  de  Gormaz  und  Diego  Lainez  ausgebrochen.  Jener  übereilt  die 
Hirten,  dieser  zur  Rache  die  Wäscherinnen  seines  Gegners.  In  dem 
zum  Austrag  des  Zwistes  verabredeten  Waffengang  erschlägt  Diegos 
kaum  dreizehnjähriger  Sohn  Rodrigo  den  Grafen  und  macht  seine  zwei 
Söhne  zu  Gefangenen.  Diese  giebt  der  Jüngling  ihren  Schwestern,  die 
in  Trauerkleidern  nach  Bivar  kommen,  zurück;  und  bevor  jetzt  die 
Fehde  von  neuem  losbricht,  begiebt  sich  Ximena,  die  jüngste,  an  den 
Hof,  um  Sühne  zu  verlangen.  Der  König,  Don  Fernando,  scheut  sich 
den  Zorn  der  Kastilier  zu  reizen;  da  schlägt  das  Mädchen  resolut  den 
rechten  Ausgleich  vor:  man  gebe  ihr  Rodrigo  zum  Manne!  Dem  Ge- 
bote des  Königs  fügt  sich  Rodrigo,  doch  gelobt  er  seine  Gemahlin  erst 
nach  fünf  siegreichen  Schlachten  zu  sehen.  Gelegenheit  bieten  ihm  bald 
Einfälle  der  Sarazenen,  eine  Herausforderung  des  Königs  von  Aragon 
an  Fernando,  ein  Aufruhr  der  kastilischen  Grossen  und  zum  Schluss  die 
Tributforderung  des  Königs  von  Frankreichs,  des  Kaisers  und  des  Papstes, 
die  Rodrigo  mit  einem  Einfall  nach  Frankreich  erwiedert,  wobei  er  den 
Herzog  von  Savoyen  an  der  Rhone  schlägt  und  bis  vor  die  Thore  von 
Paris  dringt.  Wie  man  sieht,  ist  der  Stoff  nicht  ohne  Interesse,  allein 
die  dichterische  Ausführung  ist  unbeholfen,  von  roher  Komik  durchsetzt; 
und  die  Unbotmässigkeit  des  Helden  gegen  den  König  steht  in  ciuf- 
fallendem  Widerspruch  mit  seiner  früheren  idealen  Auffassung. 

Dem  Sagenkreis  vom  Cid  hat  die  altkastilische  Heldendichtung 
keinen  zweiten  von   gleicher  Bedeutung  an  die  Seite  zu  stellen;  doch 


204  Ph.  Aug.  Becker 

haben  wir  noch  Kunde  von  zwei  einzelnen  Liedern,  in  denen  die  ferne 
Erinnerung  an  uralten  Familienzwist  iHre  poetische  Verewigung  gefunden 
hat.  Das  eine,  el  Romanz  del  Infant  Gardu,  dem  ein  Vorfall  aus  dem 
Jahre  1029  zu  Grunde  liegt,  erzählte  die  verhängnisvolle  Brautfahrt  des 
Erben  von  Kastilien,  der  die  Schwester  des  Königs  von  Leon  heimfahren 
soll  und  vor  dem  Ziele  dem  Morderstahl  des  feindlichen  Geschlechts  der 
Vela  erliegt.  Das  zweite,  la  Estoria  de  los  siete  infantes  de  Lara^  spielte 
am  Ende  des  10.  Jahrhunderts  und  atmete  die  wildeste  Leidenschaftlich- 
keit. Ruy  Velasquez  Gemahlin,  Doila  Lambra,  hegt  einen  tötlichen  Hass 
gegen  den  Schwager  ihres  Gatten,  Gonzalo  Gustioz,  und  dessen  sieben 
Söhne.  Den  Anlass  gab  ein  Lanzenstechen  bei  ihrem  Hochzeitsfest,  bei 
dem  es  von  höhnischen  Worten  zu  Thätlichkeiten  kam  und  der  jüngste 
der  Infanten,  Gonzalo  Gonzalez,  ihren  Bruder  erschlug.  Man  versöhnt« 
sich  zwar  und  vertraute  zur  Befestigung  der  Freundschaft  die  Infanten 
der  Pflege  ihres  Oheims  an.  Aber  bald  ruft  Doüa  Lambras  Rachsucht 
eine  neue  Blutthat  hervor,  für  die  Ruy  Velasquez  trotz  scheinbarer  Ver- 
söhnung unerbittliche  Rache  schwört.  Unter  falschem  Vorwand  sendet 
er  seinen  Schwager  an  den  Hof  Almanzors  mit  einem  Brief  in  arabischer 
Sprache,  auf  den  hin  Gonzalo  Gustioz  in  den  Kerker  geworfen,  seine 
Söhne  in  einen  verabredeten  Hinterhalt  gelockt  und  nach  tapferer  Gegen- 
wehr samt  ihrem  Erzieher  getötet  werden.  Die  acht  Köpfe  lässt  Almanzor 
waschen  und  ihrem  Vater  vorlegen,  der  sie  erkennt  und  in  namenlosem 
Schmerz  zu  ihnen  redet,  als  wären  sie  noch  am  Leben.  Den  Opfern 
ersteht  nach  Jahren  ein  Rächer  an  Mudarra,  dem  unehelichen  Sohn 
Gonzales  und  einer  Maurin.  Seiner  Sühneforderung  sucht  Ruy  Velas- 
quez vergeblich  auszuweichen;  Mudarra  fangt  ihn  beim  Morgengrauen 
auf  der  Landstrasse  ab  und  erdolcht  ihn,  und  später,  nach  dem  Tode 
des  verwandten  Grafen  von  Kastilien,  lässt  er  auch  Do&a  Lambra  ver- 
brennen. —  Noch  heute  sieht  man  in  der  Kirche  von  Salas  de  Barba- 
dillo  die  acht  verdorrten  Köpfe,  an  denen  Sage  und  Dichtung  haftet. 

Wie  nahe  es  auch  lag,  so  haben  die  Spanier  von  französischen  Epen- 
stofifen  doch  nur  wenig  entlehnt,  und  nur  solches,  das  der  nationalen 
Tendenz  ihrer  Litteratur  entsprach.  So  gefiel  ihnen  Karls  des  Grossen 
sagenhafte  Jugendgeschichte,  weil  sie  in  Spanien  spielt;  aber  die  Roland- 
sage musste  sich  eine  merkwürdige  Umgestaltung  gefallen  lassen.  Karls 
Zug  über  die  Pyrenäen  verletzte  den  spanischen  Nationalstolz,  und  so 
wurde  Roncesvalles  als  eine  nationale  Heldenthat  aufgefasst  und  als 
Gegner  Rolands  und  Rächer  der  bedrohten  Unabhängigkeit  ein  Bernaldo 
del  Carpio  erfunden,   von  dessen  romantischen  Lebensschicksalen  zuerst 


Die  spanische  Litteratur  von  ihren  Anfängen  bis  zu  den  katholischen  Königen     205 

gelehrte  Geschichtsfälscher  und  nach  ihnen  auch  die  Volkssänger  manches 
zu  berichten  wussteu. 

Das  sind  die  Erzeugnisse  der  volkstümlichen  Heldendichtung  Spaniens, 
von  denen  wir  verbürgte  Kunde  haben.  Erhalten  sind  uns  nur  zwei  Denk- 
male in  jüngerer  Niederschrift,  Poema  del  Cid  und  Rodrigo.  Die  übrigen 
kennen  wir  hauptsächlich  durch  die  Chronik  Alfonsos  X,  die  mit  Vor- 
liebe den  Inhalt  der  cantares  de  gesta  wiedergiebt  und  so  zu  einer  un- 
schätzbaren Fundgrube  für  die  späteren  Bomanzendichter  wurde. 

Die  altkastiiische  Kanstpoesie. 

1200—1250. 

Anfänglich  hatte  die  Kirche  die  weltlichen  Sänger  einen  Vorsprung 
nehmen  lassen.  Auf  die  Dauer  war  es  aber  undenkbar,  dass  die  Ver- 
treterin der  Schulbildung,  die  Geistlichkeit,  sich  von  der  werdenden 
Litteratur  fernhalten  sollte.  Natürlich  ergriff  sie  deren  Pflege  im  Inter- 
esse der  Kirclie,  zur  Erbauung  und  Belehrung  des  Volkes,  und  entnahm 
ihre  Stoffe  auf  gut  Glück  dem  fertigen  französischen  und  lateinischen 
Vorrat. 

Die  ersten  Versuche  verraten  noch  grosse  Unselbständigkeit  und 
unsicheres  Tasten.  Keclit  linkisch  ahmt  ein  Aragonier  im  Leben  der 
Ii.  Maria  Aegyptiaca,  der  reuigen  Büsserin,  die  geparten  Kurzzeileu 
seiner  franzosischen  Vorlage  nach ;  im  gleichen  Ton  erzählt  ein  kürzeres 
Gedicht  die  ansprechende  Legende  vom  guten  Schacher,  der 
schon  in  der  Wiege  die  Gnade  des  Heilands  erfährt.  Kastilien  stand 
auch  nicht  abseits,  wie  eine  Bearbeitung  des  Streits  zwischen  Leib 
und  Seele  zeigt,  jener  wirkungsvollen  Vision,  in  der  sich  die  gepeinigte 
Seele  und  der  verwesende  Leib  gegenseitig  für  ihre  Verdammnis  verant- 
wortlich machen.  Das  einzige  einigermassen  selbständige  Erzeugnis  dieser 
Vorbereitungszeit  ist  ein  Gedicht  vom  Streit  zwischen  Wasser 
und  Wein,  in  das  der  Dichter,  ein  weitgereister  Scholar  aus  Aragon, 
eine  seltsame  Schilderung  seiner  ersten  Begegnung  mit  der  noch  unbe- 
kannten Geliebten  eingewoben  hat. 

Auch  das  kirchliche  Schauspiel  entlehnte  Spanien  seinen  nordöst- 
lichen Nachbarn;  doch  hat  es  nur  geringe  Spuren  hinterlassen.  Eine 
ungeübte  Hand  hat  die  Hälfte  eines  Weihnachtsspiels,  Misterio  de  los 
reges  magos^  auf  die  Rückblätter  einer  Handschrift  der  Kapitelbibliothck 
von  Toledo  aufgeschrieben.  Von  verschiedenen  Weltgegenden  kommen 
die  Weisen  aus  Morgenland  zusammen,  unschlüssig  ob  sie  dem  Wahr- 

NEUE  HEIDELB.  JAHRBUECIIER  XII.  14 


206  ^^-  Ang.  Becker 

zeichen  des  Sterns  glauben  und  folgen  sollen,  und  begeben  sich  dann 
vereint  zu  Herodes ;  dieser  fordert  sie  auf  nach  der  Anbetung  des  Kindes 
zurückzukehren,  und  ruft  in  grosser  Bestürzung  die  Schriftgelehrten  zu- 
sammen, die  sich  um  das  Bekenntnis  herumzudrücken  suchen :  das  alles 
im  freieren  Bythmus  der  lateinischen  Mysterien  vorgetragen.  Ein  Stück 
aus  einem  Ost  er  spiel,  das  Lied  der  Wächter  am  Grabe  und  ihr  Ge- 
spräch mit  den  Juden  in  derb  volkstümlichem  Ton,  hat  Berceo  in  eine 
seiner  Dichtungen  eingelegt.  Weitere  Spuren  fehlen.  Wahrscheinlich 
hörten  auch  in  Spanien  die  Aufführungen  in  der  Kirche  bald  auf,  sie 
fanden  aber  nicht  wie  anderwärts  eine  Fortsetzung  auf  dem  Marktplatze. 

Einen  frischen  Zug  brachte  Gonzalo  de  Berceo  und  seine  Schule 
in  die  geistliche  Kunstdichtung.  Gonzalo  wurde  unweit  Näjera  im  Dorfe 
Berceo  geboren  und  im  Kloster  San  Millan  erzogen  und  lebte  hier  zwischen 
1220  und  1240  als  Diakon  und  Priester.  Zum  lateinischen  Stilisten 
nicht  geschult  genug,  unternahm  er  es  in  einfacher,  gemeinverständ- 
licher Sprache  für  das  Volk  zu  schreiben.  In  treuherziger  Einfalt  und 
redseliger  Weitläufigkeit,  anschaulich,  realistisch  und  lebendig,  doch  mit 
wenig  Phantasie  erzählt  er  das  Leben  des  hl.  Dominicus  von  Silos,  des 
hl.  Aemilianus,  der  hl.  Aurea,  den  Martertod  des  hl.  Laurentius,  die 
Zeichen  des  jüngsten  Gerichtes,  Marienwunder  und  die  Klage  der  Jung- 
frau am  Kreuz  nach  lateinischen  Quellen ;  selber  zusammengetragen  hat 
er  nur  die  kürzeren  Dichtungen  zum  Lob  der  Jungfrau  und  vom  Mess- 
opfer. Religiös  wie  die  Stoffe  sind  Gesinnung  und  Stimmung  des 
Dichters:  seine  kindliche  Frömmigkeit  kommt  mitunter  zu  innigem  Aus- 
druck, und  bei  der  Beschreibung  der  übersinnlichen  Welt  teilt  sich  etwas 
von  seinem  Entzücken  seiner  Darstellung  mit.  Nur  einmal,  vielleicht 
in  seiner  Jugend  hat  Gonzalo  einen  weltlichen  Vorwurf,  die  Alexander- 
sage, gewählt  und  nach  dem  lateinischen  Epos  Gautiers  von  Chätillon 
in  der  naiven  Auffassung  des  Mittelalters  behandelt.  Für  alle  diese 
Werke,  zusammen  mehr  als  20000  Verse,  bediente  sich  Berceo  weder 
der  schwankenden'  Langzeile  der  volkstümlichen  Heldendichtung  noch 
der  schlechtgemessenen  Acht-  und  Sechssilber  seiner  geistlichen  Vor- 
gänger, sondern  er  machte  sich  eine  bekannte  Form  der  französischen 
Didaktik,  die  einreimige  Alexandriner- Vierzeile  mit  fester  Silbenzahl  und 
reinem  Reim,  die  cuaderna  via,  wie  er  sie  nennt,  zu  eigen.  Diese  Reim- 
weise gab  auf  zwei  Jahrhunderte  das  Gewand  ab,  in  das  sich  die  spanische 
Poesie  kleidete. 

Den  Ruhm  dieser  Neuerung  könnte  möglicherweise  der  anonyme 
Libro  de  Apolonio,  eine  schlichte  Bearbeitung  des  weltberühmten  Romans 


Die  spaniacbe  Litteratar  von  ihren  Anfängen  bis  zu  den  katholischen  Königen     207 

vom  Könige  von  Tyrus,  für  sich  beanspruchen.  Jedenfalls  machte  das 
Eunstepos  in  der  neuen  Gestalt  sein  Glück.  Dem  Alexandre  folgte 
die  bald  verschollene  Übersetzung  der  französischen  Fortsetzung  der 
Sage,  ^das  Pfauengelübde'.  Besondere  Beachtung  verdient  aber  der  Ver- 
such, einen  nationalen  Gegenstand  im  Geschmack  Berceos  zu  behandeln. 
Diesen  Versuch  machte  ein  Mönch  von  San  Pedro  de  Ärlanza.  In 
diesem  Kloster  ruhten  die  Gebeine  des  Grafen  Fernan  Gonzalez 
(932 — 970),  dem  Kastilien  seine  Selbständigkeit  verdankte,  und  den  die 
späteren  Könige  zu  ihren  Ahnen  zählten.  Diesem  weihte  der  Mönch 
sein  Gedicht,  einen  wahren  historischen  Roman,  indem  er  seine  aus 
Chroniken  geschöpften,  vagen  Geschichtskenntnisse  in  Anlehnung  an  ge- 
wisse Klostertraditionen  und  mit  Hülfe  hier  und  dort  entlehnter  Er- 
zählungsmotive frei  erfindend  ergänzte.  Gleich  dem  Alexander  der  Sage 
wächst  Fernan  Gonzalez  unbekannt  auf,  kämpft  dann  siegreich  und  unter 
sichtbarem  Beistand  des  Himmels  gegen  die  Ungläubigen.  Mitten  in 
seinen  Erfolgen  von  Sancho  von  Navarra  überfallen,  besiegt  er  ihn,  lässt 
sich  aber  von  dessen  Schwester,  der  Königin  von  Leon,  durch  die  Vor- 
spiegelung einer  Ehe  mit  ihrer  Nichte  überlisten.  Doch  Sancha,  die 
Nichte,  erbarmt  sich  des  Gefangenen  und  flieht  mit  ihm  unter  aben- 
teuerlichen Gefahren  durch  unwirtliche  Gebirgspfade,  bis  sie  den  Kasti- 
liern  begegnen,  die  sich  ein  Steinbild  von  ihrem  Grafen  angefertigt 
haben  und  unter  Voranführung  desselben  zu  seiner  Befreiung  ausgezogen 
sind.  Nun  gerät  der  König  von  Leon  in  Gefangenschaft,  wird  aber  un- 
klugerweise von  Sancha  freigegeben.  Dann  fällt  wieder  Fernan  Gonzalez 
in  die  Hände  seiner  Feinde:  Sancha  besucht  ihn  in  Spielmannstracht 
und  tauscht  die  Kleider  mit  ihm.  Jetzt  muss  der  König  von  Leon 
nachgeben ;  Fernan  Gonzalez  hatte  ihm  früher  Pferd  und  Sperber  unter 
der  Bedingung  verkauft,  dass  der  Kaufpreis  bei  jeder  Zahlungsverzöge- 
rung verdoppelt  würde.  Da  die  Summe  unerschwinglich  gewurden  ist, 
muss  der  König  die  Unabhängigkeit  Kastiliens  anerkennen.  —  Auch 
diese  abenteuerlich  romantischen  Erfindungen  des  Mönchs  von  Arlanza 
sind  durch  Vermittlung  von  Alfonsos  Chronik  in  den  Schatz  der  poe- 
tischen Nationalerinnerungen  Spaniens  übergegangen. 

Die  altkastllische  Prosa. 

1250-1350. 

Bis  zur  Mitte  des  13.  Jahrhunderts  vermochte  die  Prosa  nicht 
gleichen  Schritt  mit  der  Dichtkunst  zu  halten.  Ihre  Leistungen  be- 
schränken sich  auf  die  ziemlich    dürftigen   toledaner  Annalen,   einige 

14* 


208  Ph.  Aug.  Becker 

magere  Geschlechtstafeln  und,  zum  Schluss,  Übersetzungen  der  Ge- 
schichtswerke des  Erzbischofs  Rodrigo  von  Toledo  und  die  1241  von 
Fernando  III  angeordnete  Übertragung  der  lex  Visigotorum,  das  sog. 
fiiero  juzgo  (forum  judicum),  als  Landesgesetz  für  die  neugewonnenen 
Gebiete.  Mittlerweile  bildete  sich  indessen  in  der  königlichen  Kanzlei, 
die  mehr  und  mehr  die  Volkssprache  an  Stelle  der  lateinischen  einführte, 
eine  feste  Tradition  aus,  die  dem  Eastilischen  die  Würde  der  offiziellen 
Verwaltungssprache  verlieh  und  es  für  die  grossartige  Schriftsteller- 
thätigkeit  Alfonsos  X  geschmeidig  machte. 

Alfonso  X,  den  die  Nachwelt  den  Weisen  oder  den  Gelehrten 
(el  Sabio)  genannt  hat,  ward  1230  geboren;  als  Infant  erwarb  er  Waifen- 
ruhm  bei  der  Einnahme  von  Murcia,  und  1252  übernahm  er  das  Reich 
von  seinem  Vater,  Fernando  III,  dem  Heiligen,  in  einer  bis  dahin  nicht 
erreichten  Ausdehnung  und  Festigkeit;  Leon  endgiltig  mit  Kastilien 
vereint;  Friede  mit  Portugal  und  Aragon;  Cördova,  Sevilla,  Xeres  im 
Besitz  der  Christen ;  Murcia,  Granada  nnd  Niebla  im  Vassallenverhältnis. 
Seiner  engeren  Sphäre  entsteigend,  durfte  Kastilien  sein  Wort  in  der 
Weltpolitik  mitreden.  Allein,  die  blendende  Verlockung  der  deutschen 
Kaiserkrone,  die  den  Sohn  der  Stauferin  Beatrix  bestrickte,  ward  für 
ihn  wie  für  das  Land  verhängnisvoll.  Sie  lähmte  sein  Wollen  und  seine 
Thatkraft  nach  beiden  Seiten,  verwickelte  sein  Leben  in  eine  Kette  von 
Empörungen,  hinderte  ihn  die  der  Erfüllung  so  nahe  gerückten  hohen 
Aufgaben  seiner  Nation  zu  verwirklichen,  und  liess  ihn,  nachdem  der 
Traum  des  Weltimperiums  zerronnen  war,  1284  im  Zerwürfnis  mit  dem 
eigenen  Thronfolger  sterben. 

Früh  erwachte  in  dem  Prinzen  die  Liebe  zur  Wissenschaft,  und  er 
blieb  ihr  sein  Leben  lang  treu.  Es  ist  sein  Verdienst,  durch  Anregung 
und  eigenen  Fleiss  die  Schätze  arabischen  Wissens  und  Dichtens  seinem 
Volke  und  durch  dessen  Vermittelung  dem  Abendlande  in  höherem  Ma^^se 
erschlossen  zu  haben.  Bereits  1241  erwarb  er  Arbolays  astrologisches 
Stein  buch  und  liess  es  übertragen.  Noch  als  Infant  ordnete  er  die  Über- 
setzung von  Calila  und  Dimnaj  der  arabischen  Bearbeitung  des  Pant- 
schatantra,  an.  Am  beharrlichsten  förderte  er  die  Sternkunde.  Durch 
jüdische  Gelehrte  liess  er  die  astronomischen  Tafeln  des  Ptolemäus  revi- 
dieren und  bericlitigen,  und  lange  dienten  diese  tablas  alfonsis  beim 
höheren  Unterricht  als  Grundlage.  Auf  seine  Anordnung  wurden  die 
Beobachtnngs-  und  Messinstrumente  der  Alten  wieder  hergestellt  und 
verbessert  und  eine  Reihe  von  Schriften  über  ihren  Bau  und  Gebrauch 
aus  dem  Arabischen  übersetzt  oder,  wo  nichts  vorhanden  war,  angefertigt. 


Die  spanische  Litteratur  von  ihren  Anfängen  bis  zu  den  katholischen  Königen     209 

Dabei  bestimmte  der  gelehrte  Fürst  nicht  nur  die  Wahl  des  Themas, 
sondern  verfugte  über  Kapiteleinteilung,  verfasste  Prologe,  besserte  sprach- 
lich nach  und  Hess  nötigenfalls  eine  minder  gelungene  Arbeit  abermals 
in  Angriff  nehmen.  Den  Intentionen  seines  Vaters  folgend,  bemühte 
sich  der  König  um  die  Vereinheitlichung  der  Gesetzgebung,  konnte  aber 
gegen  den  Widerstand  der  kastilischen  Bicoshombres  nicht  durchdringen. 
Das  zuerst  kodifizierte  Fuero  real  (Königsrecht)  wurde  seit  1255  mehreren 
Städten  verliehen;  dann  veranstaltete  Alfonso  eine  Auslese  des  Besten 
unter  den  bestehenden  Bechtsgebräuchen,  den  Espejo  de  todos  los  dere- 
chos  (Spiegel  aller  Bechte) ;  seine  bedeutendste  Leistung  auf  diesem  Ge- 
biete sind  aber  die  mehr  philosophierenden  und  stark  von  römischen 
Grundanschauungen  beeinflussten  Stete  PartidaSy  die  erst  1348  und  nur 
teilweise  zur  Geltung  kamen,  aber  nicht  ohne  Einfluss  auf  Moral  und 
Staatslehre  blieben.  Durch  die  grossen  lateinischen  Geschichtswerke 
eines  Lucas  von  Tuy  und  Bodrigo  von  Toledo  angeregt,  unternahm  der 
Monarch  eine  Geschichte  Spaniens  (Historia  de  Espana),  in  der  er  die 
Heimsuchungen  des  Landes,  d.  i.  die  römischen  Verheerungen,  den  Adel 
der  Goten,  die  arabische  Eroberung  und  den  Befreiungskampf  schildern 
wollte,  und  die  er  in  vier  Büchern  bis  zu  seinem  Begierungsantritt 
führte:  eine  wichtige  Quelle  für  den  jüngsten  Zeitabschnitt,  unpersön- 
lich in  der  Darstellung,  in  lebendig  ausdrucksvoller  Sprache,  sonst  wenig 
kritisch  und  daher  für  epische  Berichte  so  empfänglich.  Hieran  schloss 
sich  das  umfänglichere,  wahrscheinlich  unvollendete  Unternehmen  einer 
Weltgeschichte  (Grande  y  general  Historia),  Von  dem  auf  Wunsch 
des  Vaters  begonnenen.  Septenario,  der  Absicht  nach  eine  Encyklopädie 
der  freien  und  technischen  Künste,  hat  sich  nur  der  Anfang  erhalten; 
andere  Übersetzungen,  die  Alfonso  veranlasst  haben  soll,  sind  verschollen ; 
das  unter  seiner  Mitwirkung  verfasste  Buch  vom  Schach-,  Würfel  und 
Brettspiel  harrt  noch  der  Veröffentlichung.  Endlich  besitzen  wir  auch 
ein  Liederbuch  Alfonsos  in  galicischer  Sprache,  428  Wundererzählungen 
und  Hymnen  zum  Lob  der  Jungfrau  Maria.  Wahrlich  Achtung  ge- 
bietende Leistungen,  weniger  durch  Originalität  der  Gedanken  ausge- 
zeichnet als  durch  Vielseitigkeit  des  Wissens  und  Bemühens,  und  noch 
heute  anziehend  durch  die  Jugendfrische  der  urwüchsigen,  malerischen 
Sprache,  die  das  beste  Eigentum  des  Königs  ist  und  sein  sicherster 
Titel  auf  Nachruhm. 

Die  litterarischen  Neigungen  wurden  auch  von  anderen  Mitgliedern 
der  königlichen  Familie  geteilt  und  gingen  auf  Söhne  und  Enkel  als 
Erbteil  über.  Alfonsos  Bruder,  don  Fadrique,  der  sein  unruhiges  Leben 


210  Ph.  Aug.  Becker 

grösstenteils  im  Ausland  verbrachte  und  es  schliesslich  als  Emporer 
verwirkte,  liess  in  jungen  Jahren  die  Apologensammlung  des  Sindibad 
als  *Buch  von  der  Frauen  Trug  und  List'  (Libro  de  los  enganos  e  assaya- 
mientos  de  las  mugeres)  aus  dem  Arabischen  übertragen.  Alfonsos  Sohn 
und  Nachfolger,  Sancho  IV  (1284—95),  der  durch  seine  Thatkrait 
manchen  Schaden  der  letzten  Regierung  wieder  heilte,  liess  Seneca  catitra 
la  ira  e  la  sana  und  Brunetto  Latinis  Libro  del  Tesoro  übersetzen  und 
gab  die  Anregung  zu  einer  umfassenden  Erzählung  der  Kreuzfahrten, 
la  Gran  conquista  de  Ultramar,  in  welcher  die  bekannte  Krcuzzngs- 
geschichte  Wilhelms  von  Tyrus  mit  den  provenzalischen  und  französischen 
Dichtungen  von  Antiochia  und  Jerusalem  nebst  dem  ganzen  Epcncyklns 
vom  Schwanenritter  verarbeitet,  und  so  statt  einer  Geschichte  ein  statt- 
licher Boman  geschaffen  wurde.  Er  selber  verfasste  ein  Lucidiario  in 
Form  von  Gesprächen  zwischen  Lehrer  und  Schüler  über  lauter  heikle 
Fragen,  bei  denen  Theologie  und  natürliche  Erkenntnis  in  Widerstreit 
liegen;  und  1292  vollendete  er  im  Lager  vor  Tarifa  Lehren  und  Unter- 
weisungen an  seinen  Sohn  {Castigos  y  documentos  que  daba  a  su  hijo)^ 
Frucht  grosser  Belesenheit,  behaglich  breit,  in  feierlich  gehobener  Rede, 
mit  Sentenzen  und  Beispielen  gewürzt,  doch  weniger  persönlich  als  man 
erwarten  sollte.  Dieser  Sohn,  Fernando  IV,  erreichte  nur  ein  Alter  von 
22  Jahren  und  hinterliess  die  Krone  einem  einjährigen  Kinde,  A 1  f  on  so  XI, 
der  nach  einer  wirrenreichen  Minorität  die  Zügel  der  Regierung  kraft- 
voll ergriff,  das  königliche  Ansehen  wieder  herstellte,  Algeciraz  bezwang 
und  1350  vor  Gibraltar  an  der  Pest  starb.  Ihm  verdanken  wir  ein 
Buch  von  der  Hochjagd;  seinen  Schreiber  Nicolas  Gonzalez  betraute  er 
mit  der  Bearbeitung  der  Trojanersage  nach  Benoit  de  Sainte-More;  am 
meisten  machte  er  sich  aber  dadurch  verdient,  dass  er  die  seit  Alfonso  X 
schlummernde  Historiographie  wieder  weckte,  indem  er  seinen  Kanzler 
Fernan  Sanchez  de  Tovar  beauftragte,  die  Geschichte  seiner  Vor- 
gänger und  seiner  eigenen  Regierung  niederzuschreiben.  Den  begabtesten 
Schriftsteller  aus  königlichem  Geblüt  werden  wir  aber  im  Infanten  don 
Juan  Manuel,  einem  Neffen  Alfonsos  X,  kennen  lernen. 

Ihrem  Wesen  nach  ist  die  Prosa  dieses  Zeitraums  lehrhaft;  beson- 
derer Gunst  erfreut  sich  dabei  die  Spruchlitteratur,  jene  sentenziöse 
Verarbeitung  griechischer  Philosophenweisheit,  welche  die  Araber  dem 
Abendlande  vermittelten.  Schon  Alfonso  X  schöpft  aus  ihr,  und  unter 
seiner  Regierang  wurden  sowohl  die  'Sittensprüche  der  Philosophen' 
(L.  de  los  buenos  proverbios)  des  nestorianischen  Arztes  Honein  ben 
Ischak,   des  Vaters  der   Gattung,  als   Mobasschirs  'Aussprüche  weiser 


Die  spanische  Litteratur  von  ihren  Anfängen  bis  zu  den  katholischen  Königen     211 

Männer',  die  vielbenutzten  Bocados  de  oro,  mit  den  ^Antworten  des  Philo- 
sophen Secundus  auf  die  Fragen  Kaiser  Hadrians'  ins  Spanische  über- 
setzt, auch  vom  ^Geheimnis  der  Geheimnisse*,  brieflichen  Katschlägen 
des  Aristoteles  an  Alexander,  ein  Auszug  (Poridad  de  las  poridades), 
sowie  das  metaphernsprudelnde  Fragespiel  der  Sklavin  Teweddud  {Teodor 
la  doficella).  Das  Beispiel  selbständiger  Verwertung  dieser  Spruchweis- 
heit gab  Sancho  IV  mit  den  Lehren  an  seinen  Sohn.  Zu  Lebzeiten 
dieses  Königs  entstand  vermutlich  die  Blutenlese  der  nach  Begriffsfächern 
geordneten  und  mit  Sprichwortern  untermischten  Flores  de  filosofia  und 
das  *Buch  von  den  Fürstenräten'  (L.  de  los  consejos  y  consejeros)^  dessen 
Verfasser  raaestre  Pero  Gomez  Barroso  1345  als  Kardinal  in  Avig- 
non  starb.  Junger  und  ziemlich  frei  ersonnen  ist  der  angeblich  am  Hofe 
Fernandos  III  zusammengestellte  Fürstenspiegel  der  'Zwölf  Weisen'  (Doce 
sabios) ;  und  noch  später  fällt  das  'Buch  der  34  Weisen',  das  meist  ältere 
Weisheit  auffrischt.  Auch  von  einer  abendländischen  Fabelsammlung, 
den  'Narrationes'  des  Cisterciensers  Odo  von  Sherington  —  eigentlich 
nur  Linienrisse  von  Fabeln  mit  scharf  satirischer  Anwendung  —  haben 
wir  eine  Übersetzung,  das  sg.  'Katzonbuclf  (L,  de  los  gatos).  Den 
steigenden  Einfluss  des  römischen  Altertums  vertritt  die  Fürstenlehre 
^de  regimine  principum',  die  Aegidius  Colonna,  ein  Römer,  für  seinen 
Zögling,  Philipp  den  Schönen  von  Frankreich,  verfasste  und  der  Beicht- 
vater der  Königin,  fray  Juan  Garcia  de  Castrojerix,  für  don 
Pedro,  den  Sohn  Alfonsos  XT,  ins  Kastilische  übertrug  und  um  zahl- 
reiche Lehren  und  Beispiele  vermehrte.  Die  Eingenommenheit  des  Mittel- 
alters für  moralische  Betrachtungen  und  nicht  minder  für  symbolische 
Einkleidung  und  bildlichen  Ausdruck  Hess  diesen  Litteraturzweig  kräftig 
gedeihen.  Die  für  Spanien  charakteristische  unmittelbare  Übernahme 
orientalischer  Schätze  überdauerte  übrigens  die  Zeit  Alfonsos  X  nicht, 
und  um  die  Mitte  des  14.  Jahrhunderts  hörte  die  wirksame  Pflege  der 
Sentenzen-  und  Apologenlitteratur  überhaupt  auf.  Aber  die  Leser  blieben 
ihr  noch  lange  treu,  wie  zahlreiche  Handschriften  und  Wiegendrucke 
bekunden ;  ja  das  eine,  oder  andere  läuft  noch  heute  als  Volksbuch  um. 
Auffallend  geringfügig  ist  im  Vergleich,  was  die  geistliche  Litte- 
ratur in  der  Volkssprache  leistete.  Den  Psalter  verdolmetschte  H  e  r  m  a  n 
el  A lern  an,  und  noch  vor  Ablauf  des  13.  Jahrhunderts  folgten  die 
übrigen  Bücher  der  Bibel.  Die  Wunder  des  hl.  Dominions,  bunte  Anek- 
doten, sammelte  1293  Pero  Marin,  Mönch  von  Silos  und  Priester. 
Von  den  schlichten  Traktaten,  die  der  Bischof  von  Jaen,  Pedro  Pas- 
cual,   ein   geborener   Valencianer,    während   seiner   Gefangenschaft   in 


212  Ph.  Aug.  Becker 

Granada  und  vor  seinem  Martertode  (1300)  zur  Stärkung  seiner  Leidens- 
genossen, verfasste,  fanden  mehrere  in  spanischer  Übersetzung  Verbrei- 
tung und  sind  teilweise  nur  in  dieser  erhalten.  Endlich  richtete  Rabbi 
Abner,  nach  seiner  Bekehrung  Alfonso  von  Valladolid,  1349  hochbetagt 
gestorben,  mehrere  Streitschriften  gegen  seine  früheren  Glaubensbrüder. 

Freiere  Schöpfungen  der  Phantasie  wagen  sich  im  Anfang  dieses 
Zeitraums  noch  nicht  unverhüllt  hervor,  sondern  verbergen  sich  hinter 
ernsteren  Absichten.  Sowohl  die  Umschreibung  spanischer  Heldenlieder 
in  Alfonsos  Chronik  wie  die  Auflösung  französischer  Epen  in  der  Gran 
conquista  de  Ultramar  sind  als  Geschichte  gemeint.  In  inniger  Ver- 
schmelzung des  Erbaulichen  mit  dem  Sentimental-romantischen  vereinigt 
eine  Handschrift  des  14.  Jahrhunderts  das  Leben  der  hl.  Maria  Magdalena 
und  Martha,  der  hl.  Maria  Aegyptiaca,  der  hl.  Katharina  von  Alexandrien 
und  die  Eustachiuslegende  —  selbst  nur  fromme  Romane  —  mit  be- 
liebten Varianten  der  spannenden  Geschichte  der  getrennten  und  wieder 
vereinigten  Familie  und  des  rührenden  Themas  der  unschuldig  verfolgten 
Gattin :  nämlich  'König  Wilhelm  von  England*  nach  dem  Roman  Chre- 
stiens  von  Troyes,  Trincess  Florencia  von  Rom'  und  'Königin  Sevilla' 
nach  zwei  französischen  Epen  der  Verfallszeit  und  die  'keusche  Kaiserio' 
nach  einer  Versnovelle  Gautiers  von  Coincy.  Ihren  feierlichen  Einzug 
hielt  aber  die  höfische  Ritterdichtung  unter  allgemeinem  Beifall  mit  der 
Übersetzung  des  Prosaromans  von  Tristan,  dem  1350  die  bereits  er- 
wähnte Bearbeitung  der  Trojasage  folgte. 

In  diese  Zeit  fällt  auch  der  erste  Versuch  selbständiger  Erfindung, 
der  Caballero  Cifar,  ein  seltsames  Stück  Unterhaltungslektüre.  Der 
Roman  spielt  in  Indien  (Abessinien)  und  erzählt  uns  nach  den  Aben- 
teuern des  Titelhelden,  der  sich  Frau  und  Kindern  entführen  sieht  und 
eben  die  Erbin  von  Menton  geheiratet  hat,  als  er  jene  wiederfindet,  auch 
die  seines  Sohnes  Roboan,  der  Kaiser  von  Tigrida  wird.  Wir  sehen 
alleinstehende  Frauen  von  mächtigen  Nachbarn  bedrängt;  züchtige  Erb- 
töchter neigen  dem  fahrenden  Ritter  ihre  Huld  zu  und  bringen  ihm 
Kronen  heim;  dazwischen  wird  die  Lebensweisheit  der  'Flores  de  filo- 
sofia'  mit  vollen  Händen  eingestreut.  Ein  versprechender  Ansatz  zu 
populärer  Komik,  die  Figur  des  Rüpels,  der  Cifar  in  den  schlimmen 
Tagen  seines  fahrenden  Rittertums  begleitet,  wird  zu  früh  fallen  ge- 
lassen. Am  anziehendsten  sind  zwei  Abstecher  ins  Zauberland  der  Feen : 
Die  Episode  vom  Ritter,  den  die  Seefrau  in  ihr  feuchtes  Reich  lockt 
und  zurückhält,  bis  er  infolge  einer  Untreue  den  schönen  Spuk  zerrinnen 
sieht,   und  die  Fahrt  Roboans  nach   den  Inseln  des  Überflusses,   deren 


Die  spaniscbe  Litteratnr  von  ihren  Anfängen  bis  zu  den  katholischen  Königen     2 1 3 

Herrschaft  er  mitsamt  dem  dort  gefundenen  Liebesglück  durch  nimmer- 
satte  Begehrlichkeit  verscherzt. 

Die  Reihe  der  Prosaschriftsteller  beschliesst  don  Juan  Manuel 
(1282—1348)  mit  ebenso  viel  Glanz,  als  sein  Oheim  Alfonso  der  Weise 
sie  eröffnete.  Mitten  in  einem  Leben  voll  Unruhe  und  ehrgeiziger  Händel, 
die  ihm  wiederholt  die  Waffen  in  die  Hand  drückten,  und  gerade  in 
den  bewegtesten  Jahren  zwischen  1320  und  1335  fand  der  feinsinnige 
Infant  Muse  zu  ausgiebiger  und  vielfältigster  schriftstellerischer  Thätig- 
keit.  Umfängliche  Geschichtswerke  wie  die  Alfonsos  mutete  er  sich 
freilich  nicht  zu;  er  fertigte  aber  einen  Auszug  aus  dessen  Geschichte 
Spaniens  zum  eigenen  Handgebrauch,  machte  sich  Aufzeichnungen  für 
die  Folgezeit  und  entwarf  eine  Denkschrift  über  sein  Familienwappen 
und  andere  die  Geschichte  seines  Hauses  betreffende  Fragen.  Seiner 
Liebe  zu  Kriegskunst  und  Waidwerk  entsprangen  das  verlorene  ^Buch 
über  Kriegsmaschinen'  und  das  ^Buch  von  der  Jagd',  worin  er  die  Falken, 
ihre  Arten,  ihre  Zucht  und  Pflege  und  Spaniens  beste  Reviere  für  Vogel- 
beize schildert.  Verschollen  ist  sein  Liederbuch  sowie  eine  Anleitung 
zur  Dichtkunst,  die  er  schrieb.  Seine  übrigen  Schriften  huldigen  der 
lehrhaften  Richtung  der  Zeit.  Zwei  seiner  ersten  Versuche,  ein  ^Buch 
der  Weisen'  und  ein  ^Buch  vom  Rittertum'  sind  in  Verlust  geraten. 
In  anmutige  Gesprächsform  kleidet  sich  das  ^Buch  vom  Ritter  und 
Knappen'  (L.  del  caballero  y  del  escudero):  Auf  dem  Wege  zum  Hofe, 
wo  er  den  Ritterschlag  empfangen  soll,  trifft  der  Knappe  einen  alten, 
weltfremd  gewordenen  Ritter,  der  ihm  schöne  Lehren  über  Ritterpflichten 
mitgibt,  und  auf  der  Rückfahrt  kehrt  der  junge  Ritter  abermals  in  der 
Einsiedelei  des  Alten  ein  und  fragt  ihn  aus  über  Gott  und  Engel,  Pa- 
radies und  Hölle,  Firmament  und  Gestirne,  Elemente  und  Geschöpfe, 
Erde  und  Meer.  Seltsamer  ist  die  Einkleidung  des  'Buchs  der  Stände' 
(L.  de  los  estados),  das  zuerst  als  'Buch  des  Infanten'  zur  Rechtfertigung 
seines  Kampfes  gegen  den  König  entworfen  war:  Fern  von  der  Welt 
erzogen,  erblickt  ein  junger  Prinz  plötzlich  das  Leiden  der  Menschheit 
und  will  nun  das  Rätsel  des  Daseins  und  des  Sterbens  entschleiern  und 
lässt  sich  zu  dem  Behuf  von  einem  christlichen  Philosophen  Auskunft 
über  die  Wahrheit  der  Religionen  und  die  Verfassung  der  christlichen 
Staaten,  ihre  weltlichen  und  geistlichen  Stände  erteilen.  Auch  Lehren 
für  seinen  Sohn  und  zwar  selbst  erprobte  trug  don  Juan  zusammen,  und 
da  er  auch  die  späteren  Erfahrungen  seines  Lebens  nachzutragen  ge- 
dachte, nannte  er  das  Buch  das  'unvollendete'  (L,  enfinido).  Die  letzte 
Schrift  des  Infanten  verteidigt  den  Glaubenssatz  vom  leiblichen  Verbleib 


214  Pi>.  Aug.  Becker 

Marias  im  Himmel.  Das  vollendetste  aber,  was  er  der  Nachwelt  hinter- 
lassen hat,  ist  das  bis  auf  unsere  Tage  frisch  und  beliebt  gebliebene 
Buch  vom  Grafen  Lucanor  und  seinem  Rate  Patronio,  51 
Erzählungen  mannigfaltigen  Inhalts  für  alle  Lebenslagen,  Geschichte, 
Fabeln,  Anekdoten  in  losen  Rahmen  gefügt,  mit  etwas  holprigen  Reim- 
sprüchen als  Moral,  recht  ergötzlich,  lebendig  und  frei  vorgetragen,  wie 
das  Wort  im  Gespräch  vom  Munde  des  Weltmannes  fliesst,  und  so 
schlicht  und  natürlich  erzählt,  dass  don  Jaime  von  Aragon  es  gar  nicht 
als  gelehrte  Leistung  anerkennen  wollte  und  durch  seinen  Tadel  den 
Verfasser  veranlasste,  150  absichtlich  verdunkelte  Sprüche  anzufügen, 
um  auch  hierin  seine  Meisterschaft  zu  zeigen.  Dieses  bedeutsame  Werk, 
das  die  Prosalitteratur  dieses  Zeitraums  abschliesst  und  krönt,  behält 
zwar  äusserlich  die  lehrhafte  Tendenz  der  Gattung  bei  und  wahrt  durch- 
aus den  Ernst  im  Vortrag;  unbewusst  bricht  aber  in  Denkweise  und 
Stil  die  Persönlichkeit  des  Verfassers  durch,  und  das  verleiht  eben  jenen 
Blättern  ihre  unverwelkliche  Frische. 


Zweite  Phase  der  lehrhaften  Kunstdichtang. 

1300-1350. 

Trotz  der  gesteigerten  Regsamkeit  auf  dem  Felde  der  Litteratur 
blieb  ihre  Pflege  auf  enge  Kreise  beschränkt;  daher  kommt  es,  dass  die 
Entfaltung  der  Prosa  zunächst  einen  Stillstand  der  Poesie  nach  sich  zog. 
Viel  liegt  aus  der  Zwischenzeit  nicht  vor:  ein  Leben  des  hl.  Ilde- 
fonso  in  der  Weise  Berccos  aus  den  Jahren  Fernandos  IV  von  einem 
Geistlichen,  der  als  Pfründner  von  Ubeda  auch  eine  Magdalenenlegende 
reimte,  und  eine  Strafpredigt  gegen  die  Unbussfertigkeit  der  Welt,  die 
sich  las  palabras  que  dixo  Salonwn  betitelt:  beides  unbedeutend. 

Ein  ganzer  Dichter  erstand  an  der  Grenzscheide  unseres  Zeitraums 
in  Juan  Ruiz,  dem  Erzpriester  von  Hita,  der  sein  Librod^buen  amor 
1330  vollendete,  dasselbe  jedoch  1348  im  Gefängnis  des  Erzbischofs  von 
Toledo  und  noch  später  durch  Einlagen  erweiterte:  ein  eigenartig  geniales 
Dichtwerk.  —  Um  seine  Mitmenschen  vor  den  Fallstricken  der  thörichten 
Liebe  zu  warnen,  doch  auch  zu  ihrer  Ergötzung  erzählt  Juan  Ruiz  seinen 
Lebensroman.  Denn,  da  er  ein  Mensch  ist  wie  andere  Sünder  auch,  hat 
er  vielfach  geliebt  und  Liebe  erfahren :  nur  bittet  er,  die  Offenherzigkeit 
seiner  Beichte  nicht  misszuverstehen ;  es  kommt  ja  Alles  auf  die  richtige 
Deutung  an.  Zuerst  verliebte  sich  also  der  Erzpriester  in  eine  tugend- 
hafte Frau,  die  ihm  freundschaftlich  wohlgesinnt  war;  als  er  ihr  aber 


Die  spaDische  Litteratur  von  ihren  Anfängen  bis  zu  den  katholischen  Königen     215 

ein  Liebesgedicbt  zustellen  lässt,  bedeutet  sie  ihm  mit  einer  treffenden 
Fabel,  dass  sie  ihm  ebenso  wenig  traue  wie  anderen  Männern;  sie  ge- 
stattet ihm  jedoch  sein  Liebesleid  zu  besingen.  So  abgewiesen  versucht 
er  sein  Glück  bei  einer  minder  heiligen ;  der  Freund,  den  er  als  Liebes- 
boten verwendet,  happt  ihm  den  Bissen  weg.  Trotz  dieser  Misserfolge 
kann  Juan  Buiz  vom  Lieben  nicht  lassen;  er  muss,  erklärt  er,  unter 
dem  Stern  der  Venus  geboren  sein,  und  da  hilft  kein  Widerstreben; 
denn  die  Liebe  ist  gar  mächtig,  wenn  auch  voll  Falsch.  Also  verliebt 
er  sich  abermals  in  eine  sittsame  Schöne,  sendet  ihr  auch  viele  Lieder, 
doch  sie  will  seinetwegen  das  Paradies  nicht  verscherzen.  Da  erscheint 
dem  Verschmähten  Gott  Amor  selber  im  Traum,  und  kaum  giebt  er 
sich  zu  erkennen,  so  überhäuft  ihn  der  Dichter  mit  den  bittersten  Vor- 
würfen, ihn,  den  Falschen,  der  die  Männer  entkräftet,  der  seine  ver- 
blendeten Diener  misshandelt  und  alle  sieben  Todsünden  im  Gefolge 
führt.  Gelassen  lässt  Amor  den  Schwall  der  Schmähungen  über  sich 
ergehen  und  antwortet,  auf  Ovid  verweisend,  mit  guten  Ratschlägen  über 
die  Wahl  der  Geliebten  und  das  Verhalten  des  Liebhabers  mit  gebüh- 
render Betonung  der  Macht  des  Geldes,  das  gar  in  Rom  allvermögend 
ist.  Beim  Erwachen  will  es  dem  Dichter  scheinen,  als  habe  er  diese 
Lehren  von  jeher  befolgt,  und  zwar  ohne  Nutzen,  wie  er  auch  nie  in 
seinem  Leben  eine  Frau  sah,  wie  Amor  sie  ihm  schilderte.  Diesmal  fällt 
Dun  seine  Wahl  auf  eine  reiche  Witwe,  und  hier  webt  der  Erzpriester, 
Wahrheit  und  Dichtung  vermählend,  eine  ergötzliche  Adaptation  der 
mittelalterlichen  Komödie  von  Pamphilus  in  seine  Erzählung  ein.  Er 
begiebt  sich  zu  Frau  Venus,  seinen  Kummer  vor  ihr  auszuschütten,  und 
empfängt  von  ihr  neue  Belehrung  voll  treffender  Kenntnis  des  weiblichen 
Herzens.  Er  fasst  also  Mut,  redet  seine  Witwe  auf  der  Strasse  an,  und 
zum  besseren  Gelingen  sichert  er  sich  die  Mitwirkung  der  gewiegten 
Trotaconventos,  die  ihre  Zwischenträgerdieuste  meisterhaft  verrichtet  und 
schliesslich  die  Liebenden  in  ihrer  Wohnung  zusammenführt.  Das  An- 
stössige  dieser  Geschichte  sucht  der  Dichter  durch  wohlgemeinte  Mahn- 
worte an  das  leicht  verfuhrbare  Geschlecht  gut  zu  machen,  worauf  das 
Sündenregister  von  frischem  anhebt.  Schon  winkt  ihm  mit  Hülfe  der 
Alten  ein  neuer  Sieg,  als  er  die  Unentbehrliche  durch  ein  unvorsichtig 
Wort  beleidigt  und  sich  veranlasst  sieht,  zur  Warnung  für  andere, 
41  Spottnamen  aufzuzählen,  die  man  solchen  Mittelspersonen  nicht  ein- 
mal im  Spass  beilegen  darf.  Die  schmollende  Alte  lässt  sich  zwar  ver- 
söhnen und  renkt  die  gestörte  Intrige  wieder  ein;  aber  der  Tod  kürzt 
die  Tage  der  Freude.    Zur  Zerstreuung  unternimmt  der  Erzpriester  in 


216  Ph.  Aug.  Becker 

den  ersten  Märztagen  einen  Ausflug  ins  Gebirge.  Schnee  und  schlechte 
Wege  und  unzarte  Begegnungen  mit  derben  Senninnen  verderben  ihm 
die  Laune  nicht.  Nachdem  er  sein  Geld  in  Segovia  verthan  und  auf 
dem  Heimwege  seine  Andacht  in  Santa  Maria  del  Vado  verrichtet,  wird 
ihm  bei  seiner  Ankunft  dofila  Quarcsmas  Fehdebrief  zugestellt,  worin  sie 
ihre  Getreuen  zum  Kampf  gegen  don  Carnal  aufbietet,  der  seit  einem 
Jahre  fast  ihre  Lande  verwüstet.  Beiderseits  rüstet  man  zur  Schlacht; 
hier  Hühner,  Kapaune,  Enten,  Pfauen,  Schinken  und  Schweinskeulen, 
Lummelbratcn,  Wildpret,  u.  s.  w.,  dort  Lauch,  Sardinen,  Aal,  Hummer, 
u.  s.  w.  In  der  kritischen  Nacht  lässt  sich  don  Carnal,  durch  unmäs- 
sigen  Genuss  von  Speise  und  Trank  betäubt,  überraschen  und  wird  ge- 
fangen gesetzt.  Willig  fügt  er  sich  den  auferlegten  Bussübungen  und 
folgt  am  Palmsonntag  seinem  Beichtvater  zur  Messe,  entweicht  aber  aus 
der  Kirche,  verbirgt  sich  einige  Tage  im  Judenviertel,  und  nachdem 
seine  erschrockene  Feindin  das  Feld  geräumt^  sammelt  er  neuerdings 
seinen  Anhang  und  hält  seinen  siegreichen  Einzug  im  Verein  mit  don 
Amor,  dem  alles  in  feierlicher  Prozession  entgegenzieht  und  um  dessen 
Bewirtung  alle  Stände  sich  streiten.  Beim  Dichter  nimmt  er  sein  Ab- 
steigequartier und  schlägt  vor  dessen  Haus  sein  mit  den  Bildern  der 
zwölf  Monate  geziertes  Zelt  auf.  Wieder  beginnt  Juan  liuiz  sein  Liebes- 
werben,  Trotaconventos  ihre  Gänge;  wieder  waltet  der  alte  Unstern. 
Die  erste  Dame  ist  ganz  unnahbar;  die  zweite  ist  williger,  reicht  aber 
rasch  einem  Andei*n  die  Hand.  Da  rät  ihm  die  Alte  zu  einer  Nonne 
und  verschafft  ihm  auch  Eingang  bei  ihr.  Hier  erwartet  aber  den  losen 
Verführer  statt  der  Sinnenlust,  nach  der  er  bisher  gejagt,  die  reine,  die 
veredelnde  seelische  Liebe;  leider  löst  der  Tod  auch  dies  schöne  Ver- 
hältnis. Noch  ein  vergeblicher  Versuch  bei  einer  Maurin,  dann  schlägt 
Trotaconventos'  letzte  Stunde  und  giebt  dem  Dichter  Anlass  zu  einer 
schönen  Leichenrede,  die  er  im  besten  Zuge  abbricht,  um  vom  Lob  der 
kurzen  Predigten  zum  launige  Lob  der  kleinen  Frauen  überzuspringen. 
Als  Liebesbote  verwendet  Juan  Kuiz  fortan  seinen  Burschen  Huron,  dem 
abgesehen  von  vierzehn  Hauptfehlern  nur  Gutes  nachzureden  ist:  der 
Erfolg  lässt  sich  denken.  —  Mit  einem  Loblied  zu  Ehren  der  heiligen 
Jungfrau  enden,  wie  sie  begannen,  die  Geständnisse  des  Erzpriesters  von 
Hita,  die  originellste  Schöpfung  der  altkastilischen  Poesie,  ja  eine  der 
genialsten  des  ganzen  Mittelalters,  ein  Sittengemälde  so  anschaulich  und 
lebensvoll  wie  es  je  ein  Dichter  gezeichnet,  von  dessen  Grund  sich  das  Bild 
einer  ausgeprägten  Individualität  voll  Lebenslust,  voll  drastischen  Witzes  und 
schalkhaften  Mutwillens  abhebt,  ein  seltsames  Gemisch  frommerGläubigkeit 


Die  spanische  Litteratar  von  ihren  Anf&ngen  bis  zu  den  katholischen  Königen     217 

und  krassen  Leichtsinns.  Mit  diesem  Werke  erreicht  die  nationale  Form 
der  lehrhaften  Rahmenerzählung  ihre  Vollendung  durch  die  innige  Ver- 
schmelzung der  Einkleidung  mit  den  eingestreuten  Schwänken  und  Fabeln 
zu  einem  einheitlichen  Ganzen ;  noch  einmal  macht  sich  der  Einfluss  der 
sinkenden  französischen  Litteratur  in  den  meisterhaft  ausgeführten  Tier- 
fabeln und  jener  grossartig  entworfenen  Allegorie  des  Kampfes  zwischen 
Fasten-  und  Fleischzeit  geltend;  und  zum  ersten  Male  tritt  uns  eine 
freiere,  bcfweglichere  Lyrik  in  den  sanglichen  Hirten-,  Studenten-  und 
Marienliedern  entgegen,  die  der  Erzpriester  in  seine  lose  Beichte  ein- 
gewoben hat  und  die  uns  eine  hohe  Meinung  von  der  vielseitigen  Be- 
gabung dieses  Mannes  einflössen. 


Die  Übergangszeit. 

1350-1400. 

Die  zweite  Hälfte  des  14.  Jahrhunderts  gestaltete  sich  minder  günstig 
für  die  Pflege  der  Litteratur.  Die  gewaltthätige  Regierung  Pedros  des 
Grausamen  stürzte  Eastilien  in  Aufruhr  und  Bürgerkrieg,  und  zog  es 
hinein  in  die  englisch-französischen  Wirren  und  hinterliess  der  unechten 
Linie  der  Trastamara,  die  die  Krone  an  sich  riss,  Verwicklungen  mit 
den  Nachbarstaaten  und  Schwäche  im  Innern.  Und  dreimal  verheerte 
der  schwarze  Tod  das  schwergeprüfte  Land.  Unter  diesen  misslichen 
Umständen  geriet  das  geistige  Leben  ins  Stocken,  und  die  Litteratur 
trägt,  soweit  sie  gepflegt  wird,  die  Merkmale  des  Übergangs  an  sich. 
Sie  bleibt  in  der  Hauptsache  lehrhaft,  strebt  aber  nach  neuen  Formen. 

Dem  Könige  don  Pedro  widmete  Rabbi  Santo  (Sem  Tob)  von 
Carrion  seine  aus  jüdischer  Tradition  und  eigener  Lebenserfahrung  ge- 
schöpften und  in  leicht  fliessende  kurzzeilige  Reimsprüche  gefassten 
Proverbios  morales,  und  setzte  so  an  Stelle  der  dem  Schweigen  ver- 
fallenen Sentenzenlitteratur  eine  neue  Gattung,  die  im  folgenden  Jahr- 
hundert auch  Nachahmer  fand.  Dann  erfuhr  1382  das  alte  Thema  vom 
Streit  zwischen  Leib  und  Seele  erneute  Behandlung,  und  um 
die  Wende  des  Jahrhunderts  entstand  die  Bearbeitung  eines  hebräischen 
Schachgedichts  im  Jargon  der  Sephardim,  jener  über  die' Küsten- 
städte des  Mittelmeers  zerstreut  lebenden  spanischen  Juden,  und  das 
Poema  de  Josi^  das  die  Schicksale  des  Erzvaters  Joseph  nach  dem  Koran 
erzählt  und  das  älteste  Denkmal  jener  von  den  hispanisierten  Mauren 
(mudejares)  besonders  in  Aragon  gepflegten  und  meist  in  arabischer 
Schrift  aufgezeichneten  Litteratur  ist. 


218  Ph.  Aug.  Becker 

Die  hervorragendste  und  bezeichnendste  Gestalt  dieses  Zeitraumes 
bleibt  aber  Pero  Lopez  de  Ayala  (1330  —  1407).  Er  entstammte 
der  baskischen  Provinz  Alava,  trat  schon  unter  Pedro  dem  Grausamen 
hervor  und  wurde  der  vertrauteste  Ratgeber  der  drei  ersten  Trastamara, 
unter  denen  er  die  höchsten  Reichswürden,  seit  1398  die  des  Gross- 
kanzlers von  Kastilien  bekleidete.  Von  schlanker  Erscheinung,  liebens- 
würdig im  Umgang,  gewissenhaft  und  gottesfürchtig,  in  Staatsgescbäften 
erfahren  und  ein  tapferer  Ritter,  dabei  dem  Studium  der  Philosophie 
und  Geschichte  aus  Neigung  ergeben,  mit  einem  stärkeren  Hang  zum 
schönen  Geschlecht  als  einem  so  weisen  Ritter  geziemte:  so  wird  er 
uns  von  seinem  Schwestersohn  geschildert.  Als  Dichter  versuchte  sich 
Ayala  zuerst  an  Papst  Gregors  Betrachtungen  über  Hieb,  und  zwar  in 
der  bereits  altertümlich  ercheinenden  cuaderna  via  Berceos.  Seine  reife 
Lebenserfahrung  legte  er  dann  im  Rimado  del  palacio  nieder,  der  in 
Abständen  zwischen  1378  und  1385  entstand  und  bis  1403  Zusätze  er- 
fuhr. Nach  einer  feierlichen  Generalbeichte  schildert  er  darin  mit  rück- 
sichtslos energischen  Pinselstrichen  den  Zustand  der  Zersetzung  und 
Fäulnis,  der  in  Staat  und  Kirche  herrscht.  In  einer  Reihe  lose  gefugter 
Skizzen,  die  von  treffender  Beobachtungsgabe,  reicher  Welterfahrung  und 
freimütiger  Geradheit  zeugen,  führt  er  uns  die  verschiedenen  Stände  mit 
ihren  Gebrechen  vor:  allen  voran  das  verweltlichte  Papsttum,  jetzt  ein 
Raub  ehrgeizigen  Haders,  dann  die  herrsch-  und  habgierigen  Prälaten, 
den  unwissenden,  sittenlosen  Klerus,  die  Umtriebe  der  jüdischen  Finanz- 
pächter, die  Windbeuteleien  der  Kaufleute,  die  gewissenlosen  Anwälte, 
die  harten  und  bestechlichen  Richter,  die  treulosen  Magistrate,  die  die 
Einkünfte  der  Städte  verschachern,  u.  s.  w.  Mit  dramatischer  Lebhaftig- 
keit beschreibt  er  besonders  die  bitteren  Erfahrungen  des  gealterten 
Kriegsmannes  bei  Hofe  und  die  Beschwerden  der  königlichen  Stellung, 
die  fortwährende  Belästigung,  die  täglichen  Sorgen  und  die  Zerfahren- 
heit der  Ratgeber.  Mit  dem  Preis  der  Friedfertigkeit,  der  geordneten 
Rechtspflege  und  der  echten  Herrschertugenden  tönt  die  Dichtung  aus; 
den  lyrischen  Anhang  bilden  Klagen  und  Gebete  aus  Ayalas  portugie- 
sischer Gefangenschaft  (1385)  und  wehmütige  Betrachtungen  über  das 
fortdauernde  Schisma.  So  schreiten  wir  an  Ayalas  Hand  durch  eine 
Galerie  lebensvoller  Originale,  nicht  minder  reich  als  die  des  Erzpriesters 
von  Hita,  vielleicht  nicht  so  genial  gezeichnet,  aber  durch  höheren  sitt- 
lichen Ernst  eingegeben  und  durch  die  markige  Sprache  gehoben.  Auch 
als  Prosaschriftsteller  machte  sich  der  Grosskanzler  verdient.  Ihm  ver- 
dankt Spanien  unter  anderem  die   erste  Livius-Übersetzung.     Die  seit 


Die  spaniscbe  Litteratar  Yon  ihren  AnfADgen  bis  zu  den  katholischen  Königen     219 

Alfonso  XI  ruhenden  Reichschroniken  nahm  er  wieder  auf,  und  Niemand 
war  zu  dieser  Arbeit  berufener  als  er,  der  an  allen  Zeitereignissen  seit 
1350  thätig  beteiligt  war.  Seine  Chronik,  die  er  bis  1396  führte,  zeichnet 
sich  durch  die  Fülle  der  Einzelheiten,  den  durchdringenden  Scharfblick, 
mit  der  er  den  Charakter  don  Pedros  und  die  Entwicklung  seiner  krank- 
haften Anlage  analysiert,  und  eine  eigenartige  ungetrübte  Sachlichkeit 
aus,  die  von  der  rauhen  Leidenschaftlichkeit  der  handelnden  Personen 
und  der  oft  erschütternden  Wildheit  der  Sitten  grell  absticht.  Nach 
Livius*  Muster  webt  Ayala  Beden  und  Briefe  in  seiner  Erzählung  ein, 
ein  Darstellungsmittel  von  zweifelhaftem  Werte,  mit  dem  jedoch  die 
Renaissance  —  und  Ayala  ist  ihr  Vorbote  in  Spanien  —  die  Beflexion 
in  die  Geschichtsschreibung  einführte.  Sonst  schrieb  der  Grosskanzler 
noch  eine  fabelhafte  Genealogie  seines  Hauses  und  ein  Buch  von  der 
Falkenzucht. 

Neben  Ayala  zeichnet  sich  Juan  Fernandez  de  Heredia  (I3I0 
bis  96),  aus  altem  aragonischen  Geschlecht,  seit  1377  Grossmeister  des 
Johanniterordens,  als  Freund  der  antiken  Litteratur  und  der  Geschichte 
aus.  Die  Prachthandschriften  seiner  Bibliothek,  die  kostbarsten  Denk- 
mäler der  älteren  aragonischen  Mundart,  enthielten  neben  Eutropius, 
Orosius  und  den  Lebensbeschreibungen  Plutarchs  eine  Geschichte  Spaniens 
in  drei  Bänden,  Haytons  Beschreibung  des  Orients,  Marco  Polos  Reise- 
bericht, eine  Auswahl  von  Sittensprüchen,  eine  Geschichte  des  byzanti- 
nischen Reiches,  eine  Chronik  Moreas  und  13  Lebensbilder  berühmter 
Eroberer,  alles  auf  seine  Veranlassung  gesammelt  und  übersetzt.  Here- 
dias  besonderes  Interesse  für  den  Orient  brachte  sein  Beruf  mit  sich; 
hatte  er  doch  von  Rhodos  aus  die  Erwerbung  Moreas  für  den  Orden 
mit  allem  Eifer  betrieben. 

Als  Vertreter  der  Zeitgeschichte  ist  noch  Juan  de  Alfaro  zu 
nennen,  der  die  Regierung  Juans  I  bis  zur  Niederlage  von  Aljubarrota 
(1385)  schildert.  Grosse  Vorliebe  hatte  die  Zeit  für  handliche  Geschichts- 
abrisse, wir  besitzen  einen  von  Juan  de  Cuenca,  dem  Hofmarschall 
der  Königin  Eleonora ;  ein  anderer  verdankt  sein  Entstehen  dem  Bischof 
von  Bayona,  Garcia  de  Eugui.  Beachtenswert  an  dieser  regeren 
Thätigkeit  ist  besonders  der  Umstand,  dass  sich  in  diesen  Jahrzehnten 
Aragonier,  ja  Navarresen  um  die  spanische  Litteratur  verdient  machen. 
Es  ist  ein  Zeichen  der  Zeit:  bald  wird  der  Siegeszug  der  kastilischen 
Sprache  beginnen. 


220  Ph.  Atig.  Becker 

Das  15.  Jahrhundert. 

Die  Poesie. 

Noch  vor  Ablauf  des  14.  Jahrhunderts  kam  in  der  spanischen  Litte- 
ratur  die  längst  vorbereitete  Wandlung  zum  Durchbruch.  An  die  Stelle 
der  bisher  geübten  gediegenen  Lehrhafbigkeit  trat  eine  zierliche,  mit 
Form  und  Inhalt  spielende  Unterhaltungspoesie.  Wie  ein  Fieber  griff 
die  Lust  zu  dichten  und  zu  singen  um  sich  und  bemächtigte  sich  des 
Hofes  und  aller  Schichten  des  Adels.  Dieser  war  nicht  mehr  das  wür- 
dige Bittertum  der  Maurenkriege,  sondern  hatte  sich  zu  einer  ehrgeizi- 
gen, unruhigen  Fendalaristokratie  umgebildet,  die  ihre  Freude  an  Glanz- 
entfaltung, Frauendienst  und  Turnieren  hatte  und  sich  in  prunkenden 
Festlichkeiten  überbot.  Das  Treiben  und  Sinnen  dieser  Gesellschafts- 
kreise spiegelt  sich  in  der  Litteratur  des  15.  Jahrhunderts,  insbesondere 
in  seiner  Eunstdichtung  wieder. 

So  lange  die  feinere  Geselligkeit  eines  ritterlich-galanten  Hoflebens 
unbekannt  war,  fehlte  Kastilien  die  wesentliche  Vorbedingung  zur  Ent- 
faltung einer  eigenen  Lyrik.  Die  Wenigen,  die  den  Drang  verspürten, 
ihren  Gefühlen  in  Versen  Ausdruck  zu  geben,  begnügten  sich  mit  der 
stammverwandten  Mundart  Galiciens,  die  unter  der  Ägide  der  bui^un- 
dischen  Dynastie  zur  Trägerin  einer  blühenden  Poesie  geworden  war. 
Bekanntlich  schrieb  Alfonso  X  seine  Marienlieder  galicisch;  auch  von 
Alfonso  XI  besitzen  wir  ein  solches  Liedchen.  Und  so  dichteten  bis 
1375  nicht  nur  Galicier  wie  der  als  Liebesmärtyrer  durch  Sage  und 
Dichtung  verklärte  Macias  im  westlichen  Idiom,  sondern  gebürtige 
Kastilier  auch,  wie  der  Stammvater  der  Mendoza,  jener  Pero  Gon- 
zalez, der  bei  Aljubarrota  dem  Könige  sein  Pferd  überliess  und  ihn 
mit  Preisgabe  seines  eigenen  Lebens  rettete;  oder  derArchidiakonns 
von  Toro,  der  in  einem  humoristischen  Testament  die  Teile  seines 
Körpers  seinen  Bekannten  vermacht,  die  Haare  einem  Kahlen,  die  Füsse 
einem  Gichtbrüchigen  und  den  Geist  einem  Stümper;  oder  Garci 
Fernandez  de  Geren a,  das  verkommene  Genie,  der  aus  übel  be- 
ratener Habgier  eine  Maurin  heiratete,  dann  Einsiedler  wurde,  nach 
Granada  floh,  abschwor  und  die  Schwester  seiner  Frau  verführte,  mit 
einer  Schaar  Kinder  zurückkam  und  im  Elend  verging.  Auch  der  frucht- 
barste unter  den  älteren  Liederdichtern,  der  ob  der  spielenden  Leichtig- 
keit, mit  der  er  reimte,  vielbewunderte  Alfonso  Alvarez  de  Villa- 
sandino  schrieb  zuerst  portugiesische  Verse  auf  die  Maitressen  Euri- 
ques  III,  der  ihn  zum  Bitter  der  Vanda  machte;  aber  den  Tod  dieses 


Die  spanisclie  Litteratur  yon  ihren  Anfängen  bis  zu  ien  katholischen  Königen     221 

Königs  (1379)  beklagt  er  kastilisch,  und  fortan  behauptet  seine  Mutter- 
sprache den  Vorrang.  Formgewandt  und  ohne  Adel  der  Gesinnung,  wie 
er  war,  fuhr  er,  so  lange  er  lebte,  fort  neben  eigenen  Anliegen  auf 
Wunsch  auch  fremde  Freuden  und  fremden  Ärger  zu  besingen.  Seine 
Verse  waren  geschätzt;  Sevilla  bezahlte  ihm  vier  Preislieder  zu  100  Du- 
blonen das  Stück ;  was  er  aber  verdiente  oder  erbettelte,  das  verthat  er 
wieder  im  Würfelspiel.  Gleichzeitig  treten  der  gelehrt  prunkende  Pero 
Ferrüz,  ein  Freund  Ayalas,  Ferran  Manuel  de  Lande  mit  seiner 
scharfen  Zunge,  Gomez  Perez  de  Patifio  mit  seinem  fröhlichen 
Oleichmut,  und  Andere  hervor,  von  denen  wir  nur  kastilische  Verse 
kennen,  und  sie  finden  an  der  Königin- Witwe,  Catalina  von  Lancaster, 
eine  wohlwollende  Gönnerin,  und  an  Juan  Alonso  de  Baena,  dem  ge- 
tauften königlichen  Schreiber,  ihren  ersten  Sammler. 

Von  ihrer  Vorgängerin,  der  portugiesischen  Hofpoesie,  übernahm 
die  spanische  Hoflyrik  nicht  nur  die  gangbaren  Dichtungsgattungen 
mit  den  geläufigen  Vers-  und  Strophenformen,  um  sie  in  nationalem 
Sinne  auszugestalten,  sondern  den  ganzen  Schatz  der  von  den  Proven- 
zalen  ererbten  konventionellen  Empfindungen  und  Bedensarten.  Denn 
man  erwarte  von  diesem  höfischen  Minnegesang  keine  spontane  Äusse- 
rung des  Gefühls,  keinen  Aufschrei  des  Herzens  oder  Ausbrüche  der 
Leidenschaft :  ihr  Zweck  ist  gesellschaftliche  Kurzweil,  ihr  Inhalt  modische 
Galanterie.  Was  der  Trovador  empfindet  oder  zu  empfinden  vorgiebt, 
das  wird  ihm  zum  Thema  für  geistreiche  Spitzfindigkeiten  und  kunst- 
volles Reimgepränge,  und  die  zur  Schau  getragene  Liebesmystik  ver- 
deckt nur  oberflächlich  die  Verwahrlosung  der  Sitten.  Auch  das  Zeit- 
gedicht trägt  durchaus  höfisches  Gepräge;  wir  hören  Loblieder  auf  Fürsten, 
Freude  an  ihrer  Wiege,  Klage  über  ihrem  Sarge ;  vereinzelt  richtet  sich 
die  Büge  gegen  die  Zeitverhältnisse;  aber  die  erschütternden  Tragödien 
der  Geschichte  finden  keinen  Widerhall  im  Liede.  Den  Schleier  des 
Privatlebens  lüftet  mitunter  das  Schimpflied,  ein  Erbstück  der  Portu- 
giesen, in  dem  sich  Bosheit,  Spottsucht  oder  persönlicher  Groll  entladen. 
Das  geistliche  Lied,  von  jeher  ein  Sondergut  der  Kastilier,  wird  weiter 
gepflegt.  Die  Lieblingsunterhaltung  bildet  aber  das  poetische  Frag- 
und  Antwortspiel,  bei  dem  es  galt,  das  im  Ernst  oder  Scherz  aufge- 
worfene Thema  mit  den  gegebenen  Beimen  zu  behandeln;  viel  Witz, 
viel  subtile  Feinheit  und  schwerfällige  Pedanterie  sind  daran  vergeudet 
worden.  Das  Überwiegen  dieser  Gattung  vor  der  zum  Gesang  bestimmten 
Lyrik  und  das  hierin  begründete  Vorherrschen  der  Langzeile,  des  natio- 
nalen verso  de  arte  mayor  {y)  -.\jyj  ±.yß\{\j)  -kjkj  j-\j^  verleiht  der  kasti- 

NKUE  HEIDELB.  JAHRBUECHER  XII.  y^ 


222  ^h.  Aug.  Becker 

lischen  Hofdichtung  den  ihr  eigenen  Charakter  als  Eonversationspoesie 
und  bedingt  anfänglich  ihren  geringeren  rythmischen  FormenreichtuiD. 

Ein  neues  Element  brachte  Italiens  wachsender  Einiluss.  Dieses 
Land  hatte  sich  im  14.  Jahrhundert  zur  geistigen  Vormacht  aufge- 
schwungen. Besonders  machte  Dantes  grosse  Figur  Eindruck,  wenn  er 
gleich  in  der  Tiefe  seines  Wesens  unverstanden  blieb.  Seine  Bekannt- 
schaft vermittelte  Mifer  Francisco  Imperial,  Sohn  eines  Juweliers, 
in  Genua  geboren  und  erzogen,  in  Sevilla  ansässig.  Er  bürgerte  Allegorie 
und  Vision  in  Spanien  ein.  Die  Geburt  Juans  II  (1405)  feiert  er  z.  B., 
indem  er  sich  in  den  Himmel  verzückt  stellt,  wo  er  die  Segenswünsche  der 
Planeten  für  das  neugeborene  Kind  vernimmt.  Ein  andermal  lässt  er  sich 
vom  Dichter  der  göttlichen  Komödie  durch  die  Bosenhaine  des  Paradieses 
führen,  wo  er  die  sieben  Tugenden  mit  ihrem  Hofstaat  erblickt  und 
Aufschluss  über  ihr  Wesen  erhält.  Und  Solches  wirkte!  Neben  dem 
herrschenden  Tand  musste  in  der  That  der  Versuch  einer  durchgeführten 
Fiktion  und  das  Streben  nach  einer  feierlichen,  bildergeschmückten 
Sprache  den  Begriff  der  Poesie  heben. 

Sollten  wir  nun  die  hohen  und  niederen  Herrn  alle  nennen,  die  zu 
dieser  Frist  der  Muse  huldigend  nahten,  und  deren  Versuche  in  den 
zeitgenössischen  Sammlungen  zerstreut  sind :  so  wäre  neben  nichtssagen- 
den, auch  mancher  klangvolle  Name  anzuführen.  Doch  wozu  Namen 
aufhäufen,  wo  selbst  die  Begabteren  nur  zu  oft  blasse  Nebelgestalten 
bleiben?  Etwas  mehr  Relief  zeigt,  um  die  Wende  des  Jahrhunderts, 
Ferran  Sänchez  de  Talavera,  Ordensritter  von  Calatrava  und 
Comthur  von  Villarubia,  ein  Grübler,  der  in  das  frivole  Reimspiel  die 
Frage  wirft,  ob  es  denkbar  ist,  dass  Gott  Menschen  zur  ewigen  Ver- 
dammnis geboren  werden  lasse,  der  das  Nichts  unseres  Erdendaseins 
und  das  Bangen  vor  der  letzten  Verantwortung  wahrhaft  empfindet  und 
in  einem  sinnigen  Gespräch  zwischen  Ritter  und  Dame  der  irdischen 
Liebe  den  Wert  des  höchsten  Gutes  abspricht.  Jovialeres  Temperament 
hat  der  reimgewandte  Franziskaner  und  Magister  der  Theologie,  fray 
Diego  von  Valencia  de  Leon,  der  eine  seltsame  Vertrautheit  mit  den 
Courtisanen  an  den  Tag  legt,  und  frayNicoläs,  der  seinen  gelehrten 
Ordensbruder  in  Liebessachen  um  Rat  fragt  und  nicht  glauben  will, 
dass  Ehebruch  Sünde  sei.  Auf  Imperiais  Bahnen  wandelt  Ruy  Paez 
de  Ribera,  der  von  den  vier  Erzübeln  der  Menschheit,  Alter,  Krank- 
heit, Verbannung  und  Armut,  das  letztere  und  schlimmste  aus  eigener 
bitterer  Erfahrung  zu  kennen  scheint.  Eindruck  machen  auch  des  Se- 
villaners Gonzalo  Martinez  de  Medina  herbe  Klagen  über  die 


Die  spanische  Litteratur  von  ihren  Anfangen  bis  zn  den  katholischen  Königen     223 

Not  der  Zeit,  während  uns  Pero  Gonzalez  de  Uceda  durch  necki- 
schen Humor  ergötzt,  wenn  er  uns  in  seine  bunte  Traumwelt  einführt 
—  glaubt  er  ja,  er  werde  ob  seines  frommen  Wandels  auf  den  Stuhl 
Petri  berufen  —  oder  der  schwarzen  Farbe  den  Preis  vindiziert. 

Am  Hofe  Juans  II  (1407—54)  erlebte  die  Trovadorpoesie  ihre  gol- 
denen Tage.  Der  schwache,  aber  kunstsinnige  König  reimte  selber 
behend,  und  um  ihn  drängte  sich  eine  so  rührige  Schar,  dass  von  200 
oder  mehr  namhaft  bekannten  Dichtern  Verse  erhalten  sind.  Ein  neuer 
Bereich  eröffnete  sich  dem  kastilischen  Einfluss,  als  Fernando  IV,  ein 
Oheim  Juans  II,  auf  Aragons  Thron  berufen  wurde;  sein  Hof  ward 
alsbald  der  Sammelplatz  aller  Unzufriedenen.  Zahlreiche  kastilische 
Edelleute  begleiteten  auch  seinen  Sohn,  Alfonso  V,  bei  der  Eroberung 
Neapels  (1441)  und  setzten  im  Gefolge  dieses  hochherzigen  Gönners  der 
Humanisten  ihre  poetischen  Übungen  fort.  Dort  war  LopedeStüfliga, 
navarrischer  Herkunft,  einer  der  ausgezeichnetsten  Kitter  der  Zeit;  Juan 
de  Duefias,  ein  einfacher  Hidalgo,  der  die  Gunst  Juans  II  durch  seinen 
Freimut  verscherzte  und  mit  Schwert  und  Feder  in  den  Dienst  Aragons 
übertrat;  Diego  del  Castillo,  der  den  Tod  Alfonsos  in  einer  Vision 
mit  schönen  Versen  betrauert;  Juan  de  Tapia,  der  Galanterie  und 
Politik  verquickt;  Carvajales,  der  sich  auch  italienisch  versucht,  seine 
Hirtenlieder  um  Siena  und  Bom  spielen  lässt,  sonst  der  fruchtbarste  und 
farbloseste  von  allen.  Sie  und  andere  begegnen  sich  hier  mit  Aragoniern 
und  Catalanen,  die  sich  auch  gelegentlich  der  kastilischen  Bede  befleissen. 
In  diesem  Kreise  finden  wir  die  zierliche  und  zu  dauernder  Beliebtheit 
vorbestimmte  Candon  mit  ihrer  anmutigen  Befrainform  und  die  Bo- 
manze  zuerst  in  Übung.  Beide  Gattungen  pflegt  auch  ein  Dichter, 
um  dessen  Namen  sich  eine  Legende  gebildet  hat  wie  um  den  seines 
Landsmannes  Macias,  den  er  so  gern  im  Munde  führt:  Juan  Bodrf- 
guez  del  Padrön,  von  dessen  Begabung  uns  drei  Bomanzen,  die  in 
den  Volksmund  übergingen,  einen  höheren  Begriff  geben  als  etwa  seine 
Strophen  über  die  sieben  Freuden  der  Liebe  und  die  zehn  Gebote  Amor.«?, 
die  er  mit  der  Antithese  seiner  eigenen  Enttäuschungen  würzt,  und  selbst 
als  seine  geschmeidigen  Eefrainweisen,  wie  sein  Abschiedslied:  'Lebe 
fröhlich,  wenn  Du  kannst',  oder  jenes,  wo  er  zu  sterben  wünscht,  nur 
um  Macfas  zu  sehen,  aber  um  nach  drei  Tagen  wiederzukommen  und 
zu  schauen,  ob  seine  Geliebte  sich  grämt  oder  sich  freut. 

Am  vollkommensten  verkörpert  die  Bestrebungen  der  Zeit  liligo 
Lopez  de  Mendoza,  Markgraf  von  Santillana  (1398—1458), 
einer  der  glänzendsten  Vertreter  des  Hochadels  und  seit  dem  Sturze  des 

15* 


024  t*h.  Aug.  Becker 

allmächtigen  Condestable  Alvaro  de  Luna  der  angesehenste  Magnat 
Eastiliens.  Die  Liebe  zur  Poesie  war  in  seiner  Familie  heimisch;  wir 
nannten  seinen  Grossvater;  auch  von  seinem  Vater,  dem  früh  verstor- 
benen Grossadmiral  Diego  Furtado  haben  wir  graziöse  Tanzweisen  und 
Pastorellen.  Seine  Mutter  war  eine  Schwester  Ayalas.  Feingebildet, 
geistreich  und  hochherzig  veranlagt,  übertraf  lüigo  Lopez  seine  Zeitge- 
nossen an  Vielseitigkeit  der  Kenntnisse  und  Kunstinteressen.  Keiner 
war  so  vertraut  mit  den  Alten,  den  Italienern,  auch  Franzosen  und 
Catalanen,  sowie  den  früheren  Erzeugnissen  der  heimischen  Litteratur 
wie  er;  das  zeigt  sein  Sendschreiben  an  dom  Pedro  von  Portugal,  die 
erste  Skizze  einer  spanischen  Litteraturgeschichte.  Seine  poetischen 
Werke  sind  zumeist  Gelegenheitsprodukte  im  Gewände  der  Fiktion  nach 
dem  herrschenden  Zeitgeschmack.  Den  Tod  des  Catalanen  Messen  Jordi, 
des  sinnreichen  Petrarkisten,  feiert  er  mit  dem  Traumgesicht  seiner 
Dichterkrönung;  die  Niederlage  der  aragonischen  Flotte  bei  Ponza  dik- 
tiert  ihm  die  Comedieta  de  Ponza,  eine  danteske  Vision,  in  der  die 
Mutter  und  die  Gemahlinnen  der  gefangenen  königlichen  Brüder  im  Ge- 
spräch mit  Boccaccio  die  Katastrophe  beklagen  und  zum  Schluss  Fortuna 
auftritt,  um  die  Freilassung  der  Vermissten  zu  verkünden;  nach  der 
Verhaftung  seines  Vetters,  des  Grafen  von  Alba,  tröstet  er  ihn  mit  dem 
Diälogo  de  Bias  contra  Fortuna,  worin  er  in  treffend  behender  Wechsel- 
rede und  stellenweise  mit  wahrem  dichterischem  Schwung  der  stoischen 
Verachtung  des  Schicksals  und  seiner  Unbilden  das  Wort  redet;  beim 
Sturz  des  Condestable  macht  sich  sein  lang  verhaltener  Ingrimm  im 
Dodrifial  de  privados  Luft,  in  Gestalt  einer  Selbstanklage  des  gefallenen 
Günstlings.  Das  populärste  Werk  Santillanas  wurde  sein  Cmtüoquio, 
100  dem  Thronerben  gewidmete  Beimsprüche  in  gefallig  fliessenden 
Achtzeilen ;  unter  seinen  kleineren  Gedichten  finden  sich  die  ersten  spani- 
schen Sonette;  alles  andere  übertreffen  aber  seine  duftig  schelmischen 
Hirtenliedchen,  darunter  sein  Meisterstück,  la  vaqtiera  de  Finojosa. 
Leichte,  harmonische  Eleganz  kennzeichnet  seine  Verse  und  das  ganze 
Wesen  dieser  fein  organisierten  Aristokratennatur. 

Das  bürgerliche  Gegenstück  zu  Santillana  ist  Juan  de  Mona 
aus  Cördova,  lateinischer  Sekretär  des  Königs  (1411—56).  Er  hatte 
in  Salamanca  und  Rom  studiert  und  vertritt  jene  Richtung  der  Früh- 
renaissance, die  zielbewusst  auf  einen  poetischen  Kunststil  hinarbeitete. 
Die  Rhetorik  ist  seine  Muse,  und  zum  Vorbild  dient  ihm  sein  schwul- 
stiger Landsmann  Lucanus.  In  seinen  höfischen  Liedern  schwelgt  er  in 
Übertreibungen  und  Metaphern,   doch   mit  Anmut   und  echten   Gefühl 


Die  spanische  Litteratur  von  ihren  Anfängen  his  zu  den  katholischen  Königen    225 

für  rythmischen  Wohlklang.  Seine  umfangreicheren  Dichtungen  um- 
hüllt er  selbstredend  mit  dem  Schleier  der  allegorischen  Vision.  In 
diesem  Stil  schildert  er  Santillanas  Dichterkrönung  auf  dem  Parnass 
und  entwirft  er  einen  Dialog  von  den  sieben  Todsünden.  Sein  bleibender 
Dichterruhm  gründet  sich  aber  auf  die  '300  Strophen'  seiaes  Labirinto, 
in  denen  er  den  kühnen  Versuch  wagte,  die  ganze  Anlage  der  göttlichen 
Komödie  nachzubilden  mit  frei  erfundenem  Bahmen  und  selbst  ersonnenem 
Detail.  Zum  Vorwurf  wählte  er  die  Wandlungen  des  Glücks.  Von  der 
Vorsehung  geführt,  besucht  er  den  Palast  Fortunas  und  sieht  dort  die 
drei  Räder  des  Glücks,  die  der  Vergangenheit  und  Zukunft  ruhend,  das 
der  Gegenwart  von  den  Parzen  getrieben,  und  in  einem  jeden  sieben 
Kreise  nach  dem  Einfluss  der  Planeten;  hier  erscheinen  ihm,  Edle  und 
Verworfene  vermengt,  die  Berühmtheiten  der  Vor-  und  Mitzeit ;  die  Zu- 
kunft bleibt  verhüllt.  Freude  an  gelehrter  Schaustellung,  aber  auch  ein 
patriotischer  Gedanke  leiten  ihn  beim  Ausmahlen  dieser  historischen 
Galerie;  die  gediegensten  Seiten  sind  den  Heldensöhnen  Spaniens  imd 
seinen  keuschen  Frauen  gewidmet.  Allzuviel  ßaum  gönnt  der  devote 
Hofpoet  den  Machthabern  des  Tages.  Die  notwendig  ungleiche  Inspi- 
ration macht  sich  denn  auch  im  Werte  der  Bilder  fühlbar.  Die  Auf- 
gabe ist  für  Monas  Genius  zu  hoch.  Schon  infolge  der  verfehlten  An- 
lage bleibt  seine  allegorische  Welt  abstrakt,  ohne  plastische  Bealität; 
auch  der  Stil  leidet  an  Ungleichmässigkeiten  und  übertriebenem  Latinis- 
mus. Gleichwohl  hat  er  sein  Ziel  nicht  ganz  verfehlt.  Manch  anschau- 
licher Vergleich  nach  Dantes  Art  ist  ihm  gelungen;  stellenweise  ent- 
wickelt er  wahre  pathetische  Kraft,  und  er  kann  sich  rühmen,  wie  Wenige 
zur  Ausbildung  einer  gehobenen,  von  der  Prosarede  verschiedenen  Dichter- 
sprache beigetragen  zu  haben. 

Etwas  abseits  steht  Fernan  Perez  de  Guzman,  auch  ein 
Schwestersohn  Ayalas,  älter  als  Santillana,  den  er  jedoch  überlebte. 
Früh  mischte  er  sich  in  den  poetischen  Wettstreit  und  sang  Minnelieder. 
Mit  den  Jahren  gewann  aber  die  ernste  Grundstimmung,  die  sich  be- 
reits in  den  schönen  Versen  auf  den  Tod  des  Grossadmirals  Mendoza 
(1404)  kundgiebt,  die  Oberhand;  sie  herrscht  in  den  Reimsprüchen 
(Proverbios)  und  der  langen  Reihe  aphoristisch  gehaltener,  moralisch- 
religiöser Dichtungen,  die  der  Weltmüde  in  der  Einsamkeit  seiner  Herr- 
schaft Batres  zur  Verherrlichung  der  Tugend  verfasste.  Ein  würdiges 
Denkmal  setzte  er  sich  im  warm  gefühlten  Lobgedicht  auf  Spaniens 
grosse  Vergangenheit,  los  claros  varones  de  Espana^  ein  Geschichtsbild 
in  schwungvollen  Memorial versen. 


226  P^'  Aug«  Becker 

Der  Mitte  des  Jahrhunderts  gehört  wohl  noch  ein  Denkmal  an, 
das  ganz  ausserhalb  der  Reihe  fällt,  eine  freie  Adaptation  des  älteren, 
ursprünglich  zur  Aufführung  bestimmten  französischen  Totentanzes 
(danza  general  de  la  muerte),  nicht  ohne  dichterischen  Wert,  mit  einigen 
spezifisch  spanischen  Figuren,  deren  Zahl  durch  spätere  Einschaltungen 
noch  vermehrt  wurde:  jedenfalls  ein  rein  litterarisches  Denkmal;  denn 
bildliche  Darstellungen  des  Todesreigens  hat  die  pyrenäische  Halbinsel 
nicht  hervorgebracht. 

Die  unglücklichen  Zeiten,  welche  die  traurige  Regierung  Enriques  IV 
(t  1474)  heraufbeschwor,  die  wilde  Anarchie,  die  hereinbrach,  und  der 
Mangel  eines  Zusammenhalts,  wie  der  Hof  des  verstorbenen  Königs  ihn 
geboten  hatte,  hinderten  nicht,  dass  Santillana  und  Juan  de  Mona  Schule 
machten,  und  dass  eine  Schar  tüchtiger  Geister  ihren  Fussstapfen  folgte, 
mit  dem  gleichen  Luxus  an  allegorischen  Fiktionen  und  gelehrten  An- 
spielungen, mit  dem  nämlichen  Gefühl  für  sanglichen  Wohllaut,  mit 
derselben  Freude  an  gewichtigen  Moralsätzen  und  hin  und  wieder  auch 
mit  einer  wahren,  ungekünstelten  Empfindung.  Noch  fehlt  aber  jenes 
beharrliche  Streben  nach  einem  selbstgesteckten  höheren  Ziele,  ohne 
welches  Schöpfungen  von  dauerndem  Werte  dem  Zufall  einer  glücklichen 
Stunde  anheimgegeben  sind.  Eine  solche  Stunde  schlug  den  beiden 
Manrique.  An  Adel  der  Geburt,  vielseitiger  Begabung  und  persönlichem 
Verdienst  stand  ihr  Geschlecht  dem  eng  verschwägerten  Hause  der  Men- 
doza  kaum  nach.  Namhaftes  leistete  Gomez  Manrique  (1412—90), 
in  sententiösen  Gedichten  wie  den  Batschlägen  an  Diego  Arias  und  der 
edelgedachten  Anrede  an  das  junge  Königspaar,  Fernando  und  Isabel, 
vor  allem  aber  in  seinen  Klagen  über  das  schlechte  Regiment,  in  denen 
er  mit  bitterem  Sarkasmus  die  verkehrte  Welt  geisselt,  wo  man  den 
Blöden  zum  Schulzen  macht,  das  Stroh  aufspeichert  und  das  Brot  ver- 
derben lässt,  die  jungen  Olivenbäume  verbrennt  und  die  Dornsträuche 
schont.  Ihn  übertraf  sein  Neffe,  Jorge  Manrique,  der  1479  in 
voller  Manneskraft  fiel,  mit  seinen  feierlich  ernsten  Coplas  auf  den  Tod 
seines  Vaters,  in  denen  er  dem  Gefühl  der  Hinfälligkeit  unseres  Lebens 
und  aller  menschlichen  Grösse  einen  durch  die  eigene  Trauer  geweihten 
und  durch  die  tröstliche  Zuversicht  des  Glaubens  gemilderten  Ausdruck 
giebt  und  sich  bis  zu  einem  für  die  Zeit  überraschenden,  fast  reinen 
lyrischen  Erguss  beschwingt.  Weiche  und  innige  Wehmut  spricht  aus 
den  Liedern  Guevaras,  eines  Freundes  der  Beiden,  wenn  ihm  der 
Frühling  in  Erinnerung  bringt,  mit  welch  schmerzlicher  Gewalt  die 
Liebe  ihn  erfasste,  als  er  die  Geliebte  im  Grünen  sich  ergehen  sah,  so 


Die  spanische  Litteratur  von  ihren  Anfängen  bis  zu  den  katholischen  Königen     227 

dass  es  ihn  hinuotertreibt  zum  Flussufer,  das  volle  Herz  auszuweinen, 
oder  wenn  ein  Besuch  in  den  Tbälern  der  Sierra  de  Guadalupe  die  Jugend- 
erinnerungen belebt,  jetzt,  wo  alles,  alles  so  verändert  ist.  Auch  sonst 
fehlt  es  nicht  an  schätzbaren  Talenten.  Den  Hintritt  Santillanas  feiert 
nach  Gebühr  mit  vollem  Apparat  sein  Sekretär,  Diego  de  Burgos, 
im  Triumfo  del  Marquis,  Von  Pero  Guillen  de  Segovia,  der  fast 
erblindet  im  erzbischöflichen  Palast  zu  Toledo  alterte,  liest  man  eine 
schöne  Paraphrase  der  Busspsalmen.  Durch  Beherrschung  der  Form 
zeichnet  sich  der  Hofbeamte  Juan  Alvarez  Gate  aus,  ein  Sohn 
Madrids,  der  die  poetischen  Verirrungen  seiner  Jugend  im  Alter  durch 
geistliche  Kompositionen  wett  zu  machen  suchte  und  sich  auch  einige 
wohlgezielte  Seitenhiebe  auf  die  öffentlichen  Missbräuche  und  die  Fehl- 
griffe des  Königs  nicht  versagte.  Der  Boden  war  für  die  politische 
Satire  günstig;  wohlweislich  verschweigen  aber  die  meisten  Verfasser 
ihre  Namen.  Man  weiss  nicht,  wer  das  kühne  und  oft  nachgeahmte 
Hirtengespräch  zwischen  Mingo  Revulgo  (Dominicus  Vulgus)  und 
Gil  Arribato  dichtete,  das  vom  Elend  der  Gegenwart  einen  noch 
trostloseren  Ausblick  in  die  Zukunft  eröffnet,  —  nicht  zu  reden  von 
derberen  Produkten  voll  Anzüglichkeiten,  wie  sie  sich  kaum  ein  Anton 
de  Montoro,  der  getaufte  Flickschneider  und  keckste  Spötter  der  Zeit, 
erlaubte. 

Auch  die  Kegierungszeit  der  katholischen  Könige  gehört  der  alten 
Schule  au;  noch  singen  Trovadores  jeden  Rangs  ihre  flüchtigen  Lieb- 
schaften oder  auch  dauernde  Neigungen,  nimmer  müde  ihre  Treue  und 
die  ünerträglichkeit  ihrer  Pein  zu  beteuern.  Oft  entwickeln  sie  ent- 
schiedenes Formtalent,  so  Diego  Lopez  de  Haro,  ein  Muster  ritter- 
lich  höfischer  Art,  und  der  Vizgraf  von  A Itamira,  und  Luis  de 
y  i  V  e  r  0 ,  und  der  nie  verlegene  Improvisator  AlfonsodeCartagena, 
ein  jüngerer  Verwandter  des  Bischofs  von  Burgos;  auch  dem  Namen 
einer  Dichterin,  Florencia  Pinar,  begegnen  wir  im  Gedränge.  Das 
übliche  Liebesgetändel  mit  seinen  Übertreibungen  und  Zierereien  veran- 
schaulicht Puertocarreroin  einem  aus  dem  Leben  gegriffenen  und 
überaus  schlagfertig  dialogierten  Plauderstündchen.  Frisch  klingt  auch 
Bodrigo  Cotas  Gespräch  zwischen  einem  Greis  und  Amor,  der  den 
widerwilligen  Alten  mit  süssen  Reden  bethört,  um  ihn  dann  machtlos 
sich  selbst  zu  überlassen.  Nur  von  Liebeskummer  weiss  Garci  Sän- 
chezdeBadajoz  zu  singen;  sein  steter  Gedanke  ist  der  Tod  aus 
Liebe;  er  wird  sterben  und  ordnet  seinen  Nachlass  und  schreibt  die 
Liebesmesse  vor,  zu  der  er  sich  aus  Hiobs  Klagen  inspiriert;   oder  er 


228  Pb-  ^ug-  Becker 

träumt,  dass  er  in  einer  Einöde  verschieden  ist,  und  wie  Amor  ihn  sucht, 
erzählt  ihm  die  Nachtigall  den  Tod  des  Dichters  und  seine  Bestattung 
durch  die  Vögel,  die  ihm  folgten;  oder  er  besucht  die  Liebeshölle,  wo 
er  die  berühmten  Dichter  der  Zeit  ihre  Qualen  mit  ihren  pathetischsten 
Versen  besingen  und  beklagen  hört.  Befruchtend  wirkte  auf  die  Dich- 
tung dieser  Epoche  der  Aufschwung  des  mehrstimmigen  Gesangs  mit 
seinem  Zurückgreifen  auf  populäre  Weisen ;  von  hier  kam  die  Anregung 
zu  mannigfach  neuen  und  oft  recht  glücklichen  und  leicht  beschwingten 
Verskombinationen.  Daneben  war  die  gelehrte  Allegorie  nicht  ver- 
gessen: Im  Jahre  1500  sandte  Diego  Ouillen,  der  Sohn  Peros,  der 
Königin  Isabel  aus  Bom  seinen  Fanegirico,  worin  er  die  Grossthaten 
ihrer  Begierung  mit  möglichster  Treue  und  poetischem  Glanz  als  Vision 
darzustellen  viersuchte.  Bis  über  die  Schwelle  des  neuen  Jahrhunderts 
führt  uns  da&  1513  gedruckte  Liederbuch  eines  aragonischen  Magnaten, 
Pedro  Manuel  de  Urrea,  mit  Versen  von  zarter  Anmut  mitunter, 
die  aber  im  Grunde  weder  in  das  Leben  des  Dichters  noch  in  das  Treiben 
der  Zeit  einen  Einblick  gewähren.  Was  die  kastilische  Hofdichtung 
leisten  konnte,  das  hatte  sie  geleistet.  Sie  verklang  aber  nicht  lautlos 
mit  dem  scheidenden  Mittelalter,  sondern  sie  blieb  in  der  von  Hernando 
del  Gastillo  getroffenen  Auswahl  als  Allgemeines  Liederbuch 
(Cancionero  generale  1511)  dauernd  im  Besitz  des  spanischen  Volkes, 
trotz  aller  Mängel  ein  lyrischer  Liederschatz,  wie  ihn  ziu:  Zeit  keine 
andere  Nation  besass. 

Die  Wende  des  Jahrhunderts  mit  den  Kämpfen  um  Granada  und 
der  letzten  Anstrengung  zur  Vertreibung  der  Mauren  brachte  Spanien 
eine  Neubelebung  des  religiösen  Empfindens,  deren  Spuren  auch  in  der 
Poesie  sichtbar  werden.  Mit  andächtiger  Innigkeit  und  beredter  Wärme 
und  meist  auf  Bitten  von  Damen  des  höchsten  Adels  widmet  der  Minorit 
fray  Ambrosio  Montesino  seine  leichtfliessenden  Coplas  dem  Ge- 
heimnis der  Hostie,  dem  Leben  des  Täufers,  den  Martern  des  Heilands 
oder  dem  Stifter  seines  Ordens,  abwechselnd  erzählend,  betrachtend,  er- 
mahnend, lobend  und  anbetend.  Die  Kindheit  Jesu  und  Stücke  der 
Leidensgeschichte,  auch  anderes,  einen  Kampf  der  Vernunft  mit  der 
Sinnlichkeit,  Tadel  der  schlechten  Weiber  und  Lob  der  guten  Frauen, 
reimte  ein  anderer  Franziskaner,  fray  IfiigodeMendoza,  weckte  aber 
mit  seiner  vertrauten  Kenntnis  weiblicher  Schwäche  lebhaften  Wider- 
spruch in  den  Hof  kreisen.  Zu  höherem  Flug  erhebt  sich  Juan  de 
P  a  d  i  1 1  a,  der  Karthäuser,  mit  seinem  Leben  Christi  in  vier  Gemälden, 
gleichsam  als  Altarbild  für  die  Kirche  der  Christenheit  entworfen,  ohne 


Die  spanische  Litteratur  von  ihren  Anfängen  bis  zu  den  katiiolischen  Königen    229 

jenen  heidnischen  Schmuck,  dem  der  Verfasser  in  seiner  Jugend  nach- 
gegangen war ;  und  noch  mit  50  Jahren  unternahm  der  ergraute  Eloster- 
mann  in  den  doce  triunfos  de  los  doce  Apöstolos  (1518)  eine  Jenseits- 
reise nach  Dantes  Art  durch  die  zwölf  Zeichen  des  Tierkreises,  wo  er, 
von  Paulus  geleitet,  die  zwölf  Apostel  mit  ihrem  Gefolge  von  Heiligen 
sieht  und  jeweils  einen  Blick  aus  der  Höhe  auf  den  vom  Apostel  be- 
kehrten Weltteil  und  in  die  Abgründe  der  Hölle  und  des  Fegefeuers 
wirft :  ein  Gegenstück  zu  Monas  Labyrinth,  nicht  unwürdig  ihres  floren- 
tinischen  Vorbilds,  minder  gedrängt  und  gehaltreich,  doch  von  freiem 
Fluss  der  Verse  und  kräftiger  Sprache  und  mit  etwas  wie  Virgilschen 
Schwung  in  der  Bede.  

Das  15.  Jahrhundert  gehört  der  höfischen  Eunstdichtung  an.  Mit 
ihrer  Betrachtung  ist  aber  das  poetische  Schaffen  dieser  Epoche  nicht 
erschöpft;  denn  neben  der  Eunstpoesie  lebte  der  Volksgesang.  Wie  in 
andern  Ländern  weckte  die  Nationallitteratur  des  Mittelalters  die  schlum- 
mernde Seele  des  Volks  und  gab  ihr  die  %de  zurück.  Während  die 
gebildeten  Stände  ein  Gebiet  des  Wissens  um  das  andere  far  sich  und 
die  Nationalsprache  errangen,  liess  auch  das  Volk  seine  Stimme  wieder 
erklingen,  und  leicht  fand  es  die  berufenen  Wortführer.  Auf  der  Strasse 
sangen  Blinde,  jüdische  und  maurische  Tänzerinnen  und  nächtlich  strei- 
fende Studenten.  Für  solches  Volk  rühmt  sich  der  Erzpriester  von 
Rita  mehr  Lieder  geschrieben  zu  haben,  als  zehn  Bogen  fassen  könnten. 
Zwar  fählte  sich  ein  Eunstdichter  wie  Santillana  weit  erhaben  über  die 
Verfasser  jener  regellosen  Gesänge,  an  denen  sich  das  niedere  Volk  und 
die  dienende  Elasse  ergötzten;  doch  waren  die  verschiedenen  Eultur- 
schichten  der  Nation  sich  nicht  dermassen  fremd,  dass  die  Verallgemeine- 
rung der  Bildung  im  geistig  regsamen,  aber  ungenialen  15.  Jahrhundert 
sich  nicht  auch  in  den  breiten  Massen  fühlbar  gemacht  hätte.  Die  eif- 
rige Pflege  der  Eunstpoesie  und  des  Eunstgesangs  wirkte  auf  die  Volks- 
lyrik; diese  hob  sich,  und  so  kommt  es,  dass  gerade  im  Zeitalter  des 
Humanismus  und  der  Bückkehr  zur  Antiken  die  Volkspoesie  sich  allent- 
halben der  Beachtung  der  Gebildeten  aufdrängt. 

Lyrische  Volksweisen  tauchen  um  diese  Zeit  unter  der  Bezeichnung 
von  ViUancicos  auf,  kurze  Liedchen,  die  mit  der  refrainartigen  Wieder- 
kehr ihres  einleitenden  Satzes  deutlich  auf  ländliche  Beigen  als  ihren 
Ursprung  hinweisen.  Gern  wahren  diese  ungezwungenen  Gebilde  den 
Zug  ländlicher  Einfalt;  viele  sind  Frauenlieder:  Stossseufzer  des  ver- 
liebten Mädchens,   trotzige  Geständnisse  seiner  erwachenden  Neigung, 


230 


Pb.  Aug.  Becker 


oder  wohlgemeinte  Ratschläge  der  Mutter;  zart  hingehaucht  atmet  aus 
ihnen  die  innige  Glut  des  leidenschaftlich  bewegten  Gemüts,  bald  auch 
kichert  neckisch  die  Laune  dahinter.  Noch  manches  andere  Thema 
sclilagen  sie  an;  im  allgemeinen  hat  sich  aber  in  Spanien  das  lyrische 
Volkslied  nicht  wie  anderwärts  zu  bestimmten  Gattungen  und  Gruppen 
ausgestaltet,  noch  wird  es  durch  eine  scharfe  Grenze  von  seinen  kunst- 
massigen  Nachbildungen  getrennt,  gleich  als  ob  es  erst  jetzt,  unter  der 
Anregung  der  Kunstpoesie,  von  den  Berghalden  heruntergestiegen  und 
zu  reicherer  Entfaltung  gelangt  wäre,  um  dann  selbst  wieder  das  alternde 
Kunstlied  mit  seinem  duftenden  Reiz  zu  erfrischen.') 

Eigenartiger  ausgeprägt  zeigt  sich  das  erzählende  Volkslied  in  der 
Romanze.  Diese,  das  schönste  litterarische  Sondergut  der  spanischen 
Nation,  reiclit  vermutlich  in  ihremürsprung  auf  das  altkastilische  Helden- 
lied, wie  der  Juglar  es  vortrug,  zurück.  In  Hinsicht  der  Form  ist  die 
Verwandtschaft  unverkennbar.  Mit  ihren  trochäischen  Achtsilbern  und 
ihrer  durch  das  ganze  Gedicht  laufenden  und  nur  die  geraden  Zeilen 
bindenden  Vokalassonanz  stellt  die  Romanze  gewissermassen  eine  aus 
dem  rezitativen  Zusammenhang  des  Epos  losgelöste  Tirade  dar,  die,  von 
einer  lyrischen  Weise  getragen,  für  sich  weiterlebt.  Auch  will  es  schei- 
nen, als  fUnden  sich  unter  den  epischen  Romanzen  einzelne  altertümliche 
Stücke,  die  unvermittelt  aus  der  Spielmannstradition  herstammen.  Doch 
sind  es  nur  geringe  Überbleibsel;  denn  die  spanische  Nationalsage  hat 
eben  um  diese  Zeit  ein  Stadium  der  Verdunkelung  durchlaufen ;  in  Juan 
de  Menas  Heldengalerie  hat  der  Cid  keinen  Platz  gefunden.  Zu  den 
nationalen  Erinnerungen  traten  wahrscheinlich  früh  Motive  aus  den  im- 
mer beliebter  werdenden  Ritterromanen,  so  Lancelots  Anfrage  beim  Ein- 
siedel  nach  dem  weissfüssigen  Hirschen: 


I)  Einige  Beispiele  aufs  Geradewohl 

1. 
Steig  binab  zum  Tbale,  Mädchen! 
Noch  wars  nicht  Tag. 
Mädchen  mit  den  roten  Flechten, 
Steig  hinab  zu  deinen  Lämmern, 
Wo  sie  gehn  am  Roggenfelde! 
Noch  wars  nicht  Tag. 

2. 

Wünsch  dir  nicht,  Tochter, 
Wünsch  keinen  Mann 
Zu  bleibendem  Gram. 


Fort  ging  mein  Gatte 
Zum  Krieg  an  der  Grenze, 
Liess  mich  hier  einsam 
Zurück  in  der  Fremde. 
Wünsch  dir  nicht,  Tochter, 
Wünsch  keinen  Mann 
Zu  bleibendem  Gram. 

3. 
In  dem  Schatten  meiner  Haare 
Schlief  mir  der  Geliebte  ein. 
Wecke  ich  ihn,  oder  nein?  .  . 


Die  spanische  Litteratur  von  ihren  Anfängen  bis  zu  den  katholischen  Königen     231 

Sage  mir,  Einsiedelmann, 
Der  hier  führt  ein  frommes  Leben, 
Von  dem  Hirsch  mit  weissem  Fusse 
Kannst  du  mir  nicht  Auskunft  geben  ?  — 

Auch  Zeitereignisse  werden  im  Liede  festgehalten,  meist  als  Stim- 
mungsausdruck der  hauptbeteiligten  Persönlichkeit,  wie  z.  B.  in  jener 
Klage  Juans  II  über  sein  Missgeschick  vor  Albuquerque  (1430): 

Albuquerque,  Albuquerque, 
Wahrlich  hoch  soll  mau  dich  halten, 
Denn  du  birgst  in  dir  die  Söhne 
Don  Fernandos,  die  Infanten, 
Die  ich  aus  dem  Reich  Terwiesen 
Und  auf  Jahr  und  Tag  verbannte. 
Stark  und  fest  war  Albuquerque, 
Wählten  es  zum  Widerstände. 
Oh!  don  Alvaro  de  Luna, 
Wie  hast  du  mich  schlecht  beraten! 
Sagtest  mir,  dass  Albuquerque 
Offen  liege  in  dem  Flachland. 
Kam  und  sah  die  tiefen  Gräben 
Und  die  Türme  längs  dem  Walle, 
Drinnen  Reichtum  an  Geschützen 
Und  an  Fussvolk  und  an  Reitern. 
Und  auf  jenem  stumpfen  Turme 
Sieht  man  die  drei  Banner  wallen. 
Eines  für  den  Prinzen  Heinrich, 
Für  Johann  dort  jenes  andre. 
Und  das  dritte  für  don  Pedro, 
Ihren  Bruder,  den  verbannten. 
Brach  das  Lager  ab;  denn  Aussicht 
Auf  Erfolg  war  nicht  vorhanden. 

Dazwischen  tauchen  Gestalten  auf,  die  weder  Geschichte  noch  Sage 
kennt,  in  deren  Wonne  und  Pein  sich  das  ganze  leidenschaftliche  Sinnen 
und  Sehnen  des  Volkes  poetisch  verdichtet;  und  schliesslich  wachsen 
allerlei  Märchenelemente  und  allgemeine  Liebesmotive  hinzu,  so  dass 
die  Bomanze  die  Bedeutung  des  Volkslieds  im  weitesten  Umfang  ge- 
winnt. Und  wie  beim  echten  Volkslied,  das  von  Mund  zu  Munde  wan- 
dert, sind  auch  an  alten  Bomanzen  nur  wenige,  besonders  gedächtnis- 
freundliche, und  diese  oft  fragmentarisch  und  ihrem  Zusammenhang  ent- 
fremdet erbalten;  was  neben  dem  über  allen  Anfangen  geistigen  Er- 
zeugens schwebendem  Dunkel  deren  geheimnisvoll  romantischen  Beiz 
noch  wesentlich  erhöht. 

Den  Beiz  des  Ahnungsvollen,  der  ihnen  so  eigen  ist,  gewinnen  die 
Bomanzen  vor  allem  durch  jenes  unmittelbare  Eintreten  in  die  volle 


232  Ph.  Aug.  Becker 

Handlung  und  jenes  ungekünstelte  Zusammendrängen  der  Situation  in 
ein  einziges  breitgemaltes  Bild: 

Schon  verzagen  die  Franzosen, 
Schon  beginnen  sie  zu  fliehn. 

Doch  ein  Wort  Bolands!  und  sie  sammeln  sich  wieder,  und  bald 
sprengt  Marsilius  in  wilder  Hast  von  dannen,  Muhamed  verleugnend, 
der  ihn  verlassen  hat.  Wie  ein  Wetterleuchten  zuckt  hier  das  Gefecht 
von  Boncesvalles  an  unseren  Augen  vorüber.  Aber  das  mystische  Ge- 
fühl des  Halbdunkels  wird  noch  verstärkt,  wenn  es  sich  nicht  um  eine 
Scene  aus  einem  grösseren  Zusammenhang  handelt,  sondern  um  eine 
Begebenheit  für  sich,  die  nicht  als  historisches  Ereignis,  sondern  durch 
ihren  ergreifenden  menschlichen  Gehalt  unser  Mitgefühl  erregt,  die  aber 
gleichwohl  an  einen  bestimmten  Namen  geknüpft  erscheint  und  dem 
sonst  unbekannten  Träger  desselben  eine  intensivere  Realität  verleibt, 
als  ihm  Leben  und  Geschichte  geben  könnten.  Aus  dem  dunkelwogen- 
den Hintergrund  der  Gefühle  taucht  leuchtend  die  repräsentative  mensch- 
liche Gestalt  hervor,  in  der  das  ahnende  Wünschen  und  Empfinden  unseres 
Herzens  Form  und  Klarheit  gewinnt:  hierin  liegt  der  bestrickende  Beiz 
der  novellistischen  Romanze.  —  Ist  Graf  Glaros  eine  Figur  aus  der 
französischen  Sage?  Ist  er  nur  der  Held  einer  Situation,  die  zu  späterem 
Anspinnen  reizte?    Für  den  Eindruck  der  schönen  alten  Romanze: 

nOraf,  ihr  seht  mich  tief  bekümmert, 
Dass  ihr  also  sterben  müsst, 
Denn  die  Schuld,  die  ihr  begangen, 
Ist  so  schwer  nicht,  wie  mich  dünkt," 

bleibt  dies  gleichgültig;  denn  auch  wir  beurteilen  den  Fehltritt,  zudem 
ihn  die  Liebe  getrieben,  gleich  nachsichtig  und  können  es  ihm  lebhaft 
nachempfinden :  Lieber  um  der  Frauen  willen  sterben,  als  sie  immerdar 
meiden !  Welch  spontane  Sympathie  zieht  uns  auch  zu  jenen  drei  lieb- 
lichen Schöpfungen  des  genialen  Galiciers,  Juan  Rodriguez:  zu  Rosa 
Florida,  die  sich  von  Hörensagen  in  Montesinos  verliebt  hat  und  ihm 
nun  alles  hingeben  möchte,  ihre  dreissig  Schlösser  am  Meeresgestade, 
ihre  Schätze,  ja  ihren  eigenen  Leib,  —  oder  zum  Infanten  Arnaldos, 
der  am  Meeresufer  jagt,  da  föhrt  eine  Galeere  vorbei  und  der  Schiffer 
singt  und  die  Prinzessin  am  Fenster  hört  den  Sang  und  ruft  ihre  Mutter, 
sie  möge  dem  Liede  der  Sirenen  lauschen,  nicht  der  Sirenen,  nein,  des 
Infanten  Arnaldos,  der  aus  Liebe  zu  ihr  vergeht,  —  oder  zu  jenem 
Mädchen,  das  im  einsamen  Bergpass  ihren  zudringlichen  Begleiter  von 
sich  zu  scheuchen  weiss,  aber  am  Ziel  der  Reise  seiner  Blödheit  spottet! 


Die  spanische  Litteratur  von  ihren  Anfängen  bis  zu  den  katholischen  Königen    233 

Und  wie  rührt  —  auch  ohne  Namen  —  die  Klage  des  Oefangenen: 
Mai  ist's  und  Alles  liebt,  und  er  in  seinem  dunkeln  Kerker  hatte  nur 
einen  Boten,  der  ihm  Tag  und  Nacht  ankündete,  einen  Vogel,  und  ein 
Armbrustschütze  hat  ihm  den  erschossen !  Selbst  das  symbolische  Thema 
der  verwittweten  Turteltaube,  die  auf  keinen  grünen  Zweig  mehr  ruhen, 
kein  klares  Wasser  mehr  trinken  will  und  die  falschen  Lockungen  der 
Nachtigall  empört  von  sich  abweist,  erhält  im  leichten  Gewand  der 
Romanze  einen  eigenen,  herzgewinnenden  Zauber: 

Kühle  Quelle,  kühle  Quelle, 
Kühle  Quelle,  liebesklar, 
Da  wohin  nach  lindem  Tröste 
Ziehn  die  Yöglein  allzumal  .  .  . 

Auch  das  erzählende  Volkslied  lenkte  um  die  Neige  des  Jahrhun- 
derts die  Aufmerksamkeit  der  Kunstdichter  auf  sich ;  vielfach  wurden 
die  im  Yolksmund  umlaufenden  Bomanzen  überarbeitet,  ergänzt  und 
erweitert,  auch  geistlich  umgedichtet,  oder  sie  dienten  lyrischen  Kunst- 
romanzen zum  Muster.  Frei  entfalteten  sich  —  neben  einigen  glück- 
lich getroffenen  novellistischen  Eomanzen  —  vorerst  nur  die  religiöse 
und  ganz  besonders  die  zeitgeschichtliche,  die  während  der  erneuten 
Maurenkämpfe  manche  frohe  Zeitung  von  den  Erfolgen  des  christlichen 
Heeres  ins  Land  trug  und  für  den  heiligen  Krieg  begeisterte  Streiter 
warb. 

Die  Prosa, 

An  der  Pflege  der  Prosa  sind  im  15.  Jahrhundert  dieselben  Gesell- 
schaftskreise beteiligt,  die  wir  als  Heger  der  Kunstdichtung  kennen 
lernten,  der  Hof,  der  Hochadel  in  seinen  namhaftesten  Vertretern,  Mit- 
glieder des  ßitterstandes  und  einzelne  Würdenträger  der  Kirche.  Durch 
den  immer  regeren  Verkehr  mit  Italien  und  die  nähere  Berührung  mit 
dem  europäischen  Geistesleben  auf  den  Konzilien  zu  Konstanz  und  Basel 
geweckt  und  genährt,  macht  sich  in  diesen  Ständen  ein  wachsendes  Bil- 
dungsbedürfnis fühlbar  und  äussert  sich  zunächst  in  Übersetzungen  der 
klassischen  Autoren.  Die  Tradition  der  Ayala  und  Heredia  pflanzt  sich 
fort  in  Enrique  de  Villena  (1384—1434),  dem  schmächtigen  Spros- 
sen des  aragonischen  und  kastilischen  Königshauses,  dem  aller  Ehrgeiz 
zu  keinem  dauernden  Erfolg  verhalf  und  dessen  vielfaltigem,  aber  ab- 
strusem Wissen  der  feste  Grund  der  Persönlichkeit  fehlte ;  im  gelehrten 
und  beredten  Bischof  von  Burgos,  Alfonso  de  Cartagena  (1384 
bis  1456)  aus  einer  selten  hervorragenden  Konvertitenfamilie,  Vertreter 
Spaniens  beim  Baseler  Konzil  und  Verteidiger  der  päpstlichen  Präro- 


234  Ph.  Aug.  Becker 

gativen;  in  Fernan  Perez  de  Guzman;  vor  allen  aber  im  Mark- 
grafen von  Santillana,  der,  selber  der  alten  Sprache  nicht  besonders 
mächtig,  den  Anstoss  zu  einer  überaus  geschäftigen  Übersetzungsthätig- 
keit  gab,  um  von  den  Alten,  in  Ermangelung  der  Form,  wenigstens  den 
Stoff  und  Inhalt  zu  besitzen.  Seine  Bibliothek  enthielt  die  wichtigsten 
lateinischen  Schriftsteller  in  kastilischer  Übertragung,  die  Dichter  aller- 
dings in  Prosa  und  mehr  paraphrasiert  als  übersetzt,  dazu  verschiedene 
Kirchenväter,  auch  manches  Griechische  unter  Vermittlung  der  italieni- 
schen Humanisten,  selbst  von  Dante  einen  Gesang,  einige  von  Petrarcas 
lateinischen  Schriften,  viel  von  Boccaccio,  der  an  Geltung  wächst,  seine 
gelehrten  Sammelwerke  vollständig,  und  dies  und  jenes  von  berühmten 
Zeitgenossen ;  stark  treten  die  Franzosen  zurück,  und  wenn  Gowers  *Con- 
fessio  amantis^  von  England  nach  Spanien  kam,  so  ist  es  Zufall  und  ge- 
schah auf  dem  Weg  über  Portugal. 

So  wie  es  um  die  Zeit  mit  der  Anfertigung  derartiger  Übersetzungen 
und  ihrer  handschriftlichen  Verbreitung  noch  stand,  trug  diese  Vulgari- 
sationsarbeit  von  vornherein  den  Stempel  einer  vornehmen  Liebhaberei. 
Berufsmässige  Lateiner,  die  den  Gebrauch  des  Latein  ihrer  Muttersprache 
vorziehen,  bleiben  eine  Minderheit.  Erst  unter  den  katholischen  Königen 
wird  mit  der  Aneignung  des  klassischen  Altertums  und  der  Umgestal- 
tung des  Studienplans  voller  Ernst  gemacht.  Das  altehrwürdige  Sala- 
manca,  die  neugegründete  Hochschule  von  Alcalä  de  Henares  und  der 
Hof  selber  werden  zu  Pflanzstätten  des  Humanismus,  um  dessen  sieg- 
reiche Verbreitung  sich  unter  den  Einheimischen  besonders  Antonio  de 
Nebrija  (1444—1522),  der  Vater  der  spanischen  Renaissance  und  zu- 
gleich der  Verfasser  der  ersten  spanischen  Sprachlehre,  verdient  macht, 
an  Ausländern  ein  Lucius  Marineus  Siculus  und  Petrus  Martyr 
Anglerius  mit  seiner  rastlos  stöbernden  Neugier.  Gleichzeitig  ver- 
breiten sich,  von  Deutschen  errichtet  und  gehandhabt,  die  Druckerpressen 
über  die  pyrenäische  Halbinsel  und  ziehen  die  Schätze,  welche  bislier 
die  Bibliotheken  hochsinniger  Magnaten  geziert  haben,  aus  deren  Dunkel 
hervor  und  bringen  sie  auf  den  offenen  Markt.  Hiemit  ist  der  Sieg 
der  neuen  Richtung  besiegelt,  wenn  auch  Spanien  seiner  Anlage  nach 
niemals  ein  Land  der  Gelehrten  werden  konnte  wie  Italien. 

Auf  dem  Gebiete  der  Geschichtschreibung  vor  allem  hatte 
sich  die  spanische  Sprache  eine  Position  gesichert,  die  nicht  mehr  zu 
erschüttern  war.  Einzelne  Versuche,  die  Welt-  und  die  Nationalgeschichte 
lateinisch  zu  stilisieren,  fanden  selber  rasch  Übersetzer  und  sind  durch 
die    stattliche   Reihe    spanischer   Darstellungen    reichlich    aufgewogen. 


Die  spanische  Litteratur  von  ihren  Anfängen  bis  zu  den  kathoh'schen  Königen     235 

Dem  begreiflichen  Ehrgeiz,  die  Ereignisse  der  Gegenwart  für  die  Welt 
der  Gebildeten  in  der  allgemeinen  Verkehrssprache  aufzuzeichnen,  ent- 
sprach zunächst  der  traurige  Zustand  des  Beichs  und  das  geringe  Inte- 
resse des  Auslandes  wenig;  auch  hier  schaffte  die  glorreiche  Wende  des 
Jahrhunderts  erfreulichen  Wandel. 

Glänzend  ist  wiederum  die  Zeitgeschichte  vertreten.  Mit  der  Fort- 
setzung der  Beichschronik  wurde  Älvar  Qarcfa  de  Santa  Maria 
(+  1460)  betraut,  der  sich  redlich  bemühte,  den  Fussstapfen  Ayalas  zu 
folgen,  aber  nur  bis  1420  das  Amt  versah.  Er  war  ein  Bruder  jenes 
Pablo  de  Santa  Maria,  der  mit  seinen  drei  Söhnen  vom  Judentum 
übertrat,  Bischof  von  Cartagena,  Burgos  und  Grosskanzler  wurde,  der 
selber  zwei  Abrisse  der  Weltgeschichte  verfasste,  einen  in  Versen  und 
einen  in  Prosa,  und  dem  sein  Zweitgeborener  Alfonso  auf  dem  Bischof- 
sitz von  Burgos  folgte.  Wahrscheinlich  sah  sich  Alvar  Garcia  durch 
die  Spannung  zwischen  seiner  Familie  und  dem  Condestable  zum  Bück- 
tritt vom  Amte  gezwungen.  Seine  Arbeit  wurde  bis  zum  Jahre  1435 
von  einem  nicht  unwürdigen  Nachfolger,  dessen  Name  unbekannt  ge- 
blieben ist,  fortgesetzt,  selbstredend  im  Geiste  des  thatsächlichen  Leiters 
der  Politik,  des  Condestable.  Für  die  Folgezeit  kam  es  nur  zu  kargen 
Aufzeichnungen  vom  Grossfalkenmeister  Per  o  Carillo  deAlbornoz, 
denen  der  Erzieher  des  Kronprinzen,  fray  Lope  de  Barrientos, 
Bischof  von  Cuenca  ;ind  Beichtvater  des  Königs,  einiges  beifügte.  In 
diesem  Zustand  kam  die  Chronik  Fe  man  Perez  de  Guzman  in  die 
Hände;  er  ordnete,  kürzte  und  überarbeitete  sie  seinem  eigenen  politi- 
schen Standpunkt  gemäss  und  gab  ihr  im  wesentlichen  die  Gestalt,  in 
der  sie  uns  heute  vorliegt,  noch  gern  gelesen  wegen  ihrer  klaren,  ruhigen, 
frischen  und  wahrheitsbeflissenen  Darstellung,  das  bunte  Spiegelbild  einer 
zerfahrenen,  vielbewegten  Zeit  voller  Bänken  und  Fehden,  aufrührerischer 
Umtriebe,  politischer  Ziellosigkeit  und  Zerrissenheit  neben  kühner  Bitter- 
lichkeit und  glänzendem  Festprunk.  —  Die  wertvollste  Ergänzung  dieser 
offiziellen  Annalen  lieferte  FernanPerez  deGuzman  selber  in  seinen 
'Qeschlechtsfolgen  und  Bildnissen'  (Getieraciones  y  semhlanzas)^  einer 
Beihe  von  34  Charakterbildern,  zu  denen  ihm  Guido  Colonnas  trojanische 
Geschichte  die  Idee  gab,  nicht  regelrechte  Lebensläufe,  sondern  Porträts 
mit  dem  individuellen  Belief  der  Persönlichkeit,  wie  sie  im  Leben  vor 
dem  durchdringenden  Beobachterblick  des  Verfassers  erschien,  äussere 
Erscheinung,  Temperament,  geistige  und  moralische  Anlagen  bald  in 
knapper  Skizze  zusammengedrängt,  bald  behaglich  ausgeführt  und  von 
Betrachtungen  begleitet,  in  denen  ein  lauterer,  welterfahreuer  und  durch 


286  ^Ii-  Aug.  Becker 

Enttäuschungen  geadelter  Geist  in  stiller  Besignation  das  Facit  dieses 
sturmdurchwühlten  Zeitraums  zieht :  allesamt  Kleinodien  der  spanischen 
Prosa. 

Nicht  der  König,  nicht  der  jeder  Energie  entwöhnte  Juan  II  war 
es,  der  die  königliche  Gewalt  ausübte  und  die  Geschichte  des  Staates 
lenkte,  sondern  sein  schrankenlos  allmächtiger  Günstling  Älvaro  de 
L  u  n  a ,  der  Gondestable,  ein  Bastard  ohne  Anhang,  der  als  Page  an  den 
Hof  kam  und  die  Gunst  des  Herrschers  nur  seiner  überlegenen  Persön- 
lichkeit und  staatsmännischen  Begabung  verdankte,  der  allein  —  Jahr- 
zehnte hindurch  —  dem  entfesselten  Ehrgeiz  der  Feudalstände  die  Stirn 
zu  bieten  vermochte,  bis  der  König,  schwach  wie  immer,  ihn  dem  Groll 
seiner  Gegner  preisgab  (1453).  Dem  tragisch  Gefallenen  erstand  in 
einem  unbekannten  Anhänger  ein  Verteidiger,  der  uns  vom  Wesen  und 
Wirken  und  vom  standhaften  Ende  dieses  merkwürdigen  Mannes  ein 
meisterhaft  anschauliches  Gemälde  entwirft,  mit  einer  sympathischen 
Wärme,  die  seine  wort-  und  sentenzenreiche  Erzählung  belebt  und  ihre 
ergreifende  Wirkung  nicht  verfehlt.  —  Schon  einmal,  im  Jahr  1439, 
war  es  den  Grossen  gelungen,  die  zeitweise  Entfernung  des  Gondestable 
durchzusetzen;  damals  kam  es  zwischen  dem  König  und  den  Missver- 
gnügten zu  einem  förmlichen  schiedsrichterlichen  Vergleich,  bei  dem 
die llntscheidung  in  die  Hände  des  Grafen  von  Haro,  Pedro  Fernandez 
de  Velasco,  gelegt  wurde;  dieser  hat  dann  s^ber  in  Seguro  de 
Tordesillas  jene  denkwürdigen  und  für  die  Zustände  im  Beich  so 
bezeichnenden  Verhandlungen  schmucklos  und  wahrheitsgetreu  wieder- 
erzählt. —  Eigenartig  anziehend  und  ein  wertvolles  Stück  Sittenge- 
schichte ist  das  Lebensbild,  das  GutierreDiazGamez  im  Victorial 
von  seinem  Herrn,  dem  nie  bezwungenen  PetroNifio,  späteren  Grafen 
von  Buelna  (1375—1454),  entworfen  hat;  jung  und  für  Ritterthaten 
begeistert  trat  Gutierre  in  Niflos  Dienst,  begleitete  ihn  als  Fahnenträger 
und  beschreibt  als  Augenzeuge  seine  thatenfrohe  Laufbahn,  die  lustige 
Jagd  auf  Corsaren  bis  in  den  Hafen  von  Tunis,  die  kühnen  Freibeuter- 
züge nach  England  und  Jersey,  das  Liebesabenteuer  mit  der  jungen 
Frau  des  Admirals  von  Frankreich  im  Winterquartier  von  S^rifontaine, 
und  dann  in  der  Heimat  die  verwegene  und  schliesslich  glückliche  Wer- 
bung um  die  Infantin  Beatrix  von  Portugal,  mit  deren  Tod  (1446)  die 
Erzählung  endet,  abenteuerlich  wie  ein  Boman  und  vom  Verfasser  als 
ein  Lehrbuch  echten  Bittersinns  mit  allerhand  Legenden  und  gelehrtem 
Beiwerk  verbrämt.  —  Nicht  minder  lehrreich  für  die  Kenntnis  der  Zeit 
und  ihrer  Sitten  ist  der  Pa^  honroso,  der  von  einem  eigens  hinznge- 


t>ie  spanische  Litteratur  von  ihren  Anfangen  bis  zu  den  katholischen  Königen     23*^ 

zogenen  Notarius  aufgesetzte  Bericht  über  den  Waflfengang,  den  Suero 
de  Quinones  im  Jahre  1434  mit  acht  Gefährten  unternahm,  indem  er 
sich  anheischig  machte,  seiner  Dame  zu  Ehren  30  Tage  hindurch  die 
Brücke  von  Orbigo  bei  Leon  gegen  Jeden  zu  verteidigen,  bis  300  Lanzen 
gebrochen  wären. 

Die  Regierungsgeschichte  Enriques  IV  schrieb  von  Amts  wegen 
Diego  Enriquez  del  Castillo,  Hofkaplan  und  Mitglied  des  könig- 
lichen Bats;  und  beinahe  hätte  er  es  mit  dem  Leben  gebüsst,  als  die 
Grossen,  welche  den  Infanten  Alfonso,  des  Königs  Bruder,  auf  den  Thron 
erhoben  hatten,  sich  Segovias  bemächtigten  (1464)  und  er  mit  seiner 
Chronik  in  ihre  Hände  fiel.  Alle  seine  Aufzeichnungen  wurden  ihm  ab 
genommen,  so  dass  er  sie  aus  dem  Gedächtnis  ersetzen  musste.  Zum 
Zeugen  elender  Zeiten  berufen,  rettet  er  sich  durch  eine  gewisse  zurück- 
haltende und  emphatische  Würde,  durch  das  Bewusstsein  seiner  Verant 
wortung  vor  der  Nachwelt  und  durch  das  Streben  die  inneren  Zusammen- 
hänge der  Geschehnisse  zu  erfassen.  —  Zu  ihrem  Historiographen  be- 
stellte die  Partei  des  kurzlebigen  Infanten  den  lateinischen  Sekretär  des 
Königs,  Alfonso  Fernandez  de  Palencia  (1423 — 1492),  der  im 
bischöflichen  Palast  zu  Burgos  aufgewachsen  war  und  seine  Bildung  in 
Italien,  im  Kreis  der  byzantinischen  Flüchtlinge  erworben  hatte;  dieser 
hinterliess  die  Geschichte  der  Zeit  in  drei  lateinisch  geschriebenen  De- 
kaden, denen  man  ungewöhnlichen  Freimut,  ätzende  Schärfe  und  lebens- 
volle Porträts  nachrühmt.  Sein  Alter  verbrachte  Palencia  im  Hause 
des  Herzogs  von  Medinasidonia  in  Sevilla  mit  der  Fortsetzung  seiner 
Jahrbücher  und  mit  gelehrten  Arbeiten,  einer  Synonymensammlung, 
einem  spanisch-lateinischen  Wörterbuch,  einer  Gesamtdarstellung  der 
spanischen  Geschichte,  und  dergl.  —  Ohne  offiziellen  Auftrag  schrieb 
Diego  de  Valera  (1412—1486).  In  jüngeren  Jahren  hatte  dieser 
seine  Ritterkraft  an  fremden  Höfen  zur  Schau  getragen  und  darauf  ge- 
stützt auch  zu  Hause  Einfluss  erlangt;  mehrmals  Hess  er  in  offenen 
Briefen  an  die  Herrscher  ein  kräftiges  Wort  vernehmen,  verfasste  auch 
Moraltraktate,  Abhandlungen  über  Wappenkunde,  Hofamter,  u.  s.  w.; 
der  Geschichte  wendete  er  sich  erst  spät  zu  und  schrieb  zuerst  die 
Spaniens  im  Abriss  (1481),  die  erste  ihrer  Art,  die  gedruckt  wurde, 
und  vermutlich  als  Fortsetzung  dazu  das  Memorial  de  diversas  hazanas 
über  Enriques  Regierung  mit  etwas  weiterem  Horizont,  im  wesentlichen 
nach  Palencia.  —  Derselben  Regierung  gedenkt  Pedro  de  Escdvias, 
Statthalter  von  Andüjar,  in  einer  ähnlichen  Gesamtgeschichte.  Als 
Quellen  von  Wert  setzen  um  diese  Zeit  noch  einige  Lokalchroniken  ein. 

NEUE  I1En>ELB.  JAHRBUECIIRR  XII.  10 


238  Ph.  Aug.  Becker 

Auch  der  neue  Condestable  Miguel  Lucas  de  Iranzo,  ein  Mann 
von  niederster  Geburt,  der  aber  die  Gunst  Enriques  nicht  für  sich  aus- 
beutete, sondern  seine  Thatkraft  dem  Grenzkrieg  wider  die  Mauren  zu- 
wendete, fand  in  Juan  de  Olid  einen  Biographen,  dem  kein  Detail 
zu  kleinlich  ist.  —  Endlich  gab  Fernando  del  Pulgar  in  seinen 
Claros  varones  de  Castilla  nach  Guzmans  Muster,  ohne  dessen  spontane 
Intuitionsgabe,  doch  mit  gutem  psychologischem  Verständnis  und  sorg- 
sam gefeiltem  Ausdruck  24  mehr  biographische  Charakterbilder  älterer 
Zeitgenossen. 

Fernando  del  Pulgar  hatte  schon  ein  reich  erfülltes  Leben  hinter 
sich,  als  ihn  die  Königin  Isabel  zu  ihrem  Historiographen  berief  (1482); 
er  ist  der  letzte  Chronist  alten  Stils  und  schon  nicht  mehr  ganz;  mehr 
als  auf  Fülle  der  Einzelheiten  zeigt  er  sich  nach  dem  Vorbild  der  Alten 
auf  kunstgerechte  Gruppierung  des  Stoffs  und  Würde  des  Stils  bedacht; 
ein  ausgesprochener  Zug  zum  Rhetorischen  bekundet  sich  im  Obermass 
der  eingestreuten  Beden  und  kennzeichnet  auch  seine  Briefsammlung. 
Pulgar  führte  sein  Werk  bis  1490;  nach  der  Einnahme  Granadas  schrieb 
er  aber  noch  eine  kurze  Geschichte  der  maurischen  Herrscher,  sein  letztes 
Lebenszeichen.  —  Verschollen  scheint  das  Werk  seiner  drei  Nachfolger 
im  Amte.  Hingegen  besitzen  wir  von  Andres  Bernaldez,  Pfarrer 
von  los  Palacios  und  Kaplan  des  Erzbischofs  von  Sevilla,  eine  reich- 
haltige, gut  informierte,  schlicht  erzählende  Chronik,  die  von  1488  bis 
1513  reicht  und  an  malerischer  Fülle  der  Ereignisse  und  an  umständ- 
lichen Eingehen  auf  die  Einzelheiten  nichts  zu  wünschen  übrig  lässt.  — 
Ihre  Herrscherlauf  bahn  begannen  die  katholischen  Majestäten  mit  einem 
Sieg  über  die  Portugiesen  bei  Toro  (1476),  der  als  Vergeltung  für  die 
Niederlage  von  Aljubarrota  empfunden  wurde;  als  solche  wird  er  vom 
Baccalaureus  Palma  in  seiner  Divina  räribucion  verherrlicht.  Noch 
manche  Chronik  liegt  ungedruckt  oder  in  seltenen  Ausgaben  in  Biblio- 
theken verborgen,  andere  sind  verloren  gegangen.  Dass  uns  die  Mehr- 
zahl der  Königschroniken  zugänglich  ist,  verdanken  wir  der  Sammlung, 
die  der  Kämmerer  Lorenzo  Galindez  de  Carvajal  1517  veran- 
staltete und  für  die  sein  Name  die  Erwähnung  verdient. 

Das  rege  Nationalgefühl  der  Spanier  labte  sich  an  den  geschicht- 
lichen Erinnerungen  und  liess  eine  Eeihe  von  Gesamtdarstellungen  der 
spanischen  Geschichte  entstehen.  Zu  wahren  Volksbüchern,  als  welche 
sie  noch  fortleben,  wurden  die  'Chronik  von  Fernan  Gonzalez  und  den 
Infanten  von  Lara',  die  'Thaten  des  Cid\  und  andere  Auszüge  aus 
Alfonsos  des  Weisen  Geschichte  Spaniens,  zu  denen  auch  die  ^Chronik 


Die  spanische  Litteratur  von  ihren  Anfängen  bis  zu  den  katholischen  Königen    23 d 

König  Roderichs'  (eigentlich  Crönica  sarracina)  gehört,  jenes  Lügen- 
buch eines  sonst  unbekannten  Pedro  de  Corral,  das  die  Geschichte 
ganz  zur  Ritterdichtung  travestiert,  aber  damit  die  Nationalsage  um 
ein  neues  Kapitel  bereicherte,  den  Untergang  des  Qotenreiches.  —  Auch 
die  Nebenländer  besinnen  sich  auf  ihre  Vergangenheit ;  eine  Chronik  der 
Könige  von  Aragon  gab  der  Cistercienser  fray  Gualberto  Fabricio 
de  Vagad;  die  Geschichte  Navarras  schrieb  der  unglückliche  Prinz 
Carlos  de  Viana  (1421—1461),  dem  dieses  Reich  als  mütterliches 
Erbe  zukam,  der  aber  im  Konflikt  mit  seinem  Vater,  Juan  II  von  Ara- 
gon, unterlag  und  starb.  —  Grosse  Anziehungskraft  übt  endlich  das 
Beispiel-  und  Anekdotenmaterial  der  Geschichte  als  Substrat  für  mora- 
lische Betrachtung;  mit  wechselndem  Programm  wird  es  verarbeitet 
als  *  Warte  der  Chroniken'  vom  Erzpriester  von  Talavera,  als  *Meer 
der  Geschichten'  von  Guzman,  als  'Spiegel  der  Geschichten'  von  Al- 
fonso  de  Toledo,  als  'Allgemeines  Handbuch  der  römischen  Ge- 
schichten' von  Alfonso  de  Ävila.  Grossen  Erfolg  erntete  Diego 
Bodriguez  de  Almela  mit  seinem  nach  Sittenbegriffen  geordneten 
Valerio  de  las  historias,  der  mehrere  Auflagen  kurz  nach  einander  er- 
lebte und  lange  als  Muster  der  Sprache  galt. 

Fast  ein  Zufall  scheint  es,  wenn  Ausgangs  des  15.  Jahrhunderts 
aus  den  Spaniern  ein  Volk  von  überseeischen  Entdeckern  und  Welt- 
eroberern wurde;  denn  bislängst  waren  sie  aus  ihrer  natürlichen  Abge- 
schiedenheit kaum  herausgetreten.  Nicht  etwa,  dass  ihnen  der  nötige 
Wagemut  fehlte:  kastilische  Ritter  traf  man  überall  im  Ausland,  auf 
Turnierplätzen  wie  in  Feldlagern.  Kastilische  Weltreisende  sind  eine 
Seltenheit;  und  wenn  sich  einer  findet  und  er  seine  Erlebnisse  erzählt,  so 
geschieht  es  ganz  im  schlichten  Ton  der  Chronik,  meist  mit  nüchternem 
Sinn  und  mit  einer  starken  Beigabe  kastilischen  Selbstbewusstseins.  — 
Eine  sonderbare  Regung  fürstlicher  Eitelkeit  bestimmte  Enrique  III 
eine  Gesandtschaft  an  den  Eroberer  Asiens,  Timur-leng,  zu  schicken, 
als  er  eben  die  Türkenmacht  bei  Angora  zu  Boden  warf;  da  dieser  die 
Höflichkeit  erwiderte,  ging  eine  zweite  Gesandtschaft  ab,  die  den  Ge- 
waltigen in  seiner  Hauptstadt  Samarkand  aufsuchte  und  ihn  dort  in 
seiner  ganzen  tatarischen  Pracht  bewundern  durfte.  Über  diese  Gesandt- 
schaft, die  von  1403—1406  unterwegs  war,  hat  uns  ihr  Führer  Ruy 
Gonzalez  de  Clavijo  oder  dessen  Begleiter  fray  Alonso  Paez  de 
Santa  Maria  einen  Bericht  hinterlassen,  der  nicht  blos  kulturgeschicht- 
lich von  Wert  ist,  sondern  an  sich,  trotz  der  eintönigen  Tagebuchform 
fesselt  mit  der  arglosen  Beschreibung  des  der  Zersetzung  entgegengehen- 

16* 


240  Pb.  Aug.  Becker 

den  byzantinischen  Eeichs,  des  beschwerdevollen  Ritts  durch  die  end- 
losen Hochflächen  Innerasiens  mit  ihren  buntbevölkerten  Städten,  der 
ununterbrochenen  Festlichkeit^  in  Samarkand  und  der  durch  das  nahende 
Ende  Timurs  beschleunigten  Bückkehr.  —  Im  Jahre  1437  war  es  aber- 
mals das  Morgenland,  das  den  Aragonier  Pero  Tafur  anzog;  aller- 
dings wehrte  ihm  die  Ungunst  der  Zeiten  den  Eintritt  ins  Binnenland, 
er  sah  aber  Genua,  Venedig,  Eonstantinopel,  die  heiligen  Stätten  des 
Gelobten  Landes  und,  mit  einem  Auftrag  des  Königs  von  Cypern,  Cairo 
und  den  Berg  Sinai  mit  offenem  Blick,  als  ein  Mann  von  Welt;  und 
der  ungesucht  natürliche  Ton,  in  dem  er  seine  Erlebnisse  erzählt,  ver- 
leiht seiner  an  interessanten  Beobachtungen  reichen  Schilderung  von 
Land  und  Sitten  einen  sympathisch  persönlichen  Anstrich.  —  Auf  die 
richtige  Fährte,  auf  das  westliche  Weltmeer  wurde  die  spanische  Nation 
erst  durch  ihren  imsterblichen  Adoptivsohn,  Cristöval  Colon,  den 
Entdecker  des  neuen  Weltteils,  (1446—1506)  hingelenkt.  Aus  den  Be- 
richten und  Briefen  dieses  heldenmütigen  Bahnbrechers  spricht  in 
schlichter  Einfachheit  der  klare,  überlegene  Geist  und  der  ungebeugte 
Wille,  die  ihn  führten,  sein  offener  Blick  für  Welt  und  Natur  und  nicht 
minder  der  tiefe,  fast  mystische  Glauben  an  die  göttliche  Sendung,  aus 
dem  sein  Geist  den  Schwung  und  die  Ausdauer  in  Mühsal  und  Wider- 
wärtigkeit schöpfte.  Leider  hat  Columbus  keine  zusammenhängende  Dar- 
stellung seines  Lebens  und  seiner  Entdeckungsfahrten  gegeben,  und  seine 
wichtigsten  Eingaben  sind  nicht  einmal  im  vollständigen  Wortlaut  er- 
halten: so  sorglos  hat  Spanien  seine  Schätze  bewahrt! 

Auch  auf  dem  Felde  der  didaktischen  Prosa  regt  sich  viel- 
gestaltiges, wenn  auch  oft  nur  erst  dämmerndes  Leben.  Noch  einmal 
finden  wir  den  alten  Stoff  lehrhafter  Unterhaltung,  den  Apolog,  in  neuer 
Fassung  im  Exempelbuch  des  Archidiakonus  von  Valderas,  demente 
Sänchez  de  Bercial,  (Exemplos  por  a  h  c)  das  die  Fabeln  zum 
Gebrauch  für  den  Prediger  nach  lateinischen  Schlagworten  ordnet  und 
mit  kurzen  Reimsprüchen  einführt ;  und  neue  Übersetzungen  von  'Calila 
und  Dimna',  vom  'Laienspieger  des  Engländers  Johannes  von  Ho- 
veden  bezeugen  die  andauernde  Beliebtheit  der  Gattung.  Neu  und 
eigen  in  seiner  Art,  ein  Ausbund  schwerfälliger  Gelehrsamkeit  ist  En- 
rique de  Villenas  allegorisch-mythologischer  Roman,  'die  Zwölf  Ar- 
beiten des  Herkules',  katalanisch  abgefasst,  aber  von  ihm  selber  spanisch 
umgeschrieben :  ein  Sittenspiegel  für  alle  Ritter,  worin  die  alte  Sage 
nicht  nur  umständlich  erzählt,  sondern  Stück  für  Stück  allegorisch  ge- 
deutet, dann  historisch  rationalisiert  und  schliesslich  auf  einen  der  zwölf 


Die  spanische  Litteratur  von  ihren  Anfängen^  bis  zu  den  katholischen  Königen    241 

Stände  der  Welt,  vom  König  bis  hinab  zu  den  Frauen,  angewendet  wird. 
Nicht  minder  typisch  vertritt  die  geistige  Bichtung  des  Jahrhunderts 
die  Vision  deleitahle  des  Baccalaureus  Alfonso  de  la  Torre  vom 
Collegium  San  Bartolome  in  Salamanca.  Es  ist  ein  gedrängter  Lehr- 
gang der  freien  Künste  und  Moralphilosophie  im  Rahmen  einer  allego- 
rischen Vision:  wir  folgen  dem  Verstand  in  seinem  Entwicklungsgang 
durch  die  Behausungen  der  sieben  Künste,  bis  ihn  die  Vernunft  zur 
Wohnung  der  Wahrheit  führt,  wo  ihm  durch  den  Hinweis  auf  die  gött- 
liche Weltordnung  der  Sinn  des  Weltratseis  o£fenbart  und  die  sieben 
Tugenden  vorgeführt  werden.  Das  Buch  wurde  für  denl^rinzen  von 
Viana  auf  Wunsch  seines  Erziehers  geschrieben  und  zeichnet  sich  stellen- 
weise durch  poetisch  beflügelten  Schwung  der  Gedanken  und  Sprache 
aus;  es  verschaffte  dem  Verfasser  einen  hervorragenden  Platz  in  der 
Schätzung  seiner  Zeitgenossen  und  erlebte  mehrere  Auflagen,  ward  in 
fremde  Sprachen  übersetzt,  ja  1623  brachte  es  ein  Unberufener  fertig, 
dasselbe  aus  dem  Italienischen  ins  Spanische  zurückzuübertragen.  Eine 
allegorische  Hülle  gab  auch  Alonso  de  Palencia  seinem  Schriftchen 
von  der  ^Vollkommenheit  des  militärischen  Triumphes' :  im  Grunde  eine 
Stilübung  wie  die  episch  angehauchte  'Feldschlacht  der  Wölfe  und  Hunde', 
mit  der  sich  der  zukünftige  Historiograph  nach  seiner  Bückkehr  aus 
Italien  zu  empfehlen  trachtete.  Er  lässt  Exercicio,  einen  Spanier, 
Discrecion  in  Italien,  ihrer  Heimat,  aufsuchen,  um  von  ihr  bei 
Triumfo  eingeführt  zu  werden.  Es  vermählt  sich  darin  das  Selbst- 
gefühl des  Spaniers  mit  der  Bewunderung  für  die  italienische  Bildung 
und  für  die  noch  im  Verfallen  so  gewaltigen  Überreste  des  Altertums, 
und  nicht  übel  lesen  sich  —  unter  dem  gelehrt  rhetorischen  Apparat  — 
einige  Skizzen  vergleichender  Völkerpsychologie.  Das  grösste  Lob  ver- 
diente vielleicht  unter  allen  Werken  der  schönen  Prosa  Juan  de  Lu- 
cenas  Dialog  Vita  beata,  wenn  er  nicht  eine  einfache  Übersetzung  aus 
dem  Italienischen  wäre;  denn  originell  ist  nur,  dass  der  Verfasser  das 
Gespräch  drei  berühmten  Landsleuten,  Sautillana,  Cartagena  und  Juan 
de  Mona,  in  den  Mund  legt. 

Eine  fruchtbare  Anregung  kam  von  Boccaccio.  Nicht  mehr  ganz 
jung  hatte  dieser  für  eine  verschmähte  Liebeswerbung  im  'Corbaccio' 
brutale  Bache  genommen.  Diese  Schrift  brachte  die  nachfolgenden  Ge- 
schlechter lange  in  Aufruhr;  zahllose  Schriftsteller,  Meister  und  Stüm- 
per, hielten  es  für  ihre  Ehrenpflicht,  eine  Lanze  für  das  beleidigte  schöne 
Geschlecht  einzulegen,  während  andere  noch  Tadel  auf  Tadel  häuften. 
In  Kastilien  war  es  die  Königin  Maria  selbst  (f  1445),  welche  die  Ver- 


242  Ph-  Aug.  Becker 

teidiger  der  Frauenehre  aufrief  und  anfeuerte.  In  ihrenn  Aufkrag  schrieb 
Alfonso  de  Cartagena  ein  Buch  über  berühmte  Frauen,  das  in 
Verlust  geraten  ist.  Als  Sühne  für  irgend  einen  Verstoss,  der  ihn  vom 
Hofe  gebannt  hatte,  verfasste  Kodriguez  delPadrön  seinen  ^Triumph 
der  Frauen',  worin  er  deren  Überlegenheit  mit  50  fein  sophistischen 
Gründen  darthut,  im  Gewand  einer  anmutigen  Verwandlungsfabel :  durch 
den  Mund  der  Nymphe  Cordiama,  die  als  Quell  zu  den  Füssen  ihres 
zur  Erle  gewandelten  Aliso  murmelt.  Etwas  später  kam  Älvaro  de 
Luna  mit  seinen  ^berühmten  und  tugendhaften  Frauen',  biblische,  heid- 
nische und  christliche  Beispiele  auf  drei  Bücher  verteilt  und  mit  einer 
gefälligen  Leichtigkeit  erzählt,  die  der  Feder  des  Gondestable  Ehre  macht. 
Für  die  Erziehung  der  Infantin  Isabel  schrieb  der  Augustinermonch 
Martin  Alonso  de  Cördova  einen  ^Garten  edler  Jungfrauen',  und 
lange  noch  zieht  sich  der  Streit  in  den  Büchern  dahin. 

Alle  Scheingründe  und  schönen  Exempel  verfingen  aber  nicht  bei 
Alfonso  Martinez  de  Toledo,  Erzpriester  von  Talavera,  dem  sati- 
rischen Menschenkenner,  dem  kein  ritterlich  mystisches  Gefühl  den  klaren 
Scharfblick  trübt.  Er  war  Kaplan  Juans  II  und  hat  verschiedenes  ge- 
schrieben; allein  das  'Buch  gegen  die  thörichte  Liebe',  das  er  1438  im 
40.  Lebensjahr  vollendete,  der  Corbacho  ist  unstreitig  das  originellste 
Erzeugnis  der  Epoche.  Wie  der  Erzpriester  von  Hita,  gleich  aufrichtig, 
gleich  drastisch,  doch  nicht  so  locker,  predigt  er  die  Verwerflichkeit  der 
irdischen  Liebe.  Als  Schreckbild  malt  er  die  Laster  der  schlechten 
Frauen  mit  einer  kaustischen  Verve,  die  ihresgleichen  sucht;  die  alten 
Beispiele  von  Frauenlist  und  Frauentrug  kehren  wieder  in  verjüngter 
Frische  und  untermengt  mit  Beobachtungen  und  Schilderungen  aus  dem 
Leben,  sprudelnd  von  Natürlichkeit,  dramatisch  insceniert  und  von  einer 
Schalkhaftigkeit  und  Echtheit,  die  höchst  ergötzlich  sind;  da  erfahren 
wir  alle  Geheimnisse  der  weiblichen  Toilette,  da  sehen  wir  der  Frauen 
Eigennutz  und  Eigensinn,  da  hören  wir  ihr  endloses  Jammern  um  jede 
Kleinigkeit,  u.  s.  w.  Auch  der  Männer  wird  gedacht  und  ihres  Verhaltens 
zur  Liebe  je  nach  ihrem  Temperament,  und  da  die  Irregehenden  sich 
immer  auf  ihr  Verhängnis  berufen,  so  wird  noch  der  blinde  Zauber-  und 
Schicksalsglaube  herb  mitgenommen.  So  bunt  der  Inhalt,  so  leicht  und 
lebhaft  ist  die  Darstellung.  Mit  seiner  geisselnden  Derbheit  und  wür- 
zigen Unmittelbarkeit,  seinem  Realismus  und  seiner  bodenwüchsigen 
Sprache  vertritt  der  Erzpriester  von  Talavera  inmitten  der  gleissenden, 
geistreich  tändelnden  Hofgesellschaft  jene  echt  spanische,  humoristisch 
ironische  Ader,  die  noch  in  diesem  selben  und  vollends  im  folgenden 


Die  spanische  Litteratar  von  ihren  Anfängen  bis  zu  den  katholischen  Königen    243 

Zeitraum  ihre  reifen  Früchte  zeitigen  sollte.  —  Nicht  geringere  Menschen- 
kenntnis vereinigt  mit  mehr  sittlichem  Pathos  Fernando  de  Tala- 
vera  (1428—1507),  der  erste  Erzbischof  und  Apostel  von  Granada,  in 
den  Traktaten  'über  die  tägliche  Beschäftigung  der  Frauen'  und  *über 
Kleidung,  Schuhwerk  und  Nahrung',  die  er  noch  als  Prior  von  Santa 
Maria  schrieb  und  von  denen  das  letztere  ein  lebhaftes  und  kultur- 
geschichtlich  recht  lehrreiches  Bild  der  weltlichen  Frivolität  entwirft. 

Bei  aller  schriftstellerischen  Begsamkeit  war  für  eine  wissen- 
schaftliche Litteratur  im  eigentlichen  Sinn  Spaniens  geistiger 
Horizont  noch  zu  eng.  Nur  wenige  Fragen  erwecken  wirklich  Interesse. 
Der  hehren  Vorschneidekunst  widmet  Villena  seine  succulente  Arte 
cisoria,  eine  Mine  des  Genusses  und  der  Belehrung  für  Tafelfreunde. 
Für  Rechte  und  Vorrechte  des  Rittertums  erwärmen  sich  Alfonso  de 
Gartagena  und  Juan  Rodrfguez  delPadron.  Schicksalsglauben, 
Traumdeutungen  und  die  anderen  Formen  der  Wahrsagerkunst  behandelt 
Lope  de  Barrientos  in  drei  Traktaten  als  Direktive  für  den  König 
bei  richterlichen  Entscheidungen.  Eine  andere  Zierde  der  salmantiner 
Hochschule,  Alfonso  de  Madrigal,  El  Tostado,  von  der  Artisten- 
fakultät, ein  üniversaltalent,  der  über  alles  schrieb,  liess  auch  spanisch 
ein  Buch  Paradoxe,  ein  mythologisches  Handbüchlein  und  einige  Ab- 
handlungen ('dass  alle  Menschen  lieben  müssen',  *von  Liebe  und  Freund- 
schaft') u.  dergl.  zurück.  Ein  fruchtbarer  Schriftsteller  war  gleichfalls 
Buy  Sänchez  de  Arevalo  (1404 — 1470),  Dekan  von  Sevilla  und 
Bischof  von  Zamora,  der  für  Enrique  IV  einen  ^Lustgarten  der  Prinzen' 
und  eine  'Summe  der  Politik,  wie  Städte  errichtet  und  erbaut  werden 
sollen',  schrieb.  Zahlreiche  Handschriften  zeugen  endlich  von  der  Be- 
liebtheit des  Invencionario  de  todas  las  cosas  del  mundo 
des  Baccalaureus  Alfonso  de  Toledo  (1474),  ein  dickleibiges,  ency- 
klopädisches  Repertorium  aller  Dinge,  die  das  irdische  sowohl  als  das 
ewige  Leben  betreffen. 

Besonderer  Originalität  erfreut  sich  die  religiöse  Litteratur  noch 
immer  nicht;  doch  verspürt  man  nach  langer  Ebbe  wieder  steigende 
Flut.  Voran  ging  Pedro  Gomez  Barroso,  von  1380—1390  Ver- 
weser des  Erzbistums  Sevilla,  mit  Betrachtungen  über  die  zehn  Gebote, 
den  Glauben,  die  Sakramente,  u.  s.  w.,  aus  denen  tiefer  sittlicher  Ernst 
spricht.  Unter  Juan  II  mehren  sich  die  Versuche:  da  begegnet  uns 
wieder  unter  anderen  bekannten  und  unbekannten  Namen  Alfonso  de 
Gartagena,  der  für  Perez  Guzman  eine  Anleitung  zum  andächtigen 
Gebet  schreibt.    Enrique  dem  IV.  widmet  der  Dominikaner  fray  A 1  o  n  s  o  > 


244  Ph.  Aug.  Becker 

de  San  Critöval  seinen  Vegecio  spiritualj  eine  Übersetzung  des  'de 
re  militari'  mit  Ausdeutung  auf  den  geistlichen  Kampf.  Auch  eine 
Frau  ist  zu  nennen,  Teresa  de  Cartagena,  die  zum  eigenen  Trost 
in  ihrer  Taubheit  die  allegorische  Arboleda  de  los  enfermos  schrieb, 
indem  sie  sich  vom  Sturm  der  Leidenschaft  auf  die  Insel  der  Ernied- 
rigung verschlagen  stellt,  wo  sie  in  einem  schattigen  Obstbaumgehölz 
Schutz  und  Erholung  findet;  dieselbe  verfasste  auch  für  Qomez  Manri- 
ques  Gemahlin,  dofia  Juana  de  Mendoza,  eine  Betrachtung  über  die 
Wunder  der  Werke  Gottes,  unter  den  katholischen  Königen  erschienen 
dann  auch  einige  Erbauungsschriften  im  Druck ;  die  Frucht  der  wieder- 
erwachenden Studien  war  aber  auf  diesem  Gebiet  eine  auffallende  Ab- 
kehr vom  Gebrauch  der  Volkssprache;  die  Theologie  und  die  religiöse 
Litteratur  griffen  zuerst  wieder  energisch  zur  lateinischen  Sprache  zurück. 

Die  ünterhaltungslitteratur,  der  wir  uns  zuletzt  zuwenden, 
vollendet  in  diesem  Zeitraum  ihren  Klärungsprozess ;  sie  entwächst  all- 
mälig  dem  lehrhaften  Scheinwesen  und  ringt  sich  langsam  zu  freier, 
bewusster  Gestaltungskraft  durch.  Zwei  Richtungen  gehen  dabei  neben 
einander,  verwandt  im  Geiste,  aber  ohne  sich  gegenseitig  zu  durch- 
dringen :  die  eine  ritterlich-phantastisch,  begnügt  sich  vorerst  noch  mit 
französischem  Import;  die  andere,  modern-sentimental,  lehnt  sich  an 
Italien  an  und  macht  schwache  Versuche,  Eigenes  zu  schaffen. 

Einen  unscheinbaren,  aber  zukunftbergenden  Anfang  machte  Juan 
Rodriguez  del  Padrön  mit  seiner  Novelle  J5^/  siervo  libre  de  amor, 
die  trotz  aller  Formlosigkeit,  Rhetorik  und  Allegorie  etwas  poetisch  an- 
ziehendes hat.  Frei  geworden  von  einer  anfangs  glücklichen,  bald  aber 
nicht  mehr  erwiderten  Liebe,  verliert  sich  der  Dichter  in  seinen  trüben 
Gedanken  und  wünscht  den  Tod  herbei;  da  kommt  ihm  die  schlicht 
ergreifende  Geschichte  in  den  Sinn,  wie  der  Königssohn  Arlandier  sich 
in  Liessa  verliebt,  ihr  zu  Ehren  an  vielen  Höfen  in  Turnieren  glänzt, 
wie  er  für  sie  ein  Schloss  in  einen  Felsen  hauen  lässt  und  hier  mit  ihr 
lebt,  bis  sein  Vater  sie  entdeckt  und  die  junge  Frau  töten  lässt,  und 
er  ihr  in  den  Tod  folgt.  Es  ist  eine  einfache  Herzensgeschichte  wie 
Boccaccios  Tiammetta',  sentimental  und  etwas  deklamatorisch  wie  diese; 
verschleiert  deutet  sie  eigene  Erlebnisse  des  Dichters  an  und  will  auch 
mit  der  eingelegten  Erzählung  nur  seiner  Gemütsverfassung  zum  Aus- 
druck verhelfen;  sie  knüpft  dabei  an  heimatliche  Erinnerungen  und 
webt  ihren  Glanz  um  das  Stück  galicischer  Erde,  wo  des  Verfassers 
Wiege  stand.  —  Dieses  Werkchen  war  es,  das  einige  Jahrzehnte  später 
Diego   de   San    Pedro   für  sein   berühmtes   Garcel  de  Amor  zum 


Die  spanische  Litteratur  von  ihren  Anfängen  bis  zu  den  katholischen  Königen    245 

Muster  diente.  Oefesselt  und  gemartert  muss  Leriano  als  Gefangener 
des  Liebesgottes  seufzen,  bis  die  Königstochter  Laureola  sich  erweichen 
lässt  und  ihn  durch  ihre  Gegenliebe  erlöst;  üie  beiden  Liebenden  werden 
beim  König  verleumdet,  Leriano  wird  verbannt,  Laureola  zum  Tode  ver- 
urteilt, doch  von  ihrem  Geliebten  befreit  und  heldenmütig  verteidigt, 
bis  ihre  Unschuld  kund  wird;  jetzt  aber  weigert  sie  sich  schamhaft, 
ihm  weiter  Gehör  zu  schenken,  und  er  lässt  sich  vor  Verzweiflung 
Hungers  sterben.  Dieses  seltsame  Amalgam  von  Allegorie  und  phan- 
tastischer Sealität  führt  uns  der  Verfasser  vor,  als  wäre  er  selber  Zeuge 
aller  Vorfälle  und  teilnehmender  Vermittler  zwischen  den  Liebenden  ge- 
wesen; und  wenn  er  selber  auch  später  die  Schrift  als  eine  Jugendver- 
irrung bereute:  mit  ihrer  glühenden  Liebesrhetorik  fand  sie  Anklang 
bis  weit  über  die  Grenzen  des  Landes  hinaus  und  fuhr  lange  fort 
fühlende  Herzen  zu  bestricken.  Sie  machte  auch  Schule  und  rief  mit 
einer  zweiten  Novelle  von  ihm,  dem  Tratado  de  amores  de  Arnalie  y 
Lucenda,  eine  Beihe  von  Nachahmungen  hervor:  von  Luis  de  Lucena 
die  Repeticion  de  amores^  Liebesbriefe  mit  einer  Parodie  der  Schuldispu- 
tationen in  einem  Kommentar  über  Verse  des  katalanischen  Dichters 
Torrellas;  von  Juan  de  Fl  eres  den  Tratado  de  Grisel  y  Mirabella, 
der  die  Frage:  wer  dem  anderen  mehr  Anlass  zum  Fehlen  gibt,  der 
Mann  der  Frau  oder  die  Frau  dem  Manne,  zu  Ungunsten  der  Frau  ent- 
scheidet und  in  schadenfrohem  Übermut  demselben  Torrellas,  der  schlimm 
von  den  Frauen  gesprochen  hatte,  einen  entsetzlichen  Tod  durch  schöne 
Hände  andichtet;  von  Juan  de  Segura  den  Proceso  de  cartaß  de 
amores  und  die  Queja  de  Lucindaro  contra  Amor  y  su  dama,  zwei 
späte  Nachzügler  der  Gattung.  Mehr  kulturgeschichtliches  als  senti- 
mentales Interesse  erweckt  die  Cuestiön  de  Amor,  ein  Schriftchen  von 
etwas  verschiedener  Art,  das  uns  nach  Neapel  führt  und  um  die  Frage, 
wer  am  meisten  leide:  der  die  Geliebte  verliert  oder  der  hoffnungslos 
liebt,  eine  eingebende  Schilderung  der  Feste  und  kriegerischen  Rüstungen 
gruppiert,  die  der  Schlacht  bei  Bavenna  (1512)  vorausgingen;  die  Ge- 
sellschaft, in  die  uns  der  Erzähler  einführt,  ist  jener  eigenartige  spanisch- 
italienische Hofhalt,  mit  dem  sich  die  verwitweten,  entthronten  oder 
verstossenen  Königinnen  und  Herzoginnen,  Witwe,  Töchter  und  Enkelin- 
nen Fernandos  I  von  Sicilien  umgaben,  und  den  zahlreiche  Bande  der 
Verwandtschaft  und  Denkungsweise  an  das  Haus  der  Borja  knüpfte. 

Als  der  wahre  Ausdruck  der  Sinnesart  der  spanischen  Nation  können 
unter  den  Schöpfungen  der  Phantasie  im  15.  Jahrhundert  die  Bitter- 
bücher gelten.    Allerdings  haben  diese  ihren  heimischen  Boden  nicht 


246  Ph.  Attg.  Becker 

in  Spanien,  doch  schlugen  sie  hier  sehr  bald  tiefe  Wurzeln.  Ihr  Ur- 
sprungsland ist  Frankreich:  von  dessen  höfischer  Dichtung  sind  sie  die 
Ausläufer.  Als  erster  kam,  um  1350,  der  Tristan  herüber,  jene 
glühende  Verherrlichung  der  unwiderstehlichen,  alle  Schranken  der  Pflicht 
und  Treue  durchbrechenden  Liebe.  Fast  gleichzeitig  erschien  der  Roman 
von  Troja  mit  seiner  feinen  Analyse  weiblicher  Wandelbarkeit.  Nicht 
lange,  so  las  man  auch  Lancelot  vom  See,  die  Graalsuche, 
Merlin  und  Joseph  von  Arimathia,  diese  wechselreichen,  span- 
nenden und  von  Wunderbarem  gesättigten  Musterproben  fahrenden  Ritter- 
tums. Wie  in  keinem  anderen  Lande  verkörperten  sie  das  Ideal  der 
Zeit  und  ersetzten  daher  ohne  Mühe  die  nationalen  Erinnerungen  in  der 
Gunst  der  höfischen  Leser.  Das  beginnende  15.  Jahrhundert  fügte  noch 
einiges  hinzu,  die  Geschichte  von  Tablante  und  Jofre,  den  ein- 
zigen provenzalischen  Arturroman,  den  es  gibt,  die  jüngere  katalanische 
Erfindung  von  Paris  und  Yiana  und  den  nur  spanisch  erhaltenen 
Enrique  fi  de  Oliva,  der  erzählt,  wie  Pipins  Schwester  Oliva  infolge  der 
Ränke  des  Grafen  Tomillas,  des  Vaters  des  Erzverräters  Ganelon,  Ver- 
stössen wird  und  wie  später  ihr  Sohn  Enrique  Jerusalem  erobert,  die 
Erbin  von  Konstantinopel  heiratet  und  seine  Mutter  rächt,  —  und  ande- 
res der  Art.  Mit  der  Verbreitung  des  Buchdrucks  und  der  Aussicht  auf 
grössere  Leserkreise  gewann  dann  dieser  Zweig  der  Übersetzungslitteratur 
einen  mächtigen  Aufschwung;  in  buntem  Gewirr  übernahm  man,  was 
das  Nachbarland  an  neuen  Drucken  lieferte,  Stücke  der  Earlsage  wie 
die  Geschichte  von  Fierabras  dem  Riesen,  alte  Abenteuerromane  und 
Novellenbücher  wie  die  sieben  Weisen  von  Rom,  Partonopeus 
von  Blois,  Pontus  und  Sidonia,  Melusina,  Robert  der 
Teufel,  jüngere  Volkserzählungen  wie  die  schöne  Maguelona;  den 
Katalanen  wird  der  vielgelesene  Tirant  lo  blanch  entlehnt,  und  um 
die  Wende  des  Jahrhunderts  beginnt  auch  Italien  seine  reichhaltige 
Volkslitteratur  nach  Spanien  abzusetzen.  Bereits  hatte  aber  der  spani- 
sche Erfindungsgeist  seine  eigenen  Wege  gefunden. 

Seit  geraumer  Zeit  besass  nämlich  Spanien  im  Amadis  de  Gaula 
seinen  eigenen,  selbsterdachten  Erzählungsstoff.  Schon  Ayala  kennt  ihn 
und  wirft  sich  vor,  seine  Zeit  damit  vergeudet  zu  haben;  öfter  spielen 
die  älteren  Hofdichter  auf  ihn  an.  Erst  später  geschieht  einer  portu- 
giesischen Fassung  Erwähnung  als  Werk  Vasco  Lobeiras,  von  dem 
wir  wissen,  dass  er  1385  am  Vorabend  von  Aljubarrota  zum  Ritter  ge- 
schlagen wurde.  Beide  Fassungen  sind  verloren,  die  ältere  kastilische 
wie  die  portugiesische ;  zum  Druck  kam  der  Roman  in  der  Bearbeitung 


Die  spanische  Litteratar  von  ihren  Anfängen  bis  zu  den  katholischen  Königen    247 

des  Ritters  Garci-Ordoiiez  de  Montalvo,  Gemeinderat  von  Medioa 
del  Campo,  der  um  1492  die  drei  schon  vorhandenen  Bücher  stilistisch 
überbesserte,  den  Schluss  zu  einem  vierten  erweiterte  und  als  fünftes 
die  Tbaten  Esplandians  hinzufügte.  In  dieser  Gestalt  gelangte  der 
Atnadls  zu  seiner  weltgeschichtlichen  Bedeutung,  aber  nicht  durch 
Montalvos  Verdienst,  sondern  dank  dem  Talent  jenes  Unbekannten,  der 
die  Erzählung  ersann. 

Dieser  Boman,  der  zum  Urvater  aller  modernen  Bomane  werden 
sollte,  schliesst  unmittelbar  an  die  mittelalterliche  Ritterdichtung  an. 
Der  Schauplatz  ist  noch  der  klassische  Boden  des  fahrenden  Rittertums : 
Bretagne,  Wales,  Schottland  und  England.  Sein  Verfasser  hat  sich  aber 
von  dem  für  neue  Erfindung  zu  eng  gewordenen  Rahmen  des  Arturhofes 
und  der  Tafelrunde  frei  gemacht,  indem  er  die  Handlung  um  Jahrhunderte 
zurückverlegte ;  sie  spielt  kurz  nach  Christi  Geburt  auf  der  alten  sagen- 
freundlichen Erde,  aber  in  neuer  Umgebung,  unter  ganz  verschiedenen 
Voraussetzungen.  —  Frucht  geheimer  Liebe  und  bei  der  Geburt  dem 
Meere  anvertraut,  wird  Amadis  in  Schottland  als  Doncel  del  mar 
erzogen.  Am  Hofe  erregt  seine  Anmut  und  sein  Anstand  allgemein 
Gefallen,  und  er  wird  der  kleinen  englischen  Königstochter  Oriana 
zum  Pagen  gegeben.  Ihre  freundliche  Aufnahme  und  ausserordentliche 
Schönheit  entzünden  im  Herzen  des  zwölfjährigen  Knaben  eine  Liebe, 
die  nichts  mehr  im  Leben  verdrängen  wird.  Auch  Oriana  ist  ihm  hold 
und  erwirkt  ihm  den  Ritterschlag  von  König  Perion  von  Gaula,  der 
um  Hilfe  gekommen  ist.  Amadis  eilt  nach  Gaula;  sein  Schwert  ent- 
scheidet den  Sieg,  und  im  geretteten  Königspaare  findet  der  Jüngling 
seine  Eltern.  Die  jugendliche  Thatenlust  lässt  ihn  aber  nicht  ruhen; 
sie  führt  ihn  in  die  Nähe  Orianas,  an  den  Hof  Lisuartes  von  Eng- 
land. Doch  auch  hier  bleibt  er  nicht  müssig:  kaum  hat  er  mit  seinem 
wiedergefundenen  Bruder  Galaor  den  König  und  Oriana  aus  tötlicher 
Gefahr  befreit,  so  sucht  er  mit  ihrem  Urlaub  neue  Abenteuer,  gewinnt 
der  enterbten  Briolanja  ihr  Reich  zurück,  besteht  die  Proben  der  In- 
sola  firme  im  Garten  der  treuen  Liebhaber;  aber  der  eifersüchtige 
Verdacht  Orianas,  die  ihm  ihre  Nähe  verbietet,  stürzt  ihn  in  Verzweif- 
lung. Schwert  und  Rüstung  wegwerfend,  lebt  er  büssend  in  der  Felsen- 
klause der  Peüa  pobre;  doch  bald  hört  er,  dass  Oriana  ihr  Unrecht 
einsieht,  dass  neue  Gefahren  drohen;  unter  dem  Namen  Beltenebrös, 
den  ihm  der  alte  Klausner  beigelegt  hat,  übertrifft  er  seine  früheren 
Thaten,  verlebt  mit  Oriana  auf  ihrem  Landschlösschen  Miraflores  Tage 
der  Wonne  und  ungetrübten  Glückes,  wendet  abermals  die  Gefahr  von 


248  P^-  Aug.  Becker 

Lisuartes  Haupt,  wird  aber  jetzt  durch  böse  Neider  im  Unfrieden  vom 
Könige  geschieden.  Während  Oriana  in  aller  Heimlichkeit  einem  Knaben, 
Esplandian,  das  Leben  gibt,  den  ein  Löwe  raubt  und  ein  frommer  Ein- 
siedel  aufnimmt  und  erzieht:  besucht  Amadls  als  Caballero  de  la 
verde  espada  Deutschland,  Böhmen,  Bumänien  und  Konstantinopel, 
vollendet  das  höchste,  das  ein  Einzelner  leisten  kann,  und  kehrt  nach 
Jahren  zurück,  um  zu  erfahren,  dass  Lisuarte  seine  Tochter  Oriana,  die 
Erbin  des  Reichs,  gegen  alles  Becht  mit  dem  Kaiser  von  Rom  ver- 
mählen will.  Er  überfällt  die  Boten,  entreisst  ihnen  die  Geliebte  und 
steht  nun  in  offener  Fehde  mit  Lisuarte  und  seinen  römischen  Verbün- 
deten; aber  er  hat  sich  so  viel  Freunde  in  Nah  und  Fern  erworben, 
dass  er  die  zweitägige  Feldschlacht  siegreich  besteht.  Schon  hat  der 
Einsiedel  Nasciano,  Esplandians  Erzieher,  begonnen  die  Gegner  zu  ver- 
söhnen, als  über  Lisuarte  ein  alter  Todfeind  bricht,  der  ihn  zu  ver- 
nichten hofft.  In  der  äussersten  Bedrängnis  erscheint  ihm  Amadis  noch 
einmal  als  der  Better,  und  bald  schwindet  auch  der  letzte  Groll.  Auf 
der  In  sola  firme  ist  allgemeine  Hochzeitsfreude,  und  hier  besteht 
jetzt  auch  Oriana  die  Schönheitsprobe  der  Verbotenen  Kammer*,  wo- 
mit aller  Zauberspuk  sein  Ende  findet. 

So  ungefähr  verläuft  der  Herzensroman,  der  den  Kern  des  Amadis 
bildet,  die  Geschichte  einer  Liebe  so  heimlich  und  verborgen,  dass  bis 
zuletzt  kein  Mensch  etwas  von  ihr  ahnt,  und  so  standhaft  und  treu,  dass 
kein  anderer  Gedanke  den  Sinn  des  Helden  erfüllen,  keine  fremde  Ver- 
suchung ihn  bethören  kann.  Neu  ist  eben  die  Schilderung  dieser  keusch 
sehnenden  Liebe ;  in  einigen  Scenen  erhebt  sie  sich  zu  weicher,  packen- 
der Poesie  und  gewinnt  noch  an  Belief  durch  den  Gegensatz  des  stürmi- 
schen Jugenddrangs,  mit  dem  Galaor  die  Gunst  jeder  Gelegenheit  im 
Fluge  erhascht.  Doch  fast  noch  mächtiger  als  die  Stimme  der  Liebe 
und  der  Sinne  spricht  im  Herzen  der  jungen  Bitter  die  Sucht  nach  Ehre, 
der  Trieb  nach  hohen  Thaten,  der  sie  von  einer  Gefahr  zur  anderen 
treibt,  wo  nur  ein  Bedrängter  Hilfe  verlangt,  wo  ein  Unrecht  der  Sühne 
harrt,  oder  wo  Trotz  und  Kampfgier  den  Fehdehandschuh  bieten.  Und 
oft  mag  es  scheinen,  als  verfolge  die  Erzählung  keinen  anderen  Zweck, 
als  den  Leser  von  Fährlichkeit  zu  Fährlichkeit,  von  Erstaunen  zu  Er- 
staunen zu  hetzen:  so  unermüdlich  ist  der  Verfasser  im  Ersinnen  stets 
neuer  Kombinationen.  Mit  seiner  kurzweiligen  Darstellungsweise  führt  er 
uns  in  angenehmer  Spannung  durch  den  rastlosen  Wechsel  der  Gescheh- 
nisse, reiht  Figur  an  Figur,  und  lässt  uns  keine  Zeit,  uns  Gedanken  zu 
machen  über  diese  seltsame  Welt,  wo  Landstrassen  und  Waldpfade  von 


Die  spanische  Litteratur  von  ihren  Anfängen  bis  zu  den  katholischen  Königen     249 

hilfesuchende» ,  botscbaftbriDgenden ,  verfolgten ,  leidtragenden  und 
Ränke  ausheckenden  Frauen  und  Fräulein  wimmeln,  wo  jeder  Thal- 
grund, jeder  Schlosshof  lauernde  Ritter  birgt,  wo  Menschenleben  nichts 
gelten,  wo  Niemand  sich  um  die  Leichen  kümmert,  die  der  Zweikampf 
auf  Wege  und  Anger  hinstreckt;  wo  das  Becht,  die  öffentliche  Sicher- 
heit, ja  das  königliche  Ansehen  nur  auf  dem  Schwert  des  fahrenden 
Ritters  ruhn,  der  jeder  Gefahr  die  Stirn  bietet,  aber  auch  stets  durch 
das  Mass  der  Bede  dem  stolzen  Prahler  gegenüber  sich  den  Vorteil  der 
guten  Sache  sichert.  Vielfach  spielen  Zauber,  bedeutungsvolle  Voraus- 
sagen, geheimnisvolle  Hilfe  und  Kettung  in  die  Handlung  hinein,  doch 
geben  sie  den  schliesslichen  Ausschlag  nicht,  sondern  allein  das  gute 
Schwert  und  das  gute  Becht  des  einen  auserlesenen  Bitters. 

Von  den  glänzenden  Erzählergaben  seines  ungenannten  Vorgängers 
hat  Montalvo  wenig  geerbt;  gleich  fremd  ist  ihm  der  impulsive 
Reckengeist  wie  die  warme  Sinnlichkeit  des  ersten  AmadiSy  dessen  Schluss 
er  verwässert  hat.  In  den  Sergas  de  Esplandian  verlegt  er  den  Schau- 
platz nach  dem  Orient  und  sucht  das  Vollkommenheitsideal  seines  Vor- 
bilds zu  übertrumpfen.  Die  Feder  führt  er  nicht  schlecht;  aber  zum 
Romandichter  fehlt  ihm  die  anschauliche  Eingebung  und  der  Glaube  an 
die  eigenen  Schöpfungen.  Ziel-  und  zusammenhangslos  schleppt  sich 
die  Handlung  dem  längst  durchblickten  Abschluss  zu;  selbst  Carmela, 
die  in  still  verzichtender  Liebe  dienend  dem  Helden  folgt,  ist  ein  guter 
Einfall,  mehr  nicht.  Unverdient  geniesst  Montalvo  den  Buhm  eines 
anderen. 

Das  Drama. 

Die  Wende  des  15.  Jahrhunderts  sollte  endlich  auch  die  spanische 
Bühne  neu  erstehen  sehen.  Von  dem  aus  der  Liturgie  hervorgegangenen 
religiösen  Schauspiel  des  Mittelalters  war  Spanien  seiner  Zeit  nicht  un- 
berührt geblieben;  es  war  aber  eine  ephemere  Erscheinung.  Seitdem 
war  es  wieder  still  geworden ;  von  dramatischen  Aufführungen  verlautet 
auf  dem  spanischen  Sprachgebiet  die  ganze  Zeit  nichts  mehr.  Wohl 
fahren  die  Kirchen  fort,  erbauliche  Darstellungen  aus  der  Erlösungs- 
geschichte als  blosse  Geberdenspiele  oder  lebende  Bilder  zu  pflegen, 
und  nicht  minder  liebte  man  es,  Krönungstage,  Einzüge  von  Fürstlich- 
keiten und  andere  festliche  Anlässe  weltlicher  Art  durch  öffentliche 
Schaustellungen  und  vermummte  Umzüge  zu  feiern.  Hier  konnte  und 
sollte  die  Entwicklung  einsetzen:  ein  Drama  gab  es  nicht,  es  lag  aber 
jederzeit  nahe,  diese  stummen  Bilder  durch  einen  Spruch,  einen  Dialog, 
einen  Schein  von  Handlung  zu  beseelen.    In  der  That  schrieb  Gomez 


250  ^h.  Aug.  Becker 

Manrique  für  die  Nonnen  des  Klosters  Calabazanos,  dem  seine  Schwe« 
ster  vorstand,  Verse  für  eine  Weihnachtsvorstellung  ganz  primitiver  Art, 
mit  kaum  einem  Ansatz  von  Handlung:  Ein  Engel  zerstreut  Josephs 
Zweifel  über  die  Herkunft  des  von  Maria  erwarteten  Kindes,  dann  ver- 
kündet die  Engelschaar  die  Geburt  des  Heilands,  Hirten  und  Engel  eilen 
das  Kindlein  anzubeten,  mit  ihnen  huldigen  ihm  auch  die  Martern,  die 
seiner  harren,  und  mit  einem  Schlummerlied  tröstet  der  Chor  den  weinen- 
den Säugling.  Und  noch  einfacher  sind  die  Sprüche  für  einen  ver- 
mummten Neujahrsglückwunsch,  die  sich  gleichfalls  unter  Manriques 
Werken  finden. 

Eine  lebens-  und  entwicklungsfähige  Gestaltung  verlieh  diesen  rudi- 
mentären Festvorstellungen  Juan  del  Encina  (1469—1534),  eine 
der  bezeichnendsten  litterarischen  Gestalten  dieser  Zeit,  gleich  gewandt 
und  produktiv  als  Musiker  wie  als  Dichter,  ein  geweckter  Geist,  dem 
die  anmutige  Gefälligkeit  der  Verse,  die  sangliche  Schmiegsamkeit  der 
Lieder,  die  Treffsicherheit  des  Dialogs,  ein  harmloser  Humor  und  ein 
echt  volksmässiger  Ton  Naturgabe  waren.  Er  war  bei  Salamanca  zu 
Hause,  studierte  hier,  fand  dann  sein  Fortkommen  beim  Herzog  von 
Alba,  wirkte  später  in  der  päpstlichen  Kapelle  und  kehrte  nach  einer 
Beise  nach  Jerusalem  in  seine  Heimat  zurück,  um  seine  Pfründen  in 
Ruhe  zu  geniessen.  Seine  ersten  dramatischen  Eklogen,  die  in  der  Haus- 
kapelle von  Alba  de  Tormes  aufgeführt  wurden,  haben  vom  Drama  nur 
die  lebhafte,  einer  Situation  angepasste  Wechselrede,  noch  nicht  die  ge- 
schlossene Handlung :  Gespräche  sinds  von  Hirten  vor  der  Anbetung  der 
Krippe,  eine  Unterhaltung  zweier  Einsiedler  mit  Veronica  über  den  Tod 
des  Herrn,  oder  die  Begegnung  Josephs,  Magdalenas  und  der  Jünger 
von  Emaus  am  offenen  Grabe;  desgleichen  für  Faschings  Ende  fröh- 
liche Gelage  schmausender  Hirten,  eine  Prügelscene  zwischen  Studenten 
und  Bauern,  oder  die  Werbung  eines  Knappen  um  eine  Dorfschöne  und 
umgekehrt  die  Hirten,  die  einmal  das  Herrenleben  kosten  möchten. 
Encina  spielte  selber  mit  und  führt  sich  gern  selber  ein,  liebt  auch 
sonst  zeitgemässe  Anspielungen,  die  nicht  immer  zur  heiligen  Geschichte 
reimen,  und  versteht  es  überhaupt,  die  geschichtliche  Bedeutung  und 
die  moderne  Beziehung  des  Spiels  in  sinnige  Verbindung  zu  bringen. 
In  Bom,  fern  vom  heimischen  Boden,  lösten  sich  seine  dramatischen 
Versuche  noch  mehr  von  ihrer  ursprünglichen  festlichen  Bestimmung; 
die  vornehm  korrupte  Gesellschaft,  die  sich  in  den  Gemächern  eines 
Kardinals  zusammenfinden  mochte,  suchte  er  durch  pathetische  Situa- 
tionen im  Geschmack  der  sentimentalen  Novelle  oder  durch  derberen 


Die  spaDische  Litteratur  von  ihren  Anfängen  bis  zu  den  katholischen  Königen     251 

Bealismus  zu  unterhalten,  und  sein  geschmeidiges  Talent  erfasste,  wie 
früher  den  idyllischen,  so  jetzt  den  leidenschaftlicheren  Ausdruck  mit 
sicherer  Meisterschaft ;  einen  Fortschritt  der  scenischen  Fügung  bedeuten 
aber  auch  diese  Stücke  kaum. 

Obwohl  Encinas  Versuche  nicht  aus  dem  engen  Rahmen  der  Pa- 
läste Yor  die  grosse  Öffentlichkeit  gelangten,  verbreiteten  sie  sich  rasch 
durch  den  Druck  und  regten  zur  Nachahmung  an.  Zu  jedem  grösseren 
Hofhalt  gehörten  ständige  Musikkapellen,  und  diese  wurden  die  Heim- 
stätte der  neuen  Kunst.  Überall  entpuppten  sich  dramatische  Talente, 
ein  Francisco  de  Madrid,  ein  Martin  deHerrera,  ein  Lucas 
Fernändez  aus  Salamanca,  der  besonders  die  derb  uaive  Komik  des 
Hirtenlebens  hervorkehrt,  und  Andere,  und  die  meisten  wendeten  sich 
auch  an  den  Verleger.  Nach  Portugal  verpflanzte  der  geniale  Gil 
Vicente  die  junge  dramatische  Kunst:  1502,  bei  der  Geburt  des  Thron- 
erben, trat  er  als  Hirte  verkleidet  vor  das  Wochenbett  der  Königin, 
einer  spanischen  Infantin,  und  trug  ihr  seine  Huldigung  in  einem  Mo- 
nolog vor;  der  Versuch  gefiel,  man  forderte  mehr,  und  so  fuhr  Gil 
Vicente  34  Jahre  lang  fort,  den  Hof  mit  Festspielen  zu  unterhalten, 
teils  in  portugiesischer,  teils  wie  beim  ersten  Anlass  in  kastilischer 
Sprache.  Lyrischer  Schwung  und  launige  Phantasie  waren  ihm  eigen 
und  verleihen  seinen  sorglos  naturwüchsigen  Schöpfungen  eine  besondere 
Anmut.  Vervollkommnet  hat  er  den  unfertigen  Bau  der  Bühnenspiele 
eigentlich  nicht,  aber  er  hat  ihren  Bereich  nicht  unbedeutend  erweitert : 
bald  lässt  er  das  Hirtenspiel  ganz  in  Symbolik  aufgehen,  bald  führt  er 
moralische  Allegorien  ein,  wie  sie  Frankreich  liebte  und  pflegte,  bald 
greift  er  nach  neuen  Stoffen  aus  der  biblischen  und  Heiligengeschichte, 
der  Mythologie  und  der  Rittererzählung;  vor  allem  aber  bewährt  er 
seine  komische  Kraft  an  einer  bunten  Reihe  lebensvoller  Figuren,  dem 
Modepfäfflein,  dem  Hausgeistlichen  des  bettelarmen  Edelmanns,  dem 
epikuräischen  Einsiedel,  dem  grotesken  Richter,  dem  schmachtenden  Galan, 
dem  verführten  und  betrogenen  Mädchen,  der  verliebten  Alten,  dem 
jüdischen  Heiratsvermittler,  allerlei  Zauberer-,  Kuppler-,  Zigeuner-  und 
Negervolk,  deren  Ton  und  Redeweise  er  in  allen  Färbungen  und  Ab- 
stufungen ausdrucksvoll  und  malerisch  wiedergibt. 

In  Rom  selbst  fand  Encina  einen  Schüler  und  in  mancher  Hinsicht 
überlegenen  Rivalen  an  Bartolome  de  Torres  Naharro,  einem 
Priester  aus  Estremadura,  der  durch  Loskauf  aus  maurischer  Gefangen- 
schaft nach  Rom  kam  und  hier  zwischen  1513  und  1517  im  Gefolge 
des  Kardinals  Carvajal  lebte  und  dichtete.    Für  das  Schauspiel  besass 


252  Ph.  Aug.  Becker 

Torres  Naharro  mehr  als  nur  ein  instinktives  Gefühl;  das  rege  gewor- 
dene Interesse  am  antiken  Lustspiel  und  die  verschiedenen  Versuche  der 
Italiener  eröffneten  ihm  das  Verständnis  für  die  Führung  der  Handlung 
und  der  Bühnenwirkung,  wie  sie  ihm  auch  die  Einführung  des  Prologs 
(meist  eines  Bauerntölpels),  die  Einteilung  der  Stücke  in  fünf  Akte 
oder  jomadas  und  die  Verwendung  der  Diener  und  Zofen  als  scherz- 
haftes Gegenspiel  ihrer  Herrschaften  nahe  legten.  Gross  ist  Nabarros 
Eepertorium  nicht,  aber  es  ist  selbständig,  sei  es,  dass  er  sich  an  rea- 
listischen Sittenschilderungen  in  losen  Scenen  (aus  dem  Soldaten-  und 
Werberleben  der  Zeit  oder  aus  dem  Treiben  des  Gesindes  und  Eüchen- 
personals  eines  römischen  Kardinals)  verweilt,  sei  es,  dass  er  eine  rich- 
tige Intrige  zu  flechten  versucht,  wie  die  vom  leichtsinnigen  Jüngling, 
der  eine  doppelte  Ehe  eingeht  und  nun  eine  der  beiden  Frauen  beseitigen 
müsste,  wenn  ihm  nicht  ein  jüngerer  Bruder  die  überzählige  abnähme, 
oder  die  phantasievolle  Liebeswerbung  der  Comedia  Himenea  mit  dem 
nächtlichen  Stelldichein  und  dem  über  die  Reinheit  der  Familienehre  so 
eifersüchtig  wachenden  Bruder,  welche  uns  zum  erstenmal  ein  Lieblings- 
motiv der  späteren  Comedia,  hier  noch  mit  versöhnlichem  Ausgang  vor- 
führt. Diese  Stücke,  die  die  spätere  Entfaltung  der  spanischen  Bühne 
vorahnen  lassen,  sicherten  Torres  Naharro  neben  Encina  einen  mass- 
gebenden Einfluss  auf  die  Schauspieldichtung  der  Folgezeit;  er  lenkte 
sie  zuerst  in  die  Fährten  des  Intrigenspiels. 

Schon  bei  diesen  ersten  zagen  Schritten  des  spanischen  Dramas 
macht  sich  aber  bereits  die  Wirkung  jenes  einzigartigen  Werks  fühlbar, 
das  an  Originalität  und  Bedeutung  alles  vorangehende  und  nächstfolgende 
gewaltig  überragt,  jener  Comedia  de  Calisto  y  Melibea  oder  der  Celestina^ 
wie  man  sie  prägnanter  benennt,  die  eigentlich  kein  Drama  ist  und  auch 
nie  zur  Aufführung  bestimmt  war,  die  aber,  was  dramatischen  Geist, 
Ergründen  und  Entwickeln  der  Charaktere,  naturwahre  Sittenschilderung 
und  Trefflichkeit  der  Sprache  anbelangt,  eine  Epoche  in  der  spanischen 
Litteratur  bezeichnet.  Wem  wir  diese  geniale  Schöpfung  verdanken, 
wissen  wir  nicht:  denn  der  Anteil  des  Baccalaureus  Fernando  de 
ßojas,  der  das  unvollendete  und  von  keinem  Verfasser  unterfertigte 
Werk  in  Salamanca  gefunden  und  während  der  Gerichtsferien  in  vier- 
zehn Tagen  zu  Ende  geführt  haben  will,  ist  unklarer  und  problematischer 
denn  je.  Den  Inhalt  bildet  ein  leichtfertiger  Liebeshandel  mit  tragi- 
schem Ausgang.  Seinem  verflogenen  Falken  in  einen  fremden  Garten 
folgend,  steht  Calisto  plötzlich  vor  Melibea  und  gesteht  ihr  unumwun- 
den den  überwältigenden  Eindruck,  den  ihre  Schönheit  auf  ihn  macht; 
sie  weist  den  Vermessenen  entrüstet  zurück.   Der  junge  Mann  lässt  sich 


Die  spanische  titteratur  von  ihren  Anfängen  bis  zu  den  katholischen  Königen     25ä 

nun  von  seinem  Diener  bereden,  die  Angelegenheit  einer  dienstfertigen 
Alten,  der  stadtbekannten  Gelegenheitsmacherin  Celestina  anzubefehlen; 
diese  findet  in  der  That  Mittel  und  Wege  in  das  Haus  Melibeas  zu 
kommen,  ihr  auf  Umwegen  die  Botschaft  zuzustellen  und  ihr  das 
Geheimnis  ihrer  Gegenliebe  abzulocken.  Auf  ein  Stelldichein  an  der 
Hausthüre  folgt  eine  nächtliche  Begegnung  im  Garten ;  beim  Fortgehen 
strauchelt  Calisto,  stürzt  von  der  Leiter  und  bleibt  mit  zerschmettertem 
Schädel  liegen ;  Melibea  wirft  sich  in  ihrer  Verzweiflung  vom  Turm  ihres 
Hauses  hinunter.  Selben  Tags  war  Celestina  mit  Calistos  Dienern  über 
die  Teilung  des  Zubringerlohns  in  Streit  geraten  und  von  ihnen  erstochen 
worden,  und  das  Gericht  hatte  die  Sühne  ungesäumt  vollzogen.  Dies 
die  Handlung,  deren  Mittelpunkt  und  Seele  unstreitig  die  Figur  der 
alten  Kupplerin  ist.  In  diesem  verschlagenen  und  verworfenen  Geschöpf, 
das  die  menschliche  Schwäche  bis  in  ihre  verborgensten  Winkel  durch- 
späht und  skrupellos  ausbeutet,  lebt  der  Geist  der  Erzpriester  von  Hita 
und  Talavera  mit  dämonischer  Kraft  wieder  auf.  Wie  ehrbar  weiss  doch 
die  Alte  überall  aus-  und  einzugehen,  wie  kann  sie  so  erfahren  und 
lebensklug  reden,  wie  überlegen  betreibt  sie  ihr  vielgestaltiges  Geschäft, 
und  wie  unheimlich  versteht  sie  jeden  Vorteil  zu  ergreifen,  jeder  Gefahr 
zu  steuern  und  einen  jeden  in  den  Bannkreis  ihrer  Schlechtigkeit  zu 
ziehen ;  wie  satanisch  umgarnt  sie  das  junge  Mädchen,  indem  sie  selbst 
ihre  besten  Regungen  zu  Hebeln  ihres  Falles  macht,  und  wie  muss  ihr 
auch  alles  zu  statten  kommen,  die  gutmütige  Arglosigkeit  der  Mutter 
so  gut  wie  ihre  strengeren  Mahnungen  zur  Vorsicht.  Mit  so  grellem 
Realismus  und  solcher  psychologischer  Tiefe  war  noch  kein  Charakter 
entwickelt,  noch  kein  Sittenbild  entworfen  worden.  Ein  Drama  ist  die 
Celestina  nicht.  Oft  stockt  nach  dem  glänzenden  Anfang  der  Gang  der 
Handlung  und  geht  episch  und  redselig  in  die  Breite.  Auch  der  Ausgang, 
jener  jähe  Umschlag  vom  höchsten  Jubel  der  Liebe  zum  tiefsten  Jammer, 
kann  nur  insofern  als  tragische  Schuldsühne  gelten,  als  die  beiden  jungen 
Leute,  in  denen  sich  ja  Jugend,  Schönheit,  Geburt  und  Reichtum  eben- 
massig  vereinigten,  um  ein  dauerndes  Glück  zu  sichern,  an  sich  erfahren 
mussten,  wie  nichtig  die  Seligkeit  ist,  die  nur  auf  der  berauschenden  Wonne 
des  irdischen  Besitzes  ruht.  —  Eine  unbekannte  Hand  hat  schon  in  den 
ältesten  Ausgaben  unsere  dialogisierte  Frosanovelle  um  einige  Scenen  er- 
weitert, welche  die  Nebenfiguren  schärfer  hervorheben  und  einige  glückliche 
Einfälle  enthalten,  aber  zugleich  das  Unverhüllte  nackter  hervortreten  las- 
sen. Den  Erfolg  des  Buches  hemmte  dies  nicht;  soviel  Ausgaben  hat  keines 
aus  dieser  Zeit  erlebt,  und  auch  das  Ausland  zollte  ihm  seineu  Beifall. 


NEUE  HEIDELB.  JAimBüECIIER  XII.  17 


Kaiser  Heinrich  TU.) 

Von 

Alexander  Cartellieri. 


Betrachtet  man  die  politische  Lage,  in  die  Heinrich  von  Lützel- 
barg  als  deutscher  König  und  römischer  Kaiser  eintrat,  so  ist  das  Über- 
gewicht Frankreichs  in  den  allgemeinen  Verhältnissen  der  Christenheit 
entscheidend.  Woher  stammt  dieses  Übergewicht?  Naturgemäss  nur 
daher,  dass  Frankreich  die  Stelle  eingenommen  hat,  die  das  sinkende 
deutsche  Reich  frei  zu  lassen  genötigt  wurde.  Uie  Kapetinger  haben 
die  Erbschaft  der  Staufer  übernommen.  Denken  wir  an  Philipp  II. 
August,  dem  in  seinen  jungen  Jahren  die  gewaltige  Persönlichkeit  Karls 
des  Grossen  vor  der  Seele  stand,  an  die  folgenreiche  Niederlage  des  deut- 
schen Beichsheeres  bei  Bouvines,  an  die  umfassende  Wirksamkeit  Karis 
von  Anjou.  Der  Untergang  der  letzten  Staufer  in  Apulien  schuf  Baum 
für  eine  andere  vorherrschende  Dynastie  und  die  innere  Zerrissenheit 
Deutschlands  schuf  Baum  für  ein  anderes  vorherrschendes  Land.  Deutsch- 
land, der  Zwietracht  der  Stande  ausgeliefert,  kam  als  Gesamtpersönlich- 
keit in  der  auswärtigen  Politik  nicht  mehr  in  Frage.  Noch  wagte  man 
nicht,  es  unmittelbar  anzugreifen,  aber  es  besass  selbst  keine  Angriffs- 
krafb  mehr  nach  aussen.  Es  gab  fortan  keine  deutsche  Beichspolitik, 
sondern  nur  Politik  der  einzelnen  Erzbischöfe,  Bischöfe  und  Fürsten. 

Die  leitende  Persönlichkeit  am  Ende  des  13.  und  Anfang  des  14.  Jahr- 
hunderts ist  zweifellos  König  Philipp  IV.  von  Frankreich,  genannt  der 
Schöne.    Kann  es  gelingen,  uns  diesen  Mann,  der  Jahre  lang  im  Vorder- 


1)  Für  den  folgenden  Versuch  habe  ich  die  neueren  Schriften  über  Heinrich  VIF. 
und  seine  Zeit  (Assmann -Viereck,  Felsberg,  Funck-Brentano,  GregoroTius,  Holtx- 
mann,  Hüffer,  Israel,  Kraussold,  Lindner,  Loserth,  Masslow,  Föhlmann,  Sommerfeldt) 
nach  Möglichkeit  benutzt  und  geprüft.  Einer  tieferen  politischen  Auffassung  haben 
vor  allem  Fonrnier,  Langlois  und  Wenck  vorgearbeitet. 


Kaiser  Heinrich  VlI.  255 

gründe  der  Weltbühne  stand,  lebendig  zu  vergegenwärtigen  ?  Es  scheint 
nicht  so.  Der  beste  französische  Kenner  der  Zeit  meint,  man  vermöge 
nicht  zn  sagen,  ob  er  ein  grosser  Mann  war  oder  ob  er  alles  nur  ge- 
schehen liess.  Die  Zeitgenossen  hoben  seine  auffallende  Schönheit  her- 
vor, bieten  uns  aber  keine  Gelegenheit,  in  sein  Inneres  zu  blicken.  Die 
Ansicht  des  Volkes  ging  dahin,  dass  er  von  Natur  schwach  und  lenk- 
sam war  und  daher  seinen  Vertrauten  allen  Spielraum  gewährte. 

Wie  dem  auch  sei,  gab  Philipp  nur  den  königlichen  Namen  für 
das  her,  was  damals  von  Paris  aus  geschah,  er  bleibt  doch  im  Mittel- 
punkte. Nie  wird  man  im  einzelnen  feststellen  können,  wie  weit  im 
einzelnen  der  Anteil  seiner  vertrauten  Eäte  reicht.  Es  waren  Männer 
geringer  Herkunft,  dem  Königtum  noch  mehr  ergeben  wie  der  Person 
des  Königs,  Männer,  deren  Bibel  das  römische  Recht,  deren  Ideal  der 
Absolutismus  war,  die  in  ihren  Massnahmen  kein  Mittel  scheuten  und 
an  die  Allgewalt  dreister  Lüge  und  geschickten  Betruges  glaubten. 

Die  Macht  des  französischen  Staates  hatte  sich  besonders  deutlich 
darin  gezeigt,  dass.  der  französische  König  es  hatte  wagen  dürfen,  das 
Papsttum  in  der  Person  Bonifaz'  VIII.  so  tief  zu  demütigen,  wie  nie 
zuvor  geschehen  war.  Neben  dem  Ereignis  von  Anagni  verblasst  die 
Gefangennahme  Paschalis  IL  in  St.  Peter  durch  Heinrich  V.  Vergeb- 
lich hatte  Bonifaz  einmal  die  weitgehenden  theoretischen  Ansprüche  der 
Franzosen  derb  abgewiesen:  sie  fühlten  sich  doch  als  das  herrschende 
Volk  der  Welt.  Der  gehorsame  Papst,  das  uneinige,  durch  jahrhunderte- 
lange Kämpfe  erschöpfte  deutsche  Reich  konnten  ihnen  nichts  anhaben. 
Wohin  liefen  die  feinen,  meist  vergoldeten  Fäden  der  französischen  Politik 
nicht?  Ein  Enkel  Karls  von  Anjou  regierte  in  Neapel,  ein  anderer 
gewann  Ungarn.  Die  Königin  von  Frankreich  vereinigte  Navarra  mit 
der  Krone.  Frankreich  und  England  waren  seit  Anfang  des  Jahres  1308 
durch  Heirat  verbunden  und  gönnten  sich  in  ihrem  endlosen  Streite  eine 
Pause.  Deutsche  Reichsfürsten  am  Rhein,  desgleichen  andere  in  Savoyen 
und  der  Dauphine  bezogen  regelmässige  Jahrgelder  vom  Könige.  Der 
gefährliche  Kampf  der  Krone  gegen  die  reichen  flandrischen  Städte  war 
durch  den  Frieden  von  Athis  vorläufig  beigelegt.  Kurz,  Philipp  nahm 
damals  durchaus  die  Stellung  eines  Oberherrn  des  Abendlandes  ein  und 
ihm  fehlte  nur  der  kaiserliche  Name,  um  das  allgemein  kund  zu  thun. 

Papst  war  Klemeus  V.,  der  als  Kardinal  nie  hervorgetreten  war,  ein 
Gaskogner,  der  seine  Erhebung  allein  dem  Willen  Frankreichs  verdankte. 
Ihm  gegenüber  besass  Philipp  zwei  starke  Druckmittel,  von  denen  er  ganz 
nach  Belieben  Gebrauch  machte:  den  Prozess  gegen  das  Andenken  des 

17* 


256  Alexander  Cartellieri 

Bonifaz  und  den  gegen  die  Templer.  Man  kann  kaum  sagen,  welcher 
für  das  Papsttum  gefahrlicher  war.  In  dem  einen  Falle  handelte  es 
sich  darum,  vor  der  Öffentlichkeit  die  Wahrheit  der  fürchterlichen  Be- 
schuldigungen darzuthun,  die  gegen  die  Sitten  und  die  Orthodoxie  des 
verstorbenen  Bonifaz  vorgebracht  worden  waren.  Die  andere  Sache  war 
die  der  Templer,  die  als  Grosskapitalisten  sich  glühenden  Hass  zugezogen 
hatten,  die  durch  ihre  Reichtümer  die  Begehrlichkeit  der  Leute  des  Königs 
erweckten,  die  endlich  durch  ihre  Qeheimnisthuerei  und  ihr  hochfahren- 
des Wesen  zu  vielem  bösen  Gerede  Anlass  boten.  Aber  nach  der  ganzen 
Anschauung  der  Zeit,  nach  den  Verdiensten,  die  sich  die  Templer  um 
das  heilige  Land  erworben  hatten,  durfte  kein  Statthalter  Christi  sich  das 
Gericht  über  den  Orden  aus  den  Händen  winden  lassen,  wollte  er  nicht 
seine  klägliche  Schwäche  aller  Welt  offenbar  werden  lassen. 

Betrachten  wir  die  Persönlichkeit  Elemens',  so  sehen  wir  freilich 
bald,  dass  er  nicht  der  Mann  war,  mit  den  Ministern  Philipps  des 
Schönen  fertig  zu  werden.  Immer  kränklich,  ängstlich  darauf  bedacht, 
dass  das  Klima  einer  Residenz  ihm  bekomme,  litt  er  dauernd  an  £nt- 
schlusslosigkeit,  aus  der  er  sich  nur  gelegentlich  aufraffte,  um  gleich 
wieder  zu  erschlaffen.  Seine,  wie  man  zugeben  wird,  schwere  und  beim 
Einfluss  Nogarets  im  Rate  Philipps  nicht  ungefährliche  Aufgabe  ging 
dahin,  sich  der  Übermacht  Frankreichs  zu  erwehren  und  durch  eine  Politik 
der  kleinen  Mittel,  besonders  Familienbündnisse,  ein  Gleichgewicht  der 
grossen  Staaten  herzustellen.  Fortwährend  regt  er  zu  Verhandlungen  an, 
lässt  sie  fallen,  wenn  die  Schwierigkeiten  zu  gross  werden,  greift  aber- 
mals darauf  zurück,  wenn  sich  eine  Möglichkeit  eröffnet.  Bonifaz  stürmte 
leidenschaftlich  auf  sein  Ziel  los :  Klemens  schleicht  sich  zaghaft  heran. 

England  hat  unter  Eduard  IL,  dem  herzlich  unbedeutenden  Sohne 
eines  hochbedeutenden  Vaters,  nachweislich  nicht  in  die  Geschicke  Hein- 
richs VII.  eingegriffen.  Wir  richten  deshalb  gleich  den  Blick  auf  ünter- 
italien,  auf  die  Landschaften,  die  seit  den  Tagen  der  normannischen 
Eroberung  den  allernachhaltigsten  Einfluss  auf  die  Gestaltung  der  all- 
gemeinen Politik  gehabt  haben.  Am  Anfang  des  14.  Jahrhunderts  dauerte 
noch  die  durch  die  sizilianische  Vesper  geschaffene  Lage  an.  Sizilien 
und  Neapel  blieben  getrennt  und  einander  feindlich,  jedes  Land  stets 
bereit,  das  andere  zu  bekämpfen.  In  Sizilien  regierte  Friedrich,  durch 
seine  Mutter  ein  Enkel  Manfreds ;  in  Neapel  seit  Mai  1309  Robert,  ein 
Enkel  Karls  von  Anjou,  ein  Fürst,  dessen  Geist  und  Gaben  von  den 
Mitlebenden  gepriesen  wurden. 


Kaiser  Heinrich  VII.  257 

Das  waren  die  leitenden  Persönlichkeiten,  in  dem  Augenblicke,  da 
Heinrich  Graf  von  Lützelburg  deutscher  König  wurde  und  als  solcher 
seinen  Blick  auf  das  höchste  weltliche  Amt  in  der  katholischen  Christen- 
heit richtete. 

Am  1.  Mai  1308  war  König  Albrecht  von  ruchloser  Mörderhand 
gefallen.  Philipp  der  Schöne  ergriff  sofort  die  günstige  Gelegenheit,  auch 
das  Kaisertum  seinem  Willen  zu  unterwerfen.  Seinem  Bruder  Karl  von 
Valois,  den  man  Karl  ohne  Land  nannte,  weil  es  ihm  bei  all  seinen 
weitschweifenden  Plänen  und  Kriegsthaten  in  der  Ferne  nicht  gelungen 
war,  ein  Beich  zu  gewinnen,  gedachte  er  die  deutsche  Krone  zuzuwen- 
den. Das  konnte  aber  nicht  auch  die  Absicht  Klemens'  sein.  Frank- 
reich besass,  wie  man  zu  sagen  pflegte,  von  altersher  das  Studium,  be- 
herrschte neuerdings  das  Sacerdotium.  Durfte  man  ihm  noch  das  Im- 
perium überlassen?  Dann  hätte  sich  niemand  mehr  der  französischen 
Übermacht  erwehren  können.  Klemens  unterstüzte  daher  die  Bewerbung 
Karls  nur  lau  und  das  französische  Gold  allein,  das  Philipp  spendete, 
genügte  auch  nicht,  die  deutschen  Kurfürsten  zu  gewinnen.  Balduin 
von  Lützelburg,  seit  kurzem  Erzbischof  von  Trier,  stellte  seinen  Bruder 
Heinrich  auf  und  es  gelang  ihm,  den  Mainzer  Peter  von  Aspelt  durch 
grosse  Versprechungen  zu  sich  herüberzuziehen.  Heinrich  erschien  vor 
allem  ganz  ungefährlich,  nicht,  wie  König  Albrecht,  imstande,  durch 
bedeutende  Hausmacht  die  Fürsten  unter  seinen  Willen  zu  zwingen. 
Seine  engen  Beziehungen  zu  Philipp  konnten  ihn  nach  Lage  der  Dinge 
nur  empfehlen.  So  wurde  er  am  27.  November  1308  gewählt  und  am 
6.  Januar  1309  gekrönt.  Seine  Erhebung  erscheint  als  Gegenwirkung 
gegen  eine  straffe  Herrschergewalt,  die  etwa  bei  einem  Habsburger  zu 
fürchten  gewesen  wäre. 

Die  Grafschaft  Lützelburg  gehörte  nicht  nur  in  Deutschland,  son- 
dern auch  in  den  lothringischen  Gebieten  zu  den  minder  bedeutenden. 
Niemals  hatten  sich  die  Grafen  in  allgemeinen  Angelegenheiten  hervor- 
gethan.    Der  neue  König  wurde  wirklich  aus  dem  Winkel  geholt. 

Er  war  damals  32  Jahre  alt,  8  Jahre  jünger  als  Philipp  IV.,  blond, 
schlank,  mittelgross,  bedächtig  in  der  Rede  und  wortkarg,  von  Herzen 
fromm  und  gottergeben,  ein  treuer  Gatte,  wohlgeübt  im  Waffenhand- 
werk, aber  friedliebend,  von  ritterlichen  Idealen  erfüllt,  in  welscher 
Sitte  herangewachsen,  neben  der  französischen  Sprache,  die  in  seiner 
Kanzlei  benuzt  wurde,  der  lateinischen  mächtig,  ein  Mann,  der  sich  in 
seiner  Heimat  durch  strenge  Kechtspflege  einen  Namen  gemacht  hatte. 
Im  Gericht  zeigte  sich  der  Graf  unerbittlich  gegen  Räuber  und  I^aud- 


258  Alexander  Cartellieri 

Streicher.  TJDangefocliten  zog  der  Kaufmann  mit  seinen  Warenballen 
durch  Lützelburgisches  Gebiet;  ohne  einer  Wache  zu  bedürfen,  konnte 
er  sein  Nachtlager  auch  im  Walde  oder  auf  der  Haide  aufschlagen. 
Von  Philipp  IV.  hatte  der  lützelburgische  Graf  den  Kitterschlag  er- 
halten, ihn  mehrfach  begleitet,  ihm  den  Lehenseid  geschworen.  Konnte 
Philipps  eigener  Bruder  die  Kaiserkrone  nicht  erlangen,  so  musste 
Philipp  sie  dem  Vasallen  am  ehesten  gönnen. 

Darum  hat  dieser  auch  gleich  nach  seiner  Erhebung,  früher  noch 
als  dem  Papste,  dem  mächtigen  Nachbar  vornehme  Gesandte  geschickt 
mit  ungemein  freundschaftlichen  Beteuerungen.  Philipp  erwiderte  sehr 
höflich,  aber  nicht  ohnen  einen  leisen  Zug  von  Ironie.  Der  Papst  wurde 
in  seinem  Verhältnis  zu  dem  neuen  deutschen  Könige  bestimmt  durch 
die  Furcht  vor  Philipp,  den  zu  reizen  er  vermeiden  musste.  Er  erkannte 
Heinrich,  wie  Philipp  ihm  später  vorwarf,  allzu  eilig  an.  Damals  reifte 
in  der  Umgebung  des  Papstes  der  Plan,  die  Kurie  von  der  so  überaus 
drückenden  Abhängigkeit  von  Frankreich  dadurch  zu  befreien,  dass  durch 
eine  Heirat  ein  gutes  Verhältniss  zwischen  Deutschland  und  Neapel  her- 
gestellt würde.  Ein  Kardinal  Gaetani,  der  treu  das  Andenken  Bonifaz' 
hoch  hielt,  knüpfte  damit  an  die  Bichtung  an,  die  die  päpstliche  Po- 
litik in  den  letzten  Jahren  des  Bonifaz  zu  Albrecht  hin  genommen  hatte. 
Robert  sollte  das  Opfer  bringen,  seinen  Absichten  auf  Ober-  und  Mittel- 
italien zu  entsagen.  War  er  doch  bestrebt,  daselbst  festen  Fuss  zu 
fassen  und  gewissermassen  eine  Landverbindung  zwischen  seiner  Graf- 
schaft Provence  und  Neapel  herzustellen.  Heinrich  sollte  ihn  durch 
das  Königreich  Arelat  entschädigen,  das  schon  oft,  weil  doch  dem  un- 
mittelbaren Bereiche  der  deutschen  Macht  entrückt,  als  Tauschgegenstand 
ins  Auge  gefasst  worden  war.  Robert  als  Graf  der  Provence  besass 
ja  schon  einen  Teil  des  Landes  als  Reichslehen. 

Es  gehörte  kein  grosser  Scharfblick  dazu,  um  in  dem  Vorschlage 
die  Spitze  gegen  Frankreich  zu  erkennen.  Robert  musste  sich  darauf 
gefasst  machen,  dass  er  durch  die  Verbindung  mit  Heinrich  seinen 
Vetter  an  der  Seine  vor  den  Kopf  stiess.  Die  französische  Politik  hatte 
seit  der  Erstarkung  des  Königtums  nie  versäumt,  auf  jede  Weise  ihren 
Einfluss  in  den  ihr  kulturell  nahe  stehenden  burgundischen  Landen  aus- 
zubreiten. Ein  Königreich  Arelat  unter  dem  Szepter  eines  Kapetingers 
Hess  Gefahren  befürchten,  wie  sie  sich  später  in  burgundischer  Zeit  ver- 
wirklicht haben. 

Für  das  beste  Mittel,  das  Zustandekommen  eines  ihm  unerwünschten 
deutsch-neapolitanischen  Bundes  zu   hindern,    hielt  Philipp,  auch  von 


Kaiser  Heinrich  VII.  259 

seiner  Seite  freundschaftliche  Verhandlungen  mit  dem  Lützelburger  an- 
zuknüpfen. Beiderseitige  Bevollmächtigte  setzten  einen  Vertragsentwurf 
auf  (1310  Juni  26,  Paris),  dem  nur  noch  die  Bestätigung  der  Herrscher 
fehlte.  Es  handelte  sich  darin  neben  der  Herstellung  eines  dauernden 
Friedens  zwischen  beiden  Reichen  und  der  Verhinderung  aller  Übergriffe 
für  die  Zukunft  hauptsächlich  um  die  Grafschaft  Burgund,  die  der 
letzte  Pfalzgraf  Otto  V.  (Ottolein)  1295  im  Vertrage  zu  Vincennes  unter 
schnöder  Missachtung  der  Rechte  des  Reiches  an  Philipp  verkauft  hatte. 
Ottos  Tochter  Johanna  heiratete  Philipps  gleichnamigen  Sohn,  den  spä- 
teren König  Philipp  V.  den  Langen,  und  Philipp  IV.  übernahm  sofort 
die  Verwaltung  als  Vertreter  seines  Sohnes.  Wenn  Heinrichs  Gesandte 
jetzt  die  Belehnung  des  jungen  Philipp  zugestanden,  so  lag  darin  um 
so  mehr  ein  wesentliches  Entgegenkommen,  als  dem  Grafen  Otto  in- 
zwischen ein  Sohn  geboren  worden  war,  dem  naturgemäss  die  Grafschaft 
von  rechtswegen  gehörte. 

Beide  Herrscher  rechneten  damals  mit  Veränderungen  in  den  Grenz- 
landen. Denn  sie  verpflichteten  sich,  wenn  einer  von  ihnen  irgend  einen 
Statthalter  ^-  Heinrich  nennt  auch  einen  König  —  an  den  Grenzen 
des  anderen  Reiches  einsetze,  so  werde  er  ihn  schwören  lassen,  sich  zu 
dem  anderen  freundlich  zu  stellen  oder  sich  mit  ihm  zu  verbinden. 
Hierin  mag  man  noch  einen  Niederschlag  des  Arelatischen  Planes  er- 
kennen. 

Zur  selben  Zeit  aber,  da  Philipp  freundschaftlich  mit  Heinrich  ver- 
handelte, ging  er  sehr  unfreundlich  gegen  ihn  vor.  Wie  er  schon  früher 
die  Wirren  in  Toul  zur  Ausbreitung  seines  Einflusses  in  den  lothringischen 
Landen  benutzt  hatte,  so  marschierten  Ende  Juni  1310  seine  Truppen 
unter  dem  Befehle  seines  Sohnes  Ludwig  gegen  den  Erzbischof  Peter 
von  Lyon,  der  es  gewagt  hatte,  die  französische  Garnison  zu  vertreiben, 
und  brachten  in  einem  kurzen  Feldzuge  die  Stadt  in  ihre  Gewalt.  Damit 
wurde  die  Vereinigung  der  Stadt  und  der  Westhälfte  des  Erzbistums 
Lyon  mit  der  Krone  Frankreich  zur  Thatsache. 

Heinrich  nahm  aber  auf  diese  Störungen  des  Bündnisplanes  zunächst 
keine  Rücksicht.  Ihn  drängte  es,  nach  Süden  zu  ziehen  und  die  Kaiser- 
krone zu  erwerben.  Später  mochte  sich  Gelegenheit  genug  finden,  an 
dem  Franzosen  Vergeltung  zu  üben.  Ende  Oktober  1310  überschritt  er 
den  Mont-Cenis. 

unendlich  oft  ist  über  die  Verhältnisse  geschrieben  worden,  die  er 
in  der  Lombardei  vorfand,  besonders  im  Anschluss  an  die  berühmten 


260  Alexander  Carteliieri 

Briefe  Dantes.^)  Heinrich  selbst  hat  einmal,  im  Mai  1313,  die  Zu- 
stände Oberitalieus  geschildert.  Während  der  kaiserlosen  Zeit  hätten 
alle  Gemeinden  und  Städte  die  kaiserlichen  Rechte  an  sich  gerissen  und 
seien  dann  infolge  andauernder  innerer  Kriege  einer  Gewaltherrschaft 
anheim  gefallen,  die  zahlreiche  Bürger  in  die  Verbannung  getrieben  und 
sie  ihrer  Güter  beraubt  hätte,  so  dass  diese  in  der  Fremde  betteln  und 
sterben  mussten.  Thatsächlich  zerfleischte  das  blühende  Land  sich  selbst 
im  nie  enden  wollenden  Bürgerkriege  der  Ghibellinen  und  der  Guelfen. 
Italien  war  unfähig,  sich  allein  staatliche  Ordnung  zu  geben.  Es  be- 
durfte, genau  so  wie  mehrfach  vorher  und  später,  einer  eisernen  Faust, 
die  zum  allgemeinen  Besten  den  Frieden  gewaltsam  herstellte.  Heinrich 
kam  in  der  redlichsten  Absicht,  wie  er  selbst  sagte:  „Non  pro  parte, 
sed  pro  toto".  Er  wollte  immer  gerecht  und  unbefangen  über  den  Par- 
teien stehen,  überall  den  Frieden  herstellen  und  die  Verbannten  zurück- 
führen. Aber  es  versteht  sich,  dass  die  gründliche  Durchführung  dieses 
hohen  Grundsatzes  nur  dann  möglich  gewesen  wäre,  wenn  Heinrich  über 
eine  gewaltige  Streitmacht  verfügt  hätte,  hinreichend,  um  jeden  Wider- 
stand zu  brechen.  Es  begleitete  ihn  aber  nur  eine  verhältnismässig  ge- 
ringe Truppenzahl,  und  die  Italiener,  die  sich  ihm  anschlössen,  verfolgten 
naturgemäss  ihre  selbstsüchtigen  Ziele.  Dass  der  König  vielfach  so  jubeln- 
den Empfang  fand,  bedeutet  nicht  viel.  Das  Volk  hatte  seit  zwei  Menschen- 
altern keinen  Kaiser  mehr  in  seiner  Mitte  gehabt.  Nur  hohe  Siebziger 
konnten  den  grossen  staufischen  Kaiser  noch  von  Angesicht  zu  Angesicht 
gesehen  haben.  Die  Erinnerung  an  die  furchtbaren  Kämpfe  zwischen 
Staat  und  Kirche,  die  die  letzten  Jahre  Friedrichs  II.  erfüllt  hatten,  war 
erloschen.  Gerade  weil  die  Menge  nicht  mehr  viel  von  dem  Kaisertum 
wusste,  verband  sie  überschwängliche  Vorstellungen  mit  dem  glänzenden 
Namen,  und  als  diese  keine  Erfüllung  finden  konnte,  fühlte  sie  sich 
später  um  so  bitterer  enttäuscht.  So  erklären  sich  die  anfängliche  Be- 
geisterung und  der  bald  darauf  erfolgende  Umschlag  der  Stimmung  un- 
gezwungen. Schon  im  Februar  1311  kam  es  in  Mailand  zu  einem  Auf- 
stande, der  blutig  niedergeschlagen  werden  musste,  und  erst  nach  vier- 
monatiger  Belagerung  konnte  Brescia  bezwungen  werden,  während  die 
günstige  Gelegenheit,  rasch  nach  Rom  vorzudringen,  verpasst  war. 

Inzwischen  hatte  die  Stellung  des  Papstes  zu  Heinrich  sich  ver- 
ändert.   Die  französisch  gesinnten  Kardinäle,  die  mit  der  Hinneigung 

1)  Die  Gründe,  die  F.  X.  Kraus  gegen  die  Echtheit  anführt,  sind  wenig  über- 
zeugend. Vorläufig  schien  es  aber  doch  empfehlenswert,  von  einer  Verwertung  der 
Briefe  in  diesem  Zusammenhange  abzusehen.  Auch  hier  dürfte  die  Zeit  der  Ver- 
unechtungen  bald  durch  die  Zeit  der  Bettungen  abgelöst  werden. 


Kaiser  Heinrich  VII.  261 

Elemens'  zu  dem  Lützelburger  gar  nicht  einverstanden  waren,  zeigten 
Philipps  Vertreter  Nogaret  den  Weg,  der  zum  französisch-kurialen  Ein- 
vernehmen führte.  Philipp  brauchte  nur  in  Sachen  des  Bonifazprozesses 
nachzugeben.  So  geschah  es.  Philipp  verzichtete  darauf,  seine  äussersten 
Forderungen  durchzusetzen,  die  darin  gipfelten,  dass  des  verstorbenen 
Papstes  Gebeine  ausgegraben  und  verbrannt  wurden.  Dafür  gab  Elemens 
Befehl,  dass  alle  Vcrdammüngsurteile,  die  Bonifaz  gegen  den  König  von 
Frankreich  geschleudert  hatte,  aus  den  Registern  der  Kurie  ausgetilgt 
werden  sollten.  Nogaret  wurde  mit  einer  ganz  nichtssagenden  Busse 
belegt.  Die  Bullen  vom  27.  April  1311  besiegeln  den  Triumph  des 
nationalen  französischen  Königtums  über  das  weltbeherrschende  Papsttum. 
Ein  zynischer  Verächter  des  geistlichen  Standes,  wie  es  vorher  kaum  einen 
gegeben  hat,  der  Mann  von  Anagni,  ging  straflos  aus.  Aber  damit  nicht 
genug.  Wenige  Tage  später  erfolgte  die  politische  Gegenleistung  des 
Papstes,  der  sich  verpflichtete,  Heinrich  nie  zu  erlauben,  das  Arelat  an 
jemand  anders  abzutreten  als  an  die  römische  Kirche  selbst.  Er  sah 
also  vorläufig  davon  ab,  das  angiovinisch-lützelburgische  Bündnis,  dessen 
Preis  ja  das  Arelat  war,  weiter  zu  fördern,  entsagte  anscheinend  den 
Bestrebungen  der  Kardinäle,  Frankreich  ebenbürtige  Gegner  zu  erwecken 
und  es  dadurch  im  Schach  zu  halten.  Um  so  grössere  Mühe  gab  er 
sich  jetzt,  die  Verhandlungen  zwischen  Deutschland  und  Frankreich  zum 
glücklichen  Ende  zu  führen.  Der  Grund  liegt  zu  Tage.  Brach  ofTene 
Feindschaft  zwischen  ihnen  aus,  so  musste  er,  schon  aus  Bücksicht  auf 
seine  persönliche  Sicherheit,  die  Partei  Frankreichs  ergreifen  und  sich 
als  Werkzeug  Philipps  gebrauchen  lassen.  Dann  aber  hatte  Heinrich, 
wenn  er  die  kaiserliche  Gewalt  in  Italien  aufrichtete,  allen  Anlass,  die 
päpstliche  Macht  zu  brechen  oder  womöglich  dem  französischen  Papst 
ebenso  einen  frei  gewählten  allgemeinen  Papst  gegenüberzustellen,  wie 
früher  zur  Zeit  Friedrichs  des  Botbarts  Frankreich  sich  gegen  den  deut- 
schen Papst  aufgelehnt  hatte.  Auf  Klemens*  Wunsch  besiegelte  Philipp 
den  Pariser  Entwurf  vom  Jahre  vorher.  Auch  Heinrich  that  es,  aus 
Ehrfurcht  gegen  den  Papst,  aber  unter  Wahrung  der  Rechte  des  Reiches. 
Auch  strich  er  in  seiner  Vollziehungsurkunde  die  Bestimmung,  wonach 
er  den  Prinzen  Philipp  mit  Burgund  belehnen  sollte.  Darob  geriet 
König  Philipp  in  grosse  Entrüstung  und  machte  dem  Papste  bittere 
Vorwürfe,  der  wieder  Heinrich  sein  Missfallen  nicht  verhehlte  (1311 
Dezember  18). 

In  solch  schwieriger  Lage  bemühte  sich  Klemens,  jenen  älteren  Plan 
der  deutsch-neapolitanischen  Verbindung  doch  wieder  auf  die  Tagesord- 


262  Alexander  Cartellieri 

nung  7.11  bringen.  Schon  wurden  Eoberts  Freunde  in  Florenz  von  leb- 
hafter Besorgnis  erfüllt.  Robert  hatte  allen  Grund,  Heinrichs  Misstrauen 
nicht  rege  werden  zu  lassen.  Denn  unmöglich  konnte  es  ihm  verborgen 
bleiben,  dass  König  Friedrich  von  Sizilien  mit  jenem  Anknüpfung  suchte. 
Welche  Gefahr  dem  Königtum  des  Anjou  drohte,  wenn  Friedrich  zu 
den  Waffen  griff,  war  klar.  Die  Tage  der  sizilianischen  Vesper  standen 
überall  noch  in  frischer  Erinnerung.  Für  Heinrich  aber  bedeutete,  so 
lange  er  nicht  Kaiser  war  und  in  Rom  erst  Einlass  heischte,  Roberts 
Freundschaft  mehr  als  die  Friedrichs.  Darum  war  er  bereit,  seine 
Kaiserkrönung  durch  die  Ehe  seiner  Tochter  mit  Roberts  Sohn  zu  er- 
kaufen. 

Wieder  aber  hatte  sich  die  Gruppierung  der  Mächte  verschoben, 
Robert  seinen  Anschluss  an  seinen  sozusagen  natürlichen  Bundesgenossen 
und  Verwandten,  den  französischen  König,  vollzogen.  Er  verlangte, 
Heinrich  solle  mit  Frankreich  gute  Freundschaft  halten  und  stellte  auch 
sonst  Bedingungen,  die  Heinrich  keinesfalls  annehmen  konnte. 

Das  gute  Schwert  des  Lützelburgers  musste  entscheiden.  Wild 
tobte  der  Kampf  in  den  Gassen  der  ewigen  Stadt  zwischen  den  Deutschen 
und  den  Truppen  Roberts,  die  unter  dem  Befehle  von  Roberts  Bruder 
Johann  standen.  Die  Kaiserkrönung  (29.  Juni  1312)  erreichte  Heinrich, 
freilich  nicht  in  Sankt-Feter,  sondern  im  Lateran,  freilich  nicht  durch 
den  Papst,  sondern  durch  dessen  Kardinäle.  So  bescheiden  Heinrichs 
Grafentum,  so  bescheiden  sein  Königtum  gewesen,  so  bescheiden  liess 
sich  auch  sein  Kaisertum  an.  Doch  genügte  ihm  die  keineswegs  glän- 
zende Errungenschaft,  um  seinen  späteren  Massregeln  den  Rechtstitel 
zu  geben,  den  er  bis  dahin  schmerzlich  vermisst  hatte,  weil  dieser  in 
den  Anschauungen  vieler  Zeitgenossen  an  den  kaiserlichen  Namen  ge- 
bunden war.  Die  theoretische,  geschichtlich  begründete  Abwendung  vom 
Kaisergedanken  wurde  damals  erst  versucht. 

Für  den  Kaiser  Heinrich  war  die  Zeit  des  Zuwartens,  des  vor- 
sichtigen Hinziehens  vorbei.  Er  ging  scharf  gegen  Robert  vor,  zunächst 
allerdings  nur  mit  Frozessakten,  die  dem  Feinde  im  eigenen  Lande 
Sehwierigkeiten  bereiten  sollen.  Das  Verlöbnis  der  Kaisertochter  mit 
dem  sizilischen  Thronfolger  wurde  festlich  begangen,  die  Einmischung 
des  Papstes  in  den  Streit  mit  Robert  unter  Hinweis  auf  juristische 
Gutachten  abgewiesen,  Robert  selbst  wegen  Hochverrat  vorgefordert, 
aller  Reichslehen  entkleidet  und  schliesslich  zum  Tode  verurteilt.  Im 
Verein  mit  Friedrich  von  Sizilien  gedachte  Heinrich  das  Königreich 
Neapel  zu  Lande  und  zu  Wasser  anzugreifen.    Ein  wohlunterrichteter 


Kaiser  Heinrich  VII.  263 

Chronist  wie  Villani  zweifelte  nicht  an  dem  Erfolge.  Robert  würde,  so 
berichtet  er,  gar  nicht  versucht  haben,  Widerstand  zu  leisten,  sondern 
nach  der  Provence  zu  Schiff  entflohen  sein. 

Mit  Klemens  zu  brechen,  lag  für  Heinrich  kein  Grund  vor.  Auch 
der  Papst,  der  mit  dem  Siege  des  Kaisers  rechnen  musste,  zögerte,  die 
äussersten  Schritte  zu  thun  und  wählte  die  mildeste  Form  in  seinen 
Kundgebungen.  Denn  nicht  er  und  Heinrich  sind  diesmal  die  geschwo- 
renen Gegner,  sondern  Heinrich  und  das  Haus  Eapet  in  seinen  beiden 
Vertretern,  nicht  Kaisertum  und  Papsttum,  sondern  Kaisertum  und 
französisches  Königtum.  Es  war  klar,  dass  Philipp  gegen  den  immer 
gefährlicher  werdenden  früheren  Schützling  eiferte.  Wie  hätte  Klemens 
solchem  Drängen  widerstehen  können  ?  Er  verbietet  jedermann,  ohne 
Unterschied  des  Banges,  bei  Strafe  des  Bannes,  einen  Angriff  auf  Neapel, 
vermeidet  aber  Heinrich  mit  Namen  zu  nennen.  Der  Kaiser  lässt  sich 
nicht  beirren :  der  erhoffte  Sieg  über  Apulien  soll  ihm  der  verheissungs- 
volle  Anfang  der  heiss  ersehnten  Wiederherstellung  der  alten  Kaiser- 
macht überhaupt  sein.  Von  Pisa  holt  er  zum  vernichtenden  Schlage 
gegen  Bobert  aus.  Friedrich  erfüllte  treulich  seine  Bundespflicht,  spendet 
namentlich  das  notwendige  Geld.  Da  wird  Heinrich,  so  plötzlich  wie 
mancher  seiner  Vorgänger  im  römisch-deutschen  Kaisertum,  am  24.  Au- 
gust 1313  vom  Tode  hin  weggerafft.  Das  grosse  Unternehmen  stockt, 
das  Heer  zerstreut  sich. 

Deutlicher  vielleicht  als  die  Trauer  der  Ghibellinen  um  den  Ver- 
storbenen zeigt  uns  die  masslose  Freude  der  Guelfen,  was  man  alles 
von  Heinrich  erwartete  oder  fürchtete.  Weil  man  an  einen  natürlichen 
Tod  des  Mannes,  der  das  Abendland  in  Atem  hielt,  nicht  glauben  wollte, 
neigte  man  dazu,  in  ihm  das  Opfer  einer  Vergiftung  zu  sehen. 

Merkwürdig  berührt  es,  wenn  nur  wenige  Monate  nach  Heinrichs 
Tode  der  Papst,  dem  jetzt  keine  Wahl  mehr  blieb,  die  Verurteilung 
Roberts  durch  den  Kaiser  für  ungiltig  erklärte  und  sie  unter  einem 
Hinweis  auf  seine  zweifellose  Überordnung  über  das  Kaisertum  aufhob. 
Dürfte  man  darauf  hin  von  einem  Siege  des  Papstes  über  das  Kaiser- 
tum in  der  Person  Heinrichs  sprechen?  Sicher  nicht.  Das  wäre  eine 
an  der  Oberfläche  haftende  Betrachtung.  Der  Papst  blieb,  was  er  vor 
Heinrich  gewesen,  der  Gefangene  des  Königs  von  Frankreich,  und  dieser 
wurde  durch  Heinrichs  Tod  von  einer  grossen  Gefahr  befreit. 

Die  Laufbahn,  die  Heinrich  zurückgelegt  hat,  ist  vornehmlich  im 
Verhältnis  zu  dem  hohen  Ziele,  das  er  sich  gesteckt  hatte,  so  kurz,  dass 
es  besonders  schwer  fällt,  sein  Wollen  und  Können  gerecht  einzuschätzen. 


264  Alexander  Cartellieri 

Aber  der  Versuch  mnss  gemacht  werden,  schon  einmal  deswegen,  weil 
es  den  Anschein  hat,  als  passe  der  Massstab,  mit  dem  bisher  gemessen 
worden  ist,  nicht  recht  zu  der  zu  messenden  Persönlichkeit. 

In  Heinrichs  Adern  rollte  karolingisches  Blut.*)  Auch  in  seiner 
Auffassung  des  Kaisertums  möchte  eine  Erinnerung  an  die  Karolinger 
zu  finden  sein,  die  bis  auf  ihre  entarteten  Sprossen  hinunter  den  Blick 
nicht  von  dem  magischen  Glänze  des  Imperiums  wenden  konnten.  In 
der  langen  Reihe  der  römischen  Kaiser  deutscher  Nation  nimmt  Hein- 
rich von  Lützelburg  dadurch  eine  besondere  Stellung  ein,  dass  er  den 
Kaisergedanken  in  voller  Reinheit,  ohne  Nebenabsichten  verkörperte,  dass 
er  ihn  ohne  Hausmacht  durchzusetzen  suchte,  nur  gestützt  auf  die  über- 
zeugende, werbende  Krnft  dieses  Gedankens,  eines  friedebringenden,  ord- 
nungschaffenden, den  Menschen  wohlgefälligen  Kaisertums  im  Sinne 
Dantes. 

Er  war  kein  Phantast,  er  jagte  nicht  Hirngespinnsten  nach.  Der 
Kaisergedanke  war  damals  noch  eine  sehr  reale  Macht.  Frankreich  schien 
auf  dem  besten  Wege,  die  Schwäche  Deutschlands  für  sich  auszunutzen, 
und  ein  römisches  Reich  französischer  Nation  lag  vielleicht  nicht  ausser- 
halb des  Bereiches  der  Möglichkeit.  Frankreich  war  dem  Ziele,  das 
schon  den  Vorfahren  Philipps  vorgeschwebt  hatte,  der  Weltherrschaft, 
nahe.  Es  ist  die  weltgeschichtliche  That  Heinrichs,  dass  er  Frankreich 
auf  dem  Wege  zum  Ziele  hemmte,  nicht  sehr  lange,  aber  doch  lange 
genug.  Denn  da  Philipp  der  Schöne  als  der  für  die  ganze  Generation 
massgebende  Mann  bald  nach  ihm  starb,  Philipps  Nachfolger  weniger 
bedeutend  waren  oder  auch  nur  minder  gut  beraten  wurden,  war  für 
Frankreich  die  günstige  Gelegenheit  vorbei  und  kehrte  so  bald  nicht 
wieder.  Wenige  Jahre  hernach  begann  der  Zwiespalt  der  beiden  West- 
mächte, der  zu  dem  sogenannten  hundertjährigen  Kriege  führte.  Frank- 
reich   kam   an  den  Rand  des  Verderbens,   schien  einmal  aus  der  Reihe 


1)  Kaiser  Heinrich  VII.  war  durch  seine  Mutter  Beatrix  ein  Enkel  jenes  Bal- 
duin  von  Avesnes  und  Beaumont,  der  die  grosse  Hennegauische  Chronik  zusammen- 
stellen Hess  und  vielleicht  auch  an  dem  genealogischen  Teil  mitarbeitete.  Am  An- 
fang des  abgekürzten  Textes,  den  Eervyn  de  Lettenhove  in  den  Istore  et  Chroniques 
de  Flandre  2  (1880),  555  abgedruckt  hat,  findet  sich  die  Heirat  der  Tochter  Karls 
des  Kahlen,  Judith,  mit  Balduin  I.  Eisenarm,  Grafen  von  Flandern.  Balduin  von 
Avesnes  war  ein  Urenkel  der  Margarete,  Gemahlin  des  Grafen  Balduin  V.  von 
Hennegau,  und  diese  wieder  eine  Urenkelin  Roberts  des  Friesen  (f  1093),  der  in 
geradem  Mannesstamm  auf  Balduin  Eisenarm  und  in  weiblicher  Linie  auf  Gisela, 
Tochter  Kaiser  Ludwigs  des  Frommen,  zurückgeht.  Ausserdem  stammte  Balduins  V. 
von  Hennegau  ürgrossvater  durch  Richilde  von  Hennegau  von  Kaiser  Lothar  L, 
Balduins  Y.  Urgrossmutter,  Ida  von  Löwen,  von  Karl  dem  Einfältigen  ab. 


Kaiser  Heinrich  VII.  265 

der  grossen  Mächte  ausgelöscht  zu  werden.  Es  vergingen  Jahrhunderte, 
ehe  ein  König  von  Frankreich  wieder  eine  Weltstellung  einnahm  gleich 
der  Philipps  des  Schönen. 

Es  wäre  nicht  richtig,  im  Hinblick  auf  Heinrichs  Unternehmen  da- 
von zu  sprechen,  die  Zeit  der  Weltmonarchie  sei  schon  durch  die  Zeit 
der  nationalen  Monarchien  abgelöst  gewesen,  Heinrich  habe  scheitern 
müssen,  weil  er  ünzeitgemässes  ins  Auge  fasste.  Der  nationale  Gesichts- 
punkt verdient  bei  der  Würdigung  des  Kaisertums  immer  die  sorgfäl- 
tigste Erwägung,  aber  hier  liegt  die  Sache  anders.  Zwar  war  der  eigent- 
liche Gegner  Heinrichs,  des  Kaisers,  Philipp,  der  König  von  Prankreich. 
Aber  nicht  Frankreich  erwehrte  sich  der  aus  der  Theorie  Kraft  schöp- 
fenden Übermacht  des  Kaisertums,  sondern  Heinrich  stützte  sich  auf 
den  Kaisergedanken,  um  die  thatsächliche  Übermacht  Frankreichs  ab- 
zulehnen. Auch  in  Italien  fand  Heinrich,  der  Bomane,  nicht  etwa  natio- 
nalen Widerstand,  sondern  die  Stimmung  für  und  gegen  ihn  entsprang 
Parteirücksichten.  Nicht  als  Fremder  oder  Nordländer,  sondern  als  Herr 
und  Gebieter  wurde  er  bekämpft,  und  seine  heftigsten  Feinde  in  Florenz 
riefen  Robert  von  Anjou  herbei,  uneingedenk  des  übelen  Rufes,  in  dem 
die  Franzosen  seit  der  Vesper  standen. 

Man  kann  kaum  sagen,  dass  Heinrich  VIT.  sich  ein  unerreichbares 
Ziel  gesteckt  hatte,  als  er  nach  Italien  aufbrach,  um  das  Kaisertum  zu 
erneuern.  Er  wurde,  wie  einst  Heinrich  VI,,  in  der  Blüte  der  Jahre, 
inmitten  verheissungsvoUer  Wirksamkeit,  voll  grosser  Entwürfe  und  festen 
SiegesbewusstseiAs,  durch  den  Tod  hinweggerafft.  Hier  wie  so  oft  bei 
dem  Werturteil  über  die  deutschen  Kaiser  muss  man  vermeiden,  nur  in 
den  Menschen  liegende  Gründe  für  das  Misslingen  des  Gewollten  zu 
suchen.  Daneben  hat  eine  andere  Auffassung  einzugreifen,  die  dem  Spiel 
des  Zufalls,  dem  Walten  des  Schicksals  den  gebührenden  Platz  einräumt, 
eine  Art  Katastrophentheorie.  Unvorhergesehene,  unerforschliche,  nicht 
auf  Thun  und  Lassen  der  Menschen  zurückzuführende  Ereignisse  haben 
die  deutschen  Kaiser,  auch  einen  Heinrich  VIL,  gehindert,  das  römische 
Kaisertum,  dessen  Recht  und  Anspruch  sie  unbefangen  für  sich  ver- 
langten, so  zu  erneuern,  wie  sie  es  beabsichtigten.  In  erster  Linie  sind 
unter  diesem  Gesichtspunkte  zu  nennen  der  vorzeitige  Tod  der  Herrscher, 
das  rasche  Aussterben  ganzer  Geschlechter,  wodurch  zu  den  überaus  ver- 
derblichen Minderjährigkeitsregierungen  und  Thronstreitigkeiten  Anlass 
gegeben  und  wilder  Parteihader  entfesselt  wurde.  Man  vergleiche  damit 
die  regelmässige  Erbfolge  im  Hause  der  Kapetinger.  Durch  elf  Gene- 
rationen, wenn  man  vom  Sohne  Hugo  Kapets  an  rechnet,  ging  die  Krone  vom 


266  Alexander  Cartellieri:  Kaiser  Heinrich  VIT. 

Vater  auf  den  Sohn  über,  während  in  Deutschland  das  sächsische,  frän- 
kische, schwäbische  Haus  —  überdies  hatte  Lothar  keinen  Sohn  —  aus- 
starb. In  der  Genealogie  liegt  ein  Schlüssel  zur  deutschen  Geschichte. 
Heinrich  konnte  gar  nicht  anders,  denn  nach  Süden  ziehen.  Nur  der 
Süden  vermochte  ihm  die  reichen  Geldmittel  zu  bieten,  deren  er  be- 
durfte, um  Truppen  zu  werben  und  den  Partikularismus  seiner  unbot- 
mässigen  Fürsten  zu  brechen.  Heinrich  musste  die  Kaiserkrone  ge- 
winnen, weil  sonst  Philipp  keinen  Augenblick  gezögert  hätte,  sich  selbst 
oder  einen  der  Seinen  damit  zu  schmücken.  Was  war  aber  für  die 
deutsche  Königsmacht  gefährlicher  als  ein  französisches  Kaisertum  ?  Dass 
Heinrich  vor  allem  deutsche  Politik  trieb,  war  schon  durch  die  Selbst- 
sucht seiner  kurfürstlichen  Wähler  gänzlich  ausgeschlossen.  Dass  aber 
jede  Stärkung  des  Kaisertums  der  Zentralisation  Deutschlands  zugute 
kam,  ist  sicher.  Der  Weg  zur  deutschen  Einheit  führte  über  Born. 
Das  änderte  sich  erst  dann,  als  die  politische  Macht  der  Kurie  durch 
die  Keformation  wesentliche  Einbusse  erlitten  hatte,  als  eine  Macht  sich 
innerhalb  Deutschlands  bilden  konnte,  die  auf  den  Papst  keine  Rück- 
sicht zu  nehmen  brauchte. 

Heinrichs  Politik  weist  keine  eigenartigen  Züge  auf.  Er  folgt  den 
Fussstapfen  der  grossen  Staufer.  Seine  Persönlichkeit  ist  es  vor  allem, 
die  seine  kurze  Regierung  anziehend  macht.  Man  darf  sagen,  dass  er 
während  der  kurzen  Spanne  Zeit,  die  ihm  gegönnt  war,  das  Notwendige 
nach  bestem  Wissen  gethan  und  die  Rechte  des  Kaisertums  trotz  aller 
Ungunst  der  Zeiten  gewahrt  hat,  so  gut  er  konnte.  Nicht  an  ihm  lag 
es,  dass  er  keine  dauernden  positiven  Erfolge  für  das  Kaisertum  und 
damit  für  Deutschland  erzielte.  Ein  jäher  Schicksalsschlag,  sein  vor- 
zeitiger Tod,  vereitelte  alles.  Aber  er  lebt  doch  nicht  nur  als  ein  Mann 
reinen  Sinnes  und  grosser  Zwecke  in  der  Geschichte  fort.  Dadurch  dass 
er  sich  dem  Übergewichte  Frankreichs  zur  rechten  Stunde  entgegen- 
gestemmt hat,  ist  ihm  in  der  Verflechtung  der  europäischen  Angelegen- 
heiten seine  Stelle  angewiesen.^) 


1)  Für  diejenigen,  die  Rankes  Weltgeschichte  (9, 1,  28)  nachschlagen,  erlaabe 
ich  mir  die  Bemerkung,  dass  ich  die  Stelle  (^Oder  dürfte  man  sagen**  —  .vereitelt 
worden**)  nach  Abschluss  meines  Versuches  selbst  mit  einiger  Überraschung  nach- 
las.  Bei  der  Arbeit  hatte  ich  mich  bewusst  nicht  daran  erinnert.  Übrigens  weiss 
jeder  Verehrer  Rankes,  wie  schwer  es  ist,  zu  einer  allgemeinen  Ansicht  zu  kommen, 
die  er  nicht  schon  irgend  wo  wenigstens  angedeutet  hat. 


P.  Heid.  1000.