iii
NEUE JAHRBÜCHER
FÜR
PHILOLOGIE TOD PAEDAGOGIK.
GEGENWARTIG HERAUSGEGEBEN
ALFRED FLECKEISEN und RICHARD RICHTER
PROFESSOR IN DRESDEN RECTOR UKD PROFESSOR IN LEIPZIG
SIEBENUNDSECHZIGSTER JAHRGANG.
EINHUNDERTUNDSECHSUNDFUNFZIGSTER BAND.
LEIPZIG
DRUCK UND VERLAG VON B. G. TEUBNER.
1897.
JAHRBÜCHER
FÜR
PHILOLOGIE um PAEDAGOGIK, .
ZWEITE ABTEILUNG.
HERAUSGEGEBEN
VON
RICHARD RICHTER.
U.
DREIUNDVIERZIGSTER JAHRGAN&:4&S? 4 %
ODER V<, \ ?S^^-^.'*y
DER JAHNSCHEN JAHRBÜCHER FÜR PHILOLOGIE UND P'i«;:'^^&OC«^
EINHUNDERTUNDSECHSUNDFUNFZIGSTER BAND.
LEIPZIG
DRUCK UND VERLAG VON B. G. TEUBNER.
o
ZWEITE ABTEILUNG
FÜR GYMNASIALPÄDAGOGIK UND DIE ÜBRIGEN
LEHEFÄCHEE
MIT äUSSCHLOSZ der CLASSISCHEN PHILOLOGIE
HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. RiCHARD RiCHTER.
1.
VIVES IN SEINER PÄDAGOGIK.
eine quellenmäszige und systematische darstellung.
Vorwort.
Jobannes Ludovicus Vives, wohl der bedeutendste pädagogische
scbriftst'eller des secbzehnten jabrbunderts, ist doch zunächst nicbt
erziebungstbeoretiker. auch ti'ägt er seine pädagogischen anscbau-
ungen nicbt in der form eines klar aufgebauten Systems vor. sie
sind vielmehr meistens sporadisch ausgesprochen in Unterordnung
unter einen andern zweck.
Vor allem ist es die kritik der scholastischen behandlungsweise
der Wissenschaften und im anschlusse an sie die encyclopädiscbe neu-
gestaltung der Wissenschaften, welche ihm eine fülle von ansichten
specifisch pädagogischen Charakters in die feder dictiert; oder es
veranlaszt ihn das streben, das lateinische zum modernen sprach-
umfange zu erweitern und es so zur lebenden Weltsprache zu machen,
zu pädagogischen erörterungen; oder endlich finden sich solche in
seinen allgemeinen regeln für die rechte lebensführung. da seine
Schriften zudem reich an excursen sind und die absieht des Verfassers
durchblicken lassen, interessant zu schreiben, nicht selten auch mit
seiner belesenheit zu glänzen, so fehlt ihnen oft die streng methodische
darstellung, wie dies bei einem humanisten erklärlich ist.
So sind die pädagogischen goldkörner eingebettet in eine menge
von kritischen, philosophischen, historischen, litterarischen und
moralischen betrachtungen. dennoch bleibt unser Spanier in seinen
pädagogischen anschauungen durchgängig consequent während der
zwanzig jähre, welche seine schritten, soweit sie hier in betracht
kommen, auseinander liegen, in seinem köpfe, so wird man im all-
N. Jahrb. f. phil. u. päd. II. abt. 1897 hft. 1. 1
2 F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik.
gemeinen sagen dürfen , bestand ein geschlossenes pädagogisches
System , aus seinen schriften ist es erst hervorzusuchen und zu-
sammenzustellen.
Diese aufgäbe versucht die vorliegende abhandlung auf grund
des Studiums der quellen zu lösen, sie soll darum nicht als ein ein-
faches excerpt aus den schriften Vives' angesehen werden.
Da sie eine grundlage bieten will für die weiteren Unter-
suchungen über Vives' einflusz auf die späteren pädagogen , welche
frage, wie es scheint, nicht immer tendenzlos beantwortet worden
ist, so leitete den Verfasser die absieht, Vives selbst möglichst
oft zu worte kommen zu lassen, das ist in den zahlreichen als
fusznoten vermerkten citaten aus seinen schriften geschehen,
zur rechten Würdigung unseres pädagogen ist es un-
erläszlich, diese zu berücksichtigen, der deutsche text
versucht nur, den Zusammenhang herzustellen, manches, was in
seitenlangen erörterungen entwickelt ist, kurz zu charakterisieren
und so in umrissen das system der Vivianischen pädagogik anzu-
deuten.
Dabei hat der Verfasser sich soigsam gehütet, zu gunsten eines
abgeschlosseneren Systems eigne gedanken zu interpolieren oder ent-
wickelt darzustellen, was nur keimartig und andeutungsweise in den
quellen liegt.
Diese erwägungen werden die knappheit der form rechtfertigen,
was den Inhalt betrifft, so ist eine darstellung von Vives' an sichten
über frauenbildung nicht in diese arbeit aufgenommen,
alte und selbstverständliche forderungen, deren es ja gerade in der
pädagogik so viele gibt, sind im Interesse der originellen und
charakteristischen kurz abgethan , wobei beachtet worden ist, dasz
zu Vives' Zeiten nicht alles selbstverständlich war, was es heute zu
sein scheint.
Es muste der kürze wegen abstand genommen werden von
einer genaueren darstellung der historischen und litterarischen zu-
stände jener zeit sowie der bis dahin fortgeschrittenen entwicklung
der einzelnen pädagogischen disciplinen. über diese fragen orien-
tiert die angegebene littei'atur.
Erklärung der bei der quellenangabe benutzten ab-
kür Zungen.
an. et v. = de animn et vita.
(■aus. corr, = de causis corruptarurn artium.
ex. 1. lat. = exercitatio linguae latinae.
fem. Christ. = iiistitutio feminae christianae.
intr, sap. = introdnctio ad sapientiam.
mor. erud. = de vita et moribus eruditi.
oflF. mar. = de officio mariti.
psend-dial. = in pseudo-dialecticos.
rat. die. = de ratione dicendi.
sapiens = sapiens seu inquisitio sapientis.
F. Kiiypers : Vives in seiner pädagogik. 3
sat. an. = satellitium animi seu symbola.
stufl. puer. = de ratione stiidii pnerilis.
trad. disc, = de tradendis disciplinis.
ver. fid. = de veritate lidei christianae.
Die vor der klammer stehenden zififern bezeichnen buch und capitel,
die in derselben stehenden band und seile der prachtausgabe von
Majansius. charakteristische oder bedeutsame citate sind mit • versehen.
Quellen und Vorgänger.
Dieser arbeit sind zu g^runde gelegt: loannis Ludovici Vivis
opera omnia ed. a Gregorio Majansio. tom. I— VIII folio.
Valentiae 1782 — 1790.' — Folgende abhandlungen über Vives habe ich
eingesehen: Nico! ans Antonius, bibl. hisp., tom. I, Romae 1672,
s. 552 — 556 fol., aufzählung und kurze Charakteristik seiner werke
enthaltend. — Thomas Pope-Blount, ceusura celebriorum
authorum, Londini 1690, s. 365 und ;^66 fol. stellt urteile be-
deutender männer des 16n und 17n Jahrhunderts über Vives zu-
sammen. — Nice'ron, me'moires pour servir k l'histoire des
hommes illustres dans la republique des lettres, tom. XXI,
Paris 1733, s. 172 — 186 8°, liefert biographie und besprechung seiner
werke. — M. Paquot, memoires pour servir k l'histoire litte-
raire des dix-sept provinces des Pays Bas, tom. I, Louvain
1765, s. 117 — 123 fol. enthält auszer obigem bibliograph. notizen über
ausgaben seiner werke. — Greg. Majansius, J. L. Vivis Valentini
vita als einl. zur oben citierten prachtausgabe, tom. I, Valentiae 1782,
8. 2 — 219 fol. sie ist neben Vives' briefen die hauptquelle zu den folgen-
den ausführlichen biographien. — A. J. Nameche, memoire sur
la vie et les e'crits de Jean-Louis Vives, in den me'moires
couronne'es par l'acade'mie royale des sciences et belies- lettres de
Bruxelles, tom. XV, Bruxelles 1841, s. 1 — 126 4", eine verdienstvolle
arbeit, lelien, Inhaltsangabe der werke und kurze Charakteristik um-
fassend. — H. G.Braam, dissertatio exhibens J. L. Vivis theo-
logiam Cliristianam, Groningae 1853, 8°, s. 1 — 30 biogr., s. 31 — 175
systematische darstellung der Vivianischen theologie, — W. Francken,
J. L. Vives, de vriend van Erasmus, Rotterdam 1853, s. 1—196 8"
berücksichtigt vorwiegend die werke religiösen Charakters und streift nur
die pädagogische bedeutung. — Biographie universelle ancienne
et moderne, tom. XLIII, Paris s. 687 ff., in kürze biogr. und inhalts-
angabe der hauptwerke darstellend. — Kerker, art. Vives in Wetzer
und Weite, kirchenlexikon, neue ausg. bd. 11, Freiburg 1859, s. 718
— 720 8°, ähnlich, vom kath. Standpunkte aus verfaszt. * — R. Heine,
das lateinische Übungsbuch des humanisten J. L. Vives,
in n. Jahrb. f. phil. u. päd., bd, 122, Jahrg. 1880, s. 437—453 8" macht
in vortrefflicher weise mit den besten dialogen der exercitatio linguae
latinae bekannt. — A. Lange, art. Vives in K. A. Schmid, encykl.
d. gesamten erziehungs- und unterrichtswesens. neue ausg. bd. 9,
Leipzig 1887, s. 776 — 851 8**. es ist die erste ausführliche deutsche
darstellung, mit groszer gelehrsamkeit geschrieben, sie bringt eine
weitläufige biographie nebst kurzer Charakteristik der schriftstelleri-
schen thätigkeit. die werke pädag. Inhaltes erfahren eine ausführ-
lichere besprechung. die angeschlossene Untersuchung über Vives'
einflusz auf die späteren pädagogen besitzt nicht die gleiche gründlich-
keit und kehrt zu stark den protestantischen Standpunkt hervor. —
' auszerdem existiert eine gesaratausgabe, Basel 1555, tom. I — II.
einzelausgaben s. namentlich bei Paquot und Kaiser.
* die neueste aufl. enthält den art. 'Vives' noch nicht.
1*
4 F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik.
Dr. J. Wychpram, J. L. Vives ausffew. Schriften, übersetzt in
d. päda^. classikern von G. A. Lindner, bd. XIV (neue serie bd. IV), Wien
und Leipzig 1883 (aber später als der Langesche art. verfaszt). die
vortrefiflicli geschriebene einleitung enthält Vives' leben im zusammen-
hange mit seiner zeit, seine iitterarische Wirksamkeit, seine psyoho-
logie und pädagogik, die letztere auf etwa 20 selten 8" charakterisiert,
von denen 12 Vives' anschauungen über frauenbildung gewidmet sind,
bei der trage über Vives' eiuflusz auf die jesuitische pädagogik
schlieszt sich Wychgram leider genau Langes einseitigen und nicht
gründlichen ausführungen an- die Übersetzung habe ich manchmal mit
nutzen befragt, die einteilung nach abschnitten ist richtiger als in den
von mir benutzteii quellen, welche übrigens Wychgram nicht vorgelegen
zu haben scheinen. — J. J. Altmeyer, les precurseurs de la
reforme aux Pays-Bas, tom II, La Haye 1886, chap. IX. Louis
Vives, s. 48—84 8", biographische darstellung seiner kirchlichen richtung
und besprechung seiner betr. werke mit kurzer erwähnung seiner
pädag. bedeutung liefernd. — C. Arnaud, quid de pueris iusti-
tuendis senser it Ludov. Vives. thesis fac. litt. Farisiensi prop.
Parisiis 1887, s. 1—112 8", diese arbeit wurde mir erst kurz vor ab-
schlusz der meinigen bekannt, es ist eine treffliche, in schönem latein
geschriebene abhandlung ohne die streng systematische form und die
ausführliche quellenangabe der vorliegenden. kurze citate sind, oft
nach der construction umgestellt, dem texte eingestreut, auf eine
psycholog. einleituug sowie auf ausführliclikeit bei besprechung der
einzelnen Unterrichtsfächer verzichtet der Verfasser, weniger verzeih-
lich ist e,s. dnsz er keine darstellung der formalen bildung, des Unter-
richts nach dem 25n jabre (auszer einer kurzen bemerkung über
geschickte) und der didaktischen grundsätze bringt, dafür sind inter-
essante historische erörterungen enigeflochten, weniger berechtigt er-
scheinen einige abschweifiingen (wie s. 17 f. 22 ff.), ich habe mich zu
keinen änderungen in meiner arbeit veranlaszt gesehen. — Th. Thibaut,
quid de puellis instituendis senserit Vives. diss. Parisiis
1888: ein gegenstück zu der vorigen und im zusammenhange mit ihr
entstanden; den Inhalt habe ich nicht genauer geprüft. — P. Hause,
die pädagogik des Spaniers J. L. Vives und sein eiuflusz
auf J. A. Comenius. diss. Erlangen 1890. der verf. scheint das
hauptgewicht auf den zweiten teil gelegt zu haben, ich bemerke zu
demselben nur, dasz ich seinem negativen resultate nicht beistimmen
kann, und verweise zur vergleichung auf die trefflichen untersucliungen
von Nebe (s. u.). zur darstellung der Vivianischen pädagogik musz
icli gestehen, dasz sie dem Spanier durchaus nicht gerecht wird, das
thema der vorliegenden abhandlung kommt in etwa 20 seiten 8" zur
darstellung. diese ist bei weitem nicht erschöpfend und in einigen
punkten verkehrt, die quellen sind nicht gründlich berücksichtigt; es
ist sehr zu bedauern, dasz der Verfasser sich von ausgesprochener
protestantischer, für Comenius gegen Vives eingenommener, teiidenz
leiten läszt. auf einzelheiten kann ich hier nicht eingehen; man möge
Arnaud (s. o.) oder diese abhandlung vergleichen, die anordnung des
Stoffes ist geschickt. — Dr. A. Nebe, Vives, Älsted, Comenius in
ihrem Verhältnis zu einander, beilage zum Jahresberichte des
Elberfelder gymnasiums 1890/91. Eibcrfeld 1891. ergänzungen: Co-
menius und seine Vorläufer in d. blättern für die Schulpraxis, Nürn-
berg 1892, III, s 376— 399 und Comenius' Studienzeit in Herborn
in d. monatslieften der Comeiiiusges. 1894, III, s. 87 ff. diese vorurteils-
freien und gediegenen Untersuchungen, deren ergebnissen ich beistimme,
weisen, ohne Comeniu.s' Verdienste zu verkennen, den einflusz des
Spaniers unzweifelhaft nach (über Alstedt vgl. auch K. A. Schmid
und G. Schmid, geschicbte der erziehung III 2 s. 100 ff. Stuttgart
1892). — P. Schaefer, lehrer, J. L. Vives in d. kath. zeitschr. f.
F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik. 5
erziehung und Unterricht von A. J. Cüppers, XLI. jahrg'. , Düsseldorf
1892, 8", s. 437— 455 (leben) 485—498, 533—548 (pädagrogrik), eine sehr
brauchbare, im anschlusse an Wychg^ram , Heine (s u.), Lange und
Franckeu geschickt verfaszte darstellung, welche indes Conienius unter-
schätzt, wenn sie meint, 'dasz die vielgerühniten Verdienste desselben
auf dem gebiete des höheren unterrichtsvvesens eigentlii-h nur in den
köpfen schwärmerischer lobredner existierten'. — Dr. O. Denk schildert
in der kath. schulzeitung (Donauwörtli 1892) nr. 18 — 33 (mit Unter-
brechungen) Vives' leben und litterarische thätigkeit. die am Schlüsse
versprochene darstcllung der pädagogik des Spaniers ist bis jetzt unter-
blieben,— Roman Pade, die af f ectenl eh re des J. L. V i ves, diss.
Münster 1893, s. 1 — 51 8". an der ausführung der im eingange geäuszerten
absieht, 'in naher folge' eine gesamtdarstellung der Vivianischen Psy-
chologie folgen zu lassen , ist der Verfasser durch den tod gehindert
worden. — Dr. F. Kaiser, J.L. Vives in d. histor. jahrb. d. Görres-
gesellscbaft, bd. XV, jahrg. 1894, eine gelehrte, vom kath. Standpunkte
aus geschriebene gesamtdarstellung, in welcher auch die pädag. be-
deutung ganz kurz gewürdigt ist; dieselbe dürfte jedoch überschätzt
sein, s. § 39 dieser abhandlung. — nach abschlusz meiner arbeit erschien:
Dr. F. Kaiser , J. L. Vives' päd agogische Schriften in bd. VIII
der bibliothek der katholischen pädagogik, Freiburg i. Br. 1896. die
abhandlung enthält Vives' Schriften de tradendis disciplinis, de vita et
moribus eruditi, de institutione feminae christianae (erstes buch und
auszug aus dem zweiten), de ratione sludii puerilis I und II in vorzüg-
licher übersichtlich gegliederter Übersetzung, gegen die einleitung, in
welcher Vives' leben auf 36 Seiten 8° dargestellt, seine pädagogik auf
14 Seiten 8° charakterisiert ist, habe ich folgendes einzuwenden: Kaiser
überschätzt Vives' bedeutung für die muttersprache (wie in der oben
genannten abhandlung desselben Verfassers; man vgl. § 39 in meiner
darstellung). ebenso dürfte es wohl übertrieben sein, wenn Kaiser
'fast die sämtlichen heute noch geltenden und leitenden principien der
neueren pädagogik' auf Vives zurückgeführt wissen will; denn auch
Vives hatte seine Vorläufer, und manche späteren pädagogen haben
diese principien unabhängig von Vives ausgesprochen, verkehrt ist
endlich die behauptung: 'seine ganze pädagogik baut sich auf dem
festen boden katholisch -christlicher lehre und autorität auf.' Vives,
ein freisinniger katholik , liefert eine christliche, nicht eine specifisch
katholisclie pädagogik. — Unerreichbar sind mir geblieben: J. Ch. Gli.
Schaumann, diss. de J. L. Vive, philos. praesertim anthropologo
etc. Halae 1791, '/a bog. 8". dieses bei Grässe (s. anm. 108) s. 776 und
Lange s. 714 cit. schriftchen (w^hrsch. keine doctoidiss. , da frühere
werke des verf. existieren) ist weder in den Universitätsbibliotheken zu
Kiel und Bonn, noch in der Berliner Staatsbibliothek noch in irgend
einer öffentlichen Hallenser bibliothek zu finden, auch gibt das all-
gemeine repertorium der litteratur 1791 — 1795 keine recension. — J. d e
Bo sch-Kemper , J. L. Vives, geschetst als christelijk phi-
lanthrop der zestiende eeuw. Amsterdam 1851. — PaulSouquet,
les ecrivains pedagogues du 16. sifecle 1886. — J. Parm entier,
J. L. Vives, de ses theories de l'education et de leur in-
fluence sur les pe'dagogues anglais in revue internat. de l'en-
seignement, XIII. annee, nr. 55, bericht von Keller in monatshefte der
Com.-ges. V, s. 57. — Dr. R. Heine, Vives' ausg. Schriften mit
einl. in d. pädag. classikern von R. Richter, Leipzig (o. jahr).^
3 Reber {s. anm. 131) s. 2 cit. fälschlich dr. Rudolfheir
Rud. Heine.
F. Kuypers : Vives in seiner pädagogik.
Einleitung.
§ 1. Nachdem im altertume durch Quintilian die pädagogische
schriftstellerei zu später entwicklung gelangt war, folgte die langen
Jahrhunderte des mittelalters hindurch eine grosze ebbe in den litte-
rarischen erzeugnissen der ei'ziehungswissenschaft. denn so segens-
reich auch immer der neue, christliche geist sich in der gründung
zahlreicher schulen bethätigte, so gering war die zahl derjenigen,
die eine theoretische lösung des problems der erziehung versuchten,
allerdings boten die Schriften der kirchenväter sowie die schulregeln
des hl. Benedict dem pädagogen manchen beherzigenswerten ge-
danken , allein eine zielbewuste, auf wissenschaftlicher grundlage
aufgebaute theorie , welche unterrichten und erziehen zu einer
kunst erheben wollte, war dem frühesten mittelalter fremd, ihre
anfange gestalten sich erst unter dem dreigestirne der Karolingischen
zeit: Flaccus Alkuin, Hrabanus Maurus, Walafried Strabo. doch
auch bei ihnen war die ausbildung der didaktik und methodik noch
recht kümmerlich , und das material , welches sie boten , diente fast
ausschlieszlich der heranbildung der klei'iker zu ihrem berufe. —
Wiederum vergiengen vier Jahrhunderte, bis ein pädagogischer
schriftsteiler von weiterem gesichtskreise erschien , Vincenz von
Beauvais [f 1264]. aber auch er verfuhr einseitig, indem er nur
'kinder aus königlichen oder adeligen familien' bei seinen Vor-
schriften im äuge hatte, eine allgemeine pädagogik boten zuerst
Mapheus Vegius und der erst neuerdings wieder bekannt gewordene
Konrad Bitschin"*, beide vor der mitte des fünfzehnten Jahrhunderts
blühend.'^ so zeigte im allgemeinen das mittelalter wenig interesse
für pädagogische fragen.
Das wurde anders mit dem auftreten des humanisraus.® der
umstand , dasz die classischen Wissenschaften einen vielseitig aus-
zubeutenden stoflFin die schulen einführten, und die erkenntnis, dasz
bei der Jugend die fortentwicklung der neuen, oppositionellen rich-
tung ruhe, schufen eine wahre flut pädagogischer Schriften und
* über diesen Kulmer Stadtschreiber vgl. Th. Ziegler, geschichte
der pädagogik, 1 bd. von A. Baumeister, handbuch der erziehungs- und
Unterrichtslehre, München 1895, s. 39.
' vgl. zu diesem abschnitte F. Paulsen, geschichte des geleiirten
Unterrichts auf den deutschen schulen und Universitäten, Leipzig 1885,
B. 10 f. 2e aufl. 1896, I bd. s. 13 f.
^ die pädagogische thätigkeit der humanisten stellen dar: K.v. Raumer,
geschichte der pädagogik vom wiederaufblühen classischer Studien bis
auf unsere zeit, erster teil. Stuttgart 1843, s. 28 ff. H. J. Kämmel,
geschichte des deutschen Schulwesens im Übergang vom mittelalter zur
neuzeit, Leipzig 1882, s. 243 ff. F. Paulsen (vgl. anm. 5) s. 28 ff. 2e aufl.
I s. 74 f. G. Voigt, die Wiederbelebung des class. altertums II bd. 3e aufl.,
Berlin 1893, s. 372 ff. 455 ff. K. A. Schmid u. G. Schmid (vgl. s. 4 unten)
TI 2. Th. Ziegler (vgl. anm. 4) s. 41—128.
F. Kuypers: Vires in seiner pädagogik, 7
schriftchen, sie sind, wie die humanistischen gedichte und pane-
gyriken , jetzt mit geringer ausnähme der Vergessenheit anheim-
gefallen.
Bei vielen mag dieses Schicksal nicht zu bedauern sein, dasz
aber auch höchst originelles und bedeutendes in jener zeit der
humanistischen vielschreiberei auf dem gebiete der theoretischen
Pädagogik geleistet worden ist, zeigen die erst in den letzten Jahr-
zehnten allmählich wieder zu ansehen gekommenen werke des ge-
borenen Spaniers Johannes Ludovicus Vives. 'Vives' bedeu-
tung für die geschichte der pädagogik besteht vor allen dingen
darin, dasz sich in ihm die gesamte gegenwirkung der beginnenden
neuzeit gegen die pädagogischen misbräuche des späteren mittel-
alters sammelt, und dasz sich bei ihm in gleicher weise die keime
der wichtigsten reformen von Sturm bis auf Rousseau herab ver-
einigt und in ein ganzes verschmolzen finden.'^ er ist mehr benutzt
als genannt worden, zweifellos hat er vielen hervorragenden päda-
gogender nachfolgenden Jahrhunderte in verschiedenen europäischen
ländern anregung geboten.®
Dennoch wurde er bis vor kurzem als pädagoge kaum erwähnt,
seine Vielseitigkeit mag ein grund davon sein, denn er hat die er-
ziehungslehre nicht in den Vordergrund seiner schriftstellerischen
thätigkeit gerückt, wenn auch diese gedanken mehr als alle andern
auf die nachweit gewirkt und ihm eine bleibende bedeutung ge-
sichert haben, so nehmen sie doch, wie schon bemei'kt, in seinen
Schriften eine secundäre stelle ein. dazu ist sein name durch den
groszartigen aufschwung, den die pädagogik bald erfuhr, besonders
durch Comenius' glänz verdunkelt worden, so war ihm die frucht
seiner arbeit beschieden, die er selbst gewünscht hat: den nutzen
anderer, nicht den eignen rühm zu fördern.®
§ 2. Juan Louis Vives ist 1492 zu Valentia geboren. '" er lebte
bis 1509 in seiner Vaterstadt, wo er eine strenge, spanisch-katholische
erziehung genosz und in der Scholastik unterwiesen wurde, welche
er mit eifer verteidigte, die drei folgenden jähre studierte er fast
ausschlieszlich unter scholastischem einflusse in Paris, die berührung
mit dem allmählich vordringenden humanismus rief einen 'gärungs-
process' in ihm hervor, bis zum jähre 1523 finden wir ihn in Brügge,
Paris oder Löwen, den neuen ideen neigte er sich in dieser zeit
immer mehr zu, bis er 1519 durch seine scharfe invective 'in pseudo-
dialecticos' der Scholastik den definitiven scheidebrief gab. in Löwen,
der hochburg der alten theologie , war Vives neben Erasmus haupt-
'' Lange s. 843.
* näheres über seinen einflusz enthalten einige der im eingauge
charakterisierten abhandlungen.
^ s. anm. 31.
*" ich musz mich hier auf eine ganz kurze biographische skizze
beschränken, ausführliche lebensbeschreibungen enthalten die eingangs
genannten werke.
8 F. Kuypers : Vives in seiner pädagogik.
förderer der humanistischen Studien." zugleich war er dortlehrer'*
des neunzehnjährigen cardinal-erzbischofs von Toledo, Wilhelm von
Croy, der damals in Löwen seine studien fortsetzte, abgesehen von
einem vorübergehenden aufenthalte in Valentia und Brügge lebte
Vives bis 1528 in Oxford und London, er hielt Vorlesungen an der
Universität und war freund und ratgeber von Heinrich VIII und
dessen gemahlin Katharina, sowie vorübergehend lehrer von deren
tochter Maria (der katholischen).'^ sein Widerspruch gegen den
könig in dessen ehescheidungsangelegenheit zog ihm eine secbs-
wöchentliche haft zu. den rest seines lebens verbrachte er meistens
in Brügge, seine freunde und gönner hatten sich von ihm zurück-
gezogen, seine bewerbungen um lebensstellungen schlugen fehl,
not und krankheit begleiteten ihn bis zu seinem tode am 6 mai
1540.'^
Vives war verheiratet gewesen aber kinderlos geblieben. '*
So lebte Vives in der epoche des heftigen ringens zwischen
Scholastik und humanismus. um die mitte seines lebens begann sich
der sieg auf die seite des letzteren zu neigen, der andern groszen
bewegung jener zeit, der reformation, stand er fremd oder vielmehr
feindlich gegenüber, ohne sich in den theologischen hader zu mischen,
während er in jenem erstgenannten streite ein eifriger Parteigänger
des humanismus geworden war. '®
Bei den bedeutendsten männern dieser geistig so bewegten zeit
galt Vives als hervorragender gelehrter.'^ mit Erasmus, dem er
•' Löwen war, im gegensatze zu Paris, der neuen richtung schon
früh zugänglich. vgl. über das wissenschaftliche leben daselbst bei
Vives' erscheinen Namfeche s. 11, 12. Francken s. 12, 13 führt Erasmus
selbst dafür an. F. Nfeve, me'moire histor. et litte'raire sur le College
des trois langues ä l'universite' de Louvain, Rruxelles 1856. vgl. Lange
s. 779.
'* Vives war nur sein lehrer. die erziehung desselben lag in anderen
bänden, vgl. Lange s. 781.
•3 Unterricht und erziehung der fürstenkinder war eine besondere
aufgäbe der humanisten. s. J. ßurckhardt, die cultur der renaissance,
Basel 1860, s. 210.
" falsch bei Pope-Blount, Luc. Osiander, eccles. bist, epitome
cent. XVI, Tubingae 1608, s. 350, und W. G. Tennemann, gesch. d.
philos. bd. 9, s. 529.
15 die hiervon abweichenden uachrichten in biographie universelle,
tom. XLIIl, und Paul Souquet, les e'crivaius pedagogues du seiziinie
siecle 1886, s. 98, sind falsch, vgl. Nameche s. 29, Arnaud s. 18.
'^ näheres über seine humanistischen und religiösen anschauungen
s. s. 10 f. den geschichtlichen rahmen zu Vives liefert in geistvoller
weise Francken s. 179 — 196: proeve tot waardering van Vives in ver-
band met zijnen tijd. die humanistisch -pädagogischen bestrebungen
seiner zeit gibt im zusammenhange Kämmel s. 378—423. vgl. auch
F. Gramer, geschichte der erziehung und des Unterrichts in den Nieder-
landen während des mittelalters, Stralsund 1843, s. 158. s. anni. 6.
*'' Thomas Morus sagt von den Schriften des achtundzwanzigjährigen
Vives, dasz ihm 'lange nichts eleganteres und gelehrteres zu gesiebte
gekommen' sei. schon früher hatte der mit dem lobe anderer kargende
F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik. 9
hauptsächlich die anregung zu den humanistischen Studien verdankt,
mit Budaeus, Thomas Morus, cardinal Wolsey u. a. stand er in per-
sönlichem oder brieflichem verkehre, ebenso mit Heinrich VIII,
Karl V, papst Hadrian VI.'®
§ 3. Vives hat mit den meisten humanisten das gemein, dasz
er sehr viel geschrieben hat. obgleich er nur achtundvierzig jähre
alt geworden ist, füllen seine bis jetzt erhaltenen werke acht
starke foliobände. '^ seinen für die pädagogik wichtigen Schriften
widme ich eine besondere besprechung. von den andern sind die
hervorragendsten:*"
1522: die ausgäbe der bücher des hl. Augustinus de civitate
dei mit comraentar. der commentar ist ein werk von riesiger gelehr-
samkeit; in der kirche herschende misstände werden in ihm rück-
haltlos aufgedeckt, er wurde auf betreiben der Jesuiten nach Vives'
tode auf den index gesetzt, 'donec corrigatur'.*'
1526: de subventione pauperum, die erste theorie einer staat-
lichen armenpflege, ein buch, das von zweifellosem einflusse auf
Erasmus über ihn geäuszert, er habe ^in den Wissenschaften, wie im
mündlichen und Sfhriftlichen gedankenansdrucke es so weil gebracht,
dasz er kaum wage, ihm einen aus diesem Jahrhunderte an die seite zu
stellen', derselbe befürchtet, dasz Vives seinen namen verdunkeln
werde. Budaeus sagt: 'wenn ich den geist dieses mannes recht kenne,
wird er nicht ruhen, bis er alle hinter sich gelassen hat', s. Namfeche
s. 20 u. 95, Lange s. 787, woselbst auch die quellen citiert sind.
** seine bedeutungsvollen briefe an diese gekrönten häupter s. Ma-
jansius opp. (V 164 ff. , VII 134 ff.), über die zeitgenössische nieder-
landische gelehrtenwelt s. Ältmeyer s. 293 ff. , über seine Löwener col-
legen Nameche s. 16 ff.. Denk s. 155.
'^ was um so staunenswerter erscheint, wenn er seine eigene Vor-
schrift befolgt haben sollte: Mor. erud. 5, 3 (VI 434); lectio sit ut quinque
(er meint die vorbereitende lectüre), meditatio vit quatuor, scriptio ut
tria, emendatio redigat illa in duo, ex his duobus uuum perferendum
in apertum.
^^ einen überblick über die Vielseitigkeit seiner schriftstellerischen
thätigkeit liefert die einteilung seiner werke bei Majansius (I. viii f.):
ad sapientiam introductio (1). rogativa ad deum (6). grammatica (3).
philologica (4). rhetorica (6). philosophica (10). moralia (8). legalia (2).
politica (7). historica (4\ critica (2). christiana (9). epistolica (58}.
s. Aug. de civitate dei cum comment. J. L. Vivis Valentini. kurze
besprechung derselben bei Paquot s. 118 — 123. daselbst sind noch vier
nicht veröffentlichte werke angegeben, vgl. anm. 44.
^' die Baseler gesamtausgabe von Vives' werken (1555) und die
Valentiner (1792) enthalten den commentar nicht, charakterisiert ist
das werk bei Lange s. 788 f., Kaiser s. 321, welche auch die punkte
des anstoszes anführen, grobe ketzereien enthält es nicl.t, nur einige
schiefe auffassungen und heftige angriffe auf verweltlichte mönche und
kleriker. proben gibt Nameche s. 97 f. Js. Bullart bemerkt: quoy que
disent ceux qui le soupQoiinent d'avoir altere' en quelques endroits les
pense'es de ce grand docteur de l'Eglise, il ne peuvent nier qu'il ne
leur ait donne en beaucoup d'autres une lumifere qui en decouvre la
saintete' et la profondeur. Pope-Blount s. 366. die Löwener theologen
haben 1637 den Augustinus des Vives corrigiert herausgegeben. Niedren
s. 184.
10 F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik.
die gestaltung des armenwesens in den westeuropäischen ländern
gewesen und noch heute beherzigenswert ist. ^^
1529: de concordia et discordia, Karl V gewidmet, eine mah-
nung zum frieden unter den völkei*n und ein aufruf zum concil, das
die kirchlichen misstände heben soll.'^
1541 : de veritate fidei christianae, eine bedeutende apologie des
Christentums, sein letztes werk, nach seinem tode herausgegeben.^^
§ 4. Mit encyclopädischer Vielseitigkeit vereinigen sich in Vives
hervorragende eigenschaften des Charakters, er ist eine durchaus
sittliche persönlichkeit, die nicht, wie so viele zunftgenossen,
blosz moral predigte, sondern sie auch übte." keine lehre des
Christentums hat ihn so tief durchdrungen wie das evangelium von
der liebe. '^'^ seine Schriften kennzeichnen ihn als dankbaren söhn,
treuen freund, musterhaften gatten, und eine grosze allgemeine
menschenliebe spricht aus vielen derselben, die gegensätze jener
kampferfüllten zeit, den politischen krieg, den confessionellen hader,
die revolutionäre empörung, die sociale Ungleichheit sucht er auf fried-
lichem wege zu versöhnen durch praktische vorschlage, inständige
bitten, heftige invectiven.''^ ihm, dem groszen Philanthropen,
ist nichts ein ärgerer greuel als der krieg; er vermag in ihm nur
eine unchristliche, unmenschliche und unsinnige räuberei zu sehen.'*
" s. Majansius opp. (IV 421 — 494). kurzer inhalt bei Namfeche
s. 109 — 112. Francken s. 149—165. Lange s. 799. Altmeyer s. 57—67.
M. Orts, revue trimestrielle tom. II, 1854. der einfliisz des Werkes zeigt
sich in dem erlasse Karls V vom 7 oct. 1531 und in dem statuta des
Brüggener magistrates von 1564, in einem reglemt-nt von Ypeiu , Gand
u. a. zur Orientierung vgl. H. de Kerchove, legislation et culte de la
liienfaisance en Belgique (citiert bei Altmeyer). Kaiser s. 307 verspricht
eine ausführliche darlegung zu geben.
*' Majansius opp. (\^ 193—403), kurz charakterisiert in den oben
genannten abhandiungen.
^* Majansius opp. (VIII 1 — 458). kurzer iuhalt bei Francken s. 62 — 64.
Lange s. 804. Altmeyer s. 84—87 (verkehrt paginiert). Kaisers. 351 — 353
Es ist die hauptquelle für Braams systematische Zusammenstellung der
Vivianischen theologie.
*= *mor. erud. 5, 2 (VI 425): turba studiosorum seculum vocat felix,
in quo multa sit eruditio; non est vero i<l felix seculum sed illud, quam
homines docti re ipsa praestant, quod legerunt, quod profiteiitur, quod
aliis praescribunt; quum qui audiunt, et vident, coguntur exclamare: hi
sunt qui loquuntur, ut vivunt; et vivunt, ut loquuntur.
^•^ es ist das centrum seiner theologie. vgl. p. 10 u. anm. 48.
*' diese echte humanität ist das motiv seiner briefe an viele männer
von leitender Stellung: den kaiser von Deutschland, den könig von Eng-
land, den p;ipst, den groszinquisitor von Spanien, Erasmus u. a., ferner
seiner Schriften: de subventione pauperum, de concordia et discordia,
de pacificatioue, de Kuropae dissidiis et hello Turcico, de communione
rerum ad Germanos inferiores u. a.
2^ *caus. corr. 2, 3 (VI 106): quid aliud sunt omnia inter homines
bella, quam civilia? intr. sap. 3, 57 (I 5): hello hoc est impunito latro-
cinio, quo magis vulgi dementiam agnoscas? Vives Hadriano pontifici
(V 170): tuum est, pater sanctissime . . docere et principes, et prin-
cipum consultores, bellum hoc inter fratres et quod plus est, initiatos
F, Kuypers* Vives in seiner Pädagogik. 11.
Dennoch ist Vives eine tapfere natur. wo es gilt, tugend
und wabrbeit zu verfechten , da scheut sein freies wort weder die
Ungnade des hofes noch den hasz der schule.'^ ja, geradezu leiden-
schaftlich tritt er in dem streite der Wissenschaften für seine Über-
zeugung ein, mit schonungsloser kritik, mit höhn und härte — aber
stets ohne überhebung und ohne persönliche gehässigkeit. nicht
kränkung der gegner noch rubm oder Stellung ist das ziel dieses
begeisterten und edlen Jüngers der Wissenschaft, viel-
mehr sieht er, mag er auch nicht ungern seine belesenheit zeigen'",
seine aufgäbe als gelehrter darin, sein wissen ganz in den dienst
seiner mitmenschen zu stellen. ''
Darum ist sein geist stark auf das praktische gerichtet,
was nicht nutzbar gemacht werden kann, ist nicht der wissenschaft-
lichen betrachtung wert.'- so zeigt er, im gegensatze zu den
meisten andern humanisten, keine blinde Verehrung für das classische
altertum, wenig sinn für poesie, keine 'absolute bocbscbätzung der
form', sondern er ist Verfechter einer gesunden kritik und eines
fortgeschrittenen realismus. ''
eodem baptisraate , iiiiquum, sceleratnm esse, contra fas , contra pium,
non secns, quam si membra corporis eiusdem inter se diraicent. so im
hinblicke auf den krieg- zwischen Karl V und Franz I. vg;!. auch ver.
fid. 3, 11 (VIII 387; und namentlich rat. die. 3, 3 (II 206), sowie anm. 276.
die im commentar zu Aug-ustinus de civit. liei s. 22 ausgeführte an-
sieht, dasz jeder unter Christen geführte krieg an sich schon ein un-
gerechter sei, gehörte mit zu den anstöszig befundenen punkten.
*ä *mor. erud. 5, 1 (VI 420): nihil perinde artiuni omnium decus,
cunctaeque eruditionis, foedavit, et abieeit, ut quorundam sciolorum
levitas, qui passim assent.mtur qiiibuslibet piincipilius potissimum, novo
exemplo magis quam vetere . . si Studiosi assentari non consuevissent
principibus, et eruditionem Uli pluris facerent, et laudari se ab illis
impensissime gauderent. vgl. s. 6 und Denk s. 228. wie ganz anders
dachten die meisten der anderen humanisten!
'" so z. b. im commentar zu civ. dei, trad. disc. 3, 8 u. 9 (VI 338 — 344),
wo er an 1.50 schriftsteiler charakterisiert.
3t * Vives Erasmo (VII 192} : nee tu me tantopere proferendi nominis
cupidum existimes: malim uni aut alteri in virtute prodesse, quam
nomen absque aliorum utilitate per orbem, quantus quantus est, difFun-
dere . . moribus malim prodesse quam iudiciis placere. s. anm, 148.
'^ *pseudo-dial. (III 59): disoiplina omnis omnisque ars in aliquem
nsnm est inventa et comparata. vgl. anm. 184, 275 und die häufigen
ähnlichen forderungen für die einzelnen Unterrichtsfächer.
3' *caus. corr. 1, 3 (VI 42); falsa est atque inepta illa similitudo
quam multi taniquara acutissimain excipiunt, nos ad priores collatos
esse ut nauos in humeris gigantum. non estita; neque nos sumus nani,
neque illi homlnes gigantes, sed omnes eiusdem natnrae, et quidem
nos altius evecti illorum beneficio, maneat modo in nobis quod
in illis Studium et amor veri. die alten werden häufig kritisiert, na-
mentlich Aristoteles, von unserem humanisten kennen wir keine verse
und keine panegynken. sein urteil über die dichter s. anm. 211. *caus.
corr, 4, 4 (VI 180): quis non malit multo immundum sparcumque magnis
de rebus atque excellentibus sermonem, quam de nugis comptissimum
atque ornatissimum! intr, sap. 15, 475(124): ne verbis quod scis ostentes,
sed rebus te ostende scire. über seinen realismus s. namentlich § 44, 45.
12 F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik.
Teilt man die humanisten ein in solcbe mit christlicher und in
solche mit heidnischer Weltanschauung ^\ so ist Vives entschieden den
ersteren beizuzählen, er hält die classischen Studien für notwendig
zum rechten Verständnisse der schrift und strebt nach einer Ver-
söhnung des humanismus mit der christlichen lehre. '^
dabei betrachtet er die letztere mehr ihrem kerne als ihrer schale
nach, übergeht manche Streitpunkte untergeordneter art, geiszelt
aber mit entschiedenheit eingerissene misstände, ohne indes mit
bewustsein dem kirchlichen lehramte zu widersprechen: Vives war
ein freisinniger katholik, der die mängel in der kirche ebenso
wenig billigte wie den abfall von ihr.^^
Seine theologie ist katholisch, aber 'mehr Johanne isch als
Paulinisch', ein lehrgebäude, welches mehr in herleitung prak-
tischer ideen als in deduction von dogmen gipfelt. ^^
Auch in der philosophie ist ihm das scholastische spintisieren
mit begriffen in der seele zuwider, sein ausgangspunkt ist die an-
schauung, aus welcher man durch induction zu den begriffen
emporsteigen soll.^^ diese sind zu verarbeiten mit hilfe einer
^* so L. Pastor, geseliiclite der päpste seit dem ausgang des mittel-
alters, I bd., Freiburg B. 1886, s. 12 f.
^* *cans. corr. 2, 6 (VI, 89): cur potius vera et exacta latina (lingua)
haereses adferret, quam corrupta et neglecta? quasi non omnes paene
haereses e pravo sanctarum lilterarum intellectu iiascantur, quod necesse
est iis contingere, qui linguas eas ignorant, quibus scripturae sunt
proditae.
^^ in den streit über Vives' religiöse anschauungen mag ich nicht
eintreten, so viel ich sebe, trifift die obige ausführung das ricbtige.
Osiander (vgl. anm. 14), Lange, Heine versuchen ihm evangelische
tendenzen beizulegen, Francken s. 3 meint: 'geen der twee groote strij-
dende partijen noemde hem, ten volle bar eigendom', Eraam s. 176 und
Altmeyer s. 82 halten dafür, dasz vom anschlusse an die reformation
ihn (las mangelnde Verständnis tür dieselbe und seine friedensliebe ab-
gehalten haben, Kaiser s. 316, 320, 336, 342, 344 weist ausführlich seinen
katholicifämus nach, ich eitlere nur folgendes: caus. corr. 1, 5 (VI 41):
nunc quaecunque ab scholae placitis dissident, scbolastico theologo sunt
haeretica. in seiner Verteidigung des sprachsturiiums als ungetährlich
für den glauben fährt er fort caus. corr. 2, 3 (VI 89): auditis dialecti-
corum acnmen? (das sind die Scholastiker, welche zum beweise für ihre
bebanptung Luther angeführt haben.) quid? num non etiam Lutherus
dialecticiis, et Eophista , et theologus scholasticus? et quidem magia
quam Latinus . . . quae tuenda susceperat, dialectica et argumentatiun-
culis tutntus est, non Unguis, sed fac habere linguas: an quidquid vir
malus habet, protinus maliun est? nee unde venenum quidem sumit. ... etc.
sehr deutlich lieiszt es im eingangs seines letzten und grö.sten werkes:
*ver. fid. 1, 3 (VIII 22): ego vero niliilominus iam nunc initio profiteor,
sententiam mutaturum me, edoctum meliora: ecclesiae vero iudicio et
sto, et stabo scmper, etiam si mihi pro parte contraria apertissima
videatur facere ratio; ego enim falli possum, et fallor saepissime;
ecclesia in bis rebus, quae ad summam pietatis pertinent, nunquam
fallitur. — sein commentar zum Augustinus wurde, wie gesagt, auf den
index gesetzt.
3^ dar.stellungen seiner theologie liefern Braam und Francken.
3^ s. namentlich anm. 301.
F. Kuypers: Vives in seiuer pildagogik. 13
dialektik, welche sich der grenzen des denkens wohl bewust ist: es
geht nämlich ein starker skeptischer zug durch seine Philo-
sophie; nicht was wir wissen, nur was wir thun sollen, ist ihm
gewis.^^ in der dialektik schlieszt er sich Aristoteles, in der ethik
Plato im wesentlichen an; er ist nominalist, ohne sich an dem
streite gegen die realisten hervorragend zu beteiligen.'"'
Was Vives' rührigen und umfassenden geist bewegte, das hielt
er der Übermittlung an die mit- und nachweit würdig: er ist ein
äuszerst fleisziger Schriftsteller, es ist erklärlich , dasz seine
zahlreichen Schriften nicht alle das gepräge von lange durchdachten,
klar disponierten und knapp gefaszten abhandlungen tragen: er
schrieb mehr aus der fülle seines herzens und wissens heraus, und
so bieten sie ein bild frischer ursprünglichkeit und reicher manig-
faltigkeit.
In allen seinen anschauungen zeigt sich in hohem masze Selb-
ständigkeit des Urteils.'" er schlieszt sich nicht einer partei
an, sondern sucht selbständig seinen Standpunkt, den er, frei von
extremen, meistens auf einem mittelwege findet: ein grimmer feind
der Scholastiker und doch ein treuer söhn seiner kirche , ein be-
geisterter Verehrer der classischen Studien und doch ein höhnender
gegner humanistischer hohlheit, ein gründlicher reformator der
Wissenschaften und doch durchdrungen von ihrer Unzulänglichkeit,
ein scharfer tadler der kirchlichen misstände und doch betrübt
wegen der glaubensspaltung, ein scheltender prediger gegen lüge
und laster und doch alle mitmenschen umfassend mit gleicher liebe,
so steht Ludovicus Vives über den parteien jener streiterfüllten
epoche, ohne mit vielen seiner groszen Zeitgenossen grosze Ver-
götterung und grosze anfeindung geteilt zu haben.
^^ von hoher philosophischer besonneiiheit zeugen ausspiüche wie
diese: caus. corr. 1, 3 (VI 18): eruditio et artes . . . necesse est eadem
facie et natura prodeant, qua sunt ipsa ingenia, scilicet prava, detorta,
vitiosa; neque enim aliter eruditio ab ingenio unde manat, vel foimam
accipit, quam caseus a fiscella, vel naturara resipit ac vinum e dolio.
trad. disc. 4, 1 (VI 348j: nam quod nos verum esse pro certo possimus
confirmare, rarum est; 4, 6 (VI 375 f.): .. haud ignari, scientiam per-
raram esse, aut nullam potius, opinionibus stari . . . *ex animae intelli-
gentia et captu de omnihus feie statuimus, non ex rebus ipsis. *mor.
erxid. 5, 1 (VI 417): et profecto si quis rite expendat et reputet singula,
comperiet niliil certius a nobis quam pietatem nosci . . philosophia opi-
nionibus tota et coniecturis verisimilitudinis est nixa. an. et v. 2, praef.
(III 342): die psychologie bietet die grösten Schwierigkeiten propterea
quod supra mentem haue non habemus aliam , quae inferiorem possit
spectare ac censere.
■*" seine Vorläufer in der dialektik sind Valla und Agricola, auf ihn
stützt sich namentlich Ramus. näheres s. Ritter, gesch. d. christl.
philos. V, Hamburg 1850, s. 438 ff.
"•^ iudieium eins celebratur, quo inter III viros illos R. P. constituendae
litterariae eiusdem tempestatis excelluit, ut Budaeo ingenium, Erasmo
dicendi copia, Vivi iudieium tribueretur. bibl. hisp. cit. Pope-Blount
s. 365.
14 F. Kuypers : Vives in seiner pädagogik.
Vives' werke pädagogischen Charakters.
§ 5. Die für die pädagogik wichtigen Schriften unseres encyclo-
pädisten sind, in chronologischer reihenfolge genannt, diese: Löwen
1523: de institutione feminae christianae. 3 bücher (IV 65
— 301), der königin Katharina von England gewidmet: eine um-
fassende darstellung der bildung und des Verhaltens des weibes als
Jungfrau, gattin, witwe. für die pädagogik ist fast nur der erste
teil von bedeutung. neben manchen treölichen anschauungen enthält
dieses vom geiste der askese getragene werk forderungen, die dem
empfindungsieben des weibes nicht rechnung zu tragen scheinen. *'
Oxford 1523: de ratione studii puerilis. 2 kurze Unterrichts-
briefe (I 256 — 280), der erste für die prinzessin Maria von England,
der zweite für Karl Montjoie geschrieben, gleich.-am die grundzüge
seiner späteren pädagogik enthaltend. Brügge 1524: introductio
ad sapientiam , 592 lebensregeln (I 1 — 48), sehr häufig gedruckt,
in viele sprachen übersetzt und als 'goldenes büchlein' mit recht
gerühmt. Bi ügge 1531: de disciplinis, könig Johann III von
Portugal gewidmet, der erste teil umfaszt 7 bücher de causis cor-
ruptarum artium (VI 8 — 242), eine encyclopädische kritik der
Wissenschaften mit darstellung der gründe ihres Verfalls, ein epoche-
machendes werk von dauernder bedeutung. daran schlieszen sich
5 bücher de tradendis disciplinis (VI 243 — 4 16), die hauptquelle
seiner pädagogik; sie wollen die positive ergänzung des ersten
teiles liefern, den schlusz bildet die aus 2 capiteln bestehende ab-
handlung de vita et moribus eruditi (VI 416 — 437), welche das
Idealbild eines christlichen gelehrten entwirft.''^ Breda 1538:
exercitatio linguae latinae, eine reihe von lat. dialogen für
den gebrauch <les schülers (I 283 — 408), dem erbprinzen Philipp
(Philipp II) gewidmet; es hat die tendenz, den sprachumfang des
lateini.-chen für den modernen gebrauch zu erweitern, ist das ver-
breit etste buch des Verfassers und noch heute brauchbar. Brügge
1538: de anima et vita, 3 bücher (III 300—520), dem herzog
Franz von Bearn (Franz I) gewidmet, die psychologischen anschau-
ungen Vives' oft im anschlusse an Aristoteles durstellend.
Ausserdem finden sich pädagogische gedanken in folgenden
abhandlungen:
1519: in pseudo-dialecticos ; diese für Vives' leben bedeutungs-
volle Schrift ist ein kurzer scharfer angriS"auf die Scholastiker s. s. 6
(III 37 — 68). 1519: sapiens (inquisitio sapientis), eine kurze sar-
kastische darstellung des Pariser unterrichtsbetriebs in dialogischer
*2 von diesem vorwürfe dürfte Kaiser es vergebens frei zu sprechen
suchen.
^^ ich möchte in demselben Vives selbst sehen, ein dritter in der
Baseler ansp:. angeschlossener teil, eine Sammlung logisch-metaphys.
abhanilluiigfn, ist in besserer anordnung von Majans aus diesem zu-
sammenbange gelöst.
F, Kuypers: Vives iu seiner pädagogik. 15
form (IV 22 — 30). 1524: satellitium animi (satellitium vel sjra-
bola), 213 kurze Sprüche mit erklärendem texte für die prinzessin
Maria von England geschrieben (IV 30—64). 1526: de subventione
pauperum 2 bücber, s. s. 7 f. (IV 420 — 494). 1526: de officio
mariti, ein gegenstück zu de inst. fem. Christ. (IV 302 — 419).
1531: de ratione dicendi, 3 bücber (II 93 — 237), ein wichtiges,
neue auffassungen enthaltendes werk. vgl. § 49 f. 1541: de veritate
fidei christianae, 5 bücber s. s. 8 (VIII 5-458)."*
System der pädagogik.
Das object der pädagogik.
Die menschennatur im allgemeinen.''^
§ 6. Der mensch besteht aus leib und seele. ""^
Die seele ist ein unsterblicher geist", aus liebe von gott ge-
schaffen und bestimmt, durch liebe in ihn zurückzukehren/® aus
** unter den verloren gep^angenen Schriften werden erwähnt: de
constituenda (n. a. construenda) schola, de ratione linguarum, usus
linguae latinae. in absieht hatte Vives nach seiner angäbe de sapientia
christiana. vgl. N. Antonius s. 555, Paquot s. 123, Majans s. 169, 180 f.,
Nam^che s. 119.
*^ über die Stellung des menschen in der natur führe ich schema-
tisch an, was Vives weitläufig entwickelt: an. et v. 1, 1 — 12 (III 300 ff.).
rerum natura
torpida viventia
expertia praedita
cognitione cognitione
animal animal animal
senliens cogitans rationale
(stirpanimantia (bruta (homo
s. 300) s. 326) s. 329)
I i I
sensus sensus intelligentia voluntas memoria
exteriores interiores sive mens
(cognitio rerum (cogn. rer. (cogn. rer,
praesentium) alisentium) spiritualium)
imaginatio phantasia sensus communis 'hominis auiraa qua est
hominis' (s. 341).
die vollkommenere gattung schlieszt die eigenschaften der unvollkomme-
neren mit ein. an. et v. 1, 12 (III 335): nee immerito illud fere pla-
cuit, hominem parvum quendam mundum appellari quod vim naturamque
rerum omnium sit complexus. der mensch als mikrokosmos s. auch ver.
fid. 1, 5 (VIII 30), vigilia in somnium Scipionis (V 157).
*'^ off. mar. (IV 320): homo ex corpore constat et animo. ähnlich oft.
^^ beweise für die Unsterblichkeit der seele s. an. et v. 2, 19 (III 404 ff.),
ver. fid. 1, 1-2 (VIII 109).
^^ an. et v. 1, 12 (III 334): homo vero supra coelos etiaro ascendit
ad Deum ipsum; divina est ergo illius origo. trad. disc. 1, 4 (VI 256):
amor causa fuit condendi nostri. *ver. fid. 1, 11 (VIII 91): amore ...
impulsore nos condidit Deus, amore revocat ac reducit; amoris janua ab
16 F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik.
diesem endaiele entspringt als hauptvermögen der seele der wille,
die fäbigkeit, das gute zu begehren, das schlechte zu fliehen; velle
instar omnium. sat. an. 21 (IV 35). als Wegweiser dient dem
willen das erkenntnisvermögen und als 'Vorratskammer' für die
erworbenen erkenntnisse das gedächtnis.^' der wille des menschen
ist frei.^" der intellect besitzt die kraft der auffassung, der Zu-
sammenfassung und des Urteils.^' letzteres liefert die motive für
den willen.'^'' 'wie der erde eine gewisse kraft innewohnt zur her-
illo exivimus, eadem ipsa est revertenrlum. trad. disc. 1, 4 (Vi 255):
fiuis hominis quem aliuni possumus statuere quam Deum ipsum, aut ubi
potest homo beatius acquieseere quam in Deo velut absorptus et in
illum conversus. eadem via redeundum est nobis ad illum, qua egressi
sumus. vgl. das letzte buch von ver. fid. seine anschauungen über den
supranaturalistischen charakter des menschen systematisch bei Braam
§ 5-8.
^8 an. et v. 2, einl. (III 341): homini quod ad sempiternum illud
bonum sit conditus, facultas est tributa bona expetendi .. . quae facultas
voluntas nominatur; non expetet autem nisi intellegat, unde altera existit
facultas, quae intelligentia nominatur, quoniam vero auimus noster non
semper eadem in cogitatione insistit . . . receptaculo fuit illi opus, in
quod priora cogitata, aliis subeuntibus, conderet .... huic muneri me-
moria e.st nomen : ita hominis anima, qua est hominis, ox tribus constat
praecipuis sive functionibus. ebenso ver. fid. 4, l (VIII 366), hingegen
1, 5 (VIII 30 f.) anders. *trad. disc. 4, 3 (VI 356): in homine ins ac
imperium summum est penes voluntatem, ratio et iudicium velut con-
sultores sunt illi attributi. die begriffe anima als seelische kraft über-
haupt, lebenskraft, und animns als menschenseele unterscheidet Vives
fast consequent. weniger scharf sind die beueichnungen mens, animns,
intelligentia, iudicium, ratio etc. gegen einander fixiert, intr. sap. 5, 118 f.
(I 10 f.) gibt er folgende einteiliing der menschlichen Seelenvermögen:
mens, quae intellegit, merainit, sapit, ratione, Mudicio utitur ac valet . . .
qua alteris animantibus praestamus . . . aninius ex coniunctione cor-
poris . . sitz der iiäQr] . . qua nihil a beluis differimus et quam lon-
gissime discedimus a Deo. off. mar. (IV 320): in animo tamquam duae
sunt partes, superior in qua iudicium, con^ilium, ratio, quae mens di-
citur, inferior vero, in qua motus illi . . . quae Graece irdSr) nominantur.
vgl. auch ver. fid. 3, 2 (VIII 267), off. mar. 3 (IV 367).
^ ver. fid. 4, 1 f. (VIII 364 ff.) belehrt er die Muhammedaner über
die Willensfreiheit, ver. firl. 1, 10 (VIII 84). in ordinatioiie naturae
voluntates nostrae liberae. selir deutlich ver. fid. 1, 17 (VIII 130).
^' trad. disc. 2, 3 (VI 286): ingenii partes sunt acies ad intuendum,
capacitas ad coniprehendendum, collatio ad iudicium. auch liier ist er
nicht consequent: trad. disc. 1, 5 (VI 362) unterscheidet er blosz: vis
intuendi, quae dicitur mentis obtutus seu acumen, et eorum quae mens
aspexerit vis quaedam iudicandi, ac statuemli. an. et v. 2, einl. (III 343)
hingegen: ergo liaec in animo rationali mnnera, voluntas, memoria,
mens, et sub mente simplex intelligentia, consideratio, recordatio, col-
latio, discursus, censura seu iudicium, contemplatio.
'•''■' trad. disc. 1, 5 (VI 262): während die seele die weit, sich selbst
und gott betrachtet, wird dem urteile Stoff zugeführt: quae omnia . . .
accepta tradit iudicio, hoc vero alia aliis confert, et inter se et secum
ipsa; tum ostindit, quae utilia, quae noxia, quae neutra sint . . . illud
prius (vis intuendi) ad spectafionem soluni pertinet, posterius (vis iudi-
candi) ad ea quae sunt homini agenda. an. et v. 2, einl. (III 343):
voluntas autem nihil sequitur, aut fugit, quod iudiiium non ccnsuerit
F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik. 17
vorbringung von kräutern aller art, so sind die samen aller Wissen-
schaften gleichsam potentiell in unsere seele gelegt, auszerdera eine
gewisse geneigtheit für die ersten und einfachsten Wahrheiten, wo-
hin sie von selbst getrieben wird: wie der wille zu den offenbarsten
gütern, so der intellect zu den olfenbarsten Wahrheiten, ähnlich wie
das äuge zum grünen, das ohr zur harmonie.'^' das gedächtnis,
die fähigkeit der seele, das, was sie durch einen äuszeren oder
inneren sinn erkannt hat, festzuhalten, hat wie die band zwei ver-
mögen 'fassen' und 'behalten', welche nicht immer in gleichem
grade verbunden sind, die letztere kraft äuszert sich in 'schneller'
und 'treuer' reproduction.^*
Der leib ist einerseits der dankle kerker der seele, der die
völlige erkenntnis gottes und die gänzliche hingäbe an ihn hindert
und die einsieht in die metaphysische Wesenheit der dinge ver-
schlieszt", anderseits ist er es, der durch die sinne erst die auszen-
welt vermittelt, darum ist er bedeutungsvoll für die seele; denn die
sinnliche anschauung ist die grundlage aller erkenntnis; ohne
die betrachtung der natur durch die sinne ist Wissenschaft unmög-
lich, die sinne liefern das einzelne, von welchem aus die seele sich
zu allgemeiner, begrifflicher erkenntnis auf dem wege der induction
erhebt. ■ ® die i n t e 1 1 e c t u e 1 1 e fähigkeit des menschen ist von seiner
körperlichen beschaflfenheit wesentlich abhängig, welche ihrerseits
wieder hauptsächlich durch die ernährung bestimmt wird, ins-
besondere ist der zustand des gehirns ausschlaggebend, vor allem
priiis bonum esse, aut malura. intr. sap. 6, 122 (I 11): idcirco raenti
indita est vis intellegendi ut singula expendat , sciatque quid factu
bouum Sit qnid secus. ähnlich intr. sap. 6, 123 (I 11) und öfter.
53 *trad. disc. 1, 2 (VI 250): ... ad prima illa ac simplicissima
pronitas quaedam, quo nutu suo fertur, ut ad manifeslissima bona vo-
luntas , ad mauifestissimas veritates mentis acies. vgl. ebenda velut
potestate quadam sunt indita semina mit trad. disc. 3, 5 (VI 324):
nullum est enim humanum ingenium .... quod non semina artium
omnium quaedam a natura acceperit, sive re ipsa illinc sint ea, sive
potestate, de quo non dispute, s. auch de instrumeuto probabilitatis
1 (III 82), an et v. 2, 4 (III 357).
s* an. et v. 2, 2 (III 345): memoria est facultas anirai, qua quis
ea quae sensu aliquo externo aut interno cognovit, in mente continet.
an. et v. 2, 2 (III 346): memoriae sicuti et manus duae sunt vires, ap-
prehendere et retinere . . . quae duae partes, ilico et bona fide reprae-
sentare, illius sunt quod retinere nominavi. als eigenschaften eines
guten gedächtnisses nennt er trad. disc. 2, 4 (VI 291) : facile percipere
et fideliter continere nach Quintilian, dem er sich überhaupt in der
lehre vom gedächtnis anschlieszt. vgl. § 14 f.
55 *vigilia in somnium Scipionis (V 156): est enim corpus hominis,
seu amiculum , seu vincula, seu carcer, seu quo alio appellari übet
nomine, s. a. anm. 175. über die angedeutete auffassung im sinne der
Pythagoreer und Piatons s. ver. fid. 1, 17 (VIII 127).
58 *trad. disc. 4, 1 (VI 348): hi (sensus) sunt enim ad cognitionem
omnem aditus. *1, 1 (VI 250): quidquid nunc est in artibus, in natura
prius fuit, non aliter quam uniones in concha, aut gemmae in arena.
näheres über Vives' inductionslehre s. anm. 301 f.
N. jahib. f. phil. u. päd. II. abt. 1897 lift. 1. 2
18 F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik.
ist es aber das gedächtnis, dessen gute von der des gehirns abhängt."
der connex zwischen leib und seele läszt ferner einen bedeutenden
einflusz auf die affecte der letzteren durch körperliche zustände
zu.*® die quelle des lebens ist nicht das gehirn sondern das herz.'"*
Durch den misbrauch des freien willens im sündenfalle ist der
wille zum bösen geneigt, die erkenntnis geschwächt, und so die ur-
sprüngliche harmonie im menschen gestört, die dona supernaturalia
sind ihm verloren gegangen, die möglichkeit ihrer Wiedererlangung
ist durch Christus einem jeden geboten worden, die Prädestination
ist zu verwerfen, da der gebrauch jener möglichkeit der freiheit des
einzelnen anheim gestellt ist. die erziehung soll dabei behilflich sein.^°
" *trad. disc. 3, 4 (VI 319): victns ratio et ad mentis aciimen et
vigorem memoriae plnrimum in omnem partem confert; 2, 3 (VI 288):
expedit iis, qui tenuissimos habeiit ac lucidissimos Spiritus, incrassari,
ut ingeniis praeacutis, ne quo non oportet evolent. diese erwägung soll,
nach Vives' Vermutung, Piaton bei der wähl des ortes für seine Aka-
demie bestimmt haben. — an. et v. 1, 12 (III 340): (instrumentiim) ad
videndura enim ocjulus^ ad audiendum auris . . . intelligentiae quidem, et
cognitionis omnis, cerebrum, et in eo spiritus quidam tenuissimi, ac
pellucidi. trad. dise. 2, 3 (VI 288): sin vero acuitur et augetur prae-
sertim circum cerebrum, insaniunt. — an. et v. 2, 2 (III 346): memoriae
sedes ac velut fabrica , in occipitio est a natura coliocata, admira-
bili sapientia, quod praeterita cernat . . . apprehendunt facile qui humido
sunt cerebro . . . biliosi ad retinendum sunt aptiores, ubi semel appre-
henderunt . . . iuvenes propter calorem, et humores puriores, plus pol-
lent memoria, quam senes; ähnlich s. 347; s. 348: difficile item rccipiunt
qui in occipitio frigidos habent humores, ac proinde duros, quorum est
natura ad impressionem saxea.
^»^ trad. disc. 2, 3 (VI 288 f.): daselbst werden unter der Überschrift:
ingeniorum mira varietas osteuditur die einflüsse äuszerer und körper-
licher zustände auf das Seelenleben weitläufig dargestellt, vgl. anm. 100.
^'^ *an. et v. 1, 12 (III 340): vitae autom fons est cor . . . multa
quidem in animante sunt membra et intus et foris . . . cuiusmodi sunt
Caput, cor, hepar . . . non tamen ideo fontes sunt vitae illa omuia, sed
cor, quod primum in corpore animantis vivit . . ultimum emoritur. be-
weise ebenda.
"" ver. fid. 1, 3 (VIII 15 f.): mens nostra natura expetit vera, vo-
luntas bona ... et quanta est facta inclinatio a veritate ad fabulas, a
bono in malum? degeneravit ergo natura nostra a recta sua condi-
tione ac via. trad. disc. 2, 3 (VI 287) : neque enim dubitandum est,
minus nos nunc valere ingenio, quam ante primum illud scelus; at nunc
astutiores sumus in flagitiis. off, mar. (IV 307): ipse peccato sno et
virtutum semina corrupit, et lucem illam ingenii obscuravit. trad. disc.
5, 3 (V^I 402): nee dubitandum est, quin ea ordinatio (näml. corpus de-
bere ohsequi animo, in animo vero motus rationis expertes rationi ipsi
dominae ac iraperatrici) in homine fueril, quum ille primum e manibus
artificis exiret sibi relictus . . . sed enimvero omnia sunt per scelus in-
versa, ut superiores partes deposcat sibi inferius . . . haec est aeterna
in homine militia. vgl. damit fem. christ. 2, 11 (IV 262): caro peccati
proclivis in malum a sua origine. — über die weitere bedeutung der
erbsünde bei Vives s. Braam s. 80 f., Francken s. 82 f. , die ihre aus-
fühningen hauptsächlich stützen auf ver. fid. 1, 15 (VIII 113 ff.). —
off, mar. (IV 307 f.): caligo haec cordis (näml. die durch die erbsünde
veranlaszte) doctriua discutitur atque illustratur, et prava animi procli-
vitas moribus et consuefactione in melius flectitur; sed huic tarn laesae
F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik, 19
Die kindesnatur im besonderen.
§ 7. Der mensch durchlebt von seinem ersten anfange bis zum
greisenalter gleichsam alle drei arten organischen lebens, als pflanze,
tier und mensch, den Übergang von der zweiten zur dritten bilden
die hauptsächlich der erziehung gewidmeten kinderjahre. der ver-
stand ist dann schwächer, das gedächtnis stärker, der wille bieg-
samer als bei erwachsenen."' daraus entspringen Unselbständigkeit,
empfänglichkeit, nachahmungstrieb und hang zu gewohnheiten.®^
Die Individualität.
§ 8. Der mensch hat sowohl dem leiblichen und geistigen zu-
stande wie auch den äuszeren Verhältnissen nach individualcharakter,
welcher bei erziehung und Unterricht im höchsten grade zu be-
rücksichtigen ist."
Die aufgäbe der pädagogik.
§ 9. Den menschen seiner überirdischen bestimmung entgegen,
zu führen, das ist die hauptaufgabe der erziehung. allein es sind
ac vitiatae naturae opus est cura, tempore, labore, assiduitate; * (IV 322):
summa haec est: hominem semper futurum hominem, hoc est animal
imbecillum . . . proclivitate malum, quod disciplina emendatur. exerc.
1. lat. dialog princeps puer (I 372) wird dem juugen Philipp II als zweck
der Unterweisungen vorgehalten: non quo te reddant mancipium, sed
ut vere liberum, et vere principem, quibus si non obtemperaveris tum
demum servus eris extremae <'onditionis,
6* an. et V. 1, 12 (III 339): infans, dum corporatur in utero nihil
fere distat ab stirpe, natus autem a bruto , et quemadmodum Paulus
inquit, vivit prius quod est animale, hinc quod est ratione praeditum.
exerc. 1. lat. dial. prima salutatio (I 285) fragt der vater seinen söhn,
ob er mehr sein wolle, als der hund , mit welchem er spiele, auf die
bejahende antwort des kleinen erwidert jener: fiet, si eas, quo eunt
beluae, redeunt homines ... in die schule. — trad. disc. 3, 2 (VI 309)
stimmt Vives Quintilian bei, wenn dieser den geist des kindes einem
weiten gefäsze mit enger mündung vergleiclit, das zwar viel, aber dieses
nur tropfenweise aufnehmen kann. *trad. disc. 3, 3 (VI 310): multa
ei (memoriae) commendentur cum cura, nam illa aetas laborem non
sentit, quia non expendit; ita extra laborem omnem dilatatur memoria
et fit capacissima . . . quod viris operae censoribus esset subacerbura,
puerili aetate est etiam saepenumero suave; 2, 4 (VI 293): dici non
potest quot pravas affectiones pueri iraprudentes hauriant, nihil existi-
mantes inesse flagitii; at eas quum notiores iam conantur depellere,
difficile admodum suscipiunt negotium; egerunt enim radices, et crebro
suppullulant.
^2 trad. disc. 2, 2 (VI 280) spricht er vom cereum ingenium der
kinder (Horaz). stud. puer 1(1 258): durantque in reliquam vitam quae
ista aetate percipiuntur. trad. disc. 2, 2 (VI 279): res est consuetudo
dulcissima et opiuiones illa aetate acceptae diutissime nos in reliquum
vitae prosequiintur ... ad haec sunt pueri naturaliter simii , imitantur
omnia et semper, eos praecipue quos propter auetoritatem, et quam
illis habent fidem, dignos imitatione iudicant. ähnlich 2, 3 (VI 290);
2, 4 (VI 293); 4, 4 (VI 367); ofif. mar. 2 (IV 357).
^^ der Individualität schenkt Vives ganz hervorragende beachtung.
vgl. die besprechung der einzelnen Unterrichtsfächer und anm. 299.
2*
20 F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik.
auch seine irdisclien ziele eifrig zu fördern, soweit es unbeschadet
der himmlischen geschehen kann, das ist vorwiegend sache des
Unterrichts.*' pietas und utilitas zu fördern , ist somit die
aufgäbe der pädagogischen thätigkeit. ^'^
Dabei bedeutet pietas moralität, tugend. utilitas ist nicht
materiell zu verstehen, sonst aber im weitesten sinne zu fassen, geld,
sorgenfreies leben, rühm gehören nicht, foi-male und schöngeistige
bildung, Unterhaltung gehören wohl zu den zwecken des Unterrichts.*^
§ 10. Das erste ziel ist dem zweiten übergeordnet; dai'um
sind vom unterrichte auszuschlieszen alle die Wissenschaften und aus
^' ich wähle diese ausdrücke a parte potiori; natürlich ist auch
der Unterricht erziehend, die erziehuno^ unterrichtend, erziehung ver-
stehe ich hier im engern sinne als erziehung des willens zur moralität.
(vgl. § 12). erziehung im weiteren sinne umfaszt die formale ausbildung
der Seelenkräfte, wozu auch die lebenserfahrung gehört, im gegensatze
zu deren materialer bereicherung, welche vorwiegend durch den Unter-
richt erfolgt, es musz theoretisch geschieden werden, was in praxi
meistens nicht zu scheiden ist. es scheint, dasz auch Vives dieser
unterschied vorschwebt, wenn er sagt: *an. et v. 2, 8 (III 372); dis-
ciplina est duplex, altera est appositio qualitatis in animo ut cum lingua
nova traditur . . . altera est eductio ingenii de potestate in actum . . .
ut nihil videatur aliud docens agere, quam quod sol, cum vi sua pro-
fert ex seminibus gerniina, proditura alioqui per se, sed non tarn feli-
citer, nee tarn cito, (ersteres Unterricht, letzteres erziehung.)
^'^ *trad. disc. 1, 4 (VI 261): welche Wissenschaften soll der christ
treiben? quaenam aliae nisi quae ad finem pertineant vel huic vitae,
vel sempiternae necessarium? nempe quae vel pietatem excolant, vel
vitae necessitatibus succurrant, vel certe utilitatibus, quae a necessi-
tate non multum disct-dunt; pietatem porro vel nostram ipsorum dico,
vel alienam, quemadmodum etiam nucessitates. ferner 4, 1 (VI 347, 348)
und oft bei den einzelnen Unterrichtsfächern, vgl. anm. 32. exerc. 1. lat.
dial, scriptio (I 320): disce puer, quibus fias sapientior et proinde melior.
^^ die ausdrücke pietas, religio, virtus werden von Vives häufig
identisch gebraucht, es ist das rechte verhalten sich selbst, den men-
schen und gott gegenüber, das wir gemeiniglich ^tugend' nennen, intr.
ßap. 3, 18 (I 3): virtutem voco pietatem in deum et homines, cultum
dei , et amorem in homines voluntatemque benefaciendi; 6, 134 (I 12):
. . . virtutem, hoc est recte agere. dasz sie ihm als höchstes ziel vor-
schwebt, geht schon aus den zahlreichen lobpreisungen der virtus in
intr. sap. und satell. an. hervor, es ist vorwiegend praktisches
handeln, nicht theoretische Weltanschauung ziel seiner pä-
dagogik. intr. sap. 3, 35 (I 4): porro in ipso animo eruditio in hoc
paratur, ut cognitum Vitium facilius fngiamus, cognitam virtutem fa-
cilius persequamur, teneamusque, alioqui supervacanea est. an. et v.
1, 12 (III 332): nee qui iussit, ut ipsi nos nossemus, de essentia animae
sensit, sed de actionibus ad compositionem morum, ut vitio depulso
virtutem sequamur. daher die wenigen dogmensätze im religionsuntcr-
richte, die vielen sittlichen Vorschriften, der besondere moralunterricht.
vgl. § 31. über die zwecke des Unterrichtes vgl. trad. disc. 2, 2 (VI 278):
iani vero quum ad scholam deducetur puer a patre, ostendatur patri non
litteras debere quaeri velut instrumentum, quo paretur otiosus victus.
2, 3 (VI 285, 286): quum deducetur ad scholas puer, sciat pater quem
tandem existimare debet fructum laboris studiosi, videlicet non honorem
aut pecuniam , sed animi culturam , rem eximii atque incomparabiiis
pretii, ut doctior fiat iuvenis et per sanam doctrinam virtute melior.
F. Kuyijers: Vives in seinei- pädagogik. 21
allen Wissenschaften die punkte, welche die tilgend gefährden." ist
dieses nicht ganz durchführbar, wie z. b. bei der lectüre der classiker,
so tritt als gegengewicbt für diese zeit ein besonderer moralunter-
richt ein. ®'
Das zweite ziel darf, obgleich es untergeordneter natur ist,
durchaus nicht aus dem äuge gelassen werden.®^ zu erstreben ist,
dasz die Wissenschaft beide ziele verfolgt, um ihrer selbst willen,
ohne rücksicht auf unseren irdischen oder überirdischen vorteil, wird
keine Wissenschaft betrieben.'"'
§ 11. Dem ganzen menschen, seinem sittlichen, geistigen und
leiblichen zustande, soll der erfolg zu gute kommen, auszer den
Interessen des individuums kommen bei der gestaltung von unter-
" trad, disc. 1, 2 (VI 248): sola utique pietas via est perficiendi
hominis; quare haec una est rerum omnium necessaria: sine ceteris
expleri potest homo . . . sine hac non potest; *1, 4 (VI SGI'): nunc autem
quae artes Cbristianis congruant, salva pietatis suae custodia, osten-
damus. nam haec quod snepe diximus, saepe est enim dicendum, prima
semper debet ante ocnlos obversari, nee ab illa mentis intentione dimo-
vendum; 2, 4 (VI 296): pietas est quo referuntur omiiia. intr. sap. 3, 17
(I 3): regjna et princeps rerum omnium praestantissima est . . virtus;
cui reliqua omnia, si suo velint officio defungi, ancillari oportet, vgl.
satel!. an. 7, 8, 9, 14, 45, 46, 47, 73, 74, 100 usw. (IV). *trad. disc. 2, 1
(VI 276) sogar: doctrina enim, cui non respondet vita, res est perni-
ciosa ac turpis. — *intr. sap. 6, 124 (I 11): igitiir fugiendae artes omnes,
quae cum virtute pugnaut, quales sunt divinatrices omnes . . . ut chiro-
mantia, pyromantia, necromantia, hydromantia, etiam astrologia. trad.
disc. 1, 4 (VI 259): . . . velut inquisitio rerum naturae, rerum recondi-
tarnm, quae vel locis secretis occultantur vel temporibus venturis in-
volvuntur, quas dominus sibi uni reservavit . . . libri in quibus contra
veritatem se armat ingenium . . . tum multa in poetis, pleraque omnia
in cantiunculis ac libris vulgaribus Unguis conscriptis. intr. sap. 6, 131
u. 132 (I 12) werden ketzerische und schmutzige auctoren verboten,
durch seine abneigung gegen mantiscbe künste unterscheidet sich Vives
vorteilhaft von bedeutenden gleichzeitigen und späteren pädagogen.
^5 *trad. disc. 3, 6 (VI 330): sed quieunque auctores enarrabuntur
(bei der classikerlectüre) semel atque iterum per hebdomades singulas
de moribus andient nonnulla, quae vitiis auditorum medeantur, vel ut
pellantur, vel ut ne invadant atque invalescant.
^'^ trad. disc. 1. 4 (VI 259): sed quamvis nulla eruditio et peritia
pietati non serviat ex se, non hoc tarnen est considerandum unum, sed
quid nobis conducit; *1, 6 (VI 268): reete Galenus artes illas nuncupari
non patitur, quae utilitatis nihil adferant vitae , quare tametsi nonnul-
larum artium finis est, sicut ostendi, contemplatio, ea tarnen sui ipsius
finis esse non debet, sed ulterius in usum aliquem progredi; quod si
arti alius non est propositus scopus certe alium esse convenit artificis.
''° so sollen z. b. die naturwissensch;iften dienen: trad. disc. 1, 6
(VI 268): vel ad vitae commoda vel ad suspectum atque admirationem
auctoris oder 4, 2 (VI 353): institutor . . . omnem de natura commen-
tationem ad mores excolendos referat, ut animos ad virtutem fingat. im
allgemeinen gilt *trad. disc. 2, 2 (VI 278) . . . ut sapientior fiat iuvenis,
ac inde melior; 2, 3 (VI 286): . . . ut doctior fiat iuvenis, et per sanam
doctrinam virtute melior. intr. sap. 6, 134(1 12): reliqua eruditio niunda
est et frugifera, referatur modo ad suuin scopum, virtutem. — * trad. disc.
1, 4 (VI 259): . . . quandoquidem artes ac diseiplinas non propter ipsas
discimus, sed propter nos. s. aum. 32, 184, 275.
22 F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik.
rieht und erziehung in frage die der familie, der gemeinde, des
Staates. ■" tota reliqua vita ex hac puerili educatione pendet. intr.
sap. 1, 10 (I 2).
Die zweige der pädagogik.
Erziehung des willens.
§ 12, Das ziel der erziehung des willens ist tugendhaftig-
keit.'^ da der wille des menschen zum bösen neigt, so ist zu-
nächst ein prophylaktisches mittel nötig: entfernung der ge-
legenheiten und Überwachung." hieran schlieszen sich als positive
einwirkungen gewöhnung zum guten ^\ belehrungen über das-
selbe ^^ vor allem das beispiel des lehrers.'* wegen der schwäche
der menschennatur musz als Unterstützung hinzutreten lohn" und
''^ trad. disc. 1, 3 (VI 255): exitum disciplinae voco id quod ea in
discipulo suo exercet, vel in aliis discipulus per eam, nempe ut animo
fiat melior, peior, prudentior, stultior, in corpore validior, infirmior,
pulchrior, deformior, aliquou denique ex tribus Ulis commodorura aut
incommodorum generibus vel sibi paret, vel aliis. — * V^ives Henrico
VIII (V 170): quamobrem aut ego vehementissime fallor, aut principibus
et magistratibus, quo populns dicto sit cum magna reipublicae quiete
ac Salute audientior, nihil magis expedit quam teneram statim aetatem
curare rectis ac sanis opinionibus imbuendam, ut sciant, qui sit usus . .
uniuscuiusque rei . . quanti aestimanda etc. auch sonst oft angedeutet.
'* vgl. anm. 64 f.
" der entfernung der gelegenheiten soll schon bei der wähl des
ortes für die anstalt rechnung getragen werden, vgl. anm. 133. trad. disc.
3, 4 (VI 319): omnia fiant (beim spiele) sub oculis seniorum aliquot qui
illis siiit venerabiles .... adolescentes ne subducant se , nam vel po-
tabunt, vel magnas sponsiones ludent, vel scortabuntur, ut cuiusque erit
ingenii proclivitas.
''* trad. disc. 2, 4 (VI 293) : quandoquidem assueta omuia sunt iucunda,
quae vecordia est, non assnescere optimis! intr. sap. 1, 8 (1 2): et ea
cupiat quae recta sint: fugiat quae prava; ut assuefacto haec bene
agere, vertat ei prope in naturam: ut non possit nisi coactus et re-
liictans, ad male agenduni pertralii; 1 , 9 (I 2): eligenda est optima
vitae ratio: hanc consuetudo iucundissimam reddet. vgl. anm. 62.
^^ trad. disc. 3, 4 (VI 318): oft sind dem unterrichte belehrungeu
über gott und den tod einzustreuen sowie prägnante Sprüche gegen die
einzelnen laster der jugend. dazu kommt der besondere moralunterricht.
es ist dabei zu beachten: quae de moribus audiunt, ne ita accipiant,
ut historiolam quampiam quam satis esse, andivisse; hunc esse ani-
morum pastum saluberrimum, concoqui et digeri oportere, et in animi
substantiara converti; quod ni fiat, ut cibum in corpore, ita res morales
animo officere.
'« trad. disc. 2, 1 (VI 274): prima est ea cura nihil ut dicant aut
faciant unde in auiiitorem malum. weiteres über das beispiel des
lehrers anm. 151.
" als regeln für die belohnung gelten: disc. 3, 4 (V^I 315): puerili
aetati praemiola, laudesque, tamquam lusus permittuntur, quae ado-
lescentibus nugas esse pueriles demonstretur . . . ut erubescant ipsi
eadem expetere, qui iam pueritiae nomen exuerunt. *mor. erud. 2 (VI 432):
in scholis, et tota vita, qiiantumcunque ob ingenium, iudicium, Studium,
eruditionem multiplicem, cognitionem variarum rerum late patentem,
laudetur quis , de virtute certe ac piet^te laudari coram non oportet,
F. Kuypeis : Vives in seiner pädagogik. 23
strafe.''- klugheit und humanität sind bei ihrer anwendung nicht
zu vergessen.
Bildung des Verstandes.
§ 13. Die formale bildung des Verstandes oder die lebensklug-
beit ist das resultat von Urteilskraft und erfahrung. "
Die rechte urteils kraft, d. i. der gesunde menschenverstand,
besteht darin, dasz man den dingen ihren vpahren wert beimiszt. ®''
sie ist nächst der tugend das höchste gut, indem sie zur erlernung
der Wissenschaften wie zur rechten lebensführung unerläszlich ist/'
schon im kindesalter soll sie ausgebildet werden.'^
ne levi illa extollatur aurula, et id ipsum bonum, de quo laudatur, dum
laudatur, amittat.
^^ für die bestrafung gilt: trad. disc. 3, 4 (VI 317 f.): nullo modo ita
se gerat (magister), ut assuefaciat pueros minas aut reprehensiones suas
contemnere . . . nee convicia ingeret in puero . . castigando verbis, et
cum opus est verberibus, ut belluarum more revocet eum dolor, cui
ratio non est satis . . . ^vapulet sie tarnen ut tenerum adhuc corpusculum
acriter in praesens doleat, nihil deinceps sentiat incommodi . . . libera-
lem hanc castigationem esse malim, non asperam, aut servilem, nisi
eiusmodi sit ingenium; .... 3, 4 (VI 317, 318): grandiusculi coercendi
quidem rarius plagis, interdum tarnen; plerumque vero metu ac reve-
rentia praeceptoris, et gravium virorum de academia . . . hinc respectu
patris aut propinquorum ; *3, 4 (VI 316): sed in percipienda eruditione
aliquid forte espediat dissimulari . . . mores certe omni vitio immunes
esse convenit. man vergesse nie: nihil adeo esse praeposterum, ut
fructum iam tum maturum exigere quum arbores germinare primo vere
incipiunt.
''" vgl. namentlich das fünfte buch von trad. disc, wo es sich haupt-
sächlich um solche handelt, die einem gemeinwesen vorstehen sollen,
trad. rlisc. 5, 1 (VI 386 f.) : duabus autem ex rebus prudentia nascitur,
iudicio atque usu rerum . . . alterutrum cui desit, prudens esse non
potest . . . *nisi aliquando ipse obeas quantumcunque exposita habeas,
et pereepta, nunquara tarnen recte exequeris , .. iam exercitatio per
se ac usus nisi regatur iudicio, proficiet quidem nonnihil, sed manca
erit prudentia haec, et saepenumero . . . infirma et inutilis. ebenso de
conscrib. epist. 1 (II 265).
*■" *intr. sap. 1, 1 (I 1): vera sapientia est de rebus incorrupte
iudicare; *1, 2 (I 1): nihil est in humana vita exitiabilius quam depra-
vatio illa iudiciorum, quum rebus non suum pretium redriitur. caus.
corr. 1, 5 (VI 40^ spricht Vives ausführlich über die verderblichkeit
der Unterdrückung des selbständigen Urteils, recipit, assentitur, affi-
citur priusquam possit iudicare ist ein liauptfehler bei der scholastischen
methode,
*>' intr. sap. 3, 73, 74 (I 7): nicht armut usw. ist das schlimmste
übel, sed vitia (existimo) et his proxima, inscitiam, stuporem , demen-
tiam. magnum bonum credito horum contraria virtutem et quae huic
sunt finitima, peritiam, acumen iLgenii, sanitatem mentis. caus. corr.
1, 5 (VI 40): . . iudicio . . . non solum in tractanrtis artibus bono, sed
in tota vita. off. mar. 1 (IV 316): rector humanae vitae est mentis
iiidicium quod si in omni nostra actione non antecedit, in magna inci-
dimus discrjmina.
62 *intr. sap. 1, 7 (I 2): assuescat unusquisque iam tum u puero,
Veras habere de rebus opiniones , quae simul cum aetate adolescent.
24 V. Kuypers : Vives in seiner pädagogik.
Mittel dazu sind: zuerst die loslösung von der meinung der
menge, dann die richtige beschäftigung mit den Wissenschaften,
vor allem mit der logik (instrumentum veri inveniendi), rhetorik,
grammatik, verständige lectüre und endlich die erfahrung selbst. ^^ be-
sonders sollen als lectüi-e diejenigen Schriftsteller dienen, welche eine
hervorragende Urteilskraft besaszen: Plato, Aristoteles, Demosthenes,
Cicero, Quintilian, Plutarch, Origenes, Chi^sostomus, Hieronymus,
Lactantius.^*
Die erfahrung ist unsere eigne oder fremde, die eigne 'ge-
winnen wir durch die zeit und durch die praxis', die fremde ver-
mittelt uns das Studium der geschichte. historia si adsit ex pueris
facit senes, sin absit ex senibus pueros. trad. disc. 5, 1 (VI 388).®^
Ihre anwendung soll diese verstandesbildung finden weniger
in der erstrebung materieller als in der idealer guter: geistiger und
sittlicher hebunff seiner selbst und anderer.^®
Bildung des gedächtnisses,
§ 14. Studium und erfahrung wären unnütz, wenn der mensch
nicht in dem gedächtnisse eine Vorratskammer besäsze, aus welcher
er die erworbenen erkenntnisse nach bedarf entnehmen kann, wegen
stud. puer. 1 (I 265): assuescat iam nunc in hac tenera aetate veras
et incorruptas habere opiniones, ut ea sola bona putet, quae vere sunt
talia, velut virtutes et eniditionem , ea mala, quae re vera mala, ut
vitia, et ignorantiam, et stultitiam.
^"^ intr. sap. 1, 5 u. 6 (I 2); nee aliud magis laborandum est quam
ut sapientiae studiosum a populari sensu abducamus et vindicemus.
primum omnium suspecta Uli sint, quaecunque multitudo magno con-
sensu approbat. *caus. corr. 1, 5 (VI 41): ah quanto se fructu discipli-
narum fraudant, quod semper aliis credunt, uunquani ad se ipsi rever-
tuntur, nee se vocant in lonsilium ut exaniinent euiusmodi sint, quae
tanta cura addiscuut! trad. disc. 5, 1 (VI 388): iudiciimi . , excoii
potest . . . instruinento veri inveniendi, quo patetit quid in quaque re
vel verum sit, vel eius simile . . . dicendi etiam ars, recta percepta,
magnum adferre iudicio adiumentum potest, usus etiam, quod est al-
terum prudentiae merabrum, plurimum confert censendi facultati, ut
manus manui. caus. corr. 2, 1 (VI 79j : ergo grammatici officium est,
OS pueri , et manum formare, hinc intelligentiam, ut ad ceteras artes
remittatur maximis adiumentis fultus eorum scriptorum, quos sub gram-
matico viderit. *,stud. puer. 2 (I 277): ex intelligentia unius aut alterius
auctoris . . . adliibito non segni et inerti studio multi sunt aiii cogno-
scendi . . . ut nuUus sit liber, qui probe intellectus non sit ad alios
complures intelligendos magister, adhibeatur modo iudicium, et audita
praesentibus conferantur: nee de nihilo est quod dicitur, libro librum
aperiri.
84 trad. disc. 5, l (VI 388) : lectione eorum auctorum, qui plurimum
bono illo valuerunt etc.
85 trad. disc. 5, 1 (VI 388): experimenta nostra accedunt aetate, et
rerum actibus; aliena ex cognitione prioris memoriae discuntur, quae
historia nuncupatur. vgl. auch 1, 5 (VI 262). über den didaktischen
zweck des geschiciitstudiums siehe des weiteren § 60.
86 vgl. trad. disc. 5, 1 (VI 387).
F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik. 25
dieser Wichtigkeit des gedächtni.-ses ist eine besonders sorgfältige
pflege desselben notwendig. ^^
Die grundbedingung derselben ist rechte ernährung und
pflege des körpers, von dessen Wohlbefinden das gedächtnis
wie keine andere seelenkraft abhängig ist. ®^ hauptmittel zur aus-
bildung des gedächtnisses ist dessen tägliche Übung; die kraft des
Verstandes wird durch Unterbrechung und ruhe nicht vermindert,
jedoch wohl die des gedächtnisses/®
Die wesentlichste stütze des gedächtnisses bietet die asso-
ciation der ideen. sie ist eine willkürliche oder unwillkürliche,
logische anordnung des Vortrags , fassung der regeln in versform,
benutzung der phantasie erleichtern dieselbe. '" aber auch eine ge-
fahr birgt sie in sich: Verwechslung von ähnlichem.^'
Verständnis erhöht die Schnelligkeit der auffassung, aufmerk-
" trad. disc. 1, 5 (VI 263): parixm quippe magnarum et multarum
rerum proficeret cogfnitio atque experimentum, nisi esset ubi haec con-
servarentur ne efflnerent, ut quum opus esset, praesto adessent. stud.
puer. 2 (I271): memoriam scito tliesaurum esse totius eruciitionis, quae
si desit, non secus supervacuus est omnis labor, quam si in pertusum
dolium aquam infiindas.
'''* *an. et V. 2,2 (III 347): memoriae plnrimum confert naturalis
contemperatio corporis . , . adiuvat.ur tota ratione victus, cibis, potio-
nibus, exercitamentis, quiete, somuo, raoderatis, et ad facultatis illius
instrumenta accommodis. stud. puer. 2 (I 271): continetur etiam me-
moria bona valetudine, cavendumque imprimis a repletioiie, a cruditate,
a crapula, a vino immodico, a densa cerevisia, a supino cubito. vgl.
intr. sap. 6, 180 f. (I 15).
^^ stud. puer. 1 (I 271): nemini tam infelix contigit memoria, qui
non eam felicissimam possit reddere exercitatione . , . quocirca aliquid
quotidie ediscendum est, etiam quum non est necesse; 1 (I 258): me-
moriam quotidie exerceat, ut nullus sit dies in quo ipsa [näml. die
princessin Maria von Eng-land] aliquid non ediscat. an. et v. 2, 2
(III 348) : exercitatione et meditatione crebra magnum memoria sumit
robur . . . nee est uUa in toto animo funetio, quae perinde cultum suum
desideret; ingenii munia non finnt quiete et cessatione deteriora, saepe
etiam renovantur . . . memoria si non excerceas hebesclt.
äo über sie spricht er mit groszer ausführlichkeit und feiner be-
obachtung an. et v. 2, 2 (III 348 ff.), das wesen derselben bezeichnet
er kurz 2, 2 (III 350): ut ex re minore veniat nobis de maiore in men-
tem saepius, non e contrario; 2, 2 (III 349): facilia sunt ad recorda-
tionem ordiue notata, et praescripta ... versus quoque ad memoriae
fidelitatem conducunt, propter ordinem compositionis, et structuram non
temere vagantem, sparsamque , sed certis limitibus conclusara ..,. vi-
cissim temere effusa, vel dissolute congesta, difficile est et capere , et
continere . . . quae simul sunt a phautasia comprehensa, si alterutrum
occurrat, solet secum alterum repraesentare. Vives geht bis an die
grenze mnemotechnischer kunststückchen , die bald darauf bei Alstedt,
Andreii u. a. so beliebt wurden.
^^ die Verwechselung ähnlicher Vorstellungen kann drei quellen
haben: an. et v. 2, 2 (III 350): vel in prima attentione nascitur , . .
vel in ip.sa memoria ... vel in secunda consideratione , quae est at-
tentio, quum perperam ea quae integra erant in memoria reposita, de-
promit . . . sicuti quum repositum non tale redditur quäle traditur, in
vitio est aut accipiens, aut custodiens, aut repraeseutuns.
26 F. Kuypers : Vives in seiner pädagogik.
samkeit und Wiederholung stärken die treue im behalten.'^ zu em-
pfehlen sind auszerdem lautes lesen und schriftliche aufzeichnungen,
weshalb der schüler schreibend dem unterrichte folgen und sich
collectaneenhefte anlegen soll (s. anm. 314). hören ist besser als
lesen. ^^ man lerne unmittelbar vor dem Schlafengehen solche dinge
auswendig, von denen man mit nutzen träumt; am andern morgen
fordere man sie dem gedächtnisse ab.^*
§ 15. Gerade im knabenalter mute man dem gedächtnisse
viel und oft etwas zu; denn dann behält der mensch mit gröszerer
leichtigkeit als später, weil dann das gehirn weicher, wärmer und
feuchter, der geist freier von sorgen und verwirrenden eindrücken,
der reiz des neuen gröszer, und die kraft der naiven reception nicht
gehemmt ist durch verstandesmäszige dem einzelnen nachgehende
reflexion. darum kann man in jungen jähren dem gedächtnisse Stoffe
anvertrauen, deren aneignung dem mannesalter schwer und lang-
weilig sein würde. ®^
§ 16. Ein völliges entschwinden einer Vorstellung aus dem ge-
dächtnisse ist möglich, manches wird aber als vergessen betrachtet,
das unbewust noch im gedächtnisse ruht.®* je nachdem ist eine er-
** *an. et v. 1, 3 (III 343): nee haerebit memoria, nisi prius cogni-
tum atque intellectum. trad. disc. 3, 3 (VI 310): celeriter comprehen-
dimus, quae intelligimus; continemus, quae attente et crebre memoriae
mandavimus.
y^ tr;id. disc. 3, 3 (VI 311): non raro tenacius infinj^untur, quae al-
tius legimus, quemadmodum audita de aliis melius retlnemus, quam a
nobismet ipsis lecta . . . utilissimum est quae memoria contineri cupi-
mus, ea scribere , neque enim aliter iufinguutur stilo in pectus quam
in chartam.
'"* *intr. sap. 6, 194 (I 16): cubitum iturus lege vel audi aliquid dig-
num, quod memoriae mandetnr, et de quo salubre ac iucundum sit per
quietem somniare, ut etiam nocturnis visis discas et fias melior. stud.
puer. 1 (I 258): initio de nocte cubitum itura attente bis aut ttr releget
quae memoriae mandaii volet, et postridie mane a se reposcet. ganz
ähnlich intr. sap. 6, 185 (I 15). diese eigentümliche, pädagogisch wohl
kaum empfehlenswerte t'orderung wird von Braam unter den seiner
dissertation über Vives' theologie angehängten thesen aufgeführt und
als 'sapienter' bezeichnet.
^'^ *tra(l. disc. 3, 3 (VI 310): prima aetate exerccatur memoria . . .
multa ei commendentur cum cura et saepe. an. et v. 2, 2 (TU 345):
apprehendunt facile qui humido sunt cerebro; 2, 2 (III 346): iuvenes
propter calorem et humores puriores plus pollent memoria, quam senes;
primum in quod aetas invadit, inquit Seneca, est memoria; 2, 2 (III 351
u. 352): quae vacuo animo et tranquillo accepimus facilius haerent in
mente . . . qua de causa quae prima aetate vidimus atque audivimus, ea
diutius recordamur, et integrius, est enim tunc soluta curis et cogita-
tionibus mens, tum etiam attendimus diligenter, quippe aetate illa ad-
miramur omnia taniquam nova. vgl. anm. 61.
*8 Vives unterscheidet in gesuchter weise ein vierfaches sogenanntes
'vergessen' an. et v. 2, 2 (III 348) . . . vel quum imago illa in memoria
depicta eraditur prorsus . . vel quum interlita est . . vel quum quae-
rentem subterfugit, vel quum obruta est, et quasi velo quodam con-
tecta, ut in morbo et affectu coucitato.
F. Kuypers: Vives in seiner pädaj^ogik. 27
neuerung der äuszeren erkenntnis oder ein innerliches wiedersuchen
der Vorstellung am platze. "
Leibliche erziehung.
§ 17. Zweierlei wird bei der leiblichen erziehung angestrebt:
pflege und Übung des leibes, ausbildung der sinne.
Bei der sorge um den körper ist die gesundheit, nicht die
Sinnlichkeit, maszgebend.^' erstere wird am besten unterhalten
durch einfache und regelmäszige kost, reinlichkeit, abhärtung und
mäszigen schlaf. ^^ bei pathologischen erscheinungen richte sich
jedoch die ernährung nach dem jeweiligen körperlichen oder geistigen
zustande.'""
^^ an. et v. 2, 2 (III 348): prima oblivio nova prorsus eognitione
indiget, quarta detectione, ut sanitate corporis aut animi, reliquae duae
instauratione ut . . . quasi gradibus ad id veniatur quod quaerimus. so
im anschlusse an das vierfache vergessen, an Plato erinnert 2, 2 (III 348):
oblivisci etiam dicimur eorum quae a natura ipsa accepimus, quum de
primis illis et naturalibus intormationibus dubitamus (vgl. anm. 53),
quae evidentissimae et certissimae veritates nuncnpantur, perinde est
enim, ac si eas aliquando didicerimus naturae institutione.
^^ intr. sap. 4, 86 (I 8): tota corporis curatio ad sanitatem referenda
est non ad voluptatem.
ä' Vives giebt an verschiedenen stellen ins einzelne gehende Vor-
schriften, ich führe die wichtigsten an: intr. sap. 4, 98 f. (I 9): va-
rietas cihorum homini pestilens, pestilentior coudimentorum . . . naturae
si des necessaria delectatur . . sin superflua, debilitatur . . . potus erit . .
pura et liquida aqua, vel tenuissima cerevisia, vel vinum bene dilutum.
nihil est quod iuvenum corporibus magis otficiat, quam calidus cibus
aut potus .. a coena ne bibe ..; 6, 179 (I 15): inter coenam et quie-
tem vita omnino potum; nihil pernieiosius simul corpori, memoriae, in-
genio. exerc. 1. lat. dial. refectio scholastica (I 294 ff.): nach einem
kleinen Imbisse am frühen morgen wird täglich viermal gespeist: sila-
tum, prandium, merenda ceu antecoenium, coena. die speise sei para-
bilis, pura, concoctu facilis. aniplissiraas epulas alibi quaerito, non in
schola. — an lavamur? quotidie manus, ac faciem; et quidem crebro,
mundities enim corporis, et sanitati, et iiigenio confert. intr. sap. 4, 89 f.
(I 8): ablues subinde manus et faciem frigidä, detergesque mundo lin-
teolo. repurgabis crebro eas partes quae sordibus et recrementia ad
extima corporis meatus praebent. hae sunt caput, aures, oculi, nares,
axillae et pudenda . . . pedes mundi et cnlidi foveantur; — 4, 116 f.
(I 10): somnus sumendus est tamquam medicina quaedam curando corpori,
tantummodo quantus sufficit: immodicus enim reddit corpora redundantia
noxiis humoribus ... et celeritatem mentis tardat. nee est existimandum
vitae id tempus , quod somno impenditur, vita enim vigilia est.
'*"' hier entwickelt Vives fast Feuerbachsche ansichten. *trad. diso.
3, 4 (VI 319 f.): ut moderata sit (victus ratio), ut idoneis temporibus, ut
con^ruens temperandae cuiusque institutioni, ne noxius aliquis humor
radices agat in corpore; exsucci liumectantibus utantur, pituitosi cali-
dis et arefacientibus, melancholici contrariis naturae illi quae extenueut
Spiritus et hiiariores reddant, quibus vinum paullo concedatur largius . . .
biliosi ref rigeiabuntur , et tenuissimis spiritibus erunt crassiuscula tum
ad valetudinem salutaria, tum etiam ad cohibendam iudicii vim, ne subito
in praeceps feratur. ähnlich 4, 6 (VI 378): hebetarentur sensus, et animi
stupescerent, aut in furores atque insanias miserabiliter incurrerent . .
bei mangelhafter befolgung der regeln der diätetik.
28 F. Kuypers: Vives iu seiner pädagogik.
Zu diesei- pflege des körpers treten leibes Übungen, die um
so zahlreicher und energischer werden, je mehr der Organismus
erstarkt, und je subtiler die geistesbeschäftigung wird.'"' modo
scholastice, non militariter! trad. disc. 4, 2 (VI 354). die pflege
des körpers bleibt aber stets der ausbildung des geistes unter-
geordnet; trotzdem darf das studium nicht so weit ausgedehnt wer-
den, dasz die körperliche gesundheit darunter leidet. '"^
§ 18. Die sinne, speciell das äuge, sollen besonders bei der
betrachtung der natur zu scharfer beobachtung angehalten werden,
darum sind fleiszige Spaziergänge zu jeder Jahreszeit und bei jeder
Witterung anzustellen, auf welchen gründliche autopsie geübt
wird. '°^
Spiel.
§ 19. Der auffrischung der geistigen und körperlichen kräfte
dient das spiel. '"* es ist entweder ein freies bewegungs- oder ein
"" *trad. disc. 3, 4 (VI 318): exercitamenta corporum crebra sint
in pueris, nam aetas illa incrementis indiget, ac confirmatione roboris;
4, 2 (VI 354) heiszt es für die älteren Schüler: * exercitationes corporis
aliquanto robustiores concedentur; nempe, robustioribus iam et magis
confirmatis deambulatioiies intentiores, aut longiores, cinsus, saltus,
iactus, lucta . . . ut valetudo sit in iuvenili corpore firmior, et ipsi ala-
criores, ne ingeninm gravitate valetudinis opprimatur: eget etiam disci-
plina haee (die philosopbie) crebris animoriim refectionibus. weitere
regeln sind: *intr. sap. 4, 113 f. (I 10): exercitationes corporis non erunt
immodicae, ceterum aptandae rationi valetudinis, in quo sequenda erunt
medic-inae consultorum consilia .... sie tarnen, ne quid habeaiit turpe,
immodestum, obscenum, flagitiosum . . . absit arrogantia, contentio, rixa,
invidia, cupiditas. es scheint, dasz Vives niclit an schulmäsziges turnen,
sondern an freie bewegiingsspiele unter aufsiebt der lebrer (vgl. § 19) denkt.
'"2 intr. sap. 4, 82 (I 8): sie cnrandum tarnen, ut se non dominum,
non socium esse sentiat (corpus), sed mancipium: nee sibi pasci , aut
vivere, sed alteri. satell. an. 18 u. 19 (IV 35): intus quam exterius
formosior. intus quam exterius ornatior. trad. disc. 3, 4 (VI 319):
prima ratio erit ingeuii ac memoiiae, quae nimia curatione corporis
opprimitur . . . 'magna cura corporis, magna est animi incuria'. *mor.
erud. 5, 1 (VI 416): ita vero studendum ut non oHruatur ingenium mole
operis; valetudinis habenda inprimis ratio, et eorum qui nostrae sunt
curae commissi, bemerkungen der letzteren art finden sich indes selten,
obgKich Vives' pädagogik der Jugend ungeheuer viel geistige arbeit
zumutet.
'"3 siehe namentlich anm. 232. über Schonung der äugen schreibt
Vives meines wissens auszer einer ganz beiläufigen bemerkung exerc.
1. lat. dial. scriptio (I 3-22) kein wort, so nahe dies bei der sehr um-
fangreichen lectüre, die er verlangt, auch läge, über leibespflege und
erholung in den mittelalterlichen schulen kurz Arnaud s. 41: totus fere
dies a discipulis absumeliatur vel magistrum audiendo, vel audita re-
volvendo, vel piis exercitationibus vacando, aliquid iocis aut ambula-
tionibu.s tantum concedebatur diebus Martis et Jovis. nach Quiclicrat,
liistoire du coIle^e de iSainte-Barba, cit. ebenda, damit stimmen die
mitteilungen von Specht (cit. a. 158) s. 216 f. überein. vgl. A. Lange
und Klosz art. 'leibesübungen' in Schmid enc. 2 a. IV bd., s. 551 ff.,
woselbst auch weitere litteratur.
104 Vives* anscha'.mngen über das spiel flechte ich hier ein, um die
fortlaufende darstellung der Unterrichtsfächer nicht zu unterbrechen.
F, Kuypers: Vives in seiner pädagogik. 29
stilles gesellschaftsspiel: speerwurf, ballspiel, wettlauf; karten-,
brett-, Schachspiel, das bewegungsspiel findet bei regenwetter in
eignen Säulenhallen der akaderaie statt, während des Spieles herscbt
beaufsichtigung. '"■' auf dem gebrauche der muttersprache bei dem-
selben steht eine strafe, weshalb der lehrer die notwendigen bezeich-
nungen vorher in gutem latein zu geben hat. '"^
Als allgemeine Spielregeln gelten'"^:
I. quando ludendum? nur dann, wann körper oder geist durch
ernste arbeit ermüdet sind.
IL cum quibus ludendum? nicht mit unbekannten, zänkern
und lästermäulern oder solchen, die beim spiele eine andere absieht
verfolgen, als sich zu erholen.
III. quo ludo? das spiel sei bekannt; es diene der körper-
lichen und geistigen erholung; es sei nicht ein reines hasardspiel.
IV. qua sponsione? nicht um nichts, nicht um zu viel.
V. quemadmodum? Verlust und gewinn sind mit gleicher ruhe
zu ertragen, sie dürfen in keiner weise die gemütliche Stimmung
beim spiele stören, fluchen und schwören darf nicht vorkommen,
jeder schein von habsucht oder betrug ist zu vermeiden.
VI. quamdiu ludendum? bis der geist sich erholt hat, und die
stunde der arbeit schlägt. '"-
Erziehungsfactoren.
§ 20. Unbewust hat von jeher als erzieherin des menschen die
natur gewirkt, und zwar seine eigne natur, indem die sich ein-
stellenden bedürfnisse seinen geist veranlaszten , sich umzuschauen
exerc. 1. lat. dial. leges ludi (I 389): homo propter res serias est con-
ditus, non propter nug^as et lusus; lusus autem reperti ad reficiendum
animum lassum a seriis . . . simul animum reficiat, et corpus exerceat.
trad. disc. 3, 4 (VI 319): his lusionibus hoc fine dabitur opera, ut corpus
vegetetur.
105 *trad. disc. 3, 4 (VI 319): lusus sint qui honestatem habeant
cum iucunditate coniuncta, quales sunt pila, globus, cursus . . . per-
mittendus interdum quoque lusus foliorum longiusculus , qui ingenium
et iudicium, et memoriani exerceat, quemadmodum etiam latrunculorum,
et aeierum. dem ludus chartarum seu foliorum widmet Vives exerc. 1.
lat. (I 378 ff.) einen eigenen dialog. dial. lectio (I 293) führt er uns
würfelnde knalien vor. trad. disc. 8, 4 (VI 319): habebunt porticus vel
laxa atria, quibus se reficiant pluvio tempore . . . omnia fiant sub oculis
seniorum aliquot qui illis sint venerabiles. vgl. anm. 73.
'"8 *trad. disc. 3, 4 (VI 319): latine inter ludendum loquentur, sta-
tuta illi poena ex ratione ludi, qui patrio sermone erit usus; latine facile
loquentur, ac proinde libentius, si omnino quae ludendo sint dicenda,
explicata habeant a praeceptore bonis et propriis verbis.
'"' diese regeln sind in dieser reiheufolge exerc. 1. lat. dial. leges
ludi (I 389 f.) angeführt.
*"'' es bestand im I6n Jahrhundert eine nicht geringe litteratur über
spiele sowohl im allgemeinen als im einzelnen, genannt bei Grässe,
lehrbuch der allgemeinen litterärgeschichte III bd., le abt., Leipzig 1852,
s. 714 f.
30 F. Kuypers : Vives in seiner pädagogik,
zum zwecke der beschaffung des notwendigen, nützlichen, an-
genehmen, die ihn umgebende natur, indem sie ihn zum philosophi-
schen nachdenken und zur religion führte.'"® allein zur vollkommenen
und irrtumsfreien religiösen erkenntnis bedurfte es der göttlichen
Offenbarung."" endlich vermag die lebensgemeinschaf t den
menschen zur demut, liebe und klugheit zu erziehen.'"
§ 21. Die erste mit bewustsein geleitete erziehung, sowie die
elementai'ste Unterweisung erhält der mensch in der familie.
Schon bei der wähl der gattin leite den mann die rücksicht auf
den nachwuchs"^; das weib befähige sich durch lectüre zu dem er-
ziehungsberufe, sonst empfange es solche belehrungen von dem
gatten. "^ vorsichtiges verhalten während der Schwangerschaft, er-
nährung durch die muttermilch, wenn dieses unmöglich ist, auswahl
einer gesunden amme von reiner sitte und spräche, strenge, zurück-
haltende liebe, unverwöhnte erziehung, bildung eines frommen
herzens, erteilung des ersten Unterrichts, der sich vor allem auf
religion und muttersprache erstreckt, das sind die hauptpflichten
der mutter, in deren band das besonders wichtige erziehungs-
geschäft der ersten kinderjahre liegt."* o matres, quanta occasio
'*9 diese gedanken sind weitläufig ausgeführt trad. disc. 1, 1 (VI243ff.).
auch sonst finden sich manche derartige andeutungen. 1, 1 (VI 246):
nam animus, cura illa praesentis necessitalis solutus, ac Über, coepit
respirare, et otiosior velut theatrum hoc contemplari, in quo esset a
deo positus; 1, 3 (VI 255): docent etiam nos muta animiintia. vgl.
anm. 233.
"* trad. disc. 1, 2 (VI 348): illius extremi finis notitiam humana
mens lucernula sua instructa non potest assequi . . . itaque deo fuit opus.
'" trad. disc. 1, 5 (VI 262): verum enimvero homines nati ad socie-
tatera sumus . . . hoc enim sapienter est curatum a natura, tum ut arro-
gantia superliissimi animalis retnndalur , . . tum ad conciliationeni amoris
matui . . rector (societatis) iudicium, in quo sita est prudentia.
"2 off. mar. 1 (IV 325 f.): ad sobolem spectanda sunt duo, corpus,
et animus uxoris; illud, ne nirais sit deforme ... quamqiiam hoc non
tantum est, ut si reliqua abundo adsint, recusanda sit ea de causa uxor;
. . . magis illud providendum, ne quo laboreiit morbo ex iis quos medici
heredilarios vocant ... hinc animus contemplandus, ut natura sit sanus,
ne paientis insania, vel contairio corporum pioli adhaerfscat, vei educa-
tione, ac moribus . . . adde his, ne animus sit educatione ac moribus
malus ... de genere non perinde oportet esse in hac de liberis con-
sultatione sollicitum, te enim soboles sequttur, non matrem.
•'ä *fem. Christ. 2, 11 (IV 258): non erit piae matri molestum , vel
litteris interduin dare operam, vel lectiorii sapieiitium et sanctorum li-
brorum, si non sua certe liberorum gratia, ut erudiat, ut meliores reddat.
off. mar. 3 (IV 367 f.): iam quae feminam existiniem 0()ortere cognoscere,
haec fere sunt: .... quae sit cura, ratio, modus educandi atque insti-
tuenfli liberos . . . *)iaec si vel legere nesciat, tardiusc^ula, aut parum
nata ad litteras . . . docebitur a marito explicate et familiariter, nee
semel ut non iiitelligat modo, verum etiam memoriae infigantur, ut pa-
rata habeat quum usus posoet.
'" fem. Christ. 2, 11 (IV 256 f.): praegnantes . . ne indulgeant cra-
pulae, ne inebrientur; multi, quae a matribiis acta sunt dum gestabantur,
vitae totius morihus retulere . . . matres dum uterum gestaut, dent operam
ne quam admittant vehementem cogitationem deformis rei, turpis, ob-
F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik. 31
vel optimos reddendi filios, vel pessimos ! matres boc velim ne
ignoretis, maximam partem malorurn hominum vobis esse acceptam
referendam! fem. cbrist. 2, 11 (IV 259. 262). in den jähren der
Vernunft bat hauptsächlich der vater die erziehung des sobnes zu
überwachen, auf sie verwende er viel mehr Sorgfalt als auf die
scoenae; pericula item devitent, in quibus foeda aliqua visu species possit
occurrere . . . praecogitent qnicquid possit oculis offerri, ne ex inopinata
novitate noceat si quid subito aspexerint, unde contrahat noxam foetus. —
*fem. Christ. 1, 1 (IV 70): .. a lacte ipso, quod velim fieri si possit,
maternum esse . . . deinde fit, nescio quo putto, ut non amorem modo,
verum et pronitatem ad certos aliquos mores sugamus cum lacte; 2, 11
(IV 257) : accedit bis quod utilius est foetui muternum lac, quam nutricis,
tum quia ex quibus constamus, ex eisdem congruentissime alimur,
. . . tum quia nutrix non raro alumnum suum admovet pectori invita et
subirata; — 1, 1 (IV 71): Chrysippus sapientes optimasque eligi nutrices
praecepit, quod nos et sequemur .... neque vero tantam curam in quae-
renda puero nutrice ponendam volo, quantam puellae; Quintilianus satis
habuit dicere: videndum ne sit vitiosus sermo nutricibus, propterea quod
qui in infante insedit sermonis modus, difficile elueretur; de moribus
nou ita fuit sollicitus. *trad. disc. 3, 1 (VI 298): hinc, ut idem nutrices,
et nutricü faciant . . . ne perplexe, absurde, barbare loquantur. — Fem.
Christ. 2, 11 (IV 257 f.): ante omnia, mater tbesauros suos universos in
liberis sitos esse ducet . . . quocirca in hoc thesauro conservando atque
excolendo nuUus recusandus est labor; 2, 11 (IV 263): doch die matter
verheimliche den kindern ihre liebe! es ist der streng erzogene Spanier,
der dies vorschreibt, charakteristisch ist, was er a. a. o. über sein
eigenes Verhältnis zu seiner mutter erzählt: *nullum filium mater te-
nerius amavit, quam mea me; nullus unquam minus se matri sensit
carum: nunquara t'ere mihi arrisit, nunquam indulsit, et tarnen cum domo
tribus aut quatuor diebus (!) ea ubi essem inscia, abfuissem, paene in
gravissimum incidlt morbum, reversus, desideratum me ab ea non in-
tellexi; ita neminem magis fugiebam , magis aversabar, quam matrem
puer, nullum mortalem magis in oculis tuli adolescens. — Fem. cbrist.
2, 11 (IV 261 f.): nee franget nervös, et corporis et ingenii, et virtutis
molli educatione . . . raro memini vidisse me magnos et praestantes sive
eruditione et ingenio, sive virtute viros, qui esseut indulgenter a paren-
tibus educati . . *nec impediat amor quominus et a pueris vitia per
verbfra, fletus, lacrimas [auf seiten des kindes natürlich] arceamus, et
corpus ac ingenium firmiora reddantur severitate victus atque educa-
tionis. — fromme iind gehaltvolle erzählungen, Sinnsprüche etc. werden
der mutter als mittel zur sittlichen erziehung fem. christ. 2, 1 (IV 258 ff.)
ausführlich empfohlen, vgl. auch exerc. 1. Int. dial. prima salutatio
(I 285 f.). — Si litteras mater sciat (wie er es off. mar. verlangt) ipsa
parvulos pueros eas doceat, ut eadem utantur matre, nutrice et magistra.
fem. Christ. 2, 11 (IV 258): det (mater, operam, ne, saltem filiorum causa,
rustice loquatur . . . nullum sermonem melius aut tenacius discunt pueri,
nullum expressius, quam maternum; illum cum vitiis ipsis aut virtu-
tibus, si quid horum habet, reddunt. die von Vives geforderte mütter-
liche Unterweisung in der religion ist christlich-moralischer nicht dogma-
tischer art; s. fem. christ. 2, 11 (IV 259ff. ). die aufgäbe der mutter
erscheint ihm so schwer, der dank der kinder so zweifelhaft, dasz er
au.sruft fem. christ. 2, 11 (IV 254, 255): equidem rationem expedire ne-
queo istius cupiditatis filiorum. o ingrata raulier, quae non ao^noscis
quantura a deo acceperis beneficium, quod vel non peperis, vel filios
ante moerorem amiseris! man bedenke, dasz Vives' ehe kinderlos war.
vgl. auch off. mar. 11 (IV 415 f.).
32 F. Kuypers : Vives in seiner pädagogik.
Sicherung einer reichen erbschaft. die rute darf bei schwei-en ver-
gehen nicht gespart werden."'' der vater prüfe die anlagen seines
Sohnes und bestimme darnach dessen lebensberuf, wobei ihn ein-
sichtige fi'eunde und verwandte uaterstützen sollen.""
Isaeh der anläge richtet sich auch der beginn der Schulzeit, der
zwischen dem vierten und siebenten jähre liegt."'
§ 22. Wenn es möglich ist, werde der knabe — bei dem
schlechten zustande der bestehenden anstalten — in gemeinschaft mit
einem mitschüler von einem hofmeister erzogen; ist dieses nicht
zu erschwingen, so schicke man ihn in eine öffentliche gemelnde-
schule. "** wenn es die häuslichen Verhältnisse ohne gefahr für das
kinderherz zulassen , wohne er während der Schuljahre bei seinen
eitern, sonst in einem hause, wo er liebevolle und zuverlässige be-
aufsichtigung erfährt. "*
"^ off. mar. einl. (IV 308): ergo patres, bene erga certam sobolem
affecti, suscipiunt, alimt pro facultatibus, instruunt, arcent a vitiis, co-
hibent et comprimunt affectus, eliciunt rationis et iudicii vim . . . in-
structos non deserunt ... quibuscunque possunt rebus ornaut , t'ovent,
adiiivaiit. trad. disc. 2, 2 (VI 280): magnam esse patri curam de filii
moribus convenit, tanto maiorem quam de liereditate, qunnto pluris sunt
mores; 2, 2 (VI 285): quae si Haut (vergehen gegen die reverentia),
disciplinae virga perpetua ante oculos pueri et circum dorsnm versabitur.
>'f' *trad. disc. 2, 2 (VI 281): principio explorandum est in patria
ab amicis, qui iiosse id queant, ingenium, sitne eruditioni satis idoiieum;
... hinc an eruditione probe usurus; *2, 2 (VI 284): poterit pueri in-
genium a propinquis et necessariis explorari cui sit rei potissimum
idoneum . . . si litteris non sit aptus, eludet in Indo rem, et qnod re
est pretiosius, tempus.
"' fem. Christ, ii (VI 73): tempus nullum diffinio; alii enim anno
septinio exordiendum putarerunt . . . alii quarto, quintove . . . ego vero
totam hac de re deliberationem ad parentnm prudentiam reiicio, qui ex
qualitate et habitu int'antis consilium sument. er sagt dieses freilich,
wo er über mädclienerziehung spricht; selbstverständlich gilt es aber
auch für die knaben. allerdings umfaszt der erste teil de.s lections-
planes seiner ücademie die zeit trad. disc. 3, 3 (VI 338): a septimo ad
quintumdecimuni annuin, indes i.st dieses nicht wörtlich zu nehmen, ver-
langt er doch trad. disc. 2, 2 (VI 279) die aufnähme in die akademie
a lacte. man denke an die hervorragende berücksichtigung der Indivi-
dualität (s. a. 299) bei Vives. darum ist wohl nicht genau: Arnaud s. 22:
cum puer . . . septimum annum attigerit, iam tradetur magistris.
"^ *trad. disc. 2, 2 (VI 280 f.): ergo pater si pote.st, paedagoguni
asciscat filio sanctum virum et incorruptum, ab eo doceatur, si is sit,
qui docere possit (also die liauptaufgabe desselben soll die erziehung
sein. vgl. Vives' Stellung bei Croy anm. 12) modo ne solus, minus enim
proficiet, ut Quintilianus ostendit. sogar für die prinzessin Maria ver-
langt Vives drei bis vier mitschülerinnen. s. stud. puer. 1 (I 267). si parare
(paedagogum) omnino non valet, aut non talem, a quo possit bonam
institiitionem accipeie, aut si condiscipulos non habet, mittat ad gym-
nasium civitatis publicum.
"'■' ausführlich trad. disc. 2, 2 (VI 281 ff.), die darstellung ist nicht
besonders klar. *5, 3 (VI 406): sitque domus sua unieuique velut portus
quidam molestiarum et curarum . . . domutn ipsam non minus quam
patriam diligant. Vives will nicht internatserziehung. man beachte aber,
dasz er nicht principielle gründe gegen dieselbe vorbringt, sondern nur
F. Kuypers : Vives in seiner pädagogik. 33
Als musteranstalt stellt Vives seine ideale akademie hin. er
spricht aber auch von andern schulen, für welche mutatis mutandis
die für die akademie gegebenen Vorschriften gelten, es scheint ihm
folgende.s bild vorzuschweben'*":
In der familie erhält das kind den ersten Unterricht in religion
und muttersprache. '^'
In jeder gemeinde soll eine schule errichtet werden, an der ge-
lehrte und rechtschaffene männer bei staatlicher besoldung knaben
und Jünglinge diejenigen dinge lehren, welche ihrem alter und ihrer
begabung entsprechen, die erziehung zu heimischen Bitten und
zum bürgerlichen leben soll ihnen von erfahrenen greisen zu teil
werden. '^-
In jeder politischen provinz bestehe eine akademie.'"
Auszerdem gebe es noch anstalten , welche sich vorwiegend
den schönen künsten oder den classischen und orientalischen sprachen
widmen, letzteres mit rücksicht auf die mission.'-*
auf die Schlechtigkeit der lehrer und schüler in den bestehenden
Internaten hinweist; ist doch seine eigene ideale academie ein internat.
ähnliches brinjit er gegen den besuch der pädagogien vor, welche der
'vornehmen' bildung dienen.
'2" sich über diese anschauungen des Vives unzweifelhafte klarheit
zu verschaffen, ist bei den vielen Zweideutigkeiten, Wiederholungen und
abschweifungen nicht leicht, bestehendes und »ewolltes ist nicht überall
genau geschieden; auszer in trad. disc. schwebt ihm die Vorstellung
seiner academie nicht vor, auch hier verläszt er sie oft. ferner ge-
braucht Vives die gewählten bezeichnungen ohne strenge Unterscheidung:
schola (VI 271, 295 u. ö.;, gymnasium (VI 273. 281. 296 u. ö.), gymna-
sium linguarum (VI 300), academia oft, paedagogium (deutlich in ver-
schiedenem sinne VI 278. 281), ludus, ludus Htterarius (I 287. VI 285,
304 u. ö.). z. b. trarl. disc. 2, 2 (VI 282): grandiusculi adolescentes non
cohibentur in academiis a praeceptoribus et magistris ludorum; scilicet
non audent hi, ne mutent gymnasium. exerc. 1. lat. dial. schola: quam
elegans gymnasium et magnificum ! haud esse in academia hac reor
ullum esse praestantius. trad. disc. 2, 1 (VI 272, 273) ist gymnasium
vollkommen identisch mit schola und academia; 2, 2 (VI 281) ist es
ausdrücklich etwas anderes als academia usw.
'-» vgl. § 21.
'^ so deutlich trad. disc. 2, 3 (VI 285). Vives bedauert es sehr,
dasz heute nicht mehr, wie einst im alten Rom, dessen republikanische
erziehung ihm in mancher beziehung musterhaft erscheint, greise und
erfahrene männer sich der erziehung fremder söhne annehmen, es fehlt
ihnen das Interesse für das gemeinwohl.
'23 trad. disc. 2, 1 (VI 273): statuatur in unaquaque provincia aca-
demia communis illius; provinciam definio, non limitibus naturae, ....
sed ditione ac principatu. so mit rücksicht auf das Studium in kriege-
rischen Zeiten, vgl. anm. 133.
'2^ trad. disc. 2, 1 (VI 271): nee amoenum (locum scholae) elegerim . . .
nisi forte deliciosis disciplinis sit danda opera ut poeticae, musicae,
historiae. *3, 1 (VI 300): cuperem ut in plerisque nostris civitatibus
gymnasia instituerentur linguarum, non solum illarum trium (latein,
griechisch, hebräisch) sed arabicae, sed earum etiam. quae essent Aga-
renis populis vernaculae, quas addiscerent .... ut eis instructi Christum
illis gentibus annuntiarent. die bekehrung der Muhammedaner (und
N. Jahrb. f. phil. u. päd. U. al)l 1897 hft. 1. 3
34 F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik.
An die akademie schlieszt sich die gesamtdarstellung seiner
Unterrichtslehre an. weitere Charakterisierung der übrigen schulen
fehlt oder ist nicht klar. '^*
Verfall der Wissenschaften.
§ 23. Bevor ich Vives' ideale akademie eingehender darstelle,
gebe ich kurz die gründe an, welche nach ihm den gänzlichen ver-
fall der Wissenschaften und die notwendigkeit einer reform derselben
herbeigeführt haben '^®; und zwar mögen hier die allgemeinen ur-
Juden) liegt Vives sehr am herzen, ihr widmet er das vierte buch der
ver. fid. darum gebührt ihm ein platz in Grässe (cit. anm. 108) § 207,
VFO er merkwürdiger weise fehlt, es mochten die grausamen Morisko-
kämpfe in seiner heimat ihm solche gedanken nahe legen; er will nicht
ihre bekehrung durch Waffengewalt; s. ver. fid. 4, 4 (Vlll 373), s. anm. 176.
'^^ es scheint fast, dasz Vives bei dem 'in unaquaque civitate' zu
errichtenden 'ludus litterarius', trad. disc. 2, 3 (VI 283), dessen unter-
richtsplan nicht näher bestimmt ist, an eine lateinlose gemeindeschule
gedacht hat (die damals auch schon bestanden, s. Janssen cit. anm. 158,
Braunschw. Schulordnung, cit. ebenda), dann wäre dieser wohl gegen-
über zu stellen das 'in plerisque civitatibus' zu errichtende 'gymnasium
linguarum', trad. disc. 3, 1 (VI 300). eine dritte anstalt wäre die 'in
unaquaque provincia' zu gründende 'academia', trad. disc. 2, 1 (VI 271).
sehen wir nun davon ab, flat^z diese anstalten sich nicht ablösen, — der
nach trad. disc. 2, 3 (VI 283) 'post flexum aetatis' zu vollziehende Über-
gang aus der gemeindeschule in die academie gilt offenbar von bestehenden,
nicht von gewollten anstalten — so zeigt sich uns das von Comenius
entworfene bild der mutterschule, deutschen schule, Stadtschule und aca-
demischen schule, indes ist dieses nirgends klar ausgesprochen.
'^'' die folgenden ausführungen bilden die liauptgedanken seiner sieben
bücher de causis corruptarum artium, auch in seinen übrigen kritischen
werken sind sie häufig angedeutet. Melchior Canus urteilt: opp. Parisiis
1578, loci theol. X 9, 453: dixit ille in libris de corruptis disciplinis
multa vere, multa praeclare. atqui fidenter pronunciavit aliquando, tam-
quam e divorum concilio descendisset. Simon (cit. bei Paquot s. 121)
zieht dieses werk allen Schriften des Erasmus vor. Andres (cit. bei
Hause s. 5) stellt es in eine reihe mit dem organon Bacons. Vives
hat sich durch dasselbe einen platz unter den bedeutendsten encyclopä-
disten des 16u Jahrhunderts gesichert (aufgeführt sind dieselben bei
Grässe (cit. a. 108) s. 1067 f., s. a. L. Wachler, hdbch. d. gesch. d. litt.
II 2, Frankfurt 1824, s. 3 f.). allein das werk ist auch nicht frei von
mäijgeln, namentlich hat der Verfasser in st-inem heiligen eifer sich zu
manchen Übertreibungen hinreiszen lassen. Melchior Canus tadelt a. o.:
plus ille nimio interdum sibi indulget, dum corruptas disciplinas per-
sequitur. nee novitios solum errores . . . coarguere, sed antiquorum re-
cepta placita convellere pertentat, maximo quidem semper verborum
ambitu, sed vi quandoque argumentorum minima. Gerard Joan. Vossius
(cit. bei Pope Blount s. 366): in re crilica saepissime lapsus est loan.
Lud. Vives. er selbst sagt caus. corr. praef. (VI 7): nei- dubito, quin
ipse sim in bis quae attuli, saepenumero falsus. Paulsen (cit. anm. 5)
s. 15, 2e a. I bd. s. 27: 'es ist gewöhnlich, von dem verfall des kirchlichen
Schulwesens am ausgang des mittelalters zu reden, so viel ich sehe,
geben die thatsachen hierzu keine veranlassung', vgl. J. Janssen
(cit. anm. 158) I s. 22 ff. die Braunschweigische Schulordnung, auf
welche dagegen Th. Ziegler (cit. anm. 4) s. 38 hinweist, scheint mir
F. Kuypers : Vives iu seiner pädagogik. 35
Sachen des niederganges der studien platz finden, die besonderen,
welche die einzelnen Wissenschaften betreffen, sollen bei der behand-
lung der jeweiligen disciplin zur spräche kommen.
Auszer der natürlichen unvollkommenheit unseres intellectes
sind es zunächst moralische mängel, welche die rechte erkenntnis
der dinge verschlossen haben, denn den Vertretern der Wissenschaft
ist es nicht um die Wahrheit, sondern um befriedigung des hoch-
mutes, des ehrgeizes und der habsucht zu thun. jeder gelehrte ver-
harrt halsstarrig bei seiner meinung und scheut sich, von anderen
sich corrigieren zu lassen, blosz um nicht als besiegt zu gelten, der
eine beneidet den anderen um seinen wissenschaftlichen rühm und
sucht ihn zu überbieten statt zu übertreffen, blosz um als ^erfinder'
zu glänzen, endlich treiben so viele die Wissenschaften lediglich
um geld zu verdienen, wobei ein ernstes streben nicht gedeihen kann :
nam qui propter mercedem operam sumunt, mallent, sie fieri posset,
mercedem citra operam omnem consequi. caus. corr. 1, 8 (VI 59). '-'
überhaupt sind es schlimme bände, in welchen der betrieb der
Wissenschaften liegt: die sitten der professoren sind verderbt, die
akademischen grade sind käuflich, die Studenten sind anmaszend,
unwissend und verkommen, die lehrer der jugend sind ungebildete
und schlechte männer, so dasz das volk mit groszer Verachtung auf
die jünger der Wissenschaft schaut.'^**
Objective gründe des Verfalles sind folgende : man scheute sich
über die alten hinauszugehen, huldigte höchstens dem 'verbalen
realismus"-^ statt die tradition zu verlassen und die natur selbst
zu beobachten.
Aber auch die Schriften der alten, jene einzigen quellen der
Wissenschaften, wurden nicht verstanden, sie enthalten an sich viel
dunkles und vieldeutiges, habet nasum cereum Aristoteles, caus.
corr. 1, 10 ("VI 70). die endlosen commentare haben die confusion
noch vergröszert.
mehr einzelne misstände verhüten als allgemeine rügen zu wollen,
geordnete schulzustände zeigt auch Le'on Maitre, les ^coles e'piscopales.
cit. bei Arnaud s. 38. vgl. dazu Heppe, das Schulwesen des mittelalters
und dessen reform im 16n jahrh., Marburg 1860, s. 43ff. ; Th. Muther,
aus dem universitäts- und gelehrtenleben im Zeitalter der reformation.
Erlangen 186ß, s. 6 ff.
*^' jene bereicherungssucht dei lehrer lag zum teil in dem ganzen
Unterrichtsbetriebe der mittelalterlichen Universität begründet, indem
viele nach absolvierung der artistischen facultät (etwa unseres ober-
gymnasiums) unterrichteten, um sich die mittel für ihr juristisches oder
medicinisches fachstudium zu verschaffen, vgl. Arnaud s, 34, Paulsen
8. 17, 2e a. I hd. s. 29.
'^^ geradezu an Rousseau erinnert: *fem. christ. 2, 11 (IV 260 f.):
parentes, nutrices, nutricii, magistri eruditionis, consanguinei, necessarii,
familiäres, magnus erroris magister populus, hi omnes semina illa vir-
tutum radicitus conantur extirpare , et emicantem igniculum stultitia
suarum opinionum tamquam ruiua opprimere.
'^^ über diesen ausdruck s. v. Raumer (cit. anm. 6) I, 5e a., s. 291 f.
zu Vives' realem realismus vgl. namentlich § 45.
3'
36 F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik.
Die handbchriften, welche diese schät2e vermitteln, sind durch
historische Umwälzungen oder durch nachlässigkeit vernichtet oder
beschädigt worden, was aber auf die nachweit gekommen ist, wurde
bona fide aufgenommen ohne litterarische und historische kritik'^";
ja in den gänzlich entarteten disputationen ist auch der gehalt der
vorliegenden schritten verkümmert und verdreht worden.'^'
Admonebimus . . . nunc velut in vestibulo . . . ut purius tra-
dantur artes, simplicius, minus infectae ac imbutae vafritia atque im-
posturis, ut quod eins fieri valeat , verae illi ac germanae simplici-
tati Christianus populus reddatur . . . nihil opus est maiore acrimonia,
sed tamquam retusione quadam, non quo imprudentes fiant horaines,
sed ut sinceri magis ac simplices atque ea de causa prudentiores,
non astutiores. trad. disc. 1, 6 (VI 268).
''" dieser kritik widmet er einen bedeutungsvollen abschnitt, dessen
reife weit über jene zeit hinausgeht, caus. corr. 1, 6 (VI 44 ff.), vgl.
Haase (cit. anm. 178) s. 15.
131 Vives hatte zu einer solchen darstellung das rüstzeug, weil er
selbst in der scholastischen Wissenschaft erzogen war. man hat an Vives
getadelt, dasz seine positive reform hinter der negativen kritik der
Wissenschaften weit zurückgeblieben ist. so Melchior Canus a. o. s. 453:
multo . . . viris doctis probaretur magis, si qua diligentia et dissertitu-
dine causas corruptarum artium expressit, eadem collapsas restituisset,
sed in tradendis disciplinis elanguit, cum in carpendis erroribus viguisset.
nee mirum. nam aliorum errata etiam probabiliter reprehendere, facile
est id quidem. artes vero, quas iam inde a multis annis viri quidam
et indocti et barbari deflexerunt, ad rectam lineam revocare, scilicet hoc
opus, hie labor est. I. A. Comenius lanua ling. res. praef. (opp- I,
Amsterdami 1657, s. "250): questi sunt iam pridem viri magni, Vives,
Erasmus . . . alii: quorum satis luciilentae ea de re prostant querelae,
non item radicitus malum toUentia remedia. derselbe physicae Synopsis
praef. s. 8 (hgg. u. übers, v. J. Reber, Gieszen 1896): dolere vehementer
coepi virum tam sa^^acis ingenii, postquam tot evidentissimas notasset
deviationes, non explanandis istis salebris admovisse manum. Bruckerus
(cit. Maians vita s. 109): si saniora dare, quam morbosa et putrida re-
tegere . . voluisset, inter seculi maximos rut'erendus esset, der vorwarf
ist nicht ganz unberechtigt; aber man bedenke Vives' eigenes wort: trad.
disc. 3, 4 (VI 316): nihil adeo esse praeposterum, ut fructum iam tum
maturum exigere quum arbores germinare primo vere incipiunt.
(fortsetzung folgt.)
Kiel. Franz Kuypers,
G. Fasterding: zur lateinischen foriLenlehre. 37
2.
ZUR LATEINISCHEN FORMENLEHRE.
So viel auch bereits geschehen ist, um der lateinischen gram-
matik einerseits durch ausscheidung von allerlei überflüssigem, ander-
seits durch zusammenfassen unter einheitliche gesichtspunkte eine
für die schule brauchbarere gestalt zu geben, es bleibt doch immer
noch zu thun übrig, ich habe in dieser beziehung die formenlehre
mehrfach einer eingehenden prüfung unterzogen und dabei eine
reihe von punkten herausgefunden , welche der bessernden band
noch bedürfen.
Die Wörter auf er nach der zweiten declination mit stamm-
haftem e sind in den neueren grammatiken freilich auf puer, socer,
gener, vesper, liberi, asper, liber, tener, miser, die Zu-
sammensetzungen mit fer und ger und das schwankende d ext er
zusammengeschrumpft: aber ein genri, tenri, misri wird man
doch so wenig wie puri bilden.
Ich würde der regel folgende allgemeine fassung geben: die-
jenigen masculina und fem inina sowie wandelbaren eigen-
schaftswörter (d. h. adjectiva mehrerer endungen), deren nomi-
nativ auf ber, per, der, ter, ger, cer und fer ausgeht, ohne
dasz der mitlauter vor er verdoppelt ist (auf er nach ungedoppelter
muta oder f würde die wissenschaftliche grammatik sagen), haben
vor antretender endung blosz r, z. b, ager, gri; pater, tris;
Afer, fri; pulcher, chra, chrum; acer, cris, cre. sonst ist
das e stammhaft, wie in puer, gener, miser, vomer, celer,
agger. auszerdem haben stammhaftes e die Wörter auf sper (wie
vesper, asper) sowie liber, socer und die Zusammensetzungen
mit ger und fer, häufig auch dexter; nach der dritten declination
carcer und later, und von den Wörtern mit pronominaler declina-
tion alter.
Die dritte declination ermangelt auch in den neueren gramma-
tiken noch sehr der Übersichtlichkeit, in der sacbe ganz gut ist
Stegmanns Scheidung in consonantische und vocalische stamme; nur
ist die benennung ungenau, da man z. b. die stamme von grus und
sus doch nicht als consonantische bezeichnen kann, wie man das
nach seiner einteilung thun musz. auszerdem dürfte die Scheidung
der vocalischen stamme in rein vo.calische und solche mit gemischter
bildung die klarheit nicht gerade besonders erhöhen.
Mir scheint es praktischer, die stamme in einfache und er-
weiterte zu scheiden und diese erweiterung in der vocalischen Ver-
längerung des nom. sing, zu suchen, die stamme mit mehrconsonanti-
schem auslaut würden dann den einfachen stammen zuzuzählen sein,
und es bedürfte nur der bemerkung, dasz die vocalische endung bei
den neutris teils (z. b. in mare) aus i in e abgeschwächt, teils (z. b.
in calcar, animal) ganz abgefallen sei. wird nun gelernt, dasz
38
G. Fasterding: zur lateinischen formenlehre.
1) die parisyllaba auf is und es,
2) die neutra auf e, al und ar,
3) die adjective mit dem neutrum auf e erweiterten, die übrigen
Substantive und die comparative aber einfachen stamm haben, dann
ist die Sache äuszerst klar, es ergibt sich alsdann für die endungen
des abl. sing., nom. acc. plur. neutr. und gen. plur. folgende tabelle:
, , . nom. acc. ,
abl. sing-. !p,„r. „e^r g-cn, plur.
einfache
Stämme
nicht mehrfache
consonanz
Stammauslaut
mehrfache
consonanz
erweiterte
Stämme
masculina und femiuina
neutra und adjective ^ ^'^ ^"™
Eine besondere behandlung hätten dann noch die unwandel-
baren adjective (= adjective einer endung) zu erfahren, die regeln
über die endungen derselben in den oben genannten drei casus sind
in den neueren grammatiken sehr vereinfacht, doch wird man hier
wie auch bei den abweichungen der Substantive von der oben auf-
gestellten tabelle viel klarer sehen, wenn man folgendes beachtet,
worauf, so viel ich weisz , noch keiner der neueren grammatiker so
wenig wie einer der alten gekommen ist.
Letzteren war bereits bekannt, dasz gewisse adjective der dritten
declination, von personen gebraucht, im abl. sing, die endung e
aufweisen , während sie als sachattribute auf i ausgiengen. dieses
logische dement, welches sich hier in der formenlehre zeigt, ist
höchst bemerkenswert, man wird nämlich finden, dasz dasselbe —
allerdings in etwas weiterer ausdehnung — in Verbindung mit einem
lautlichen der grund ist von erscheinungen, welche man für die Sub-
stantive der dritten declination in folgende regel fassen kann: die
lebende wesen bezeichnenden Substantive (man kann sie kurz
animal-substantive nennen) der dritten declination, deren ursprüng-
licher (also überhaupt nicht oder noch nicht erweiterter) stamm auf
liquida nach kurzem vocal oder nach tenuis auslautet, haben
im gen. plur. die endung um.
Unter diesen gesichtspunkt (der bei der behandlung der ele-
raentargrammatik eben nur für die anordnung, nicht für die auf-
fassung des schülers maszgebend sein würde) fallen dann also nicht
nur die für den anfänger ausreichenden canis, iuvenis, senex,
pater, raater, frater, sondern auch z.b. accipiter, volucris,
tribuuus celerum. auch der gen. plur. mugilum (von dem der
anfänger natürlich auch nichts zu wissen braucht) gehört hierher,
aus welchem nicht, wie Charis. I 15 s. 82 meint, notwendig auf
den nom. sing, mugil zu schlieszen ist: derselbe kann ebenso gut
mugilis sein.
G. Fasterding;: zur lateinischen foroienlehre.
39
Auf tenuis nach kurzem vocal ist die regel ausgedehnt in
apum neben dem gewöhnlichen apium.
Bei liquida nach media findet schwanken statt : also I n s u b e r ,
Insubrum und Insubrium.
Wörter wie parens, sedes, welche man in der gram matik in-
mitten solcher der eben erwähnten art findet, sind unter einen andern
gesichtspunkt zusammenzufassen, dies ist folgender: mehrere auf
Zungenlaut (wobei zu beachten, dasz im lateinischen auch r dazu
gehört) oder c nach langem vocal oder nach liquida auslautende
Stämme weichen von den über den gen. plur. gegebenen regeln ab
(haben also entweder blosz oder auch ium, wo man um, und
um, wo man ium erwarten sollte), hierhergehören fauces, mus,
lis, plus, sedes, vates, parens, mensis, civitas usw.
Selbstverständlich müste man sich bei der behandlung in den
unteren classen auch hier mit der aufzählung der Wörter begnügen.
In bezug auf die unwandelbaren adjective gestaltet sich die
regel etwas anders, sie lautet bei diesen nämlich so : unwandelbare
adjective (= adjective einer endung) der dritten declination, welche
ausschlieszlich oder zunächst lebenden wesen zukommen (animal-
adjective) mitkurzsilbigem stammausgang bilden, wenn letzterer
auf muta oder er auslautet, den abl. sing, auf e, sonst auf i, den
gen. plur. .auf um und keinen nom. acc. plur. neutr. , also z. b.
divite, divitum, paupere, pauperum, memori, memorum
(poet.), cicuri, cicurum (wegen seiner Seltenheit aus der ele-
mentargrammatik wegzulassen).
Im übrigen läszt sich für die unwandelbaren adjective der
dritten declination folgende tabelle aufstellen:
abl. sing-.
nom. acc.
plur. neutr.
^en. plu,-.
1) mehrsilbige animal- adje ctive mit
mit kurzsilbigem stammausgang;
e
-
um
um
2) substantiv-comp o s i t a (adjective, deren
declinierbarer teil einen substantiv-stamm
enthält) ;
Stammausgang J^ ^'°[^,J^,\, consonanz
I
tia , dia
tia, dia
um
ium
3) die übrigen;
a.) ev . . .
e a
T i ia
um
Stammausgang ^> ^^^^^
ium
Zu 3 a wäre zu bemerken, dasz die angegebenen endungen sich
nur bei vetus finden, über dagegen den (in classischer prosa nicht
vorkommenden) ablativ gewöhnlich auf i bildet.
Beispiele zu 3b sind u. a. simplex, hebes, teres, par,
40 G. Faeterding : zur lateinischen formenlehre.
audax, constans, locuples, dis, nostras, optimas, pena-
tes,Arpinas,Samnis,Veiens, die participien auf ans und ens.
Zu bemerken ist dabei allerdings, dasz die unwandelbaren ad-
jective, deren stamm auf t nach langem vocal oder nach liquida
ausgebt (also namentlich die participien), wenn sie als persönliche
Substantive gebraucht werden (z. b. a sapiente, ab Arpinate)
oder wenn sie in attributiver Verbindung mit einem subslantiv sich
durch ein mit einem genitiv verbundenes Substantiv übersetzen
lassen (also z. b. praesente amico in gegenwart des freundes,
asole Oriente von Sonnenaufgang) — in dieser fassung dürfte
die regel auch dem anfänger klar sein — , die ablativendung e haben,
für den schulgebrauch wird das genügen, darüber hinaus läszt sich
eine allgemeine regel schwerlich aufstellen, da eben der Sprach-
gebrauch der Schriftsteller, wie das bei der zwitterstellung dieser
Wörter erklärlich , schwankend ist.
Die entsetzlichen gereimten geschlechtsregeln verschwinden
gott sei dank allgemach aus den neueren grammatiken. manches
falsche, manches überflüssige ist ausgemerzt und der eine oder
andere neue gesicbtspunkt gefunden, ich habe mich bemüht, auch
hier eine noch gröszere einfachheit und Übersichtlichkeit zu schaffen
und gebe hier zunächst eine kurze dai*stellung der geschlechtsregeln
zur dritten declination.
Von den stammen auf 1, m, r, s sind masculina:
1) die auf ör; neutrum jedoch os, oris der mund;
2) die auf r nach muta (praktisch wird die elementargram-
matik sagen: die auf r nach einem andern mitlauter; hierherge-
hören z. b. die Wörter imber, uter, venter), feminina jedoch
Unter und febris;
3) diejenigen auf er, welche im nom. auf is endigen, wie z. b.
pulvis, crinis, vomis;
4) die tiernamen wie vultur, passer, anser, mus, lepus,
vermis — mugil;
5)asser,agger,carcer,later,axis,mensis,as,collis,
sol und sal.
arbor ist femininum.
Von den muta-stämmen sind masculina: fons, mens,
pons, dens, grex, lapis, paries und pes, orbis, fascis,
piscis, fustis, vectis, sentes (plur.) sowie verschiedene mehr-
silbige auf ic und it.
Sonst sind, von den n-stämmjen abgesehen, die stamme
mit geschlechtsbildendem s feminina, die ohne ge-
schlechtsbildendes s neutra. vergleiche z. b. stamm pell, nom.
pellis, und feil, nom. fei, stamm aur, nom. auris, und mar,
nom. mare, stamm part, nom. pars, und lact, nom. lac.
Von den n-stämmen sind feminina:
1) die auf iön, welche keine greifbaren einzeldinge
(wie z. b. pugio) bezeichnen, also z. b. ratio, regio, legio;
G. Faslerding: zur lateinischen formenlebre. 41
2) die auf din und gin nach langem vocal oder n (z. b.
stamm cupidin, aerügin, grandin);
3) caro.
Die Stämme auf min sind neutra, die meisten übrigen
n - stamme m a s c u li n a.
Man sieht, dasz hier ein unterschied zwischen einfachen und
erweiterten stammen nicht gemacht, sondern durchweg auf den
ursprünglichen stamm zurückgegangen ist. — Dasz die Wörter
auf i s der regel nach als feminina aufgeführt werden, während jene
regel dann durch einen ganzen schwärm von ausnahmen als unhalt-
bar hingestellt wird, hat ja oft genug zu spott veranlassung gegeben,
und dasz die endung es keine specifisch dem femininum angehörige
ist, zeigt z. b. vates.
Was die geschlechtsregeln für die andern declinationen angeht,
so sei folgendes bemerkt.
Man findet noch immer angegeben, dasz die baumnamen feminina
seien, es beschränkt sich das aber doch auf die zweite und vierte
declination; für die dritte trifft die regel nicht zu.
Das wort virus ist aus den neueren elementargrammatiken
verschwunden, jedenfalls gehört es mit seinem nominativ nicht
zur zweiten declination. wäre es anders, dann hätten wir ein ge-
schlechtsbildendes s , und es müste sich doch eine spur von ge-
schlechtiger anwendung des wortes finden: das ist aber nicht der
fall, vergleichen wir das griechische pelagus, so kommen wir auf
das richtige: virus ist wie jenes neutrum nach der dritten declina-
tion, von dem aber der gen., dat. und abl. ungebräuchlich waren.
Lucrez bildete diese formen, aber mit Übergang in die zweite decli-
nation: viri, viro wie pelagi, pelago.
Mit vulgus verhält sich die sache anders, dieses wort kommt
auch als masculinum vor, und wir haben dieses geschlecbt als das
ursprüngliche anzusehen, die neutrale anwendung rührt von der
verächtlichen bedeutung her , wie wir z. b. sagen das mensch , oder
wie Scheffel singt :
in dieser schöppleinschlürfer reih'
sasz auch ein stilles gast,
und als es acht uhr war vorbei,
nahm's stock und hut mit hast.
Im übrigen bin ich der ansieht Eichners, welcher in seiner
Schrift 'zur Umgestaltung des lateinischen Unterrichts' (Berlin 1888)
s. 13 f. sagt: 'bei den genusregeln, besonders nach der dritten
declination, bin ich schon lange zweifelhaft geworden, ob es sich
lohnt, das geschlecht, zumal von seltneren Wörtern, durch mühsame
abstraction aus einer regel oder aus der ausnähme von einer regel,
oder gar aus der ausnähme von einer ausnähme einer regel abzu-
leiten, statt einfach wie im französischen und griechischen mit und
bei der vocabel lernen zu lassen, zum wenigsten sollte man sich
42 G. Fasterding: zur lateinischen formenlehre.
auf die grund- und hauptregeln beschränken und die anderen zum
leichteren behalten des geschlechts auf später verschieben.'
Bei der declination der griechischen Wörter ist der Übergang
der geschichtlichen personennamen und der flusznamen
auf es aus der griechischen ersten declination in die lateinische dritte
zu beachten, z. b. Xerxes, Euphrates, während sonst die mas-
culina auf as und es im lateinischen nach derselben declination
gehen wie im griechischen, dahin gehören z. b. in dem mjthus, in
der dichtung vorkommende personennamen auf es wie Anchises,
D i 0 m e d e s. es finden sich jedoch bei den personen- und flusznamen
auf es nach der dritten declination griechische nebenformen aus der
ersten, wobei zu bemerken, dasz der griechischen endung ou latei-
nisch i entspricht; also Aristidis und Aristidi, Aristidem und
Aristiden.
In der lehre vom pronomen wird die elementare formen-
lehre ja freilich manches aufnehmen müssen, was eigentlich der be-
deutungs- und wortbildungslehre angehört; aber diese unvermeid-
lichen zuthaten sollten doch nicht den gesichtspunkt verschieben,
dasz man es im gründe mit der formenlehre zu thun hat, dasz
nicht die bedeutung, sondern die form für die ganze anordnung
maszgebend sein musz. auch bei der behandlung der nomina stellen
unsere elementargrammatiken die bedeutung über die form und
führen durch scheidung der declination der adjective von der der
Substantive eine ungehörige zerreiszung des zusammengehörigen
herbei, beim pronomen tritt das unlogische der behandlung aller-
dings deshalb nicht besonders scharf hervor, weil die spräche selbst
hier logischer verfahren ist als die grammatiker: Verschiedenheit
der bedeutung geht eben hier mit der Verschiedenheit der form
band in band, achtet man aber auf letztere genau, so findet man,
dasz nach abtrennung des pronomen possessivum, welches der nomi-
nalen declination folgt, die pronomina mit pronominaler decli-
nation der form nach in zwei classen zerfallen, nämlich in pronomina
ohne allen formalen geschlechtsunterschied — die personalpro-
nomina — und in wandelbare für Wörter, letztere scheiden sich
dann wieder in zwei abteilungen, in solche mit pronominaler motion
— nom. acc. sing, neutr. auf d — und in solche mit nominaler
motion — nom. acc. sing, neutr. auf m.
Die pronomina mit pronominaler motion teile ich in zwei
classen, in bestimmende und nicht bestimmende.
Während die persönlichen fürwörter auf dem gegensatz der
beiden verkehrenden personen unter einander (personalpronomen
der ersten und zweiten person) oder einer dritten zu sich selbst
(reflexivpronomen der dritten person) beruhen, stehen die bestimmen-
den fürwörter im gegensatz zu den beiden verkehrenden personen.
es gehören dazu also zunächst is, verstärkt idem, und die pro-
nomina demonstrativa ille, hie und iste. aber wir müssen noch
eins hinzufügen, den gegensatz von is: alius; dem pronomen ipse
G. Fasterding : zur lateinischen formenlehre. 43
dagegen, welches in unsern grammatiken an dieser stelle erscheint,
ist, wie wir gleich sehen werden, ein anderer platz anzuweisen.
Wegen iste will ich hier bemerken, dasz die erklärung des-
selben in grammatiken und Wörterbüchern nicht genau ist. es wird
bezeichnet als das demonstrativpronomen der zweiten person; es
soll auf das hinweisen, was dem angeredeten zunächst liegt, so
wird es ja freilich auch sehr häufig angewendet, aber sehr oft geht
es doch auf einen dritten oder ein drittes, die mit dem angeredeten
nichts zu schaffen haben, die Vereinigung beider bedeutungen ist
aber sehr einfach: durch iste bezeichnet der mitteilende dem an-
geredeten gegenüber den gegensatz zu seiner, des mitteilenden,
person. hält man das fest, so ergeben sich die verschiedenen an-
wendungen von selbst, sowohl die beziehung auf das, was in irgend
einem Verhältnis zur zweiten person steht, als seine anwendung auf
den gegner im process und seine ironische und verächtliche bedeu-
tung. da übrigens iste dem gespräch und der rede, nicht der
geschichtlichen darstellung angehört, so wird man gut thun,
seine kenntnis dem Schüler so lange zu ersparen , bis es ihm in der
lectüre aufstöszt. nicht nur, dasz es für ihn ein unnötiger ballast
ist, mit dem er nichts anzufangen weisz: die art seiner anwendung,
für welche sich im deutschen nichts entsprechendes findet, ver-
wirrt ihn.
Als nicht bestimmendes für wort bezeichne ich das pro-
nomen qui (quis), quae, quod (quid), welches in dreifacher an-
wendung erscheint, nämlich als bestimmung heischend vom
redenden (pronomen relativum) oder vom angeredeten (pro-
nomen interrogativum) und als unbestimmtes fürwort (pronomen
indefinitum).
Die Wörter unus, solus usw. behandelt man ja bereits richtig
bei den pronominibus. dasz aliu s schon seiner form nach von ihnen
zu trennen ist, habe ich vorhin bemerkt; an seiner statt haben wir
ipse einzufügen, und nun werden wir sehen, wie diese der form
nach zusammengehörigen wörter auch in ihrer bedeutung einen ge-
meinschaftlichen grundzug haben, während nämlich die übrigen für-
wörter bezeichnung des wesens des gegenständes bezwecken,
heben jene sie in ihrer einheit, ihrer Individualität hervor,
entweder wird das Individuum einfach von allen, mehreren oder
einem andern geschieden (unus und das davon abgeleitete ullus
— verneint nullus — solus, alter, uter, neuter) oder mit
betonung eben dieses gegensatzes besonders hervorgehoben (ipse)
oder als ganzes seinen teilen entgegengesetzt (totus).
Was die behandlung der conjugation anlangt, so möchte ich
auf eins aufmerksam machen.
Die neueren grammatiken sind von der unwissenschaftlichen
annähme von vier grundformen (ind. praes. act. , ind. perf. act.,
supinum und inf. praes. act.) abgegangen und legen den präsens-,
perfect- und supinstamm zu gründe, aber man sieht auch hier, dasz
44 R. Le Mang: lehrplan für den deatschen Unterricht im realgymn.
der mensch die gewohnheit seine amme nennt: gelernt wird das
verbum noch immer in jenen vier formen, liesze man den ind. praes.
act. weg und setzte an dessen stelle als Vertreter des präsensstammes
den inf. praes., so würde das sowohl das lernen als auch das auf-
sagen vereinfachen und erleichtern, der ind. praes. brauchte nur
bei den paar verben auf io nach der dritten conjugation (capio usw.)
und den verbis anoraalis besonders gelernt zu werden.
Hinsichtlich der aufführung des supinums als grundform ver-
weise ich auf das, was Scheindler in dem vorwort zu seiner lateini-
schen grammatik s. V flF. sagt, das part. perf. (statt der ersten pars,
ind. perf.) würde ich auch heim deponens lernen lassen.
Ich empfehle also z. b.
audire, audivi, auditus statt audio, audivi, auditum,
audire;
tacere, tacui, taciturus statt taceo, ui, itum, ere;
capere (io), cepi, captus statt capio, cepi,captum, capere;
hortari, hortatus statt hortor, hortatus sum, hortari.
Westerburg (Westerwai.d). Gustav Fasterding.
3.
ZUM ENTWURF EINES LEHRPLANS
FÜR DEN DEUTSCHEN UNTERRICHT IM REALGYMNASIUM.
Im lOn hefte des vorigen Jahrganges der Zeitschrift für den
deutschen Unterricht wird der entwurf eines lehrplans für den
deutschen Unterricht veröffentlicht, den dr. Lyon in Verbindung mit
dr. Hentschel und dr. Matthias für das kgl. sächsische ministerium
des cultus und öffentlichen Unterrichts ausgearbeitet hat. da diese Ver-
öffentlichung auf den wünsch einer maszgebenden persönlichkeit im
ministerium geschieht, so soll dadurch doch wohl den fachcollegen
die möglichkeit geboten werden, sich zu diesem entwürfe zu äuszern.
überzeugt davon, dasz nur eine häufige ausspräche ein klai-es bild
über die ansichten und wünsche der lehrer des deutschen geben kann,
dasz nur dadurch der zweck dieser Veröffentlichung erreicht wird,
komme ich dieser aufforderung um so lieber nach , als der entwurf
nach jeder seite hin einen groszen und schönen fortschritt gegen-
über der lehr- und Prüfungsordnung von 1884 bedeutet.
Vor dreiszig jähren fast hat Hildebrand in seinem goldenen
buche über den deutschen Sprachunterricht auf den einzig gangbaren
weg hingewiesen, in der schule deutsche grammatik zu treiben; jetzt
im entwürfe seiner schüler kommen des meisters gedanken zur
durcbführung. denn wenn der entwurf verlangt: 'die grammatische
Unterweisung hat im deutschen stets und durchaus auf inductiv-
R. Le Mang : lehrplan für den deutschen Unterricht im realgjmn. 45
heuristischem wege zu erfolgen, der von den einzelnen sprach-
erscbeinungen ausgehend den schüler zur auffindung des gesetzes fort-
schreiten und aus beispielen die regel entwickeln läszt', was ist das
anderes als der Hildebrandsche grundsatz: 'der lehrer des deutschen
soll nichts lehren, was die schüler selbst aus sich finden können,
sondern alles das sie unter seiner leitung finden lassen.'
Infolge dessen verhält sich der grammatische Unterricht des
entwurfs zu dem der lehr- und Prüfungsordnung z. b. für sexta und
und quinta so :
Lehr- und
Prüfungsordnung.
Wortarten und wörter-
classen ; declination und
conjugation , ausgenom-
men die Schwankungen;
gebrauch der wichtig-
sten conjunctionen; lehre
vom einfachen satze im
anschlusz an die pro-
saische lectüre.
Entwurf.
Sexta.
Die grammatische belehrung umfaszt in
rücksicht auf den auf solche grundlagen
angewiesenen fremdsprachlichen Unterricht
den einfachen satz und seine einfachsten
erweiterungen (die vier arten der haupt-
sätze — einiges über subject, prädicat, ob-
ject, attribut, adverbialien) , die wichtig-
sten wortclassen und das wichtigste von
declination und conjugation.
Quinta.
Die grammatische Unterweisung nimmt
die noch übrigen erweiterungen des ein-
fachen Satzes auf, entwickelt die begriffe
der beiordnung und der Unterordnung der
Sätze, behandelt die einfachen coordinier-
ten Satzverbindungen, das Satzgefüge, die
Unterscheidung von haupt- und nebensatz
und deren kennzeichen, eingehender den
gebrauch und die bildung der relativsätze.
die gruppen der aus sexta bekannten wort-
classen werden vermehrt (einteilung der
verba, pronomina, binde Wörter; wichtige
Präpositionen nach rection und bedeutung
u. a.). die flexionslehre wird entsprechend
erweitert (genaueres über die declination
der substantiva und der pronomina, wie
auch über die conjugationen).
Man hat ja immer gegen die forderung eines eingehenden
grammatischen Unterrichts im deutschen den ausspruch Grimms an-
geführt, dasz die deutsche grammatik in der schule nicht getrieben
werden solle, das würde den kindern ihre muttersprache verleiden,
aber diese worte richten sich eben gegen den damaligen schul-
mäszigen betrieb der grammatik, sie sagen dasselbe, was Hilde-
Satzverbindung und
die coordinierenden con-
junctionen; der relativ-
satz; Vervollständigung
der hauptregeln der
Orthographie und inter-
punction; die präposi-
tionen im anschlusz an
die prosaische lectüre.
46 R. Le Mang: lehrplan für den deutschen Unterricht im realgymn,
brancl in seinem oben erwähnten buche ausspricht: 'das hochdeutsche
darf nicht als ein anderes latein in der schule behandelt werden,'
dasz der entwurf diesen grundsatz zur anerkennung bringt, ihn für
die schule zur regel macht, darin liegt sein groszer pädagogischer
wert und ein groszer fortschritt der alten lehr- und Prüfungsordnung
gegenüber.
Mit der gröszeren Verbreitung der kenntnis fremder sprachen,
mit dem erweiterten geschäftsverkehre und der vielschreiberei und
vielleserei unserer zeit hat sich ein gewisser verfall unserer spräche
eingestellt, besonders hat sich das gefühl für die sprachwidrig-
keiten abgestumpft, mehr noch als im gymnasium tritt dieser
fehler dem lehrer im realgymnasium entgegen, das ja seine schüler
meist aus fabrikanten- und kaufmannskreisen erhält, deswegen ist
es auch seine besondere aufgäbe und seine pflicht, sprachwidrigkeiten
und sprachverirrungen nachdrücklich zu bekämpfen, mit groszer
freude ist es daher zu begrüszen, dasz der entwurf auch hier dem
bedürfnisse so entgegenkommt, während die lehr- und Prüfungs-
ordnung hieiüber noch gar nichts sagt, fordert er für quinta: bei
den grammatischen erörterungen sind allenthalben die Schwankungen
des Sprachgebrauchs besonders zu berücksichtigen; für quarta: er-
gänzung der formenlehre und abschlusz der formenlehre mit betonung
dessen, was des richtigen Sprachgebrauchs wegen beachtung ver-
dient, für Untertertia heiszt es: besonders zu berücksichtigen sind
Schwankungen des Sprachgebrauchs und gangbare Sprachfehler, für
Obertertia: die grammatischen stoffe der vorhergehenden classen
werden wiederholt unter hinweis auf die häufigsten verstösze gegen
die Sprachrichtigkeit, endlich wird noch im plane der unter-
secunda betont: das Verständnis für die Sprachrichtigkeit ist weiter
zu schärfen.
Hiermit tritt die schule vorbeugend der gefahr der sprach-
verschlechterung in den kreisen entgegen, die ihr — wie schon ge-
sagt — am meisten ausgesetzt sind.
Dasz dies nicht ohne kenntnis der sprachgescb ichte mög-
lich ist, ist klar, so wird denn auch folgerichtig im entwürfe auf die
geschichtliche entwicklung unserer spräche groszes gewicht gelegt.
Während nach der lehr- und Prüfungsordnung eigentlich nur
in der obertertia bei der wortbildungslehre anlasz und gelegenheit
geboten war, auf die entstehung unserer spräche etwas einzugehen,
sorgt der entwurf im reichsten masze dafür, schon die Unter-
tertia beginnt mit einigem über Wortbildung, die obertertia
gibt bei der Wortbildung die bedeutung und frühere form einiger
bildungssilben, sowie sprachgeschichtliche bemerkungen, Wort-
familien, und die unter secunda bringt uns die entwicklung des
hochdeutschen.
Diese sprachgeschichtlichen ausblicke sind nicht nur sehr wichtig
und höchst notwendig für das Verständnis des deutschen, sie sind
auch für den lehrer eine wohlthat, besonders gute bissen in den
R. Le Mang: lehrplan für den deutschen Unterricht im realgymn. 47
stunden, denn sie gerade werden von fast allen Schülern — die
allerträgsten nur ausgenommen — mit offenen obren und herzen
aufgenommen, wie man es füblt, wenn etwa bei der Caesarlectüre
auf deutsche sitte und alte deutsche worte die rede kommt; sie regen
die jungen auch zu eignem nachdenken und zu eignem beobachten an.
Der gröste und schönste fortschritt des entwurfs gegenüber der
lehr- und Prüfungsordnung ist die einführung des mittelhoch-
deutschen in obersecunda.
Wenn der nur wahrhaft gebildet genannt werden kann, der
seine muttersprache versteht, so ist es für unser volk und für unsere
höheren schulen wirklich beschämend, wie viel ungebildete gebildete
herumlaufen, rühmend wird uns von den Griechen erzählt, welchen
einflusz dort die Homerischen gesänge ausübten, wie sie im ganzen
volke verbreitet waren, dasz mancher Ilias und Odyssee vollständig
auswendig gekonnt habe: und bei uns? die deutsche Ilias und die
deutsche Odyssee lernte ein teil unserer gebildeten Jugend nur in
neuhochdeutscher Übertragung kennen, gleich als wenn das mittel-
hochdeutsch eine fremde spräche wäre, da ist es doch wohl höchste
zeit, dasz auch das realgymnasium das mittelhochdeutsche bei sich
einführe, noch dazu, wenn es in einer pädagogisch geschickten weise
geschieht, wie es im entwürfe vorgeschrieben wird, da beiszt es: 'in
Verbindung mit der lectüre einführung in die kenntnis der mittel-
hochdeutschen spräche auf heuristischem wege, mit betonung der
abweichung des mittelhochdeutschen, diese einführung in das mittel-
hochdeutsche ist vor allem zugleich dem Verständnis der sprach-
entwicklung dienstbar zu machen, auf die schon von sexta an in weiser
Sparsamkeit, aber ununterbrochen bei aufstoszenden unterschieden
zwischen volks- und Schriftsprache, mundartlicher oder altertüm-
licher ausdrucksweise, bedeutungswechsel u. dergl. hinzuweisen ist.'
Mit dieser einführung ins mittelhochdeutsche ist aber nicht nur
eine bessere kenntnis der deutschen grammatik verbunden, durch
sie wird erst ein tieferes Verständnis der deutschen litteratur,
des deutschen geist esleb ens möglich, auch hier macht der
entwurf ver^äumnisse der alten lehrordnung wieder gut.
Der grosze fortschritt zeigt sich besonders in obersecunda,
wo für die lectüre eine 'aus wähl aus der erzählenden dich-
tung wie aus dem minnesang im urtext zu gründe zulegen
ist', besonders beachtenswert ist dabei die parenthese: 'vor allem
soll die lectüre mit dem geiste des deutschen altertums und den
culturverhältnissen unserer vorzeit vertraut machen.' dem unter-
richte, in solchem geiste gegeben, wird der schüler nicht nur mit
lust und liebe folgen, er wird aus ihm auch manches mit ins spätere
leben hinau^nehraen.
Auch das pensum der unter prima erfährt eine erweiterung
dadurch, dasz zur eingehenderen besprechung noch vorgeschrieben
werden: Hans Sachs und das Volkslied, die bedeutung des
Nürnberger sängers ist ja allmählich mehr und mehr erkannt wer-
48 R. Le Mang: lehrplan für den deutschen Unterricht im realgymn.
den, und wenn die höhere schule ihre Zöglinge auf den Jungbrunnen
unseres Volksliedes hinweist, so erfüllt sie damit nur eine heilige
pflicht und eine schöne aufgäbe, wollte gott, das Volkslied würde
auch im gesangunterricht mehr gepflegt!
Für Oberprima wird eine eingehendere behandlung Schillers
und Goethes verlangt — auch der prosaischen Schriften — wozu
noch Herder, Wieland und die romantiker treten, besonders erfreu-
lich ist, dasz auch auf die hauptsächlichsten erscheinungen der
neueren litteratur der schüler durch private lectüre und durch freie
vortrage hingewiesen werden soll.
Damit kommen wir zum letzten wichtigen punkt des entwurfs.
im höheren masze als die lehr- und Prüfungsordnung von 1884 will
er den schüler zum gewandten gebrauche des wortes, zur
freien rede, führen.
Wenn man im leben , bei ernsten oder bei fröhlichen anlassen,
sieht, wie wenig sprachgewandt der gröste teil unserer gebildeten
ist, wie wenige im stände sind, ohne grosze Vorbereitungen und
ohne auswendiglernen ein paar worte zu reden, wie ihnen ihre
muttersprache mehr zum schreiben als zum sprechen da ist: so kann
man der schule den Vorwurf nicht ersparen, dasz sie hier eine pflicht
vernachlässigt habe.
Das, was jetzt für den freien Vortrag geschah, war viel zu wenig,
erst von obersecunda an, also in den drei letzten jähren, wurde ihm
aufmerksamkeit geschenkt, so dasz der schüler durchschnittlich drei
vortrage halten konnte, bei wie vielen mögen es aber nur zwei ge-
wesen sein! der entwurf setzt damit schon in obertertia ein. aus
eigner erfahrung weisz ich, wie gerade Obertertianer ihre freien vor-
trage halten, wie jeder seinen stolz darein setzt, seine zehn oder fünf-
zehn minuten ohne stocken und steckenbleiben zu reden, gewöhnt
man dabei die schüler einander selbst zu kritisieren, so beteiligt sich
gern die ganze classe daran, wobei Übertreibungen der kritik von
den Schülern selbst zurückgewiesen werden.
Endlich möchte ich noch etwas erwähnen, das allerdings nicht
unmittelbar zur deutschen spräche gehört, das ich aber als sehr glück-
lich bezeichnen möchte, die bestimmung: 'wichtige werke der antik-
classischen wie der neusprachlichen litteratur sind vergleichsweise
in den Unterricht zu verweben, und mindestens ist je eine tragödie
des Sophokles und Äschylos zu lesen.'
Neben der lectüre der Ilias und der Odyssee wird dies nicht
nur die gegent^eitige beeinflussung und befruchtung der völker auch
in der dichtung erkennen lassen, sie wird den schülern, die meist in
das reale, praktische leben hinaustreten, durch die schönsten werke
des griechischen geistes einen ausblick in eine weit ö9"nen, die bis
dahin verschleiert neben ihrem wege lag, und wird mit dem Ver-
ständnisse auch eine Würdigung jener alten völker ihnen ermöglichen,
die mithelfen wird, den noch bestehenden gegensatz zwischen huma-
nistischer und realistischer bildung auszugleichen.
ß. Le Mang: lehiplan für eleu deutschen Unterricht im realg-ymn. 49
Überblicken wir das gesagte noch einmal , so können wir mit
freuclen den groszen fortscbritt feststellen, der sich, dem
wachsen unseres volksgefühls folgend, in der Wertschätzung
der deutschen spräche in den zwölf jähren zeigt, die zwischen
der lehr- und Prüfungsordnung und diesem entwürfe liegen, die
muttersprache nimmt mehr und mehr die ihr gebührende Stellung
in der schule ein.
Freilich zwei punkte sind es, die bedenken erregen können.
Erstens wie soll das alles bei den wenigen stunden geleistet
werden? ich halte eine gründliche und fruchtbringende durch-
arbeitung des lehrstoflFes in drei stunden für unmöglich, eine
stunde musz noch dazu gegeben werden, vorschlage darüber zu
machen , kommt mir nicht zu; nur darauf riiöchte ich hinweisen, ob
nicht die 6e lateinstunde in unter- und in obertertia besser für das
deutsche zu verwenden wäre.
Ferner aber stellt der entwurf ganz andere anforderungen an
den lehrer. nicht nur besonders groszes pädagogisches geschick
wird verlangt, sondern auch eine gründliche kenntnis des deutschen
und seiner entwicklung. der grundsatz, der so oft noch befolgt
wird, dasz deutsch eigentlich jeder geben könne, darf nicht mehr
gelten, der theolog ist nun nicht mehr an und für sich der lehrer
des deutschen, und dafür, dasz ein naturgeschichtler etwa deutschen
Unterricht erteilen musz, darf nicht mehr als grund angegeben wer-
den, er müsse auch eine correctur haben, nein ! der alte satz Hilde-
brands musz endlich zur geltung gelangen: 'kein lehrer darf mit
dem deutschen unterrichte betraut werden , der nicht das neuhoch-
deutsche mit geschichtlichem blicke ansehen kann.'
Hoffen wir, dasz an diesen beiden klippen der schöne entwurf
nicht scheitere!
Dresden. Richard Lb Mang.
4.
ZUM UNTERRICHTE IN DER NEUEREN UND NEUESTEN
GESCHICHTE.
Auf und ab wogt die flut von hilfsbüchei-n und anweisungen
für den geschichtsunterricht besonders in den oberen classen unserer
höheren schulen: nur in wenigen fragen ist Übereinstimmung er-
zielt: was hier für richtig, ja ausscblieszlich gültig gehalten wird,
kann auf der andern seite keinen beifall finden, da ist es mit genug-
thuung zu begrüszen, dasz der Verfasser eines tüchtigen hilfsbuchs
das wort zur eingehenden begründung seines Verfahrens ergriffen
hat. wie Brettschneider sich in seinem hilfsbuche' als ein-
* Harry Brettschneider, hilfsbuch für den Unterricht in der geschichte
für die oberen chissen höherer lehrtinstalten. Halle a. S., buchhandlung
des Waisenhauses. 1892 — 94. 3 teile.
N. Jahrb. f. phil. u. päd. II. abt. 1897 hft. 1. 4
50 Th. Sorgenfrey: zum unterrichte in der neueren u. neuesten gescliichte.
sichtiger facbraann gezeigt hat, so ist auch sein 'nachwort zu
meinem hilfsbuch'^ durchdrungen von einsieht und warmerbe-
geisterung. an die spitze seiner ausführungen stellt B. den satz :
aller Schulunterricht hat die eine und ausschlieszliche aufgäbe, vor-
zubereiten für das leben, freimütig und nachdrücklich macht B.
gegen die landläufige Strömung front , als wenn die schule und ihr
Unterricht für alles unheil unserer tage verantwortlich gemacht wer-
den müsse und als ob insbesondere der geschichtsunterricht jetzt
aufgaben zu lösen hätte, die ihm früher nicht gestellt waren, mit
ernst und nachdruck weist B. auf den bildungswert der geschichte
hin, lehnt die lehre Hegels ab und bekennt sich zu der ansieht, dasz
in der geschichte wie im leben notwendigkeit und zufall, causale
bedingt heit und Willensfreiheit herscht. es gilt die massen und
persönlichkeiten in das richtige Verhältnis zu einander zu bringen,
bei aller begeisterung für die höchsten ziele tritt B, mit recht der
überschwenglichkeit entgegen, in der sich die gedanken von Martens
(Verhandlungen der 13n preuszischen directorenversammlung 1892)
bewegen: mit nachdruck wird gezeigt, wie die einseitige auffassung
der durch die amtliehen lehrpläne für preuszische schv;len gestellten
forderungen die allerbedenklichsten folgen haben müste, wie von der
objcctiven wahi-heit wenig, vielleicht gar nichts übrig bleiben würde,
so verbleibt denn dem geschichtsunterricbte die dreifache aufgäbe:
einprägung eines bestimmten maszes von geschichtlichen thatsachen,
Stärkung des sittlichen woUens und Verknüpfung der thatsachen
nach Ursache und Wirkung, es wird gelten, diesen forderungen im
unterrichte gerecht zu werden, aber vor jeder Überspannung des
Zieles sorglich sich zu hüten, mit vollem rechte weist B. Irrwege,
wie sie Schenk in den *lehrproben und lehrgängen' heft 39 als
musterlection vorgezeichnet hat, nachdrücklich zurück; hier ist
wider willen ein muster geboten, wie geschichtsunterricht nicht er-
teilt werden darf, auf den Vortrag des lehrers will B. nicht ver-
zichten, denn erwärmen kann nur das warme wort des lehrers. wie
soll aber das lehrbuch beschaffen sein, das dem unterrichte zu gründe
gelegt wird? es soll ein lesbares buch sein, indem es den stoff in
zusammenhängender darstellung bietet; es soll auf die darlegung
des inneren zu^aramenhangs, die heraushebung der treibenden kräfte,
die hervorhebung des bedeutungsvollsten und typischen besonderen
wert legen, mit der geschichte der handlungen hat sich die der zu-
stände zu verbinden und ihre Wechselbeziehungen sind wohl zu be-
achten, aber die besprechung der zustände — culturgesehichte —
darf die der handlungen nicht beeinträchtigen oder gar verdrängen,
culturgeschichtliche daten sind zusammenzufassen; wer wird grie-
chische geschichte lehren wollen, ohne auf die kunst vornehmlich
im Zeitalter des Perikles rücksicht zu nehmen? wer wird von den
2 Brettschneider, zum Unterricht in der geschit-hte vorzugsweise in
den oberen classen höherer lehranstalten. ein nachwort zu meinem
'hilfsbuch'. Halle a. S., buchhandlung des Waisenhauses. 1895. 8". 84 s.
Th. Sorgenfrey : zum unterrichte in der neueren u. neuesten geschichte. 5 1
freiheitskriegen handeln, ohne die helden des geistes wie Fichte un'l
Schleiermacher zu erwähnen? aber kunstgeschichte läszt sich ohne
anschauung nicht lehren und zur beschaffung ausreichender an-
schauungsmittel fehlen die geldmittel. wer hier eine Zusammenstel-
lung dessen machen wollte, was zumal in kleineren und mittleren
Städten, wo museen und Sammlungen keine Unterstützung gewähren,
geboten wird, der würde seltsame erfahrungen machen, also weise
beschränkung, wie auch bei den dementen der Staatslehre, jetzt
bürgerkunde genannt, von systematischer behandlung abgesehen
werden musz: das richtige masz scheint Moldenhauer in seinem
unten zu besprechenden buche getroffen zu haben, wenn er auch für
B. noch zu weit geht, es braucht ja Moldenhauers anhang nicht ab-
schnitt für abschnitt durchgesprochen oder gar auswendig gelernt
zu werden.
Von besonderer Wichtigkeit ist für die preuszischen anstalten
und die, welche den lehrplan von 1892 angenommen haben, die
oberste stufe des geschichtsunterrichts. was B. über die behandlung
der alten geschichte vorbringt, soll demnächst mit andern vor-
schlagen in einem besonderen aufsatze besprochen werden, die lehr-
aufgabe der prima oder besser gesagt der primen — denn der lehr-
plan von 1892 fordert durch seine ganze anläge dringend genug,
dasz die trennung der prima mit rücksicht auf die Schwierigkeit des
Unterrichts allerorten auch in Preuszen durchgeführt wird, selbst
wenn die frequenz nicht aus äuszeren gründen dazu drängt — ist
durch die ministerialverfügung vom 13 october 1895 wieder ver-
ändert , da in unterprima die geschichte vom tode des Augustus bis
zum ausgange des 30jährigen kriegs geführt werden soll, da ist die
forderung erfüllt, dasz die germanischen Wanderungen zusammen
mit der gleichzeitigen römischen kaisergeschichte behandelt werden,
und die frage nach dem beginn des mittelalters für die schule er-
ledigt, aber die gliederung des überreichen stoffes ist nur noch
schwieriger geworden, gilt es doch beschränkung des Stoffes in
noch gröszerem masze herbeizuführen als durch die lehrpläne von
1892 geschehen war; gilt es doch den fast überreichen stoff von
1650 Jahren in einzelne gruppen zu zerlegen, die den Schülern über-
sichtlich und verständlich sind, je gröszer der Zeitraum ist, desto
sorgfältiger musz er in einzelne teile zerlegt werden, desto mehr her-
vorgehoben werden, dasz in jeder periode geschichtlicher entwick-
lung die vorhersehende Strömung einer epoche zum ausdruck
kommt, auf die römische kaiserzeit folgt die grundlegung der
neueren geschichte in der germanischen Staatenbildung , die ihren
höhepunkt in der entstehung des fränkischen reichs findet, sodann
die vorherschaft des deutschen reichs, weiter das Zeitalter der kämpfe
zwischen kaisertum und papsttum, ferner der stürz der politischen
weltherschaft des papsttums und die ausbildung nationaler Staaten,
endlich das Zeitalter der reformation und der religionskriege. diese
von B. empfohlene einteilung des pensums der unterprima wird all-
4*
52 Th. Sorgenfrey : zum unterrichte in der neueren u. neuesten gescbichte.
gemeine billigung finden, aber es gilt, mit den 120 stunden, die in
dem einen schuljabre zur Verfügung steben, sebr baus zu balten:
immer und immer wieder musz die trennung der unterprima von
der oberprima aucb im gescbicbtsunterricbte gefordert werden,
scbon um den unmittelbaren anscbluss an das pen*um der ober-
secunda zu erreicben. ganz über gebübr wird der unterriebt für
lebrende und lernende erscbwert, wenn das pensum der oberprima
in einer combinierten prima zwischen das der obersecuuda und unter-
prima eingeschoben werden musz. nur da wird das pensum der
oberprima nicbt in der luft schweben, wo die neuere geschiebte sieb
auf die entwicklung des mittelalters stützt, wie sie in einer unter-
prima gegeben werden kann, und der lehrer nicbt gezwungen ist,
auf die tertia zurückzugreifen, und das ist nötig, denn in der
neuesten gescbicbte tritt der kämpf um bürgerliche freibeit, die ge-
staltung nationaler Staaten und sociale probleme in den Vordergrund,
die lebraufgabe der oberprima will B. vom europäischen Stand-
punkte aus bebandelt wissen im gegensatze zu der behandlung des
Pensums der untersecunda. trotz des Wortlautes der lehrpläne, die
von brandenburgisch-preusziscber gescbichte sprechen, indem sie als
lebraufgabe bestimmen: 'die wicbtigsten begebenbeiten der neuzeit
vom ende des dreiszigjährigen krieges, insbesondere der branden-
burgiscb-preuszischen gescbichte , bis zur gegenwart' ist dieses ver-
fahren gerechtfertigt, denn in den bemerkungen (lebi-pläne s. 43)
wird vorgeschrieben , dasz an der band der gescbicbte die social-
politiscben maszregeln der europäischen culturstaaten in den
beiden letzten Jahrhunderten vor äugen geführt werden sollen, ganz
besonders schwierig ist auf der obersten stufe die eingehende berück-
sichtigung der inneren gescbichte, aber es ist nach den erfabrungen
B.s doch möglich , auch für die wirtschaftlicb-sociale seite zunächst
der französischen revokition Verständnis zu erreichen, die neueste
gescbicbte will B. mit 1871 als einem der erhabensten momente
unserer nationalen gescbichte schlieszen. die behandlung der socialen
frage möchte B., soweit die entwicklung in den letzten Jahrzehnten
in frage kommt, unterlassen, da in der schule doch nicht die social-
demokratisebe gefahr beschworen werden kann, hier wird B. all-
gemeinen beifall finden, dasz er thesen wie die, welche nach angäbe
der Verbandlungen der 13n preusziscben directorenversammlung
1892 wirklich von einem lehrercollegium aufgestellt ist: 'in prima
sind die grundlebren der socialdemokratie mitzuteilen und kritisch
in ihre Irrtümer aufzulösen' — unbedingt verwirft. B. will die er-
örterung der socialistischen theorie der Wissenschaft überlassen und
von dem Schulunterrichte fern balten. die schule wird die Schüler
auf die auszerordentliche Schwierigkeit dieser dinge hinweisen und
sich im sinne der durch die cabinetsordre vom 1 mai 1889 veran-
laszten vorschlage des preusziscben Staatsministeriums bescheiden
müssen, die heranwachsende Jugend auf grund ihrer geschichtlichen
erfabrungen und ihres gesunden denkvermögens zu befähigen, die
Th. Sorgenfrey : zum unterrichte in der neueren u. neuesten geschiclite. 53
Voraussetzungen und folgen des socialdemokratiscben Staates zu be-
urteilen, es gilt den schüler dahin zu bringen , dasz er den wirt-
schaftlichen individualisraus ebenso wie den socialismus als geschicht-
liche erscheinungen auffaszt und daraus seine folgerungen zieht, auf
diesem wege hofft B. die schüler zu der entdeckung zu bringen, dasz
der demokratische socialismus der tod aller individuellen fähigkeit
und alles fortschritts d. h. aller cultur ist. ein drittes bedenken
gegen die behandlung der neuesten zeit ergibt sich für B, aus dem
umstände, dasz vielleicht nicht jeder lehrer die socialpolitischen
maszregeln unserer tage billigt und demgemäsz mit der Wahr-
haftigkeit in Widerspruch geraten kann, es sind goldene worte, ge-
tragen von sittlichem ernste, mit denen B. sein naohwort abschlieszt.
überhaupt ist das buch ein wertvoller beitrag zur methodik des ge-
schichtsunterrichts oder, um mit B. zu reden, des geschieht e Unter-
richts, auch wer meint, dasz die grenzen zu eng seien, die B. dem
geschicbtsunterrichte gesteckt wissen will, wird vielfache anregung
aus dem nachworte empfangen, nicht minder aber verdient der mut
wissenschaftlicher Überzeugung volle anerkennung , der sich nicht
scheut, die dinge, wie sie sind, zum ausdruck zu bringen, aus
äuszeren gründen, um der berechtigung zum einjährigen heeres-
dienst willen, ist die oberstufe des geschichtsunterrichts durch die
lehrpläne von 1892 von 4 auf 3 jähre verkürzt worden, und das be-
einträchtigt nicht nur die alte , sondern auch die neuere geschichte.
mit recht wendet sich B. gegen den scharfen einschnitt nach unter-
secunda überhaupt, da er den ganzen gymnasialunterricht zer-
sprengen wird, den mutigen radicalen schritt, um aus dem dilemma
herauszukommen, einen groszen teil der bestehenden gymnasien in
6 stufige anstalten umzuwandeln, hat die Unterrichtsverwaltung nicht
thun zu sollen geglaubt; im interesse des höheren Unterrichts, ein-
schlieszlich der Universitätsstudien — so folgert B. s. 54 — wird
ihr wohl über kurz oder lang nichts anderes übrig bleiben, möge
sich B.s erwartung im interesse unserer gymnasien erfüllen!
Ganz nach den grundsätzen der neueren ist auch der dritte teil
des grosz angelegten lehrbuchs der geschichte von Martens^ be-
arbeitet, dessen 2r teil in diesen jahrb. 1895 s. 282 f. besprochen
ist: um der neuesten geschichte gerecht zu werden, ist stoff und zahl
der namen beschränkt worden, mit recht ist in der darstellung
kriegerischer begebenheiten besondere Zurückhaltung beobachtet
worden, von der nur bei den nationalen kämpfen von 1813 — 14 und
1870 — 71 abgegangen ist. die neuere zeit stellt M. in drei ab-
schnitten dar; vom auftreten Luthers zunächst bis zum West-
fälischen frieden, dann bis zum ausbruche der groszen französischen
Staatsumwälzung und weiter bis zum stürze Napoleons 1, die neueste
zeit in zwei abschnitten, erstens bis zur begründung des neuen
^ Älartens, W. , lehrbucb der geschichte für die oberen classen
höherer leliranstalten. dritter teil; geschichte der neuzeit. Hannover,
Menz u. Lange. 1895. S». s. 293.
54 Th. Sorgenfrey : zum unterrichte in der neueren u. neuesten geschichte.
deutschen reichs, dann bis zur gegenwart. über die Stellung M.s zu
kirchlichen fragen ist schon bei besprechung des zweiten teiles
(n. Jahrb. 1895 s. 283) einiges bemerkt worden : die befürchtungen,
die dort geäuszert sind , haben sich erfüllt, gleich bei beginn der
neuen zeit weisz M. von den innei'en beweggründen Luthers nichts
zu sagen, recht überflüssig ist (s. 18) die anmerkung über die un-
gewisheit von Luthers geburtsjahr — Köstlin hat doch nicht um-
sonst die unbegründeten einwände zurückgewiesen, von den seelen-
kämpfen des Augustinermönchs, von dem aufjauchzen der armen
seele, als sie endlich zur rechtfertigung allein aus dem glauben sich
durchgerungen hatte — davon findet sich bei M. nichts, nur der
misbrauch des ablasses treibt Luther schritt für schritt weiter und
endlich zum bruche mit Rom. 'da sein kurfürst, Friedrich der
weise, unverhohlen für ihn partei nahm, brauchte er zunächst nichts
zu befürchten' (s. 18). wie ganz anders steht es mit Loyola — in
dem geht eine 'innere' Wandlung vor! nach M. widmet sich (s. 38)
der Jesuitenorden neben der seelsorge ganz besonders der erziehung
der Jugend und der bekehrung der beiden — warum fehlen die
ketzer? mit der heidenbekehrung hat doch wohl der erfolg des
Ordens, dasz er in Deutsehland (s. 38) 'sogar mehrere fürstenhäuser
zur alten kirche zurückführte' nichts zu thun! oder dient das col-
legium Germanicum der heranbildung von heidenmissionaren?
spricht das vierte gelübde der Jesuiten nur von bekehrung der
beiden? dasz der geistliche vorbehält als zu recht bestehend an-
gesehen wird, versteht sich unter diesen Verhältnissen von selbst
(s. 39 u, 40). vielleicht ist es bei dem Standpunkte M.s nicht un-
absichtlich geschehen, dasz Josefs II misglückte reformen ausführ-
lich , Maria Theresias thätigkeit für Österreich nur beiläufig behan-
delt werden, die darstellung der politischen geschichte ist anregend
und sehr geschickt verfaszt, obwohl die überfülle des stoffes und der
anmerkungen das lehr buch allzu sehr in den Vordergrund treten
läszt und im einzelnen vieles vorweg nimmt, was der lehrer dar-
bieten sollte, die genauigkeit des berichtes geht nicht selten gar zu
weit: von der unseligen balsbandgeschichte (s. 175) oder von der
thatsache , dasz Napoleon III 'nach vergeblichen bemühungen um
die band einer prinzessin aus einem europäischen fürstenhause 1853
die spanische gräfin Eugenie von Montijo heiratete und sein 1856
geborener söhn Ludwig Napoleon 1879 durch die Zulus fiel' (s. 244)
brauchte füglich auch in oberprima nicht gesprochen zu werden,
ereignisse wie der griechische freiheitskrieg 1821 — 29, die katho-
likenemancipation 1829, der Schweizer sonderbundskrieg, selbst der
Krimkrieg können in der von M. beliebten ausführlichkeit nicht zur
darstellung kommen, es wird auch auf der obersten stufe des ge-
scbichtsunterrichts in der schule bei der behandlung der neuesten
zeit mit der deutschen und preuszischen geschichte sein bewenden
haben müssen, europäische ereignisse wie die oben genannten können
nur angedeutet werden, wir können doch unmöglich Weltgeschichte
Th. Sorgenfrey : zum unterrichte in der neueren u. neuesten geschicMe. 55
in dem sinue lehren wollen, wie etwa noch vor 40 jähren an der
Universität Tübingen in feststehendem turnus Universalgeschichte
gelesen wurde, wie sie so schön dem scholastischen schema ent-
sprach, dagegen läszt M. das zurücktreten, was unter der bezeich-
nung gemeinnütziger kenntnisse zusammengefaszt wird: wirtschaft-
liche oder staatswissenschaftliche belehrungen finden sich in den
anmerkungen gelegentlich da, wo sie zum Verständnisse nicht ganz
unentbehrlich sind, demgegenüber masz betont werden, dasz be-
fürchtet wird, es möchte' die reichhaltigkeit. des gebotenen die
aufmerksamkeit des Schülers geradezu ablenken und somit die
Wiederholung eher erschweren als fördern, so anerkennenswert die
Sorgfalt ist, mit welcher der reiche stoff bearbeitet ist, als Schulbuch
bietet das lehrbuch von M. zuviel einzelheiten, die, obwohl trefflich
ausgewählt , doch entbehrlich erscheinen, einen didactischen fort-
schritt durch gruppierung oder auswahl des Stoffes bietet M. nicht,
dem lehrer wird das lehrbuch manche anregung gewähren, es in die
bände der schüler zu legen erscheint nicht geboten, ganz abgesehen
davon, dasz es der confessionelle Standpunkt des Verfassers von dem
gebrauche an evangelischen anstalten ausschlieszt. eine sehr zweck-
mäszige zugäbe des lehrbuches ist ein 'namen- und Sachverzeichnis',
welches so genau gearbeitet ist, dasz z. b. doppelnamen wie La Hogue
und La Hague auch hier doppelt aufgeführt werden.
Unmittelbar aus dem unterrichte hervorgegangen ist das hilfs-
buch von Moldenhauer"', das, nur für die untersecunda bestimmt,
die zeit von 1740 bis auf unsere tage umfaszt, also für nicht wenige
schüler den abschlusz des geschichtsunterrichts überhaupt bringt,
gerade deshalb ist versucht worden, das Verständnis für die gegen-
wart und das erkennen von Ursache und Wirkung, soweit als mög-
lich anzubahnen, im weiteren anschlusse an die forderungen der
neuen lehrpläne ist die Verfassung Preuszcns und die des deutschen
reiches sowie die entwicklung des gesellsi laftlichen und wirtschaft-
lichen lebens besonders berücksichtigt w rden. hier zeigt sich die
reiche erfahrung des Verfassers, der mit icherem griffe gerade da
die erläuterungen der erzählung einfügt, wo die sache zum ersten male
erwähnt wird, so wird bei der erörterung von Friedrichs d. gr. ein-
fuhrverboten die bedeutung des einfuhrverbots und des Schutzzolls,
bei der gründung der bank deren Wirksamkeit, bei den assignaten
nicht nur die bedeutung des wortes sondern der begriff geld über-
haupt erläutert, nachdrücklich wird bei der regelung des abgaben-
wesens in Preuszen vom jähre 1820 auf den unterschied zwischen
directen und indirecten steuern hingewiesen, den reichen stoff der
150 jähre seit dem regierungsantritte Friedrichs d. gr. zerlegt M.
in vier teile, die, wenn er es auch nicht ausdrücklich sagt, doch
^ Moldenhauer, Franz, hilfsbuch für den geschichtsunterricht in der
untersecunda. geschichte Deutschlands vom regierungsantritt Friedrichs
des groszen bis zur gegenwart. Berlin, Oswald Seehagen. 1894. 8".
VIII und 181 8.
56 Th Soigenfrey : zum unterrichte in der neueren ii. neuesten geschichte.
recht wohl die vier quartale des Schuljahrs umfassen: 1) das Zeit-
alter Friedrichs d, gr., 2) die französische revolution, die coalitions-
kriege und freiheitskriege, 3) Deutschland bis zur aufrichtung des
deutschen reichs, 4) die friedensjahre seit 1871. an jede dieser vier
abteilungen schlieszen sieh wiederbolungstafeln an, eine einrichtung,
die von M. selbst als eine bewährte stütze des Unterrichts bezeichnet
wird, für die darstellung ist die form der zusammenhängenden erzäh-
lung gewählt worden, damit das buch auch als lesebuch in die band
genommen werden und im späteren leben noch ein berater sein kann,
es sind der gründe genug, welche dagegen sprechen, dem schüler
ein lesebuch als hilfsbuch in die band zu geben, ein ideales ziel ist
es, zu erwarten, dasz ein Schulbuch noch nach der schulzeit als be-
rater benutzt wird, hier dürfte M. wohl eine sehr bedenkliche ent-
täuschung erleben, das miisz M. zugegeben werden, dasz seine er-
zählung gefällig und thatsäcblicb die eines guten lesebuches ist, aus
welchem ein strebsamer schüler viel anregung gewinnen kann, nicht
selten geht freilich M. doch wohl etwas zu sehr ins einzelne: ist es
wirklich nötig, dasz der name des Scharfrichters Samson (s. 35) der
nacbwelt überliefert und sogar in der schule genannt wird? gegen
die Verwendung des buches im Schulunterrichte dürfte auch der um-
stand geltend zu machen sein, dasz M.s arbeit nur für eine classe
bestimmt ist — es empfiehlt sich doch wohl für den Unterricht, wie
er an den anstalten, für welche M. sein buch geschrieben hat, in den
der deutschen geschichte bestimmten drei jähren erteilt wird, ein
buch zu benutzen, wenigstens müsten die einzelnen abteilungen von
demselben Verfasser sein, wenn irgendwo, so dürfte für einen Unter-
richt in der deutschen geschichte in den mittelclassen derselbe leit-
faden erforderlich sein, je einheitlicher sich auch in dieser beziehung
der Unterricht gestaltet, um so leichter wird es den lernenden ge-
macht, aus diesem gründe wird die einführung von M.s hilfsbuche
im Schulunterrichte nicht möglich sein, ohne wesentliche interessen
7,u beeinträchtigen. bed( iklich ist leider auch die hast, mit welcher
die drucklegung erfolgt st: das dem buche beigegebene Verzeichnis
von druckfehlern genügt leider nicht, und doch sollte in einem schul-
buche vor allem Zuverlässigkeit der angaben erstrebt werden, an-
gaben wie s. 130 'Österreich zahlte 40 millionen thaler kriegskosten'
musten vermieden werden, ein anhang bietet die hauptsächlichsten
wirtschaftlichen grandbegriffe zusammenhängend dargestellt. M. hat
wohl nicht daran gedacht, diese Zusammenstellung in der schule
unmittelbar zu verwerten, etwa den Unterricht so einzurichten, dasz
diese grundbegriffe am ende des Schuljahrs als ergebnis der Unter-
richts gewonnen werden, es kann doch füglich diese Zusammenstel-
lung nur den zweck verfolgen, einem gelegentlichen nachschlagen
zu dienen — oder ist sie für den lehrer selbst bestimmt? das Ver-
zeichnis der bücher, welche im Vorworte zur belehrung über wirt-
schaftliehe begriffe empfohlen werden, bietet allerdings nur die land-
läufigsten hilfsmittel, die, sollte man meinen, dem lehrer auch ohne
/
Th. Sorgenfrey : zum unterrichte in der neueren u. neuesten gescliichte. 57
das Vorwort M.s bekannt sein müssen, es wird doch kaum einen
älteren geschichtslehrer geben, der nicht schon vor 1892 mit national-
ökonomie sich befaszt hat, die jüngere generation der geschichts-
lehrer wird ja durch die Lamprecbtsche richtung des geschichts-
studiums ohnebin auf eingehende beschäftigung mit diesen fragen
hingewiesen sein, unter den vielen versuchen aber, den geschichts-
unterricht mit gemeinnützigen kenntnissen zu durchsetzen, ist der
M.s in seiner beschränkung wohl der gelungenste; könnte sich M.
dazu verstehen , die deutsche geschichte wenigstens für die mittel-
classen als ein abgeschlossenes ganze zu bearbeiten, und dabei die
Verfassung, die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse
in gleicher weise zur geltung zu bringen, so wäre ein hilfsbuch ge-
boten, wie es allen billigen ansprüchen entspräche, das jetzt vor-
liegende hilfsbuch mag aber den Schülerbibliotheken unserer höheren
schulen angelegentlich empfohlen sein.
Mitten hinein in die beschäftigung mit der bürgerkunde führt
Endemann. ^ die jugend mit den wichtigsten grundlagen des
staatlichen und wirtschaftlichen lebens bekannt zu machen, ist das
ziel Endemanns, der dadurch eine unabweisbare forderung der gegen-
wart zu erfüllen hofiFt. mit aller begeisterung bekennt sich E. zu
der ansieht, dasz bürgerkunde in den schulen so viel als möglich be-
rücksichtigt werden musz, und er bedauert, dasz die Volksschule schon
besseres rüstzeug für diesen Unterricht aufzuweisen hat als die höhere,
der Schwierigkeit, bürgerkunde richtig zu lehren, ist sich E, wohl
bewust, denn, den eignen Standpunkt verleugnen zu wollen, würde
freilich charakterlos sein, aber ohne zwingende gründe, denselben
zur geltung zu bringen , halte ich für verfehlt — sagt er s. 2. nach
eingehender besprechung der einschlagenden littei-atur, soweit sie
für höhere schulen in betracht kommt, stellt E. in der Überzeugung,
dasz es sich überhaupt nicht mehr um das ob sondern um das wie
handelt (s. 7) folgende grundsätze auf: 'es soll jeder 'gesinnungs-
driir vermieden , durch das eingehen auf wirtschaftliche fragen das
wissen der schüler vertieft, durch langsames fortschreiten jede
überbürdung vermieden, in den untersten classen in geeigneter weise
vorgebaut, die Verarbeitung des mit genauer auslese zu bietenden
Stoffes von tertia an erstrebt werden, endlich können auszer dem
geschichtlichen und geographischen unterrichte die andern fächer
zur Vermittlung politischer und wirtschaftlicher kenntnisse heran-
gezogen werden.' es sind dies sätze, die in ihrer allgemeinheit keinen
grundsätzlichen Widerspruch finden werden, die freilich ebenso
wenig ein unzulässiges hervortreten hindern können, wenn s. 12
dem geographischen unterrichte in untersecunda besondere ab-
•schnitte zufallen und was etwa aus Zeitmangel hier fortblieb, in
* Endemann, Carl, Staatslehre nnd Volkswirtschaft auf höheren
schulen, praktische anleitung zu politischen und wirtschaftlichen be-
lehrungen im historisch -geographischen Unterricht. Bonn, Friedrich
Cohn 1895. 8». II u. 162 s.
58 Th. Sorgenfrey : zum unterrichte in der neueren u. neuesten geschichte.
obersecunda behandelt werden soll, so ist bei aller beschränkung der
alten geschichte in obersecunda doch dazu unmöglich zeit zu finden,
zumal da E. repetitionsweise die deutsche bürgerkunde in ober-
secunda nicht durchgenommen wissen will, sondern mehrfach durch-
genommen hat — wie sich das letztere mit den beschränkungen der
lehrpläne in einklang bringen läszt, will nicht recht einleuchten, es
ist diese ausdehnung um so weniger zu begreifen, als auch E, nicht
umhin kann, selbst vor Überspannung der forderungen zu warnen,
die abhandlung E.s zerfällt in einen geschichtlichen und einen geo-
graphischen teil, in dem ersteren wird die culturentwicklung in den
einzelnen perioden der Weltgeschichte dargelegt, nur die des mittel-
alters wird nicht ausführlich besprochen, weil E. die praktische er-
fahrung fehlt, es ist eine nicht geringe anzahl von begriffen, die sich
bei diesen betrachtungen ergibt : handelsstaat, Industriestaat, handels-
monopol, caiDilalismus , mammonismus, materialismus, colonial-
politik, landescultur, leibeigenschaft, aristokratie, demokratie, exe-
cutivbehörde, controllbehörde, Staatseinnahmen, steuern, zolle, was
E. hier bietet, hat sich in älteren leitfäden wie in dem von Herbst
bereits gefunden, und die eben genannten begriffe vielleicht mit
einziger ausnähme des mammonismus sind wohl auch den älteren
Schülergenerationen nicht unbekannt geblieben, neu ist nur die
stete betonung der analogie zu unseren Verhältnissen, wie sie sich
bei E. findet, was dann über das mittelalter vorgebracht wird, ist
nicht mehr als eine dürftige präparation — die begründung, das/
hier die praktische erfahrung im unterrichte fehlt, klingt eigentüm-
lich genug, reichlicher flieszen die bemerkungen über die neuere
zeit, aber die hier und weiterhin beliebte form oder richtiger gesagt
formlosigkeit dessen, was E. vorbringt, läszt sorgfältiges durch-
arbeiten vermissen, so steht s. 68 ; 'frondienste, abgaben, misernten,
teuerung.' je mehr sich E. der neuesten zeit nähert, um so aus-
führlicher werden seine darlegungen; ja in dem streben, alles zu er-
klären, verlangt E. doch zuviel, wenn er (s. 84) unter anderem
fordert: Mann verdienen auch die Verfassungskämpfe in Hannover,
Braunschweig, Sachsen und vor allem in Hessen berücksichtigung.'
wenn der lehrer seiner erzählung da etwa Treitschkes darstellung
zu gründe legt, gibt es zwar recht farbenreiche Streiflichter, aber
kaum ein Wissensgebiet, das dem Verständnisse auch nur der obersten
classe nahe genug liegt, diese Verfassungskämpfe in den einzelnen
deutschen Staaten können schon in rücksicht auf die zur Verfügung
stehende zeit nicht ausführlich behandelt werden, selbst da, wo
diese kämpfe in das leben unserer geistetshelden eingreifen, wie in
das Uhlands die kämpfe um das alte gute recht Würtembergs, häufen
sich die Schwierigkeiten derart, dasz kaum ein eingehen auf diese
fragen möglich erscheint, was E. in dem zweiten teile, dem geo-
graphischen, bietet, wird als eine besonders dringende forderung
der neuzeit vorgebracht — 'die hohe Wichtigkeit des geographischen
Unterrichts für die politischen und wirtschaftlichen belehrungen
Th. Sorgenfrey : zum unterrichte in der neueren u. neuesten gesctiichte. 59
scheint mir, sagt E. s. 91, bis jetzt nur von wenigen Schulmännern
erkannt zu sein.' es dürften auch nicht allzu viele schulmänner E.
auf die:<em wege folgen: dieser weg musz dahin führen, dasz der
Unterricht in der erdkunde — denn so, nicht geo<^raphie wird dieser
Unterrichtsgegenstand in den lehrplünen von 1892 doch wohl ab-
sichtlich genannt — dasselbe conglomerat von Wissensstoffen wird,
wie es vor Ritter und Peschel vielfach gewesen ist. es tritt in dem,
was E. fordert, gewissermaszen die reaction gegen die anschauung
entgegen, nach welcher erdkunde nur auf naturwissenschaftlicher
betrachtung sich aufbaut, die Wechselwirkung der physischen boden-
beschaffenheit eines landes und seiner erzeugnisse , die beziehungen
zu den einwohnern und der Staatenbildung wird ja stets erwähnt
werden, — aber was E. in der einen stunde, welche durch die lehr-
pläne für die erdkunde von tertia an bestimmt ist, besprochen wissen
will, scheint übertriebene forderung. E. hat bich eine grosze, her-
liche aufgäbe gestellt, dasz der schüler durch den Schulunterricht in
der erdkunde die grundbegriffe unseres heutigen staatlichen und
wirtschaftlichen lebens, die sittlichen und materiellen grundlagen
desselben kennen und verstehen lernt, nicht nur lernt, wie die leute
sind, sondern warum sie so sind, so werden musten. und das ist
wahre aufklärung, ruft uns E. s. 97 zu, aus der nur segen ent-
springen wird, führt die begeisterung für seine gedanken E. nicht
zu weit? dasz dem so ist, dafür genüge es, ein beispiel anzuführen,
nachdem Spanien in seinen umrissen dargestellt ist, wird die Ver-
schiedenheit des klimas begründet, insbesondere von dem verfall
der Wälder gehandelt und auseinandergesetzt, warum die reichen
mineralschätze des landes nicht verwertet werden, darauf wird land-
wirtschaft und Industrie besprochen, der Schwerpunkt aller betrach-
tung liegt in dem nachweise, wie es kommt,- dasz ein an producten
so reiches land , das von einem begabten volke bewohnt wird, that-
sächlich ein armes land ist. so anziehend dieser nachweis im ein-
zelnen ist, so wenig dürfte selbst die oberste stufe des erdkundlichen
Unterrichts — die untersecunda — für solche auseinandersetzungen
geeignet sein: wäre in prima noch Unterricht in der erdkunde, so
könnte der versuch gemacht werden, bei Wiederholungen zu ge-
winnen, was E. verlangt, auf der stufe von untersecunda wird die
geschichtlich - wirtschaftliche betrachtung fast ausschlieszlich vom
lehrer selbst dargeboten werden müssen, wie eingehend E. die Ver-
hältnisse der einzelnen länder behandelt wissen will, beweist auch
der abschnitt über Frankreich, der eine genaue darlegung der finanz-
operationen eines Law bietet — sollte das wirklich mit den in der
erdkunde zu besprechenden Verhältnissen in irgend welchem Zu-
sammenhang stehen? dasz bei aller Sorgfalt und Unparteilichkeit
doch gelegentlich ein einseitiges urteil nicht vermieden wird, zeigt
E. bei besprechung der socialen Verhältnisse in Nordamerika, sollte
wirklich dem schüler verständlich sein, was E. über riesencapitalien
und pauperismus s. 159 sagt: 'wie einst in Rom die besitzer der
60 Th. Sorgenfrey : zum unterrichte in der neueren u. neuesten geRcbichte.
latifundien der besitzlosen masse gegenüberstanden, so steht in den
Vereinigten Staaten dem riesencapital der pauperismus gegenüber,
•wohlthuend war es zu beobachten, wie tüchtige tnänner durch eigne
thatkraft infolge der wirtschaftlichen freiheit sich, wie fast in keinem
andern lande, emporringen konnten (die Selfmademen), allein indem
viele den einmal beschrittenen weg immer weiter verfolgten und zu
den erworbenen capitalien immer weitere hinzufügten, was bei den
beutigen börsen- und geldgeschäften keinerlei mühe erfordert, so hat
sich eine anhäufung von capitalien in wenigen bänden ergeben , die
dem gemeinwohl bereits in hohem grade gefährlich wurde.' es wird
dem lehrer wohl die genauere kenntnis der heutigen börsen- und
geldgeschäfte zumeist fehlen, aber eben deshalb soll er nicht ver-
urteilen , sondern bedenken , wie den jungen gemütern unserer
Schüler gegenüber die gröste vorsieht geboten ist. was müste wohl
in dem herzen eines schülers vorgehen , dessen vater börsenmakler
ist, wenn er aus dem munde seines lehrers so scharf die thätigkeit
der börse verurteilen hört, so ideal das ziel E.s ist, durch ver-
gleichung mit den zuständen anderer länder das deutsche heimats-
gefühl zu stärken und das gefübl für deutsche grösze und deutsche
ehre lebendig zu erhalten, so wenig dürfte dem unterrichte in der
erdkunde diese aufgäbe in erster linie und vor allem zufallen ; schon
der äuszcre grund, der mangel an zeit, wird hindernd in den weg
treten, noch vielmehr aber der mangel an Verständnis bei den schülern
auf der mittelstufe unserer höheren schulen, es ist wahr, der Unter-
richt, der verstand und gemüt zugleich anregt, wird der wertvollste
sein, aber stets wird der lehrer sich davor hüten müssen, über-
triebene anforderungen an seine schüler zu stellen — dies aber wird
die folge von E.s verfahren sein, deshalb kann bei aller anerkennung
die Sorgfalt, mit welcher der überreiche lehrreiche stoff zusammen-
gebracht und von E. gesichtet worden ist, doch nur vor dem ein-
geschlagenen wege gewarnt werden, maszhalten ist in allen dingen
gut, besonders aber, wenn es sich dai'um handelt, im unterrichte
neue wege einzuschlagen, darum darf auch Staatslehre und Volks-
wirtschaft in der schule zwar nicht unberücksichtigt gelassen wer-
den, aber der Unterricht in der geschichte und in der erdkunde ist
nicht dazu da, vor allem bürgerkunde zu treiben, die zustände zu
lehren und darüber zu vergessen, wie diese zustände geworden sind.
Verständnis anzubahnen, ist die aufgäbe der schule; interesse er-
wecken für die groszen fragen der gegenwart, heiszt noch nicht
diese fragen in allen einzelheiten darzulegen suchen, mehr als ein
versuch kann auch E.s verfahren nicht sein, ihm zu folgen musz ab-
gelehnt werden.
Dagegen hat Stutzer' mit groszem geschick die schwierigste
frage, welche dem geschichtsunterrichte in der obersten classe zu-
* Stutzer, Emil, die sociale frage der neuesten zeit und ihre be-
handlung in oberprima (sonderabdruck aus den lehrproben, heft 37).
Halle a. S., buchhandlung des Waisenhauses. 1894. 8". 31 s.
Th. Sorgenfrey : zum unterrichte in der neuereu u. neuesten geschichte. 61
fällt, in ihre einzelnen teile zerlegt und den weg gewiesen, wie mit
Schülern kurz vor ihrem abgange zur hochschule die sociale frage
der neuesten zeit besprochen werden kann, die einleitung umfaszt
die geschichte der socialen frage bis auf unsere tage und zeigt in
kurzen, scharfen zügen ihre entwicklung im altertum, mittelalter und
in der neuzeit bis 1815, betont absichtlich in ausführlicher darstel-
lung die erste französische revolution, von deren Ursachen, ziel,
förderung durch den abfall der nordamerikanischen colonien, ver-
lauf, art und weise des bruchs mit der Vergangenheit, sowie dauern-
den errungenschaften eingehend gehandelt wird, damit ist St. auf
die sociale frage der neuesten zeit gekommen, indem er von ihrem
Charakter (§ 1) im allgemeinen ausgeht, kommt er zu den socialisti-
schen parteien, ihren zielen und ihren hauptvertretern (§ 2). St.
nimmt seinen ausgang von den bestrebungen Le Blancs und ver-
breitet sich dann ausführlich über die thätigkeit Lasalles, wie genau
St. verfährt, zeigt z, b. die mitteilung, dasz Lasalle im duell eines
unsauberen liebeshandels wegen gefallen ist — hat dieser verfall
wirklich mit der socialen frage etwas zu thun? darauf wird von
St. Simon, Fourier und Proudhon gehandelt, über Marx und Engels
kommt St. zu Liebknecht und Bebel und damit zur gründung der
socialistischen arbeiterpartei Deutschlands, deren programm, wie es
zu Gotha festgestellt und später in Erfurt abgeändert worden ist,
ausführlich dargelegt wird, in § 3 werden die mittel und wege zur
möglichsten milderung der socialen gegensätze in Deutschland auf-
geführt, wie sie von staatlicher, christlich -sittlicher und geistiger
Seite versucht wurden, in § 4 aber dargelegt, wie die fortdauer der
socialistischen bewegung im fortbestehen von misständen begründet
ist — Bismarcks ausspruch : Wie socialdemokratie ist doch immer
ein mene tekel dafür, dasz nicht alles so ist, wie es sein sollte' wird
nicht vergessen (s. 26). in § 5 wird gezeigt, warum die socialisti-
schen und communistischen forderungen und verheiszungen nicht
durchführbar sind , doch in § 6 die möglichkeit des friedlichen und
allmählichen fortschritts der entwicklung erwiesen, endlich wird in
einem rückblick und ausblick (§ 7) zusammengefaszt, was erstrebt
worden ist und wie alle staatserhaltenden, monarchisch gesinnten
Parteien in unbedingter hingäbe an das Vaterland und in bethätigung
des wahren gemeinsinnes sich vereinen müssen, der Patriotismus,
der sich in den letzten werten widerspiegelt , gibt St.s darlegungen
den richtigen hintergrund. der lehrer wird von diesem Standpunkte
aus mit einer guten oberprima nicht ohne erfolg die sociale frage
geschichtlich behandeln können, es kann sich nicht darum handeln,
in allen einzelangaben St. zu folgen, aber der weg, den St. gezeigt
hat, ist der richtige und die auffassung unserer studierenden Jugend
wird in die richtigen bahnen geleitet, die thatsachen, die St.
sprechen läszt, sind genau und sorgfältig ziisammengebracht, eher
könnte St. der Vorwurf gemacht werden, dasz er gar zu sehr auf
einzelheiten eingeht, aber die reichhaltigen anmerkungen sollen ja
62 Primer: anz. v. A. Waldeck lateinische schulgrammatik.
nur das bei der betrachtung gewonnene im einzelnen ergänzen und
erklären.
Fassen wir unsere betrachtungen zusammen , so ergibt sich,
dasz die Verfasser der neueren hilfsbücher für den gesehichtsunter-
richt den forderungen der neueren durchaus entgegenkommen,
aber über das masz der politischen belehrung unserer schüler weit
auseinandergehen, darin aber stimmen alle überein , dasz darnach
zu streben ist, in der heranwachsenden jugend das pflichtgefühl
gegen die gesamtheit d. i. gegen das Vaterland zu wecken und zu
stärken.
Neuhäldensleben. Th. Sorgenfrey,
5.
LATEINISCHE SCHULGRAMMATIK NEBST EINEM ANHANG ÜBER STILISTIK
FÜR ALLE ANSTALTEN VON AuGUST WaLDECK, PROFESSOR AM
GYMNASIUM ZU CORBACH. ZWEITE AUFLAGE. Halle a. S. Verlag
der buchhandlung des Waisenhauses. 1897. IX u. 197 s.
Die vielumstrittene lateinische grammatik von Waldeck ist
soeben in zweiter aufläge erschienen, den freunden wird sie in
dem gewand, in dem sie jetzt einhergeht, noch besser als früher ge-
fallen, die gegner werden wenigstens zugeben müssen, dasz Waldeck
alles, was von freund und feind gewünscht wurde, sorgfältig er-
wogen hat, und dasz er überall da, wo es sich mit seinem princip
vertrug, den wünschen und forderungen der fachmänner nach-
gekommen ist. so enthält sie jetzt die übliche einleitung über
aiphabet und ausspräche, quantität und betonung , silbenbrechung,
redeteile und abkürzungen, wie ein Verzeichnis der wichtigeren un-
regelmäszigen verbalstärame. in einem anhange ist ihr ferner bei-
gegeben das notwendigste über Verslehre (für tertia), ein römischer
kalender, eine Zusammenstellung der wichtigeren musterbeispiele
und ein register. auch sonst hat sie mancherlei erweiterung und
Veränderung erfahren, allerdings mehr in der formenlehre als in der
Syntax, die i-conjugation , die sonst die dritte bildete, ist wieder
zur vierten geworden, die paradigmen bei den declinationen sind
vermehrt, eine Zusammenstellung der präpositionen mit den haupt-
bedeutungen und kurzen beispielen ist hinzugefügt, in der syntax
ist ein capitel über die participia hinzugekommen, das natürlich nur
das enthält, was nicht in andere abschnitte gehört; die regel über
quin ist so geändert, dasz nicht blosz die ursprüngliche bedeutung,
sondern auch der thatsächliche gebrauch schärfer hervortritt, in der
lehre von der consecutio temporum sind ergänzende zusätze gemacht
über conj. perf. und verbum infinitumj ebenso in § 148 über die
form abhängiger irrealer bedingungsperioden. endlich sind die hin-
weisungen auf verwandte grammatische erscheinungen erheblich ver-
mehrt sowie die bisher wohl vielfach zu weit gehende knappheit in
Primer: anz. v. A. Waldeck lateinische schulgrammatik. 63
der fassung der regeln in wünschenswerter weise gemildert, auch
die gliederung des Stoffes tritt schärfer hervor dadurch, das?, früher
lose angehängte bemerkungen jetzt ausdrücklich als Zusätze oder an-
merkungen bezeichnet sind, die vielen druckfehler, die sich in der
ersten aufläge befanden, sind, wie es scheint, vollständig beseitigt.
Allen wünschen wird dies allerdings noch nicht genügen, denn
da, wo principielle gegensätze herschen, ist eine Versöhnung und ein
ausgleich so leicht nicht möglich, aber von einer schulgrammatik
kann man erschöpfende behandlung irgend einer frage auf sicherer
philologischer grundlage nicht verlangen , und die vorliegende soll
eben nach dem willen des Verfassers lediglich ein Schulbuch sein,
der didaktische zweck ist zunächst hier maszgebend. die daraus
sich ergebenden grundsätze, wie sie W. in der vorrede ausspricht
und in der grammatik consequent befolgt, sind nach ansieht des ref.
durchaus richtige.
1) die grammatik soll nicht alles material enthalten, das der
philologe, sondern nur das, was der schüler für seinen zweck braucht.
2) der lateinische grammatikunterricht musz Sprachunterricht
überhaupt sein, namentlich wenn er, wie dies jetzt verlangt wird,
sprachlich-logische Schulung erzielen soll, daher sind alle allgemein
sprachlichen begriffe und gesetze zunächst an der muttersprache
zu entwickeln, nur das abweichende ist in form fester regeln zu
fixieren.
3) die sprachlichen erscheinungen sollen möglichst aus ihren
gründen erklärt, gleichartiges musz übersichtlich zusammengefaszt
werden, die form der sätze soll nach dem inhalt bestimmt werden,
nicht nach äuszerlichkeiten, wie conjunctionen u. ä. m,
4) damit eine regel verstanden und behalten wird, musz sie
kurz sein , musz sie nur das notwendige und allgemein gültige ent-
halten, dagegen alles nebensächliche ausschlieszen. dieses gehört in
die anmerkung oder musz durch den Unterricht ergänzt werden,
5) die beispiele sind dazu da, dasz aus ihnen inductiv die regel
erkannt und gewonnen wird, teilweise auch, damit sie als sogenannte
musterbeispiele die regel entweder geradezu ersetzen oder ihr wenig-
stens als stütze dienen, sie müssen deshalb ebenfalls möglichst kurz,
frei von unnötigem beiwerk, anschaulich und leicht behaltbar sein.
6) die lateinische grammatik soll, das verlangen die neuen
preuszischen lehrpläne ausdrücklich, mit der griechischen möglichst
übereinstimmen, damit die schüler, wenn sie das griechische an-
fangen , nicht von neuem vieles lernen müssen , was sie aus den
früheren classen schon kennen.
Wer sich mit diesen grundsätzen einverstanden erklärt, wird
zugeben müssen., dasz die vorliegende Waldecksche grammatik in
zweiter aufläge ein ganz vorzügliches buch ist. ja ref. kann aus
eigner erfahrung bestätigen, dasz sie für schüler überaus brauchbar
ist. der verf. gebietet geradezu über ein zauberstäbchen , mit dem
er licht verbreitet und finsternis verscheucht, dies gilt besonders
64 Piimer: anz. v. A. Waldeck lateinische schulgrammatik.
bei der syntax und Satzlehre, hier finden sich überall klare, einheit-
liche gesichtspunkte, hier ist eine den verstand bildende und das ge-
dächtnis entlastende methode. diesen Vorzügen gegenüber wollen
kleine mängel nicht viel bedeuten, deren jeder lehrer je nach seiner
ansieht in jeder grammatik mehr oder weniger finden kann.
Bei der prüfung einer lateinischen grammatik behufs einführung
kann es sich nach ansieht des ref. gar nicht um einzelheiten und
kleinigkeiten handeln, die sich leicht mit einem federstrich ändern
lassen, sondern neben wissenschaftlicher correctheit im ganzen kommt
es auf dreierlei an: 1) genügt das buch seinem Inhalt nach für die
bedürfnisse des Schülers? 2) entspricht es den gegenwärtigen metho-
dischen anforderungen? und 3) ist das buch seiner systematischen
anläge nach geeignet, später auch die griechische grammatik, wenig-
stens die syntax darauf zu basieren?
Von allen diesen gesichtspunkten aus ist die Waldecksche
grammatik nach ansieht des ref. ein sehr brauchbares buch, das
preuszische reglement fordert 'Verständnis der bedeutenderen classi-
schen Schriftsteller und sprachlich-logische Schulung'. — 'grammatik
und die dazu gehörigen Übungen sind fernerhin nur noch als mittel
zur en-eichung dieses Zweckes zu behandeln.' welche grammatik
entspricht diesen forderungen besser als die von Waldeck? man
vergleiche, um dies zu erkennen, z. b. die lehre vom indicativ und
conjunctiv bei Waldeck und in andern grammatiken. nicht lauter
einzelne fälle finden sich bei Waldeck, sondern alles beruht auf dem
unterschied von thatsache und Vorstellung, der Inhalt und das
wesen der sache kommt in der ganzen Satzlehre zur geltung. die
Scheidung in Urteils-, begehrungs- und fragesätze (letztere bilden in
der zweiten aufläge eine Unterabteilung der urteils- und begehrungs-
sätze) und dem entsprechend in abhängige urteils-, begehrungs- und
fragesätze ist die denkbar zweckmäszigste. — Ähnlich ist es bei
andern regeln, wie klar ist bei Waldeck die anwendung des accusa-
tivus cum iufinitivo im gegensatz zu quod- und ut-sätzen besprochen,
wie einfach die Unterscheidung von non und ne! wie umständlich
wird hierüber in andern grammatiken gehandelt ! bei EUendt- Sey ffert
z. b. wird beim conjunctiv in hauptsätzen jedesmal hinzugesetzt 'die
negation ist non' oder 'die negation ist ne'. was soll sich ein schüler
dabei denken! wie soll er sich das merken!
Dasz übrigens das grammatische System Waldecks nicht ohne
einflusz bleibt, läszt sich z. b. daraus ersehen, da;sz dasselbe voll-
ständig in Dettvveilers didaktik und methodik des lateinischen Unter-
richts zu gründe gelegt ist.
Frankfukt am Main. Primer.
ZWEITE ABTEILUNG
FÜR GYMNASIALPÄDAGOGIK UND DIE ÜBRIGEN
LEHRFÄCHER
MIT AÜSSCHLUSZ DER CLASSISCHEN PHILOLOGIE
HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. RiCHARD RiCHTER.
(1.)
VIVES IN SEINER PÄDAGOGIK.
eine quellenmäszige und systematische darstellung.
(fortsetzung.)
Die ideale akademie.
Allgemeines.
§ 24. Wesen und zweck der akademie bezeichnet Vives kurz
als 'eine äuszere und innere Vereinigung von gelehrten und guten
männern, welche sich an einander angeschlossen haben, um die-
jenigen zu ebensolchen zu machen , welche der Unterweisung wegen
dorthin gekommen sind'.'^^
§ 25. Für die wähl des ortes gilt: die akademie liege in einer
gesunden doch nicht naturschönen gegend , wo der verkehr mäszig,
die lebensmittel billig, fürstlicher hofstaat und weiber ferne sind,
am besten auszerhalb einer stadt mit regsamer bürgerschaft, doch
nicht an einem öffentlichen wege oder in der nähe der grenze. '^'
§ 26. Die akademie ist ein Internat, die schüler beköstigen
sich selbst in folgender weise: wöchentlich wählen sie einen mit-
schüler zum architriclinius. dieser hat für die einzelnen tage die ein-
kaufe der speisen zu besorgen und am Schlüsse der woche rechnung
"2 trad. disc. 2, 2 (VI 279): haec est vera acarlemia, scilicet con-
ventus et consensus hominum doctorum, pariter et bonorum, congrega-
torum ad tales reddendos eos, qui illuc disciplinae gratia venerint.
'•■'^ *trad. disc. 2, 1 (VI 271 f.): coelum ... sit salubre . . . sed nee nimis
vernantem aut amoenum elegerim locum . . . suppetat alimentorum et copia
et utilitas ... sit item locus separatus a frequentia ... nee sit tarnen omnino
infrequens, ne testibus . . . careant . . . procul etiara a comitatu regio,
et puellarum vicinia . . . consultius esset extra urbem constitui gymna-
sium . . . modo ne locus caperetur, quo ex urbe consuessent otiosi deam-
bulare; nee publico itineri adiaceat . . . non in regionis limitibus. —
Nemo sit admiratus, ea cura locum quaeri, ubi nascatur et adolescat
sapientia, quum tarn anxie locum provideamus, apibus daturis mel. über
die äuszere und innere einrichtung der akademie finde ich nichts, auszer
der gelegentlichen bemerkung, dasz dieselbe Säulenhallen hat, in denen
die knaben zur regenzeit spielen sollen, trad. disc. 3, 4 (VI 319).
N.jnhrb. f. phil.u. päd. II. abt. 1897 hfl. 2. 5
66 F. Kuypers : Vives in seiner pädagogik.
abzulegen; jeder zahlt seinen beitrag und auszerdem eine kleinig-
keit für die mühewaltung der diener. die lehrer haben überhaupt
keine geldgeschäfte mit den schülern abzuschlieszen.'^' vgl. s. 68.
§ 27. Über die allgemeine Organisation des unterrichts-
betriebes erfahren wir folgendes: der de6nitiven aufnähme des
knaben in die akademie geht eine zweimonatliche prüfung der
anlagen seitens der lehrer voraus, untaugliche werden zurück-
geschickt und einem praktischen berufe überwiesen, ist aber die
definitive aufnähme erfolgt, so darf man auch bei mangelhaften
resultaten nicht leicht an dem schüler verzweifeln. '^^ die prüfung
der individuellen begabung wird indes in der akademie fortgesetzt
durch alle zwei bis drei monate stattfindende lehrerconferenzen.'^®
Der unterrichtscursus zerfällt in drei stufen: erstens vom
siebenten bis zum fünfzehnten jähre, zweitens vom fünfzehnten bis
zum fünfundzwanzigsten und drittens die zeit nach dem fünfund-
zwanzigsten jabre. wie lange diese letzte periode ausgedehnt werden
soll, gibt Vives nicht an. er will, dasz selbst greise aus den stürmen
des lebens gerne zur akademie zurückkehren. '" im allgemeinen wird
man den stoff für die einzelnen stufen so bezeichnen können: der
erste zeitraum ist im wesentlichen der sprachlichen Vorbildung ge-
widmet, das centrum desselben ist der lateinische Unterricht, der
zweite liefert eine Propädeutik in philosophie, naturwissenschaft und
mathematik. der dritte erzieht für das öffentliche leben durch prak-
•^^ trad. disc. 2, 1 (VI 275): hebdomadatim eligatur unus ex soda-
libus . . . is curet diebus singulis emendas epulas, exacta vero hebdo-
made, subducta ratione, conferant symbola, addito quod praebeatur mi-
nistris pro opera . . . doctores . . nihil a scholasticis accipiant.
*^'' eine solche prüfnng ist schon im eiternhause angestellt worden,
*trad. disc. 2, 3 (VI 286): für jede schule gilt; suscipiatur ea lege puer
ut eius capiatur experiinentum ad aliquot nienses; *2, 2 (VI 278): für
die akademie: maneat puer in paedagogio unum aut alterum mensem,
ut ingeniuin illius exj)loretur. man beachte, dasz es sich um prüfung
der beanlagung nicht der kenntnisse handelt, ob das paedagogium eine
eigens diesem zwecke dienende Vorstufe oder von der akademie nicht ver-
schieden ist, wird nicht klar. *trad. disc. 2, 4 (VI 293) : deductus ubi fuerit
ad scholam, nullus erit deploratus adeo, ut e vestigio expelli oporteat, quo-
minus conentur illum refingere in melius, si non ad litteras, saltem ad mores.
i3fi *trad. disc. 2, 2 (VI 278): quater per annos singulos in locum
aliquem secretum magistri conveniant, ubi inter se de in'j^eniis suorum
sermonicentur ac consultent. 2, 4 (VI 292): ebenso alternis mensibus
aut tertio quoque ... et unumquemque eo mittant, ad quod aptus vide-
"bitur. es sind specialconferenzen der einzelnen akademien, nicht etwa
allgemeine lehrerconfcrenzen. der locus secretus ist wohl ein zimmer,
wo sie nicht belauscht werden.
^^^ trad. disc. 3, 8 (VI 338): hie est cursus octo aut novem annorum
a septimo ad quintumdecimum annum, vel etiam sextumdecimum ; 4, 4
(VI 373): hoc est adolescentiae curriculum ad quintum et vicesimum
annum aut eo circiter; •2, 2 (VI 279): ad eiusmodi scholam non solum
deducerentur pueri, sed ipsi etiam senes, tamquam ad portum se reci-
perent fluctuanti in magna ignorantiae ac vitiorum tempestate; omnes
denique attraherent (magistri) maiestate et auctoritate quadam. s. auch
caus. corr. 1, 7 (VI, 56).
F. Kuypers : Vives in seiner pädagogik. 67
tische und historische bildung; in ihm werden die fachstudien der
medicin, der rechte und der theologie betrieben, sowie die philo-
sophischen disciplinen erweitert für diejenigen , welche lehrer der
akademie werden wollen, im übrigen wird wohl das wort des
Sokrates gelten, welches Vives anführt: tamdiu esse cuique opus
duce, quamdiu viam ignoret, eam ubi per sese possit peragere,
animo indigere magis, quam magistro. mor. erud. 5, 2 (VI 427). '^^
Selbstverständlich durchläuft nicht jeder den ganzen cursus.
es soll vielmehr derjenige, dem anläge, zeit, lust oder geld zur fort-
setzung der Studien mangelt, zu einem praktischen berufe über-
geben; wann dieses in jedem einzelnen falle geschehen kann, steht
indes nicht im belieben der Schüler: es ist die für jeden beruf
zu fixierende schulzeit inne zu halten; für schwächere ist etwas
zuzusetzen. '''® ebenso werden nicht alle zu allen Wissenschaften, auch
nicht zu den einzelnen in gleichem grade zugelassen, die indivi-
duellen Verhältnisse sind überall maszgebend. '^"
Mit einhaltung der erwähnten termine und möglichster berück-
sichtigung der von den lehrern erteilten ratschlage ist freie wähl
der fächer wie der docenten gestattet'^'; aber sonst herscht keine
akademische freiheit, sondern internatsdisciplin und beaufsichtigung
auszerhalb der anstalt'*^, die, wie aus der ganzen darstellung her-
vorgeht, für die zeit nach dem fünfundzwanzigsten jähre bedeutend
zurücktritt.
Der unfug des Verkaufes akademischer ehrengrade soll einer
neuen Ordnung weichen: die mitglieder der akademie sind zunächst
Studiosi; 'dann sollen sie, wenn nach einer bestimmten zeit das
examen bestanden ist, professores werden: diese sollen eine zeit
lang vor zahlreichem auditorium vortrage halten (profitebuntur), wel-
chen auch diejenigen bisweilen beiwohnen, die sich ein urteil über
den Vortrag bilden können, findet dieser beifall, so hören sie auf
professores zu sein und werden doctores oder magistri. von diesen
sollen die dazu am besten geeigneten die lehrthätigkeit ausüben, sie
'2^ hier musz ich mich mit diesen andeutungen begnügen, näheres
liefert die darstellung der Unterrichtsfächer.
'39 trad. disc. 4, 1 (VI 350): . . qui hac in parte stuHiorum volet
permanere ... qui porro pergit ad sequentia . . .; 4, 5 (VI 373): qui
disciplinas alias, Minerva aut fortuna aversante, non poterunt consequi,
hie sistent. ähnlich oft; *2, 1 (VI 276): detineantur omnes in quaque
discipliua certo quodam tempore et legitimo, ne leviter quis degustata
eruditione sese pro absolute instituto venditet; addatur aliqnid tem-
poris tardiusculis; non enim unum esse omnium tempus expedit: nihil
esset aequalitate illa inaequalius.
'*o siehe die einzelnen Unterrichtsfächer.
"' es beweisen dieses schon trad. disc. 2, 2 (VI 279) : ad eum transibunt
discipuli, quisquis plurimum indulserit suis, exerc. 1. lat. dial. deductio
ad ludum(I287): Philoponus non videtur delectari turba, paucioribus est
contentus. s. namentlich aiim. 139, 153. im übrigen ist es oft angedeutet.
**2 ich verweise auf anm. 73, 105. nähere Vorschriften über Stunden-
plan, classen- und pensenverteilung usw. fehlen, — vielleicht wegen der
möglichst individuellen gestaltung.
5*
68 F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik.
heiszen magi striprofessores'. 'wer das magisterium erreichen
will, soll nicht blosz nach der gelehrsarakeit, sondern auch nach der
sittlichen tüchtigkeit beurteilt werden.' von den magistriprofessores
gilt: vos estis sal terrae, vos estis lux mundi. es seien leute, die
auch dem volke genehm sind, wer sich unwürdig zeigt, dem wird
der akademische grad genommen, die zahl der zugelassenen sei klein,
jede beeinflussung des Urteils, das von erfahrenen männern und nicht
von Schülern abgegeben wird, ist ängstlich zu vermeiden.'^'
Die akademie hat fach-, nicht classenlehrer. die besoldung der-
selben ist eine staatliche, der gehalt ist so hoch, dasz ihn ein
guter wünscht, ein schlechter verschmäht. '" lehrfreiheit findet au
dem christlichen glauben eine grenze. '^^
"^ *trad. disc. 2, 1 (VI 275 f.): qui dlscunt, nuncupabiintur studiosi
vel discentes: tum post certum teiupus, capto experimento, fient pro-
fessores: profitebuntur allquamdiu apud auditorium frequens , ciii et illi
nonniinquam intererunt, qui iudicium de eo ferre possint, quod dicatur:
quod si approbentur, desinent professores esse, iient doctores, vel ma-
gistri: ex his, qui commode poterunt, docebunt; quos appellabimus ma-
gistriprofessores. man beachte erstens die einführung eines wissenschaft-
lichen examens, zweitens, dasz der durch dasselbe erworbene titel nur
eine wissenschaftliche anszeichnung ist, die qualification zum lehramte
erst nach bestandener probezeit erteilt wird, drittens, dasz selbst von den
theoretisch berechtigten nur die geschicktesten diesen beruf praktisch
ausüben, bei den mittelalterlicht n universtitäten war die grenze zwi-
schen lehrern und Schülern gar nicht scharf gezogen. — Qui ad magisteria
evehuntur, censeantur non ex doctrina modo, sed etiam moribus ...
faciant eos professores aut magistros, qui eruditione, iudicio, moribus, et
docere alios , et in vulgus approbari possint . . . quod si quis, vel im-
peritia, vel flagitiosa vita ac probrosa, doctoratui erit dederus, abroga-
bitur ei publice dignitas . . . deligantur professores, et approbentur,
non turbae imperitae ac inconditae suffragiis , sed a paucis ex academia
de eruditione ac vita spectatis. wegen der gefahr der beeinflussung sind
sogar gemeinsame mahlzeiten verwerflich; es sei denn, dasz auch die
kosten gemeinsam bestritten werden, vgl. über akadem. grade K. Schmidt
(cit. anm. 219) s. 367 f.
^** der lehrer des lateinischen soll auf die verschiedensten Wissen-
schaften kurz eindrehen, wenn sich bei der lectüre gelegenheit bietet;
aber von recht, philosophie, mathematik soll er nicht reden; trad. disc.
3, 6 (VI 326): relinquet haec, atque eiusmodi, suis quaeque artificibus.
4, 6 (VI 377): . . magistro huius contemplationis. ähnlich 3, 8 (VI 339)
und öfter. *trad. disc. 2, 1 (VI 275): omnis quaestus occasio revellatur
ab scholis ; accipiant doctores salarium de publico quäle cupiat vir bonus,
fastidiat malus. * exerc. 1. lat. dial. schola (1334): Tiro: quanti docent?
Spudaeus: amove te hinc ocyus cum interrogatione ista tam prava . . .
nee ipsi qui docent, paciscuntur . . . nunquam ne Aristotelicum illud fände
audivisti: düs, parentibus et magistris, parem gratiam non posse rependi?
vgl. dial. deductio ad ludum (I 287): Pater: quanti doces? Philoponos:
si puer bene proficiat vili, sin parum, caro. Vives nennt trad. disc. 2, 2
(VI 278) die lehrer der akademie gratuiti doctores, was Wychgram s. 37
unrichtig mit 'billig denkende' männer übersetzt; denn es steht im
gegensatze zu dem mercenarius ApoUonius und heiszt darum 'unbezahlte'
lehrer. vgl. mor. erud. 1 (VI 423): et vult (deus) nos gratuito distri-
buere quae gratuito a se accepimus. (ev. Matth. 10, 8.)
'^^ das sagt schon der titel: de tradendis disciplinis sive de institu-
tione christiana. trad. disc. 4, 2 (VI 351): unde (von der naturletrach-
F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik. 69
§ 28. Der lehre r besitze gelehrsamkeit, lehrgeschick und rein-
heit der sitten. ungeheuer grosz ist das fachmaterial, dessen durch-
arbeitung Vives von jedem fachlehrer verlangt, aber auch ein all-
gemeiner einblick in die übrigen Wissenschaften ist erforderlich und
in den dienst der concentration des Unterrichts zu stellen. '^^ erst
mit dem tode hört das Studium auf. stets aber sei das grosze, nicht
das kleinliehe und alberne, gegenständ des fleiszes. '"
'Wenn auch jedes Studium an sich endlos ist, so müssen wir
doch an einer stelle beginnen, dasselbe zu nutz und frommen anderer
anzuwenden.' "- darum lasse der lehrer nicht weniger als seine wissen-
schaftliche fortbildung seine pädagogische thätigkeit sich an-
gelegen sein. Wörterbücher, compendien, blumeniesen aus classikern,
Sentenzensammlungen usw. stelle er selbs^t für unterrichtszwecke zu-
sammen, was er aus den umfangreichen quellen geschöpft hat, bringe
er gereinigt von schädlichem und überflüssigem beiwerke mund-
gerecht an die schüler. '^' gegen diese hege er väterliche gesinnung.
tung) ad deum usque conscendimus . . . si moilo recta insistamus via . .
grande paratum est periculum errori; . . . *non est natura ad gentiliciam
lucernam scrutanda obscurae lucis malignaeque, sed ad facem Iianc so-
larem, quam Christus mundi tenebris invexit; 4, 6 (VI 376) wird beim
Studium des Aristoteles vorsieht geboten, weil er ein beide war; 5, 3
(VI -1:03): in der moralphilosophie ist den weltweisen nur so viel ein-
zuräumen, als mit der christlichen lehre übereinstimmt, vgl. die nach-
folgenden darstellunjren.
'^*' s. die einzelnen Unterrichtsfächer.
'^'' intr. sap. 6, 195 (I 16): studio sapientiae nullus in vita terminus
statuendus est: cum vita est finiendum. semper illa tria sunt homini,
quamdiu vivit, meditanda: quomodo bene sapiat, quomodo bene dicat,
quomodo bene agat. *mor. erud. 2 (VI 425): in rebus magnis et prae-
claris valere ac pollere sit eis (doctis) satis; ne cupiant in quibus-
libet baberi raagni . . . boc ardelionum est, non sapientium. *trad.
disc. 3, 2 (VI 306): immo vero, sicut in civitate, aut domo, bene con-
stituta flagitium admittit magistratus vel pater familias, qui locum malo
et inutili homini relinquit, quem possit occupare bonus: sie delictum est,
si in ingenio ineptiis illis locus tribuatur, in quo reponi possent alia
profutura.
14S *mor. erud. 5, 1 (VI 424): infinitum quidem ex se est Studium
quodcunque, sed aliqua tamen eius parte incipere debemus illud ad
aliorum commoditates ac emolumenta deducere; 5, 1 (VI 419 f.): neque
enim studendum est semper ut studeamus solum, nee ut se animus inani
quadam contemplatione . . exlex et immunis oblectet. auch die erwer-
bung von geld, Stellung, rühm darf nicht zweck des Studiums sein. *liic
est ergo studiorum omnium fructus, hie scopus, ut quaesitis artibus vitae
profuturis, eas in bonuin publicum exerceanius. caus. corr. 1, 11 (VI 76).
'" mor. erud. 5, 2 (VI 427): quare et ipse sua pro virili parte con-
feret, et alios, ut conferant, benigne adiuvabit. *trad. disc. 4, 2 (VI 356):
magister, velut diligens apicula per omnia disciplinarum viridaria cir-
cumvolitans, undique decerpet discipulo suo, et colliget observationis
huius exempla; 4, 3 (VI 358): er mache zu rbetorischen Übungen aus-
zöge aus den Schriftstellern; 4, 6 (VI 376): er stelle 'über die gründe
der natur' ein werkchen aus den alten zusammen. 5, 3 (VI 403): er
schaffe ein kurzes compendium der moralphilosophie usw. magistrorum
fuerit ea cura, ut ipsi degustent omnia, et suis demonstrent quae edi-
70 F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik.
in discipulos afifectu erit patrio . . . gi*avis sine acerbitate et mitis sine
dissolutione. trad. disc. 2, 1 (VI 275).'^"
Schon die rücksicht auf die schüler verlangt vom lehrer tadel-
losigkeit der sitten. quidquid videri cupis, fac ut sis, aliter frustra
cupis. intr. sap. 6, 150 (I 13). hat aber sein Charakter schwächen,
so verberge er sie der jugend. '=' dunkel, falscher ehrgeiz und hab-
sucht sind vor allem zu fliehen; denn demut ist die grundlage aller
Weisheit; darum ist nie zu vergessen, dasz das, was man vveisz, ver-
schwindend wenig ist gegen das, was man nicht weisz, und dasz die
lehren gerade über die wichtigsten dinge nicht beweisbare Wahr-
heiten, sondern hypothesen sind; statt der disputatio, die einen
Sieger und besiegten kennt, ist eine friedliche collatio studiorum
einzuführen; wem in derselben ein Irrtum nachgewiesen wird, der
sehe das nicht als niederlage, sondern als gewinn an: multi enim
potuissent ad sapientiam pervenire, ni iam putassent se pervenisse.
intr. sap. 1, 197 (I 16). ''^ — Ehrgeiz und habsucht veranlassen
eifrigeres haschen nach zuhörern als streben nach der Wahrheit,
darum darf kein lehrer nach der zahl seiner schüler beurteilt wer-
den, darum darf keiner einen heller von seinen hörern annehmen.'"
scenda, quae legenda quae habenda iu bibliotheca ad consilium quum res
ferat, interdum qiioque ad ornamentum modo loci atque explendos forulos.
^^° trad. diso. 2, 4 (VI 295): mapfistii erga discipulum affectus erit
patris . . an vero plus in honiine gignit, qui corpus quam qui animum
giffnit? . . sed erit paternus hie amor non caecus verum videns. 2, 2
(VI 279): plnsque apud auditores proficerent firle ac veneratione sui
quam plagis ac minis; 3, 2 (VI 305): praestabit se . . discipuüs ut pa-
trem, non . . ut sodalem. diese forderungen waren damals, wo lehrer
und schüler sehr oft fast gleichalterig waren, durchaus nicht selbst-
verständlich.
''^' trad. disc. 2, 1 (VI 274): si quid vitii habent, vel laborent
Camino seponere ac tollere, vel quod secundum est licet grandi inter-
vallo, praesente auditore diligenter ac strenue abstineant, nam huuc
oportet se ad magistri exemplum comjjoncre.
'52 *exerc. 1. lat. dial. educatio (1403): nemini occurras tarn abiecto
contemptoque, quem non tibi anteponat conscientia tuae mentis . . hoc
si feceris, veram ipsam solidamque ingenuara educatioiiem atque urbani-
tatem assequere; dial. praecepta educatiouis (I 405) erzählt der um-
gewandelte Grympherantes von seinem trefflichen lehrer: prinuim omnium
docuit me, debere unumquemque non magnifice de se sentire, sed mo-
derate seu verius demisse: hoc esse optimae educationis ac verae co-
mitatis solidum fundamentum ac proprium, trad. disc. 1, 1 (VI 243):
quae possidet (liomo) paiica sunt et obscura . . amplissimae videntur
nobis opes e«se, maioruin ignoratione, aut utique inc-ogitantia. vgl. na-
mentlich anm. 39. über den schädlichen einflusz des hochmutes auf die
Wissenschaften s. caus. corr. 1, 1 (VI 18 f. J. die Selbstgefälligkeit der
scholastischen professoren verspottet sein dialog sapiens, über dispu-
tationen s. die einzelnen Unterrichtsfächer. *mor. erud. 5, 2 (VI 427 f.):
in studiorum collationibus qui alteri melius dicenti concedit, ne victus
nominetur . . . neque enim pngna est haec, vel qui disserunt adver-
sarii . . . sapienter Plato: tanto praestat disputatione vinci quam vin-
cere, quanto est melius ma^rno malo liberari, quam liberare.
'*ä mor. erud. 5, 2 (VI 426): quis polest de discipulorum numero
conqueri, quum auctor humani generis duodecim hominum schola ac-
F. Kuypers: Vives in seiner pudagogik. 71
Der lehrer pflege die collegialität; namentlich vermeide er ge-
hässigen und heftigen kathederstreit gegen seine amtsgenossen. '•^*
ohne die darin liegende gefahr zu übersehen, suche er auch ver-
kehr mit der weit, er befleiszige sich dabei der rechten Umgangs-
formen, besonders da die ausübung seines berufes leicht gesell-
schaftliche Untugenden zur folge hat. '^^
In allem ist Christus des lehrers erhabenes vorbild. '^*
§ 29. Nirgends ist eine andeutung, dasz jemand principiell da-
von ausgeschlossen wäre, schul er der akademie zu werden, es sei
denn , dasz ihm die anläge dazu fehlt. '" allein des kostenpunktes
wegen wird manchem der besuch derselben schwer, darum soll schon
quieverit? . . frequenti auclitorio arabitio mag-is servit, quam severitai?
institutiunis. trad. clisc. 2, 4 (VI 292): non oportet oculum ad frequen-
tiam scholarum adiicere; quanto praestat param habere salis sapidi,
quam niultum insulsi! quot philosophi content! fuerunt exiguo audi-
torio . . sed nimirum tolle superbiam et quaestum, quantumcunque audi-
torium sufficiet doctori: non nego quin ad dicendum frequentia incitetur
animus, sed aliud est dieere quam docere. exerc. 1. lat. dial, deductio
ad ludum erhält Philopoiios vor Varro den vorzu^, weil er nicht auf
zahl, sondern auf beschaffenheit seiner schiiler sieht.
'■''* trad. disc. 2, 1 (VI "276): ergo professores et magistri ipsi inter
se, quaestu neglecto , ostentatione semota .. coiicorditer vitam degent,
scientes se dei negotium gerere, ut mutuo opitulentur; neque enim qui
fratrem pro veritate laborantem iuvat, hominem iuvat sed veritatem.
die concurrentes verurteilt Vives.
155 rnor. erud. 5, 2 (VI 424): exeat ergo rationibus munitus, quibus
i-esistere oppugnantis assultui valeat . . . raultique eins aemulatione
studiis sese disciplinarum dedent, quarum fructum tarn pulchrum, atque
admirabilem cernuut. ebenda eine grosze reihe beherzigenswerter regeln
über den geselligen verkehr der gelehrten mit dem volke. die mittel-
alterlichen Professoren waren von demselben schon dadurch aus-
geschlossen, dasz sie kleriker waren. *trad. disc. 3, 2 (VI 304 f.): ludi
litterarii magister ab iis vitiis erit alienus, quae adferre secum solet
artis grammaticae longum exercitium: alberiiheit, zorn, rechthaberei,
hoffart. intersit colloquiis et congressibus hominum moderate ac com-
mode, et quantum poterit a paedore illo sese vindicabit, non discessu
corporis, sed morum cultura diligenti. über Unverträglichkeit der gram-
matiker s. auch Vigilia in somnium Scipionis praef. (V 104 f.).
158 mor. erud. 5, 2 (VI 426): quem potius magistrum imitabimur
quam illum ipsum Christum, quem Pater ad erudiendum humanum genus
coelitus demisit? s. auch ver. fid. 2, 9 (VIII 182 f.). ich habe bei der
darstellung der eigenschaften des lehrers nur diejenigen hervorgehoben,
welche ihn besonders als pädagogen i,ieren sollen, das Idealbild, welches
Vives mor. erud. entwirft, umfaszt ausführlich noch andere allgemein
menschliche forderungen, winke für den umgang mit gelehrten, mit dem
Volke, für die litterarische thätigkeit usw. die obige einteilung würde
etwa der kurzen Charakteristik des musterlelirers Philoponos entsprechen
exerc. 1. lat. dial. deductio ad ludum (I 287): doctissimus quidem Varro:
sed diligentissimus et vir probissimus Philoponos, nee eruditionis
aspernandae.
157 Vives, überhaupt eine demokratische natur, haszt einseitige adels-
erziehung. dies zeigt sich an vielen stellen, besonders in manchen
dialogen der einem adeligen, dem späteren Philipp II, gewidmeten exerc.
1. lat. s. vor allem dial. educatio (I 396—404). trad. disc. 2, 4 (VI 294 f.):
ingenia vel acie nimis delicata ac tenui, sed non solida, vel captus an-
72 F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik.
bei der wähl des ortes auf billigkeit der lebensmittel gesehen werden,
den armen, die oft mehr zum Studium neigen als die reichen, solider
Staat gelegenheit zu ihrer ausbildung geben, welcher überhaupt die
erziehung seiner unterthanen zu überwachen hat. lächerlich ist es^
solche knaben für das Studium zu bestimmen, die zu allem anderen
zu dumm waren. '^' der schüler erste pflicht i?t hochachtung vor der
gusti meliora sunt non fatigata et obruta litteris, sicut non est adhi-
bendum scalpellum scindendo ligno, nee debilis oculus intento aspectu
fatigandus.
'^^ trad. disc. 2, 1 (VI 2721'.): spectatur dehinc, ut suppetat alimen-
torum et copia et utilitas, ne felicia ingenia in tenuitate fortunarum
cogantur renuntiare litteris . . . praesertim cum disciplinas saepius iu-
venes sectentiir in re modica, quam opulenti. exerc. 1. lat. dial. scriptio
(I 317): quanto magis sapitis vos, quam multitudo ista nobilitatis, qui
eo se habitum iri generosioies sperant, quo imperitius pingant litteras.
*trad. disc. 3, 4 {XI 412): non solum in rei publicae constitutione, sed
legum iussu, cui propter potentiam plurimum hqmines tribuunt, curandum
est, ut casta atque incorrupta sit puerilis educatio. s. auch anm. 71. ich
flechte hier Vives' bedeutsame Forderung der staatlichen erziehung
armer kinder ein, obgleich er dabei an die akademie nicht denkt. *de
subventione pauperum 2, 4 u. 5 (4, 476 f.): pueri expositi habeant hospi-
tale ubi nntiiantur; quibns sunt certae matres. eos ipsae usque ad sextum
annnm enutriant, postea transferantur ad publicam scholam, in qua litte-
ras et mores discant, inibi alantur. huic scholae praesint viri, quantuni
fieri potuit, urbane ac ingenue educati, (jui mores suos in rudern scholam
transfundant , nam pauperum filiis a nulla re est uiaius periculum quam
a vili et sordida et incivili educatione; in eiusmodi magistris accer-
sendis magistratus ne sumtibus parcant; magnam rem praestabunt civi-
tati cui praesunt exigua expensa. sobrie discant vivere, sed munde ac
pure, et esse contenti parvo; ab omnibus arceantur voluptatibus . . .
nee solum discant legere et scribere, sed in primis pietatem christianam,
et rectas opiniones de rehtis . . . postea ex pueris aptissiiui quique ad
litteras retineantur in schola, futuri aliorum magistri, et seminarium
deinceps sacerdotum; reliqui transeant ad opificia, ut cuiusque fuerit
animi pronitas . . . creentur ex senatu per singulos annos censores biui . . .
qui in vitam et mores pauperum inquirant, puerorum , iuvenum, senum;
pueri quid agant , quid proticiant, quibus sint nioribus, qua indole, qua
spe, et si qui jieccent, quorum culpa; omnia corrigantur . . . vellem
etiam, ut iidem censores de iuventute et filiis divitum cognoscerent; esset
hoc civitati utilissimum, si cogerent eos rationem magistratibus taniquam
patribus reddere , quemadmodum, quibus artibus atque occupationibus,
tempus dispensent. irrsinnige sind in anstalten unterzubringen, aus-
führliche Vorschriften zu heilung^sversuchen werden a. o. s. 474 f. an-
gegeben, auch für die armen mädchen will Vives schulen, wahrend er
sonst, so viel ich sehe, nur von der häuslichen erziehung des weiblichen
geschlechtes spricht, vgl. aus der darstelhing seiner akademie trad. disc.
3, 6 (VI 3:^1): . . durus Varro (als lectüre) et opificibus accommodatus.
3, 9 (VI 341): Politianus elaboratus , verba eins bona et usui communi
apta, officiosis dumtaxat, es ist klar, dasz Vives eine bildung der
massen wollte, aber an schulzwang, den Luthir forderte, hat er wohl
noch nicht gedacht. Volksschulen bestanden schon länger, vgl. Heppe,
geschifhte des deutschen volksschulwesens , Marburg 1858. Jausen, ge-
schickte des deutschen volkes, I lul., 7e auf!., s. 'i-' f., Braunschweigische
Schulordnung von 1478 (monumenla Germaniae paedagogica I bd.). F. Ä.
Specht, geschichte des Unterrichtswesens in Deutschland, Münchener
preisschrift, Stuttgart 1885. daselbst s. 28 sind die anfange des schul-
F. Kuypers: Vives iu seiner pädagogik. 73
akademie und ihren lehrern. die unbedingte auctorität derselben ist
die grundlage jeder wirksamen di^ciplin und jedes ersprieszlicben
Unterrichts. ' " ihre mitschüler sollen sie lieben wie brüder. '*" die
älteren sollen in kindlicher form den Vortrag des lehrers den jüngeren
wiederholen, ebenso, bevor dem lehrer das pensum vorgetragen
wird, dieselben überhören, damit die scheu schwindet.'®' die Wahr-
heit stehe allen höher als der eigne wissensruhm, weshalb schüler-
disputationen selten abzuhalten sind. '^^
Jeder unterrichtszweig verlangt von lehrer und schüler be-
sondere geistige und sittliche anlagen.'"^
§ 30. Die akademie dient nicht blosz den Zöglingen derselben,
sondern sie ist zugleich ein erbauliches muster für das volk.'®^
Zwanges schon für die Karolingische zeit nachgewiesen. *trad. disc. 2, 4
(VI 293) : quidam, quo nihil est magis ridiculum, ineptos mercaturae, aut
militiae, aut aliis civilibus muniis, ad stholas mittunt ... et putant ad
res tantas satis habiturum iudicii ac mentis, qui ad minimas et levissi-
mas non habet.
i*y *trad. disc. 2, 4 (VI 295 f.): in scholas tamquam in templa ve-
narabuiidi iutroeant . . . contemptores magistrorum procacissimi sunt,
aptiores aratro quam libris, quem tandem reverebimur, qui magistrum
non veretur, animi velut alterum parentem! 2, 2 (VI 279): plusque apud
auditores proticerent fide ac veneratione sui quam plagis ac minis. 2, 4
(VI 296): credibile non est quantopeie affectus hi . . . ad recte tum tra-
dendam tum percipiendam eruditionem valeant. ähnlich sehr oft. exerc.
1. lat. dial. praecepta eruditionis wird vom schüler verlangt: demut,
fleisz, gottesfurcht, achtung vor eitern, lehrern, geistlichen und welt-
lichen vorgesetzten, anstelligkeit, höflichkeit, mäszigkeit, Offenheit, vor-
sieht in der wähl des Umganges.
i*»" stud. puer. 2 (I 271): condiscipulos fratrura loco habe; geniti
enim estis ab eodem magistro velut patre, et coniuncti sacris litterarum
non minore vinculo, quam sanguinis,
'6' *trad. disc. 3, 3 (VI 311): doctiores condiscipuli eadem quae a
praeceptore sint audita indoctioribus repetent, ac familiarius explana-
bunt . . i'acilius videlicet attoUunt se pueri ad iutelligentiam aequalium
quam magistri, quippe parva et tenera citius apprehendunt (quo inni-
tantur) proxima, quam excelsa . . quae pueri de praeceptore audiverint,
reddent primum vel condiscipulorum alicui provectiori, vel hypodidascalo,
postmodum praeceptori ipsi, ne magistri verecundia rüdes ac infirmos
confundant. ähnlich 4, 4 (VI 362). vgl. Trotzendorfs helfersystem, die
decurionen des Comenius u. ä.
'^2 *trad. disc. 2, 1 (VI 275): rarae sint disputationes publicae, in
quibus non eruitur veritas, nam nemo verius dicenti assentitur, quae-
ritur modo laus ingenii vel peritiae . . ut velit veritatem a se superari
. . non se veritati subraittere . . ex illis disputationibus cavillosiores ac
pervicaciores disceduiit multi, doctior utique aut melior nemo, ähnlich
sehr oft; vgl. die folgende darstellung. solche disputationen der magister,
baccalaureen und Scholaren bildeten einen integrierenden bestandteil der
mittelalterlichen Universitäten; man vergesse bei ihren mangeln nicht
ihre förderung der formalen bildung und der präsenz des wissens.
s. Paulsen s. 20 f., 2e a. I 36, 38 f.
'*^ s. die einzelnen Unterrichtsfächer.
'S"* *trad. disc. 2, 2 (VI 278 f.): haec si fiant, non aliter venera-
buntur indocti doctos, quam Divos a coelo delapsos, et eorum academias,
ut sancta loca, et sacri horroris plena, quae numine inhabitentur, ut
74 F. Kuypers : Vives in seiner pädagogik.
Die unterrichtsfäclier.
Erster Zeitraum.
Religionslehre.
§ 31. Die religionslehre ist das wichtigste Unterrichtsfach,
denn das ziel des menschen ist: mit gott vereinigt zu werden durch
liebe; was aber im einzelnen gegenständ dieser liebe sein soll, das
hat der religionsunterricht zu lehren, indem er dem kinde die ein-
fachsten grunddogmen des Christentums vermittelt.'®* zu diesen
wenigen dogmatischen tritt eine reihe moralischer lehren, zu
deren einprägung sprüche aus der introductio ad sapientiam, aus den
Philosophen und den heiligen vätern dienen können.'®^ hochachtung
vor der heiligen schrift als vor gottes wort ist den knaben ein-
zuprägen. '" als gegengewicht gegen die schädlichen einflüsse der
qnondam Heliconas et Parnasses: quam iiidiofiium reputanti videatur,
nos propter nostros mores ac nostras ineptias rideri ab imperitis, ac
coiitemiii. vgl. auch anm. 143 und die austühruno^en in mor. erud.
ißä trad. diso. 1, 4 (VI 255): liomo vero, ut unaquaeque res, ex fine
est censendus, vanus est enim ac miserrimus, si non assequatur finem;
perfectissmus vero, ac proinde felicissimus, si consequatnr. über dieses
ziel und seine erreichuno: durch die liel)e s. anm. 48; 1, 4 (VI 256):
quae autem amanda sint fides monstrabit, traditis unicuique primis et
simplicissimis elementis pietatis de deo, patre omnium, et filio eins Jesu
Christo, qiii ad redemptionem nostrae carnis peccati, carnem eandera
nostram induit, sed sine peccato: deinde haec eadem explicatius quo-
modo sint et cognoscenda, et amanda, non uUa hominum inventa, sed
divina declarant oracula, quae satis sunt litteris per spiritum sanctum
prodita; in quibus litteris, absoluta est intelligentia divini cultus, quae
pietas et eadem religio nuncupatur, licet eius vis magis actione conti-
netur quam peritia: 1, 2 (VI 248). quocirca reliquae artes et disciplinae
omnes, religione excepta, pueriles sunt lusus. *1, 4 (VI 257): hanc
(religionem) oportet esse reliquarum institutionum canonem, sicut deum
spirituum, et hominem animantium, ut tales quaeque censeantur disci-
plinae, quatenus huic materia, fine suo, vel nostro, praeceptoribus, dis-
cendi ratione, et exitu, congruunt aut non congruunt. stud. puer. 2
(I 270): quuni sapientia, et virtus, et scientia omnis divinitus contin-
gant, aequum est ut primus aditus ad haec omnia sit per deum.
"^'"' tral. disc. 2, 4 (VI 293): Omnibus initio stattm fundamenta sunt
tradenda pietatis nostrae, ut noscat se, quam est infirmus, et pronitate
naturae malus, ut niiiil nee sit, nee potest, nee valet, nisi ope dei, illum
iniplorandum crebro et bona fide, nee speret se quidquam omnino asse-
cuturum absque eius auxilio, quanta sit caecitas et fraus in animis
vulgi iudicantis de bonis ac rerum aestimatione, integrae opiniones in
vacuum pectus instillandae, nos inimicos dei reconciliatos illi esse per
orucem filii eius, deum ut potentem metuat, ut conscium vereatur, ut
datorem ac beneficum amet . . . nos ad haec exponenda libeilum con-
scripsimus . . et praeceptori facile erit eiusmodi flosculos ex philosophis
et sacris auctoribus ... in usum discipuli decerpere. dann führt Vives
die moralischen Vorschriften noch weiter aus. vgl. anm. 75.
1" trad. disc. 2, 4 (VI 297): auctoritas sanctanim litterarum magna
cum maiestate in auditorum pectora imprimatur, ut quum ex eis aliquid
andient, deum ipsum praepotentem audire sese arbitrentur.
F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik. 75
classikerlectüre findet einmal oder zweimal wöchentlich ein be-
sonderer moral Unterricht statt. ""*
Lesen und schreiben.
§ 32. Die Wichtigkeit der lese- und schreibekunst verkennt
Vives nicht. '"^ seine darstellung des Unterrichts in derselben ist
indes weder ausführlich noch originell, die anfange werden zu-
sammen mit den dementen des schulgemäszen lateinischen sprech-
und Sprachunterrichts im wesentlichen nach der alten synthetischen
buchstabiermethode in langweilender form betrieben. ''° betont wird
rechte haltung des körpers beim lesen wie schreiben , gehaltvoller
übungsstoflF, correctur seitens des lehrers. '^' Übung der Orthographie
ist mit dem leseunterrichte zu verbinden.'" im übrigen ist beim
schreibunterricht weniger auf Schönschrift als auf Schnellschrift zu
sehen, damit der schüler befähigt werde, dem unterrichte des lehrers
mit der feder zu folgen.'" es soll viel geschrieben werden."^
'^i^ s. anm. 68. dieser Unterricht hat einen lediglich praktischen,
zweck; eine theoretische behandhiug der moralpliilosopliie folgt erst nach
dem 25. jähre, s. § 63.
'69 s. exerc. 1. lat. dial. lectio (I 291 f.); scriptio (I 315 f.).
170 yg] g 35_ .^ Q (j 291 f.): cape tabellam abecedariam manu si-
nistra, et radium hunc quo indices singula elementa . . audi attentissime,
quemadmodum ego lias litteras nominabo, specta diligenter quo gestu
oris . . unaquaeque istarum vocatur littera, ex bis quinque sunt vocales.
haec etc. syllabam efficit . . . aliae omnes consonantes nominantur, quia
per se nihil .sonant nisi adhibita vocali . . . B, C, D, G, quae sine E,
parum sonant. iam ex syllabis fient voces seu verba .. edisce quae prae-
scripsi. dial. scriptio (I 320): Manricus: cedo iam nobis, si videtur,
exeraplar (scribendi). magister: iDrinium abecedariura, deinde syllabatim,
tum verba coniuncta. ähnlich stud. puer. 1 (I 257).
1'' exerc. 1. lat. dial. lectio (I 291): sta rectus; dial. scriptio (I 322) :
quautum poteritis recto capite scribite; nam iuflexo atque incumbenti,
defluunt humores ad frontem et oculos: uucie morbi nascuntur multi, et
videndi imbecillitas. — (I 320 f.) : haec effingite, et relite huc a prandio,
vel cras, ut scriptnram vestram emendem . . . effinximus quinquies, aut
sexies tuum exemplar in eadem charta, referimus hoc opus nostrum ad
te emendandum. correctur: hae litterae sunt admodum inaequales . .
animadverte quanto m maius est quam e ; et o quam orbis huius p . . .
quod litteras has transformare tentaris in alias, erasis particulis cuspide
scalpelli, magis deturpasti scripturam, usw. ziemlich eingehend. — *fem.
Christ. 1, 4 (IV 84): quur^ docebitur legere, ii libri sumantur in manus,
qui mores componant, quum scribere, ne sint otiosi versus qui ad imi-
tationem proponuntur . . sed grave aliquod dictum . . . quam saepius
scriptam tenacius memoriae affigat. vgl. die exerc. 1. lat. s. 320 u. 322
angefülirten vorlagen.
^'2 *trad. disc. 3, 3 (VI 310): rectae scriptionis iaciuntur fundamenta,
quum docentur legere; discet recte scribere, et celeriter.
"^ stud. puer. 1 (I 258): inter haec omnia (während des übrigen
Unterrichtes) det aliquid temporis formandis litteris, non tam eleganter
quam velociter ut si qui praeceptor dictet, ipsa suis scribat digitis.
vgl. anm. 318.
"^ trad. disc. 3, 3 (VI 310): persuadeant sibi, quod revera est, nihil
ad amplissimam eruditionem perinde conferre, ut et multa et multum
76 F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik.
Der Sprachunterricht.
Allgeraeines.
§ 33. An zweiter stelle, steht der Sprachunterricht; denn ohne
spräche wäre die gemeinschaft der menschen fast unmöglich, die
spräche ist eine natürliche gäbe gottes, diese oder jene spräche ein
kunsterzeugnis. '"
Es wäre zu wünschen, da?z eine einheitliche Weltsprache be-
stünde, sie würde der Verbreitung des Christentums und der Wissen-
schaften sowie der allgemeineren Verständigung dienen, zu diesem
zwecke würde sich am besten die lateinische spräche eignen, weil
schon viele nationen sie kennen, fast alle Wissenschaften in ihr
niedergelegt, Wohlklang, kraft und würde in hervorragendem masze
in ihr vereinigt sind, und endlich Italiener, Spanier, Franzosen
nach diesem muster ihre Volkssprache reiner und reicher gestalten
könnten. ''* jedenfalls musz latein allgemeine gelehrten-
sprache bleiben.'" diese Universalität würde die entstehung von
dialekten und somit eine neue Sprachverwirrung leicht zur folge
haben, weshalb überall mit Sorgfalt auf reinheit der spräche zu sehen
ist''®: barbarissans Hispanus barbarus est barbarissanti Germano,
scribere , multum atramenti, et chartae perdere. über beschaflfenheit
der Schreibmaterialien, federschneiden usw. linden sich ausführliche Vor-
schriften in exerc. 1. lat. tlial. scriptio. interessante mitteilungen über
den lese- imd schreibiinterricht in den mittelalterlichen schulen gibt
F. A. Specht [s. anm. 158] s. 67 fif. s. daselbst auch die anfange der
geschwindschreibekunst zu unterrichtszwecken durch anwendung tiro-
nischer noten.
1''^ trad. disc. 1, 5 (VI 263): ad exercitiiim societatis sermo est homi-
nibus tributus; quando enim tecti sunt nostri animi tam denso corpore,
quaenam esset societas? tt". ; *3, 1 (VI 298): quemadmodum meutern munere
habemus dei, sie etiam loqui naturale est nobis, hanc vero linguam aut
illam, artis.
1^6 *trad. disc. 3, 1 (VI 299 f.): e re esset generis humani unam
esse linguam, qua omnes nationes communiter uterentur; si perfici
hoc non posset, saltem qua gentes ac nationes pliirimae, certe qua
nos Christiani . . utinam Agareni et nos communem aliquam haberemus
linguam; sperarem futurum brevi ut multi sese illorum ad nos recipe-
rent. vgl. anm. 124.
'^^ ja auszerdem wäre noch eine besondere geheimsprache der ge-
lehrten zu wünschen, trad. disc. 3, 1 (VI 299 f.): expedit praeterea lin-
guam esse aliquam doctorum sacram, qua res rircanae consignentur, quas
a quibusvis non conveuit contrectari ac pollui; et haud scio an con-
duceret secretiorem esse hanc ab illa communi.
^'* caus. corr. 2, 3 (VI 93): aliam (linguam latinam) ex suo verna-
culo invexit Hispanus, aliam Italus, aiiani Gallus, aliam Germanus, aliam
Britannus, nee hi mutuo intelligebant. ähnlich in heftiger weise pseudo-
dial. (III 60 f.). genügt der sprachumfang des lateinischen für den mo-
dernen gebrauch nicht, 80 sind nicht nach der Volkssprache, sondern im
anschiusse an das griechische neubildungen vorzunehmen, stud. puer.
a (I 280): quum vocabulum latinum ad rem notandatn non est ad mannm
ex graeco licet rautuari agro copiosissimo. nach dieser regel hat Vives
F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik. 77
et hie vicissim illi. trad. diso. 3, 1 (VI 302). das lateinische ist auch
die Unterrichtssprache in der akademie. anfangs darf die mutter-
sprache zu hilfe genommen und Umschreibung angewandt werden,
archaistisches und phrasenhaftes ist zu vermeiden: assuescant abs-
truses animi cogitatus scite expromere. trad. disc. 3, 2 (VI 307).
wer nach einem jähre sich weigert, latein zu sprechen, wird bestraft,
auszerhalb der akademie aber, ausgenommen beim schulgemäszen
spiele, herscht allein die muttersprache. '^®
Wem es unbeschadet des lateinischen möglich ist, der betreibe
auch griechisch und hebräisch, diese drei sprachen sind die thore
zu allen Wissenschaften.'^" daneben bleibt für alle die pflege der
muttersprache. wem die zeit es erlaubt, der übe auch die modernen
sprachen. '*'
Für die ausspräche gilt als allgemeine regel: gewohnheitsfehler
müssen gehoben, organische fehler wenigstens verbessert werden. '^^
Der formalen bildungskraft der classischen sprachen legt Vives
in der exerc. 1. lat. verfahren, ausfälle gegen die ''monstra et portenta'
der Scholastiker waren bei den humanisten beliebt, vgl. z. b. die briefe
der dunkelmänner. man beachte aber wohl die rechtfertigimg der 'monstra'
bei Paulsen (cit. anm. 5) s. 22, 2e a. s. 40 f. und Fr. Haase, de medil
aevi studiis philologicis, Vratislaviae 1856 (universitätsschrift) s. 25, 44;
Polyc. Leyser, diss. de fieta medii aevi barbarie, cit. Raumer 5 a. s. 4.
nicht ganz mit unrecht ist sein eigenes latein als unclassisch getadelt.
s. auch Pope-Blount s. 366. vgl. anm. 187.
"^ *trad. disc. 3, 1 (VI .304 ff.): sonus ac sermo universus plane
latiiius sit . . . iiiitio verbis vulgaribus, hinc paullatim latinis, distincta
pronuntiatione, et gestu intelligentiam adiuvante, dummodo ue ad histrio-
nicum deveniat . . . ut inter primordia mistus sit sermo ex patrio et la-
tino, foris patrium loquentur, ne omnino consuescant linguas commiscere;
3, 3 (VI 314): qui post annum quam inceperit institui, latine recusabit
loqui, multetur pro aetatis ac conditionis ratione. vgl. über die Ver-
wendung der muttersprache zur 'gewinnung eines Wortverständnisses des
lateinischen' J. Müller, quellenschrifteu und geschichte des deutsch-
sprachlichen Unterrichtes bis zur mitte des 16. Jahrhunderts. Gotha
1882, s. 204 ff.
150 ganz als kind seiner zeit, seinen fortgeschritteneren iuductiven
realismus vergessend, zeigt sich Vives, virenn er von diesen sprachen
sagt: trad. disc. 3, 8 (VI 338): unde reliquae deinceps artes omnes ac
disciplinae dimanant; 4, 1 (VI 345): quae fores sunt disciplinarum
omnium atque artium, earum certe, quae monumentis magnorum in-
geniorum sunt proditae . . , itaque ignoratio linguae cuiusque velut
ostium disciplinae illiua claudit, quae ea ipsa lingua est comprehensa.
ähnlich trad. disc. 3, 3 (VI 309): norit sensum disciplinae esse aditum;
quae animantes eo careant, disciplinae capaces non esse; nihil esse
vel promptius quam multa audire, vel fructuosius; 1, 6 (VI 266): cogno-
scenda sunt ex libris omnia, nam sine libris quis speret se magnarum
rerum scientiam consecuturum!
''' vgl. zu dieser Übersicht die folgenden paragraphen.
1^2 trad. disc. 3, 3 (VI 313 ff.): quae vitia sunt ex consuetudine,
tolli queunt; quae ex natura corrigi possunt, tolli non possunt; sed
certe licet usque eo caute occultare, ne foede existant. ebenda
einteilung der fehler bei der ausspräche und regeln über heilung
derselben.
78 F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik.
kein gewicht bei. '-^ für jeden fällt die spräche aus dem unter-
richte fort, aus der er keinen nutzen ziehen kann.'®*
Zum Studium der sprachen fehlt keinem die anläge.'®^ der
Vorwurf der Scholastiker, dasz dasselbe glaubenswidrig sei, ist
unberechtigt. '-*'
Lateinisch.
§ 34. Die gründe des Verfalls des lateinischen unter den
bänden der Scholastiker sind hauptsächlich die confusion der Sprach-
wissenschaft mit theologie, rhetorik, poesie usw., das verurteil, dasz
das Studium des classischen lateins den glauben gefährde, die Ver-
unreinigung der spräche durch dialekte, die sophistische Streitsucht,
welche neue begriffe und neue Wörter geschaffen hat. '-^
§ 35. Der neugestaltete Unterricht umfaszt zwei stufen.'®'
Erste stufe, den anfang der lateinischen wie der [schul-
gemäszen] sprachkenntnis übei'haupt bildet die kenntnis der vocale
und consonanten sowie deren Zusammensetzung zu silben und Wörtern,
die elemente der formenlehre und der syntax werden mehr gelegent-
lich als systematisch, nicht nach der grammatik, sondern an der
band leichter Schriftsteller gelehrt.
Zweite stufe, dieser allgemeinen und oberflächlichen Vor-
bildung folgt ein gründlicher und systematischer Unterricht , dessen
gang im einzelnen sich folgendermaszen gestaltet: 1) erlernung der
'-^ *trad. disc. 4, 1 (VI 345): sed meminerint homines Studiosi si
nihil adiecerint Unguis , ad fores tantum pervenisse eos artiura, et ante
illas, aut certe in vestibulo versari, nee plus esse latine et graece scire,
quam gallice et hispaiie, usu dempto qui ex Unguis eruditis potest
accedere, nee linguas omnes labore illo propter se ipsas dignas esse.
*mor. erud. 1 (VI 417): linguae quid aliud sunt quam voces? aut quid
interest semotis disciplinis, latine et graece noris, an Hispane et
gallice. das sagt ein humanist! wie ganz anders dachte sein lehrer
Erasmus! nur exerc. 1. lat. widmung an Philipp (1280): latinae linguae
permagnae sunt et ad loquendum et ad recte sentiendum utilitates.
'8-* *trad. disc. 3, 1 (VI 302): . . nihil est enim ostentationi dandum . .
sed usui ac necessitati.
'85 trad. disc. 2, 4 (VI 295) : nullum (Ingenium) certe erit quod inu-
tile sit saltem Unguis discendis.
'■^8 *caus. corr. 2, 8 (VI 90 f.): est in studio vocum haeresis, an
studio rerum? utrum est in voce haeresis, an in re? stultum est in
voce dicere; est ergo in sensu et re: atqui res et sensa non sunt lin-
guae; dicet aliquis, est in iis sensis quae Unguis sunt tradita: age,
quorum auctorum? gentiles si ansam dant haereseos, peius faciunt qui
Aristotelem, quilPorphyrium, qui Averroem tanto studio evolvunt, quam qui
Ciceronem, Livium, QuintiUanum, Vergilium et eiusmodi etc. vgl. anm. 35.
'*^ caus. corr. 1, 9 (VI 64): grammatica est (scholasticis) quidquid
loquatur et de quacunque re etc. s. 2, 3 (VI 88 ff.); beispiele des Ver-
falls Sapiens (IV 23, 24). vgl. ähnlich und sehr ausführlich Du Gange
Glossarium tom. I praef. , wo auch Vives citiert ist. s. anm. 178.
'**^ trad. disc. 3, 1 (VI 302) gibt Vives diese beiden stufen in kurzen
zügen deutlich an. es folgt 3, 6 (VI 324 ff.) der unten im umrisse an-
geführte weitläufigere gang des lat. Unterrichts, der sich offenbar auf
die zweite stufe bezieht.
F. Kuypei-s : Vives in seiner pädagogik. 79
anfangsgründe aus regelbüchern. 2) sprach- und Sprachübungen
über gegenstände, die im anschauungskreise des kindes liegen, mit
hilfe eines einstweilen vom lehrer selbst entworfenen möglichst
vollständigen lexikons und der mutterspracbe. '""^ 3) lectüre eines
leichten Schriftstellers, märchenhafter erzählungen, leichter versa
wie der des Cato oder Michael Varinus, philosophischer Sprüche
4) briefe des Plinius, Caecilius oder Aegidius Calentius, des Eras
mus erstes buch de copia rerum et verborum sowie de recta pro
nuntiatione, ferner redefiguren aus Quintilian, Dioraedes Mancinellus
Johannes Despauterius. hierzu hat Petrus Mosellanus eine wand
tafel zum aufhängen verfaszt. 5) lateinischer aufsatz; anfangs darf
der schüler entlehnte phrasen und sätze einschalten; des Erasmus
zweites buch de copia. als sachliche Vorbereitung auf die classiker-
lectüre dient 6) Weltgeschichte in allgemeinen umrissen nach art
chronologischer tafeln, kurze darstellung der geographie, wozu das
handbuch des Pomponius Mela brauchbar ist.'*" erst nach dieser
einleitung folgt 7) lectüre classischer und nachahmungswürdiger
Schriftsteller in folgender reihenfolge: Caesar, Ciceros briefe ad fami-
liäres oder ad Atticum, einige bücher des Livius und des Valerius
Maximus, zuletzt einige reden Ciceros.
i*ä die bestehenden grammatiken taugen nicht viel, trad. disc. 3, 6
(VI 325): nam quae nunc quideni extant, ceite vel exempla sunt solum
absque cauonibus, vel canones, a quibus excipiuntur plura, quam ipsi
comprehendant. zur lierstellung einer guten grammatik, die gerade für
tote sprachen unerläszlich ist, ist ein gründliches Studium der classiker
nötig; denn nach der spräche sind die regeln zu gestalten, nicht um-
gekehrt, pseudo-dial. (III 41): nam prius fuit sermo latinus, prius
graecns, deinde in his formulae grammaticae, formulae rhetoricae, for-
mulae dialectices observatae sunt . . . neque enim loquimur ad hunc
modum latine, quia grammatica latina ita iubet loqui, quin potius e
contrario, ita iubet grammatica loqui, quoniam sie Latin! loquuntur.
stud. puer. (I 275). über die mittelalterlichen hilfsmittel zur erlernung
des lateinischen s. F. A. Eckstein, art. lateinischer Unterricht in
Schmid, encycl. 2e abt. IV bd. s. 204 f., Müller cit. anm. 179. Vives
bedauert, dasz ein vollständiges lexikon nicht existiert, trad. disc. 3, 6
(VI 326 f.): interea vero dum dictionarium eins generis non habemus,
institutor ipse ex sua lectione haec, ut poterit ad utilitatem discipulo-
rum aunotabit. stud. puer. 2 (I 277): magna partis huius (nämlich
dictionariorum) laboramus in latinis litteris inopia. ähnlich für das
griechische anm. 210. vgl. E. Weller. lateinische lehr- und Wörterbücher
der ersten hälfte des 16n Jahrhunderts in der Zeitschrift Serapeum
no. 15, Leipzig 1860, s. 225 — 235. eine ausführliche darstellung des
ersten Unterrichtes s. stud. puer. 1 (I 259—265, 266—267).
^^° ein regelrechter geschichtsunterricht folgt erst nach dem 25n jähre !
es handelt sich hier nur um eine kurze skizze, welche enthalten soll
trad. disc. 3, 6 (VI 328): quae bella insignia siut gesta, quae memora-
biles sint urbes constructae, qui homines clari vixerunt. es ist zu be-
achten, dasz bei dieser dem Verständnisse der classiker dienenden dar-
stellung die kriegsgeschichte im Vordergründe steht, während sie bei dem
systematischen geschichtsunterrichte weit zurücktritt, s. § 60. *addet
his etiam brevem descriptionem orbis primum universi et maximarum
partium, tum provinciarum, et quid in quaque commendatur famae. ein
gründlicher geographischer Unterricht folgt nicht, doch vgl. anm. 232.
80 F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik.
Zur abwechslung und zur erlernung der prosodie wird dichter-
lectiire eingestreut'^': Terenz und Plautus mit ausscheidung der an-
stöszigen stellen, Senecas tragödien, Vergils bucolica, Horaz' öden,
Yon den christlichen dichtem Prudentius, Baptist von Mantua, dann
Vergils georgica, der rusticus des Politian. zur erweiterung der
mythologischen kenntnisse dienen Ovids metamorphosen und fasten;
es folgen Martials epigramme mit auswähl, ebenso Persius und Vergils
Aeneis. ''-
Soweit wird der stoff an der band des lehrers durchgenommen;
vieles aus demselben soll nach auswahl des letzteren auswendig ge-
lernt werden. '^^
Privatim lese der schüler: Thomas Linacer, Antonius von
Lebrija, Mancinellus, Laurentius Valla, auf besondere empfehlung
des lehrers Servius Honoratus und ähnliche, die beispielsammlung
des cardinals Hadrian, zur erweiterung der kenntnisse in geschichte
die übrigen bücher des Livius, Tacitus, Sallust, in mythologie, auszer
Ovid und den genannten, Boccaccios genealogie. hauptsächlich zur
vergröszerung des vocabelschatzes dienen: Cato, Varro, Columella,
Palladius, Vitruvius und Grraphaldus. endlich sind zu lesen sämt-
liche reden Ciceros und Quintilians declamationen. als stilmuster
sollen von den neueren dienen Longolius, Jovianus, Pontanus,
Angelus Politianus, Erasmus.
In der bibliothek des schülers sollen sich auszerdem befinden
Varros drei bücher über die lateinische spräche, des Festus Pom-
pejus kurzer leitfaden, Nonius Marcellus; von den neueren: die
cornucopiae des Nicolaus Perotus, Nestor, Tortellius (besonders
wegen der sorgfältigen Orthographie), das lexikon des Ambrosius
Calepinus.'^'
Methodische benierkuugen zum lateinischen unterrichte.
§ 36. Anfangs halte man sich strenge an regeln, später treten
Sprachgefühl und Übung in den Vordergrund'"; die regeln sind
'^' trad. disc. 3, 6 (VI 328 ff.): poetarum lectio magis ad vegetan-
dum ingenium pertinet, et ad Stellas illinc quasdam et velut insignia
orationis petenda, quam ad alendum corpus sermonis . . . illud tarnen
non ignorandum poesi operis succisivis studendum, sumendamque eam,
non ut alimeotum, sed ut condimentum. vgl. das urteil über die dichter
anm. 211.
'^2 er teilt die Verehrung des mittelalters für die Aeueis: opus . .
quod Iliadi non concedat.
'33 trad. disc. 3, 6 (VI 330): ex his quae posui, ediscet ea disci-
pulus, quae institutor praescripserit; *3, 5 (VI 320): sunt, qui in tra-
dendis suis ordinem quendam sunt secuti, et methodum brevem ac dilu-
cidam, atque ad percipiendum facilem; hi sunt non modo relegendi, sed
ediscendi quoque ad verbum.
'3^ sämtliche angeführten Schriftsteller sind von Vives kurz cha-
rakterisiert, trad. disc. 3, 6 (VI 324 ff.).
'3^ im gegensatze zu den mo lernen sprachen trad. disc. 3, 1 (VI 302)
gilt vom lateinischen trad. disc. 3, 3 (VI 312 f.): admonendi sunt tirones,
F, Knypers: Vives in seiner pädagogik. 81
dui'ch vergleichung aus den Schriftstellern abzuleiten. '^^ zur ein-
übung derselben werden kleine stücke aus der muttersprache ins
lateinische und wieder zurück übersetzt.'" bei den Sprechübungen
schreite man in der wähl der gegenstände vom bekannten zum un-
bekannten, vom leichten zum schweren."' der trockene stofi" werde
in interessanter form vorgetragen;'^^ pedanterie ist zu vermeiden.*""
diesen zwecken dient es, dasz der lehrer der grammatik auch andere
namentlich historische kenntnisse besitzt.'"' den anfang und den
schlusz des schulgemäszen lateinischen Unterrichts hat er nach der
anläge des knaben zu bestimmen. ^"'^
ut fidant magis canonibus, quam usui vel iudicio suo. für später gilt:
nihil est . . quod aeque ad pereipiendam ling-uam valet, ut usus . . uam
vastus usus non potuit in regularum alveum cunctus corrivari. * caus.
corr. 2, 2 (VI 82): si populiim liaberemus vel latine loquentem, vel
graei-e, mallem cum eo aiinum unum . . versari quam sub eruditissimis
ludimagistris annos decem.
'"s s. anm. 189. dasz auch der scbüler auf inductivem weg'e vom
beispiele zur regel geführt werden soll, linde ich nicht, wohl heiszt es
trad. disc. 3, 3 (VI 314): accedet exereitamentis collatio scriptorum
cum formulis, in quibus congruant, in quibus dissideant. indes ist auch
bei dem grammatischen unterrichte gewis jenes bessere verfahren von
Vives gewollt worden, da er im allgemeinen der induc-tion den vorzug
gibt. *trad. disc. 2, 4 (VI 296): in praeceptione artium multa experi-
menta colligemus, multorum usum observabimus, ut ex illis universales
fiant regulae. so von den Wissenschaften überhaupt, vgl. anm. 301.
*"^ trad. disc. 3, 3 (VI 314): stilus inquit Cicero magister et effector
dicendi optimus: ergo postquam syntaxin didicerint, reddent vulgares
orationes in latiuum, et has vicissim in vulgarem serraonem, sed eas
perbreves, quibus addetur aliquid quotidie.
'"8 *trad. disc. 3, 6 (VI 326): quorum primordia erunt a levibus,
quaeque aetas illa facile sustinet, utpote a lusionibus ; sensim ad maiora
procedatur, de domo, et tota supellectili, de vestimentis, de cibis, de
tempore, de equo et navi, de templis, de coelis, animantibus, stirpibus,
de civitate et republica.
19'J *trad. disc. 3, 6 (VI 326 f.): condient haec iocis salsis, fabellis
scitis ac lepidis, exemplis atque historiolis iucundis, paroemiis, apo-
phthegmatibus , sententiis acutis, argutis nonnumquam et gravibus, ut
sie libeutius hauriatur et magno fructu sit non linguae tantum sed
etiam pnulentiae atque usus vitae.
200 stud. puer. 2 (1 276): neque vero despicienda est idcirco ars
(näml. die grammatik im gegensatze zur Übung), modo ne sit super-
stitiose anxia. trad. disc. 3, 5 (VI 323): cognitionem hanc artis doctam
volo esse magis quam anxiam et molestam. auch sonst zeigt er sich
als feind der kleinigkeitskräraerei. s. anm. 312.
20' caus. corr. 2, 2 (VI 84): porro quid grammaticus profitetur? non
solum litterarum et vocum peritiam, quamquam neque hoc omnino parum,
sed intelligentiam verborum et sermonis totius, cognitionem antiquitatis,
historiarum, fabularum, carminum, denique veterum omnium scriptorum
interpretationem.
*"2 *trad. disc. 3, 1 (VI 300): huic linguae (der lateinischen) dabit
operam puer, dum aliis percipiendis rerum disciplinis non est per in-
firmitatem ingenii satis idoneus, nempe ab anno septimo ad quintum-
decimum; sed id praeceptor ex cuiusque ingenio et progressibus melius
Btatuet. trad. disc. 3, 8 (VI 3381: sentio me diu esse in hac . . . praeceptione
immoratum, quod eo feci, quia multi pravi sunt a pueritia instituti.
N. Jahrb. f. phil. u. päd. II. abt. 1S97 hft. 2. 6
82 F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik.
Griechisch.
§ 37. Während das lateinische für alle hauptfach ist, sind vom
griechischen ungeeignete fern zu halten oder höchstens in die an-
fangsgründe einzuweihen.^"^ für die übrigen beginnt der Unterricht
in dieser spräche erst, wenn sie sich mit hilfe des lateinischen einige
Vertrautheit mit den sprachkategorien erworben haben, also etwa mit
der zweiten stufe (s. § 35). alsdann gehen beide parallel unter ve r-
gleichung mit einander; beide finden zugleich ihren abschlusz. *"*
Der zweck ist tiefere auffassung des lateinischen und aneignung
der in den Schriftstellern enthaltenen realen kenntnisse.^"^ zu er-
streben ist darum weniger die fähigkeit, die spräche zu sprechen,
wie beim lateinischen, als vielmehr die, sie zu verstehen.^"®
Der unterrichtsgang ist kurz folgender ^"^r 1) zur einprägung
der buchstaben und ihrer Verbindung dienen tabellen (Aleandri puta
aut eiusmodi). 2) declination und conjugation nach dem ersten
buche Theodor Gazas, welches Erasmus übersetzt hat. 3) Aesops
fabeln, das zweite buch Gazas. 4) eine rede eines classischen Schrift-
stellers, etwa des Isocrates, Lucian oder Chrysostomus. 5) prosodie
und Orthographie nach dem dritten buche Gazas. 6) einige briefe
des Demosthenes, Plato, Aristoteles, irgend eine rede des ersteren
203 *trad. disc. 3, 8 (VI 338): qui ingenio erunt vel tardo admodum,
absurdoque et inepte coniectante, vel suspicaci inique et in peiorem
partem reiiciente quae audiat bis latinam linguam utcunque didicisse
suffecerit, et portiunculam graecae aliquam.
204 *trad. disc. 3, 7 (VI 332): hie quidem latinitatis cursus; cui ali-
quante post initiiim aequari debet etiam graecitatLs , sicut dixi (p. 303),
ut ambo eonficiantur pariter. stud. puer. 2 (I 277): Graecas litteras
Quintilianus simul et pariter disci cum latinis posse putat. damals be-
gann das griechische erst nach abschlusz des lateinischen. Lange s. 822.
stud. puer. 2 (I 279): observare .. quemadmodum idiomata sermonum
Graeci et Latini inter se diflferant .. auch bei Übersetzungen: *confere3
graeca cum interpretationibus latinis initio si qua sunt ad verbum
versa. *trad. disc. 3, 7 (VI 333): illud esset potissimum annotandum,
quibus in rebus graeca et latina inter se structura dissiderent.
*"■> trad. disc. 3, 1 (VI 301): nee ullus absolute fuit Latini sermonis
peritus, nisi et graeco imbutus . . . quid, quod multa sunt graecis lit-
teris memoriae mandata in historia, natura reruni , moribus privatis et
publicis, medicina, pietate, quae de ipsis fontibus facilius hauriuntur
et purius. er denkt hier wohl besonders an Aristoteles und wendet sich
mit der letzten bemerkung gegen die Scholastiker, die diesen fast nur
aus schlechten Übersetzungen kannten, über zweck des griechischen
ähnlich stud. puer. 2 (VI 280).
20fi trad. disc. 3, 3 (VI 312). in sermone graeco, quandoquidem
sumimus tantum ad cognoscendos auctores, non perinde erimus de lo-
quendo solliciti, ut de intelligendo; si cui vero tantum vacat, et per
Ingenium licet, assuescat eloquendi etiam facultati.
207 über die damalige handhabung und Verbreitung des griechischen
Unterrichtes vgl. Job. Müller, die Zwickauer Schulordnung von 1523 in
'neue Jahrbücher für philologie und pädagogik' bd. 120, Leipzig 1879,
s. 476 ff. 521 ff. 602 ff. mit reicher quellen- und litteraturangabe. ab-
schlieszendes resultat s. s. 609 f. Paulsen s. 41, 223.
F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik. 83
oder eines der zehn redner jenes Jahrhunderts. 7) einige kenntnis
der dialekte durch Philoponos und Corinthos. 8) einige gesänge
Homers, diese oder jene komödie des Aristophanes, einige trauer-
spiele des Euripides. empfehlenswert sind auch Theognis aus Sicilien
und Phokylides. 9) alle Homerischen gesänge nebst deren erklä-
rung.^°^ 10) alle uns erhaltenen werke des Aristophanes und Euri-
pides. 11) Hesiods epT« Kai fmepai und einige griechische epi-
gramme, welche nicht unsittlich sind. 12)Pindarund bei genügender
zeit und fähigkeit Theokrit. 13) Herodian, mit Politians lateinischer
Übersetzung zu vergleichen , Xenophons griechische geschichte und
einige bücher des Thukydides, welche zugleich zur erweiterung der
geschichtskenntnis dienen.
Es folgt eine reihe von Schriftstellern, die als privatlectüre und
zur aufstellung in der bibliothek empfohlen werden, darunter manche
neueren.
Dem zwecke des griechischen Unterrichts entspricht es, dasz
Übungsstücke vorwiegend aus dem griechischen in die muttersprache,
nicht umgekehrt, übertragen werden.-"^ die abfassung eines griechi-
schen lexikons wird dringend gewünscht. '^'°
Classikerlectüre.
§ 38. Die classikerlectüre bietet zwar eine ungemein reiche
ausbeute für die bildung des knaben, sie erweitert die sprach-
lichen und realen kenntnisse, schärft das urteil, veredelt den ge-
schmack, aber sie schlietzt auch eine grosze gefahr für das jugend-
liche gemüt in sich; denn die Verfasser jener Schriften waren heidnisch
und oft sittenlos, ganz besonders gilt dieses von den dichtem, die
zudem des gesunden urteils entbehren und in dem schönen gewande
doppelt verführerisch sind.^"
208 Homer wird weitläufig nach seinen guten und schlechten eigen-
schaften kritisiert, seine beiden werke nennt er calidum und callidum,
^Oä trad. disc. 3, 3 (VI 314); malim ut ex Graecis ad nos discant
quam a nobis illuc traducere: ad verteodum probe vim linguae utriusque
necesse est ut interpres teneat; exercitationem tarnen esse in eo oportet,
ad quam transfundit.
*'" trad. disc. 3, 7 (VI 334): lexicon graecae linguae componendum,
quäle de latina diximus, copiosum, et plenum. s. anm. 189.
2" Vives war keine poetische natur; er hatte kein volles Verständnis
für die hohe Schönheit der alten dichter, vgl. Lange s. 780. trad. disc.
1, 6 (VI 269 f.): . . libros illos ceu latum quendam esse agrum, in quo
herbae proveniant partim utiles , partim noxiae, partim ad delicias pa-
ratae . . es folgt auseinandersetzung der licht- und Schattenseiten;
*3, 5 (VI 320): veniat iam ad lectionem gentilium, tamquam in agros
venenis infames praemunitus antidoto. dieses gegengift liefert der moral-
unterricht; — 5, 3 (VI 321 f.): exiguum certe a.lferuut (poetae) adiu-
mentum sive ad artes sive ad vitam, nee ad linguam quidem magnum;
*3, 5 (VI 323): ipsis quoque poetis fides elevanda, multum quidera va-
luisse eos natura, ac spiritu, sed homines tamen fuisse mediocri iudicio,
doctrina vero et usu rerum saepe nullo, aut certe perquam exiguo, tum
animi perturbationibus obnoxios ac servientes, vitiis inquinatos. masz-
84 F. Kuypers : Vives in seiner pädagogik.
Als grundsätze für die lectüre der classiker gelten: 1) es wer-
den nur solche gewählt, die auch reale kenntnisse vermitteln.^'^
2) sie werden mit gröster aufmerksamkeit durchgenommen zum
zwecke der fox-malen förderung der geisteskräfte.''^ 3) damit glauben
und sitten nicht leiden, wäre es am besten, nur christliche dichter
zu berücksichtigen, da dieses nicht angeht, ist, wenn möglich, eine
gereinigte ausgäbe vorzulegen, sonst wenigstens die äuszerste vor-
sieht bei der Behandlung geboten, dem einzelnen ist der Schrift-
steller zu entziehen, welcher seinem individuellen fehler Vorschub
leistet. ^'^ 4) zu bevorzugen sind die Schriftsteller der classischen
periode.*'^ 5) es ist verkehrt, sich mit 'blumeniesen' aus den
classikern zu begnügen.^'®
Muttersprache.
§ 39. Wenn auch auf pflege und reinhaltung der muttersprache
ein sehr groszes gewicht gelegt und vom lehrer verlangt wird , dasz
voller ist sein urteil stud. puer. 2 (I 275, 276); caus. corr. 2, 4 (VI 93 ff.)
trägt die Überschrift: de poesi, eiusque magna vi; quam fere omnes in
Universum poetae pessimo malo ea abusi sint. vgl. auch seine angriffe
in Veritas fucata, sive de licentia poetica, quantum poetis liceat a veri-
tate abscedere (II 517 ff.).
'^^^ *trad. disf. 3, 1 (VI 300): quippe ab iis auctoribus sermonem
hauriet, in quibus non sola erunt verba . . . raulta enim inesse ex aliis
disciplinis conspersa, est necessum.
*'^ trad. disc. 3, 3 (VI 314): intentione ad eam rem vehementer
est opus, ideoque excitatur atque acuitur ingenium, et iudicium fit
vegetius.
*•'• trad. disc. 1, 6 (VI 271): itaque nemiui bono viro arbitror in
dubium venturum, quin praestet vel a Christianis accipi doctriuam chri-
stianam Christiane traditam, vel ex monimentis impiorum resectis iis
quae integritati bonorum morum possent officeie; quod perfici si non
potest, saltem praeeat viam vir aliquis non solum eruditione praeditus,
ßed probitate eliam ac prudentia . . qui a periculis dimoveat, vel tacite
extra significationem periculi, n« curiosorum cupiditatem irritet, vel
quibus conveniet, aperte demonstret, quod malum delitescat. trad. disc.
3, 5 (VI 323) kommt er nach längerer erörterung zu dem resultate:
*non ^tolli oportere sed repurgari; — 3, 5 (VI 320): ante omnia ar-
cendus puer ab auctore, qui vitium potest fovere ac nutrire quo is la-
boret; ut libidinosus ab Ovidio, scurrilis a Martiale, maledicus et sub-
sannator a Luciano, pronus ad impietatem a Lucretio etc.
-1' trad. disc. 3, G (VI 325): pueritia (linguae) fuit sub Catone,
senectus sub Traiano et Adriano , aetas optima et vis vigorque iliius
circiter seculum M. Tullii. itaque, quantum fieri poterit, dabitur opera
ut iliius sint seculi verba, et phrases; non tarnen in hac egestate et
difficultatibus latinae linguae repudianda sunt, quae posteriores attu-
lerunt, Seneca, Quintilianus, Plinius, Tacitus, et eorum aequales. War-
nung vor zu beschränkter auswahl s. caus. corr. 2, 1 (VI 79 f.). trad.
disc. 3, 7 (VI 333): ante Pisistratum atque etiam l^ericlem, nihil scriptum
est legi dignum, post Demosthenem pluriraa quiilem, ceterum integritate
eermonis cum aetate illa minime comparanda.
*'^ *caus. corr. 1, 8 (VI 61): inventi sunt in omni studiorum ge-
nere, qui desidiae consulerent, collectis ex lectione veterum quibusdam
ceu flosculis . . . qui possunt auctorum sensus percipi, deserti et desti-
F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik. 85
er nicht blosz jeden verstosz gegen dieselbe corrigiere, sondern sogar
eine gründliche kenntnis der entwicklungsgeschichte der mutter-
sprachebesitze, so ist sie doch noch nicht selbständiges Unter-
richtsfach, sondern nur ein hilfsmittel zur Verdeutlichung. *"' es
wird vorausgesetzt, dasz zu hause, wo sorgfällig die muttersprache
gepflegt werden soll, sowie auszerhalb der Schulzeit, wo sie unter-
haltungssprache der schüler ist, diese genügende fertigkeit in der-
selben sich aneignen; in der schule hat der lehrer bei jeder ge-
legenheit, aber nicht systematisch sie im gebrauche derselben zu
fördern.^'«
tuti suis velut fulcimentis, nempe üs quae antecedunt, quaeque sub-
sequnntur. — Sie waren im mittelalter allgemein im gebrauch.
^" *trari. disc. 3, 2 (VI 306): vernaculam puerorum linguam exacte
cognoscet, ut commodius per hanc et facilius eruditas illas tradat; *3, 2
(VI 307): teneat (der lehrer, nicht der schüler) memoriam omnem vetus-
tatis linguae patriae et cognitionem non verborum modo recentium , sed
priscorum quoque, et quae iam exoleverunt . . nam ni ita fiat quum
unaquaeque lingua mutationes crebras recipiat libri ante centum annos
scripti non intellegerentur a posteris. caus. corr. 2, 1 (VI 78): nam quum
linguae arbitrium sit penes populum, dominum sermonis sui, mutatur
subinde sermo, usque adeo ut .centesimo quoque anno prope iam sit
omnino alius . . . ergo provisum est ut essent professores, ad quos ea
cura spectaret etc. zu vergleichen ist anm, 179. Kayser, der ganz kurz
und im allgemeinen richtig die Verdienste Vives' um die pädagogik zu-
sammenstellt, bemerkt s. 339: 'von den sprachen soll zuerst die mutter-
sprache gründlich erlernt werden, dann erst die lateinische . . . unseres
Wissens ist Vives der erste, der in dieser weise die muttersprache in
den Vordergrund stellt und zwar will er diese so behandelt wissen, dasz
auch die älteren formen derselben studiert werden', diese fassung läszt
eine ganz verkehrte beurteilung der Stellung des Vives in dieser frage
zu. es ist festzuhalten, dasz die muttersprache in der schule nicht wie
bei Comenius Unterrichtsfach und Unterrichtssprache, sondern kaum mehr
als ein notbehelf und dasz die historische Sprachforschung, lediglich
einem praktischen zwecke dienend, nur für den gelehrten, nicht für den
schüler ist. ''man meint, wenn man diese betonung der muttersprache,
diese forderung eines historischen Sprachstudiums und einer historisch
kritischen methode der forschung liest, man habe eine abhandlung, die
im 19n Jahrhundert und nicht im 15n geschrieben sei, vor sich.' für
den letzten punkt sei dieses zugestanden, für die beiden ersten ist es
eine entschiedene Überschätzung, auch die formulierung s. 349: 'be-
tonung der Wichtigkeit des Sprachunterrichtes, besonders aber der mutter-
sprache' kann leicht als starke Übertreibung gedeutet werden. Vives
stand in seinen forderungen weit hinter Comenius zurück — er erhob
sich über seine Vorgänger und Zeitgenossen, aber ein kind jener huma-
nistischen zeit war er doch, in den Unterrichtsbriefen an Carl von Montjoie
und die prinzessin Maria von England wird die muttersprache gar nicht
erwähnt, es ist immer nur von der lateinischen als spräche des Umgangs und
Unterrichtes die rede; nicht einmal tritt sie als notbehelf auf : *stud. puer.
2 (I 273): ut audieris doctos loquentes, aut legeris apud scriptores la-
tinos, sie ipse loquere . . cum iis qui imperite loquuntur latine, quo-
rum sermo potest tuum corrumpere, malis britannice, aut alia quavis
loqui lingua, in qua non sit idem periculi. weder caiis. corr. noch eine
andere schrift bedauert mit einem worte den niedergang der muttersprache.
*'8 *trad. disc. 3, 1 (VI 298): itaque et domi a parentibus, et in
schola a praeceptoribus danda est opera, ut patriam linguam pueri bene
86 F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik.
Andere sprachen.
§ 40. Das hebräische wird nur der lectüre des alten testamentes
wegen betrieben, ein obligatorisches Unterrichtsfach ist es noch viel
weniger als das griechische, nur der befasse sich damit, wer es, ohne
schaden für seine übrigen Studien, genau lernen zu können glaubt. *'^
Zu wünschen ist die kenntnis der hauptsächlichsten lebenden
sprachen; doch quäle man sich nicht ab mit grammatik, sondern
suche sie durch umgang mitdem volke zu erlernen. '^^^
Bekanntschaft mit dem arabischen würde missionszwecken dien-
lich sein."'
Andere Unterrichtsfächer.
§ 41. Von anderen Unterrichtsfächern ist für diesen Zeitraum
kaum die rede, so weit sie betrieben werden, sind sie ganz in den
dienst des Sprachunterrichts zu stellen, teils indem sie als sachliche
Vorbereitung der classikerlectüre vorausgehen (vgl. § 35), teils indem
gelegentliche kurze historische, geographische, auch naturgeschicht-
liche erläuterungen bei der Interpretation eingestreut werden. ^'^
sonent, quantum aetas illa patitur, sint facundi. zu vergleichen anm.
106, 114, 179. über die mutterspraclie im schulgebrauche jener zeit:
Müller (cit. anm. 179), Weller (cit. anm. 189), Wild, der stand des deutsch-
sprachlichen Unterrichts im 16n Jahrhundert, Leipzig 1875, in 'pädagog.
Sammelmappe', lieft 4.
2'" trad. disc. 3, 1 (VI 301): si quis propter vetus Testamentum
hebraeam velit cum bis coniungere, nihil impedio bis legibus: si satis
putat fore temporis ad omnia, si se incorrupte eam accepturum con-
fidit . . certe si duos Hebraeos de eodem loco consulas raro consentient.
die hebräische spräche hatte nur wenige freunde bis zur reformation.
s. K. Schmidt, gesch. d. päd., II bd., Cöthen 1869, s. 481.
*2o *trad. disc. 3, 1 (VI 302): in sermone qui ore totius populi
teritur, nihil necessum est artem aut regulas formari; ex populo ipso
promptius ac melius discetur.
**' s. anm. 124. den humanisten war das arabische nicht ganz
fremd; sie übersetzten namentlich die Schriften der groszen arabischen
ärzte. s. J. Burckhardt (cit. anm. 13) s. 196.
"2 trad. disc. 3, 2 (VI 308). reclinen wird als prüfstein für die an-
lagen trad. disc. 2, 4 (VI 291) empfohlen, als Unterrichtsfach ist es für
diesen ersten Zeitraum nicht genannt, vgl. § 51.
(fortsetzung folgt.)
Kiel. Fkanz Kuypers.
0, Schulze: über einige punkte der lateinischen grammatik. 87
6.
ÜBER EINIGE PUNKTE DER LATEINISCHEN GRAMMATIK.
1. Die laute des lateinischen.
Die lateinischen grammatiken widmen gewöhnlich die ersten
Paragraphen den buchstaben und den durch sie bezeichneten lauten,
und je nach der Wichtigkeit, die sie diesen dingen beilegen, fällt die
behandlung mehr oder weniger ausführlich aus. und das ist ja auch
natürlich, haben wir es doch mit einer toten spräche zu thun , und
hat sich doch im laufe der zeit eine gewisse traditionelle ausspräche
gebildet, die wir trotz des bewustseins ihrer fehlerhaftigkeit uns
schwer entschlieszen können ganz über bord zu werfen, daneben
aber hat sich freilich auch eine andere sitte bei vielen erhalten, deren
fortbestehen schwerer zu rechtfertigen ist. ich meine die art und
weise, wie die laute eingeteilt und benannt und wie schlieszlich ihr
lautwert angegeben wird, vor zwanzig jähren mochte das von vielen
beliebte verfahren noch zu entschuldigen sein, aber heute, wo wir
die lehrbücher der phonetik von Sievers, Trautmann, Vietor u. a.
und für das lateinische speciell die ausspräche des latein von Seel-
mann besitzen, da dürfte es doch endlich angezeigt sein, auch in
diesen Sachen an eine durchgreifende reform zu denken, man kann
heute unbedenklich den satz aufstellen: wer über die laute irgend
einer spräche behauptungen aufstellen will, der kann dies nur dann
ungestraft thun, wenn er sich mit den lehren der phonetik vertraut
gemacht hat.
Einer der gewöhnlichsten fehler, der sich in älteren büchern,
aber doch auch noch in guten lateinischen grammatiken neueren
datums findet, ist die Verwechslung von laut und buch-
staben. sie zeigt sich am deutlichsten, wenn von den diphthongen
die rede ist. unter diphthongen versteht man die Verbindung zweier
iaute, aber nicht zweier buchstaben. in allen Wörtern auf
leren schreiben wir jetzt — ob mit recht oder unrecht, bleibe
dahingestellt — ein i und e zur bezeichnung des langen i-lautes.
ebenso verhält es sich mit dem worte 'liebe', allerdings stand hier
ursprünglich ein diphthong, den wir noch in dialekten bewahi't
finden, aber neuhochdeutsch ist in diesem worte nur ein einfacher
i-laut zu hören, und wir haben deshalb kein recht, von einem
diphthongen zu reden, umgekehrt kann auch ein diphthong durch
einen einzigen buchstaben bezeichnet werden, ich erinnere nur
an das englische no, das no", und name, welches ne'ra lautet.
Nicht anders ist es mit den buchstabenverbindungen oe und ae.
wo diese im neuhochdeutschen auftreten, bezeichnen sie die laute ö
und ä, z. b. in Goethe, Maedler u. a. ä und ö aber sind einfache
vocale, eine thatsache, von der sich jeder leicht überzeugen kann,
wenn er diese laute lang, übermäszig lang ausspricht und dabei
88 0. Schulze: über einige punkte der lateinischen grammatik.
beobachtet, dasz die zunge immer in der einmal angenommenen läge
bleibt und nicht in eine neue Stellung übergeht, was notwendiger
weise bei der ausspräche eines diphthongen, der Verbindung zweier
laute, der fall ist.
Wir führen nun die angaben in vier neueren grammatiken an.
1) 'Doppelvocale (diphthonge) sind ae, oe , au.'
2) 'Zwei zu einem laute verbundene vocale nennt man doppel-
lauter (diphthongus). die gewöhnlichen diphthonge sind ae, oe, auf
ei, eu, ui sind altlateinische diphthonge, die sich nur noch in inter-
jectionen wie hei, heu, hui und in den Wörtern seu (für sive), neu
(neve), neuter, ceu, cui, huic finden, sollen die beiden laute eines
diphthongen getrennt gesprochen werden, so setzt man zwei punkte
über den zweiten, z. b. afe'r, pofe'ma, doch geschiebt dies nur bei a*
und oe.'
3) 'Stets lang sind die mit zwei einfachen selbstlautern
geschriebenen, aber nur einen laut bildenden doppeUelbstlaute
(diphthonge) ae (= ä), oe (= ö), au.
Zus. 1. die doppelselbstlaute ei, eu, ui sind wesentlich nur
dichterisch; in der ungebundenen rede trennt man sie besser, auch
ae, oe, au sind bisweilen getrennt zu lesen, besonders in griechischen
Wörtern, wie afe'r luft, pofe'ma gedieht, Meneläus.'
4) 'Diphthonge entstehen aus der Verbindung eines harten
(a, 0, e) und eines weichen (u, i) vocals, die gebräuchlichsten
sind au, ae (urspr. ai) und oe (urspr. oi). seltener kommen eu und
ei vor. die diphthonge sind immer lang.
Anm. soll ein diphthong getrennt gesprochen werden, so setzt
man über den zweiten vocal zwei punkte (trema), pofjta.'
Aus der fassung dieser regeln geht zur evidenz hervor, dasz
alle vier grammatiker die Verbindung zweier vocal buchstaben für
einen diphthong halten, nr. 3 gibt die ausspräche von ae und oe
ausdrücklich = ä, ö an, während die andern stillschweigend
eine solche ausspräche annehmen, denn wollten sie eine derartige
ausspräche verwerfen, so hätten sie in den von ihnen angefügten aus-
spracberegeln dies ausdrücklich bemerken müssen, sie hätten also
angeben müssen, dasz coepi und caecus nicht köpi und käkus lauteten,
sondern ko'pi und ka'kus, oder ko'^pi und ka^kus, also denselben
laut wie unser heute (= ho'te, ho^te) und eifer (== a'fer, a^fer)
haben.
Wenn Seelmann schriebe 'diphthonge sind ae, oe, au', so
würden wir selbstverständlich nicht den geringsten anstosz an diesen
Worten nehmen, da er für ae und oe wirklich eine diphth ongische
ausspräche in der classischen zeit annimmt und coepi und caecus in
der eben angegebenen weise (eine Verschmelzung von a, o mit
trübem i) ausspricht.
Sollte man nach dem angeführten noch zweifeln, dasz hier wirk-
lich eine Verwechslung von laut und buchstaben vorliegt, so geht
diese thatsache noch aus andern worten hervor, ich will kein groszes
0. Schulze : über einige punkte der lateinischen grammatik. 89
gewicht legen auf den satz in nr. 2: 'sollen die beiden laute eines
diphtbongen getrennt gesprochen werden, so setzt man zwei punkte
über den zweiten.' bekanntlich kann man über einen laut keine
punkte setzen, sondern nur über einen buchstaben. in hohem
grade anstöszig aber erscheint mir der ausdruck 'die vocale eines
diphthongen trennen', wie es in aer, pofe'ma, Menelaus der fall sei.
denn was ist ein diphthong? eine Verschmelzung zweier vocale, aber
eine solche, dasz dabei die beiden laute eine silbe bilden, dasz der
eine laut einen starken ton hat, und der andere laut ihm gleichsam
nur angehängt wird, die laute eines diphthongen trennen kann doch
nur die bedeutung haben: die natur des diphthongen zerstören, seine
beiden eng verschmolzenen laute auseinanderreiszen und auf zwei
Silben verteilen, war denn aber in afe'r, poöma, Menelaus ursprüng-
lich eine diphthongische ausspräche da? warum sagt man denn
nicht einfach, dasz das trema hier ein zeichen ist, um eine ausspräche
wie är, pöta oder eine diphthongische wie a'r, po'ta zu verhindern?
die oben angeführten angaben der grammatiker sind nur verständ-
lich , wenn man unter diphthong eine aufeinanderfolge zweier vocal-
buchstaben versteht.
An einer andern stelle vermiszt man die genauigkeit im aus-
druck. wenn es oben (3) heiszt: 'die doppelselbstlaute ei, eu, ui
sind wesentlich nur dichterisch , in der ungebundenen rede trennt
man sie besser ; auch ae, oe, au sind bisweilen getrennt zu lesen', so
ist man wohl zu dem Schlüsse berechtigt, dasz wörter wie hei, ceu,
huic zweisilbig gelesen werden sollen, denn darauf könnte doch
blosz eine trennung der diphthongvocale hinauslaufen, aber eine
bemerkung an einer andern für den lehrer bestimmten stelle, dasz
in den Wörtern neu, seu, ceu u wahrscheinlich 'nur ein schwacher
nachklang war', bringt mich auf den gedanken, dasz doch vielleicht
der Verfasser die einsilbigkeit gewahrt wissen will und für eu, ei, ui
eine diphthongische Verbindung verlangt von e -4- u, e -(- i>
u -{- i, nicht aber eine ausspräche, wie sie sich in den deutschen
Wörtern beute (o', o^, o°) und leider (a', a% a^), oder bei der
früheren österreichischen Schreibung uibung (ü) findet. '
Ferner möchte ich den satz in nr. 4 beanstanden : 'diphthonge
entstehen durch die Verbindung eines harten und eines weichen
* wie aus dem oben angeführten wohl zur genüge hervorgeht,
kommt es mir hier nur darauf an, zu untersuchen, ob die angaben in
einzelnen grammatiken sich mit dem vereinigen lassen, was wir über
die natur der laute im allgemeinen wissen, fern liegen mir durchaus
die fragen, wie die ausspräche zu einer bestimmten zeit gewesen, ob
die und die ansieht berechtigt oder nicht berechtigt ist. zur Vermeidung
von misverständnissen möchte ich aber doch in betreff des obigen
Punktes hinzufügen, dasz mir wohlbekannt ist, dasz eine ganze reihe
alter grammatiker, Terentianus Maurus, Marius "Victorinus, Mallius
Theoilorus u. a. eu einfach als diphthong ansehen, dasz Birt bei einigen
spätem dichtem zweisilbigkeit des eu nachgewiesen, dasz Stowasser
auf Consentius fuszend neuter als dreisilbig bezeichnet u. dgl, m.
90 0. Schulze: über einige punkte der lateinischen grammatik.
vocals (i, u).' abgesehen davon, dasz diphthonge auch eine andere
Verbindung aufweisen können, ist auch dieser ausdruck nicht glück-
lich gewählt, hart und weich sind, auf die laute angewandt, bild-
liche ausdrücke, die das wesen der sache gar nicht berühren, bei
den consonanten mag man sie sich zur not noch gefallen lassen,
wenn man unter hart stimmlos, unter weich stimmhaft versteht,
aber in hinsieht auf die vocale, die alle stimmhaft sind, dürften diese
auch in griechischen grammatiken auftretenden ausdrücke kaum zu
empfehlen sein, sollen u und i deshalb weich sein, weil sie leicht
in einen consonanten übergehen können? oder weil sie sich leicht
einem andern vocal zur bildung eines diphthongen anhängen? die
definition von diphthong musz und kann so beschafifen sein, dasz sie
für jede spräche passt.
Die behandlung der consonanten ist in den einzelnen büchern
sehr verschieden und krankt im allgemeinen ebenfalls daran, dasz
alte unzutreffende ausdrücke und erklärungen beibehalten werden,
ich rechne hierher z. b. folgende sätze: 'die buchstaben bezeichnen
entweder solche laute , welche für sich allein hörbar sind , und diese
■werden dann vocale genannt (vocales selbstlauter); oder solche,
welche nur in Verbindung mit andern hörbar sind, und diese heiszen
consonanten (consonae mitlauter).'
'Die einfachen consonanten auszer h teilt man ein nach ihrer
lautbarkeit in tönende, d. h. solche, die auch ohne vocal vernehmbar
sind (liquidae), 1, m, n, r, und stumme, d. h. solche, deren laut ohne
vocal nicht deutlich vernehmbar ist (mutae). das sind alle übrigen
consonanten.'
Warum soll denn ein f- oder s-laut nicht ebenso deutlich ver-
nehmbar sein wie ein 1 oder r? ist es denn ferner richtig, dasz con-
sonanten nur in Verbindung mit andern lauten hörbar werden'? ich
glaube, nur dem ausdruck consonant zu liebe hält man an einer
solchen ganz und gar irrigen ansieht fest.
Ferner werden die consonanten eingeteilt in 'mutae (b, p, g, c,
d, t) und semi vocales (liquidae 1, r; nasales m, n; spirantes f, v,
j, s)' oder von einem andern in 'stumme, mutae, und halbtönende,
semisonantes (flüssige, liquidae, 1, r; näselnde, nasales, m, n;
zischende, sibilantes, s; hauchende, spirantes, f, h; mittellaute,
semivocak'S, v, j)'. ein dritter nennt alle consonanten mit ausnähme
von h, 1, m, n, r, mutae.
Alte lateinische grammatiker teilen die consonanten in mutae
und semivocales ein. von den ersteren behaupten sie, dasz sie
allein nicht ausgesprochen werden könnten, zu den zweiten
rechnen sie f, 1, m, n, r, s, x und sagen: semivocales quae sunt?
quae quidem habent partem vocalitatis, cum per se proferuntur, sed
per se syllabam facere non possunt (Marii Victorini ars grammatica,
ed. Keil, grammatici latini VI s. 195, 11). wenn man nun beachtet,
dasz sie von den vocalen sagen, sie könnten allein ausgesprochen
werden und hätten die fähigkeit, silben zu bilden, so ist vielleicht
0. Schulze : über einige punkte der lateinischen grammatik. 91
der sohlusz nicht unberechtigt, dasz f, 1, m, n, r, s, x nur des-
halb semivocales genannt werden, weil ihnen die eine eigen-
schaft der vocale zugesprochen, aber die andere, das silbenbilden,
versagt wird.
Durch die Untersuchungen der phonetiker sind wir in den stand
gesetzt, uns ein ganz anderes urteil über die natur der laute zu
bilden, als dies den alten grammatikern möglich war. wohl staunen
wir manchmal über einzelne feine bemerkungen bei Terentianus
Maurus, Velius Longus u. a., aber eine gründliche systematische be-
handlung des stofifes konnte zu ihrer zeit kaum gelingen, dazu fehlte
es ihnen an den nötigen kenntnissen über die function der organe,
die bei der lautbildung in betracht kommen, und über schwierige
akustische Verhältnisse, über die wir erst durch neuere Untersuchun-
gen aufgeklärt worden sind, im folgenden will ich versuchen, die
hauptgesichtspunkte anzugeben, mit einigen andeutungen darüber,
wie ich mir die behandlung in der schule denke.
Die laute werden eingeteilt in stimmhafte und stimmlose,
d. h. solche, bei denen die Stimmbänder tönen, und solche, bei
denen sie nicht in Schwingungen versetzt werden, man kann den
Schülern den unterschied zwischen stimmhaft und stimmlos leicht
klar machen, man läszt sie mit den bänden die obren zuhalten
und dann einen stimmhaften laut und einen stimmlosen sprechen, das
würde der fall sein, wenn man einen vocal und dann ein f spricht,
um den unterschied recht deutlich zu machen, lasse man aber den
scbüler laut sprechen — denn beim flüstern vibrieren die Stimm-
bänder überhaupt nicht — und ferner jeden laut mindestens vier
secunden aushalten, man lasse ihn also bei zugehaltenen obren
sprechen u f o f usw. er wird finden,
dasz man bei dem aussprechen der vocale ein eigentümliches
summen vernimmt, das vom vibrieren der Stimmbänder herrührt,
während beim f nur die luft ausströmt ohne jenes eigentümliche
geräusch. ferner wird er finden, dasz einzelne buchstaben, z. b. s,
stimmhaft (gleich dem summen einer biene) und stimmlos aus-
gesprochen werden können.
Es geht aus dem eben angeführten hervor, dasz im all-
gemeinen stimmhaft gleich weich, stimmlos gleich hart ist, aber
auch, dasz die beiden ausdrücke weich und hart kaum das wesen
der Sache bezeichnen, ich füge absichtlich im allgemeinen hinzu,
denn im deutschen sprechen wir die sogenannten weichen con-
sonanten am ende hart, das heiszt stimmlos (land, ab, schlesisch : tag),
auszerdem haben die meisten Mittel- und Süddeutschen die gewohn-
heit, mindestens 80 procent ihrer d, g, b nicht stimmhaft, sondern
stimmlos zu sprechen, allerdings oft mit weniger expirationskraft
als t , k , p. sehr häufig jedoch begnügen sie sich auch mit einem
mittleren stimmlosen laute für beide, und deshalb macht es
auf einen Norddeutschen oft den eindruck, als ob der Thüringer
p für b und b für p spreche, doch eine nähere betrachtung dieses
92 0. Schulze : über einige punkte der lateinischen grammatik.
allerdings höchst interessanten punktes würde uns hier zu weit von
unserm thema abbringen.
Die phonetik teilt die laute ferner ein in klanglaute (oder
reine stimmtonlaute) und in geräuschlaute, die klanglaute ent-
sprechen den vocalen, die geräuschlaute den consonanten. die beiden
fremden namen kann man beibehalten; es wird aber gut sein, die
ausdrücke selb&tlauter und mitlauter zu meiden.
Klanglaute heiszen die vocale deshalb, weil sie aus einem
reinen stimmton bestehen, während der akustische Charakter
der consonanten ein geräusch aufweist, eine mittelgattung zwi-
schen klang- und geräuschlauten bilden in dieser hinsieht die
stimmhaften geräuschlaute, wie z. b. stimmhaftes 1, m, n, r, s
usw., d. h. laute, die ein geräusch enthalten, die aber doch neben
diesem geräusche noch einen stimmton aufweisen, ich glaubte zu-
erst, dasz die alten grammatiker diese laute wegen ihrer vocal-
haftigkeit semivocales genannt hätten, überzeugte mich jedoch bald
von meinem irrtume, als ich unter diesen semivocales das stimm-
lose f fand und das im latein wahrscheinlich immer stimmlos aus-
gesprochene s und weiter sah, dasz die stimmhaften medien zu den
mutae gerechnet wurden.
Die consonanten werden weiter eingeteilt in verschlusz-
laute, engelaute und raittellaute.
Verschluszlaute sind b p, d t, g k. bei b p wird der ver-
schlusz durch die lippen, bei d t durch zunge und zahne, bei g k
durch Zungenwurzel und gaumensegel hergestellt, auszerdem ist der
nasencanal geschlossen, man kann sich leicht von diesem doppelten
verschlusse überzeugen, wenn man einen dieser laute spricht, den
verschlusz längere zeit anhält und nun beobachtet, dasz die luft
nirgends entweichen kann , weder durch den mund noch durch
die nase.
Engelaute sind alle jene laute, bei denen der luftstrom durch
eine enge gehen musz, w (v) f, s, ch, j. bei ch haben wir zwei laute
zu unterscheiden, den stimmlosen j-laut , sogenannten ich-laut, und
den laut des ch nach a (o, u), den ach-laut.
Mittellaute endlich heiszen diejenigen laute, bei denen zwar
ein verschlusz gebildet wird, bei denen aber die luft entweichen
kann, es sind 1 m n g r. bei 1 ist ein verschlusz da durch Zungen-
spitze und zahne, aber die luft entweicht an den zungenrändern;
bei m verschlusz durch die lippen, bei n verschlusz durch Zungen-
spitze und Zähne, bei ij (dem laut, den wir durch ng wiedergeben
in angst oder durch n in enkel) verschlusz durch zungenwurzel und
gaumensegel. die luft entweicht bei den drei letzten durch die
nase. beim zungen-r endlich momentaner verschlusz durch die
zunge und zahne, beim Zäpfchen r ein solcher durch zäpfchen und
zungenwurzel.
Nach den Organen, die bei der hervorbringung der laute haupt-
sächlich beteiligt sind, kann man diese einteilen in lippenlaute:
0. Schulze: über einige punkte der lateinischen grammatik. 93
b p m f v; Zahnlaute: d t n s seh; Zungenlaute: 1 r; gaumen-
laute: g k j ch r.
Nach dem soeben ausgeführten ergibt sich folgende fassung für
die einteilung der laute :
Die laute der lateinischen spräche werden eingeteilt in
I. vocale (klanglaute)
a) einfache vocale: i e a o u y ae oe,
b) doppelvocale oder diphthonge: au, eu, ui, ei.
II, consonanten (geräuschlaute).
verschluszlaute
explosivae
engelaute
fricativae
mitellaute
liquidae
stimmh.
stimml.
stimmh.
stimml.
stimmh.
stimml.
lippenlaute
labiales
b
P
V
f
m
—
Zahnlaute
dentales
d
t
s
s seh
n
—
Zungenlaute
linguales
—
—
—
—
1 r
—
gaumenlaute
palatales
S
c k q
j (i)
ich-ch
ach-ch
n g r
—
Ich habe ae, oe unter die vocale gestellt, vpeil man diese buch-
stabenverbindungen gewöhnlich ä , ö spricht, ich zweifle aber nicht
im mindesten daran, dasz sie im classischen latein diphthongisch
lauteten, wer sie also jetzt als diphthonge aussprechen will , musz
sie selbstverständlich auch den diphthongen einreihen, aber ihren
lautwert als ä, ö zu bezeichnen und sie trotzdem den diphthongen
zuzuweisen, ist auf jeden fall ungerechtfertigt.
Auch bei den consonanten habe ich auf die jetzt bei vielen
übliche ausspräche rücksicht genommen und ich habe deshalb nicht
nur ein stimmloses, sondern auch ein stimmhaftes s angegeben, des-
gleichen ein linguales und ein palatales (uvulares) r. eine weitere
concession habe ich der jetzigen ausspräche gemacht, indem ich zwei
ch, einen ich-laut und einen ach- laut anführe, durch i) bezeichne
ich den laut des n in Wörtern wie pingo.
Über h heiszt es in einzelnen grammatiken : *h ist kein eigent-
licher consonant, sondern nur ein hauchzeichen.' der sache nach bin
ich vollständig mit dieser angäbe einverstanden, nur glaube ich, dasz
sie den schülern ohne eine eingehende erläuterung vollständig un-
verständlich ist. der consonant h entsteht durch eine reibung der
luft an den Stimmbändern, die nicht eng genug eingestellt werden,
um tönen zu können, über das tonlose dieses gutturalen h kommt
man leicht ins klare, wenn man in habe dashsehrlang spricht,
bei dem lateinischen habeo aber soll das h gar nicht gesprochen
werden, sondern die Stimmbänder sollen gleich tönend zum a
94 0. Schulze: über einige punkte der lateinischen grammatik.
mit einem hauche einsetzen, irgend wo habe ich gelesen, dasz
wir im deutschen eine solche ausspräche nicht hätten, mir ist sie
ganz geläufig, auch habe ich sie in Mitteldeutschland oft genug be-
obachtet, es will mir nun scheinen, als ob man in mancher gram-
matik im Verhältnis zu andern dingen — ich erinnere an die aus-
spräche von t und c — bei h ein wenig zu stark ins zeug gienge.
von dem Standpunkte einer compromissaussprache aus würde ich
es für keinen fehler halten, wenn die bemerkungen über h weg-
fielen und die ausspräche hier jedem nach seiner gewohnheit über-
lassen würde, consequenter weise hätte freilich auch dann der
stimmlose gutturale engelaut h in der obigen tabelle an-
gegeben werden sollen mit einer bemerkung über gehauchte vocale.
Für mittellaute habe ich den alten namen liquidae in ermange-
lung eines besseren beibehalten, freilich habe ich nicht dabei an
die erklärung der alten grammatiker, z. b. des Charisius, gedacht:
propterea liquidae dictae sunt, quod minus aridi habeant et in pro-
nuntiatione liquescant et syllabam positione longam facere non
possint, si in eadem syllaba ponuntur cum muta (Keil gr. lat. I 8, G).
2. Über die einteilung der sätze.
'Jeder hauptsatz drückt entweder eine aussage oder ein be-
gehren aus' heiszt es in einer lateinischen grammatik.
Manchmal ist es für das Verständnis einer sprachlichen erschei-
nung nicht gerade fördersam, wenn die grammatik sich allzu kui-z
faszt oder verschiedene Sachen, die vielleicht ihrer natur nach wenig
mit einander zu thun haben , unter gemeinsame gesichtspunkte
bringen will, das, fürchte ich, ist auch bei der angegebenen ein-
teilung der Sätze der fall, drücken die sätze entweder eine aussage
oder ein begehren aus, so kommt man gleich in Verlegenheit bei
einem fragesatze. veniesne? wirst du kommen? enthält dies eine
aussage oder einen wünsch? die angeführte grammatik läszt uns
darüber im unklaren, wir wenden uns deshalb an eine andere , und
da es bei dieser frage nicht auf die spräche ankommt, an eine
deutsche, diese sagt: 'die fragesatze gehören unter die begehrungs-
sätze, denn die frage ist ein begehren nach auskunft.'
Ein begehren nach auskunft schlieszt allerdings ein fragesatz
ein, denn derjenige, der fragt, will gewöhnlich auch eine auskunft
haben, frage ich: wirst du kommen? so will ich wissen, ob ein
anderer kommen wird oder nicht, .aber diese art von wünsch ist
doch wesentlich verschieden von dem, was wir gewöhnlich als
wünsch auffassen in Sätzen wie: mögest du lange leben! möge das
glück dir immer hold sein! wäre 'wirst du kommen?' ein satz
dieser art, so müste er zugleich den wünsch enthalten, dasz ein
anderer kommen soll oder nicht, das liegt natürlich nicht in
solchen fragesätzen, denn die frage enthält blosz ein erkundigen,
ob etwas geschehen wird oder nicht, das begehren hat also mit
0. Schulze : über einige punkte der lateinischen grammatik. 95
dem inhalt des Satzes gar nichts zu thun, es liegt vollständig auszer-
halb, und deshalb kann man fragesätze schwerlich unter die be-
gehrungssätze stellen.
Eine andere lateinische grammatik sagt: die sätze zerfallen in
'Urteilssätze (wenn diese in frageform stehen, heiszen sie fragesätze)
und begehrungssätze'.
Auch gegen diese erklärung machen sich bedenken geltend, es
handelt sich zuerst um das wort 'urteil', mag man nun sagen: 'das
urteil ist eine aussage über die Verbindung oder trennung von be-
griffen' oder 'in dem urteil tritt ein bleibendes oder bedingendes
glied oder das ganze des begriffsinhalts als subject den veränder-
lichen oder bedingten gliedern oder der summe dieser teile als prä-
dicaten gegenüber' (Lotze) — auf jeden fall fassen wir auch im
gewöhnlichen leben urteil als die form auf, durch welche einem
gegenstände irgend etwas beigelegt oder nicht beigelegt, von irgend
einem gegenstände etwas behauptet oder nicht behauptet wird,
kann man dies in form einer wirklichen frage thun? das ist ein-
fach unmöglich, wenn wir auch hier subject, prädicat und copula
haben, nicht viel besser würde es sein, wenn wir statt 'urteilssatz'
aussage- oder behauptungssatz einsetzten, auch dann würde man
den fragesatz nicht unterbringen können, wenn sich aber solche
Schwierigkeiten bei der Classification zeigen, warum sollen wir dann
durchaus an einer einteiiung festhalten, die freilich sehr alt sein mag,
aber auch dafür recht dunkel ist? nichts hindert uns, den aussage-
und begehrungssätzen die fragesätze als gleichberechtigt an die seite
zu stellen und — noch ein paar andere arten sätze hinzuzufügen.
In einer sehr verbreiteten lateinischen grammatik werden die
sätze der annähme, der einräumung oder des Zugeständnisses gleich-
falls unter die begehrungssätze gestellt, 'sit hoc verum gesetzt,
dasz es wahr ist, mag es immerhin wahr sein, ut desint vires, tarnen
est laudanda voluntas.'
Diese einteiiung ist meines erachtens nicht zu rechtfertigen,
wenn wir einen satz haben wie 'gesetzt, angenommen, dasz er diesen
mord begangen hat', so könnte dieser satz doch nur unter die be-
gehrungssätze kommen, wenn ich irgendwie den wünsch hinein-
legte, dasz die betreffende person diesen mord begangen habe, viel-
leicht liesze sich hierbei eine mildere form wählen, wie: ich wünsche
in diesem augenblick einmal, dasz er den mord begangen hat, er
soll einmal den mord begangen haben, erklärlich würde diese ein-
teiiung nur dann sein, wenn sich nachweisen liesze, dasz im lateini-
schen dem conjunctive immer ein wünsch zu gi'unde liege, aber
auch dann würden nicht alle bedenken geschwunden sein, da doch
nun einmal von Sätzen der annähme, der einräumung oder des Zu-
geständnisses die rede ist, und nicht der versuch gemacht wird, diese
als unter die Wunschsätze gehörend zu erklären, klarer und ein-
facher würde die Sache auf jeden fall werden, wenn es hiesze: da
der conjunctiv der modus der nichtwirklichkeit oder des gedachten
96 0. Schulze: über einige punkte der lateinischen gramma,tik.
ist, so steht er in Sätzen, die einen wünsch, eine annähme oder eine
einräumung ausdrücken ; und consequenter weise müsten dann die
Sätze überhaupt eingeteilt werden in aussage- , frage- , begehrungs-,
annähme- und einräumungssätze.
3. Concretum und abstractum.
In dieser Zeitschrift 1896 s. 302—304 hat R. Gast einen artikel
veröffentlicht 'noch einmal concretum und abstractum', in welchem
er seine schon früher vorgetragenen ansichten über diesen punkt
näher ausführt und an einige bemerkungen anknüpft, die sich in
meinem artikel 'der ausdruck begriff in unseren grammatiken'^ be-
finden, da die Sache nicht des interesses für die lateinische gram-
matik entbehrt, so möge mir der Verfasser freundlichst gestatten,
dasz ich kui'z hier seine deduction wiederhole und einige bemer-
kungen zur rechtfertigung des Standpunktes hinzufüge, den ich in
dieser frage einnehme. Gast sagt: 'es ist falsch, Wörter als con-
creta und abstracta zu bezeichnen , denn concret und abstract sind
nicht die wörter, sondern die begriffe, deren träger die Wörter sind.
Wörter können concreta und abfitracta nur bezeichnen, können
nur in concreter oder abstracter bedeutung gebraucht werden.
'Es ist falsch, dem concretum das gebiet des sinnlich wahrnehm-
baren, dem abstractum das des nicht sinnlich wahrnehmbaren zuzu-
weisen und damit concretum und abstractum von einander zu trennen,
einander gegenüberzustellen, denn da das abtractum durch unser
denken aus dem concretum gewonnen wird, gehören die beiden ganz
eng, so zu sagen paarweis zu einander, gehört demnach das con-
cretum dem gebiet des sinnlich wahrnehmbaren an, so ist mit seinem
abstractum dasselbe der fall und umgekehrt.
'Beweis für die Zusammengehörigkeit von concretum und
abstractum ist der umstand, dasz die spräche zur bezeichnung bei-
der sich eines und desselben wortes bedienen kann.'
Darauf sucht er dies zu beweisen an den drei Substantiven
Demosthenes, claviertaste, gas, die ich als solche angeführt hatte,
die man wohl stets als concreta auffassen müsse, bezeichnet Demo-
sthenes ein bestimmtes einzelwesen, so wird nach ihm dieser name
in concretem sinne gebraucht, sage ich dagegen : Demosthenes
war ein beliebter name — oder : Demosthenesse (männer
des namens Demosthenes) hat es viele gegeben — oder:
Demosthenesse (männer wie D.) hat es wenige gegeben,
so wird der name in abstractem sinne verwandt, in dem letzten
beispiele sind die merkmale von Demosthenes, einem einzelwesen,
abstrahiert, und man kann sich daraus einen typus bilden, sich
eine ganze gattung solcher menschen denken, in concretem
sinne heiszt es ferner: mir ist eine weisze claviertaste zer-
« in diesen jahrb. 1895 s. 564.
0. Schulze: über einige punkte der lateinischen grammatik. 97
hrochen — unser leuchtgas brennt heute schlecht; in
a b s t r a c t e m sinne : claviertasten haben denselben zweck
wie orgeltasten — gas ist eine luftförmigeflüssigkeit
Schon vor Gast hat Paul, prineipien der Sprachgeschichte- s, 66,
in dem capitel , in welchem er von der usuellen und occasionellen
bedeutung der Wörter spricht, eine dem wesen nach ähnliche ansieht
vorgetragen, er sagt: 'ich verstehe hier und im folgenden unter
concretum immer etwas, was als real existierend gesetzt wird, an
bestimmte schranken des raumes und der zeit gebunden; unter
einem abstractum einen allgemeinen begriff, bloszen vorstellungs-
inhalt an sich, losgelöst von räumlicher und zeitlicher begrenzung.
diese Unterscheidung hat demnach gar nichts zu schaffen mit der be-
liebten einteilung der substantiva in concreta und abstracta. die
Substanzbezeichnungen, denen man die namen concreta beilegt, be-
zeichnen an sich gerade so einen allgemeinen begriff wie die so-
genannten abstracta, und umgekehrt können die letzteren bei
occasionellem gebrauche in dem eben angegebenen sinne concret
werden, indem sie eine einzelne räumlich und zeitlich bestimmte
eigenschaft oder thätigkeit ausdrücken, bei weitem die meisten
Wörter können in occasioneller Verwendung sowohl abstracto als
concrete bedeutung haben.' wie aus seinen weiteren ausführungen
hervorgeht, beschränkt Paul diese Unterscheidung nicht auf sub-
stantiva, sondern dehnt sie auch auf Wörter wie jetzt, heute, gestern,
je u. a. aus.
Wir sehen also , dasz Gast nicht allein mit seiner ansieht da-
steht, er kann sich auch noch auf verschiedene logiker zur Unter-
stützung seiner behauptung berufen, sagt er doch selbst, er sei 'der
ansieht, dasz die schulgrammatik, wenn sie einmal von concretum
und abstractum spreche, sich darin in einklang mit der lehre
der logik befinden müsse'.
Wenn ich es nun trotzdem wage, eine abweichende ansieht zu
vertreten, und zwar eine solche, die sich schon lange in lateinischen
gramraatiken befindet, so veranlaszt mich hierzu der umstand, dasz
das wort 'abstraction' für einen gewissen Vorgang bei der begriffs-
bildung selbst nicht ganz einwandsfrei ist, ferner die thatsache, dasz
unter den logikern durchaus nicht einigkeit in bezug auf unsere
frage herscht, und endlich die Überlegung, dasz das wort abstractum
lange schon eine bestimmte bedeutung hatte, ehe der ausdruck
'abstracter begriff' aufkam.
Was den ersten punkt anbetrifft, so sagt Dressler, die
grundlehren der psychologie und logik^ s. 66: 'die hauptsache bei
diesem processe der begriffsbildung ist die combination des
gleichartigen, gemeinsamen, die abziehung des bewustseins vom
ungleichen ist nur ein nebenvorgang dabei, aber gerade von
diesem hat er seinen namen «abstractionsprocess» bekommen.'
Lotze, logik s. 40 sagt: 'man nennt abstraction das verfahren,
nach welchem das allgemeine gefunden wird, und zwar, wie man.
N. Jahrb. f. phil. u. päd. II. abt. 1897 hft. 2, 7
98 0. Schulze: über einige punkte der lateinischen grammatik.
angibt, durch weglassung dessen, was in den verglichenen
Sonderbeispielen verschieden ist, und durch summierung dessen,
was ihnen gemeinsam zukommt, ein blick auf die wirkliche praxis
des denkens bestätigt diese angäbe nicht.' und dann führt er
aus, dasz als regel gewisse einzelmerkmale nicht einfach weg-
gelassen, sondern durch ihr allgemeines ersetzt werden, Lolze
vermeidet deshalb wohl auch geflissentlich von abstracten begriffen
in dieser beziehung in seiner logik zu sprechen, er setzt dafür
allgemeine begriffe oder allgemeinbegriffe, ebenso findet
man diesen ausdruck nicht bei Hoffmann, abrisz der logik ^.
Wentzke, compendium der psychologie und logik s. 9, nennt ab-
stracte begriffe nur die Vorstellungen von zuständen und handlungen,
Verhältnissen und beziehungen. geradezu verurteilt aber wird der
ausdruck abstract statt allgemein von Überweg, System der logik ^
s. 89. er sagt: 'das wort ist der ausdruck der Vorstellung in der
spräche, die Vorstellung eines selbständig existierenden gegen-
ständes wird durch das substantivum concretum ausgedrückt,
die Vorstellung dessen, was unselbständig existiert, aber unter der
entlehnten form selbständiger existenz angeschaut wird, wird durch
das substantivum abstractum bezeichnet.' dasz er mit dem
letzten satze 'thätigkeiten, attribute und Verhältnisse' meint, geht
aus dem hervor, was er auf der seite vorher (88) anführt, daselbst
unterscheidet er auch eine substantivische concrete Vor-
stellung (voi'stellung eines selbständigen objectes) und eine sub-
stantivische abstracte Vorstellung (Vorstellung von thätig-
keiten usw. unter der form der gegenständlichen Selbständigkeit,
jedoch mit dem bewustsein, dasz dieselbe nur eine fingierte, nicht
eine reale ist), und weiter sagt er s. 97: 'die allgemeine Vor-
stellung (im gegensatz der einzelvorstellung) ist nicht mit der
abstracten (im gegensalz der concreten) zu verwechseln, beide
gegensätze kreuzen einander, es gibt concrete und abstracte
einzelvorstellungen und concrete und abstracte allge-
meine Vorstellungen, der gebrauch einiger logiker,
welche abstract und allgemein identifi eieren, ist nicht
zu billigen, die grammatik unterscheidet beides mit bestimmtheit.'
Nicht weniger scharf spricht sich John Stuart Mill dagegen
aus in seinem System der deductiven und inductiven logik, übersetzt
von Schiel ^ s. 32 f.: 'ich habe die Wörter concret und abstract in
dem sinne gebraucht, der ihnen von den Scholastikern beigelegt
wurde, welche ungeachtet der unvoUkommenheit ihrer philosopbie
in dem aufbau der technischen spräche unerreicht blieben, und deren
definitionen in der logik wenigstens, obgleich sie nie tief in den
gegenständ eindrangen, bei ihrer änderung nur verdorben wurden,
in neuerer zeit ist indessen ein gebrauch entstanden, der zwar
nicht von Locke selbst eingeführt wurde, der aber durch dessen bei-
spiel sehr an Verbreitung gewann, der gebrauch nämlich, den aus-
druck «abstracte namen» auf alle namen anzuwenden, welche das
0. Schulze: über einige i^unkte der lateinischen grammatik. 99
resultat der abstraction und generalisation sind, anstatt ihn auf die
namen von attributen zu beschränken, die metaphysiker aus
der schule von Condillac — deren bewunderung für Locke über die
tiefsinnigsten speculationen dieses wahrhaft originellen geistes hin-
weggeht und mit besonderem eifer auf den schwächsten punkten
verweilt — haben diesen misbrauch der spräche so lange fortgeübt,
dasz es nun einige Schwierigkeiten hat, das wort auf seine ursprüng-
liche bedeutung zurückzubringen, eine mutwilligere Verände-
rung der bedeutung eines wortes ist selten vorgekommen; denn der
ausdruck gemeinsame, dessen genaues äquivalent sich in allen mir
bekannten sprachen wiederfindet, konnte schon für den zweck gelten,
wofür man abstract misbrauchte, während dieser misbrauch jene
wichtige classe von Wörtern, die namen von attributen, ohne eine
bündige unterscheidende benennung läszt.' dasz Mill von abstracten
namen spricht, anstatt wie andere von abstracten begriffen, ist
für die sache selbst gleichgültig.
So sehr ich mich deshalb auch sonst der ansiebt zuneige, dasz,
wenn einmal ausdrücke der logik ii^ der grammatik gebraucht wer-
den, man sie in Übereinstimmung mit dem dort üblichen gebrauche
anwende, so möchte ich doch in diesem speciellen falle der grammatik
das recht vindicieren, das wort concretum und abstractum in dem
sinne beizubehalten, wie es seit langer zeit üblich gewesen ist.
Schoemann, die lehre von den redeteilen, nach den alten
dargestellt und beurteilt, s. 76 sagt: die 'nomina abstracta wer-
den so genannt, weil sie den begriff einer thätigkeit, eines Ver-
haltens, einer eigenscbaft oder beschafi"enheit, welche in der Wirk-
lichkeit nicht anders denn als attribute substanzieller dinge vor-
handen sind, von diesen abgezogen und getrennt enthalten, und
selbst unter der form eines substanziellen wesens aussprechen.' es
verlohnt sich hier kaum der mühe, noch näher zu untersuchen,
wer das wort abstractum in dieser bedeutung zuerst angewandt
hat (vgl. oben Mills ansieht), thatsache ist, dasz es lange in ge-
brauch war, ehe der umstrittene ausdruck 'abstracter begriff' auf-
trat, bekanntlich sind verschiedene bezeichnungen bei den alten
grammatikern in gebrauch, so sagt Dositheus (Keil, gramm. lat.
VII 390, 14): appellativa nomina in duas species dividuntur. alia
enim significant res corporales, quae videri tangique pos-
sunt, et a quibusdam vocabula appellantur, ut homo arbor pecus,
quae nos corporalia vocamus; alia quae a quibusdam appella-
tiones dicuntur et sunt incorporalia, quae intellectu tantum-
modo percipiuntur, verum neque videri nee tangi possunt, ut est
pietas iustitia decus dignitas facundia doctrina. ea nos appellativa
dicimus.
Dasz dinge (personen, tiere, Sachen) mit den sinnen wahr-
genommen oder gesehen und berührt werden können, ist ja selbst-
verständlich, und ebenso klar ist, dasz eigenschaften und thätig-
keiten allein nicht wahrzunehmen sind, aber eine definition von
7*
100 J. Ziehen: zur ■weiterführung des französischen in den mittelclassen
concretum und abstractum, die von diesem gesichtspunkt ausgeht,
halte ich doch nicht für ganz zutreffend, denn sie gibt eine eigen-
schaft der objecte an, die anzugeben im gründe überflüssig ist, auch
passt die definition streng genommen nicht für dinge, die nicht mehr
existieren oder die man sich blosz vorstellt, dagegen kann man meines
erachtens unbedenklich sagen: die substantiva zerfallen in
nomina concreta und nomina abstracta. die nomina
concreta bezeichnen dinge (personen, tiere, Sachen),
die nomina abstracta eigenschaften oder thätigkeiten.
Gera (Reüsz). 0. Schulze.
7.
ZUR WEITERFÜHRUNG DES FRANZÖSISCHEN IN DEN
MITTELCLASSEN DES GYMNASIUMS MIT FRANKFURTER
LEHRPLAN.
Der grundsatz des 'nacheinander, nicht nebeneinander' im
Frankfurter lehrplan bringt es mit sich , dasz von untertertia an
dem französischen Unterricht neben dem nun in den Vordergrund
tretenden lateinischen anfangsunterricht nur ein verhältnismäszig
bescheidener räum in form von zwei vröchentlichen stunden am
gymnasium gegönnt werden kann, es ist wohl zu vei'stehen, dasz
diese starke beschränkung des französischen in den mittelclassen
nicht ganz ohne bedenken hingenommen, dasz namentlich in den
kreisen von nichtfachleuten die ängstliche frage aufgeworfen wird,
ob denn die französischen kenntnisse bei dieser maszregel nicht not
leiden, ob nicht die grosze mühe, die in den drei unterclassen auf
das französische verwandt worden war, ihres besten erfolges beraubt,
die zeit zur ernte des mühsam gesäeten den lehre rn und den schülern
genommen werden v^ird. ich will in anknüpfung an frühere dar-
legungen über den französischen Unterricht in den unterclassen nach
Frankfurter lehrplan hier die weiterführung des französischen in den
entsprechenden mittelclassen kurz behandeln und damit zugleich
das masz der französischen kenntnisse andeuten, die meines er-
achtens zur zeit der abschluszprüfung, also am ende von unter-
secunda, von den schülern nach Frankfurter lehrplan gefordert
werden können; der lehrstoff soll — ohne dasz damit einem pedanti-
schen gleichmachen des Unterrichtsbetriebes das wort geredet werden
soll — nach jahrespensen wenigstens im groszen und ganzen ab-
gehandelt werden; eine Voraussetzung soll als selbstverständlich von
vorn herein hervorgehoben werden: der französische Unterricht in
den mittelclassen hat ausschlieszlich in französischer spräche statt-
zufinden, nur bei der grammatischen Unterweisung soll — und auch
das nur aushilfsweise und als notbehelf — der erklärung in deutscher
spräche räum gegeben werden.
des gymnasiums mit Frankfurter lehrplao. 101
Der Untertertia fällt, wie das ja in Banners französischer
Satzlehre sehr zweckmäszig auch äuszerlich bezeichnet ist — die an-
eignung der schwierigeren regeln der syntax zu; empirisch hat sich
der Schüler diese regeln zum gröszern teil schon angeeignet, die bei-
spielsätze in dem lehrbuch von Banner konnten daher sehr zum vor-
teil der Sache fast alle aus den drei cursen des lesebuches entnommen
werden; je mehr diese beispielsätze dem gedächtnis eingeprägt wer-
den, um so besser; auch soll besonders für die Satzlehre mit ihrer
auf zwei classenpensen schichtenweise verteilten paragraphenfolge
die memoria localis in anspruch genommen werden, die französische
Syntax — abgesehen von einzelnen verwickeiteren erscheinungen
des periodenbaues — hat meines erachtens am ende von untertertia
als abgeschlossen zu erscheinen und soll von da an nur noch ebenso
gegenständ beständiger, immanenter Wiederholung sein, wie das
die formenlehre ja schon von quarta an gewesen ist; manches von
dieser Wiederholung fällt ungezwungen dem lateinischen parallel-
unterricht zu.
Neben dieser erledigung der syntax geht dann ferner in unter-
tertia die abschlieszende durchnähme des von Banner zusammen-
gestellten 'übersetzungsstoflfes" einher; sie bringt in erwünschter
weise ein fortwährendes zurückgreifen auf die lesebücher und damit
die Wiederholung des in den drei unterclassen erworbenen vocabel-
schatzes mit sich ; die gelegenheit zu elementaren andeutungen über
die französische Synonymik wird sich dabei wohl kein lehrer ent-
gehen lassen, ein verhängnisvoller irrtura würde es, wie ich wenig-
stens meinen möchte, sein, wollte man von diesen Übersetzungs-
übungen in untertertia bereits vollkommen abzusehen für richtig
halten, die 'leichtfertige empirik''' nur kann es unterlassen wollen,
stets die fremdsprache an der muttersprache durch beständige ver-
gleichung in der einen wie der andern richtung zu messen , bis das
nebeneinander der sprachlichen erscheinungen dem schüler völlig in
fleisch und blut übergegangen ist.
Bleiben zu be.-~prechen der lesestoflFund der stoff zum auswendig-
lernen für das pensum der untertertia. was die verschiedenen Samm-
lungen von Schulausgaben französischer litteraturwerke für diese
classenstufe bieten — es wäre noch manches gute aus der französi-
schen prosa besonders hinzuzuwünschen ! — , das ist ja dem leser
dieser zeilen bekannt, ein fester kanon bis ins einzelste hinein wird
sich hier so wenig empfehlen , wie bei anderm fremdsprachlichen
lesestoff. wichtig scheint mir nur eines: wir müsten unseren schülern
zu billigem preis, daher in einfachster ausstattung und ohne über-
flüssigen anmerkungsballast, nur mit den kleinen vocabel- und sach-
erklärungen, die eine cursorische lectüi-e möglich machen, wertvollen
' 'den deutschen text des satzes durchlesen und dann den sinn des-
selben möglichst genau wiedergeben!' soll natürlich das losungswort
dieses wie jedes andern Übersetzens sein.
* s. festschrift des Frankfurter Goethe-gymnasiums s. 7.
102 J. Ziehen : zur weiterführung des französischen in den mittelclassen
und anregenden lesestoff aus der französischen litteratur in einzelnen
heften zugänglich machen, damit schon in untertertia ohne starke
inanspruchnahme der zeit des schülers eine französische privat-
lectüre ermöglicht wäre; und zwar wäre für die auswahl des lese-
stoflFes dieser privatlectüre vor allem als grundsatz aufzustellen:
Meicht verständlich und inhaltlich möglichst anregend und fesselnd! '
denn es handelt sich darum, dasz der schüler freude daran findet,
auf eigne faust daheim ein französisches buch zu lesen; die controle
dieser privatlectüre darf, so weit sie überhaupt nötig ist, vielleicht
dem deutschen Unterricht in untertertia anheimgestellt werden.
Wenden wir uns der obertertia zu, so scheint mir für sie
neben der selbstverständlichen Wiederholung der früheren pensen
der Übergang zum freien gebrauch der französischen spx-ache in zu-
sammenhängender rede die hauptaufgabe zu sein, wohlverstanden :
nur der Übergang — denn was einzelne begabtere schüler darüber
hinaus schon in den unterclassen etwa geleistet haben oder nun
leisten werden, kann natürlich für die begrenzung des pensums
nicht maszgebend sein, wie diesen Übergang bewerkstelligen? viel-
leicht darf ich den fachgenossen ein verfahren vorschlagen, das den
vorteil hat, ohne schaden für die sache auch noch zwei nebenzwecken
ganz ungezwungen zu dienen, in den unterclassen sind anschauung
und praktisches bedürfnis die träger der sprech- oder conversations-
tibungen im französischen Unterricht gewesen: machen wir doch auf
der mittelstufe einmal eine zeit lang die Satzlehre zur trägerin fran-
zö.^ischer Sprechübungen: wenn es schon für den ganz nie zu ent-
behrenden deutschen grammatischen Unterricht in den unterclassen
ein zweckmäsziges verfahren ist, durch die schüler frei erfundene,
vielleicht an irgend einen lesestoGF angelehnte beispielssätze für syn-
taktische erscheinungen bilden zu lassen, so wirft ein ähnliches vor-
gehen im französischen Unterricht der mittelclassen auszer der be-
festigung der syntaktischen regeln noch den weiteren vorteil ab,
dasz die schüler auch an freieren gebrauch der fremdsprache zu-
nächst in der form von längeren einzelsätzen gewöhnt werden; es
liegt auf der band, wie sehr bei dieser methode eine allmähliche und
folgerichtige Steigerung der Schwierigkeiten sich durchführen läszt
— nach ablauf eines halben Jahres etwa wird das haupthindernis
freien französischsprechens, die gestaltung der satzperioden, zum
groszen teil beseitigt sein.
In bezug auf den lesestoff wird die obertertia die arbeit der
vorhergehenden classe einfach fortzusetzen haben; ich glaube nicht,
dasz unseren schülern die freude an unserer vaterländischen litte-
ratur irgendwie beeinträchtigt wird, wenn der lehrer gelegentlich
eine gute französische Übersetzung eines ühlandschen oder Schiller-
schen gedichtes vorliest, unter dessen frischem eindruck alle von
der deutschen stunde her stehen; natürlich soll das nur als die
beschäftigung etwaiger am Schlüsse der stunde frei gebliebener
minuten empfohlen sein.
des gymuasiums mit Frankfurter lehrplan. 103
Und nun zur untersecunda! wie die quarta für die unter-
classen, so hat sie für die mittelclassen einen relativ abschlieszenden
Charakter; in diesem sinne musz eine systematische Wiederholung
des gesamten, bis dahin ei'lernten französischen Sprachstoffes als
ihi-e erste, übrigens durch das preuszische abschluszexamen auch
äuszerlich geforderte aufgäbe bezeichnet werden, sodann kann,
wenn mich nicht alles täuscht, in der gymnasial untersecunda nach
Frankfurter lebrplan getrost auch die in obertertia vorbereitete Übung
in freien compositiouen und vortragen vom französischen Unterricht
verlangt werden; enger anschlusz an eine schriftstellerische vorläge,
sei es der classen- oder sei es der privatlectüre, ist natürlich dabei
nicht zu entbehren, bildet übrigens , soweit mir bekannt ist, auch
für die französischen aufsätze in den oberclassen der realschule , die
selbstverständliche Voraussetzung ; für die classenarbeiten mag man
in untersecunda auf je drei freie compositionen als vierte arbeit
auch jetzt noch eine Übersetzung aus dem deutschen, gelegentlich
statt dessen auch einmal umgekehrt eine Übersetzung ins deutsche
fordern — jedenfalls können aber diese letzteren Übungen meines
erachtens in untersecunda bereits sehr zurücktreten.^
Für die französische lectüre in untersecunda kann auf das oben
in bezug auf tertia gesagte zurückverwiesen werden; bei der classen-
lectüre wird ja wohl die mündliche Übersetzung ins deutsche von
vielen lehrern schon in obertertia auf die schwierigeren Sätze be-
schränkt worden sein; sie ganz bei seite zu lassen scheint mir auf
keiner classenstufe ratsam, auszerordentlich hübsch kann meiner
ansieht nach von untersecunda an die französische privatlectüre zu
andern Unterrichtsfächern in beziehung gesetzt werden; die oben
geforderte beschaffung billiger hefte mit gutem lesestoff natürlich
immer vorausgesetzt: die neuere geschichte, die in untersecunda
behandelt wird, wird jedem leser dieser zeilen von selbst beispiele
geben; für die lectüre der Odyssee, deren Schwerpunkt im Frank-
furter lehrplan auf die zweite hälfte der obersecunda fallen dürfte,
ist durch Fenelons Telemachos-roman, vor allem aber durch Pon-
sards Odysseus-drama ein vortrefflicher begleitender lesestoff aus
der französischen litteratur gegeben; hat man eine beanlagte classe
vor sich, so mag man ruhig die besseren schüler veranlassen, neben
dem Ponsardschen stück auch Pierre- Antoine Lebruns Ulysse zu
lesen — der gewinn daraus ist ähnlich dem, den im deutschen Unter-
richt der obersecunda das lesen von Hebbels und Geibels Nibelungen-
dramen neben der classenlectüre des Nibelungenliedes abwirft.
Zu den leistungen, die von allen drei mittelclassen als unerläsz-
lich zu fordern sind, möchte ich das auswendiglernen neuer gedichte
und das beständige wiederholen der bereits auswendig gelernten
^ sollte beim abschluszexamen von Seiten der behörde eine Über-
setzung ins französische ausschlieszlich gefordert werden, so müste der
verlauf der Übungen in der classe sich natürlich nach dieser forderung
richten.
104 "W.Becher : anz.v.Kautzmann, PfafFu. Schmidt lat. lese- u. Übungsbuch.
stücke rechnen ; es würde mir nicht als zuviel erscheinen, wenn am
ende von untersecunda eine zahl von dreiszig auswendig gelernten
gedichten und prosastücken als mindestforderung aufgestellt würde;
bietet doch dieser memorierstofi" die garantie, dasz durch ihn den
Schülern die geläufigkeit der ausspräche des französischen, vor allem
das, was heutzutage als articulationsbasis auf so verschiedenen wegen
in den unterclassen angestrebt wird, trotz der bescbränkung des
faches auf zwei stunden erhalten bleibt.
Fkankfurt am Main, Julius Ziehen.
8.
LATEINISCHES LESE- UND ÜBUNGSBUCH FÜR SEXTA VON Ph.KAUTZ-
MANN, K. Pfaff UND T. Schmidt, zweite aufläge. Leipzig,
B. G. Teubner. 1894.
Kautzmann, Pfaff und Schmidt haben auf anregung Uhligs eine
gruppe lateinischer Übungsbücher von sexta bis tertia hei-ausgegeben.
von dem sextanerabscbnitte ist 1894 die zweite aufläge erschienen,
die gesichtspunkte, die bei der abfassung maszgebend waren, führen
die Verfasser im ersten Vorworte zum sextanerpensum selbst an:
enger anschlusz an Stegmanns grammatik, bescbränkung des lehr-
stoffes auf die regelmäszige formenlehre, möglichste durchführung
des princips, zusammenhängende lesestücke zu bieten, die erste auf-
läge ist in mehreren Zeitschriften besprochen worden, zugänglich
waren mir eine notiz in den blättern für bayerisches gymnasial-
wesen — wo kurz darauf hingewiesen wird, dasz das buch mit dem
bayerischen lehrplane nicht in einklang stehe und deshalb für Bayern
nicht verwendbar sei — und die recensionen Poetzschs (in diesen
Jahrbüchern 1892 bft. 3 und 12). die besprechung Poetzschs fuszt
noch nicht auf Verwendung des buches im unterrichte, so dasz ihm
eine reihe von mangeln des buches entgangen ist. gebessert wurde
auf seine anregung im sextanerlehrbuche die nuramerierung der
lesestücke und die angäbe der paragraphenzahlen zum nachschlagen
in der gi-ammatik. folgende bedenken möchte ich aber noch äuszern
gegen die zweite aufläge des teiles für sexta. sie richten sich gegen
viererlei: 1) den anschlusz an die Stegmannsche grammatik, 2) die
bemessung des lehrstoffes, 3) die Übungsstücke, 4) den Wortschatz.
Der plan, Übungsbücher im anschlusse an Stegmanns jetzt weit-
verbreitete grammatik zu schreiben, ist nur zu loben; das versprechen
ist aber nicht so vollständig durchgeführt, wie die ankündigung der
herren Verfasser erwarten liesze.
Warum ist nicht der geschlechtsregelwortlaut bei der dritten
declination gewahrt, sondern 'die werden weibliche genannt' ein-
gesetzt statt 'die sind als weiblich nur bekannt?' warum für die
neutra der dritten declination der alte regeltest, nachdem Stegmann
eine neue form aufgenommen hat? was nützt überhaupt die neutra-
VT. Becher: auz.v.KautzmanD, PfafFu. Schmidt lat. lese- u. Übungsbuch. 105
regel, wenn nicht für alle endungen beispiele geboten werden? und
wenn schon vom Wortlaute Stegmanns abgewichen wird, warum
dann nicht so gründlich, dasz die poetische form neutrius ver-
schwindet, die dem schüler zunächst ganz unverständlich ist und
bald darauf, wenn die pronomialadjectiva eingeprägt werden, durch
den schulgerechten genetiv neutrius vordrängt wird? einem ge-
übten regelreimschmiede würde es wohl bei einiger anstrengung
gelingen, einen andern text herzustellen, den Substantiven der
dritten declination schlieszen sich in drei paragraphen die adjectiva
an nach der bekannten einteilung adjectiva einer, zweier, dreier
endungen. diese breitangelegte behandlung der adjectiva der dritten
declination steht in widersprach zu dem verfahren, welches die
herren Verfasser bei der ersten und zweiten declination eingeschlagen
haben: dort werden die adjectiva als hilfsmaterial den einzelnen
Paragraphen eingestreut, ohne selbständige behandlung zu finden,
einen anschlusz an Stegmann kann ich darin nicht erkennen, in
§ 17 wird die genusregel der vierten declination geboten, wiederum
nicht wortgetreu nach Stegmann, begründet ist die abweichung in
§ 18 bei der genusregel der fünften declination: die Wissenschaft
vom femininum dies soll nicht unnütz in das sextanerpensum auf-
genommen werden, am lebhaftesten wurde wohl das bestreben nach
einem Übungsbuche, das sich an Stegmanns grammatik anschlösse,
empfunden wegen der dort vorgenommenen Umstellung der dritten
und vierten conjugation. es hätte sich aber auch empfohlen, das
von Stegmann gewählte paradigma der vierten conjugation neuer
Ordnung — emo, emere, emi, emptum — nicht vollkommen tot zu
schweigen und die sogenannten starken verba, die sich an emere
näher anschlieszen, vor den schwachen zu behandeln.
Soviel zum anschlusse an Stegmann, nun zur zweiten frage:
was wird als lehrpensum für sexta geboten? nach den Vorübungen,
über die später noch zu sprechen sein wird, folgt die erste declination
mit sieben Übungsstücken, die zweite mit acht, und dann, meines
erachtens sehr zweckmäszig, § 5 mit zwei Übungsstücken, die die
masculina der ersten und feminina der zweiten declination behan-
deln — und dazu wie zu allem folgenden deutsche abschnitte im
zweiten teile des buches. hierauf kommt in sieben paragraphen mit
dreiszig abschnitten die dritte declination zur behandlung. auch
hier wird in § 9 das natürliche geschlecht behandelt, das ist nun,
nachdem der unterschied zwischen natürlichem und grammatischem
geschlechte bei der ersten und zweiten declination dargestellt worden
ist, unnötig und verliert an dieser stelle jede berechtigung, nachdem
schon in § 6 die feminina soror, uxor, arbor aufgeführt worden
sind, es folgen die adjectiva der dritten declination, die regel-
mäszige comparation, die vierte und fünfte declination, esse mit
compositis, die erste conjugation.
Die Paragraphen der ersten conjugation leiten die Verfasser ein
mit der bemerkung: ^eine grosze zahl der hier zusammengestellten
106 W.Becherranz.v.KautzmannjPfaffu.Sclimidtlat.lese- U.Übungsbuch.
verba der ersten conjugation sind den schülem schon aus den lese-
stücken bekannt; aus praktischen gründen wurden sie hier wieder-
holt.' noch praktischer wäre es gewesen, alle schon in einzelnen
formen gebotenen verba der ersten conjugation an dieser stelle
wiederaufzuführen , damit der schüler von diesem teile seines Wort-
schatzes ein einigermaszen zusammenhängendes bild bekäme, un-
angenehm bemerkbar macht sich eine gepflogenheit , die aus den
lesicis übernommen ist. der schüler soll da lernen: aedifico bauen,
aestimo schätzen, das ist und bleibt doch eben falsch, wenn die
lexica die verba in der form der In sing. ind. praes. a. anführen
und daran den nachweis aller übrigen belegten formen schlieszen,
so ist da immer noch mehr sinn in der sache. auch wenn in der
zweiten und vierten conjugation alle verba mit ihren vier Stamm-
formen aufgeführt werden und dazu die deutsche bedeutung im
inf. pr. a. angegeben wird , darf man damit einverstanden sein,
warum können aber nicht die regelmäszigen verba einfach im inf.
pr. a. angeführt werden: aedificare bauen, aestimare schätzen usw.?
dasz diese methode logischer wäre, scheint den Verfassern nicht ganz
entgangen zu sein, denn in Verbindung mit nominibus oder partikeln
bekommen die verba die infinitivform zugebilligt, so folgt un-
mittelbar hinter aestimo schätzen, magni aestimare hoch schätzen,
hinter curo sich kümmern um etwas, besorgen curare, ut dafür
sorgen, dasz, hinter ignoro nicht wissen non ignorare wohl wissen,
zwischen die erste und zweite conjugation sind eingeschoben die
pronomina und die Zahlwörter, der platz scheint mir günstig ge-
wählt, doch erachte ich den ausschlusz der distributiva und adverbia
numeralia für eine unnötige beschränkung. es folgen nach erledigung
der conjugationen als neuerung der zweiten aufläge noch nützliche
Zusammenstellungen der präpositionen, adverbia, conjunctionen und
eigennamen, die in den einzelnen paragraphen des lehrpensums ver-
streut sind, dankbar würden lehrer und schüler es empfinden,
folgten nun noch vollständige Zusammenstellungen aller nomina
und verba nach declinationen und conjugationen, dasz in den
vocabelreichtum, den das buch bietet, um die behandlung der über-
setzungsstücke zu ermöglichen, einige Ordnung käme.
Dies führt uns zur dritten und vierten frage: was ist von den
Übungsstücken zu halten und wie ist die auswahl und bemessung
des Wortschatzes zu beurteilen? schlieszen wir uns in der kritik der
Übungsstücke an das vorwort der ersten aufläge an ! 'hinsichtlich
der form vertreten die Verfasser die anschauung, dasz dem schüler
thunlichst zusammenhängende stücke zu bieten seien, dasz aber da-
neben zu gunsten einer möglichst allseitigen formenübung auch
einzelsätze verwendet, namentlich jeweils den lesestücken über die
conjugation vorausgeschickt wurden, bedarf wohl kaum der recht-
fertigung.'
Nein, eine rechtfertigung dafür wird wohl kaum der begeistertste
freund geistreicher zusammenhängender Übungsstücke verlangen.
W.Becher: anz.v.Kautzmann, Pfaffu. Schmidt lat. lese- u. Übungsbuch. 107
im gegenteile hätten sie immerhin etwas zahlreicher aufgenommen
werden können, damit, was man wohl fordern kann, für jedes zu
dem lehrabschnitte zu lernende wort und womöglich für jede decli-
nations- und conjugationsform ein belegsatz geboten wäre — wohl-
verstanden nicht alle 12 casus von jedem einzelnen nomen und alle
conjugationsformen von jedem einzelnen verbum belegt, sondern
z. b. ein satz mit ind. praes. a. von amare, einer mit conj. pr. a.
von laudare usvv.
'Auch in diesen einzelsätzen wurde triviales oder das fassungs-
vermögen eines sextaners überschreitendes fernzuhalten versucht.'
'der Schwerpunkt des buches ruht auf den lateinischen lesestücken.'
die Verfasser setzen voraus, dasz dieselben durchweg in der classe
construiert, übersetzt und erläutert werden, und dasz sie erst nach
dieser besprechung zu häuslicher Wiederholung aufgegeben werden,
die denselben vorausgeschickten 'Vorübungen' sollen der veranschau-
lichung und der einübung der congruenz des adjectivs mit dem Sub-
stantiv dienen und gelegenheit bieten, schon vor der erlernung der
-declination wichtige grammatische grundbegriffe, wie subject, prä-
dicat, beziehungswort, attribut einzuüben, die hier vorkommenden
vocabeln sind zu memorieren.
In den mit diesen worten angekündigten eigenschaften liegt
die schwäche des buches und für seine Verwendbarkeit eine grosze
gefahr. zunächst ist es doch wohl ein unzweckmäsziges verfahren,
den lateinhungrigen neuen sextaner zuerst zu langweilen mit repe-
titionen über die begriffe subject, prädicat, beziehungswort, attribut,
die er aus seiner Vorbildung mitbringt, das heiszt denn doch den
sextaner zu elementar behandeln, und unmittelbar daneben stehen
anforderungen, die für den knaben entschieden zu hoch sind, be-
trachten wir die
Vorübung I.
amicus der freund, columba die taube. argentum das silber.
deus (der) gott. insula die insel. donum das geschenk.
fluvius der flusz. terra die erde, das land. exemplum das beispiel.
taurus der stier. uva die traube ferrum das eisen.
aeternus, aeterna, aeternum ewig.
albus, alba, album weisz.
bonus, a, um gut. magnus, a, um grosz.
durus, a, um hart. maturus, a, um reif,
fidus, a, um treu. rotundus, a, um rund,
gratus, a, um willkommen, an- timidus, a, um furchtsam.
genehm. validus, a, um stark,
latus, a, um breit. est ist.
a) amicus fidus. deus aeternus. fluvius latus, taurus validus.
columba timida. insula magna, terra rotunda. uva matura. argentum
album. donum gratum. exemplum bonum. ferrum durum.
b) deus est aeternus. taurus est validus. columba est timida.
terra est rotunda. argentum est album. ferrum est durum.
108 W.Becher : anz.v.Kautzmann, Pfaff u. Schmidt lat. lese- u. Übungsbuch.
Also substantiva und adjectiva, erste und zweite declination in
anmutigem nebeneinander werden zur eröffnung des lateinischen
pensums auf den armen schüler losgelassen, und die einprägung der-
artig manigfaltiger vocabeln wird ihm als erste leistung zugemutet,
und was ist der zweck der sache? offenbar die Vermeidung tri-
vialer Sätze bei beginn der ersten declination. man kann nun schon
adjectiva verwenden und sätze wie 'multae aquilae in silvis densis
habitant' sind, das sei zugestanden, annehmbarer als der alther-
gebrachte satz 'aquilae sunt alae', den mancher sextaner früherer
jähre verwundert angestaunt hat. aber geschmacklosigkeiten wie
der angeführte satz alter probe lassen sich auch vermeiden, ohne
dasz man vor der zeit das geheimnis des adjectivums mit seinen
verschiedenen endungen dem sextaner enthüllt, um dann den ballast
der nominative masc. und neutr. bis zur zweiten declination un-
genützt mitzuschleppen, wie gut sich die sache machen läszt, be-
weist der abschnitt IV der ersten declination , überschrieben Diana
und Minerva, von dessen sieben Sätzen nur einer adjectiva aufweist,
diese vorausnähme der adjectiva und der zur erläuterung der drei-
geschlechtigkeit nötigen masculina und neutra schafft auch noch
einen übelstand: die worte fehlen an der stelle, wo sie hingehören,
nämlich bei den paragraphen der zweiten declination, so dasz der
schüler kein einheitliches bild des Wortschatzes erhält, aber zu-
gegeben: plumpe trivialitäten haben die Verfasser vermieden, für
alle Sätze bei allen benutzern des buches begeisterung zu erwecken,
haben sie ja wohl selbst nicht gehofft, und wem diese oder jene
einzelheit nicht behagt, der kann sie ohne groszen schaden im unter-
richte übergehen, die zusammenhängenden btücke bieten eine er-
freuliche manigfaltigkeit des Stoffes: fabel , sage, geschichte, be-
schreibung, naturbetracbtung , moralische probleme — dazu rechne
ich die im geiste der friedensliga gehaltene betrachtung über krieg
und frieden, nr. 87. in der fülle des stoffes möchte eher eine be-
schränkung vorteilhaft sein, dasz dabei auch einmal ein einzelnes
sätzchen, nr. 125. 135, oder deren zwei, nr. 78. 84. 90. 98. 126.
148. 149. 150. 266. 267. 272 als zusammenhängendes lesestück
auftreten können, sei nur als curiosität erwähnt, dasz der Schwer-
punkt auf die lateinischen le^estücke gelegt wird, ist berechtigt, sie
sollen dem schüler einen kanon richtig gebildeter formen bieten,
den er jederzeit zu rate ziehen kann, das material zum übersetzen
ins lateinische soll der lehrer selbst schaffen und jederzeit den be-
dürfnissen der schüler anpassen in Quantität und geistigem gehalte.
Nun bleibt noch ein übelstand zu berühren, den auch Poetzsch
angedeutet hat in seiner recension der ersten aufläge, hervorgerufen
durch das streben nach belehrenden und interessanten Übersetzungs-
abschnitten: die masse des beiwerks der gelegentlich zu lernenden
vocabeln, die ohne zum grammatischen lehrstofife des paragraphen
zu gehören, im vocabular diesem zugeteilt werden, um die Über-
setzung der Übungsstücke zu ermöglichen, nun liegt es ja auf der
W.Becher: anz.v.Kautzmaiiu,PfafFu. Schmidt lat. lese- u. Übungsbuch. 109
band : nur aus Substantiven der ersten und zweiten declination
lassen sich keine Sätze bilden, eine anzahl von verbalformen und
adverbien ist unentbehrlich, auch einige feste redewendungen wird
man als gelegentliche bereicherung des wissens mit in kauf nehmen,
aber was auf diesem gebiete die drei Verfasser leisten, ist des guten
entschieden zu viel, der verschlag Poetzschs, nur die zum gramma-
tischen lehrstoffe des abschniites gehörigen und als solche durch
fetten druck ausgezeichneten Wörter lernen zu lassen, die übrigen
zu einem wertschätze zweiter classe herabzudrücken, dessen bestand-
teile nach erledigung des abschnittes der Vergessenheit anheimfallen
dürfen, widerspricht der absieht der Verfasser, denn die gelegentlich
beigebrachten vocabeln finden in den folgenden abschnitten immer
wieder einmal Verwendung und werden dann als bekannt voraus-
gesetzt, auszerdem ist es wohl wenig empfehlenswert, vor dem Sex-
taner eine Unterscheidung von lehrstofiF erster und zweiter classe zu
machen, es bleibt also nur übrig, dieses vocabelbeiwerk zu be-
schneiden und die Übungsstücke danach umzugestalten, diesen weg
haben die Verfasser bei abfassung der zweiten aufläge bereits be-
treten, wie sie in dem dazugehörigen vorworte erklären, sie können
darin ohne schaden noch weitergehen.
Soviel zur beurteilung des Kautzmann-Pfaff-Scbmidtschen
Übungsbuches für sexta in der gestalt der zweiten aufläge, es bliebe
eine frage noch zu erörtern: ob das lehrpensum für den sextaner
zweckmäszig abgegrenzt ist. dies wird erst die praxis zu erweisen
haben, und genaue feststellung darüber ist erst möglich, wenn
Schüler von sexta bis tertia nach den Kautzmann-Pfaff-Schmidtschen
lehrbücbern ihr latein gelernt haben, soviel die andeutungen der
Verfasser im vorworte zur zweiten aufläge des sextanerlehrbuches
erkennen lassen, sind in Baden die erfolge günstig gewesen, in
Sachsen erprobt man die bücher jetzt an zwei stellen: am könig-
lichen gjmnasium in Dresden-Neustadt und am mädchengymnasium
in Leipzig, die lateinlernenden damen bewältigen den sextaner-
cursus in einem Semester mit vier wechenstunden. ich selbst habe
mit einer Schülerin des mädchengymnasiums, die dort zu Michaelis
eingetreten ist, während des sommersemesters das sextanerpensum
nach Kautzmann-Pfaff- Schmidt durchgenommen in dnäszig lehr-
stunden mit erschöpfung des gesamten regelnstoffes und Wort-
schatzes, allerdings nur mit einer auswahl von Übungsstücken, ich
möchte den versuch, der in diesem falle sehr gut gelungen ist, nicht
mit jeder Schülerin wiederholen, doch musz ich gestehen, dasz mir
auf grund dieser benutzung des buches ein anderer zweifei auf-
gestiegen ist: ^kann man eine gymnasialsexta mit dem knappen
pensum regulären lehrstoflfes, wie ihn das buch bietet, ein volles
jähr lang beschäftigen? treten neben diesem wenig des officiellen
lehrpensums mit seiner gar so vorsichtigen beschränkung in com-
paration, Zahlwörtern und conjugation — keine deponentia, 2e con-
jugation nur vertreten durch wörter auf -eo, -ere, -evi, -etum; -eo,
110 Dunker: anz. v. E. Witte das ideal des bewegungsspiels.
-ere, -ui, itum; -eo, -ere, -ui o. s.; 3e conjugation nur -io, -ire, -ivi,
-itum — treten daneben die zwanglos beigemischten weisheits-
bröckchen über fragesätze, städtenamen (nr. 78) ne c. conj, perf.
(nr. 120), imperf. de conatu (nr. 102) und der belehrende inhalt
der zusammenhängenden Übungsstücke nicht zu sehr in den Vorder-
grund? nehmen wir noch den erschwerten anfang des pensums
hinzu mit seinen betrachtungen über die drei genera und die Ver-
wendung des adjectivs, so möchte ich abschlieszend urteilen:
Ausgehend von dem bestreben, das pensum des sextanercurses
zu entlasten und doch zugleich anregende und lehrreiche Übungs-
stücke zu bieten , haben die Verfasser die Schwierigkeit nicht ganz
beseitigt, doch wird sich das in einer neuen aufläge leicht vervoll-
kommnen lassen.
Leipzig. Wilhelm Becher.
9.
DAS IDEAL DES BEWEGUNGSSPIELS UND SEINE VERWIRKLICHUNG.
EIN BEITRAG ZUR THEORIE DES SPIELS VON DR. E. WiTTE,
VERFASSER DER VOM CENTRALAÜSSCHUSZ GEKRÖNTEN PREIS-
SCHRIFT ÜBER DEUTSCHE VOLKSFESTE. St. Petersburg, buch-
druckerei der kaiserlichen akademie der Wissenschaften. 1896.
Immer mehr wird in Deutschland , wie in allen culturländern,
die thatsache anerkannt, dasz ein volkstümlicher spielbetrieb zu den
vernehmlichsten wohlfahrtseinrichtungen eines landes gehört, mit
dieser erkenntnis ist schon viel gewonnen, sie hat denen, welche der
praktischen Verbreitung der spielthätigkeit einen teil ihrer zeit, kraft
und mittel opfern, eine immer gröszere zahl von freunden und gönnern
gesichert.
Wir sind aber erst im anfang der spielbewegung, eine gewisse
einsieht in die theorie des spiels und den inneren Zusammenhang
der verschiedenen spiele ist noch anzuregen, die angeführte schrift
hat nicht nur theoretisch eine hohe bedeutung, sondern, wie theorie
und praxis sich gegenseitig bedingen, wird sie auch den mitten in
der Spielleitung stehenden neue gesichtspunkte bieten; gerade den-
jenigen , welche bei der einführung der spiele an der spitze sich be-
finden, sei die schrift nicht am wenigsten empfohlen, der aufschrift
entsprechend wird sie den weiteren bestrebungen zum hinweis auf
die richtigen wege dienen.
Man hört noch heute vielfach angesichts forscher fuszball- und
schlagballpartien, selbst von solchen, welche sich zu einer der gegen-
wärtigen Vereinigungen zur förderung der spiellust haben gewinnen
lassen, dasz stets, ebenso gut wie heute, gespielt worden sei; man
ist sich eben nicht klar über den begriff des spiels und der spiel-
gruppierungen. da die schule die Jugend zum spielen erziehen
soll , und der Verfasser aus der logischen einteilung in verschiedene
Dunker: anz. v. E. Witte das ideal des bewegungsspiels. 111
Spielgruppen heraus zu einem beachtenswerten resultat kommt,
welche bestandteile ein bewegungsspiel haben musz, um auf die
Jugend einen dauernden reiz ausüben zu können, ist es unser wünsch,
dasz die kleine Schrift gerade auch in pädagogischen kreisen
allgemeine beachtung finden möge.
Der erste teil beschäftigt sich mit den verschiedenen arten der
spiele im allgemeinsten sinne und schlieszt mit einer gemeinsamen
definition für das 'darstellungs-' und das 'kampfspiel': ^''piel ist
eine thätigkeit, in der eine vom menschlichen geiste willkürlich ge-
setzte idee nach ursprünglich ebenso willkürlich bestimmten regeln,
unabhängig von den bedingungen wie von den zielen des realen
lebens durchgeführt wird.'
Die kämpf-, im gegensatz zu den darstellungsspielen, werden
einerseits in zufalls-, Verstandes- und bewegungsspiele eingeteilt,
anderseits in scherz- oder neckspiele und in ernste kampfspiele, die
letzten werden in einer form ausgeführt, die den formen des kampfes
des wirklichen lebens wohl nachgebildet und ähnlich, aber nicht
gleich sein darf.
Im zweiten teile mit der Überschrift 'die bewegungsspiele
unter dem gesichtspunkt des ernsten kampfes betrachtet' entwickelt
der Verfasser ganz vortrefflich den begriff des einzel- und gruppen-
spiels gegenüber dem parteispiel, sowie des neckspiels gegenüber
dem resultatspiel im allgemeinen, wie dem partiespiel im besondern,
wir schlieszen uns dem ausgesprochenen urteil vollkommen an, dasz,
wenn auf dem spielplatze ein über blosze Spielerei hinausgehendes
spielleben erwachsen soll, ernste spiele getrieben werden müssen,
spiele, die zugleich partei- und partiespiele sind, die im gegensatze
zu einem kämpfe neben einander einen 'kämpf gegen und durch ein-
ander, mit und für einander' mit sich führen, und dasz man die
Schüler wenigfe spiele gründlich lehi-en und sie zu einem
ernsten und feinen spiele anhalten soll.
Mit vollem recht stellt W. barlauf und fuszball nach dem
moment der vei'wicklung des kampfes an die erste stelle der be-
wegungsspiele. nichtsdestoweniger können spiele, die, wie W. sagt,
anderen dementen ihre beliebtheit verdanken, besonders den in
ihr verwandten körperlichen geschicklichkeiten, eine gleiche be-
rechtigung haben (barlauf und fuszball bilden beide auszer den
inneren Organen einseitig nur die unteren gliedmaszen). so hat
cricket seinen eigenartigen reiz besonders auch, weil das resultat
nicht nur einen parteisieg zum ausdruck bringt, sondern auch einen
vergleich der einzelleistungen. •
Das Schlagballspiel kann denselben vorteil bieten , und wir
fordern, dasz dieser zur geltung kommt; das ist aber nicht der fall,
wenn der Verfasser in dem dritten und letzten teile, 'dem Schlag-
ballspiel als partei- und partiespiel', die buchführung bei diesem
spiele in der weise vereinfachen will, dasz er nur die läufer auf-
zeichnen läszt. zwar gleichen sich die punkte für die treffer und
112 Dunker: anz. v. E.Witte das ideal des bewegungsspiels.
fangbälle beider parteien aus, sie geben aber gerade die tüchtigkeit
der einzelnen an.
Es ist keineswegs erforderlich, dasz zu gunsten des durch-
brechungsversuchs und dessen Zurückweisung das fangen (mit
einer band!) und das lotrechte emporwerfen des balles, das bei
uns erfahrungsmäszig viele Zuschauer fesselt, fortfällt, sollten bei der
weiteren entwicklung des spiels infolge häufigen wechseis der par-
teien nur wenige laufe erzielt werden können, so erblicken wir darin
von vorn herein keinen mangel, wird doch der fuszball oft stunden-
lang getreten, ohne dasz am schlusz ein mal zu verzeichnen ist.
übrigens ist das fangen bei kräftigen schlagen von 60 — 80 metern,
für deren richtung ein groszer Spielraum gelassen ist, nicht so gar
leicht, bei uns wird nicht gefordert, dem gegner durch schlage, die
für ihn bequem sind, zu einem vorteil zu verhelfen; kräftige und
hohe schlage liegen bei gewandten Spielern im eignen interesse.
Indem wir so dem schlagball nach den Schneiischen regeln vor-
läufig das wort reden, wollen wir dem dritten teile der schrift keines-
wegs etwas von seiner bedeutung nehmen, die besprcchung des
Schlagballspiels auf grund der theoretischen ergebnisse der ersten
beiden teile ist sehr fesselnd, desgleichen die Zusammenstellung, wie
von Altona die ersten 'nachhaltigen anregungen' ausgiengen, dieses
spiel mit einem '^sichtbaren und meszbaren resultat' zu betreiben,
aus dem vorgelegten neuen entwurf von regeln für das Schlagball-
spiel möchten wir besonders die zweite hervorheben, nach der ein
geschlagener ball nur dann gültigkeit hat, wenn er aus dem mal
über eine daselbst straff gespannte leine von 2 meter höhe hinweg-
gieng. wir stimmen darin mit W. überein, dasz ein läufer nicht
müste zurückkehren dürfen, wenn nach ihm geworfen ist. die be-
grenzung des schlagmals durch die Verlängerung der längsgrenzen
könnten wir gelten lassen, wie auch den Wechsel jedesmal erst
nach drei punkten, wenn allgemein ein zu häufiger Wechsel als
für das spiel störend empfunden werden sollte; auf keinen fall
möchten wir vorläufig auf die gleiche punktzahi für trefi'er und
fangbälle verzichten.
Der bearbeitung ist ein Schema angefügt mit der bitte, die
resultate eines spielsommers nach demselben zu notieren , sowie ein
absatz, der die Vorzüge des cricket- und des Schlagballspiels treffend
kennzeichnet.
Die streng logische behandlung des anregenden Stoffes wird
auch jeden theoretiker befriedigen.
Hadersleben. Dünker.
ZWEITE ABTEILUNG
FUß GYMNASIALPÄDAGOGIK UND DIE ÜBRIGEN
LEHRFÄCHER
MIT AUSSCHLÜSZ DER CLASSISCHEN PHILOLOGIE
HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. RiCHARD RiCHTER.
(L)
VIVES IN SEINER PÄDAGOGIK.
eine quellenmäszige und systematische darstelliing.
(fortsetzung und schlusz.)
Zweiter Zeitraum.
Übersicht.
§ 42. Umfaszte der Zeitraum vom siebenten bis zum fünfzehnten
jähre die sprachliche Vorbildung, so bietet der zweite, vom fünf-
zehnten bis zum fünfundzwanzigsten jähre, die einführung in das
Studium der philosophie, naturwissenschaft und mathematik. zur
behandlung kommen: 1) logik und erster teil der dialektik."'
2) naturkunde und metaphysik."^ 3) zweiter teil der dialektik und
die rhetorik. 4) mathematik.
Logik.
§ 43. Diese formalen philosophischen Vorstudien können schon
vor abschlusz des ersten Zeitraums begonnen werden, da sie mit dem
Unterrichtsstoffe desselben eng zusammenhängen, indem die spräche
aussagen macht, deren Wahrheit mit hilfe der logik untersucht wird,
als lehrbücher dienen Aristoteles' bücher rrepi epjuriveiac und dva-
XuTiKCi TTpÖTcpa mit auslassung der dunkeln stellen, gewarnt wird
2»3 der vieldeutige begriff dialektik umfaszt nach trad. disc. 4, 2
{VI 354) die lehre vom urteil und von den beweisen, separavimus tarnen
tradendi loco, quoniam sie interest discentium. auseinandersetzungen
über die verschiedenen bedeutungen dieses wertes bei den philosophen
ausiubrlich caus. corr. 3, 1 (VI 110 ff.).
22^ man beachte, dasz das alte trivium, gramniatik, rhetorik, dialektik
(artes sermonicales), durchbrochen wird durch eine reale Wissenschaft,
und dasz diese die grundlage für das eigentliche philosophische Studium
bildet, vgl. anm. 305. hier sei erwähnt, dasz Vives' schrift de initiis,
sectis et laudibus philosophiae 1518 (Maj. opp. III 3—24) eine geschichte
der Philosophie bis auf Aristoteles ist.
N. jahrb. f. phil.u. päd. II. abt. 1897 hft. 3. 8
114 F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik.
vor den verwirrenden commentaren. dazu kommen einige werke
neuerer Schriftsteller, auszerdem wird eine ganze reihe zur privat-
lectüre empfohlen.
Hand in hand mit dem theoretischen unterrichte in dieser dis-
ciplin gehen disputationsübungen über thesen , welche der lehrer
aufstellt, sie dienen hauptsächlich zur erlernung der methodej
namentlich ist die Sokratische (inductive) frageweise anzuwenden,
man hüte sich aber vor Streitsucht.*^^
Naturwissenschaft und metaphysik.
§ 44. Der hauptgrund des Verfalls der naturwissenschaft ist,
dasz man dieselbe nur aus büchern gelernt hat. über Aristoteles
und Plinius wagte man nicht hinauszugehen, enthalten dieselben
auch sehr viel brauchbares, so leiden sie doch an vorschneller Ver-
allgemeinerung auf grund zu weniger einzelbeobachtungen. es sind
oft sehr schwache argumente, welche Aristoteles für seine ansieht
und gegen die seiner Vorgänger vorbringt, ferner greift er nach
dingen , die sich unserer prüfung entziehen , und bietet so ein den
Scholastikern willkommenes feld zu disputationen und gegenstands-
losen Zänkereien , über welche sie die eigne betrachtung der dinge
selbst unterlassen haben, die commentatoren, namentlich Averroes,
haben sie noch weiter vom rechten wege abgeführt. ''^^
§ 45. Der zweck dieser disciplin ist schärfung der beobachtungs-
gabe durch autopsie, gewinnung praktischer vorteile, förderung weni-
ger der metaphysischen erkenntnis als der frömmigkeit. ^" eine
Wissenschaft in strengem sinne ist sie nicht, weil vieles unerklärt
"* trad. disc. 4, 1 (VI 345 ff.)-
*^^ caus. corr. 5, 1 (VI 181 ff.), gegen Aristoteles namentlich 5, 2
(VI 189 f.). einleitend s. 185: *equidem in inspectione naturae hand
Video, quem possem illi (Aristoteli) comparare, sed huius placita atque
opiniones de natura rerum nostri homines eiusmodi rentur esse, nihil
ut humanum Ingenium exactius vel certius possit exculpere, communi
hac quidem naturae luce adiutum, et rectum ... et qua res magna et
crassa ignorantia videtur mihi claudi, idcirco longius paullo ac subti-
lius de ea disseram, nam si quid dicerent, omnino intelligerent, aibitror
eos facile a sententia discessuros: dedit natura homini sensu s in cor-
pore; in animo vero acumen, quo cernat, speculetur, intelligat, appre-
hendat; tum iudicium, quo sparsa et dissipata colligat, ad nanciscendum
verum . . . contrarium reiicit . . . hinc adiuvatur experimen tis, ac usu
rerum, intentione animi, studio, sedulitate, memoria, exercitatione, quae
quando sua cuique non sufficiunt, accedunt aliena per doctrinaui homini
ab homine traditam. eine weitere ausführung dieser gedanken, die Vives
zum Vorläufer Bacons machen, gehört nicht in die darstellung seiner
pädagogik. ich verweise nur noch auf anm. 56, 301. beispiele des Ver-
falls 8. Sapiens (IV 26).
"^ s, anm. 56 und die unten folgenden ausführungen. 'trad, disc.
1, 6 (VI 268): contemplatio naturae . . vel ad vitae commoda, vel ad
suspectum atque admirationem auctoris (traducatur); *4, 2 (VI 353):
institutor . . . omnem de natura commentationem ad mores excolendos
referat, ut animos ad virtutem fingat, pietatis respectum et curam in-
stillet pectoribus. ähnlich oft angedeutet, s. auch die folgende anm.
F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik. 115
und unbewiesen bleibt. ^^® gerade darum schlieszt sie eine grosze
gefabr für den glauben in sieb , welhalb sorgfältige auswabl der
scbüler und bei tieferem eindringen gleicbzeitiger unterriebt in der
metaphysik nötig ist. *'^
Der unterriebt in diesen fächern umfaszt drei stufen: 1) im
anfange wird das leicbteste genommen, d. i. das den sinnen zugäng-
liche, die autopsie erweitert sieb zu einer über siebt über die
ganze natur 'gleichsam als wenn man die weit on die tafel malt',
schweigende naturbetracbtung und fragen sind wahrhaft
bildend, nicht disputationen. als lectüre dient auszer der peri-
patetischen schrift 'über die weit' und einigen werken neuerer
vor allem Pomponius Mela und Plinius. privatim studiere man die
Ptolemäischen karten mit berücksicbtigung der letzten entdeckungen
(nostrorum)."" unfähige und solche, die zu anderem übergehen
wollen , machen hier halt."' 2) für die anderen folgt eine ausführ-
lichere darstellung der ganzen botanik, Zoologie, mineralogie, hydro-
graphie, geographie. bildungsmittel sind vor allem scharfe Selbst-
beobachtung, beschäftigung mit landwirtschaftlichen dingen,
fleiszige Spaziergänge, auf welchen allseitige anschauung anzu-
22» irad. disc. 4, 1 (VI 347 f.): in naturae contemplatione, ac venti-
latione, primum sit praeceptum, ut quandoquidem scientiam ex liis parare
nullam possumus, ne nimium indulgeamus nobis iis scrutandis et exqui-
rendis, ad quae non quimus per venire, sed studia nostra omnia ad vitae
necessitates, ad usum aliquem corporis aut animi, ad cultum et incre-
menta pietatis conferaraus, siquidem intenta et accurata diligentia nihil
assequimur aliud quam . . . afflictionem . . in omni philosophia quae
est de natura, illud praedicetur iuveui, ea illum modo auditurum, quae
imaoinem habeant veri , . . nam quod nos verum esse pro certo possimus
confirraare, larum est. Ainaud s. 82 bemerkt hierzu, dasz Vives hier
mehr als pädagoge denn als philosoph rede, zweifellos aber ist diese
Skepsis sein eigener philosophischer Standpunkt gewesen im gegensatze
zu den Scholastikern, die alles erklären konnten, s. ver. fid. 1, 4 (VIII 23);
de prima philosophia 2 (III 243). vgl. anm. 39.
*23 trad. disc. 4, 1 (VI 347): idcirco ab studio hoc summovendi suspi-
caces, quique omnia vertunt in deterius; nee quidquara disciplinae huius
tradendum parum tirmis in sancta persuasione, nisi etiam addantur ex-
actae causae primae philosopbiae , quae ad divinitatis cognitionem per-
tingunt . . . *contemplatio rerum naturae nisi artibus vitae serviat, aut
ex notitia operum sustoUat nos in auctoris notitiam, ad admirationem,
amorem, superiiua est, ac plerumque noxia.
230 * trad. disc. 4, 1 (VI 348 f.): initio exhibenda sunt facillima, id est,
sensibus ipsis pervia, hl sunt enim ad cognitionem omnem aditus;
ideo primum inter haec obtinebit locum expositio quaedam, et velut
naturae totius pictura, coeloium, elementorum et earum rerum quae
sunt in coelis, quaeque in elementis, igne, aere, aqua, terra; ut non
aliter summa quadara sit comprehensa delineatio atque orbis universi
descriptio in tabula . . nihil est hie opus disputationibus, sed contempla-
tione naturae tacita; quaerent Interim et rogabunt verius, quam alter-
cabuntur aut disputabunt. daselbst sind auch die angeführten werke
kurz charakterisiert.
23' trad. disc. 4, 1 (VI 349): sunt nonnuUi haud satis altiori causa-
rum inquisitioni idonei . . quod caput . . vel in splendorem intueri non
sustineat . . vel non libeat . . bis est hoc sistendum loco.
8*
116 F, Kuypers : Vives in seiner pädagogik.
stellen ist und gärtner, bauern usw. befragt werden sollen, da-
mit verbinde sich eingehendere lectüre. disputationen sind zu ver-
werfen. "- 3) wer in diesem Studium noch weiter fortschreiten will,
der musz von der physischen weltbetrachtung zur metaphysischen,
zu dem Schöpfer selbst emporsteigen. ^^^
Aber hier ist dem Irrtum thür und thor geöffnet. *non est
natura ad gentiliciam lucernam scrutanda obscurae lucis malignaeque,
sed ad facem hanc solarem, quam Christus mundi tenebris invexerit.
trad. disc. 4, 2 (VI 351)."^ als lectüre dienen die acht bücher der
physik, die sechs ersten bücher der metaphysik des Aristoteles, die
übrigen möge der schüler privatim lesen und excerpieren. aus den
werken des Porphyrius , Boetius, Speusippus suche der lehrer das
für den schüler passende aus.^^^
*ä2 die fächer sind der inhalt der angeführten und charakterisierten
schriftsteiler, die er als lectüre empfiehlt. *trad. disc. 4, 1 (VI 350):
qui porro pergit ad sequentia . . contemplabitur rerum naturam in coelo
et nubilo et sereno, in agris, in montibus, in silvis; tum ex iis quaeret
et sciscitabitur multa, qui in locis illis sunt frequentes, quod genus sunt
hortulani, a^ricolae, pastores, venatores, quod Plinius, et alii barum
rerum magni auctores indubie fecerunt . . . Ipse etiam sive contempletur
quid, sive narrantem audiat, non oculos modo intentos habeat vel aures,
sed animum quoque; magna enim et accurata animadversione est opus
in omni natura contuenda. dann werden die (praktischen) vorteile und
die annehmlichkeiten kurz angeführt, welche aus einer solchen Selbst-
beobachtung entspringen. *quo circa dum contemplationi huic datur opera,
non est aliunde recreatio petenda, nee cibo huic condimentum; deambu-
latio ipsa, atque otiosa illa contemplatio, et schola est, et magister, ut
quae aliquid semper quod cum admiratione .speeuleris ostendit, unde
eruditio increscat . . nihil hie iam opus est altercationibus et rixis, sed
aspectu quodam. ein teil dieser stelle ist von Comenius physicae Syn-
opsis 8. 54 citiert (ausg. von Keber 1896): die bemerkung des heraus-
gebers s. XXV und s. 8, dasz Vives in seinem realismus 'über all-
gemeine anklagen gegen die antike und scholastische philosophie' und
*über allgemeine bemerkungen' wenig hinausgeht, dürfte Vives doch
unterschätzen, wenn er hinter Comenius zurückbleibt, so vergesse man
nicht, dasz dieser nach Copernicus, Campanella und Bacon lebte, und
dasz Vives ein aus der Scholastik hervorgewachsener humanist war.
wesentlich ist, dasz das princip von Vives vor Bacon und Comenius
deutlich und wiederholt ausgesprochen ist. vgl. auch anm. 56 u. 301
sowie § 57 u. 58.
2^^ trad. disc. 4, 2 (VI 351): qui pergent ulterius discere , iis ...
artificium naturae occultum declarabitur, quae est prima philosophia . .
unde ad deum usque conscendimus, parentem causamque universorum,
si modo recta insistamus via.
23* von Comenius als motte der praefatio der physicae Synopsis vor-
gesetzt und auszerdem s. 52 citiert. vgl. anm. 67.
2''^ trad. disc. 4, 2 (VI 351) : eam ad rem nos tentavimus opus scri-
bere, ne haberemus gentilicia consectari tanto detrimento religionis, aut
certe discrimine. es ist sein werk de prima philosophia (III 184 — 297),
in welchem er eine faszliche darstellung mit übergehung der subtilen
scholastischen Streitpunkte zu geben sucht; 4, 1 (VI 348): nee attin-
genda Arabica indocta, insulsa, impia, sed nee veterum Graecorum La-
tinorumve, quamlibet doctorum hominum, rimandae opinioues omnes ac
placita . . . itaque et in Aristotele molestas illas disputationes, seu rixas
verius, contra antiquos philosophos praetereundas censeo.
F. Kuypers; Vives in seiner pädagogik. 117
Diese Wissenschaft erfordert einen schüler, der zu abstracter
auffassung fähig und nicht streitsüchtig ist, einen lehrer, der mit
groszem fleisze das bewustsein seiner Unzulänglichkeit verbindet.*^*
hier besonders gilt: noli contra verum ingeniosus aut doctus existi-
mari, trad. disc. 4, 2 (VI 3o3). darum ziehe sich der lehrer dieses
faches öfters zurück, um still für sich über metaphysische probleme
nachzudenken, getreu dem Chrysippus: si inter plurimos exercerem,
nunquam philosopharer.
Dialektik und rhetorik.
§ 46. Beide geben leicht zu Streitereien anlasz, weshalb sie
nur in beschränktem masze betrieben werden.-" da sie mehr als
alle anderen zum bösen misbraucht werden können, sind von ihnen
diejenigen schüler fern zu halten, welche einen streitsüchtigen, arg-
wöhnischen und käuflichen Charakter haben; der lehrer dieser fächor
sei urteilsfähig, gelehrt und beredt, dazu ein feiner und rücksichts-
loser beobachter von fehlem, sonst werden sie ein 'schwort in der
band des rasenden'.
Die dialektik. § 47. die Scholastiker haben fälschlich in
ihre dialektik auch grammatische, rhetorische und metaphysische er-
örterungen hineingezogen, von welchen sie strenge zu sondern ist.
denn sie ist weiter nichts als die Untersuchung über die formale
richtigkeit der sätze und ihrer Verbindungen, mit dieser vermengung
der Wissenschaften hängt es zusammen, dasz die knaben vor gründ-
licher Unterweisung in der Sprachwissenschaft zum Studium der dia-
lektik herangezogen wurden, während doch die regeln der letzteren,
wie die der grammatik und rhetorik, erst aus der spräche abzuleiten
236 *trad. disc. 4, 2 (VI 352): desiderat disciplina haec auditorem in-
genii attollentis se, ac erigens supra sensus ad causas rerum ac pri-
mordia, ad collectioi:em universalis ex singulis, in quibus generalibus
est doctrina, sicut in singularibus delectatio; illud enim est mentis, hoc
sensus; ideoque magis delectat Plinius, Aristoteles magis docet: alienum
est ab Institute hoc ingenium nugax, inepte coniectans, item conten-
tiosum, ut rationem ad omnia evidentem atque invincibilem efflagitet,
quae non potest ubique exhiberi par; sed convenit . . contentum esse . .
verisimilitudine . . . (desiderat magistrum) diligentem, mcderatum, mi-
nime arrogantem, aut in statuendo praecipitem, nee aliter cunctabundum
atqne sustinentem sese , quam qui se in tenebris et per lubricum in-
tellegit vadere.
237 diese beiden im trivium oft vermengten artes sermonicales unter-
scheidet er kurz pseudo-dial. (III 41): dialectica in hoc vulgari, et qui
est omnium in ore sermo, verum, falsum, probabilitatem invenit, rhetorica
vero ornatum, splendorem, gratiam; *(III 58): inepte profecto facit, quis-
quis in eo anxie componendo longum laborem adit, et non protinus illi
operam dat, propter quod instrumentum paratum est. quis feret pictorem
in componendo penicillo, in ferendis coloribus etc. . . . totam aetatem
consumere? trad. disc. 4, 2 (VI 355 f.) : affert enim utraque ars malitiae
plurimum, reddunt enim spinosos, rixosos, fraudulentos. * pseudo-dial.
(III 58): itaque tanta est dialecticae artis aecipienda cognitio quantum
sat est ad efficiendum, ne illius ignoratio in reliquis artibus nobis offi-
cere queat.
118 F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik.
sind, auf kosten der übrigen philosophie wurde sie viel zu ein-
gehend betrieben, bis sie in leere Sophisterei und gehässige Zänkerei
ausartete. ^^^
§ 48. Der unterrichtsgang ist folgender*'^: 1) der schüler
wiederholt den vorti-ag des lehrers mit denselben oder mit anderen
beispielen. 2) es wird mit dem schüler untersucht, auf welchem
wege grosze Schriftsteller ihre beweise gefunden, und wie sie die-
selben angewandt haben. 3) diese argumente werden nach allen
selten hin begrifflich zerlegt. 4) zwei oder mehr begriffe werden
von den verschiedensten Standpunkten aus mit einander verglichen
(ut si quis philosophum et uxorem conferat inter se).
Als schul- und privatlectüre dienen besonders die dialektischen
Schriften des Aristoteles, Boetius, Cicero und Agricola.
Die rhetorik. § 49. die echte redekunst ist mit den repu-
bliken der alten zu gründe gegangen ; nur ein spiel mit fingierten
motiven und zwecken ist in der schulrhetorik übrig geblieben, selbst
diese ist verfallen und zwar dadurch, dasz ihr begriff einerseits zu
eng, anderseits zu weit gefaszt worden ist: zu weit, indem man sie
verquickte mit grammatik und dialektik, zu eng, indem man sie in
lauter formale regeln fassen zu können glaubte, die rhetorik hat
nicht die sprach- oder denkrichtigkeit, sondern die Schönheit der
rede zum gegenstände, diese aber ist wesentlich von ihrem Inhalte
abhängig, darum musz mit der kenntnis der regeln notwendig Ver-
trautheit mit dem stoffe verbunden sein: natur, geschichte,
Politik, erfahrung liefern ein frei auszubeutendes material statt des
elenden flickwerkes der musterbeispiele und gemeinplätze. mög-
lichste freiheit für die inventio und dispositio, welche eigentlich gar
nicht verschieden sind, und für die elocutio nicht, wie in der
scholastischen rhetorik , künstliche kategorien und schematisierende
regeln, sondern individuelles verfahren nach dem einzigen grund-
satze, die rede den gegebenen Verhältnissen anzupassen, wenig
theorie und viel Übung, das ist der weg, auf welchem der schüler
nicht sowohl 'rhetorik' als vielmehr 'reden' lernt. ^'" praeceptorum
238 ,Je,. polemik gegen die scholastische dialektik begegnet man fast
in allen seinen Schriften, ausführlich und in Verbindung mit einer kritik
des Aristoteles, des Urhebers jener angedeuteten vermengung, caus. corr.
3, 1 f. (VI 110 IT.), ferner pseudo-dial. (III 39 f., 58 f.); beispiele des ver-
falle Sapiens (IV 25). bei keinem anderen fache geiszelt er die schola-
stischen misbräuche mit gleicher schärfe und ironie. es ist die bittere
erinnerung an nutzlos verbrachte Studienjahre veranlassung seiner
heftigkeit: caus. corr. 3, 7 (VI 146 f.): huic Lutetiae duos annos im-
pendi, ceterae autem philosophiae, et de natura, et de moribus, et
primae philosophiae vix annum . . pseudo-dial. (III 59): in hac inutili
et vanissima dialectica vel unam consumptam semihoram esse nimis
(fateor). vgl. anm. 40 und Ritter (cit. ebenda) V s. 440 f.
"9 trad. disc. 4, 2 (VI 356 f.).
2'" declam. pro Noverca, praef. (II 485): republica pop. Rom. iu
unius ius ac potestatem redacta eloqnentia quoque veterem libertatem
cum populo amisit .. coepit ceu vincula induere; nee parva sana pars
F. Kuypers: Vives ia seiner pädagogik. 119
et artis huius mea ratio omnino est nova, multumque ab illa vetere
ac pervulgata diversa. rat. die. praefatio (II 92).
§ 50. Ziel des Unterrichts ist 'eine den personen und Sachen,
dem orte und der zeit angemessene rede zu führen und sich dabei
alles verkehrten, albernen und unnötigen zeuges zu enthalten'. ^^'
Der lehrgang ist dieser''^- : 1) belehrung über die verschiedenen
zwecke der rede. 2) untervpeisung über die mittel zur erreichung
des Zweckes: objective, Wörter und deren sinn, subjective, vertrag,
gesten, eigenart des redners, der hörer, des ortes usw. als hilfs-
bücher dienen namentlich^'^ Cicero und Quintilian, aus welchen der
lehrer blumeniesen zu sammeln hat. 3) historische erörterung über
entstehung, entwicklung und Untergang der sprachen, Würdigung der
einzelnen sprachen. 4) praktische redeübungen mit kritik seitens
des lehrers, welch letztere vom schüler auszuarbeiten ist.^"
Grundsätze für den Inhalt der rede sind : die schüler sollen nie-
mals gegen die Wahrheit sprechen, weshalb die juristische rede aus-
zuschlieszen ist. die wähl der gegenstände erfolgt, abweichend von
den alten, nur mit rücksicht auf ihre Verwendbarkeit im leben.
für den Vortrag gilt: jede künstelei ist zu vermeiden. '^^^
in scholas abiit, ut non iam vera . . declamarentur . . sed ficta etc.
ähnlich Sapiens, praef. (IV 21) u. öfter, rat. die. praef. (II 92): sed
nostri isti, in quos disputamus (d. s. die humanisten mit ihrer 'absoluten
hochschätzung der form') eo sunt falsi, quod arbitrantur universam di-
cendi artem ea parte concludi, quae est de verbis, velut de schematibus,
de tropis, de periodis et concentu dictionis, quae non tarn ad dicendi
corpus ipsum, et quasi substantiam faciunt, quam ad dicendi decorera
atque ornamentum; 2, 1 (II 139): debet enim sermo omnis habere velut
corpus aliquod gemmis vel floribus distinctura. ich führe diese stellen
an, weil Vives sich durch diese anschauungen wesentlich von den übrigen
humanisten unterscheidet, vgl. anm. 33. im übrigen sind die obigen
forderungen ausgesprochen declaraationes Syllan. praef. (II 322 f.),
pseudo-dial. (III 41) und namentlich rat. die. (II 93 ff.). Grässe (cit.
anm. 108) tadelt diese reformen! daselbst näheres über ähnliche bestre-
bungen jener zeit s. 681.
2<i trad. disc. 4, 3 (VI 357): quantum ergo est uti sermone decenti
«t consentaneo personis, rebus, locis, temporibus, ne quid exeat per-
verse, pueriliter, indecore! neque enim alio est tota haec tractatio
convertenda, non ad inane verborum Studium etc.
2" trad. disc. 4, 3 (VI 357 ff.).
**^ es werden noch zehn andere zur schulmäszigen und verschiedene
zur privaten lectüre empfohlen,
**'* trad. disc. 4, 3 (VI 361): singulis hebdomadibus declamationem
unam apud cunctum auditorium institutor corriget; considerabit primum,
qua de re dicatur, hinc, quis, quo tempore, ad quos fingatur dicere, tum
examinabit verba simplicia etc. ganz ausführlich; . . . *nam ex cor-
rectione una plus eruditionis et iudicii refert auditor, quam ex prae-
lectionibus . . permultis.
^*^ trad. disc. 4, 3 (VI 360): satius est causae detrimentum pati,
quam virtutis . . . iudiciali genere nihil omnino indigemus . . . *decla-
ment iuvenes apud magistros de iis argumentis, quorum aliquis sit dein-
ceps usus in vita; non quemadmodum prisco illo seculo de iis rebus
dicebant in suhola, quae nunquam in vita contingerent, de quo merito
<5uintilianus conqueritur. s. anm. 241.
120 F. Kuypers : Vives in seiner pädagogik.
Für die methode ist zu beachten : anfangs entlehne der schüler
ganze Wendungen den Schriftstellern, allmählich steige er aber zu
freier nachbildung auf. seine leistungen vergleiche er nicht blosz
mit denen der alten , sondern auch mit seinen eignen früheren.
über die nachahmung, das hauptsächlichste bildungsmittel in
der redekunst, ergeht sich Vives in umfangreichen erörterungen. "''^
ich hebe folgendes als charakteristisch hervor: der schüler versuche
nicht sogleich einen schriftsteiler nachzuahmen, sondern nehme sich
zuvörderst ältere mitschüler und darauf den lehrer zum muster. ^^'^
aus den Schriftstellern wähle er sich nicht ein einzelnes vorbild aus
sondern befolge die ansieht Quintilians: quo plura exempla ostensa
sunt, hoc plus eloquentia proficitur. indes hat er nach anweisung des
lehrers dem vor allem nachzueifern , der seiner individuellen stilisti-
schen eigentümlichkeit und neigung am meisten entspricht: Cicero
für wortfülle, Demosthenes für präcision, Sallust für kürze usw.*^*
diese Individualität des stils darf nicht durch empfehlung eines un-
angemessenen musters verdorben werden.
Vives geiszelt das servum pecus der geistlosen nachschreiber
aufs schärfste, solche 'dohlenarbeit' ist nur im anfange als not-
behelf zu dulden, der schüler bemühe sich, 'vom papiere gleichsam
in die geheime gedanken Werkstatt des Verfassers einzudringen'^
genesis und methode des werkes zu untersuchen, festzustellen,
welche zwecke dasselbe verfolgt und wie es sie erreicht."' das
streben, die alten zu erreichen oder gar zu übertreffen, oder die
Originalität eines Schriftstellers sich anzueignen , kann zu ubsurdi-
täten führen.""
Mathematik.
§ 51. Die mathematik der alten ist reiner als die andern Wissen-
schaften auf uns gekommen , hauptsächlich weil man sich weniger
2« besonders trad. disc. 4, 4 (VI 361 ff.).
^" dasselbe princip anm. 161.
2** auch für die verschiedenen redegattungen wird eine reihe von
mustern angeführt.
^*^ caus. corr. 4, 4 (VI 173): quid dicam? imitari semper eos, nee
scire, quid sit imitari, nam suppilare putant esse imitari . . perinde ac
si pictor diceretur, qui aut pratum effingens, flores illinc decerptos
tabulae suae annecteret .. aut etiam, si diis placet, nasum, quem ex-
primere non posset, vellet homini amputatum picturae suae addi, quo
esset perfecta. *trad. disc. 4, 4 (VI 367): puerum imitari, liberale est
ac laudabile, senem imitari, servile ac turpe. von der rechten nach-
ahmung wird verlangt 4, 4 (VI 365 f.): consideret, quid auctor in ora-
tionis exordio velit efficere, quid secunda parte, quid tertia, et sie dein-
ceps; quae primo dicit loco, quae aliis sequentibus, quibus scntentiis
in quaque re utatur, quibus argumentis, et quibus ex locis petitis, quo-
modo coUigatis et connexis, quas similitudines inducat, quae usurpet
exempla, quos animi affectus attlngat, ubi, quomodo, quibus auctorita-
tibus sua fulciat, et quorum; non quo nos utamur eorundem , sed ut
eorum, qui nobis loco eodem sunt, quo illi erant auctori nostro.
«0 trad. disc. 4, 4 (VI 367).
F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik. 121
mit ihr beschäftigt hat, da sie zu den ebenso beliebten als verderb-
lichen disputationen nicht geeignet war. ^*' denn in ihren beweisen
liegt eine zwingende kraft, welche Verschiedenheit der meinungen
nicht zuläszt.^^^ nach Vives umfaszt die mathematik auszer den
zweigen des allen quadriviums (arithmetik, geometrie, musik, astro-
nomie*^^) die architektur, die optik und die noch nicht ausgebildete
akustik. die astrologie ist keine Wissenschaft und verwerflich, die
musik ist entartet infolge der abstumpfung unseres gehörs, welche
sich schon darin zeigt, dasz wir die quantität der silben in der
prosa nicht mehr unterscheiden,^*
§ 52. Die kenntnis der mathematik fördert das Verständnis
der Philosophie, allein ihre zu eifrige pflege lenkt den blick vom
praktischen leben ab. um dieser gefahr zu entgehen, soll der Unter-
richt mehr auf an wen düng als auf abstracte speculation zielen. -^^
Unruhige und vergeszliche köpfe sind zu diesem studium un-
geeignet."^
Der gang des Unterrichts ist in der arithmetik: belehrung
über namen und zeichen der zahlen, die vier species, beschaffen-
heit der zahlen: gerade, primzahlen usw., in der geometrie:
begriffserklärungen , die axiome, lehrsätze und beweise."^ in der
"1 auslührlich über sie caus. corr. 5 (VI 203 ff.); 5 (VI 206): . . nimi-
rum, ab indoctis intactae, ac proinde ineontaminatae, has enim turba
imperita radio contentas et pulvere, quaeque non facerent ad circulos,
ad scenam, ad theatrum disputantium, tamquam rem sacrain non attigit.
Sapiens (IV 28) klage darüber, dasz man in Paris math. begriffe zer-
gliedert, statt beweise zu führen.
2=2 die stringente beweiskraft der mathematik leitet Vives aus dem
abstracten Charakter dieser Wissenschaft ab. caus. corr. 5 (VI 204):
abstrahunt mathematici formas et figuras et numeros a materia, in quas
abstractiones non ineurrit mendacium ; nam neque componunt affirmando,
neque negando dividunt. nach ihm sind also mathematische urteile nicht
synthetisch.
253 Wychgram s. 63 führt irrtümlich als trivium grammatik, arith-
metik, geometrie, statt grammatik, rhetorik, dialektik an.
2^^ eine ars auditiva wünscht Vives caus. corr. 5 (VI 203), trad. disc.
4, 5 (VI 371). die astrologie, nata penitus ex ostentatione et imposturis,
wird verurteilt und verspottet caus. corr. 5 (VI 205), trad. disc. 4, 5
(VI 372), Sapiens (IV 27, 28). er setzt sich dadurch in gegeusatz zu
vielen gleichzeitigen und späteren gelehrten, vgl. anm. 67. die astro-
nomie soll nur praktischen zwecken dienen, trad. disc. 4, 5 (VI 371):
in musica multum degeneravimus a prioribus ob crassitiem auris, quae
subtilium sonorum iudicium funditus amisit, ut nee longa iam nee bre-
via in communi serraone diiudicemus, ideoque et genera aliquot pro-
portionum amisimus, et magnas illas vires atque adrairabiles , quae de
prisca harmonia traduntur. ähnlich caus. corr. 5 (VI 207).
255 *trad. disc. 4, 5 (VI 369 f.): sollicita horum inquisitio a rebus
vitae abducit, communisque sensus reddit expertes . . . referenda esse
ad mores (!) omnia et ad vitae usum, non ad inanem et infructuosam
quandam speculationem anxiam et molestissimam, quam parit diuturna»
in mathematicis attentio.
256 trad. disc. 4, 5 (VI 369 f.) ausführlicher.
2='^ man vermiszt an der recht primitiven methode namentlich die
betonung der veranschaulichung und der Übung, welche gerade hier am
122 F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik.
musik erhalte der schüler einige theoretische und praktische Unter-
weisung. ^'^^
Als lectüre wird eine gröszere zahl von Schriftstellern empfohlen,
besonders sorgsam ist Euklides zu behandeln, disputationen sind
überflüssig , repetitionen sind hier nötiger als sonst. "'
Wer aus mangel an begabung oder geld dieses Studium nicht
fortsetzen kann, bleibe hier stehen; die hauptsache ist, dasz er
die theorie in die praxis umzusetzen weisz"®"; wer aber andere in
dieser Wissenschaft unterweisen will, der studiere weitläufiger die
litteratur.-«'
, Dritter Zeitraum.
Übersicht.
§ 53. Nach dem fünfundzwanzigsten jähre ist der jüngling
durchaus nicht der akademie entwachsen, sondern es folgt dieser
hauptsächlichsten allgemeinen bildung das Studium des praktischen
lebens, der weit des geistes, der geschichte, der moralphilosophie.
dazu gesellt sich die eigentliche fachbildung in einer der drei facul-
täten. Vives spricht noch häufig von lehrern und schülern, im all-
gemeinen tritt in der darstellung der pädagogische Charakter zurück.**^
Betrachtung des praktischen und geistigen lebens.
§ 54. Eigne beobachtung des lebens in familie, gemeinde
und Staat, besuch der Werkstätten der künstler und band werker,
Unterhaltung mit diesen über ihi-e thätigkeit sollen die theoretische
bildung ergänzen, wesentliche Unterstützung leisten Vitruv, Leo
Albertus, Plinius, Aelianus, Athenaeus und Macrobius. scbulgemäszc
belehrung ist nicht nötig, eine encyclopädische aufzeichnung der
erfahrungen der besten berufspraktiker würde von unschätzbarem
nutzen sein.'*^ 'sed revertamur ad scholam.'
platze wäre, während Vives bei anderen fächern die bedeutung dieser
mittel nicht verkennt, der Unterricht in den mathematischen disciplinen
wurde von jeher als ein besonders schwieriger betrachtet, s. Specht
(clt. anm. 158) s. 127 f. vgl. auch Sifrm. Günther, gescliichte des mathe-
matischen Unterrichts im deutschen mittelalter bis zum jähre 1525.
(monumenta Germ, paedagogioa bd. III), 1887.
2^8 trad. diso. 4, 5 (VI 371): . . . modo sobriae et castae (musicae),
quae fessos studentium animos Pythagoricorum ritu demulceat.
*■''* trad. disc. 4, 5 (VI 373); disputationibus nihil est opus, inter-
rogatiunculae sufficient et responsiones breves, aut operis ostensio, et
collationes ad picturam; radio enim sunt et pulvere (!), vel abaco con-
tentae; recolendae sunt subinde . . . sunt enim alioqui fugacissimae.
^i^o *trad. disc. 4, 5 (VI 373): . . . hie sistent; et ad vitam ea prae-
stabunt adiuraenta, quae modo commemoravi, si speculationem in exer-
citium atque opus deduxerint.
261 daselbst sind noch verschiedene werke angegeben.
*"* im folgenden ist die reihenfolge nach den quellen eingehalten
und nur das pädagogische hervorgehoben.
«63 *trad. disc. 4, 6 (VI 374): nihil est hie opus schola , sed avidi-
tate audiendi et cognoscendi, ut non erubescat etiam in tabernas et
F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik. 123
§ 55. Mit dieser freien beobachtung des realen lebens geht
eine schulgemäsze darstellung der res spirituales band in band, diese
entbalte nur weniges über engel und dämonen und zwar: ex nostra
pietate colligentur pauca et sobrie. genaue kenntnis ist 'unnötig,
schädlich und ungewis'. dagegen ist eine engere Vertrautheit mit
der Psychologie für alle Wissenschaften von bedeutung, weil wir
nicht nach dem wesen der dinge an sich, sondern nach der beschaffen-
heit des intellectes fast alles bestimmen.^" der lehrer stütze sich
dabei vorwiegend auf die heiligen schriftsteiler, doch schöpfe er
auch aus Aristoteles, Alexander von Aphrodisias, Themistius, Plato,
Plotin. aber: praemoneat gentilitatis, et pericula, utvitentur, in-
dicet, opponatque venenis illis paria antidota. trad. disc. 4, 6
(VI 376).
'Hier teilt sich das Studium gleichsam in zwei wege, den einen
schlagen diejenigen ein, welche als ärzte die körper, den andern die,
welche die seelen heilen wollen.'
Theologisches Vorstudium.
§ 56. Als Vorstudium '^^^ werde den angehenden theologen
ein umrisz der naturphilosophie ohne subtile Untersuchungen ge-
geben, zu diesem zwecke hat der lehrer eine auslese aus den
werken der alten 'über die gründe der natur' in form eines kurzen
und verständlichen lehrbuches zusammenzustellen, das von den
dementen anhebend die ganze lebende und tote natur durch-
läuft, es enthalte aber nicht eine endlose aufzählung von einzel-
dingen 'sondern spüre den gründen nach, aus welchen jene ent-
stehen, wie sie ins dasein treten, wachsen, bleiben, wirken, ihren
dienst erfüllen, sich fortpflanzen und umgekehrt, wie sie ab-
nehmen, verfallen, untergehen, aufgelöst werden', auch des Dio-
genes Laertius lebensbeschreibungen der philosophen sollen hier
studiert werden, 'damit nach kenntnisnahme von so vielen und ab-
surden anschauungen der philosophen über die natur die studieren-
den einsehen, dasz auch jene menschen waren und zwar solche, die
oft in den offenbarsten dingen irrten , und damit sie sieh so ge-
wöhnen, mehr ihrer eignen Vernunft zu folgen als menschlicher
auctorität'.^^^
Diese Unterweisungen erfordern einen scharfsichtig und vor-
sichtig urteilenden lehrer. disputationen der schüler sind hier ge-
officinas venire etc.; 4,6 (VI 375): quantam prudentiae humanae opem
ferrent, qui haec mandarent litteris, ut ab exercitatissimis in quaque
arte (hier 'praktischer beruf) accepissent.
^^* *trad. disc. 4, 6 (VI 375): maxima disciplinis oranibus adfert
adiumenta, propterea quod ex anima, intelligentia et captu de Omnibus
fere statuimus, non ex rebus ipsis.
2«^ vgl. § 66.
2^^ *trad. disc. 4, 6 (VI 376): . . ut rationi potius assuescant con-
.sentire, quam humanae auctoritati.
124 F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik.
stattet, doch seien sie frei von Spitzfindigkeit, tiberhebung und ge-
hässigkeit."'
Auf das Studium der theologie geht Vives nicht näher ein,
wohl aber auf das der beiden andern facultäten.
Einiges über das medicinische studium.
§ 57. Kenntnis der naturwissenschaften und versuche haben
zur medicin geführt, wo sie fehlten, muste dieselbe verfallen, dieser
verfall ist beschleunigt worden durcb das engherzige brotstudium
vieler ärzte.'^*^ nunc vero illos nibilo a carnifice differre aiunt.
Sapiens (IV 28).
§ 58. Es sollte keiner arzt werden, ohne dazu ausgesprochene
anläge, selbstlose gesinnung, grosze gevpissenhaftigkeit und tiefe
Überzeugung von seiner Verantwortlichkeit zu besitzen.'®^ gründ-
liches und allseitiges studium der naturwissenschaften soll ihm
die unerläszliuhe grundlage sein."" der medicinische Unterricht selbst
zerfällt in einen theoretischen und einen praktischen teil, der theo-
retische teil wird aus Schriftstellern, namentlich aus Hippokrates
und Galenus geschöpft, dann folgt theoretische anatomie, ver-
anschaulicht durch modelle, physiologie, allgemeine und specielle
Pathologie, pharmakologie."' der praktische teil schlieszt Übungen
dreifacher art in sich: 1) genaue beobachtung derjenigen naturdinge
aller drei reiche, welche medicamente liefern"^; sectionen von
*" trad. disc. 4, 6 (VI 377 f.) : institutorem desiderant haec acri
qaidem ingenio, ceterum in definiendo ac statuendo cunctabundum;
juvenes exercebunt se in his, crebris disputationibus etc.
*89 *caus. coir. 5 (VI 198 ff.): prima quidera fuerunt experimenta
etc.; *1, 2 (VI 13): . . cognitionem naturae rerum, sine qua medicina
manca est prorsus, nee rite aut percipi potest, aut teneri.
*^3 an den arzt stellt Vives die allerböchsten sittlichen anforde-
rungen, die er trad. disc. 4, 6 (VI 383 f.) weitläufig ausspricht.
*'•* *trad. diso. 4, 6 (VI 378): qui ad artera medicinam transiturua
est, vel commigraturuB verius, huic sunt exactissime vires naturaque
pernoscendae fossilium omnium quae sunt variorura generum , pigmen-
torum, lapidum, gemmarum, stirpium, animantium , humani corporis,
im mittelalter 'basierte die medicinische fac. auf Avicenna, Hippo-
krates und Galenus'. K. Schmidt (cit. aiim. 219) s. 366.
2" hierüber weitläufigere auseinandersetzungen trad. disc. 4, 7
(VI 380 f.).
2''2 *trad. disc. 4, 7 (VI 381 f.): exercitia huius artis erunt trifaria:
primum in agnitione eorum omnium versabitur quae pro medica-
mentis consueverunt usurpari fossitiorum etc. . . quae vero praecipuae
ad medicamenta omnia vires insunt in stirpibus, eas contemplabitur
non semel aut sirapliciter, sed ex varietate temporis ac lucis, vere,
aestate, auctunino, hieme, Oriente sole, occidente, meridie, coelo nubilo,
turbato, sudo, sicco, sereno, in agris, in hortis, in silvis, in montibus,
locis mediterraneis, maritimis, aridis, humidis (magnas enim varietates
ex his Omnibus stirpes recipiunt) radice, foliis, Acribus vel contractis,
vel expansis, vel alio atque alio colore infectis . . et in aliis ad eun-
dem modum . . nee solum varietates hae faciem mutant, sed vires
quoque et ingenium; quin ipsam eandera herbam, et nascentem, ac
F. Kuypers : Vives in seiner pädagogik, 125
laichen"', 2) besuch von kranken in begleitung eines erfahrenen
arztes, 3) selbständige ausübung der praxis.
Geschichte.
§ 59. Falsche auffassung, religiöse und nationale tendenz,
dichterische erfindung und eitle Übertreibungssucht haben die ge-
schichtschreibung durch viele fabeleien verdorben; nebensächliches
wurde betont, wichtiges verschwiegen; oder man schrieb in lang-
weilender form und trieb so den leser zu interessanteren anekdoten-
büchem. das ausschlieszliche lob der kriegshelden hat das moralische
urteil gefälscht. -'"
§ 60. Zum zwecke des Verständnisses der classiker hat der
Schüler schon früher (s. § 35) einen kleinen eiublick in die geschichte
erhalten; jetzt, wo er urteilsfähiger geworden ist, werde ihm eine
ausführlichere kenntnis derselben zur förderung der lebensklugheit
vermittelt.*" dieses nützlichkeitsprincip ist maszgebend für
pullulantem considerari convenit, et grandescentem, et adultam , et
senescentem; nee minus quae ex his apud pharmacopolia conflantur,
spectabit.
"3 *trad. diso. 4, 7 (VI 382): sectionem humani corporis . . fre-
c|uentes attentique dispicient. dieses für mediciner äuszerst lesenswerte
capitel enthält eine fülle von trefflichen gedanken, die hier übergangen
werden müssen, weil sie nicht pädagogischer natur sind.
"^ caus. corr. 2, 5 f. (VI 101 ff.), rat. die. 3, 3 (II 205 ff.), trotz
seiner groszen neigung für die culturgeschichte verlangt Vives rat. die.
3, 3 (II 206): prima historiae lex est, ut sit vera, quantum quidem
praestari poterit ab scribente. kein guter zweck rechtfertigt geschicht-
schreibung auf kosten der Wahrheit, es ist sehr zu bedauern , dasz
keine kritische darstellung der kirchengeschichte existiert: *trad.
disc. 5, 2 (VI 400): nam quae de iis sunt scripta, praeter pauca quae-
dam, multis sunt commentis foedata . . fuere, qui magnae pietatis
loco ducerent, mendaciola pro religione confiugere, quod et pericu-
losum est . . et minime necessaria. caus. corr. 2, 6 (VI 108): quam
indigna est divis et hominibus christianis illa sanctorum liistoria, quae
legenda aurea nominatur, quam nescio cur auream appellent, quum
scripta sit ab homine ferrei oris, plumbei cordis. quid foedius dici
potest illo libro? etc.
*^^ *trad, disc. 5, 1 (VI 391): . . quoniam melius ab adultis iam
confirmatisque post rerum usum aliquem intelligitur , ut in vitae emo-
lumenta convertatur, iudicio adhibito. nicht blosz das praktische leben,
auch die Wissenschaften bereichern sich aus der geschichte, so medicin,
moralphilosophie, recht, theologie, darum trad. disc. 5, 1 (VI 390):
historia videri posset praestare omnibus quae una tot artes vel pariat,
vel enutriat. nichtsdestoweniger besitzt sie damit nur die zweite, nicht
die erste bedingung einer Wissenschaft: an. et v. 2, 8 (III 382): est
enim ars coUectio generalium formularum ad usum aliquem tendentium.
*trad. disc. 1, 3 (VI 352): quae vero in regulas ac praecepta non
coguntur, minime sunt artes, sed generali nuncupatione cognitiones et
peritiae quaedam, velut rerum gestarum notitia. — Nach der aufzählung
einiger vorteile der geschichtskenntnis für den einzelnen und das ge-
meinwesen macht Vives, wohl in anlehnung an den bekannten Plato-
.nischen ausspruch, die interessante bemerkung trad. disc. 5, 1 (VI 389):
126 F. Kuypers : Vives in seiner pädagogik.
die wähl des Stoffes: sit historia velut exemplum eorum, quae se-
quaris, quaeque devites. trad. disc. 5, 1 (VI 390).
Darum ist alles zu übergehen, dessen kenntnis keinen nutzen
bringt, wie unbedeutende details, unnötige namen und zahlen, oder
gar schaden verursacht, wie kriegsgeschichte, so weit sie für das Ver-
ständnis nicht unbedingt erforderlich ist; denn sie wirkt demorali-
sierend, wo sie nicht umgangen werden kann, *sind kriege nicht
anders darzustellen als räubereien, was auch thatsächlich die meisten
sind'/'''® — Eine genaue behandlung erfährt hingegen alles, was in
irgend einer weise nutzbar gemacht werden kann, das sind in erster
linie die psychologischen factoren in der politischen geschichte."^
aber, 'es ist wahrlich unwürdig, blosz die werke unserer leiden-
schaften dem gedächtnisse zu überliefern und nicht ebenso die der
Überlegung und Vernunft.*"^ darum sind zweitens nicht weniger die
res togatae ausführlich zu bespi'echen, d.i. culturgeschichte im
besten sinne."' endlich drittens dürfen nicht fehlen aussprüche und
handlangen von männern, die sich durch rechtschaffenheit, Weisheit
und gelehrsamkeit ausgezeichnet haben, sowie Untersuchungen über
das, was sie dabei beabsichtigten.*'"
quid causae esse credimus cur philosophi nostri regendis civitatibus
et populis iam pridein idonei non fuerint, nisi quod historiae carerent
prudentiae nutrice?
2^6 *trad. disc. 5, 1 (VI 391 f.): in cognitione historiae minime con-
venit nos circa frivola et molesta detineri, in quibus laboris est, et
curae multum , fructus omnino nihil . . bella et praelia non accurate
persequenda, quae tantnm instruunt animos ad nocendum, et vias osten-
dunt quibus iuvicem possimus laedere . . nee aliter dicenda vel legeuda
haec, quam latrocinia, cuiusmodi revera sunt pleraque horum omnia.
ausführlich und mit schürfe wird dasselbe von dem redner verlangt
rat. die. 3, 3 (II 206). vgl. anm. 28.
*" nach darstellung des wechselnden in der gescliichte fährt er
fort ♦trad. disc. 5, 1 (VI 389 f.): sed illa tarnen nunquam rautantur
quae natura continentur, nempe causae aflfectuum animi eorumque
actiones et efifecta quod est longa conducibilius cognoscere quam quo-
modo olim vel aedificabant vel vestiebant homines antiqui; quae enini
maior est prudentia quam scire quibus ex rebus qui hominum aflfectus
vel concitentur, vel sedentur, affectus porro illi quae adferant momcnta
in re publica, quos motus, quemadmodum continendi, sanandi, tollendi,
aut contra, exagitandi, et conferendi sive in aliis sive in nobis ipsis?
"* *trad. disc. 5, 1 (VI 392): non solum quae ab animi incitatis
motibus sint edita cognoscamus, sed quae a vi mentis et iudicii; in-
dignum profecto est afifectionum nostrarum opera mandare memoriae,
non item consilii ac rationis.
2" trad. disc. 5, 1 (VI 392): latius igitur et fructuosius fuerit dare
operam togatis rebus; quae in virtute praeclare et sapienter sunt acta;
quae in sceleribus atrociter, foede; qui exitus quam laeti bene factorum,
quam tristes atque infelices malorum facinorum. bei dem letzteren
dürfte doch manchmal die prima lex der gescliichte gefährdet sein!
mit ausnähme dieser andeutung finde ich auch keinen hinvveis auf
förderung der pietas oder admiratio auctoris, eines ihm sonst so nahe
liegenden gedankens, durch das Studium der geschichte.
**" trad. disc. 5, 1 (VI 392): . . tum dicta et responsa hominum
praeditorum ingenio, sapientia, usu rerum . . consilia etiam, cur quid-
F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik. 127
Für die einteilung des Stoffes gilt: zunächst die ganze geschieh te
vom beginne der weit oder vom Ursprünge eines bestimmten Volkes
bis auf die gegenwart im umrisse, dann ausführlicher die ein-
zelnen teile, eine sehr zahlreiche von Jünglingen, mannern und
greisen zu lesende menge von gesamt- und einzeldarstellungen wird
empfohlen.
§ 61. Die kenntnis der orte, an welchen die geschichte spielt,
ist mit diesem unterrichte zu verbinden, 'von dieser ist jedoch an
anderer stelle das notwendige gesagt'.^®' ebenso sollen sich fabeln
anschlieszen, aus welchen man lebensweisheit lernen kann.^*^
Moralphilosophie.
§ 62. Caput et cardo universae philosophiae existimetur sen-
tentia de finibus bonorum et malorura. ver. fid. 1, 2 (VIII 10).
Es ist verkehrt, mit den Scholastikern die christliche ethik als
Wissenschaft nach Aristoteles zuzuschneiden; denn das ziel der
ersteren verträgt sich nicht mit der glückseligkeitslehre des griechi-
schen Philosophen, verwandter ist dem christentume die ethik
Piatons und die der stoiker. indes ist nicht aus büchern der beiden,
so viel schätzenswertes sie auch enthalten, die wissenschaftliche
moral zu construieren, sondern aus dem sittlichen bewustsein des
menschen, dem abglanze des göttlichen willens; dann werden ihre
resultate mit der andern Offenbarung gottes, der lehre Christi, über-
einstimmen, — Den irrenden Aristoteles hat man dazu noch irrig
aufgefaszt, und schlieszlich ist in endloser disputationswut die moral-
philosophie in ihrem gehalte noch mehr verdorben und namentlich
auch von ihrem ziele, der sittlichen praxis, abgelenkt worden,
auch Thomas, der vortrefflichste der Scholastiker, ist nicht frei
von diesen fehlem, so dasz den betreffenden werken Platons,
Plutarchs, Xenophons, Ciceros, Senecas mehr moralische Wirkung
zuzuschreiben ist.^-^
quid susceptum, factum, dictum eorum potissimum qui probitate,
sapientia, studiis bonarum artiiim reliquis antecelluerunt quales sunt
philosophi et praestantissimi omnium Divi nostrae pietatis. hinter
'factum' wird wohl nicht, nach den quellen, ein semicolon sondern ein
komma zu setzen sein.
^'*' s. die kurzen andeutungen § 35.
**2 trad. diso. 5, 2 (VI 400): historiae accedat fabularum cognitio
sed eruditarum, quaeque ad usum vitae, quum res poscit, accoramodari
queant. geographische und historische Studien, namentlich die ersteren,
wurden im allgemeinen in den schulen wenig betrieben. Arnaud s. 101,
Haase (cit. anm. 178) s. 6. über die einschlagende litteratur jener zeit
orientiert Wachler (cit. anm. 126) s. 103 f., 109 f.
*83 caus. corr. 6, 1 (VI 214): si Aristotelica beatitudo expetenda
hie est, Christi beatitudo non est hie expetenda; neque enim contraria
possunt eodem loci et temporis ad idem et loci et temporis concupisci
. . si Aristotelica beatitudo commentitia est, quid laboramus, quomodo
eam tueamur? man folge dem Sokrates *caus. corr. 6, 1 (VI 208 f.):
revocavit se ille a populi sensu atque opinionibus, introrsum ad se
ipsum . . itaque illo acumine ingenii sui philosophiam hanc inquisivit,
128 F, Kuypers: Vives in seiner pädagogik.
§ 63. Die moralphilosophie, die lehre von der einrichtung
unseres öffentlichen und privaten lebens, ist eng mit dem unter-
richte in der geschichte zu verbinden.*^' dieselbe soll, im anschlusse
an Aristoteles, umfassen : Vorschriften für das handeln des einzelnen
— ethik, für das familienleben — öconomik, für das leben im Staate
— politik, endlich belehrungen über solche pflichten, welche wegen
ihrer verschiedenen gestaltung bei den verschiedenen Völkern sich
unter diese allgemeinen gesiehtspunkte nicht fassen lassen.*-^ in
der ethik sind diejenigen laster, welche vergnügen oder irdischen
vorteil gewähren (wollust, habsucht), ohne grosze anschaulichkeit
und mit vorsichtiger wähl der beispiele zu behandeln, die andern
(zorn, hasz, neid) erfahx'en eine gründliche und anschauliche darstel-
lung.*^® ernste disputationen dürfen angestellt werden, doch mehr
über theoretische als über praktische fragen. ^®^ öconomik und
politik werden nicht systematisch gelehrt, sondern der ersteren
dienen, nach dem verfahren des Sokrates, Unterhaltungen mit er-
fahrenen familienvätern, der letzteren schweigende beobachtungen
der Sitten und Vorgänge des öffentlichen lebens. auch sollen greise
politische gespräche in gegenwart von Jünglingen pflegen.''^ der
lehrer der moralphilosophie sei ein ernster, sittenreiner und gelehrter
mann; sein Vortrag suche die schüler nicht nur zur auffassung, son-
credens se, non receptae in vulgiim deceptioni, non somniis et insaniis
illarum religionum . . sed deo potius magistro, hoc est, lucernulae illi
natural! mentis suae; siquidem nemo est tarn tardo ingenio, cui non
lux aliqua in animo fulgeat ex dei munere. caus. corr. 6,3 (VI 221):
verterunt ad altercationes disciplinam morum, quae ad agendum esset
parata, et sie tractarunt, non ut meliores vel fierent, vel facerent . .
sed ut cavillarentur. ein weiteres eingehen auf diese gedanken über-
steigt meine aufgäbe, ich erwähne nur kurz sein urteil über Thomas
trad. disc. 5, 3 (VI 404): . . scriptoris de schola omnium sanissimi ac
minime inepti . . multis in locis facile intellegas secutum illum esse
alienum iudicium, suum non adhibuisse, quod fuit ei commune cum
scholasticis.
^^* trad. disc. 5, 3 (VI 401): cum historia coniuncta et complicata
erunt vitae publice ac privatim instituendae praecepta. diese disciplin
wird absichtlich erst in späterem alter gelehrt: rat. die. praef. (II 91):
nam quemadmodum sapienter inquit Aristoteles, adolescentem non esse
moralis disciplinae auditorem idoneum, quod ignarus sit eorum quae
geruntur in vita, de quibus est speculatio moralis.
255 trad. disc. 5, 3 (VI 403).
2^« trad. disc. 5, 3 (VI 404).
2^7 trad. disc. 5, 3 (VI 405): . . sed de iis potius quae ad defini-
tionem spectent naturae afifectuum, quam, ubi definitum iam et con-
stitutum fuerit, quemadmodum sit vivendum.
28'5 trad. disc. 5, 3 (VI 404): für die öconomik: nihil est opus audi-
torio vel praeceptore, non disputationibus, sed coUoquiis cum patribus
familias prudentibus, quäle est Socratis cum Ischomacho apud Xeno-
phontem. für die politik *triid. disc. 5,3 (VI 407): neque hie magistrum
requirimus, neque disputationes , sed eam animadversionem . . de
affectionibus animi ac moribus, hinc usum rerum in foro et curia . .
senes nonnunquam de republica inter se disserant seniliter, admissis eo
iuvenibus, ut ab eis et rerum peritiam et morum gravitatem accipisnt.
F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik. 129
dern auch zur ausübung der Sittenlehren anzuleiten. ^"^ für unter-
richtszwecke ist ein kurzes und faszliches lehrbuch aus der heiligen
Schrift von ihm zusammenzustellen, es sind jedoch auch die an-
sichten der alten zu berücksichtigen, soweit sie der christlichen
lehre nicht widersprechen.'®"
Einiges über das j uristische Studium.
§ 64. Auch in der rechtswissenschaft ist die abwendung von
der natur, nämlich von dem in uns ruhenden rechtsgefühle, und die
neigung zu künstlicher schematisierung und casuistischer Verdrehung
die Ursache des Verfalls, sie ist hervorgerufen und gefördert durch
die fürstliche autokratie, welche durch die gesetzgebung gehoben ist
auf kosten des naturrechtes, der moralische zweck hat selbstsüch-
tigem utilitarismus weichen müssen. Sprachwissenschaft, dialektik
und namentlich moralphilosophie, die grundlagen der rechtslehi-e,
sind vernachlässigt, die einzelnen juristischen begriffe sind nicht
scharf fixiert, die gesetze sind corapliciert und unklar formuliert
worden, eigennutz der advokateu und verstiegene disputationen
haben das unheil noch vermehrt, grundlage für die reform soll das
recht der römischen republik sein.^®'
§ 65. Eine von den angedeuteten fehlem freie ^Wissenschaft
der gerechtigkeit' ist erst von erfahrenen männern ins leben zu
rufen, sie bilde das studium der angehenden Juristen; auch sollen
diese den periodisch abzuhaltenden gesprächen jener männer über
rechtsreform beiwohnen, die rechtsbeflissenen sollen angeleitet
werden, die gesetze nicht lediglich auswendig zu lernen und dann
schematisch auf den einzelfall anzuwenden, sondern entstehungs-
ursachen, zweck und geist derselben zu erfassen und ihre Überein-
stimmung mit dem naturrecht, ihre lebensfähigkeit, berech tigung
oder antiquierung nachzuweisen, nicht professoren des römischen
289 *trad. disc. 5, 3 (VI 404): tradet sie Lene vivendi praecepta, ut
non sciant solum, sed incitentur, et velint bene agere. caus. corr. 6, 1
(VI 209): . , non ut doceret solum, sed ut impelleret atque afficeret . .
haec (das verfahren des Socrates) est vera via, tum ad inquirendam
rationem componendi animi, tum ad tradendam; a qua qui abscedunt,
longissime in avium se et errores coniiciunt. >
2^° trad. disc. 5,3 (VI 403): neque enim plus illis tribuemus quam-
vis maximis et acutissimis ingeniis, quam qiiantum illi cum christiani-
tate consentiunt, hoc est, homo cum deo. s. anm. 34.
"' s. caus. corr. 7, 1 f. (VI 222 ff.), aedes legum (V 483 ff.); in
leges Ciceronis praelectio (V 494 ff.), von den Pariser Juristen heiszt
es Sapiens (IV 28): . . versutissimi et fraudulentissimi, quorum callidi-
tate nulla lex non est corrnpta. caus. corr. 7, l (VI 225): quem non
terreat tanta vis ac licentia in uno homine posita, et plerumque gladius
datus in manum furentis ! ähnliche demokratische gesinnungen äuszert
Vives häufiger, die schlimmen zustände im juristischen (und medicini-
schen) studium jener zeit schildert C. Meiners, histor. vergleichung der
Sitten usw. des mittelalters III bd., Hannover 1794, s. 53 ff. daselbst
ist auch Vives wiederholt citiert. s. auch Wachler (cit. anm. 126)
s. 266 f.
N. Jahrb. f. phil. u. päd. U. abt. 1897 hft. 3. 9
130 F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik.
oder spanischen rechtes sollen die jungen leute werden, sondern ge-
lehrte, welche 'das rechte' und 'das gute' vertreten können.^®*
Unter sich mögen die Studenten ernste disputationen über
fragen der bezeichneten art anstellen, jedoch mit ausschlusz der
öffentlichkeit, damit die Untersuchung der sache und nicht dem ehr-
geize diene.
§ 66. 'Wer aber, von gott mit höherem geiste begabt, nicht
durch erdensorgen gefesselt werden kann , sondern zum verkehre
mit den himmlischen sich aufschwingt, jener glückliche götterlieb-
ling möge sich zur theosophie und theologie erheben", über diesen
seligen und bewundernswerten dürfen wir nicht im zusammenhange
mit den andern reden, auch sind wir von dem langen wege ermüdet;
eine solche abhandlung erfordert eine besondere Sorgfalt; wir wer-
den sie, SO gott will, später einmal in ruhe, mit frischen kräften und
wärmerer begeisterung abfassen; denn dieser gegenständ ist um-
fassender und erhabener als die menschen glauben.' trad. diso. 5, 4
(VI 415)."^
Allgemeine unterrichtsgrundsätze.
§ 67. Unserem pädagogen schwebt nicht eine rein objective,
mechanisch anwendbare methode , eine 'didaktographie' vor, wie es
bei Comenius und Pestalozzi der fall ist, sondern Vives macht, in
richtiger erkenntnis, den erfolg des Unterrichts im höchsten grade von
der subjectivität des lehrers und des schülers abhängig, wie aus
der vorstehenden darstellung ersichtlich ist. dennoch läszt sich eine
reihe von allgemein giltigen didaktischen Vorschriften aus seinen
pädagogischen theorien ableiten, diese nicht systematisch sondern
gelegentlich ausgesprochenen grundsätze zeigen eine energische ab-
kehr von den verknöcherten formen des scholastischen schulmechanis-
mus und eine fülle von trefflichen, zum teil auch bedenklichen, keimen,
*^' s. trad. disc. 5, 4 (VI 409 f.). es ist meistens von der begründung
und der praktischen gestaltung dieses neuen rechtes die rede, viel
pädagogisches enthält dieses capitel nicht. . . tum vero non sacerdos
ac professor fuerit Romanarum aut Hispanarum legum, sed boni et
aequi, cuius artem per magna aliqua excogitari ingenia equidem per-
cuperem, quam futuri iurisconsulti addiscerent, quae ars iustitiae voca-
retur . . . ich erwähne noch für das ins civile als pflicht der Inter-
preten psychologische beobachtung, eigne anschauung des lebens und
Studium der geschichte. trad. disc. 5, 4 (VI 413).
'^^ diesen plan hat Vives nicht ausgeführt. Francken vermutet s. 178,
dasz ihn die befürchtung abgehalten habe, 'hierbij in opentlijken strijd
zieh te zullen wikkelen met de Leuvensche Universiteit'; doch man be-
denke, dasz ihm, als er obigen plan 1531 äuszerte, die Stimmungen der
Löwener theologen, welche seit 1522 seine commentarien zu Augustinus
in bänden hatten, hinlänglich bekannt sein musten. Vives war der
Orthodoxie nicht entfremdet, einen wissenschaftlichen streit hat er trotz
seiner friedensliebe niemals gefürchtet, auszer der behandlung anderer
gegenstände dürfte ihn vielleicht seine jetzt beginnende schmerzhafte
krankheit sowie die absieht abgehalten haben, die schwebende Schlich-
tung der theologischen gegensätze im reiche abzuwarten.
F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik. 131
deren entwicklung sich erst bei den 'neuerem'"* oder noch später
zeigt, ich führe kurz die wichtigsten an. sie wenden sich alle an
den lehrer, nach ihrem inhalte aber lassen sie sich gliedern in solche,
welche vorwiegend l)den schüler, 2) den lehrstoff, 3) den lehrer,
4) die Unterrichtsform betreffen."*
I. 1) berücksichtige die kindesnatur! verlange nicht von
knaben, was erst Jünglinge leisten können. ^'^ bedenke, dasz Charakter
wie anlagen des kindes nicht constant sind."^ benutze klug die
eigenartigen triebe des kindes, werde aber auch seinen besonderen
bedürfnissen gerecht."^ 2) beachte im weitgehendsten masze die
Individualität des Schülers nach der sittlichen anläge, der intellec-
tuellen begabung, der speciellen neigung, dem körperlichen zustande,
dem alter, dem ziel desselben: tantum cuique permittat, quantum
censebit expedire. trad. disc. 1, 6 (VI 271)."^ 3) wenn möglich nicht
294 dieser zusammenfassende ausdruck ist eingeführt von Raumer
(cit. anm. 6).
29^ eine ähnliche einteilung findet sich in Vives' abhandlung über
die belehrende rede rat. die. 2, 12 (II 158): obscuratur oratio vel ex
rebus, vel a dicente dedita opera, vel vitio audientium.
296 trad. disc. 3, 4 (VI 316): meminerit prudens institutor, quantum
inter exordientem, procedentem et absolutum intersit; non id esse a
puero incipiente requirendum, quod a iuvene . . . nihil adeo esse prae-
posterum, ut fructum iain tum maturum exigere , quum arbores germi-
nare primo vere incipiunt.
29' *trad. disc. 2, 4 (VI 292): verum de ingenio dubio autetiam malo
non est illico desperandum, nee nimis tarnen fidendum bono; mutationis
ingeniorum ac morum multa sunt exempla et in civitate et in schola.
2M8 vgl. § 7 und anm. 161. 247. den ehrtrieb berücksichtigt die
forderung von mitschülern, die auch ausschlaggebend ist bei der frage
nach privatem oder öffentlichem unterrichte, s. trad. disc. 2, 2 (VI 279 f.),
stud. puer. 1 (I 267). 2 (I 272). man hüte sich vor Überspannung des-
selben. *trad. disc. 3, 4 (VI 315): consultius est adoleseentes nihil
scire, quam ambitionis et superbiae mancipia fieri. an diese stelle ge-
hört auch die richtige forlerung *trad. disc. 3, 3 (VI 314 f.): conserva-
buut quae prioribus mensibus scripserint, ut sequentibus comparent, et
profectum rieprehendant, eaqiie insistant, qua se profecisse intelligent;
4, 4 (VI 367): tua ipsius priora cum posterioribus conferes, ut ex com-
paratione deprehendas profectum. s. weiter anm. 199 und § 19.
299 vgl. die häufigen hinweise bei den einzelnen Unterrichtsfächern,
auszerdem trad. disc. 1, 4 (VI 259): nam alia aliis ingeniis conveniunt
ut palatis ut ventriculis etc. *2, 2 (VI 278): ei quemque applicent
arti cui quemque idoneum videbunt. *2, 4 (VI 297): praeceptor vero
in schola auditorium suum debet spectare . . ut tradat congruentissima
captui suorum. 4, 4 (VI 363): acute inspici oportet quibus tandem
rebus appositum sit iuvenis ingenium . . ut eo se quisque applicet, quo
naturae nutu quodam fertur, si modo in finitimum virtuti vitium non
propendit. an. et v. 2, 2 (III 347): . . ut est cuiusque ingenii pronitas
et attendit ad haec aut illa libentius. eine prüfung der anlagen findet
im eiternhause (anm. 116), vor der aufnähme in die anstalt und alle
zwei bis drei monate während des aufenthaltes in derselben statt
(anm. 135 f.). anhaltspunkte für die beurteilung bieten vor allem inter-
esse, rechnen, gedächtnis, spiel. *trad. disc. 4, 4 (VI 363): quibus
quisque sit rebus appositus, cognoscetur ex deiectatione , quae de con-
formitate et congruentia quadam oritur obiecti et facultatis; *2, 4
9*
132 F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik.
zwang, sondern erregung des Interesses ! ^'"' 4) nicht begriff-
liche deduetion, sondern anschauliche induction!^"'
(VI 291 f.): nihil aeque mentis aciem patefacit, ut expedita computandi
ratio, et ingenii tarditas tarditate computationis arguitur . . *memoriam
Signum ingenii Quintilianus ponit, quae duabus constat partibus, facile
percipere, et fideliter continere, prius indubitatum est acuminis indicium,
alterum capacitatis . . . *exercebuntar lusionibus, id etiam acumen
retegit et mores naturae, potissimum inter aequales et sui similes, ubi
nihil finget, sed omnia exibunt uaturalia; 2, 2 (VI 281 f.) fährt Vives
nach weitläufiger besprechung der verschiedenartigen beanlagungen
fort: *ingenium non est vel malis rebus, vel parvis ac puerilibus ex-
plorandum; sed et oculus non continuo acute cernit, quod aliqua ad
serum vel in tenebris acute cernit; ita nee ingenium habendum est pro
acuto, quod in rebus parvis aut levibus multum pollet. Untersuchungen
über den Wechsel des Charakters und den unterschied der beanlagung
s. auch an. et v. 2, 6 (III 368). 2, 8 (III 274 ff.), ver. tid. 1, 3 (VIII 17).
300 * exerc. 1. lat. dial. princeps puer (I 376): Sophobulos: nulla res
tarn facilis est, quae non fiat difficilis si invitus facias. non est opera
litteris impensa laboriosa ei qui libens eam subit. *trad. disc. 3, 4
(VI 318): mirae libertatis est humanum ingenium, exerceri se patitur,
cogi non patitur; multa ab eo facile impetres, pauca et infeliciter ex-
torqueas; 2,4 (VI 292) 'tu nihil invita dices faciesve Minerva' . . nihil
tum tractabitur prave ac sinistre a coactis et lepugnantibus. Vives
hütet sich aber vor den verkehrten extremen der Ratichianer und
philantliropisten. die körperliche Züchtigung verwirft er durchaus nicht.
s. anm. 78. 106. 179.
^'" die induclion war der weg, auf welchem man zu den Wissen-
schaften gelangt ist, auf ihm sind sie fortzubilden, für diese mehr
philosophische als pädagogische theorie führe ich nur die wichtigsten
stellen an: *trad. disc. 1, 2 (VI 249): ars, cuius inveniendae haec fere
fuit ratio atque observatio : initio una atque altera expcrientia ex ad-
miratione novitatis annotabatur ad usum vitae; ex singnlaribtis aliquot
experimeutis colligebat mens universalitatem, quae compluribus deinceps
experimentis adiuta et confirmata, pro certa explorataque haberetur;
tradebatur tum posteris; addebant alii quae ad eundem usum finemque
pertinerent: haec collecta per magni ac praecellentis ingenii viros dis-
ciplinas sive artes effecerunt, nam hoc erit generali utendum vocabulo;
quidquid nunc est in artibus, in natura prius fuit, non aliter quam
uniones in concha, aut gcmmae in arena; sed quod hebetes multorum
oculi non animadversum praeteribant, ab acutioribus indicatum est;
illique inventores dicti, non quasi rem quae non esset, fecissent ipsi,
sed detexissent, quae lateret. aber er erinnert an Piatons wort (im
Gorgias) ut experientia artem pariat, ars (methode) experientiam regat.
das ius civile entsteht nach trad. disc. 5, 4 (VI 413): raulta videndo,
observando, gestis quoque rebus maiorum legendis etc. für naturwissen-
schaften und medicin s. § 44 f. 57 f. *caus. corr, 1, 1 (VI 8): . . haec
ab eodem uno per varia experimenta collecta, vel collocata cum alienis
praecepta efficiebant, quae etiam alios in re simili adiuvarent; 1, 2
(VI 13) : harum omnium artium materia, vires, utilitates in natura sunt
ab opifice deo positae. *3, 3 (VI 319): quum omnia universalia ex
singularibus sint nobis collecta, quae singularia quum sint infinita, per-
sequi omnia non potuimus etc. de prima philosophia 2 (III 229): ani-
mus in intelligendo . . prius mista intelligit, et sensui obiecta, hinc
magis simplicia, et recondita , . liomini prius notum est opus absolu-
tum naturae quam eins elementa. s. auch de instrumento probabilitatis
(III 83 f.). für die methode gilt darum: *trad. disc. 2, 4 (VI 296) in
praeceptione artium multa experimenta colligemus, multorum usum
F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik. 133
veranlasse den sehüler zur autopsie.^"' veranschauliche durch bei-
spiele.^"^ verfahre genetisch.^"' schreite vom sinnfälligen zum abs-
tracten^"S vom bekannten zum unbekannten '"^ vom leichten zum
schweren fort/"' 5) suche durch ^übung das wissen des Schülers
observabimus, ut ex illis universales fiant regulae, de quibus experi-
mentis, si sint quae cum norma non congruant, signanda est causa cur
id fiat, sin ea nesciatur, et pauca sint, quae non quadrent, annotanda
sunt, sin plura sint quam quae congruant, aut pari numero, non
statuendum de eo dogma, sed id transmittendum admirationi posterum
. . sie ex M. Ciceronis usu ac Demosthenis praecepta rhetorices petuntur,
ex Homero et Vergilio poesis; sed ei qui de quaque arte commentatur,
et praecepta format, subinde est oculus ab experimentis et usu ad
naturam ipsam revocandus, ut exactissima tradat magis quam con-
sueta . . exemplar enim absolutum est in natura, quod tantum quisque
exprimit, quantum valet ingenio, aut diligentia; alii plus aliis, nemo
plene ac perfecte. ein treffliebes beispiel inductiven lebrverfabrens
s. exerc. I. lat. dial. princeps puer (I 373 ff.),
302 s. anm. 232, 263 u. a.
303 trad. disc. 3, 2 (VI 307 f.): unverstandene wörter werden nicht
durch definitionen, sondern durch ihre auvvendung in sätzen erklärt, die
den classikern entlehnt sind oder: *ipse (magister) nonnunquam, ut
melius ob oculos rem subiiciat, exemplum de suo finget, quod deforma-
tum erit in speciem vel sententiolae , vel fabellae, aut historiae, aut
proverbii succiucte comprehensi.
3"^ s. z. b. anm. 249.
305 *caus. corr. 3, 5 (VI 131): illi (die Scholastiker) pueros suos
immergunt in arcana illa naturae, quae constare, et intelligi nullo pe-
nitus modo possunt, nisi gustatis bis exterioribus; nam ordo nostrae
cognitionis hinc est ad illa, nee eo penetrari a nobis potest, nisi per
haec quae sunt foris, ad incognita enim itur per cognita, et ad mentis
iudicium per sensuum functiones: isti contra rüdem puerum . . statiin
praedicabilibus, et praedicamentis, et sex principiis proluunt etc. an. et
V. 2, 7 (III 373): cursus discendi est ex sensibus ad imaginationem, ab
hac ad mentem, qualis est et vitae et naturae; itaque a simplicibus
progressio fit ad coniuncta, a singulari ad universale; quod est anno-
tare in pueris, qui . . primum exprimunt partes separatas siugularum
rerum, deinceps couiungunt et copulant, universalia etiam siugulari
vocant nomine, ut fabros omnes nomine eins fabri, quem primum no-
verunt .. . tum ex siugularibus mens coUigit universalia, uude ad sin-
gularia rursum ex uuiversalibus revertit; itaque primi magistri sunt
sensus, in quorum domo est conclusa mens, e quibus princeps est visus
. . post cognitionem autem rerum inventam artesque constitutas, audiendi
sensus tum plura et maiora, tum celerius docet. *rat. die, 3, 8 (II 226):
sensibilia sunt primum ostendenda, deinceps ea, quae sunt bis proxima.
""6 *trad. disc, 3, 1 (VI 302): ars grammatica ex uotioribus , ut
aliae omnes tradenda. Vives weist, wenn auch unklar, auf naturgemäsz-
heit im sinne des Comenius hin: rat. die. 3, 8 (II 225), trad. disc. 2, 4
(VI 296); 4, 6 (VI 375). allein richtiger ist seine erkeiintnis *rat. die.
3, 8 (II 326): non est in praeceptis exhibendis natura rerum spectanda,
sed audientis , ut illi et notiora dicamus, et prior a, nun naturae;
cursum quidem et viam naturae debemus imitari , non iugredi; habet
illa quae sunt sibi notissiraa, nempe siraplicissima in compositis ..
nobis notissima sunt exposita sensibus.
3*^ trad. disc. 3, 2 (VI 309): itaque initio pauca et facilia obiiciet,
mox cousuefacit pluribus maioribus, solidis; 4, 3 (VI 359): primum fa-
ciliora quaedam et simpliciora versabunt. anm. 198.
134 F. Kuypers : Vives in seiner pädagogik.
in praktisches können umzuwandeln.^"- 6) rufe durch häufige Wieder-
holungen das vergessene in dem schüler wieder wach.^"'
IL 1) lasse dich in der wähl des stoffes leiten von der rück-
sicht auf moral. religion, nützlichkeit. was dem nicht dient,
falle weg, nichts werde lediglich des wissens wegen betrieben.^'"
2) Sachen, nicht blosz worte bringe der Unterricht.^" 3) in Inhalt
und form vermeide pedanterie und kleinigkeitskrämerei, ander-
seits bringe eine grosze fülle von stoff. ^'^ 4) die darstellung sei ge-
ordnet und knapp, die anordnung richte sich nach der be-
schaffenheit des gegenständes oder der des schülers. jede folgende
stufe stütze sich auf die vorhergehenden."^ 5) suche concentra-
tion der einzelnen Unterrichtsfächer, veranlasse auch den schüler,
durch anläge von collectaneenheften nach zusammenfassender Ver-
bindung alles wissenswerten zu streben,^'*
^"^ *trad. disc. 4, 3 (VI 359): quod mihi de instrumento omui di-
cendum videtur, in quo adornando non perinde elegantia requirenda est,
et accurata compositio, quam iit apte usui deserviat; *5, l (VI 386):
quae ad usum referuutur aliquem, ea nisi aliquando ipse obeas, quan-
tumcunque exposita habeas, et percepta , nunquam tarnen recte exse-
queris; 4, 7 (VI 381): disputationes eruut, quomodo universales canones
in experimentum singulorum operum deriventur. s. auch intr. sap. 6, 174f.
(I 14 f.); 6, 141 (I 12): ingeniura exercitatione acuitur; 15, 475 (I 39):
ne verbis quod scis ostentes sed rebus te osfeude scire.
^°ä mor. erud. 5, 1 (VI 416): miscebit studia et prima in tertiis re-
petet, tertia in sextis. stud. puer. 1 (I 266); exerc. I. lat. dial. schola
(I 3351.
ä'o s. anm. 32, 67, 290 u, a.
3" ich verweise auf Vives' inductionslehre. *trad, disc. 3, 2 (VI 307):
selbst von dem veranschaulichenden beispiele wird gefordert aliquid
habeat cognitione dignuni, ähnlich anm. 171, 308. *intr. sap. 6, 173
(I 14): annitere ue sola verba inteliegas, sed praecipue scnsa.
"* wiederholt in dieser abhandlung ausgesprochen. *trad. disc. 3, 2
(VI 306): immo vero sicut in civitate aut domo bene constituta, fla-
gitium admittit magistratus vel pater familias, qui locum malo et inu-
tili homini rellnquit, quem posset occupare bonus: .sie delictum est, si
in ingenio ineptiis illis locus tribuatur, in quo reponi possent alia pro-
futura. beispiele scholastischer kleinigkeitskrämerei in allen fächern
s. Sapiens (IV 22 ff.). — trotz der riesigen zahl von Schriftstellern,
welche Vives behandelt und privatim gelesen wissen will, trad. disc. 5, 4
(VI 415): non sunt in singulis artium ii legendi soli, quos praescribimus,
uam fugisse nos aliquos, cognosci dignissimos, non dubitamus.
3'3 trad. disc. 2, 4 (VI 296): in praeceptis artium ordo est res ad
docendum efficacissima ut facilius auditores tum percipiant, tum reti-
neant; ducuntur scilicet rebus ita dispositis, et dum posteriora quasi
ex prioribus videntur nasci, accipiuutur omnia pro certissimis; sed quis
Bit ordo .. in libris de dicendo exposuimus: rat. die. 2, 15 (II 193):
argumentorum ordo vel naturalis est, vel ad auditoris rationem refertur etc.
s. auch an. et v. 2, 2 (III 349). »trad. disc. 1, 6 (VI 268): adde quod
disciplinae, breviter ae pure ostensae, acumen, iudicium, prudentiam,
communium rerum usum adiuvant; longa earum tractatio retundit vim
mentis, et molestissima est. dieses citat ist von Comenius als motte
der physicae Synopsis vorgesetzt, ausg. v. Reber s. 46.
^•' mor. erud. 5, 1 (VI 416): nam connexionem inter se habent omnia
haec et affinitatem quaudam (nämlich die Unterrichtsfächer), das eigent-
F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik. 135
in. 1) hüte dich vor Vorurteilen; deine erste meinung
von einem schüler sei eine gute."^ 2) fessele den schüler an
deine persönlichkeit, bleibe ihm unbedingte autorität: darum
gib ein gutes beispiel, verheimliche deine schwächen, bereite dich
gewissenhaft auf den Unterricht vor und gestalte deinen vorti'ag
interessant.^'^
IV. 1) der Unterricht werde mit gebet,begonnen.^'^ 2) der
schüler folge dem vortrage durch schriftliche aufzeichnun-
gen.^'* 3) disputationen sind nur in beschränktem masze gestattet.
liehe concentrationsg'ebiet ist die classikerlectüre. liier ist zu vermitteln
*trad. disc. 3, 1 (VI 304): cognitio aliqua rerum , nempe temporum,
locorum, historiae, fabulae, proverbiorum, sententiarum, apophthegmatum,
rei domesticae, rei rusticae, gustus etiam quidam civilis ac publicae;
3,2 (VI 308): beim namen einer historischen persönlichkeit erfahre der
schüler einiges über sein leben, seine heimat, seine beschäftigung usw.
zur erklärung der in rede stehenden gegenstände sollen geographische,
geschichtliche, naturwissenschaftliche, ethnographische und allgemeine
bemerkungen aus den höheren Wissenschaften gemacht werden, die
classiker selbst liefern realien; verbaler realismus. s. u. a. puer 2
(I 274); aber auch umgekehrt: historiae quoque instruere possunt lin-
guam. auf die anläge von collectaneenheften legt Vives sehr groszes
gewicht, ihre einrichtung bespricht er am ausführlichsten *trad. disc.
3, 3 (VI 310): itaque unusquisque puerorum habebit librum chartae
vacuum, in partes aliquot divisum, ad ea accipienda, quae ex ore prae-
ceptoris cadent, utique non viliora quam gemmae: in parte una reponet
verba separata, et singula; in altera proprietates loquendi atque idio-
mata sermonis, vel usus quotidiani , vel rara, vel non omnibus nota
atque exposita; in alia parte historias (wohl kurze daten), in alia fabulas
in alia dicta et sententias graves; in alia salsas et argutas; in alia
proverbia, in alia viros famosos ac nobiles, in alia urbes insignes, in
alia animantes, stirpes, gemmas peregrinas, in alia locos auctorum diffi-
ciles explicatos; in alia dubia nondum soluta: haec initio simplicia ac
velut nuda, aliquanto post convestiet ac ornabit; habebit maiorem co-
dicem; eodem referet tum quae a praeceptore acceperit copiosius dicta
et fusius, tum quae ipse sua opera apud magnos scriptores legerit, vel
«X aliis dicta observarit; et quemadmodum in hoc suo veluti calendario
fiedes et nidos habet quosdam, ita si velit singulorum nidorum notas
pinget sibi, quibus ea distinguet in scriptoribus, quae in quemque est
locum relaturus. ähnlich stud. puer. 1 (I 266 u. 268); 2 (I 272); intr.
sap. 6, 172 (I 14). Vives will überhaupt stud. puer. 2 (I 273): nee librum
ullum legas quin eadem excerpas, quae de sermone praeceptoris dixi . . .
in qua (lectione) tria sunt animadvertenda, verba, formulae loquendi
et sensa. ähnl. 1 (I 258). und das bei der massenhaften lectüre!
2'= *trad. disc. 2, 4 (VI 293): destinato iam litteris puero, ut pater
de filio spem debet optimam concipere, ita praeceptor de discipulo.
"ß s. anm. 151, 159, 199 u.a. stud. puer. 2 (I 271): semper (prae-
ceptoris dicta) cum dignitate in animum admitte et oraculi cuiusdam
vice habe.
^" stud. puer. 2 (I 270) : quum sapientia et virtus et scientia omnis
divinitus contingant, aequum est ut primus aditus ad haec omnia sit
per deum. mor. erud. 5, 1 (VI 419): itaque quoties ad Studium acce-
dimus, ab oratione auspicandum est . . ut sana sint nostra studia, ut
nemini noxia, ut nobis et omnibus in commune salutifera.
^'^ *8tud. puer. 2 (I 272): nee unquam ad audiendum institutorem
accedas, penna et charta inermis, ne quod praetervolet ... ä. ö.
136 F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik.
sie dürfen auf keinen fall den gegner verletzen , der eitelkeit Vor-
schub leisten oder der Wahrheit abbruch thun; sie sollen eine fried-
liche 'vergleichung der Studien' (collatio studiorum) sein.^'*
Schlusz.
§ 68. Vives berührt nicht blosz die eine oder andere Seite der
Pädagogik, wie manche erziehungsschriftsteller vor und zu seiner
zeit, sondern es läszt sich aus seinen schritten ein vollständiges
System derselben zusammenstellen, welches — besonders wenn mau
seine ansichten über bildung des weiblichen geschlechts einrechnet —
niemals vor ihm gleich erschöpfend dargestellt sein dürfte, obgleich
manche detaillierungen fehlen, seine theorien sind zwar oft ohne
bewusten Zusammenhang ausgesprochen, in anlehnung an man-
cherlei zwecke entwickelt und in vielerlei Schriften zum ausdrucke
gekommen, aber sie sind in consequenter weise aufgebaut auf der-
selben psychologischen und ethischen grundlage.
Sein ziel ist erreichung der himmlischen und irdischen bestim-
mung. darum ist der Schwerpunkt seiner pädagogik bildung zur
tugend und zur praktischen tüchtigkeit durch christliche erziehung
und vernünftigen Unterricht, was obigem ziele nicht dient, ist wert-
los; nichts wird lediglich des wissens wegen betrieben, harmonische
ausbildung an geist und körper, in theorie und praxis, in formalen
fähigkeiten und materialen kenntnissen wird auf dem wege zu diesem
ziele erreicht.
In seinen forderungen ist Vives ein groszer reformator der
pädagogik. seine Stellung in der geschichte derselben kann viel-
leicht durch eine kurze vergleichung mit den Scholastikern, den
humanisten, Luther und den 'neuerem' fixiert werden.
Er macht entschieden front gegen den scholastischen unter-
richtsbetrieb. statt des mittelalterlichen lateins soll das classische
eingeführt, zur grundlage des Sprachunterrichts eine reformierte
grammatik, zum centrum desselben die classikerlectüre gemacht
werden, hilfsmittel soll die gereinigte muttersprache sein, griechisch,
hebräisch, arabisch und die modernen sprachen werden facultative
Unterrichtsfächer, nicht logische kunststückchen, sondern Sachen
lerne der schüler, die nicht allein aus dem oft irrenden und oft
falsch verstandenen Aristoteles sondern auch aus den andern
classikern, vor allem aber aus der natur selbst zu schöpfen sind.
die artes sermonicales des triviums werden durchbrochen durch die
naturwissenschaft, das quadrivium wird erweitert durch geschichte,
vor allem culturgeschichte, und moralphilosophie. auszer der theo-
retischen bildung erhalten die schüler einen einblick in alle selten
"" häufig iu dieser abhandlung ausgesprochen, definiert wird die
disputation de disputatione (III 68): argumentorum ad aliquid proban-
dum, aut improbaudum , comparatio. über den charakter dieser coila-
tiones s. mor. erud. 5, 2 (VI 427). einige didaktische winke für den
schüler s. auszer in stud. puer. 1 u. 2 in intr. sap. 6, 140 f. (I 12 f.).
F. Euypers: Vives in seiner pädagogik. 137
des praktischen lebyns. die grenze zwischen lehrer und schüler wird
scharf gezogen , mit unbedingter superiorität des ersteren, die Über-
gangszeit zu einem praktischen berufe wird festgesetzt, die quali-
fication zu einem wissenschaftlichen musz durch examina erworben
werden, es beginnt eine eigne philosophische facultät sich zu ent-
wickeln; der Unterricht in den andern facultäten beginnt erst
mit dem 25n jähre, die besoldung der lehrer ist staatlich, die
schüler zahlen kein Schulgeld, der Unterricht wird geregelt durch
eine planmäszige methode, deren springende punkte berücksich-
tigung der Individualität, induction , zwanglosigkeit sind. — Ratio
vicit, vetustas cessit, des Ratichius stolzes motto, hätte fast hundert
jähre früher in etwas anderer auffassung Vives' werk de disciplinis
schmücken dürfen.
Vergleichen wir seine anschauungen mit denen, die im all-
gemeinen bei den humanisten galten, so möchten sie sich haupt-
sächlich in folgenden punkten unterscheiden: er behält ausdrücklich
seineu supranaturalismus bei und sieht, abgesehen von kirchlichen
misständen, nicht in der religiösen anschauung sondern nur in
Wissenschaft und Unterricht des mittelalters eine verirrung. darum
will auch er zwar an das classische altertum anknüpfen, aber es
sollen die christlichen lehren gewahrt, die alten als beiden gereinigt,
als forscher kritisiert, und die realen kenntnisse nicht blosz aus
ihnen, sondern zunächst aus der anschauung selbst entnommen
werden, und wie in realer, so geht er auch in verbaler hinsieht über
die alten hinaus: bei aller Verurteilung der barbarismen scheut er
sich nicht, auf grund des lateinischen und griechischen neubildung
von Wörtern vorzunehmen, um die spräche für den modernen ge-
brauch zu erweitern; denn in der allgemeinen Verwendbarkeit und
dem sachlichen Inhalte liegt der wert der classischen spräche , an
sich ist sie nicht mehr bildend als eine vulgäre, darum sind auch die
dichter von höchst zweifelhaftem werte, der damals den humanisten
beigelegte name 'poeten' passt für Vives nicht im geringsten, das
ziel der eloquenz erreicht er zwar, wie alle humanisten, auf dem
dornenvollen umwege der grammatik und der classikerlectüre, aber
dieser weg ist nicht der beste, sondern nur der durch die notlage
bedingte, wären die Römer und Griechen noch da, so wäre es dem
scbulgemäszen unterrichte bei weitem vorzuziehen, sich diese Völker
selbst zu lehrern zu nehmen, wie Vives es denn thatsächlich bei den
lebenden sprachen durchgeführt haben will.
Mit Luther teilt er die erkenntnis der Wichtigkeit der erziehung,
der bedeutung der familie für dieselbe, die forderung der staatlichen
Unterweisung armer kinder sowie überhaupt der staatlichen fürsorge
für die schule; den schulzwang hat er nirgends deutlich gewollt.
Mit den 'neuerem' stimmt er überein, wenn er erstens nach-
drücklich und wiederholt 'parallelismus' von sache und spräche
verlangt, zweitens den christlichen glauben, sitten und Selbständig-
keit der schüler durch die beiden nicht gefährdet und drittens die
138 F. Kuypers: Vives in seiner pädagogik.
realien eingeführt wissen will, für die erstgenannte forderung
liefert er indes keine praktischen hilfsmittel, die zweite weisz er mit
der classikerlectüre zu vereinigen, durch welche nur zum teil der
letzten genügt wird, es soll zwar eine neue grammatik aus den
Schriftstellern erst verfaszt werden , aber es lernt der schüler nicht
erst die spräche und dann die grammatik, auszer bei den lebenden
sprachen, das abgekürzte verfahren durch einen methodischen com-
pendienlehrgang kennt Vives nicht, die muttersprache , auf deren
reinhaltung mit fleisz zu sehen ist, ist hilfsmittel für den fremd-
sprachlichen Unterricht, aber nicht in dem sinne des Ratichius 'dasz
an ihr die grammatik zuerst eingeübt werden musz, darnach an den
fremden sprachen'.
Auf die frage nach Vives' einflusz auf die späteren pädagogen
kann ich hier nicht eingehen ; sie läszt sich nicht so leichthin beant-
worten , wie es manchmal geschehen ist. ich begnüge mich damit,
in vorliegender abhandlung den versuch zu einer brauchbaren grund-
lage gegeben zu haben, das urteil über Vives als pädagogen fasse
ich dahin zusammen: Vives nimmt in der geschichte der pädagogik
eine bedeutende Stellung ein; denn er liefert eine alle zweige der er-
ziehungswissenschaft umfassende pädagogik, die, aus einheitlichem
princip erwachsen, mit aller schärfe sich gegen das hergebrachte
wendet, die besten bestrebungen seiner zeit in sich vereinigt, un-
zweifelhaft der nächsten epoche vorarbeitet und keime fast aller
späteren entwicklung enthält, mögen auch seine vorschlage heute
zum groszen teile überholt sein — von manchen bleibt es zu be-
dauern, dasz sie in der jetzigen praxis keine oder nur geringe an-
wendung finden, was er wollte, erreichte in mehreren wichtigen
punkten zwar nicht die forderungen des nächsten Jahrhunderts, war
aber für seine zeit grosz und neu. nulla ars simul et inventa est et
absoluta . . patet omnibus veritas, nondum est occupata: multura
ex illa etiam futuris relictum est. caus. corr. praef. (VI 7).
Kiel. Franz Kuypers.
10.
HOMERISCHE KLEINIGKEITEN AUS DER SCHULPRAXIS.
(stumme handlung. Nausikaa. Antinoos. das weinen des Odysseus.
das Sirenenabenteuer, die heldentypen der unterweit: Agamemnon und
Achilleus. mutterliebe.)
Man kann den Homer nicht lesen, ohne immer wieder einzel-
heiten zu finden, welche bei geeigneter behandlung das Interesse
der schüler an der dichtung erhöhen und die gestalten des dichters
ihrem fühlen näher bringen können, wir glauben natürlich nicht,
dasz das, was wir hervorheben, aus einer absieht des dichters her-
vorgegangen ist; genie, persönlicher und volkscharakter trieben ihn
E. Rosenberg: Homerische kleinigkeiten aus der Schulpraxis, 139
zu einer darstellung, an der wir das uns bemerkenswert erscheinende
aussondern, es ist aber nur eine nachlese, die wir vornehmen, und
unzweifelhaft werden vielen die von uns noch gefundenen ähren
minderwertig erscheinen. — Gerade bei Homer kann man nicht oft
genug von 'stummer handlung' sprechen, wozu auch Cauer in seinem
schönen buch von der kunst des Übersetzens rät. aus seinen deutschen
classikerwerken ist der schüler gewöhnt, in den reden oder hinter
denselben erklärende bemerkungen wie: 'geht ab', 'leise', 'für sich'
u. dgl. zu lesen, im Homer müssen ihm ähnliche bemerkungen mit-
geteilt oder aus ihm entwickelt werden; sonst leidet sein fröhliches
interesse an der sich dramatisch entwickelnden handlung. nicht
immer freilich ist die 'stumme handlung' so notwendig und so deut-
lich zu constatieren, wie z. b. in der rede der Sibylle an den lebhaft
abwinkenden Charon bei Yergil VI 399 — 407, wo wir nicht blosz
die dem Südländer so eigentümliche lebhafte gesticulation bei dem
nullae und nee, nicht blosz die vorstellende handbewegung bei
Troius Aeneas, sondern auch eine immer heftiger ablehnende hal-
tung beim Charon anzunehmen haben, welche die Sibylle schliesz-
lich zu dem letzten mittel und zu den worten veranlaszt: si te nulla
movet tantae pietatis imago usw. der lehrer musz hier gerade so
regisseur sein, wie es der dichter ist mit den worten: aperit ramum,
qui ueste latebat, die er uns auch besser aus ramum hunc hätte er-
raten lassen sollen, es ist nun entschieden erspieszlich , eine solche
stumme handlung z. b. auch in der rede des Alkinous r) 309 ff. dort
anzunehmen, wo Alkinous fortfährt: deKOVia be c' Oii Tic epuHei.
Odysseus hatte sicherlich keine miene der freudigen Zustimmung
gezeigt, sondern erraten lassen, dasz er an solche plane nicht denke ;
darum folgt dann bei Alkinous die nochmalige Versicherung: ^f)
TOÖTO — YevoiTO, darum — wir würden empfinden, um die Ver-
legenheit nicht zu sehr zu zeigen — das sofortige genaue ein-
gehen in den plan der entsend ung. auch in der in ihrer schlichten
einfalt unübertrefflichen 6)ai\ia der Nausikaa mit Odysseus, an die
Horaz wohl gedacht haben kann, als er HI 9 die Lydia die aus-
drücke des liebenden Jünglings stets noch überbieten läszt, denke
ich mir das benehmen des Odysseus, der in des wortes bestem sinne
ein propositi tenax war, gern so, dasz ich ihn nach den alles zu-
sammenfassenden Worten: cu yotp }A eßiuucao, KOUpr) sich rasch und
energisch abwenden lasse, ein weiteres 'schmachtendes' hinblicken
würde beiden personen schaden bringen. Nausikaa ist durchaus
kein schüchternes mädchen, das sich verliebt hat; jenen frommen
Seelen gleich, die als kr an kenp fleger innen im dienste einer
höheren idee auf die im Verhältnis dazu kleinlichen rücksichten
ihres geschlechts nicht mehr acht geben und tbatkräftig, wo und
wie ihre hilfe nötig ist, eingreifen, hat sie sich dem unbekleideten
Odysseus genähert, und mit einer dankbaren erinnerung ist sie
zufrieden, nachdem sie gefühlt und gehört bat, dasz sich ihre
Sympathie mit dem stattlichen fremden nicht zu einem wärmeren
140 E. Eosenberg: Homerisclie kleinigkeiten aus des Schulpraxis.
gefühl steigern darf, sie ist eine das durchschnittsmasz der frauen
überragende erscheinung, welche Odysseus richtig charakterisiert:
ujc ouK av eXiTOio vedjxepov dvTidcavxa epHeiaev (r) 292). —
Für 'stumme handlung' verweise ich noch auf i 19. wie lange
läszt Odysseus sich bitten , ehe er seinen namen sagt ! welche vor-
rede! er beabsichtigt einen dramatischen effect. man male den
Schülern die Spannung aus, mit der die Phäaken an seinem munde
hängen, man erzähle von dem gedankenstrich hinter bdj)aaTa vaiuüv
und übersetze: ich bin dieser Odysseus, der Laertessohn, und man
behaupte kühn, dasz Odysseus die ausführliche beschreibung von
Ithaka gleich darauf folgen lasse, nicht, um seine heimatsliebe zu
zeigen, auch wohl nicht, um sich durch diese zu beglaubigen, son-
dern gewis mehr, umdiehochgehendebewegung, welche seine
Worte erregen musten, vorübergehen zu lassen, ehe er mit der
erzählung begann, (ich verweise beiläufig auf die erwiderung des
Odysseus auf die worte des Polyphem (i 259). die angst, das heraus-
poltern der worte, das den faden verlieren ist trefflich gemalt, die
Worte Xaoi b' 'Atpeibeo) 'AYCX)ae')avovoc verlangen eine kurze pause
vorher nach der unangenehmen beobachtung des Odysseus, dasz seine
früheren worte keinen eindruck beim Polyphem gemacht haben,
auch vor fi|ueic b' auie Kixavö)aevoi ist eine pause anzunehmen;
denn der zweite versuch , durch geschichtliche tbatsachen etwas zu
erreichen, hat noch mehr fehlgeschlagen.) — Auch kann man in den
personen dieses frischesten teils der dichtung eine feinheit der ge-
sinnung spüren, die noch heute entzückt, nachdem Athene den
Odysseus auf die hervorragende Stellung der Arete in dem haushält
des Alkinous zu seiner 'Information' hingewiesen, wie zart, ich
möchte fast sagen, 'galant' benimmt er sich dann gegen eie! bei
den abschiedsworten v 59 wünscht er ihr Wohlergehen, bis das
'alter' kommt und der tod. seinen einzigen speciellen toast
widmet er ihr, wie er sie auch um aufnähme gebeten hatte, nicht
den Alkinous. scheint es nicht, als ob die eigentliche herscheria
des landes Arete gewesen wäre, nicht Alkinous? die Phäaken
weichen ja auch sonst — nicht blosz in dieser groszen Verehrung
der frau, in ihren sitten von denen der Griechen ab. in der Ord-
nung bei der tafel, in der sie eSeir|C il6\xe\0i dem gesange des
Demodokus zuhören, in der betonung der freuden des gesanges, in
der kunst des tanzes, in der ängstlichkeit bei dem sausen des steines
zeigen sie die einÜüsse einer gröszeren cultur. so besitzt auch ihr
könig ein Zartgefühl, welches ihn uns liebenswert macht, er ist
es nicht, den vorzeitige neugierde treibt nach dem namen des fremd-
lings zu forschen; es ist die gattin, die aber für ihre neugierde
triftige, hausfrauenhafte gründe hat. er fragt selbst dann nicht, als
er den Odysseus weinen sieht, obwohl er als rücksichtsvoller vvirt
seinen gast stets im äuge hat; er sorgt für abwechslung in den be-
lustigungen, als er grund zu haben glaubte, anzunehmen, dasz der
gesang seinen gast aufrege; er ist ein zu geschickter wirt, als dasz
E. Rosenberg: Homerische kleinigkeiten aus der Schulpraxis. 141
er die kleine Verstimmung, die durch Euryalus in die Versammlung
gekommen war, nicht schnell durch einen neuen verschlag zurück-
zudämmen wüste, man beobachte auch^ wie Alkinous auch dem
neide, der sich etwa bei dem siege des Odysseus erheben könnte,
durch das starke lob entgegentritt, das er seinem volk in vauTiXir)
Kai TTOCCi Kai öpxriCTuT koi doibr) spendet — ein lob, welches
Odysseus ebenso schlau und ebenso darauf bedacht, durch sein lob
eine entstehende neidische regung zu unterdrücken, mit klugen
Worten bestätigt, erst als Odysseus gewissermaszen selbst durch
sein weinen und sein tiefes aufseufzen dem wirte nahe legt, nach
dem gründe zu fragen — erst da entschlieszt sich der taktvolle
herscher zu der bedeutsamen frage, von der er abstand genommen,
da er aus der antwort des fremden an die Arete gemerkt hatte, dasz
derselbe seinen namen zu verbergen suche — und wie entschuldigend
selbst da noch, wenn alles echt ist, was wir in der rede lesen! frei-
lich will mir das mittel, welches der dichter anwendet, um die er-
kennung hinauszuziehen und herbeizuführen, etwas plump er-
scheinen, wenn Alkinous die frage that, als Odysseus zuerst weinte,
weil Demodokus unvermutet eine saite seines inneren berührt hatte,
die solche töne von sich gab — dann war alles in Ordnung; nach-
dem aber Odysseus selbst den sänger ermuntert und ihm das
thema genannt hat, konnte Odysseus nicht mehr so schluchzen und
weinen, ohne sich bewust zu sein, dasz er dadurch die ent-
scheidung herbeiführen müsse, das zweite weinen also ist ein be-
rechnetes, absichtliches, das weinen ist hier nicht lediglich mehr ge-
fühlsausdruck, ein 'bühnenmittel' äuszerlicher art. hierin
erscheint mir die composition ebenso wenig zu billigen , wie darin,
dasz der dichter die scene mit den Sirenen hinter die in der unter-
weit — ich gehe immer von der echtheit des ganzen aus — hat
legen wollen, was für einen anreiz konnte es vernünftigerweise für
Odysseus haben, wenn die Sirenen |ui 189 versprechen: ib)uev T^P
TOi irdvG' öc' evi Tpoir) eupeir) usw., nachdem er eben erst die
helden persönlich begrüszt hatte! aber wie reizend naiv ist es weiter
-vom dichter, dasz er seinen helden, den, der allem bisher wider-
standen, wirklich binden und äuszerlich in eine läge bringen
läszt, die ihm nicht gelegenheit gibt, seine Selbstüberwindung zu
zeigen, ja, dasz er seinen helden nach unserem fühlen erniedrigt,
indem dieser in der that seine genossen auffordert, ihn loszubinden,
das ist ähnlich kindlich , als wenn er von dem gesang der Circo be-
wundernd sagt: bdnebov b' ccirav d)acpijue)iUKe, als wenn die macht
der stimme das einzig in frage kommende sei. warum aber läszt der
dichter den Odysseus die Sirenen überhaupt hören, während wachs
ihm, wie den andern, über die gefahr hinweghelfen konnte? grosze
männer müssen alles kennen lernen, um es besser beurteilen können;
ein Odysseus hörte thatsächlich in sich die Sirenentöue häufiger und
deutlicher als seine genossen; das nichthören auf solche lockungen
ist bedeutenden männern schwerer gemacht als der menge.
142 E. Rosenberg: Homerische kleinigkeiten aus der Schulpraxis.
Aber es ist erfreulicher, Homer zu loben als zu erklären, dasz
man etwas in ihm nicht zu billigen wisse, und so will ich noch auf
einzelnes aufmerksam machen, das leicht übersehen wird, in den
beiden, welche dem Odjsseus in der unterweit nahen, sind gewisse
typen charakterisiert, da ist zunächst Agamemnon, warum ist
YUVaiKÜJv das letzte in der anrede des Odysseus an ihn? weil
Odysseus weisz, welche rolle die frauen im leben des unglücklichen,
gespielt haben, darum antwortet auch Agamemnon mit der Ver-
urteilung des weibes X 428: d)c ouk aivötepov Km Kuvxepov ctXXa
YuvaiKÖc. noch einmal wiederholt Odysseus, welche schlimme rolle
die frau in dem leben der Atriden gespielt hat. Agamemnon kommt
ihm wie ein buszopfer für alle die armen vor, die um der Helena
willen den Untergang gefunden. Agamemnon antwortet wieder
mit wenig schmeichelhaften bemerkungen über die frau , die nur in
bezug auf die Penelope eine einschränkung erfahren, die rede ist
aber durch die innigkeit des gefühls, mit der der heerführev das glück-
liche Verhältnis zwischen vater und söhn schildert, ausgezeichnet;
wir sehen : er ist als ein weichherziger, den frauen allzu ergebener
mensch geschildert, ein mann, wie er der natur des Odysseus nicht
sehr sympathisch ist; weswegen er denn auch das gespräch etwas
rauh mit den worten: kokÖv b' dve)HiJuXia ßdZieiV abbricht, vielleicht
auch gereizt durch das mistrauen, das sich so natürlich in der brüst
des Agamemnon selbst gegen eine Penelope regte. Odysseus hatte
ja keine Kassandra weggeführt und keiner Kalypso oder Circe sein
herz gegeben. — Welch andere saiten werden bei der Zusammen-
kunft mit Achilles berührt! das ist ein schwerblütiger, alles tief
und schwarz auffassender Charakter auch in der unterweit, schon in
der anrede an Odysseus am schlusz das tieftraurige: ei'biuXa Ktt-
fiövTUJv! sein sorgen geht um den söhn, nicht ob er lebt, sondern
ob er ein krieger geworden, um den vater, nicht ob er am leben, son-
dern ob er noch in der gebührenden TipLX] ist. und als er des ruhmes
seines sohnes so viel gehört, verliert er keine worte weiter, sondern
geht lyuxr) jaaKpd ßißdca, der vater eines beiden und selbst
ein held, über die asphodeloswiese. wie anders ist dieser rauhe,
unerbittliche heldencharakter als sein einstiger gegner auf erden ge-
schildert! — Ich übergehe die episode mit Aias, obwohl auch sie
den Charakter desselben gut festhält, und alle die folgenden, die an
frische weit den vorher besprochenen nachstehen, und erwähne nur
noch aus dem beginn der veKUia v. 153: auTiKtt b' Itvuj, wo das
auTiKtt so recht bezeichnend ist für die mütterliche, die das kind
sofort erkennt; war doch die mütterliche die Ursache des todes der
Antikleia gewesen, wie sie das dann selbst in einer schön disponierten
rede ausführt, in der sie die schi'eckliche erklärung ihres todes als
das ihr unangenehmste bis zuletzt aufspart.
Hirschberg. Emil RosENBERa.
P. Vogel: drei hilfsbücher für den deutschen Sprachunterricht. 143
11.
DREI HILFSBÜCHER FÜR DEN DEUTSCHEN SPRACH-
UNTERRICHT DER OBER- (UND MITTEL-)CLASSEN, BE-
SONDERS DER OBERSECUNDA.
Die zweite hälfte unseres Jahrhunderts, besonders die letzten
beiden Jahrzehnte sind so überaus fruchtbar gewesen an büchern,
Monographien , aufsätzen in Zeitschriften usw. , die sich mit germa-
nistik und dem deutschen Unterricht beschäftigen, dasz es dem
gymnasiallehrer, zumal wenn er nicht germanist von fach ist, bereits
unmöglich geworden ist, alle einzelerscheinungen zu verfolgen und
sich das für ihn wissenswerte und für den deutschen Unterricht ver-
wertbare daraus anzueignen, um so willkommener sind deshalb für
den lehrer des deutschen gerade in jetziger zeit bücher, welche ihm
— dank der belesenheit und dem fleisze des betreffenden Ver-
fassers — die lectüre einer groszen anzahl von Schriften ganz er-
sparen, anderseits ihm kenntnis geben, w o er im bedürfnisfalle über
eine einzelne frage sich genauere auskunft zu holen hat. der unzweifel-
hafte, wenn auch zunächst vorwiegend praktische wert eines solchen
buches wird noch bedeutend gehoben, wenn nicht nur unter einem
geschickt gewählten einheitlichen gesichtspunkt Zusammenstellungen
und auszüge aus der überreichen litteratur geboten werden, sondern
zugleich eine selbständige wissenschaftliche behandlung und eigen-
artige, neue auffassungen zu finden sind.
Alle diese Vorzüge sind in hervorragendem masze eigen dem
buche von
0. Weise, unsere Müttersprache, ihr werden und ihr wesen.
ZWEITE AUFLAGE.' Leipzig, B. G. Teubuer. 1896.
Der Verfasser beabsichtigt', sein thema 'auf wissenschaftlicher
grundlage, aber allgemein verständlich und anregend zu behandeln';
er bezweckt, 'die noch vielfach verbreitete äuszerliche auffassung
vom Wesen der spräche zu bekämpfen, sonach über die Ursachen
des Sprachlebens aufzuklären und die entwicklung der ein-
zelnen Spracherscheinungen zu verfolgen', von den entsprechen-
den Schriften Schleichers- und Behaghels unterscheidet sich Weises
büchlein hauptsächlich dadurch, dasz es 'die spräche mehr im zu-
sammenhange mit dem Volkstum zu betrachten sucht und mit
gröszerem nachdrucke die bedeutung der Wörter betont'.
Hiermit sind die günstigsten Vorbedingungen geboten für ein
hervorragend wertvolles hilfsbueh für jeden lehrer des deutschen,
^ die erste aufläge war binnen fünf monaten vergriffen.
* A. Schleicher, die deutsche spräche, 5e aufläge, Stuttgart 1888.
Behaghel, die deutsche spräche, Leipzig und Prag 1886.
144 P.Vogel: drei hilfsbücher für den deutschen sprachunterricM.
besonders für den der obersecunda, da diesem ja ein 'überblick über
die entwicklung der deutschen spräche' durch die neue lehrordnung
für die sächsischen gymnasien von 1893 ausdrücklich vorgeschrieben
ist. eine Übersicht des Inhalts wird dies durchaus bestätigen:
A. geschichte der deutschen spräche; B. das wesen der neuhoch-
deutschen spräche: 1) deutsche spräche und deutsche volksart',
2) spräche Norddeutschlands und Süddeutschlands, 3) unterschiede
zwischen mundart und Schriftsprache, 4) altdeutsche gesittuug im
Spiegel des Wortschatzes , 5) entwicklung des stils und der cultur,
6) gesetze des lautwandels, 7) gesetze der wortbiegung, 8) Wort-
bildung der deutschen spräche, 9) geschichte der fremdwörter,
10) reichtum des heimischen Wortschatzes, 11) natürliches und
grammatisches geschlecht, 12) bedeutungswandel der deutschen
spräche, 13) lehre vom Satzgefüge.
Die ausführung der einzelnen capitel ist eine treffliche zu
nennen : sie sind alle reichhaltig — und zwar nicht nur dank den
zahlreichen (in den anmerkungen genannten) quellen — , vielseitig
und in verschiedenster hinsieht anregend; als besonders gelungen
erscheinen dem unterzeichneten 1 — 4. 8 — 10. 12. die darstellung ist
anziehend und geistvoll, dabei allgemeinverständlich, um letzteres
zu erreichen, werden fremdwörter, besonders also alle grammatischen
kunstausdrücke vermieden (nur s. 243 steht versehentlich 'aus abs-
tracten zu collectiven werden'); ferner werden zwar allenthalben
viele beispiele gebracht, nirgends aber die leser durch übermäszig
zahlreiche ermüdet: weitere beispiele sind ja vorkommenden falls
leicht zu beschaffen; auch werden die beispiele, soweit die deutschen
sprachen nicht ausreichen , vorwiegend aus den bekannteren , wenn
möglich aus den neueren sprachen genommen , so aus dem lateini-
schen, französischen und englischen, auch aus dem italienischen und
spanischen, sehr selten tritt griechisch (natürlich in lateinischen
lettern), angelsächsisch, altslovenisch usw. auf. besonders aber ist
es bezeichnend für Weises bestreben, einem weiteren leserkreise zu
dienen, dasz er wenigstens im texte fast durchgängig (ausnähme:
s. 11) vermeidet, widersprechende ansichten von verschiedenen ge-
lehrten zu nennen oder sich mit ihnen auseinanderzusetzen, er zieht
es vor, eine ansieht schlechthin und bestimmt vorzutragen, auf die
gefahr hin, hie und da auf Widerspruch zu stoszen: wenn er z. b.
behauptet (s. 61 f.), dasz in Süddeutschland mehr als im norden die
Vorbedingungen zu einer glücklichen entfaltung der künste vor-
handen seien, ersteres daher wie geschaffen wäre, auf dem gebiete
des schönen die führung in Deutschland zu übernehmen, und wenn
er dies u. a. dadurch belegt, dasz Bayern seit langer zeit ein wich-
tiger sitz der maierei und bildenden künste sei, so würde im gegen-
satz dazu mit recht auf das niederrheinische Düsseldorf hingewiesen
^ mit feinsinniger gegenüberstellung von romanischer spräche und
volksart!
P. Vogel: drei liilfsbücber für den deutsclien Sprachunterricht. 145
werden, und die niederländische maierei bekundet zur genüge, dasz
der Süden vor dem norden, das hochland vor dem tiefland in dieser
hinsieht keinen durchgehenden vorzug besitzt, bei der weiteren
behandlung der verschiedenen beanlagung von Ober- und Nieder-
deutschen sagt Weise u. a. , hier sei mehr das Vaterland , dort mehr
natur und minne besungen worden, 'die dorfgeschichten und volks-
stücke sind vom Schwarzwald (Auerbach), vom Berner land (Jeremias
Gotthelf) und von Österreich (Anzengruber) ausgegangen': gegen
letztere behauptung ist geltend zu machen , dasz Immermanns (geb.
in Magdeburg, gest. in Düsseldorf) Münchhausen die erste moderne
dorfgeschichte ist und dasz Fritz Eeuters plattdeutsche dorf- und
Volkserzählungen den eindruck vollster Originalität machen, min-
destens aber die fähigkeit des Niederdeutschen auf diesem gebiete
als der des Süddeutschen ebenbürtig erscheinen lassen.
Alles in allem ist Weises Schrift nach Inhalt und form derart,
dasz jeder gebildete Deutsche sie lesen kann und mit groszem
nutzen und interesse lesen wird, jeder gymnasiast müste im laufe
der Schulzeit — ganz besonders in den secunden und primen — von
all dem erfahren, was das buch vorführt, teils in extenso, teils dasz
er wenigstens einen begriff davon erhält; die beschränkte zeit wird
ein zuviel unmöglich machen, der eine lehrer wird dies, der andere
jenes mehr in den Vordergrund stellen zu müssen glauben; in keinem
falle hält ref. die auf solche besprechungen verwandte zeit für ver-
loren. — Sicher werden die meisten lehrer — so ist es wenigstens
dem unterzeichneten gegangen — durch die beschäftigung mit dem
buche angeregt, ihren schülern noch manches zu bieten, worauf sie
bisher nicht verfallen sind; auch ist der stoff so reichhaltig und
manigfaltig, dasz man nicht darauf angewiesen ist, gerade das oder
jene capitel des Werkes im unterrichte zu behandeln, sondern man
fühlt sich auch veranlaszt, aus den verschiedensten teilen des buches
sich Zusammenstellungen nach irgend welchen andern, für den Unter-
richt besonders verwertbaren gesichtspunkten zu machen, z. b. die
Wirkung der angleichung auf die entwicklung der deutschen spräche
(stoff besonders in cap. 3. 6. 7. 8. 11. 12), das neuhochdeutsche in
seinem Verhältnis zum mittelhochdeutschen (besonders nach 5. 6. 7.
8. 10. 11. 12. 13), desgleichen das mittelhochdeutsche in seinem
Verhältnis zum althochdeutschen u. a. m.
Zum schlusz einige bedenken und änderungsvorschläge. wenn
verf. als Inhalt von B angibt Svesen der neuhochdeutschen spräche',
so bietet er in den zugehörigen capiteln wesentlich mehr, insofern
er durchgängig die älteren sprachstufen heranzieht und daraus den
jetzigen sprachstand herleitet; es würde demnach Sverden und
wesen . . .' einzusetzen sein. — B 1 und B 4 berühren sich gegen-
seitig, greifen auch in Weises darstellung thatsächlich mehrfach in
einander über, so dasz sie besser in einem capitel oder in zwei
aufeinanderfolgenden capiteln zu behandeln sein dürften, ebenso
fällt aus B 5 manches unter A. — In B 3 wäre noch mehr hervor-
N. Jahrb. f. phil. u. päd. II. abt. 1897 hft. 3. 10
146 P.Vogel: drei hilfsbücher für den deutseben Sprachunterricht.
zuheben oder auszuführen, dasz die mundart die eigentliche spräche
darstellt, dasz sie gegebenen falls maszgebender sein musz als die
grammatische theorie der sprachgelehrten ; im Zusammenhang hier-
mit würde zu entwickeln sein, einen wie auffälligen instinct für die
Sprachgesetze die Volkssprache zeigt, das in so warmem, ansprechen-
dem tone geschriebene capitel würde nur gewinnen, wenn noch mehr
diese praktischen consequenzen gezogen würden, die doch dem Stand-
punkte Weises zu entsprechen scheinen, insofern derselbe in seiner
Schrift einer dictatur der theorie offenbar nicht das wort redet. * —
S. 149 spricht verf. vom Übergang der schwachen biegung in
die starke; in demselben abschnitt erwähnt er Zeitwörter, bei
denen sich schwache und starke formen noch um die herschaft
streiten: wenn er nun da als beispiel neben fragte : frug auch
melkte : molk nennt, so musz der leser nach dem Zusammenhang
annehmen, dasz letzteres ursprünglich schwach flectiert ge-
wesen sei. und wenn fortgefahren wird: 'bei triefen, sprieszen,
sieden, stieben, saugen hat sich die schwache form erfolgreich
neben die starke gesetzt', so ist dieser satz schon seiner fassung
nach in den vorhergehenden abschnitt zu verweisen, wo der Über-
gang der starken biegung in die schwache behandelt wird. —
S. 157 wird behauptet, die altüberlieferte Ungleichheit des stamm-
vocals in der 2n und 3n pers. sing, ind, praes. sei im neuhoch-
deutschen groszenteils beseitigt; es werden nur angeführt: er
melkt, webt, pflegt, bewegt, und sind nicht viel (er hebt, schert)
weitere beispiele vorhanden, wohl aber massenhafte für die
noch fortbestehende Ungleichheit nach dem muster von nehme,
nimmst, gebe, gibst, werfe, wirfst. ' — Schlieszlich einige kleinig-
keiten: s. 7 wird das lehnwort opfern von operari abgeleitet; die
Wörterbücher von Grimm, Heyne, Kluge führen es übereinstimmend
auf oflferre zurück." — S. 41 'die Deutschen vernachlässigen oft auf
kosten des inhalts die form': soll wohl heiszen zu gunsten, wie
4 um 80 auffälliger erscheint, dasz er sich s. 174 mit Trautmann
über die 's-seuclie' (d.h. das -s- der wortfuge bei weiblichen haupt-
wörtern wie hilfslehrer) aufregt; besonders auffällig, weil s. 252 die
nach analogie von echt genitivischen adverbien wie anfangs, rings,
mittels, teils u. a. gebildeten, theoretisch unrichtigen formen links,
rechts, bereits, vormittags, jählings, hinterrücks, vor alters, jenseits,
allerdings ruhig hingenommen werden.
' altüberliefert ist übrigens nicht die Ungleichheit der 2n und
3n pers., sondern ahd. und mhd. hat der ganze Singular i (iu) im
gegensatz zu e (io, ie) des plurals; nhd. ist dann der stammvocal der
In pers. dem des plurals angeglichen worden, wohl weil es die in der
2n und 3n pers. umlautenden verba (trage, trägst, trägt) nahe legten,
gerade diese beiden formen absonderlich zu vocalisieren.
^ es wäre auch auffällig, wenn opfern noch die hochdeutsche laut-
verschiebung aufwiese, während andere auch für christliche zwecke,
also wohl zu gleicher zeit aufgenommene worte (poena: pein; prae-
dicare; predigen; damnare: verdammen) derselben nicht mehr unter-
zogen sind.
P. Vogel : drei hilfsbücher für den deutscheu Sprachunterricht. 147
der schlusz des § 36 zeigt. — S. 155 anm. 1 wird behauptet, Weih-
nachten und Ostern, ursprünglich dat. plur., bildeten den genitiv
mit -s- wie singularia!? — S. 166 werden von worten auf -de nur
vier als Schriftdeutsch noch gebräuchlich bezeichnet: gebärde, ge-
meinde, beschwerde, zierde; Grimm nennt noch: freude, (be)gierde,
behörde, (liebde in titulaturen). — S. 221 wird als beweis dafür,
dasz mittwoch sich dem geschlecht der übrigen Wochentage fügt,
mittwochs angeführt: derartige analogiebildungen finden sich
aber auch anderwärts häufig (s. anm. 4 a. e.) , ohne dasz deswegen
ein Übergang des geschlechts anzunehmen wäre, auf derselben seite
ist aetas statt aestas gedruckt. — S. 238 'manchmal erscheint das
einfache wort vornehmer (ar neben adler), manchmal wieder die
Zusammensetzung (marstall, aber mähre).' hier ist doch nicht das
zusammengesetzte wort als solches vornehmer, sondern es hat sich
nur in der Zusammensetzung die alte, vornehmere bedeutung von
mähre erhalten (s. Weise 209 : Widerstandskraft der Wörter in ge-
wissen Verbindungen).
Aber selbst wenn alle die geäuszerten bedenken für beachtlich
befunden werden sollten, würde dadurch der vorher gerühmte hohe
wert des buches durchaus nicht beeinträchtigt werden; verf. folgt
nur seiner innersten Überzeugung , wenn er die schrift zum Schlüsse
nochmals allen lesern, insbesondere allen fachgenossen aufs wärmste
empfiehlt, die Teubnersche Verlagsbuchhandlung hat das werk in
bezug auf druck und papier so vorzüglich ausgestattet und liefert
es in einem so geschmackvollen modeeinband, dasz es sich auch zu
geschenken oder als kleinere bücherprämie bestens eignet.
F. Kaufmann, kurzgefaszte laut- und Formenlehre des goti-
schen, ALT-, MITTEL- UND NEUHOCHDEUTSCHEN. ZWEITE AUF-
LAGE. Marburg, N. G. Elwert. 1895.
Das buch ist zunächst für candidaten des höheren schulamts
berechnet, welche Vorlesungen über deutsche grammatik oder ein-
zelne Sprachperioden gehört haben und als eine art repetitorium
das hauptsächlichste in stichworten beisammen zu finden wünschen,
mindestens ebenso wertvoll ist es aber sicherlich für lehr er des
deutschen, die häufig — zumal beim Unterricht der obersecunda
— in die läge kommen, sich über einzelheiten der flexion der älteren
sprachstufen oder der lautlehre auskunft holen zu müssen, und es
ist gerade dieses buch für den gymnasialunterricht, der ja vor-
wiegend die entwicklung der deutschen spräche darzustellen hat,
besonders geeignet , weil es das gotische und die sprachen der drei
hochdeutschen Sprachperioden durchaus parallel und in rücksicht
auf ihre wechselseitigen beziehungen behandelt; im zweiten ab-
schnitt (formenlehre) sind die paradigmata, ebenso pronomina
und Zahlwörter sämtlich auch parallel gedruckt und bieten so auf
den ersten blick ein bild des werdens der spräche, die im ersten
10*
148 P.Vogel: drei hilfsbücher für den deutschen sprachunterriclit.
abschnitt (§ 12 — 45) behandelte lautlehre geht natürlich beson-
ders weit über das hinaus, was je auf dem gymnasium zu behandeln
ist, indem — entspi'echend dem ursprünglichen zweck der gram-
matik — streng wissenschaftlich und eingehend die gotischen, alt-,
mittel- und neuhochdeutschen vocale, dann desgleichen die con-
sonanten behandelt werden, bei der überaus übersichtlichen und
klaren darstellung aber bietet trotzdem auch dieser teil ein vor-
zügliches hilfsmittel zu schneller information für den lehrer. in
§ 6 — 11 wird eine Vorgeschichte der deutschen spräche
geboten: § 6 lautstand der indogermanischen grundsprache, § 7
urgermanischer vocalismus, § 8 ablautsreihen , § 9 urgermanischer
consonantismus, § 10 urgermanischer lautstand, § 11 die schrift;
in der einleitung wird behandelt: § 1 der indogermanische
sprachstamra , § 2 die gliederung der germanischen sprachen , § 3
die Perioden des hochdeutschen , § 4 die hochdeutschen mundarten,
§ 5 die quellen.
Es ist ohne weiteres ersichtlich, dasz hier in engem rahmen
(108 Seiten) und für geringes geld ungewöhnlich viel stoflf geboten
wird; fügt ref. noch hinzu, dasz er das buch nach inhalt und form
für nahezu'' einwandfrei hält, so wird man verstehen, wenn er es
den beteiligten kreisen als treffliches hilfsbuch bezeichnet.
H. Paul,, DEUTSCHES WÖRTERBUCH. Halle, Max Niemeyer. 1896.
Das Grimmsche Wörterbuch öfter und gern zu benutzen ver-
hindert die wegen der groszen zahl der bände schwierige hand-
habung und die unübersichtliche länge vieler artikel; auch findet es
sich in anbetracht des hohen preises fast nie in Privatbesitz, ähn-
lich steht es mit dem billigeren und kürzer gefaszten, immerhin aber
noch voluminösen lexikon von Heyne, um so verdienstlicher ist da-
her die herausgäbe des — nur 6inen, mäszig starken band ausmachen-
den — Wörterbuchs von Hermann Paul, der preis ist auch für den
notleidenden gymnasiallehrer erschwinglich, der inhalt genügt für
schulzwecke vollständig, wohl auch in den meisten fällen darüber
hinaus, es sei denn, dasz es sich um eingehende sprachwissenschaft-
liche Studien handelte, — und so dürfte das buch binnen kurzem wie
Georges zum eisernen bestand der privatbibliotheken von gymnasial-
lehrern gehören.
Die verkürzte fassung hat Paul dadurch ermöglicht, dasz er auf
absolute Vollständigkeit verzichtet, fremdwörter sind grundsätzlich
ausgeschieden, aber auch die deutschen werden nur insoweit auf-
' erwünscht wären vielleicht einige praktische winke über die aus-
spräche einzelner laute und lautzeichen in der älteren spräche, und
betreffs der anordnung wäre zu raten, etwa § 53. 54 unter der chiffre C,
§ 55 — 58 unter D zusammenzufassen, weil in der jetzigen form § 53 — 58
— also z. b. Zahlwörter, pronomina — unter B (schwache declination)
subsumiert erscheinen.
P. Vogel: drei büfsbücher für deu deutseben spracb unterriebt. 149
geführt, als sie wirklich der erklärung bedürfen, und bei den auf-
geführten wiederum nicht alle bedeutungen und erklärungen ge-
bracht, sondern es wird unter weglassung des allgemein bekannten
und verständlichen nur das geboten, worüber aufschlusz zu erhalten
wirklich bedürfnis vorliegt, fremde sprachen* werden nur in aus-
nahmefällen, z. b. bei lehnworten herangezogen, alt- und mittelhoch-
deutsch natürlich sehr oft, aber auch nicht regelmäszig, sondern nur,
wenn es für das Verständnis sprachlicher erscheinungen und ab-
weichungen erforderlich scheint.
Besonderer wert wird gelegt auf die landschaftlichen Ver-
schiedenheiten, auf die abweichungen der heutigen spräche von der
der classiker des vorigen Jahrhunderts und Luthers, sowie auf das
Verhältnis der verschiedenen gebrauchsweisen der Wörter, auf die
bedeutungsentwicklung und auf erklärung des vex'dunkelten sinnes
herkömmlicher redeweisen, alles gesichtspunkte, die das werk gerade
dem praktischen schulmann dringend empfehlen. — Es ist hierbei —
in ansehung des vorwiegend wissenschaftlichen Zweckes des lexikons
— rühmend hervorzuheben, dasz schwankende und unsichere erklä-
rungen als solche stets ausdrücklich bezeichnet, öfters auch Varianten
mitgeteilt werden.
Beim genauen lesen einer gröszeren anzahl von Stichproben hat
ref. die genannten, mehr in der anläge des buches im groszen und
ganzen beruhenden Vorzüge noch ergänzt gefunden durch gediegen-
heit der ausarbeitung im einzelnen, nur der gewissenhaftigkeit
halber werden einige zweifei und wünsche geäuszert: bieder mann
scheint dem unterzeichneten nicht durch assimilation aus biderb-
mann entstanden zu sein, sondern durch abschleifung des b, die
sich auch beim simplex biderbe : bider bereits im lön Jahrhundert
findet. — Unter ^blaustrumpf dürfte noch die entstehung dieses
Spottnamens zu erklären sein. — burschikos soll scherzhaft mit
griechischer endung gebildet sein: es lehnt sich doch aber wohl
eher an das lateinische belli cosus, als an TroXe|uiKU)C an. — Gibt
es gar keine erklärung für den gebrauch von ente = erfundene
nachricht? — fetzel s. fötzel: letzterer artikel fehlt, — fistel:
1) eine art geschwür: richtiger 'geschwür mit eiterndem gang',
denn nur so wird der Zusammenhang mit der grundbedeutung klar.
^ sogar das gotische wird vermieden z. b. unter 'bände' das got.
bandwa nicht genannt, sondern nur umschreibend angedeutet.
SCHNEEBERÜ. PäUL VoGEL.
1 50 K. Landmann : deutsche Schulausgaben von H. Schiller u. V. Valentin.
12.
DEUTSCHE SCHULAUSGABEN VON H. SCHILLER UND
V. VALENTIN.'
Als sich referent vor zwei jähren mit einer bücherbesprechung
unter obigem titel an die redaction der Jahrbücher wandte, da
war es allerdings zunächst das stoflfliche interesse für die beiden
Goltherschen Schriften (nr. I und II der Sammlung) , was ihn dazu
bestimmte, zugleich aber auch die erinnerung an das unlängst von
Curt Hentschel gehaltene gericht ^über Schulausgaben deutscher
classiker'^ sowie die hoffnung, dasz die Ehlermannsche Sammlung
den dort erhobenen, zum grösten teile vollberechtigten vorwürfen
mit gutem erfolge begegnen würde, gleichwohl glaubte er dem
neuen unternehmen besser durch sachliche darlegung der Vorzüge
jeder einzelnen nummer dienen zu können als durch einen kämpf,
zu dem ihn weder neigung noch besondere qualitäten als vorfechter
beriefen, dasz er aber bei aller anerkennung der Verdienste dieser
Sammlung gegen vereinzelt hervortretende mängel seine äugen nicht
verschlossen hielt, glaubt er in den beiden vorausgegangenen Über-
sichten zur genüge gezeigt zu haben, und so gestattet er sich denn,
die Sammlung noch einmal — bis zum vollen zweiten dutzend —
in geschlossener colonne aufzuführen, indem er sich vorbehält, die
weiter folgenden erscheinungen , die genehmigung der verehrten
redaction vorausgesetzt, je nach lust und laune zu behandeln, die
vorliegenden nummern (19—24, nur 21/22 als doppelnummer) sind:
19) DIE DICHTUNG DER BEFREIUNGSKRIEGE (aUSWAHl). HERAUS-
GEGEBEN VON DR. Julius Ziehen, Oberlehrer am goethe-
GYMNASIUM ZU FRANKFURT A. M.
Zu den dichtem der befreiungskriege pflegen wir um so lieber
zurückzugreifen, als die kriegspoesie der jähre 1870/1 fast durch-
weg die tiefen herzenstöne vermissen läszt, die aus jenen in liebe
und hasz so heimatlich zu uns herüberklingen, und so kann denn
eine auswahl in den 'deutschen Schulausgaben' nur willkommen ge-
heiszen werden, selbst wenn sie nur dazu dienen sollte, die geschichte
der befreiungskriege zu illustrieren. — Die einleitung (s. 1 — 4)
gibt eine allgemeine Charakteristik der verschiedenen richtungen, in
denen die patriotische dichtung in den jähren der tiefsten schmach
und höchsten erhebung Deutschlands sich bewegt, die auswahl
selbst ist so getroffen, dasz unter I — IV (s. 5 — 83) die vier dichter
der befreiungskriege im eigentlichen sinne des wortes: Arndt,
Schenkendorf, Rückert und Körner zur darstellung gelangen, unter
V (83 — 88) befreiungslieder von dichtem anderer dichterkreise
1 vgl. neue Jahrbücher f. phil. u. päd. II abt. 1896 hft. 3 u. 4.
2 vgl. zeitschr. f. d. deutschen Unterricht, VIII 22—40.
K.Landruann: deutsche Schulausgaben von H.Schiller u.V. Valentin. 151
(ühland, Brentano, Fouqu6, Seume und Stägemann, von den vier
letzten je eins) mitgeteilt werden, auf die frage, ob nicht eins oder
das andere der hier vorgeführten gedichte hätte weggelassen oder
durch ein anderes ersetzt werden können, wollen wir nicht ein-
gehen, da hier zumeist das subjective ermessen entscheidet, wie
denn z. b. referent anstatt der gespreizten staatsratsdichtung nr. 60
das aller weit bekannte, aber kaum als befreiungssang erkannte
abschiedslied der freiwilligen Jäger Ver hat dich, du schöner wald',
von dem Lützower J. v. Eichendorff gewählt haben würde.' — Die
sachlichen und die zeitbeziehungen der einzelnen gedichte sind durch
vorausgehende bemerkungen genügend klargestellt, vermiszt habe
ich dagegen zu nr. 38 (die Straszburger tanne) die bemerkung, dasz
das fällen einer alten tanne im Straszburger bergforst am pfingst-
montag 1817 für Rückert die veranlassung zu dem gedichte ab-
gab^, eine Zeitbestimmung, die dann freilich auch die aufnähme von
ühlands machtvollem liede 'am 18 october 1816' gefordert haben
würde. — Das titelbild , Rauchs grabdenkmal der königin Luise in
Charlottenburg, gereicht dem büchlein zu besondei-er zierde. die
nichtbeachtung der einheitlichen rechtschreibung bei einzelnen
Wörtern dagegen, wie s. 86 ('heerd', neben 'vogelherd', 'herden'
s. 42), sowie die falsche Stellung zweier Wörter auf s. 83 (nr. 53,
str. 5 'ich bin' statt 'bin ich') sind kleine versehen, die mit einer
levissima nota erledigt sein mögen.
20) die braut von messina oder die feindlichen brüder von
Friedrich von Schiller, herausgegeben von dr. Veit
Valentin, Professor an dem Realgymnasium wöhler-
SCHÜLE zu FRANKFURT A. M.
'Wie es Schiller verstanden hat, in der braut von Messina den
antiken geist neu zu beleben und einen zweiten Oedipus zu schaffen,
das wird immer wieder unsere bewunderung erwecken.' soK. Heine-
mann, Goethe II 198. und wenn auch, wie der verfasset dort weiter
ausführt, die deutsche bühne über das drama als den gipfel der
antikisierenden richtung hinweggeschritten ist, so hat die deutsche
schule es doch um so treuer festgehalten und wird das auch in Zu-
kunft thun, zumal wenn es ihr in einer ausgäbe geboten wird, wie
sie V. Valentin, ganz in Übereinstimmung mit der schon an Iphigenie
(nr. 5), der Jungfrau von Orleans (nr, 12/13) und Antigene (nr. 14)
von ihm angewandten interpretationsmethode, in die 'deutschen
Schulausgaben' einstellt. — In der braut von Messina geben die
' vgl. O. Lyon, ztschr. für den deutschen Unterricht, IV 76 ff.,
und dessen buch: 'die lectüre als grundlage eines einheitlichen und
naturgemäszen Unterrichts in der deutschen spräche, sowie als mittel-
punkt nationaler bildung' (Leipzig, B. G. Teubner).
* Ernst Brandes, ztschr. f. d. deutschen Unterricht, III 554 ff.,
zugleich als beispiel einer auch für kleinere dichtungen wünschens-
werten darlegung der composition zu beachten.
152 K. Landmann : deutsche Schulausgaben von H. Schiller u. V. Valentin,
historischen Verhältnisse nur den rahmen ab, in dem der dichter ein
künstlerisches problem der antiken tragödie in das christliche, von
der weit des Islam durchsetzte mittelalter hinüberträgt, um das
walten der sittlichen weltordnung im zusammenstosz mit dem eigen-
willigen handeln der menschen zur grundlage einer dramatischen
dichtung im geiste seiner eignen zeit zu gestalten, wir müssen
darauf verzichten, die 16 selten der einleitung, in der der heraus-
geber diese künstlerische thätigkeit des dichters beleuchtet, in noch
kürzerer form zusammenfassen zu wollen, nur auf die Übersicht
über den dramatischen aufbau (s. 14 — 16) möge in folgendem hin-
gewiesen werden, nicht als ob wir damit den wert der arbeit zu be-
zeugen gedächten , sondern nur, um das ergebnis der Untersuchung
zu schematischer anschauung zu bringen, wobei überdies zu be-
merken ist, dasz wir die den gang der handlung näher skizzierenden
Untersätze (wie z. b. zu I 1 : Isabellas darlegung des zustandes. mit-
teilung von der Zusammenkunft der brüder. befehl zur herbei-
führung Beatricens: beabsichtigte Vereinigung der geschwister)
beiseite lassen, hiernach gestaltet sich unsere Übersicht folgender-
maszen:
1 — 1425. I. Scheinerfolg der menschlichen klugheit.
1. prologos: 1 — 131 1, unhaltbare läge in staat und
familie.
chor: parodos. 132 — 254 einzug der beiden chöre.
2. epeisodion 1 : 255—859 2. Versöhnung der brüder.
3. Verlobungen der brüder: keim zur
erfüllung der orakel.
chor: 860 — 979 das leben im frieden.
3. epeisodion 2: 980 — 1228 4. Verlobungen der Schwester,
chor: 1229 — 1258 dem mächtigen gehört stets das
kostbarste.
4. epeisodion 3: 1259—1705 5. Vereinigung der familie.
1426 — 1439. IL Höhepunkt des Scheinerfolgs und
Wendung.
1. höchstes glück.
2. Wendung.
1440 — 2845. III. Wiederherstellung der sittlichen welt-
ordnung.
1. hemmung glücklicher lösung
durch verblendete leidenschaft.
chor: beginnt handelnd das
5. epeisodion 4: 1706 — 1928 2. erkennen Don Manuels.
chor: 1929—2027 klagelied. weheruf über den
raörder.
6. epeisodion 5: 2028 — 2266 3. erkennen der Beatrice,
chor: 2267—2308 totenklage.
K.Landmaiin: deutsche Schulausgaben von H.Schiller u.V. Valentin. 153
7. epeisodion 6: 2309 — 2562 4. erkennen Isabellas und DonCesars.
chor: 2563—2594 seligpreisung schlichten, aber
friedlichen lebens.
8. epeisodion: 2595 — 2840 5. erfüllung der orakel. wiederher-
exodos Stellung der sittlichen welt-
chor: Ordnung.
schluszwort. 2841 — 2845 Wertlosigkeit eines schuld-
bewusten lebens.
Fügen wir hinzu, dasz auch der text (s. 17 — 95) den gang der
handlung in den kopfzeilen, am rande auszer der fortgesetzten vers-
zählung (10, 20 usw.) auch (in fettschrift) die bezeichnung der
epeisodien und chorlieder sowie des prologos und der exodos mit
wünschenswerter deutlichkeit hervortreten läszt, so wird die aus
den ausgaben der alten classiker bekannte typographische Sorgfalt
aufs beste gewahrt erscheinen, so dasz also die ausgäbe auch nach
dieser seite hin als eine vortreffliche bezeichnet werden musz.
21/22) homers odyssee übersetzt von johann heinrich voss.
in verkürzter gestalt herausgegeben von dr. julius
Ziehen.
Homers Odyssee in verkürzter gestalt ! das dünkt wohl manchen
aus der blütezeit der classischen philologie heraufgekommenen eine
Sünde wider den heiligen geist. und dennoch musz referent ge-
stehen, dasz ihm seit seinen ersten, mit aller hingebung betriebenen
Homei'studien da s lied von der heimkehr des Odysseus nicht wieder
eine so hohe freude bereitet hat wie bei der Wanderung, auf der er
die arbeit des herausgebers durch das Homerische epos und seine
commentare hindurch begleitete, und wenn dieser am Schlüsse der
einleitung die Überzeugung ausspricht, 'dasz, wer den hier vorliegen-
den auszug aus der Odyssee gelesen hat, eine vollständige Vorstel-
lung von dem künstlerischen bau des ganzen epos besitzt', so müssen
wir dem gehobenen selbstbewustsein, das sich aus diesen werten zu
erkennen gibt, seine volle berechtigung zugestehen. — Betrachten
wir zunächst diese, nicb t ganz 6 Seiten füllende einleitung: Homeros,
seine epen. ihre künstlerische gestaltung. bedeutung bei den
Griechen, den Römern, in mittelalter und neuzeit. Übersetzungen.
Johann Heinrich Voss, ausarbeitung, Schicksal und Wirkung seiner
Übersetzung, die Vossische Übersetzung in den 'deutschen Schul-
ausgaben' — das sind die einzelnen punkte, die in den kopfzeilen
dieser 6 seiten die ergebnisse der 'Homerischen frage' für die be-
dürfnisse der schule zusammenfassen, für unsere besprechung ist
der letzte dieser punkte von hervorragender bedeutung. seine aus-
führung lautet bis zu der bereits oben herausgehobenen stelle: 'in
der vorliegenden ausgäbe muste vor allem der gewaltige umfang
des Odysseusepos (24 bücher = 12110 verse) auf ein dem lehrplan
der schule entsprechendes masz zurückgeführt werden, es bot sich
wohl die möglichkeit, bei dieser Verkürzung eine der älteren, un-
]54 K. Landmann : deutsche schulausgabenvon H.Schiller u.V. Valentin.
erweiterten formen der Odyssee, vermutungsweise wenigstens, her-
zustellen, da jedoch mehrere gerade der kritisch anfechtbarsten
stellen zu den teilen der dichtung gehören, die auf die folgezeit den
nachhaltigsten eindruck gemacht haben , so verbot sich ein solches
verfahren für dieses büchlein. es ist daher ohne rücksicht auf alter
und herkunft der verschiedenen bestandteile des epos hier eine ver-
kürzte form der Odyssee gegeben, die durch auslassung unwichtigerer
episoden und einzelner leicht entbehrlicher stellen unter völliger
Wahrung der Homerischen gesamtcomposition erreicht werden
konnte'.^ — Um eine probe von der herstellung dieses verkürzten
textes zu geben , stellen wir die verszählung des ersten gesanges
nach Voss und Ziehen so neben einander, dasz die ausscheidungen
als punkte markiert werden, an denen jene 'auslassung unwich-
tigerer episoden und einzelner leicht entbehrlicher stellen' ohne be-
sondere mühe überschaut werden kann, die Überschrift dieses ersten
gesanges ist: I. götterversammlung. Athene auf Ithaka.
Die verszählung vergleicht sich bei
Voss Ziehen Voss Ziehen
1-9 [8—9] 1-7 186— 194 [191— 194] 147— 152
10—24 [23-24] 8 — 20 195—203 [203] 153—160
25—31 [29—31] 21—24 204— 217 [216— 217] 161— 171
32—67 [66—67] 25—58 218— 267 [256— 267] 172-209
68-79 [79] 59—69 268-284 [283— 284] 210— 224
80— 112 [106 — 112] 70—95 285— 319 [306— 319] 225— 246
113— 169 [159—169] 96—138 320-422 [326-422] 247— 252
170—178 [174—178] 139—142 423—445 [429—444] 253—259
179—185 [183—185] 143—146
Eine genauere prüfung der ausgelassenen stellen wird ergeben,
dasz die Ökonomie des Homerischen epos darunter nicht nur nicht
leidet, sondern im gegenteil ganz erheblich gewinnt, und wenn wir
weiter erwägen , dasz durch diese auslassungen das gesamtepos um
5750 verse verkürzt wird und dennoch in seinem künstlerischen
bau durchaus vollendet vor uns steht, dann werden wir in dieser
'rettung' des antiken geistes in ein den ästhetischen forderungen
der gegenwart entsprechendes gewand ein verdienst des heraus-
gebers erkennen , das auch über die kreise der schule hinaus unsere
volle anerkennung herausfordert.
Was endlich die an dem Vossischen texte vorgenommenen ab-
änderungen betrifft, so bescheidet sich der herausgeber, dieselben
als 'nur unbedeutende' zu bezeichnen, referent dagegen, der gelegen-
heit hatte, einige corrigierte druckbogen der vorläge® zu gesicht zu
^ es dürfte nicht überflüssig erscheinen, an dieser stelle auf das
unlängst zu Dresden mit groszem erfolg zur auffdhrung gebrachte
musikdrama Odysseus' heimkehr von A. Bungert hinzuweisen: auch
eine renaissanee!
^ vgl. einl. 8. VIII: 'von den verschiedenen gesamttexten hat Michael
Bernays zur hundertjährigen feier des ersten erscheinens der Vossischen
i\ . Landmann : deutsche Schulausgaben von H.Schiller U.V.Valentin. 155
hekommen, darf mit vergnügen bezeugen, dasz in sehr vielen fällen
der hiatus beseitigt, spondeen im fünften fusz (die aber in Wahrheit
meist trochäen waren) daktylisch erweitert, stilistische härten ge-
mildert, mit einem worte, die verse flüssiger gestaltet worden sind,
so dasz der ausgäbe auch in dieser beziehung unser beifall nicht ver-
sagt werden kann, zum beweise dessen lassen wir die 54 ersten
verse des fünften gesanges im abdruck folgen, wobei wir zugleich
die stellen andeuten, an denen die innerhalb des entsprechenden
raumes (Voss V 1 — 147) erfolgten kürzungen verglichen werden
mögen,
V. Kalypso. befehl zur entlassung des Odysseus.
Und die rosige Eos entstieg des edlen Tithonos
lager und brachte das licht.* der rüstige Argosbesieger [2 — 43]
eilte sofort und band sich unter die füsze die schönen
goldnen ambrosischen sohlen, mit denen er über die wasser
5 und das unendliche land im hauche des windes einherschwebt.
hierauf nahm er den stab, womit er die äugen der menschen
zuschlieszt, welcher er will, und wieder vom Schlummer erwecket,
diesen hielt er und flog, der tapfere Argosbesieger,
stand auf Pieria still, und senkte sich schnell aus dem äther
10 nieder aufs meer und schwebte dann über die flut, wie die möve.
•[52—54]
als er die ferne insel Ogygia jetzo erreichte,
stieg er aus dem gewässer des dunkelen meeres ans ufer,
wandelte fort, bis er kam zur weiten grotte der nymphe,
und gieng eilend hinein in die schön gewölbete grotte. *[54— 77]
15 ihn erkannte sogleich die hehre göttin Kalypso:
denn die unsterblichen götter verkennen nimmer das antlitz
eines anderen gottes, und wohnt' er auch ferne von dannen.
aber nicht Odysseus den herlichen fand er zu hause:
weinend sasz er am ufer des meeres. dort sasz er gewöhnlich
20 und zerquälte sein lierz mit weinen und seufzen und jammern
und durchschaute mit thränen die grosze wüste des meeres.
aber dem kommenden setzte die hehre göttin Kalypso
einen prächtigen thron von strahlender arbeit und fragte:
'warum kommst du zu mir, du gott mit dem goldenen stabe,
25 Hermes, geehrter, geliebter? denn sonst besuchst du mich niemals,
sage, was du verlangst: ich will es gerne gewähren,
steht es in meiner macht, und sind es mögliche dinge.' *[91 — 95]
da begann er und sprach zur hehren göttin Kalypso:
'fragst du, warum ich komme, du göttin den gott? ich will dir
30 dieses alles genau verkündigen, wie du befiehlest.
Zeus gebot mir, hieher ohn' meinen willen zu wandern ! *[100 — 104]
dieser sagt, es weile der unglückseligste aller
männer bei dir, die Priamos Stadt neun jähre bekämpften,
und im zehnten darauf mit Ilions beute zur heimat
35 kehreten, aber Athene durch missethaten erzürnten,
dasz sie die göttin mit stürm und hohen fluten verfolgte,
alle die tapfern gefährten versanken ihm dort in den abgruud:
aber er selbst kam her, von stürm und woge geschleudert,
jetzo gebeut dir der gott, dasz du ihn eilig entlassest.
Odyssee i. j. 1881 den der ersten ausgäbe wieder zu ehren gebracht;
in der vorliegenden bearbeitung ist bei aller anerkennung der groszen
Vorzüge des textes v. j. 1781 eine spätere fassung zu gründe gelegt
worden.'
156 K. Landmann: deutsche Schulausgaben von H. Schiller u.V. Valentin.
40 denn ihm war nicht bestimmt, hier fern von den seinen zu sterben:
sondern sein Schicksal ist, die freunde wiederzuschauen
und sein prächtig-es haus und seiner väter gefilde.'
als er es sprach, da erschrak die hehre göttin Kalypso.
und sie redet' ihn an und sprach die geflügelten worte:
45 'grausam seid ihr vor allen und neidischen herzens, o götter!
* [119— 128]
also verargt ihr auch mir des sterblichen mannes gemeinschaft,
den ich vom tode gewann.* doch senden werd' ich ihn nimmer;
[130-140]
denn mir gebricht es hier an ruderschiffen und männern,
über den weiten rücken des meeres ihn zu geleiten.
50 aber ich will ihm mit rat beistehn und nichts ihm verhehlen,
dasz er ohne gefahr die heimat wieder erreiche.'
ihr antwortete drauf der rüstige Argosbesieger:
'send' ihn also von hinnen und scheue den groszen Kronion,
dasz dich der zürnende nicht mit schrecklicher räche verfolge!'
Als schlusz unserer besprechung aber wüsten wir kein passen-
deres wort zu setzen als den schlusz der einleitung des heraus-
gebers: 'möchte der geist der altgriechischen dichtung, der dem
Germanentum so ungleich näher steht als der der römischen dicht-
kunst, auch aus den folgenden blättern recht eindringlich auf den
leser wirken ! '
23) HERMANN UND DOROTHEA VON WoLFGANG VON GoETHE. HERAUS-
GEGEBEN VON DR. Veit Valentin.
Wer unter den lehrern des deutschen das vorliegende heft zur
prüfung für den gebrauch in der schule zur band nimmt, dem
möchten wir empfehlen , den ersten gesang , selbst wenn er ihn bis
zu freiem Vortrag gegenwärtig haben sollte, noch einmal in den ab-
schnitten 1 — 60, 61 — 165, 166 — 213 zu lesen, sich diese drei ab-
schnitte als dramatische scenen eines ersten actes oder als bilder
nach Ramberg vor die seele zu führen, sodann die Übersicht s. 16
unter I 1 [läge, a) b) c)] nachzulesen und endlich die einleitung
bis s. 7 einer ebenso gründlich nachdenkenden betrachtung zu unter-
ziehen, und wir sind überzeugt, dasz seine wähl alsbald entschieden
sein wird, für die leser der Jahrbücher aber, die das heft gerade
nicht zur band haben, möge hier wenigstens der schlusz des bezeich-
neten abschnittes der einleitung vei'botenus folgen: 'da er (der
dichter) seine erzählung mit dem gespräche der eitern Hermanna
beginnt, von da au die bandlung ununterbrochen weiterführt, so
kann er Dorothea persönlich erst sehr spät auftreten lassen, er ge-
winnt hieraus den nicht hoch genug zu schätzenden vorteil , dem
börer und leser Dorothea erst so erscheinen zu lassen, wie sie
sich durch ihr thun und ihr wesen in der auffassung anderer ab-
spiegelt, die dabei hervortretende Steigerung, je mehr wir sie und
ihr thun kennen lernen, im Zusammenhang mit der wachsenden be-
deutung der urteile, die über sie gefällt werden, läszt die Spannung,
sie endlich selbst auftreten zu sehen , immer gröszer werden, und
wenn nun dieses auftreten nicht nur alle erwartungen erfüllt, son-
K. Landmann: deutsche Schulausgaben von H.Schiller u.V. Valentin. 157
dern neue Spannung erweckt, so steigert sich unsere teilnähme un-
unterbrochen bis zur glücklichen erreichung des zieles des einzel-
ereignisses und der es beständig begleitenden , selbst immer deut-
licher hervortretenden und dadurch das einzelereignis zu immer
höherer bedeutung erhebenden aussieht in die ferne der weltereig-
nisse.' — Wir sehen, es ist dieselbe betrachtungsweise, die wir auch
an V. Valentins erklärung der dramen zu rühmen hatten, nicht das
Schlagwort von der 'epischen breite' darf bestimmend sein für
unsere beurteilung epischer kunstwerke , sondern der nachweis dra-
matischen aufbaues, wie ihn z. b. Gustav Freytag (erinnerungen aus
meinem leben, ges. werke, 1, 179 flf.) auch für den roman in ganz
bestimmter gestalt fordert: einleitung, aufsteigen, höhepunkt, Um-
kehr und katastrophe; gegensätzliche herausarbeitung der Charaktere
usw. und so werden wir den herausgeber von 'Hermann und Dorothea'
auch durch die folgenden abschnitte der einleitung mit steigendem
Interesse begleiten , insbesondere auch die schluszworte des ab-
schnittes über 'die Charaktere als bew^egungsmittel der handlung'
scharf ins äuge fassen, und endlich der Übersicht über den künst-
lerischen auf bau des epos im ganzen ebenso nachgehen, wie wir dies
oben für den ersten gesang empfohlen haben.
24) Luthers deutsche Schriften (auswahl). herausgegeben
VON DR. Ernst Schlee, director des Realgymnasiums und
DER REALSCHULE ZU ALTONA.
Als 'Lutherlesebuch' ist die vorliegende auswahl auf dem Um-
schlag der nr. 24 unserer Schulausgaben verzeichnet, eine benennung,
die sich nicht blosz aus euphonischen gründen vor der auf dem haupt-
titel gegebenen empfehlen dürfte, der auswahl ist (s. 1 — 10) eine
einleitung über Luther als den begründer unserer hochdeutschen
Schriftsprache vorausgeschickt, der wir die folgende stelle entnehmen,
die zugleich anstatt einer Inhaltsangabe in übei'sichtlicher form dienen
möge, in dem absatz, der von Luthers genialer herschaft über die
spräche handelt, heiszt es: 'mag er von den praktiken des handeis
(nr. 8 'von kaufhandlung und wucher'), oder vom seligen stand
der kriegsleute, oder von höfischen und politischen Verhältnissen
schreiben, immer zeigt er eingehendste, auf unmittelbarer anschauung
beruhende kenntnis. und wie auf allen gebieten , so war er auch in
allen tonarten meister der spräche, der ausdruck frommer Innigkeit
(nr. 1 'auslegung des Vaterunsers' und 3 'von der freiheit eines
Christenmenschen') stand ihm nicht weniger zu geböte als der
zornige ruf zum kämpfe (nr. 2 'an den christlichen adel deutscher
nation von des christlichen Standes besserung'), als der ausdruck zu-
versichtlichen gottvertrauens (nr. 5 'an den kurfürsten Friedrich'),
als derbe Zurechtweisung und ironischer humor (nr. 11 'ein send-
brief vom dolmetschen'), im briefwechsel mit seinen hausgenossen
redete er gern die spräche des kindlichen gemütes und des freund-
lichen Scherzes (nr. 9 'an die tischgesellen' und 10 'an seinen söhn
158 0. Richter: anz. v. G. Degenhardt prakt. geometrie auf dem gymn.
Johannes'), und in dem leichten flusse unterhaltend belehrender
rede, wechselnd zwischen ernst und scherz, ist ihm keiner unserer
classischen Schriftsteller gleichgekommen (nr. 12 'auslegung des
lOln Psalms').' — Die anmerkungen zu dem auf der Erlanger aus-
gäbe beruhenden, in der Schreibart jedoch nach maszgabe der
späteren Schriften ausgeglichenen texte sind auf das knappeste masz
beschränkt, vielleicht hier und da etwas zu knapp, wie z, b. gleich
s. 12 die bemerkung 'gleisen = heucheln (verschieden von gleiszen)'
durch hinzufügung von 'mhd. glihsen, älter nhd. gleihsen, vgl. similis
und simulare' hätte erklärt werden dürfen, wogegen die erklärung
der formen 'dar' (von mhd. 'turren', wagen, s. 16) und 'thüren'
(s. 44) wie auch der schon mhd. verkürzten form 'er' = hör (s. 15
und 89) an der späteren durch Zurückweisung auf die frühere stelle
zu vereinfachen gewesen wäre, doch das sind nur kleinigkeiten.
im ganzen ist auch von dieser nummer der 'deutschen Schulaus-
gaben' zu sagen, dasz durch sie ein wichtiges stück deutschen geistes
zu durchaus würdiger darstellung gelangt, und wenn wir nr. 19
als eine wertvolle gäbe zur geschichte der deutschen befreiungs-
kriege begrüszten, so dürfen wir hier mit dem herausgeber auch auf
den Unterricht in der reformationsgeschichte hinweisen und unserer
besprechung an jener wie an dieser stelle die wohlgemeinte Weisung
hinzufügen : ein büchlein für schule und haus.
Darmstadt. Karl Landmann.
13.
PRAKTISCHE GEOMETRIE AUF DEM GYMNASIUM. VON GeORG DeGEN-
HARDT. Frankfurt a. M., J. C. Hermannsche bucbhandlung. 1896.
Unter den gymnasien, wo man sich ernstlich bemüht, den
mathematikunterricht anregender und fruchtbarer zu machen , ragt
das kaiser Friedrichs -gymnasium in Frankfurt a. M. hervor, dr.
C. Müller hat dort die projectionslehre mit erfolg eingeführt, und
von den bestrebungen, den geometrieunterricht durch praktische
geometrie zu beleben, gibt vorliegende arbeit ein anschauliches
bild. sie enthält eine genaue beschreibung und erklärung des ge-
brauchs der hierzu notwendigen Werkzeuge in formen , wie sie für
den Schulunterricht zweckmäszig sind, dazu eine gute auswahl von
Übungsaufgaben, in drei stufen geordnet, der anfänger wird hier
von den einfachsten aufgaben der praktischen geometrie bis zu den
Problemen der landesvermessung geführt, die schrift kann allen
fachgenossen auf das wärmste zum studium und zur nacheiferung
empfohlen werden, der verf. sei auf mehrere entstellende druck-
fehler in der Zahlentabelle s. 15 aufmerksam gemacht; das richtige
ergebnis ist 19 a. 70,67 qm.
Leipzig. Otto Richter.
G. Diestel: anz. v. A. Hettner Spamers groszer handatlas. 159
14.
Spamers groszer handatlas in 150 kartenseiten nebst alpha-
betischem ORTSREGISTER. HIERZU 150 FOLIOSEITEN TEXT, ENT-
HALTEND EINE GEOGRAPHISCHE, ETHNOGRAPHISCHE UND STATI-
STISCHE BESCHREIBUNG ALLER TEILE DER ERDE VON DR. AlFRED
Hettner, a. o. prof. an der Universität Leipzig.
Erst nach wochen und monaten vermag man den wert eines
baus- und stubengenossen, zumal eines lehrbafteo, zu erkennen und
zu würdigen, gerade ein solcber ist ein groszer bandatlas , an den
man bei allen kleinen und groszen anlassen , bei der täglichen
zeitungslectüre , die uns oft über die grenzen unseres erdteiles
hinausführt, oder beim lesen von kriegs- und reiseberichten , die
immer wiederholte frage richtet: 'wo liegt das? wie nahe oder wie
weit von längst" bekannten orten?' da ist es denn von besonderem
werte , wenn man ohne grosze mühe und ohne Zeitverlust eine voll-
kommen klare antwort erhält , selbst, wenn sie lauten sollte: 'ich
weisz es auch nicht'. — Dasz wir vortreffliche, preiswerte atlanten
längst besitzen, ist allbekannt; ref. braucht sie nicht erst aufzu-
zählen, allein er erinnert sich doch mit bedauern der unnütz ver-
geudeten zeit, wenn er z. b. während des chinesisch -japanischen
kriegs nach langem suchen das gewünschte doch nicht fand oder ein
andermal auf einer mustergiltig schraffierten gebirgskarte vergeblich
im dunkeln tappte, in dem Spamerschen handatlas gewährt ein
alphabetisches namenregister auf 130 siebenspaltigen druckseiten
die möglichkeit, in wenigen minuten den gesuchten ort in einem
klar bezeichneten viereck aufzufinden oder sofort zu wissen, dasz er
auf keiner karte zu finden ist. übrigens hat der atlas im laufe von
zwei monaten bei täglichem gebrauch nur zweimal die antwort ver-
sagt, das ist alles , was man verlangen kann, erwägt man gar den
sauberen stich, die deutliche schrift und die klare, weder das äuge
beleidigende, noch das Verständnis trübende färbung der grenz-
linien, so wird man zugeben müssen, dasz dieser atlas in karto-
graphischer beziehung den besten atlanten anderer offizinen zum
mindesten an die Seite zu stellen ist.
Allein einen ganz besonderen vorzug erlangt er noch dadurch,
dasz der Verleger die leeren rückseiten der karten einem rühmlichst
bekannten gelehrten eingeräumt hat, um darauf nach dem neuesten
stände der forschung einen abrisz der geographie zu geben und
diesen durch hunderte von kleinen detail- und Übersichtskarten, von
Zeichnungen und diagrammen zu erläutern, hier werden nicht nur
viel besuchte gebirgsgegenden und städte in gröszerem maszstabe
dargestellt, statistische angaben übersichtlich durch diagramme auf-
gehellt, sondern auch die hauptabschnitte der astronomischen,
physischen und physikalischen geographie, der geologie und ethno-
graphie ausgibig behandelt, man darf nur die abschnitte über die
gestalt und grösze der erde, der erdwärme und den zustand des erd-
160 0, Richter: anz. v. A. Schülke vierstellige logarithmentafeln.
innern lesen , um zu begreifen , dasz der gelehrte Verfasser wirklich
mit freude die gelegenheit ergriffen hat, die neuesten resultate der
geographischen forschung auf diesem wege in weitere kreise ge-
langen zu lassen, als es unseren gelehrten handbüchern zu gelingen
pflegt, mit bewunderungswürdigem geschick hat er dabei den immer
unbequemen, oft gewis verzweiflungsvollen kämpf um den räum
siegreich durchgefochten und immer rechtzeitig auf dem ende der
zweiten Seite den unbarmherzigen schluszstrich erreicht, ohne eine
zeile zu viel oder zu wenig zu verbrauchen, nur bei genauester ver-
gleichung der textbehandlung bemerkt man, dasz dieser unliebsame
äuszere zwang ihn in einigen abschnitten zu Prokrustes-experimenten
genötigt hat.
Zieht man endlich in betracht, dasz durch die Schönheit der
typen (wodurch sich der Spamersche verlag auch sonst auszeichnet),
durch die stärke und weisze des papiers, durch den denkbar solide-
sten und geschmackvollsten einband dieser handatlas den rang eines
prachtwerkes erreicht, so wird man den preis von 20 mk. kaum be-
greiflich finden. — Man darf dreist behaupten, dasz die Verlags-
buchhandlung, die auch sonst bemüht ist, die resultate der Wissen-
schaft in künstlerisch illustrierten werken einem gröszeren publicum
zuzuführen, sich durch ihren handatlas ein verdienst um das deutsche
haus und die deutsche familie erworben hat. es dürfte nicht leicht
ein ähnliches werk zu finden sein, das man als preiswürdiger be-
zeichnen könnte.
Dresden. G. Diestel.
15.
VIERSTELLIGE LOGARITHMENTAFELN NEBST MATHEMATISCHEN, PHYSI-
KALISCHEN UND ASTRONOMISCHEN TABELLEN. FÜR DEN SCHUL-
GEBRAUCH ZUSAMMENGESTELLT VON DR. A. SCHÜLKE. Leipzig,
B. G Teubuer. 1895.
Die handlichste aller bisher veröfi'entlichten vierstelligen loga-
rithmentafeln, in mehreren beziehungen für den schulgebrauch ver-
einfacht und auf nur 16 selten untergebracht, wie viel zeit und
mühe könnte gespart und für wichtigere zwecke verwendet werden,
wenn unsere schüler mit vierstelligen logarithmen rechneten! aber
wann wird der gebrauch solcher logarithmen für die schulen vor-
geschrieben werden? — Nicht weniger als durch das gefällige
äuszere und die noch von keinem andern werke dieser art erreichte
Übersichtlichkeit der logarithmentafeln empfiehlt sich das vorliegende
werkchen durch die reichhaltigkeit der tabellen für aufgaben aus der
angewandten mathematik. die letzte Seite enthält eine überaus klare
geometrische darstellung der logarithmen zur basis 10, aus der man
die logarithmen der zahlen auf 3 bis 4 decimalstellen ablesen kann.
Leipzig. Otto Richter.
ZWEITE ABTEILUNG
FÜR GYMNASIALPÄDAGOGIK UND DIE ÜBRIGEN
LEHRFÄCHER
MIT ADSSCHLÜSZ DER CLASSISCHEN PHILOLOGIE
HERAUSGEGEBEN VON PROF, DR. RiCHARD RiCHTER.
16.
QUINTILIAN ALS DIDAKTIKER UND SEIN EINPLUSZ
AUF DIE DIDAKTISCH -PÄDAGOGISCHE THEORIE DES
HUMANISMUS.
Vorbemerkungen.
Seitdem Ernst Laas in seiner geistvollen schrift über 'die päda-
gogik des Johannes Sturm' (Berlin, Weidmann, 1872) mit nachdruck
darauf hingewiesen hatte, dasz die didaktisch-pädagogische
theorie des humanismus vielfach von Quintilian beeinfluszt worden
sei, ist diese thatsache nicht mehr übersehen worden; man hat sie
jedoch nicht so scharf ins äuge gefaszt, dasz man eine genauere Vor-
stellung von ihr gewonnen hätte, es schien daher wünschenswert,
diesen einflusz nach breite und tiefe einmal genauer auszumessen.
Um dafür die nötige grundlage zu gewinnen, muste zunächst
Quintilian selbst und sein werk näher betrachtet werden, auch nach
den vorhandenen Schriften, die sich mit ihm als pädagogen und
didaktiker beschäftigen — sie sind am Schlüsse des ersten abschnittes
zusammengestellt — dürfte es nicht überflüssig sein, eine möglichst
allseitige darstellung seiner person als lehrer und des didaktisch-
pädagogischen gehalts seiner institutio oratoria zu versuchen.
Auch bei den in frage kommenden humanisten wurde das Ver-
hältnis zu Quintilian nicht nur nach seiner stofflichen, sondern
auch nach seiner persönlichen seite beobachtet; es wurde nicht
nur gefragt: was ist aus Quintilian entnommen, sondern auch: wie
ist aus ihm entnommen, da zeigten sich denn verschieden ab-
gestufte arten der benutzung: angefangen von einer eilfertigen
herübernahme einzelner stellen, ja ganzer abschnitte, die bisweilen
geradezu den Charakter des plagiats trägt, bis zur innerlichen assimi-
lierung des tiefsten geistigen gehalts. so ergaben sich bei unserer
Untersuchung auch einzelne beitrage zur litterat Urgeschichte: so-
woTil eine gewisse erkenntnis von der persönlichkeit Quintilians und
N,jahrb.r,phil,u.päd. II. abt. 1897 hfl.4u.5. 11
162 A. Messer: Quintiliau als didaktiker.
von der eigenart seines Werkes, als auch manche charakteristische
einblicke in die schriftstellerische arbeitsweise mehrerer bedeutender
humanisten. ich verweise hier besonders auf die abschnitte über
Enea Silvio, Wimpheling und Erasmus.
Bei einer Specialuntersuchung wie der unsrigen liegt die gefahr
nahe, dasz das eine object, auf das der blick scharf gerichtet wird,
die angrenzenden aus dem gesichtsfelde verdränge, und dasz so die
gegenstände nicht in ihrem richtigen gröszenverhältnisse erscheinen,
um dies zu vermeiden, wird durch gelegentliehe hinweise wiederholt
daran erinnert, wie viel Quintilian selbst für sein werk der älteren
litteratur und der herschenden Schulpraxis entnehmen konnte , und
auch für die humanisten sind noch andere quellen aufgezeigt, aus
denen sie auf diesem gebiete schöpfen konnten ; insbesondere ist die
unter Plutarchs namen gehende schrift Ttepi TTaibuuv «Y^J^Tnc
näher berücksichtigt, und für ihre benutzung sind die nötigen be-
lege beigebracht, endlich ist auch nicht unterlassen worden, die
momente besonders hervorzuheben , die sich in der didaktisch-päda-
gogischen theorie zur geltung bringen musten unmittelbar heraus
aus der tiefe der weitverzweigten geistigen Strömungen, die wir
unter dem namen humanismus zusammenfassen.
Die Schriften des Johannes Sturm sind die zeitlich letzten,
auf die ich meine Untersuchung erstreckt habe, die foi'derungen der
pädagogisch-didaktischen theorie des humanismus werden für das
protestantische Schulwesen durch Melanchthon und Sturm , für das
katholische durch die Jesuiten in weitgehender weise verwirklicht,
damit ist ein gewisser abschnitt gegeben: die zeit des Werdens und
Wachsens ist zu ende, wie das althumanistische Schulwesen in seinen
wesentlichen zügen mit groszer Stabilität bis in das 18e Jahrhundert
sich erhält, so trägt auch die es begleitende theoretische litteratur —
wenn wir von reformpädagogen wie Ratichius und Comenius ab-
sehen — ein gleichförmiges gepräge. für diesen zustand des be-
harrens in theorie und praxis verweise ich auf zwei charakteristische
belege: in den letzten jähren des 17n Jahrhunderts hat Thomas
Grenius drei stattliche bände didaktisch- pädagogischer abhand-
lungen im geiste des humanismus aus dem 15n bis 17n Jahrhundert
herausgegeben — nicht als historisch bedeutsam, sondern zur
unmittelbaren Verwertung in der praxis, und noch 1730 hat Hall-
bauer die wichtigsten schulschriften Sturms wieder ediert und sie
als die trefflichste gymnasialpädagogik auch für die damalige
zeit warm empfohlen, weil sich also diese litteratur der humanisti-
schen Pädagogen von der zweiten hälfte des 16n bis in die erste des
18n Jahrhunderts der hauptsache nach in den gleichen gedanken-
kreisen fortbewegt, so hat es kein Interesse, hier immer wieder den
directen oder indirecten einflusz Quintilians aufweisen zu wollen,
dasz man sein buch, 'eine art encyclopädie dessen, was die alten im
ganzen gebiet der erziehung und der geistesbildung dachten' (John
Stuart Mi 11, Selbstbiographie, übersetzt vonKolb s. 17), andauernd
A. Messer: Quintiliau als didaktiker. 163
zu würdigen wüste, zeigt in überaus lehrreicher weise das bedeut-
same werk Charles Rollins, trait6 de la maniere d'enseigner et
d'etudier les helles lettres, 1726 — 31. mit diesem werke haben
wir freilich das ende der humanistischen pädagogisch-didaktischen
litteratur erreicht: es leitet in vielfacher beziehung schon hinüber
zum neuhumanismus, der im laufe des 18n Jahrhunderts sich
allmählich mit klarerem bewustsein von dem alten humanismus
unterscheidet und loslöst.
Erster abschnitt.
Quintilian als didaktiker und der didaktische gehalt der
institutio oratoria.
1. Quintilian ist der didaktiker' unter den rhetoren.
seine institutio oratoria ist nicht und wilP nicht sein ein einfaches
lebrbuch der rhetorik, sondern sie gibt die anleitung zur erreichung
eines bestimmten bildungsideals: orator perfectus ist die kürzeste
bezeichnung desselben; so ist es von Quintilian und vor ihm von
Cicero auf grund des volkscharakters , der politischen, socialen und
litterarischen Verhältnisse formuliert worden.
Wenn auch in diesem bildungsideale der sittliche beziehungs-
punkt stark hervortritt, wenn auch die pädagogischen momente
der bildungsarbeit wiederholt berührt werden, so hat doch Quintilian
thatsächlich die erziehung als solche nicht behandelt, darum
dürfte es berechtigt sein, ihn vorwiegend als didaktiker zu
charakterisieren.
Es zeigt sich aber der didaktische gehalt seines werkes
zunächst darin, dasz er auch den bildungsgang vor dem eintritt in
die eigentliche rhetorenschule bespricht.^ er ist sich dabei bewust,
etwas ungewöhnliches zu thun ; denn er entschuldigt und verteidigt
sich wiederholt'*, dasz er solche 'kleinigkeiten' behandle, aber er
weisz wohl, wie wichtig sie sind; zwar trägt ihre erörterung keinen
besonderen rühm ein, aber sie sind die fundamente, auf denen das
stolze gebäude der bildung mit seinen giebeln und türmen ruht. '"
ferner bewährt er sich als didaktiker dadurch, dasz er auch bei der be-
handlung der eigentlichen rhetorik immer und immer wieder hinweise
gibt, wie die theoretischen sätze praktisch zu verwirklichen seien.*'
1 für die genaue Scheidung' von pädagogik und didaktik, erziehung
und bildung, die ich in dieser schrift festzuhalten bemüht bin, verweise
ich auf 0. Willmann, didaktik als bildungslehre I^ s. 74— 85. — Ich
benutze gern diese gelegenheit, auszusprechen, wie viel ich diesem treff-
lichen werke — nicht nur für die vorliegende arbeit — verdanke.
2 Quint. I prooem. 24 f.
3 es bildet dies den inhalt des ersten buches. vgl. Quint. I prooem. 21.
* Quint. I prooem. 21. I 1, 21—24. I 5, 6 f. 17, 33.
^ I prooem. 4.
•^ er thnt dies mit absieht, wie er dies auch in der vorrede des
Werkes ausspricht. I prooem. § 23. deshalb bieten auch nicht nur das
11*
164 A. Messer: Quintiliau als didaktiker.
Bei diesem Sachverhalt dürfte es nahe liegen, die frage aufzu-
werfen, ob er die didaktik in ihrer eigenart klar erfaszt
habe/ — Zunächst scheidet er das wissen und können von dem ver-
mögen zu lehren*^, eine Unterscheidung, die ja schon in dem gemeinen
bewustsein, wie es sich durch die spräche ausdrückt, liegt, dabei
sucht er aber die ansieht zu begründen, dasz der, der etwas am besten
weisz und kann, es auch am besten lehren könne. ^
Dieselbe ineinanderschiebung des wissenschaftlichen und künst-
lerischen auf der einen, des didaktischen auf der andern seite zeigt die
institutio selbst, sie erörtert zwar die accessorischen bildungs-
stoffe lediglich nach ihrem bildungsgehalt und zur festsetzung des
umfanges, in dem sie heranzuziehen sind'", aber für den centralen
bildungsstoff, die rhetorik, gibt sie zugleich die darstellung der
materie selbst. Quintilian bietet also keine allgemeine bildungs-
lehre, keine didaktik, sondern eine rhetorik, wenn auch mit reichem
didaktischen gehalte.
Ist er sich nun bei der behandlung der rhetorik selbst des Unter-
schiedes zwischen rein wissenschaftlicher und didaktischer
methode bewust? mehrere stellen zeigen, dasz er wenigstens in
einigen wichtigen punkten diesen unterschied klar erfaszt hat. er
erkennt, dasz er nicht nach wissenschaftlicher Vollständigkeit streben
darf, dasz er also das didaktisch wertvolle auswählen musz"; er
macht bei seiner arbeit die erfahrung, dasz diese auswahl oft der
schwierigste teil des lehrens ist'^; er ist sich bewust, dasz die an-
ordnung des Stoffes beim lehren eine andere sein musz, als die der
rein wissenschaftlichen behandlung, dasz nicht das, was in der
Wissenschaft und kunst selbst das erste und wichtigste ist, deshalb
erste und etwa noch das zweite und zehnte, sondern alle bücher der
institutio zur darstellung ihres didaktischen gehaltes material, wenn
auch nicht in gleichem umfange.
^ ich verkenne nicht, dasz schon durch das aufwerfen solcher fragen
ein unhistorischer maszstab angelegt wird, allein ihre erörterung soll
nicht zu einem historisch berechtigten Werturteil über Quintilian führen,
sondern nur ihn und sein werk in seiner eigenart uns möglichst all-
seitig zum bewustsein bringen.
8 II 3, 7. II 8, 11.
* II 3, 5 f. er führt dafür folgende gründe au : primum, quod eum
qui eloquentia ceteris praestat, illa quoque per quae ad eloquentiam
pervenitur, diligentissime percepisse credibile est; deinde, quia plurimum
in praecipiendo valet ratio, quae doctissimo cuique planissima est;
postremo, quia nemo sie in maioribus eminet, ut eum minora deficiant.
mit denselben gründen könnte man auch beweisen, dasz ein gelehrter
Philologe eo ipso ein guter lehrer sei. man glaubt jetzt nicht mehr
daran — oder doch noch?
*" I c. 4 — 9: die grammatik (doch geht er auch hier stellenweise
zur erörterung des wissenschaftlichen stofifes selbst über); I c. 10. 11:
die mathematische, musikalische und körperliche ausbildung; XII c. 3:
die philosophischen, c. 4: die juristischen, c. 5: die historischen Studien.
1' II 10, 1.
"^ VIII prooem. 5: itaque in toto artis huiusce tractatu difficilius
est iudicare , quid doceas, quam, cum iudicaris, docere.
A.Messer: Quintilian als didaktiker. 165
auch schon beim lehren an die erste stelle treten musz. '^ endlich
spricht er es geradezu aus , dasz er bestrebt gewesen sei , durch an-
sprechende form das Studium seines werkes zu erleichtern und an-
genehm zu machen; er verkennt dabei nicht, dasz ihm dies in den
zahlreichen trockenen partien des rhetorischen Systems nicht nach
wünsch möglich war. '* thatsächlich ist allenthalben seine spräche
klar und gewandt und da, wo der stoff es gestattet (also besonders
im ersten und zweiten, zehnten, elften und zwölften buch), reich an
glücklichen und treffenden bildern und vergleichen, an geistvollen
aussprüchen von epigrammatischer kürze und schärfe. — Ist es ihm
aber auch gelungen , allenthalben sich auf das didaktisch wertvolle
zu beschränken? es will uns scheinen, als habe er oft zu viel stoff
geboten, als müsse insbesondere die fülle von auffassungen , die er
bei manchen punkten aus der litteratur zusammenträgt, eher ver-
wirrend als klärend wirken, zumal da bei der kürze der darstellung,
die — wenigstens subjective und partielle — berechtigung der ein-
zelnen ansichten und ihre tiefere begründung in dem ganzen der
verschiedenen philosophischen und rhetorischen Systeme nicht ge-
würdigt werden kann, freilich wir stehen der ganzen rhetorik weit
ferner, und manches mag uns recht überflüssig vorkommen, dessen
kenntnis der damaligen zeit unerläszlich erschien, dennoch dürfte
unser urteil nicht ganz subjectiv sein; seine objective begründung
wird uns deutlicher werden durch erörterung der frage, für welche
leser denn die institutio bestimmt sei.
An einer äuszerlich sehr bedeutungsvollen stelle, in den schlusz-
worten des ganzen werkes, bezeichnet er es als bestimmt für die
Studiosi iuvenes. '^ aber welchen wert haben für diese z. b. die er-
örterungen des ersten und teilweise die des zweiten buches? —
Quintilian hat jedoch auch selbst über die bestimmung seines
Werkes sich anders ausgesprochen , und zwar in einer weise , die
zeigt, dasz ihm im verlauf seiner arbeit die rücksicht auf die lernen-
den bisweilen geradezu an zweite stelle gerückt ist, dasz also die
didaktische tendenz überwuchert wurde von der rein wissenschaft-
lichen, eine möglichst vollständige darstellung des rhetorischen
Systems zugeben.'^ dabei bleibt aber der eigentliche grund-
gedanke des werkes: alles, was ihm reiche erfahrung
und belesenheit als notwendig und wünschenswert für
die ausbildung des redners erscheinen läszt, auszu-
sprechen'^, und dieser veranlaszt ihn zur aufnähme ganzer partien,
13 X 1, 3 f. »1 III prooem. 3. '^ XII 11, 31.
1^ XI 1, 5: nos institutionem professi non solum scieutibus, sed
etiam discentibus tradimus. XI 1, 55: quod praecipue declamantibus
(neque enim me poenitet ad hoc quoque opus meum et cnram suscepto-
rum semel adolescentium respicere) custodiendum usw. usw.
'' II 10, 15: quamvis enim omne propositum operis a nobis
destinati eo spectat, ut orator institnatur, tarnen, ne quid studiosi
166 A.Messer: Quintiliau als didaktiker.
die für einen Schüler der rbetorenschule keine praktische bedeutung
haben, es ist aber gewissermaszen ein durchaus i^ersönliches be-
dürfnis, dem er durch abfassung dieses Werkes entspricht: als redner
und lehrer sich bethätigend, ist er alt geworden; so zieht er denn
in dieser schrift schlieszlich die summe seines lebens, indem er
über den bildungsgang im allgemeinen und sein fach im besondern
seine ansichten entwickelt — eine von den beschäftigungen wählend,
die er in seinem schluszwort als die erwünschteste ausfüllung eines
schönen lebensabends bezeichnet. '° er will damit zugleich die bitten
dankbarer schüler erfüllen'^, einem freunde einen liebesdienst er-
weisen^" und vor allem seinem allein noch übrigen, innig geliebten
söhne sein didaktisch-rhetorisches testament als kostbarstes erbstück
hinterlassen.'-' je mehr somit der eigenartig zusammengesetzte in-
halt seines Werkes aus seiner persönlichkeit heraus zu begi'eifen
ist, um so mehr dürfte es am platze sein, zunächst den versuch zu
machen, ihn selbst als lehrer zu charakterisieren, es wer-
den uns dabei zugleich manche seiner allgemeinen didaktischen
grundsätze erkennbar werden, solche nämlich, die bei ihm gewisser-
maszen im unbewusten wurzeln und nur die abstracte formulierung
der Wirksamkeit gewisser charakterzüge sind.
Wie Quintilian vom redner immer und immer wieder mit dem
grösten nachdruck verlangt, dasz er ein vir bonus sei, so läszt sein
werk auch ihn selbst als eine durchaus sittliche persönlich-
keit erkennen.
Nicht sowohl die zahlreichen hinweise auf den absoluten wert
des ethischen mögen als belege dafür dienen, sondern solche stellen,
in denen sich mehr unwillkürlich seine gediegene sittliche natur,
sein fest in sich gegründeter Charakter verrät, alles eitle haschen
nach beifall ist ihm vex'haszt, der sacbe soll der redner dienen,
nicht der eignen person: causa potius laudetur quam patronus"; er
gelangt dabei zu dem tief sittlichen satze, dasz es bei tüchtigem thun
auf den äuszeren erfolg überhaupt gar nicht ankomme." die zu
seiner zeit eingerissene Unsitte, dasz die Zöglinge der rhetorenschulen
die declamationen ihrer mitschüler mit obligatem beifall begleiteten,
ist ihm in der seele zuwider.^'' sein sinn ist aufs gründliche gerichtet,
aller Oberflächlichkeit und allem blendwerk abhold, er verwirft darum
ebenso das übereilte aus-dem-stegreif-reden bei Schülern*^ wie das
virtuosentum berufsmäsziger declamatoren, die über jegliches thema
auf der stelle einen Vortrag zu halten bereit sind und womöglich
requirant, etiam si quid erit, quod ad scholas pertineat proprie, in
transitu non omitteiuus.
1« XII 11, 4 f. »M prooem, 1 f. «» I prooem. 6.
2' er gesteht dies im piooemium des sechsten buches, wo in er-
schütternder weise der schmerz über den Verlust auch dieses letzten
kindes zum ausbruch kommt, von nun an soll die arbeit an seinem
werke ihn in seinem leide trösten.
" XII 9, 4. 6. " II 17, 22—26. «< II 2, 9. " II 4, 15 flf.
A. Messer: Quintilian als didaktiker. 167
vom publicum sich noch das wort angeben lassen, mit dem sie
anfangen sollen."^ umgekehrt empfiehlt er dem wahren redner die
gewissenhafteste Vorbereitung auf den einzelnen rechtsfall, diese
hat sich zuerst auf eine eingehende kenntnisnahme und juristische
erfassung des Sachverhalts zu richten", wie ihm überhaupt die
Sachen wichtiger sind als die worte, der inhalt ihm über der
form steht.-^ ferner ist die rede selbst, wenn zeit vorhanden, sorg-
fältig vorzubereiten; eine schriftliche ausarbeitung derselben gilt
ihm als regel.''^ neben der ausübung des rednerischen berufs, die
nicht zur geistlosen routine werden soll, haben stets theoretische
Studien und praktische Übungen herzugehen: studendum semper et
ubique!^" — Die didaktische formulierung dieses seines
soliden sinnes heiszt: die demente in Wissenschaft und
kunst als die fundamente des ganzen mit aller Sorgfalt
behandeln und langsam vom leichteren zum schwereren
fortschreiten; alles überhasten bringt keinen Zeit-
gewinn, sondern Zeitverlust.^'
Eine nur wenig verschiedene Wirkung desselben sittlich tüchtigen
Charakters ist es, wenn er Verweichlichung in musik^^ undredekunst^',
das abzielen auf den rein sinnlichen Ohrenschmaus unerbittlich be-
kämpft und wenn er jeglicher verkünstelung in der rede ^^ abgeneigt ist.
So bewahrt er denn auch dem verderbten Zeitgeschmack und
der gerade herschenden mode gegenüber seine Selbständigkeit, und
er hat den mut, nachdrücklich dagegen zu protestieren und auf
bessere Vorbilder hinzuweisen, geleitet von einem tief wahren grund-
satz, den er in dem geistreichen worte ausspricht: mala multi pro-
bant, nemo improbat bona/^ — Allerdings erhebt sich Quintilian
nicht so weit über das sittliche niveau seiner zeit und seines volkes,
dasz er den beruf des anwalts von der ihm im altertum allgemein
anhaftenden Verlogenheit und rabulisterei völlig reinigte und seine
aufgäbe als die Vertretung des rechtes definierte, er strebt ernst-
lich danach , aber er macht doch in diesem punkte zum teil recht
bedenkliche Zugeständnisse; er lehrt den satz, dasz der zweck das
mittel heilige, in seiner unsittlichen anwendung^^, indem er den ge-
brauch der lüge — zu gutem zwecke — gestattet."
«6 X 7, 21. 27 XII 8.
"^ VII pro. 32: niliil verborum causa faciendum, cum verba ipsa
rerum gratia sint reperta. X 2, 13: verba per se soni tantum. XI 1, 7.
29 X 7, 29. 30 X 7, 27. ^i j j 31 £ i 4^ e. I 7, 34 f.
32 I 10, 31 f. 33 ij 6^ 22.
31 I 6, 40: nihil odiosius est affectatione. IV 2, 38.
3^ XII 10, 73—76. specifisch römisch gefärbt erscheint seine polemik
gegen das , was ihm in seiner zeit als misbrauch erscheint, in seinem
tadel über die benutzung der redekunst zum gelderwerb I 12, 16 — 18.
doch macht er hier gewisse concessionen XII 7, 8 — 12.
30 durchaus berechtigt ist derselbe, wenn die mittel sittlich gleich-
gültig sind; unsittlich wird er erst, wenn als mittel auch solches zu-
gelassen wird, was an sich unerlaubt ist.
37 II 17, 19. 26-29. 36. III 7, 25. 8, 39 f.
168 A. Messer: Quiutiliau als didaktiker.
Ein ähnlicher grundzug seines wesens, der fast im gleichen
masze wie sein auf das sittliche gerichtetes streben der ganzen per-
sönlichkeit ihr gepräge verleiht, ist sein philosophischer sinn,
mit eindringendem Verständnis und klarem blick für das ganze der
Philosophie und den inneren Zusammenhang ihrer einzelnen teile
weist er die notwendigkeit philosophischer durchbildung für den
redner nach.^- deutlich zeigt sich aber seine philosophische be-
anlagung auch darin, dasz er es versteht, die verschiedensten fragen
aus ihrer engeren Umgebung herauszuheben, sie mit analogen er-
scheinungen auf andern gebieten in beziehung zu setzen und sie also
in ihrer allgemeinen , philosophischen bedeutung zu erfassen, die
thatsache der individuellen Verschiedenheit in der geistigen bean-
lagung^' wie in den körperformen ^", im stil der einzelnen^' und der
nationen^*^ wie in den diesen mitbedingenden volkscharakteren ^^ ist
ihm in ihrer weittragenden bedeutung klar bewust. den begriflf der
nachahmung und den des fortschritts, der über dieselbe hinaustreibt
und mit derselben sich verbinden soll, weisz er aus der betrachtung
der verschiedensten Seiten des culturlebens zu gewinnen und mit
logischer schärfe zu entwickeln.^"* auch die für alles psychische
Wachstum , für alle geistige bildung so grundlegenden begriffe
natura, ars, exercitatio hat er mit philosophischer tiefe erfaszt
und verwendet. ^^
Dieser philosophische sinn bewahrt ihn vor aller
pedanterie, vor peinlichem festhalten an starren regeln,
vor Überschätzung der methode. er spricht geradezu aus:
mihi semper moris fuit, quam minime alligare me ad praecepta,
quae KaGoXiKCt vocitant, id est (ut dicamus quomodo possumus) uni-
versalia vel perpetualia. raro enim reperitur hoc genus, ut non labe-
factari parte aliqua et subrui possit. "* in den manigfachsten formen
variiert er den satz: res in oratore praecipua consilium est^^, wo-
mit er sagen will, dasz allenthalben die eigne Urteilskraft (wofür in
manchen fällen das taktgefühl eintritt'") zu entscheiden habe, ob
und inwieweit die regeln bindend sind, wiederholt kennzeichnet er
die punkte, wo die methode nicht ausreicht, wo etwas durch lehre
nicht übertragen werden kann.^*
^' XII 2, 1 — 28. seine wiederholte polemik gegen die pliilosophen
ist der hauptsache nach ein grenzstreit, der in den damaligen (hoch-)
schulverhältuissen seine erklärung findet. Qiiintilian vindiciert die ethik
(I prooem. 10 — 17), ja die gesamte philosopliie der rhetoreuschule; was
übrigens im wesen der sache nicht begründet ist. daneben finden sich
einzelne spitzige bemerkungen gegen die 'collegen' von der philosophie,
z. b. philosophia simulari potest, eloquentia non potest XII 3, 12.
39 I 3, 6 f. "0 III 10, 10. 41 a. a. o. '^ XII 10, 16—19.
43 a. a. o. "J X 2.
*'" seine behandlung dieser begriffe wird unten näher erörtert werden.
« II 13, 14.
" II 13, 2. vgl. XI 2, 27. 44. XII 10, 8 ff. 69. 72.
•«8 XI 3, 181. IX 4, 119 f. XI 1, 91.
49 die belege dafür unten bei der erürterung der begriffe natura, ars usw.
A. Messer: Quintüian als didaktiker. 169
Ein philosophischer sinn, der das einzelne in seiner beziehung
mm allgemeinen erfaszt, wird die sicherste grundlage bilden für
eine gesunde kritik, die die einzelnen objecto in ihrem relativen
wert klar und kühl zu erkennen und zu nennen den mut hat. un-
befangen würdigt er die Vorzüge der griechischen spräche vor der
lateinischen und das dadurch mitbedingte Verhältnis der hellenischen
und römischen beredsamkeit."" meisterhaft versteht er die Vertreter
der einzelnen litteraturgattungen zu charakterisieren und zu kri-
tisieren^', wobei er sich wohl bewust bleibt, dasz gegenüber den
groszen mustern bescheidenheit im urteil sich geziemt.^- kritik
übt er auch an der erzählung von der wunderbaren rettung des
Simonides. ^^
Ein philosophisch-kritischer sinn (kritisch vor allem gegen
sich selbst!) ist aber eine überaus wertvolle ausstattung für den
didaktiker. er läszt ihn in der kleinarbeit des lehrens die groszen
ziele nicht verlieren; bewirkt, dasz er stets herr bleibt über den
Stoff, um ihn den jeweiligen subjectiven bedürfnissen der lernen-
den entsprechend zu gestalten ; bewahrt ihn so vor versinken in
didaktischen materialismus; treibt ihn an, bei seiner lehrthätigkeit
sich immer wieder zu fragen: hat das, was ich thue und wie ich
es thue, auch zweck? das sicherste gegeumittel gegen geistloses
schabionisieren und mechanisieren des Unterrichts.
Gegenüber der verkünstelung und Verweichlichung des Zeit-
geschmacks weist Quintilian auf die natur als fübrerin hin^^; er
bleibt dabei aber weit entfernt von aller naturalistischen roheit^'; er
ahnt, dasz natur und kunst keinen absoluten gegensatz bilden,
dasz auch die kunst natürlich ist.^* seine leitsterne sind ihm dabei
utilitas und decor; er ist überzeugt, dasz die kunstregeln der
zweckmäszigkeit ihren Ursprung verdanken", und dasz diese immer
norm für ihre befolgung bleibt^'; ferner weisz er: nihil potest
placere, quod non decet. "* kommen utilitas und decor in collision,
so hat die rücksicht auf das schickliche und schöne vorzugehend^;
doch sind solche collisionen nach seiner ansieht selten.^'
Der rhetorenschule seiner zeit fehlt nun vor allem die rücksicht
auf die utilitas; darum polemisiert er gegen einen schulbetrieb, der
immer mehr die fühlung mit dem leben verliert, Selbstzweck wird
und seine schüler fortdauernd auf dem Schülerstandpunkt festhält^-;
er hebt hervor, dasz die praktische bethätigung der einzige
5» XII 10, 27 ff, 35-39. s' X 1, 46-131. ^2 x 1, -26.
5^ XI 2, 16.
=^ II 5, 10—12. X 3, 15 ff. 7, 21. XI 3, 57. XII 10, 75 f.
'=•1 IX 4, 3. XI 3, 10 ff. S6 XII 10, 40—48.
=' II 13, 6 : neque enim rogationibus plebisve scitis sancta sunt ista
praeeepta, sed hoc quidquid est utilitas excogitavit.
58 II 13, 7 Tgl. X 1, 7.
=3 I 11, 11 vgl. XI 1, 8 ff". 3, 177. 181; ähnlich Cic. Or. c. 21.
^0 XI 1, 9 ff. «1 XI 1, 8. 14.
«2 II 10. II -20, 4. XI 3, 57. X 7, 4 u, ö.
170 A. Messer: Quintilian als didaktiker.
zweck alles lernens und übens sei/^ so sucht er in reforma-
torischem sinne auf seine zeit einzuwii'ken ; er ist ein greis mit
jugendlicher frische, frei von jeglichem gefühl der decadence schreitet
er vorwärts; bei aller Verehrung der meister der vorzeit, Ciceros
zumal, bleibt sein blick nicht auf die Vergangenheit geheftet: der
höhepunkt der kirnst ist noch gar nicht erstiegen, aber er wird
erstiegen werden, im Vollgefühl seines gebildeten Zeitalters
meint er, dasz die bedingungen zur Verwirklichung des rednerideals
niemals in so reichem masze erfüllt gewesen seien : tot nos prae-
ceptoribus, tot exeraplis instruxit antiquitas, ut possit videri
nulla Sorte nascendi aetas felicior quam nostra, cui
docendae priores elaborarunt. *' es erinnert an den Huttenschen aus-
ruf, dasz es eine lust sei zu leben, einen ausruf, den man von einem
Zeitgenossen Domitians im allgemeinen nicht zu hören erwartet.
Quintilians hoffnung hat sich als eitel erwiesen, er hat nicht
die tiefgreifende Veränderung gewürdigt, die mit der errichtung des
kaisertums eingetreten war: die eigentlichen lebeusbedingungen für
eine blütezeit der redekunst schwanden immer mehr dahin, er
verkennt auszerdem, dasz auch das Vorhandensein günstiger Zeit-
umstände das genie selbst nicht hervorbringt; sie können es för-
dern, seine entfaltung und bethätigung überhaupt erst ermöglichen,
aber das genie selbst rausz geboren werden. — Das jedoch wird
man zugeben, dasz ein lehr er, der so von dem zukunfts-
sicheren gefühl des fortschritts beseelt ist, unwillkür-
lich seinen Schülern von dem schwung und dem feuer
seines eignen wesens mitteilen, sie fortreiszen und be-
geistern wird.
Wir dürfen annehmen, dasz Quintilian mit den bisher be-
zeichneten eigenschaften einen ausgeprägten lehrtrieb ver-
band, er hat diesen wohl lebhaft in sich empfunden und war
sich bewust, wie wertvoll er für den lehrer sei; denn er schlieszt
den, der seiner entbehrt, geradezu von der zahl der lehrer aus.*^
er fühlt auch, dasz dieser trieb selbstlos sein musz, dasz der
lehrer sich nicht für manche geschäfte zu gut und zu vornehm
dünken darf.^* noch im alter erscheint ihm die fortführung seiner
lehrthätigkeit in den engeren grenzen seines privathauses als eine
der wünschenswertesten beschäftigungen : frequentabunt vero eius
domum optimi iuvenes more veterum et veram dicendi viam velut
ex oraculo petent. hos ille formabit quasi eloquentiae parens et ut
vetus gubernator litora et portus et, quae tempestatum signa, quid
secundis flatibus, quid adversis ratio poscat, docebit, non humani-
tatis solum communi ductus officio, sed amore quodam operis.
63 III 8, 70. X 3, 30. 7. 2. 19. XI 3, 23. 27. 29. '
^* XII 11, 23. das ganze schluszcapitel ist übrigens für die frohe
lioffnung auf fortschritt, die Quintilian beseelt, sehr charakteristisch.
vgl. I prooem. 10. I 10, 8.
65 III 2, 5. 6" II 1, 1-6. 13.
A. Messer: Quintiliau als didaktiker. 171
nemo enim minui velit id, in quo maximus fuit. quid porro est
honestius quam docere quod optima scias?" — Macht es
nicht den eindruck, als sei ihm hier mit dem bild des alternden
orator perfectus sein eignes zusammengeflossen?
Auf eine lange praxis zurückblickend und noch immer fest-
haltend an der liebgewonnenen beschäftigung schreibt er sein werk,
die fülle eigner erfahrung und die frucht theoretischer studieu, die
er zum teil eigens für sein werk angestellt hat% legt er darin nieder,
er spricht es offen aus, dasz er seinen Vorgängern sehr viel
verdanke; jedes haschen nach Originalität ist ihm fern: cum
reperto, quod est Optimum, qui quaerit aliud, peius velit *^* (auch
ein beachtenswerter grundsatz für den didaktiker!).
Er will nicht sowohl neues ersinnen, sondern das vorhandene
beurteilen und daraus auswählen, ubicumque ingenio non erit locus,
curae testimonium meruisse contentus. ^"
Quintilian ist kein irgendwie bahnbrechender geist,
er hat aber mit selbständigem urteil und mit conser-
vativem sinn das, was die Wissenschaft in ihrer seit-
herigen entwicklung ihm bot, erworben, um es zu be-
sitzen, dabei hat er sich nicht auf sein fach beschränkt; eine
allseitigerebildung zeigt sich nicht nur darin, dasz er'eine solche
für den redner fordert, sondern auch z. b. in seinem verständnis-
vollen excurs über mal er ei und plastik im zwölften buch"; er
empfindet selbst tief die wii'kung der maierei ''^ ; er hat auch einen
feinen sinn für das musikalische." — Alles dies verleiht seiner
persönlichkeit und seinem werke etwas harmonisches, masz-
V olles, das von allem extremen, von jeglicher einseitigkeit sich
fernhält, und es ist gewis nicht zufällig, dasz er die behandlung der
eigentlichen rhetorik schlieszt mit der mahnung: similis in ceteris
ratio est ac tutissima fere per medium via, quia utriusque ulti-
mum Vitium est.''^
2. Es soll nunmehr versucht werden, den reichen didakti-
schen gehalt der institutio nach höheren gesichtspunkten geordnet
zur anschauung zu bringen; dabei werden auch die verhältnismäszig
wenigen, aber um so wertvolleren pädagogischen gedauken ge-
bührende beachtung finden.
" XII 11, 5 f. 68 XII 11, 8. f'9 II 15, 38.
''" III 1, 22. über sein Verhältnis zu seinen Vorgängern spricht er
sich aus: I pro. 2, 4—6. 23-25. II 15, 37 ff. III 1. III 11, 21. V 19, 59.
14, 27—32. XII prooem. 3. 4. XII 3, 2.
" XII 10, 3—8; ein ähnlicher excurs Cic. Brut. c. 18.
'^ XI 3, 67: nee mirum, si ista (die gesten des redners), quae tarnen
in aliquo posita sunt motu, tantum in animis valent, cum pictura,
tacens opus et habitus seniper eiusdem, sie in intiraos penetret affectus,
ut ipsam vim dicendi nonnumquam superare videatur. ein Zu-
geständnis, das im munde eines rhetors gewis viel besagt.
" IX 4, 116. XI 4, 10 ff. ^^ XII 10, 80 vgl. Cic. Or. c. 22.
172 A. Messer: Quintilian als didaktiker.
Da, wo Quintilian von dem anfangsunterricht in der schule
spricht, fordert er vom lehrer an erster stelle, dasz er die geistige
Verfassung der schüler zu erkennen suche/^ er übersieht also die
bedeutung der psychologie für didaktik und pädagogik durchaus
nicht, er macht sie freilich nicht in der weise zum ausgangspunkt,
dasz er die seele des schülers in den mittelpunkt stellte und unter-
suchte , welche bildungsstoffe zu einem 'vermehren, heben, vei'edeln
der intellectuellen thätigkeit, nähren und wachsenmachen des geistes'
geeignet und deshalb heranzuziehen seien: die bildungsstoffe viel-
mehr sowie das bildungsziel, zu dessen erreichung sie zu dienen haben,
sind ihm von vorn herein gegeben; die psychologie soll nur
für das verfahren beim lehren und für die behandlung des zöglings
normgebend sein.'" er steht dabei ausgesprochenermaszen auf dem
boden der empirischen psychologie."
Bezüglich des sinnlichen Wahrnehmungsvermögens be-
merkt er, dasz die ge sich ts eindrücke schärfer und deutlicher sind
als die gehörsempfindungen.''^ ferner erscheinen als psychische
vermögen: memoria und iudicium. näher spricht er sich nur
über das erstere aus. es ist im frühen kindesalter allein wirksam'*,
aber da auch am zuverlässigsten und leistungsfähigsten, deshalb
musz es auch auf dieser stufe des Unterrichts fast ausschlieszlich be-
rücksichtigt werden; durch Übung läszt es sich sehr ausbilden.^" da-
durch, dasz man alles, was haften soll, aufschreibt, kann man seine
entwicklung beeinträchtigen.*' das vermögen der memoria äuszert
sich in zweifacher hinsieht: eins duplex virtus, facile per-
cipere et fideliter continere.** was das gedächtnis im engeren
(uns gewöhnlichen) sinne betrifft, so spricht er sich ausführlich
über seine ausbildung im zweiten capitel des elften buches aus.
er erörtert hier auch die angeblich auf Simonides zurückgehende
mnemotechnik (ars memoriae)."^ er bestimmt ihr wesen dahin,
dasz dabei die einzelnen teile des auswendig zu lernenden Stoffes in
gedanken verbunden werden mit den einzelnen platzen eines wirk-
lichen oder gedachten räumlichen gebildes, das natürlich dem geiste
ganz plastisch vorschweben musz. nutzen erwartet er davon nur
dann, wenn lange nameni^eihen festzuhalten sind, für die einpiägung
zusammenhängender rede empfiehlt er einfachere mittel, zunächst
scharfes hinrichten des geistes (mentis intentio) auf das zu lernende^*;
ferner den stoff zu teilen, aber nicht in zu kleine teile; das locale
« I 3, 1. '« I 3, 6 f.
" I 12, 8. III 2, 3. XI 2, 4. 17. 43.
^^ XI 2, 34. durch diese beiden sinne dringen nach seiner ansieht
alle affecte in die seele. XI 3, 14.
'^ I 1, 19. *o I 19, 36. XI 2.
8' X 6, 2. 7, 32 f.; so auch Plato Phaedrus s. 274 f.
62 I 3, 1. XI 2, 3.
''3 XI 2, 11—26. auch Cicero spricht darüber de er. II 86 ff. und
Seneca rhet, contr. I praef.
84 XI 2, 10.
A. Messer: Quintiliau als didaktiker. 173
gedächtnis herbeizuziehen, indem man das geschriebene in seiner
aufeinanderfolge gewissermaszen im geiste vor sich zu sehen strebt ;
um ablenkung zu verhüten, das einzuprägende leise vor sich hin zu
sagen , vor allem aber die rede logisch zu disponieren, er weisz,
dasz die gedächtniskraft abhängig ist von dem jeweiligen körper-
lichen und seelischen befinden, und dasz eine dazvfischen liegende
nacht beim auswendiglernen oft wunder wirkt, fleiszige Übung
gilt ihm als die sicherste 'gedächtniskunst'. darum sollen
die Schüler von früh an viel auswendig lernen, zunächst
poetisches." — Wie auf dem gebiete des gedächtnisses , so weisz
er überhaupt im Seelenleben die bedeutung der Übung und ge-
wöhn ung gebührend zu würdigen. ^^ damit hängt zusammen, dasz
gewisse thätigkeiten zu mechanisch verlaufenden werden, wie
er das bezüglich des lesens und des ex tempore redens nachweist. ®^
er ahnt die bedeutung der spräche für die entwicklung der Ver-
nunft, den engen Zusammenhang zwischen ratio und oratio.^*
ebenso entgeht ihm nicht der einflusz des willens auf die intel-
lectuellen Vorgänge-**; auch unterscheidet er die willkürliche und
die unwillkürliche aufmerksamkeit. ^'^
Selbstthätigkeit ist das ziel des Unterrichts; ein wirksames
mittel sie zu wecken ist die frage: neque solum haec ipse debebit
docere praeceptor, sed frequenter interrogare et iudicium discipulo-
rum experiri. sie audientibus securitas aberit nee, quae dicentur,
superfluent am-es, siraulque ad id perducentur, quod ex hoc quae-
ritur, ut inveniant ipsi et intelligant. nam quid aliud agi-
mus docendo eos, quam ne docendi semper sint. ^'
Gute beanlagung sieht er als das normale an; dasz der
mensch gelehrig sei, ist ihm so natürlich wie dem vogel das fliegen,
dem pferd das laufen, dem raubtier die Wildheit, ungelehrige sind
ebenso unnatürlich und ebenso selten wie köi'perliche misgeburten*^:
eine wohl etwas zu optimistische auffassung. — Dasz 'er die indivi-
duelle Verschiedenheit der beanlagung öfters betont % will an sich
noch nicht viel besagen, bedeutsamer ist, dasz er sie für die behand-
lung der schüler und das lehrverfahren ^* wie auch für die berufs-
wahl^^ in allererster iinie berücksichtigt wissen will, dabei weicht
er von dem, was er als herschende ansieht bezeichnet, in einem
punkte ab: jene fordere, dasz der einzelne auch innerhalb des
85 XI 2, 27-44.
8« I 1, 37. 2, 8. 11, 3. III 1, 6. es wird davon in anderem Zu-
sammenhang noch ausführlicher die rede sein.
8^ I 1, 34. X 7, 8—11. XI 2, 8.
88 II 16, 11—19. 20, 9.
8^13,15: ad profectum enim opus est studio, non indignatione,
I 3, 8 f.: Studium discendi voluntate, quae cogi non potest,
constat.
8» X 3, 23. 28 f. »1 II 5, 13 vgl. II 6, 6.
^M 1, 1 f. XI 2, 49. 93 I 1, 3. I 3, i_7. II 8, 1.
^* I 3, 1—7. 96 II 8.
174 A. Messer: Quintiliau als didaktiker.
beruf s, den er auf grund seiner individualität ergriffen, haupt-
sächlich nach der richtung ausgebildet werde, in der seine eigen-
tümliche begabung liege. Quintilian hält dies nur bei schwächer
begabten für rätlich, die andernfalls gar nichts leisten würden, wirk-
liche talente dagegen will er möglichst allseitig ausgebildet haben,
so dasz z. b. der künftige redner in allen stilgattungen geübt werde,
auch in denen , die seiner natur an sich weniger entsprechen. —
Woran ist aber die beanlagung zu erkennen? das haupt-
kennzeichen dafür ist bei kindern die memoria, die sich nach
Quintilian in mühelosem auffassen und treuem behalten bewährt;
nächstdem der nachahmungstrieb, der sich aber nicht im nach-
äffen von äuszerlichkeiten, um dadurch heiterkeit zu erregen, äuszern
darf, nam probus quoque in primis erit ille vere ingeniosus, alio-
qui non peius duxerim tardi esse ingenii quam mali. er wünscht
sich Schüler, die leicht auffassen, auch manches von selbst erfragen,
aber doch im allgemeinen mit ihrem denken dem lehrer mehr folgen
als voraneilen; den frühreifen fehlt meist der rechte innere ge-
halt, sie leisten später nichts, auch eifer zum spiel, das ja diesem
alter naturgemäsz ist, bezeugt gute beanlagung, weil seelische frische
(alacritas); köpf bänger werden meist auch bei den studien ohne feuer
und Schwung sein, übrigens bietet das spiel auch die beste gelegen-
heit dazu, die beanlagung nach der ethischen seite zu erkennen."^
auch zu grosze fülle und kühnheit beim sprechen und schreiben ist
ein gutes zeichen: facile remedium est ubertatis ; sterilia nuUo labore
vincuntur. ein zu zeitiges vorwiegen der urteikskraft verspricht
weniger."
Es mag hier sofort der nachweis sich anschlieszen, dasz er
auch bei der dar Stellung der bildungsarbeit selbst
häufig die psychologie herbeizieht, seine hohe meinung
von der leistungsfähigkeit des menschlichen geistes, die nicht nur
in dem glauben an die durchschnittlich gute beanlagung, sondern
auch sonst hervortritt "^ dient ihm als grundlage für die anforde-
rungen, die er in bezug auf die anzueignenden bildungsstoffe an den
redner stellt, er hat über das gleichzeitige betreiben mehrerer unter-
richtsgegenslände im zwölften capitel des ersten buches manche feine
psychologische bemerkung gemacht, der menschliche geist ist so be-
weglich, dasz ein völliges concentrieren desselben auf einen punkt
geradezu unmöglich ist; man wird das aber auch gar nicht an-
streben, da die abwechslung zugleich erbolung gewährt; endlich
würden bei successivem betrieb der einzelnen gegenstände die
früher behandelten nachher wieder in Vergessenheit geraten, es ist
dabei keine überbürdung zu fürchten, der geist ist in den jungen
Jahren erstaunlich gelehrig; wie viel leistet er z. b. in den zwei
Jahren des Sprechenlernens! auch der umstand, dasz ersieh noch
^^ die belege für das vorhergehende I 3, 1 — 13.
" II 4, 4—7. dieselbe ansieht bei Cic. de or. II 21.
98 I 12, 2. XII 11, 10.
A.Messer: Quiutilian als didaktiker. 175
vorzugsweise receptiv beim Unterricht verhält, trägt dazu bei, die
ermüdung zu vermindern; ebendarin liegt aber noch ein weiterer
grund, die einführung in die so zu sagen accessorischen bildungs-
stoffe — die natürlich nicht in derselben ausdebnung angeeignet
werden wie das bauptfach — in die frühere zeit zu verlegen; denn
das eigne producieren, das in den späteren jähren in den Vorder-
grund treten musz, ist viel zeitraubender und macht schon deshalb
eine gröszere beschränkung auf das bauptfach nötig, über alle dem
übersieht aber Quintilian nicht die notwendigkeit, einer wirklichen
überbürdung entgegenzuti-eten. für den anfangsunterricht musz
gelten: er sei spiel.^^ auch in dem weiteren verlauf des Unterrichts
ist immer die altersstufe und das verschiedene masz des könnens
zu berücksichtigen. '"^ vor allem aber sind die Studien stets durch
erholungsfristen , die zweckmäszig mit spiel ausgefüllt werden, zu
unterbrechen, bezüglich ihrer ausdebnung gibt er die bündige regel:
modus tamen sit remissionibus , ne aut odium studiorum faciant
negatae aut otii consuetudinem nimiae. von spielen wird erwähnt
das den Scharfsinn übende lösen von quastiunculae. wenn Quintilian
lediglich dies hervorhebt, so will er damit, wie der Wortlaut der
stelle beweist"", andere mehr den körper in anspruch nehmende
spiele nicht ausschlieszen, aber es ist doch bezeichnend, dasz er
gerade dies nennt, alle berücksichtigung des körperlichen
factors hat bei ihm lediglich den zweck, dem geiste erholung
und erfrischung zu bieten; auch das betreiben palästrischer Übungen
soll nur der ausbildung des rednerischen gestus dienen; er empfiehlt
sie nicht ohne eine tadelnde bemerkung über die, qui corporum cura
mentem obruerunt. '"• der gedanke einer gleichmäszigen
ausbildung von geist und körper tritt nirgends hervor;
freilich zeigen mehrere stellen, dasz er die bedeutung der körper-
lichen gesundheit für den normalen verlauf der psychischen thätig-
keit und für die leistungsfähigkeit überhaupt nicht verkennt. '"^
Ebenfalls unter berücksichtigung psychologischer gesichts-
punkte erörtert Quintilian die frage, ob haus- oder schul-
erziehung vorzuziehen sei.'"* er entscheidet sich für die letztere;
die positiven gründe, die er dafür vorführt, sind alle psycho-
logischer natur. der Schulbesuch entwöhnt von der natürlichen
Schüchternheit und befangenheit , anderseits verhütet er Selbstüber-
schätzung, da die leistungen vieler in der schule den vergleich mög-
lich machen, er macht schulfreundschaften möglich, quae ad senectu-
tem usque firmissime durant religiosa quadam necessitudine imbutae.
neque enim est sanctius sacris iisdem quam studiis initiari. ferner
erwirbt man den sensus communis nur im zusammenleben mit
ä» I 1, 20: lusus hie sit. '"« II 4, U. 6, 5. X 5, 1.
'"• I 3, 11: sunt etiam nonnulli acuendis puerorum ingeniis non
inutiles lusus. für das übrige vgl. § 8—13.
'«2 I 11, 15-19.
'»3 X 3, 26 f. 31. XI 2, 35. 3, 19—29. ">^ I 2.
176 A.Messer: Quintilian als didaktiker.
andern, nur die schule gibt die möglichkeit, ebrgeiz und Wetteifer
zu entfachen, und auf der untersten stufe, wo diese noch nicht wirk-
sam sind, bietet sie den vorteil, dasz die schüler an fortgeschritteneren
mitschülern wirksamere, weil leichter zu erreichende muster für die
nachahmung haben als am lehrer. endlich noch ein i3sychologischer
grund, der für den lehrer, speciell den rede lehrer gilt: eine
gröszere anzahl von schülern bringt den lehrer mehr in Stimmung
und in schwung als ein einzelner.
A-Uch bei der besprechung des Verfahrens in der schule
und der behandlung der schüler wird nicht nur, wie schon
erwähnt, im allgemeinen, sondern auch im einzelnen auf psycho-
logische erwägungen zurückgegriffen, dieselbe wird, insoweit sie
hauptsächlich auf den willen des zöglings einzuwirken hat (eine
ganz reinliche Scheidung des intellectuellen und ethischen ist hier
natürlich nicht möglich) weiter unten zur darstellung kommen;
hier sei nur erwähnt, dasz Quintilian psychologische begründung
gibt für den gebrauch der frage '"^ für die art der aufgabenstellung '"^
und ihrer correctur"'^, für die l^ebandlung der schreibübungen'"-
und des auswendiglernens.'"^
Besondere aufmerksamkeit widmet Quintilian den bei der
bildungsarbeit im ganzen in betracht kommenden factoren natura,
exercitatio (oder Studium) und ars (oder doctrina, disciplina,
cura, worunter er auch die imitatio begreift)."" es wird sich ver-
lohnen, seine ansichten darüber etwas eingehender zu betrachten.'"
'05 II 5, 13. '06 ij 6, 107 n 4, 10—14. "« x S, 22 ff.
'°^ II 7. vieles, was Quintilian über die zuletzt erwähnten punkte
sagt, ist auch heute noch lesens- und beherzigenswert, z. b. was er
bemerkt über die vom lelirer zu gebende anleitung zur anfertigung der
aufgaben , über die art der correctur bei den ersten versuchen eigner
production, die etwa unsern aufsätzen entsprechen: nee illud quod ad-
moneamus indignum est ingenia puerorum nimia interim emendationis
severitate deficere; nam et desperant et dolent et novissime oderunt,
et, quod maxime nocet, dum omuia timent, nihil conantur. feine psycho-
logische bemerkungen, die aber über das didaktische gebiet hinaus-
reichen, finden sich auszerdem IV 3, 10. V 12, 3. VI 1, 29. X 3, 33. 6, 5.
XI 1, 15—17. 38 ff. 3, 1—5. 14. 61. XII 5. 2—4.
"0 schon bei Aristoteles finden wir sie in bezug auf das ethische
gebiet, allerdings in einer zum teil etwas abweichenden bedeutung, als
<pOcic, ^Goc, Xöfoc angegeben, pol. VII 12.
'" vieles wird sich hier mit geringen modificationen von der
red nerbildung auf die leh rerbildung übertragen lassen: auch beim
lehrer müssen anläge, theoretische bildung mit nachahmung und Übung
zusammenwirken; wie das reden, so soll auch das lehren und erziehen
durch Wissenschaft von bloszer routine zur kun st Übung erhoben wer-
den; wie der redner, so hat auch der lehrer auf menschen einzuwirken,
jener freilich auf erwachsene, dieser auf heranwachsen<le; auch zu den
aufgaben des lehrers gehört das docere, movere und delectare, auch für
ihn läszt sich ein capitel de affectibus und de risu (über witz und
humor) schreiben ; auch er wirkt — fast noch mehr als der redner —
mit seiner ganzen persönlichkeit und bedarf deshalb als sicherer
grundlage seiner Wirksamkeit einer sittlichen durchbildung: wie der
redner, so niusz auch der lehrer vor allem ein vir bonus sein.
A.Messer: Qnintiliau als didaktiker. 177
in der regel treten diese drei momente cor respondierend auf.
wie sie bei der historischen entwicklung der beredsamkeit zusammen-
gewirkt haben"', so müssen sie auch iDei der ausbildung zum redner
zusammenwirken: facultas orandi consummatur natura, arte, exer-
citatione, cui partem quartam adiiciunt quidam imitationis, quam
DOS arti subiicimus.'" eine gewisse naturanlage musz vorhanden
sein, sonst bleibt alle Unterweisung vergeblich, anderseits kann
durch eifer und Übung mancher mangel in der begabung aus-
geglichen werden."^ wenn ferner auch pi-axis ohne theorie mehr
wert ist als theorie ohne praxis "'', so genügen doch natura und
exercitatio allein nicht, sondern die doctrina musz hinzukommen."®
auf die frage endlich, naturane plus eloquentiam conferat an
doctrina"^, antwortet er: si parti utrilibet omnino alteram detrahas,
natura etiam sine doctrina raultum valebit, doctrina nulla esse sine
natura poterit. sin ex pari coeant: in mediocribus quidem utrisque
maius adhuc credam naturae esse momentum, consummatos autem
plus doctrinae debere quam naturae, putabo.
Auf das Verhältnis dieser drei factoren zu einander wird auch
im einzelnen vielfach aufmerksam gemacht, so bei der ausbildung
des gedächtnisses, des rednerischen Vortrags, des extemporierens,
bei den schreibübungen, bei der kunst der Wortfügung."^
Was nun die natura für sich allein betrifft, so hebt doch
Quintilian manche punkte hervor, in denen sie fast allein in be-
tracht kommt: sie musz eben manches bieten , zu dem ars und exer-
citatio fast nichts hinzuthun, und das sie noch viel weniger
ersetzen können; an andern punkten bezeichnet er genauer, in
■welchem grade die anläge vorhanden sein musz, um der lehre
und Übung die nötige unterläge zu geben, so können z. b. körper-
liche erscheinung und stimme derart ungeeignet und unzulänglich
sein, dasz alle Unterweisung verschwendet wäre"^; ebenso musz eine
"2 III 2, 1: nam cui dubium est, quin sermonem ab ipsa rerum
natura geniti protinus homines acceperint (quod certe principium est
eius rei) huic Studium et incrementum dederit utilitas, summam ratio
et exercitatio? ... § 3: initium ergo dicendi dedit natura, initium artis
observatio . . . haec (sc. observata) confirmata sunt usu. tum quae sciebat
quisque docuit.
"3 III 5, 1. der Wortlaut der stelle beweist, dasz auch die Quintilian
vorliegende litteratnr diese frage reicblich erörtert hatte, ferner ist zu
vergleichen I prooem. 26. 27.
''* I prooem. 26. I 1, 3.
**5 XII 6, 4: plusque, si separes, usus sine doctrina quam citra usum
doctrina valet.
"^ Quintilian spricht über diesen punkt sehr ausführlich II 11 — 18.
II 17.
**^ II 19. dabei ist wohl die exercitatio unter doctrina mit ein-
begriffen zu denken, er vergiszt auch nicht hervorzuheben, dasz natura
und ars keine schroffen' gegensätze sind: omnia quae ars consummaverit,
a natura initia duxisse II 17, 7.
'•« XI 2, 1. 9. XI 3, n. 19. X 5, 7 f. vgl. X 7, 18. X 3, 15. IX 4,
3—19. 119 f. 119 XI 3, 12 f.
N.jahrb. f. phil. u. päd. II. abl. 1897 hft.4u. 5. 12
178 A. Messer: Quintilian als didaktiker.
gewisse leistungsfähigkeit des gedächtnisses, zu dessen ausbildung
ja die Übung so viel thun kann, schon von natur gegeben, andern-
falls mag statt des rednerberufs lieber der des Schriftstellers er-
griffen werden. '^° ja gerade die wichtigsten eigenschaften des
redners sind durch lehre und nachahmung nicht zu übertragen:
adde quod ea, quae in oratore maxima sunt, imitabilia non
sunt, Ingenium, inventio, vis, facilitas etquidquid arte
non traditur. "'' dahin gehört auch die animi praestantia,
quam nee metus frangat nee acclamatio terreat nee audientium aucto-
ritas ultra debitam reverentiam tardet. '■* bei der actio leistet die
natura das meiste.''^ wo die kunstregeln versagen, da musz ein
natürliches gefühl für das geziemende uns leiten, dieses
taktgefühl ist in seinem wesen nichts anderes als eine noch
mehr in der region des fühlens liegende stufe des iudicium oder
consilium, dessen Wichtigkeit Quintilian nicht nach-
drücklich genug betonen kann. ''* er sagt zwar nirgends aus-
drücklich, dasz es lediglich auf der natura beruhe, aber er scheint
dies, worauf der Wortlaut der in betracht kommenden stellen hin-
deutet, als selbstverständlich vorauszusetzen, dabei wird er nicht
verkannt haben, dasz es durch bethätigung sich entwickeln und ver-
feinern kann.
Was den zweiten factor, die ars, betrifft, so erörtert Quin-
tilian im 17n capitel des 2n buches ausführlich, inwiefern die rhetorik
>2« XI 2, 49. '2' X 2, 12.
1*2 XII 5, 1. vgl. § 2: citra coustantiam, fiduciam, fortitudinem nihil
ars, nihil Studium, nihil profectus ipse profuerit. sie musz also von
natur gegeben sein. '" XI 3, 11.
^^^ I 7, 30. II 13, 2. III 3 (wo er sich dagegen erklärt, mit Cicero
u. a. das indicium als besondern teil neben der inventio aufzuführen,
weil dasselbe in allen partes oratoriae zur geltung komme), im ein-
zelnen wird die notwendigkeit der Urteilskraft oder des taktgefühls be-
tont für die Wortwahl X 1, 6. 8, für die Orthographie I 7, 30, für das
schreiben X 3, 5. 7, für die lectüre und imitation X 1, 26. 36. 40. X 2, 3. 14-.
dieselbe eigenschaft ist wohl gemeint mit dem ausdruck acumen VI 4, 13:
valet autem in altercatione plurimum acumen, quod sine dubio ex arte
non venit; natura enim non docetur, arte tamen adiuvatur. — Eine inter-
essante parallele hierzu bieten die bemerkungen Kants über die Ur-
teilskraft in der 'kritik der reinen Vernunft' (elementarlehre II teil
I abt. II buch s. 139 der ausgäbe von Kehrbach), er definiert die Ur-
teilskraft als 'das vermögen unter regeln zu subsumieren, d. i. zu
unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen regel (casus datae legis)
stehe, oder nicht' . . . aucli Kant betont, dasz es hier fast völlig auf
die natur anläge ankomme, 'wollte sie (die logik) nun allgemein zeigen,
wie man unter diese regeln subsumieren, d. i. unterscheiden sollte, ob
etwas darunter stehe oder nicht, so könnte dieses nicht anders, als
wieder durch eine regel geschehen, diese aber erfordert eben darum,
weil sie eine regel ist, aufs neue eine Unterweisung der Urteilskraft;
und so zeigt sich, dasz zwar der verstand einer belehrung und aus-
rüstung durch regeln fähig, Urteilskraft aber ein besonderes talent
sei, welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will, daher ist
diese auch das specitische des sogenannten mutterwitzes, dessen
mangel keine schuMf^ersetzen kann' usw.
A.Messer: Quintiliaa als diclaktiker. 179
als eine solche bezeichnet werden könne. — In der bildungsarbeit
tritt sie dem schüler zunächst verkörpert entgegen im lehrer. '"
die trefflichsten lehrer sind zu wählen und auch in bezug auf
den inhalt der doctrina, denlehrstoff, gilt, dasz das beste gerade
gut genug sei. '^® der lehrer kann durch das lehrbuch nicht er-
setzt werden, noch auch durch muster, die in der littei'atur vorliegen,
bezüglich des letzteren punktes erinnert er an das Sprichwort: viva
illa vox alit plenius ^" und bezüglich des ersteren ist zu beachten,
dasz er bemerkt, nur der künstler könne an den vorhandenen kunst-
werken die ars nachweisen , da diese als solche nicht hervortreten
darf. '^'^ es genügt also wahrhaftig nicht, ein kurzes lehrbuch aus-
wendig zu lernen. '^^ — Die ars ist aus der observatio entstanden
und zwar der des nützlichen und schicklichen; utilitas
und decor bleiben darum auch stets für befolgung oder
nich tbefolgung der kunstregeln maszgebend. ''" — Zur
ars musz die imitatio hinzukommen, wie die beispiele zur regel;
sein grundsatz ist dabei: in omnibus fere minus valent praecepta
quam experimenta. '^' über die imitatio hat er sich im zweiten capitel
des zehnten buches in überaus feinsinniger weise ausgesprochen, nur
einige hauptgedanken mögen daraus hervorgehoben werden, im
übrigen mag auf die lectüre dieses auch heute noch sehr lesens-
werten abschnitts verwiesen werden, die nachahmung allein ge-
nügt nicht; denn bei bloszer nachahmung wäre es nie zu einem
fortschritt gekommen, oft ist es leichter, mehr zu leisten als
genau das nämliche; ja die copie ist notwendig dem original
gegenüber minderwertig; vieles und gerade das beste ist überhaupt
unnachahmlich, mit sorgfältigem urteil sind die muster zu
wählen und das festzustellen, worin wir uns nach ihnen richten
wollen, nicht auf äuszerlichkeiten darf sich die nachahmung be-
schränken, manche glaubten Cicero ähnlich zu sein, wenn sie ihre
Perioden oft mit esse videatur schlössen, beherzige jeder bei der
nachahmung seine kraft und seine Individualität; berücksichtige er
die eigentümlichen gesetze des gerade behandelten Stoffes ! endlich
gilt der grundsatz: non qui maxime imitandus et solus imitandus est.
Die exercitatio nennt Quintilian geradezu potentissimum
discendi genus. '^- auch ihre Wirksamkeit wird auf den verschiedenen,
gebieten im einzelnen nachgewiesen.'^^
Dieselben drei factoren haben auch ihre geltung auf dem ethi-
schen gebiet. Quintilian hat übrigens die erziehung, wiewohl
'*5 derselbe wird geradezu an stelle der ars genannt z. b. I pro. 27:
haec ipsa (sc. bona ingenii) sine doctore perito, studio pertinaci
. . . per se nihil prosunt.
126 I 1, 10. 11. '2' II 2, 8. »25 II 5^ 7 I 11^ 3 f.
'29 II 13, 15. 'SO XI 2, 17. II 13, 6—8.
13' II 5, 16 vgl. XII 2, 70. 132 11 17, 12.
'33 fijj. ^jig ]esen, schreiben und reden I pro. 27, das meditieren
X 7, 25 f., das extemporieren X 7, 24, für die ausbildung des gedächt-
nisses XI 2, 1. 9. 36. 40.
12*
180 A. Messer: Quintilian als didaktiker.
er dem sittlichen den höchsten wert beimiszt, nicht eigens be-
handelt, sondern sie nur, was ja der stoff mit sich brachte, ge-
legentlich gestreift, also auch die sittliche bildung beruht auf natur-
anlage, gewöhnung und Übung und einsieht, wenn er sagt: virtus
etiamsi quosdam impetus ex natura sumit, tamen perficienda
doctrina est'^\ so will er damit natürlich den gewissermaszen
zwischen der ethischen anläge und der den abschlusz bildenden
sittlichen einsieht stehenden factor der gewöhnung nicht
ausschlieszen. er fordert vielmehr wiederholt, dasz die erziehung
schon von den ersten jähren an beginne, also von einer zeit an, in
der es sich nicht um sittliche einsieht, sondern nur um gewöhnung
handeln kann, er tadelt aufs schärfste die verweichlichte erziehung
seiner zeit , die die kinder noch ehe sie recht sprechen können an
ausschweifende luxusbedürfnisse gewöhnt, die ihre unarten mit
küssen belohnt, die das unsittliche treiben des elterlichen hauses
ihren äugen und obren nicht entzieht: fit ex bis consuetudo, deinde
natura, discunt haec miseri, antequam sciant vitia esse; inde soluti
ac fluentes non accipiunt ex scholis mala ista, sed in scholas aflferunt. '^^
die sittliche gewöhnung in den frühsten kinderjahren ist um so
wichtiger, als dann noch die seele bildungsfähig ist; später aber er-
starrt sie gewissermaszen und ist für einwirkungen schwer zugäng-
lich: tum vel maxime formanda, cum simulandi nescia est et prae-
cipientibus facillime cedit, frangas enim citius quam corrigas, quae
in pravum induruerunt. ''^ die angeführten stellen beweisen, dasz
er die Wichtigkeit der gewöhnung und Übung auf dem ethi-
schen gebiete durchaus nicht unterschätzt, auch hier gilt ferner
der grundsatz, dasz beispiele wirksamer sind als lehren'"; auch hier
hat also die imitatio ihre stelle, von der das wort gilt: frequens
imitatio transit in mores. '^~
Bezüglich des einflusses der natura auf ethischem gebiete
finden sich bei Quintilian äuszerungen , die nicht ganz im einklang
stehen: einerseits wird constatiert, dasz die mehrzahl der menschen,
vor allem die Jugend von natur mehr zum schlechten und verkehrten
neigt; anderseits läszt die erwägung, dasz das gute doch das natur-
gemäsze sei, dasselbe als das näherliegende und leichtere erscheinen. '^'
dieser Widerspruch erklärt sich wohl so, dasz Quintilian bezüglich
des ethischen nicht wie bei dem intellectuellen ganz
auf dem boden der empirie bleibt; er betont vielmehr die
metaphysische grundlage der ethik ''"', der malus ist ihm wie den
"< XII 2, 1. »••'5 I 2, 6—8. '^« I 3, 12 f.
'" XII 2, 30. '^^ I 11, 3.
'3^ ersteres I 1, 5. 2, 2. 6, 44, letzteres I 12, 18. XII 11, 11—13, wo
er geradezu sagt: natura enim nos ad mentem optimam genuit, adeoque
discere meliora volentibus promptum est, ut vere intuenti mir um sit
illud magis, malos esse tam multos. nam ut aqua piseibus, ut
sicca terrenis, circumfusus nobis Spiritus volucribus convenit; ita certe
facilius esse oportebat secuudum naturam quam contra eam
vivere. '^o XII 2, 20 f.
A.Messer: Quintilian als didaktiker. 181
Stoikern der stultus, der bonus der prudens'^', und wie jenen ist
ihna das gute identisch mit dem naturgemäszen (wobei denn freilich
nicht recht abzusehen ist, warum so wenige menschen ihrer natur
gemäsz handeln).''*'^ dem gegenüber kommt bei ihm aber doch auch
die der erfahrung sich aufdrängende thatsache zur geltung, dasz
so viele, zumal in jungen jähren, an dem schlechten gefallen finden. "^
In das ethische gebiet fällt auch die behandlung des Schülers,
der Quintilian eine besondere aufmerksamkeit gewidmet hat. masz-
gebender grundsatz ist ihm, dasz der wille, auf dem auch das
Studium discendi beruht'**, nicht gezwungen werden kann."^
darum müssen ihm alle Zwangsmittel beim Unterricht, vor allem die
körperliche Züchtigung als ungeeignet erscheinen, die gründe,
die er dagegen anführt, sind folgende : sie ist etwas häszliches, passt
besser für sklaven und ist eigentlich eine iniuria; wo vorwürfe nichts
fruchten, da hilft sie auch nichts; sie wird meist überflüssig sein,
wenn die paedagogi die schüler zu den Studien anhalten; bei er-
wachseneren, an die doch weit höhere anforderungen gestellt werden,
musz man ja auch ohne sie auskommen*, sie kann anlasz bieten für
die schüler zu niederdrückender beschämung, für die lehrer zu mis-
brauch ihres rechtes gegenüber dem wehrlosen alter."® — Welche
motive und Interessen sollen aber nun den schüler in be-
wegung setzen? vor allem soll der Unterricht möglichst angenehm
gemacht werden, er soll im anfang überhaupt nur spiel sein; durch
spielen mit elfenbeineren buchstaben (id quod est notum: also kein
origineller gedanke Quintilians!) sollen die kinder die formen der-
selben kennen lernen; spielend sollen sie ausgewählte Sprüche und
stellen besonders aus dichtem (namque eorum cognitio parvis gra-
tior est) dem gedächtnisse einprägen.'"'' möglichst angenehm
sollen die Übungen in der rhetorenschule sein '*^; angenehm der
lehrer zumal bei der besprechung der eingereichten arbeiten'*^; und
weil die kritik der eignen productionen anzuhören den schülern
weniger angenehm sei, so wird auch empfohlen, reden älterer
"1 XII 1, 3 ff. 30. >^2 V 10, 34 vgl. XII 11, 29.
^*^ anch das erwähnt er, dasz die charakteranlage durch die der
eitern und die der ganzen natiou bedingt sei. V 10, 24.
^** lediglich darauf kommt es Quintilian an; die scliulzucht, soweit
ßie den schüler zum guten überhaupt anleiten und vor dem bösen be-
wahren soll, hat er wie die erziehung überhaupt nicht speciell in den
bereich seiner erörterungen gezogen.
'^^ I 3, 8 f.: Studium discendi voluntate, quae cogi non potest constat.
i<6 der Wortlaut der stelle erweckt den eindruck, als ob Quintilian
hier hauptsächlich an Züchtigung wegen mangelhafter bethätigung im
Unterricht denke, die frage, ob sie etwa gegenüber sittlichen verstöszen
und gebrechen am platze sei, scheint ihm als eine besondere und von
der vorigen zu trennende nicht zum bewustsein gekommen zu sein, sie
mochte wie die sittliche erziehung überhaupt ihm (wie auch wohl der
schale seiner zeit) ferner liegen.
1" I 1, 20. I 1, 26. I 1, 36.
»s II 4, 5. 26. II 10, 5. '" II 4, 12.
182 A.Messer: Quintilian als didaktiker.
autoren kritisch zu besprechen: aliena enim vitia reprehendi quisque
mavult quam sua. ''"" Cicero wird an den anfang der prosalectüre
gestellt, weil er leicht ist und für die schüler angenehm. Quintilian
gesteht, dasz er selbst den gesichtspunkt des angenehmen bei ab-
fassung seiner institutio beobachtet habe : . . . admiscere temptavi-
mus aliquid nitoris . . . ut hoc ipso alliceremus magis iuventutem
ad cognitionem eoinim, quae necessaria studiis arbitrabamur, si ducti
iucunditate aliqua lectionis libentius discerent.'^'
Ferner sollen antreibend wirken bitten, belohnungen, lob'-*,
hoffnung'"', die triebartige nachahmung (besonders bei den kleinen'^*)
und am mächtigsten der ehrgeiz). um ihn zu entfachen, ist von
belobung, location, certieren reichlicher gebrauch zu machen ; masz-
gebend ist dabei der satz: licet ipsa vitium sit ambitio, frequenter
tamen causa virtutum est. '^° endlich übersieht er auch nicht ein
weit feineres motiv: die liebe zum lehrer'"®, neben der die liebe zur
Wissenschaft und zum Studium mehr als pflicht gefordert, denn als
thatsächliches, triebartig wirkendes motiv constatiert wird. '^^
Wenn Quintilian das ethische nur mehr gelegentlich ge-
streift hat, PO darf dies nicht zu der ansieht verleiten, als ob er
etwa seine bedeutung unterschätzt habe, er als lehrer der
rhetorik konnte sie wohl nicht nachdrücklicher betonen als dadurch,
dasz er wiederholt versichert, dasz die sittliche ausbildung
wichtiger sei als die intellectuelle (deren höhepunkt ihm
die rednei'ische ist), ja dasz die letztere bei einem schlechten geradezu
ein übel sei.'^* darum fordert er denn auch, dasz die sittlichen
"0 II 5, 16.
*^' II 1, 3. auch hier bändelt es sich selbstverstäncilicli nicht um
einen originellen pfedanken Quintilians. er selbst citiert an der letzten
stelle Lucrez I 934 (und IV 11):
ac vehiti pueris absinthia taetra medentes
cum dare conantur, prius oras pocula circum
aspirant mellis dulci flavoque liquore usw.
man denke auch an Horaz' crustula doctorura!
i^^* I 1, 20.
'^' II 4, 13: nullo magis studia quam spe gaudent.
»5< I 2, 26. II 3, 10.
»58 11^ 22 — 25 vgl. XII 1, 8. in derselben weise urteilt bekanntlich
Cicero.
'^^ II 2, 8: vix autem dici potest , quanto libentius imitemur eos,
^uibus favemus. II 9: muitum haec pietas (gegen den lehrer) conferet
studio, mit näherer begründung. Quintilian beweist übrigens auch noch
an andern stellen, dasz er sich des engen Zusammenhangs zwischen der
Verstandes- und willenssphäre im menschen, der Wechselwirkung zwischen
dem intellectuellen und ethischen wohl bewust ist. vgl. V 14, 35. VI 2, 5 — 7.
VIII 3, 5.
'" II 9, 1.
'*' Quintilian hat diesen gedanken — in dem er übrigens auch mit
Cicero einig ist — nicht nur an zahlreichen stellen gelegentlich aus-
gesprochen , sondern ilin auch im ersten capitel des zwölften buches
ausführlich eutwickelt und begründet, da heiszt es z. b. (§ 1): sit ergo
nobis orator, quem constituimus, is, qui a M. Catone finitur, vir bonus
A.Messer: Quintilian als clidaktiker. 183
eigenschaften zuerst berücksichtigt werden bei auswahl der ammen,
der Spielkameraden, der pädagogen, des rhetors.'*' aus
sittlichen gründen verlangt er, dasz die knaben und die er-
wachseneren in der rhetorenschule getrennt sitzen. "^° auch auf den
Unterricht selbst wird dieser gesichtspunkt angewendet, schon
für die ersten schreibübungen der kinder werden ethisch wert-
volle Sätze gefordert.'^' bei der auswahl der lectüre in der schule
des grammatikers ist vor allem auf den sittlichen gehalt zu sehen. '®-
im einzelnen bemerkt er: utiles tragoediae, alunt et Ijrici, si tarnen
in bis non auctores modo sed etiam partes operis elegeris; nam et
Graeci licenter multa et Horatium nolim in quibusdam interpretari.
elegia vero, utique quae amat, et hendecasyllabi, qui sunt commata
Sotadeorum (nam de Sotadeis ne praecipiendum quidem est) amo-
veantur, si fieri potest; si minus, certe ad firmius aetatis robur reser-
ventur. comoedia . . . cum mores in tuto fuerint, inter prae-
cipua legenda erit. '" so der beide Quintilian! — Auch für die
redeübungen werden ethisch wertvolle stoffe empfohlen, die sittliche
Wirkung der geschichte wird hervorgehoben und die der musik nicht
übersehen"'^; mit besonderer wärme wird endlich der abschlusz der
sittlichen bildung, die begründung der ethischen einsieht durch das
Studium der moralphilosophie empfohlen. '^^
Soviel über die berücksichtigung, die Quintilian der psycho-
logischen und ethischen seite der bildung schenkt.
Welches ist nun das ziel dieser bildungsarbeit, das
bildungsideal, dem Quintilian zustrebt? es ist das seines
Volkes überhaupt, das schon Cicero in seinen wesentlichen zügen
gezeichnet hat: der orator perfectus. die republikanischen
Staatseinrichtungen, die für das gesprochene wort so empfängliche
natur des Südländers, die berschende sitte, alles hatte in der gleichen
richtung dahin gewirkt, dasz der römische bürger, der am staats-
ieben sich beteiligen wollte — und das erschien ja als der eigent-
liche beruf des mannes — befähigt sein muste, durch die rede
zu wirken, gemeint ist also mit dem ausdruck orator nicht der,
der die ausübung der redekunst als solcher zu seinem beruf
dicendi peritus; verum, id quod et ille posuit prius, et ipsa natura
potius ac malus est, utique vir bonus; und (§ 32): facultas
dicendi, si in malos incidit, et ipsa iudicanda est malum; peiores
enim illos facit, quibus contigit.
1=9 I 1, 4. 7. 9. II 2, 1. 15. '«0 II 2, 14.
1^1 I 1, 35 f.: ii quoque versus, qui ad imitationem scribendi pro-
ponentur, non otiosas velim sententias babent sed honestum aliquid
monentes. prosequitur haec memoria in senectutem et impressa animo
rudi usque ad mores proficiet.
if^ I 8, 4: cetera admonitione magna egeut, in primis, ut tenerae
mentes tracturaeque altius, quidquid rudibus et omnium ignaris insederit,
uon modo quae diserta sed vel magis quae bonesta sunt, discant.
»63 I 8, 4-7. 16« XII 2, 29 flt. I 10, 31—33.
1" XII 2, 1—6. 15—20.
184 A.Messer: Quintilian als didaktiker.
macht, nicht der schulredner, der rhetor, sondern der mit der bil-
dung seiner zeit ausgerüstete bürger, der in der beherschung des
Wortes das notwendigste und zugleich wirksamste mittel besitzt zur
teilnähme an der politischen und an der, im altertum damit enge
verknüpften, gerichtlichen thätigkeit.
Damit ist schon gegeben, dasz neben dem moment der fer tig-
keit, der eloquentia, das der kenntnis, der eruditio darin ent-
halten sein musz; denn nur auf grund der Sachkenntnis und zwar
einer vielseitigen Sachkenntnis kann der redner seiner aufgäbe ge-
recht werden, die in nichts geringerem besteht als über alle vor-
kommenden fragen inhaltlich und formell tadellos reden zu können.'^®
vor der naheliegenden gefahr, in gehaltlose, nichtige rederei zu ver-
fallen, wird ausdrücklich gewarnt, indem betont wird, dasz die worte
für die gedanken da sind, dasz der inhalt über der form stehe.'"
Ferner ist mit der eloquentia auch gründliche logische
Schulung und eine ausbildung des gemütes erfordert: das erstere,
insofern die dialektik mit der rhetorik untrennbar verbunden ist,
und besonders insofern die geistige Selbständigkeit, die eigne
Urteilsfähigkeit (consilium, prudentia) geradezu die wichtigste
eigenschaft des redners bildet; das letztere, da der redner auf das
gemüt wirken musz: er nicht nur zu belehren, sondern zu er-
schüttern und mit fortzureiszen hat. diese Wirkung wird
derjenige am sichersten ausüben, der die affecte, die er bei den Zu-
hörern erwecken will, selbst empfindet.'"^
So steht an sich die Schulung und bereicherung des
geistes gleichwertig neben der ausbildung des red-
nerischen könnens, und da ratio und oratio die beiden eigen-
schaften sind , durch die der mensch sich vom tier unterscheidet , so
wird in ihnen zugleich das eigentlich menschliche, die humanität
ausgebildet (der ausdruck humanitas findet sich allerdings bei Quin-
tilian zur bezeichnung des bildungszieles nicht), dabei ist freilich
nicht zu verkennen, dasz doch die rednerische fertigkeit, in
der die geistige bildung gewissermaszen erst in erscheinung tritt,
eben dadurch mehr die beachtung auf sich lenkt und dasz öfter die
oratio allein als der specifisch menschliche vorzug, und als
derjenige, in dem die bildung in ihrer Wirksamkeit sich greifbar
darstellt, genannt wird. '*"
'^" II 21, 4: ego (neque id sine auctoribus!) materiara esse rlietorices
iudico omnes res quaecunque ei ad dicendum subiectae sint. — Das
gauze capitel handelt von diesem gegenständ und auf die Übereinstim-
mung mit Plato (Gorgias s. 454'', IMiaedrus s. -261 ^) und Cicero (de
or. 1, 15. de inv. I 5. de or. 1, 6) wird ausdrücklich hingewiesen.
'" X 2, 13. 27. VII pro. 32: nihil verborum causa faciendum, cum
verba ipsa rerum gratia sint reperta.
168 VI 2, 25 — 31; vgl. I 2, 30: maxima pars eloquentiae constat
animo.
'^ä ratio und oratio werden als gleichwertig genannt z. b.
II 20, 9: quodsi . . hominem . . ratione atque oratione excellere
A. Messer: Quintiliau als didaktiker. 185
Die geistige und sprachliche bilduug musz aber auf sitt-
licher grundlage ruhen, der redner musz ein sittlich guter
mann sein, und umgekehrt: nur der vir bonus kann zum orator
perfectus werden, damit ist schon ausgesprochen, dasz das ethische
und das intellectuelle nicht beziehungslos neben einander stehen,
sondern dasz sie in einander übergreifen und sich verflechten, so
findet z. b. die sittliche bildung ihren abschlusz und ihre Vollendung
durch die sittliche einsieht, in der aus dem intellectuellen gebiet
licht fällt auf das ethische; der orator also, indem er als vir bonus
sich vollendet, kann zugleich als vere sapiens und prudens bezeichnet
werden. "° ferner ist die aus bildung zum wahren redner und die
ausübung des rednerischen berufs gar nicht möglich ohne die
ethischen eigenschaften. '^' so erscheint die eloquentia selbst
geradezu als ethisch wertvoll und dies gibt dem bildungsideale
eine man möchte sagen religiöse weihe, die sich in der bezeichnung
oratoris sacrum nomen unwillkürlich ausdrückt. '^-
Gerade bei dieser betonung des sittlichen Charakters der elo-
quentia konnte Quintilian, ohne ins phrasenhafte zu geraten, es aus-
sprechen, dasz sie den reichsten lohn in sich trage, dasz sie die
höchste, weil sittliche befriedigung durch sich selbst gewähre, '"
Stark hervortretend ist endlich in diesem bildungsideal die
praktische tendenz. allerdings: nicht dem gemeinen erwerb darf
die beredsamkeit dienen ''\ aber ebenso wenig darf der redner ein
Stubengelehrter sein, der dem leben, insonderheit dem politischen
leben und seinen aufgaben aus dem wege geht, im griechischen
bildungsideal tritt freilich die neigung zum stillen, sich selbst ge-
nügenden gelehrten- und philosophenleben sehr in Vordergrund,
in der griechischen weit waren ja schon lange , seit der monarchi-
schen gestaltung der dinge, an die stelle der mit dem Staate innig
verwachsenen bürg er, deren lebensberuf politische thätigkeit war,
privatmenschen getreten. — Mit vollem bewustsein, '^dem stark
ceteris certum est: cur non tarn in eloquentia quam in ratione virtutem
eius esse credamus? für sich allein erscheint die oratio z. b.
I 10, 7: oratio, qua nihil praestantius homini dedit providentia. vgl.
XII 11, 30. besonders lehrreich ist für den Übergang von der ersten
ausdrucksweise in die zweite die stelle II 16, 11 — 19, aus der ich das
wichtigste heraushebe: rationem igitur nobis praecipuam dedit (sc.
natura) .. sed ipsa ratio neque tarn nos iuvaret neque tarn esset in
nobis manifesta, nisi quae concepissemus mente, promere etiam
loquendo possemus: quod magis deesse ceteris animalibus quam intel-
lectum et cogitationem quandam videmus; worauf dann der nachweis
versucht wird, dasz auch den tieren in gewissem sinne ratio zukomme;
so bleibt denn als das specifisch menschliche lediglich die oratio und
der mensch in seiner Vollendung stellt sich dar im orator.
'-0 XI 1, 35. XII 1, 30.
"1 II 21, 8—10 und mit ausführlicher begründung XII 1.
'" XII 1, 24, vgl. I 12, 18.
''3 XII 11, 29 ff.
^'•* XII 7, 8 — 12, wo er auch fein bemerkt: pleraque hoc ipso pos-
sunt videri vilia, quod pretium habent.
186 A.Messer: Quintilian als clidaktiker.
ausgeprägten socialpolitischen sinne der Römer' "'" entsprechend
lehnt Quintilian diesen zug des griechischen bildungsideals ab. im
zweiten capitel des zwölften buches, in dem er mit wärme zur be-
schäftigung mit der philosophie auffordert, erklärt er (§ 6 f.) : qua-
propter haec exhortatio mea non eo pertinet, ut esse oratorem
philosophum velim, quando non alia vitae secta longius a civilibus
officiis atque ab omni munere oratoris recessit. . . . atqui ego illum,
quem instituo, ßomanum quendam velim esse sapientem, qui non
secretis disputationibus sed rerum esperimentis atque operibus vere
civilem virum exhibeat. noch mehr ins einzelne gehend bezeichnet
er die praktische thätigkeit, der der redner sich hingeben musz,
gleich in der vorrede seines ganzen Werkes (§ 10) (abermals mit
polemischer tendenz gegen die 'philosophen') : neque enim hoc con-
cesserim, rationem rectae honestaeque vitae (ut quidam putaverunt)
ad philosophos relegandam , cum vir ille vere civilis et publi-
carum privatarumque rerum administrationi accommodatus, qui
regere consiliis urbes, fundare legibus, emendare iu-
diciis possit, non alius sit profecto quam orator. ja sogar auch
im kriege musz er sich bewähren, und mitten in den schrecken des
kampfes musz seine rede ihre macht über das gemüt der Soldaten
bewähren. "^
Und doch: im munde Ciceros mochten derartige ausführungen
noch ihre volle Wahrheit haben, wenn Quintilian sie vorträgt, so
können wir uns doch der empfindung nicht entschlagen, als lasse er
dabei zu sehr die realen Verhältnisse auszer betracht. wir
befinden uns ja nicht mehr in den zeiten der senatsherschaft ; jetzt
ist es nicht mehr möglich, dasz reden wie die gegen Catilina oder
für die lex Manilia gehalten werden; schon seit mehr als einem Jahr-
hundert ist der principat begründet, der mehr und mehr zur ab-
soluten monarchie sich auszugestalten strebt, die Verhandlungen im
Senate verlieren ihre weitreichende Wichtigkeit; die Volksver-
sammlung ist so gut wie beseitigt; die g er ichts Verhandlungen
büszen ihren politischen Charakter ein, die wirklich bedeut-
samen fälle zieht das gericht des kaisei'S und seiner mandatare an
sich, immer mehr muste unter dem einflusz dieses wandeis der zeit
auch das römische bildungsideal nach der richtung hin gravitieren,
nach der das griechische schon längst sich entwickelt hatte, mag im
übrigen Quintilian mit seinem zurücklenken auf Cicero billigens-
werte und realisierbare ziele verfolgen: hier strebt er etwas an,
was sich nicht voll realisieren läszt, für den Ciceronianischen
'vollkommenen redner' sind die lebensbedingungen unwiderruflich
dahin.
175 Willmann, didaktik I^ s. 201. — Seine ausführungen über das
'ethos der römischen bildung' habe ich in diesem capitel mehrfach
benutzt.
"^ XII 1, 28. in diesem capitel, besonders § 23 — 32 ist am aus-
führlichsten über die praktische tendenz des orator gesprochen.
A.Messer: Quiatilian als clidaktiker. 187
Sollte Quintilian davon gar kein bewustsein gehabt haben? es
ist kaum denkbar; wahrscheinlicher ist, dasz bestimmte gründe ihn
hinderten , diesem bewustsein deutlichen ausdruck zu verleihen, er
nimmt die weitgehendste rücksicht auf Domitian , dem er ja auch
besonders verpflichtet war. zeugnis davon gibt die überschwäng-
lichehuldigung, die erden dichterischen und militärischen leistungen
des kaisers darbringt, er verfällt dabei in eine Schmeichelei, die
wirklich peinlich berührt und beweist, wie schädlich es auch auf
den Charakter eines in der that sittlich strebenden mannes wirken
kann, unter der nicht genugsam eingeschränkten herschaft eines
sittlich minderwertigen menschen zu stehen, wie nahe es also auch
gelegen hätte, über die veränderten Zeitverhältnisse zu klagen,
Quintilian schreibt, als ob nicht der wink des kaisers oder seiner
ratgeber, sondern der redegewaltige bürger in senat und Volks-
versammlung die geschicke des reiches bestimme, nur einmal ent-
schlüpft ihm eine wehmütige bemerkung über die eingeschränkte
politische bedeutung der gerichte. '" thatsächlich zeigt aber
Quintilians werk selbst durch die ganze auswahl und behandlung
des Stoffes, dasz für den damaligen redner die thätigkeit vor
ge rieht durchaus die hauptsache war, die institutio beschäf-
tigt sich vorwiegend , die bücher 4. 5 und 7 sogar ausschlieszlich
mit dem genus iudiciale.
So dürfte also wohl ein hyperconservativer sinn, der die ver-
änderte zeitlage zu wenig würdigt, ihn an dem Ciceronianischen
bildungsideal mit seiner vorwiegenden tendenz auf praktische be-
thätigung festhalten lassen, anderseits mag ihn die rücksicht auf
den kaiser verhindert haben, sich klar darüber auszusprechen, ob er
denn wirklich noch die daseinsbedingungen für den orator perfectus
als vorhanden ansieht, oder ob er sie durch eine änderung auf poli-
tischem gebiet oder sonstwie zurückgeführt haben will, eins ist
sicher: sein bildungsideal ist nicht mehr ganz zeit-
gemäsz.
Um so bemerkenswerter ist darum die art, wie er — hierin
abweichend von Cicero — den begriff des Ideals faszt. Cicero
spricht es ganz offen aus, dasz niemals jemand im vollen sinne ein
orator perfectus werden wird, sein ideal schwebt wie die Platonische
idee unerreichbar über der menschenweit. '^^ er faszt also den
begriff des ideals so, wie wir ihn gewöhnlich fassen: es ist ein
unser streben regulierendes und befeuerndes phantasiegebilde, dem
wir uns in unzähligen abstufungen annähern, das wir aber nie ganz
•'■ er erwähnt die tliatsacbe, dasz einst Cicero den L. Murena
hauptsächlich dadurch rettete, dasz er den richtern die Überzeugung
beibrachte: nihil esse ad praesentem rerum statum utilius quam pridie
Calendas Januarias ingredi cousulatum. er fügt hinzu: quod genus
uostris temporibus totum paene sublatum est, cum omuia curae tute-
laeque unius innixa periclitari nullo iudicii exitu possint. war übrigens
das aufhören der politischen advocatenrede ernstlich zu beklagen?
'"^ Cic. Or. c. 2 (662). c. 5 (667).
188 A. Messer: Quintilian als didaktiker.
in Wirklichkeit umsetzen können, anders Quintilian I er gibt zu : das
ideal ist noch nicht erreicht, auch Demosthenes und Cicero haben
es nicht erreicht, es ist auch in der that sehr schwer zu verwirk-
lichen, aber an sich, seinem wesen und begriffe nach, ist
es nicht unerreichbar, ja die gegenwart ist sogar, getragen von
der Vergangenheit, vor allem befähigt es zu verwirklichen.'"
Man wird zugeben, dasz diese fassung des Ideals nur geeignet
sein kann, seine triebkraft, seinen anfeuernden einflusz auf das
menschliche streben zu erhöhen, sie harmoniert auch trefflich zu
dem bildungsstolzen hochgefühl, mit dem Quintilian von seiner
gegenwart redet, und das ihn auch übersehen läszt, 'dasz dem epi-
gonentura mit aller lehrkunst nicht aufzuhelfen ist', aber diese
ganze freudige und hoffnungsreiche grundstimmung, von der seine
persönlichkeit getragen ist, und die ihn auch treibt, so feurig
die pflicht zur praktischen bethätigung zu predigen: sie erinnert
doch etwas an den idealistisch gesinnten und zugleich selbstzufrie-
denen schulmeistei-, der es gar edel und herzlich gut meint, der aber
doch jahraus, jahrein — wenn auch nur geistig — ^in sein museum
gebannt ist', der die weit 'nur am feiertag' sieht und sie dann viel
ansprechender findet, als sie in ihrer werktäglichen Wirklichkeit sein
mag. so flieszt denn unmerklich viel von dem idealgefärbten Inhalt
des subjects auf das object über, die grenze zwischen dem sein-
sollenden und dem seienden verwischt sich , das ideal scheint der
Wirklichkeit um so näher zu liegen, je weiter derjenige, der es im
herzen trägt, von der Wirklichkeit entfernt ist.
So merken wir denn gerade an dieser stelle, wie bildungsideale
doch auch ohne den willen ihrer bekenner sich unmerklich ver-
schieben durch die macht der Verhältnisse; gerade hier wird
uns fühlbar der allmähliche, notwendige Übergang von der alten
politischen beredsamkeit der republikanischen zeit zu der
unpolitischen rhetorik, wie sie dann noch Jahrhunderte hin-
durch in den schulsälen ihr wesen treibt, noch zwei kleine züge
mögen diese Wendung nach der schule hin, dies abstreifen des
socialpolitischen charakters der beredsamkeit illustrieren. Cicero
erklärt es noch für unverträglich mit der würde des redners, seine
kunst zu lehren'®^: bei Quintilian, dem redelehrer, erscheint dies
nicht nur, selbstverständlich, als ganz unanstöszig, sondern seinem
orator perfectus ist sogar die fortsetzung der lehrthätigkeit bis ins
"^ XII 1, 18 ff. I 1, 10 f. I pro. 20. I 10, i ff. 8. XII 11, 25 ff. —
Einmal bricht dabei auch der zweifei sich bahn, ob die fassung des
ideals als eines einzigen und absoluten wohl die richtige sei.
XII 10, 2: suos autem haec operum genera, quae dico, ut auctores sie
etiam amalores habeut; atque ideo nondum est perfectus orator ac
nescio an ars ulla, non solura quia aliud in alio magis eminet, sed
quod non una Omnibus forma placuit, partim conditione vel temporum
vel locorum, partim iudicio cuiusque atque proposito. vgl. Cic. or.
c. 11 (675).
150 Cic. or. c. 42 (725).
A. Messer: Quintiliau als didaktiker. 189
höchste alter ein ziel, *aufs innigste zu wünschen'.'*' fernerhält
Quintilian es für angemessen, dasz der orator perfectus sich von der
politischen thätigkeit zurückziehe, sobald das nahen des alters sich
bemerklich mache: quare antequam in has aetatis veniat insidias,
receptui canet et in portum integra nave perveniet. und warum?
quia decet hoc quoque prospicere, ne quid peius, quam fecerit,
faciat. so dient doch im gründe die thätigkeit des redners nicht aus-
schlieszlich dem gemeinwesen, sondern — man möchte fast sagen:
zuerst — der selbstdarstellung der eignen persönlich-
keit, die sociale tendenz wird zurückgedrängt von der sub-
jecti v-egoistischen. man fühlt: verschwunden ist die zeit,
als sich ein Appius Claudius, erblindet und dem tode nahe, in den
Senat tragen läszt und seine letzte kraft einsetzt, die ehre des Staates
zu retten — wahrlich nicht daran denkend, ob er noch so schön rede
wie in der zeit seiner manneskraft!
Nachdem wir das bildungsideal betrachtet haben, das Quin-
tilian vorschwebte, sollen seine ausführungen über die bei der
bildungsarbeit beteiligten personen hier zusammengefaszt
werden.
Als leiter der bildung und erziehung erscheint bei
Quintilian, wie es auch naturgemäsz ist, der vater. er wird schon
von der geburt des sohnes seine sorge darauf richten, dasz für
die entwicklung des künftigen redners die günstigsten bedingungen
gegeben sind. ""^
Vor allem musz das kind von anfang an richtig und rein
sprechen lernen, deshalb ist bei der auswahl der ammen nicht
nur auf die moralischen eigenschaften, sondern auch auf die spräche
zu sehen. '^^ Quintilian sieht es dabei gewissermaszen als selbstver-
ständlich an, dasz die amme an die stelle der mutter trete, doch
gedenkt er, wenigstens einmal , flüchtig auch dieser ; auch bei ihr
wünscht er wie beim vater möglichst hohe bildung (quam plurimum
eruditionis) und weist u. a. auf Cornelia, die mutter der Gracchen,
und ihren einflusz auf die rednerische ausbildung der söhne hin. '^'
Auch die altersgenossen, mit denen der knabe erzogen
wird, müssen denselben anforderungen an moralität und reine
spräche genügen wie die ammen. '^° die darauf folgende stelle über
die paedagogi ist so charakteristisch, so aus dem leben gegriffen,
dasz ich sie ganz hersetzen will (§ 8) : de paedagogis hoc amplius,
ut aut sint eruditi plane, quam primam curam esse velim; aut se
non eruditos esse sciant; nihil enim peius est iis, qui, paulum ali-
quid ultra primas litteras progressi , falsam sibi scientiae persua-
sionem induerunt; nam et cedere praecipiendi peritis indignantur,
et velut iure quodam potestatis, qua fere hoc hominum genus intu-
>»' XII 11, 4—7. '52 I 1^ i_3 1-3 I 1^ 3_5.
18* I 1, 6. 185 I 1, 7.
190 A. Messer: Quintilian als didaktiker.
mescit, imperiosi atque interim saevientes stultitiam suam per-
docent. als trauriges beispiel eines solchen pädagogen wird Leonidas
genannt, der auf seinen zögling Alexander d. gr. einige seiner
fehler übertragen haben soll. '^^
Im hause erfolgt auch noch — wohl durch den paedagogus —
die erste Unterweisung im lesen und schreiben und zwar im griechi-
schen und lateinischen, ob auch der eigentliche sogenannte gram-
matische Unterricht im hause oder in der schule erfolgen
solle, hat Quintilian ausführlich erörtert. '-'' für das erster e scheint
zu sprechen, dasz der Schulbesuch durch das Zusammensein mit der
allezeit zum schlechten aufgelegten jugend sittliche gefahren birgt,
und dasz der privatlehrer seine ungeteilte kraft einem widmen
kann, aber der knabe kann auch zu hause verdorben werden: durch
das gesinde , durch einen gewissenlosen lehrer selbst, sorgfältige
Überwachung ist also auch hier nötig und sie wird auch die in der
schule drohenden gefahi-en abzuwenden wissen: man wähle nur
einen sittlich tadellosen lehrer, eine schule, in der strenge zucht
harscht, man gebe nur dem knaben einen geeigneten älteren be-
gleiter'"'' bei und vor allem: man halte auf ein sittlich reines
familienleben.
Für die schulerziehung sprechen nun aber mehrere gewichtig©
gründe: gute lehrer werden nicht hauslehrer sein wollen, nam opti-
mus quisque praeceptor frequentia gaudet ac maiore se theatro
dignum putat (§ 9). es ist ferner nicht möglich, dasz der lehi'er
sich den ganzen tag einem widme, wenn der knabe schreibt, aus-
wendig lernt, überlegt, so ist er am besten allein; anderseits ist
es bei der behandlung des grammatischen Stoffes, bei der Inter-
pretation, bei rhetorischen disponierübungen und declamationea
ganz gleich, ob einer oder meh rere Schüler zuhören; non enim
vox illa praeceptoris, ut cena, minus pluribus sufficit; sed ut sol,
universis idem lucis calorisque largitur (§ 14). bei der anleitung
zum richtigen und sinnvollen lesen, bei der correctur der arbeiten
musz sich der lehrer allerdings mehr mit dem einzelnen beschäftigen
und eine grosze zahl ist hier hinderlich, aber man wähle keine über-
'^''' I 1, 9. — Dieser unglückliche Leonidas figuriert denn auch in
der von Quintilian beeinfluszten litteratur gewöhnlich als abschrecken-
des exempel, ohne dasz man recht weisz, worin eigentlich sein vergehen
bestanden habe, eine etwas rätselhafte andeutung darüber findet sich
(wie ich aus dem Spaldingschen Quintilian-commentar ersehe) lediglich
bei Hinkmar von Rheims (ep. 14): et legimus, quomodo Alexander in
pueritia sua habuit baiulum (i. e. paedagogum) nomine Leonidem,
citatis moribus [motibus?] et incomposito incessu notabilem; quae puer,
quasi lac adulterinum sugens, ab eo sumpsit.
1^7 I 2.
'^'^ I 2, 5: et nihilominus amicum gravem viriim, aut fidelem libertura,
lateri filii sui adiungere, cuius assiduus comitatus etiam illos meliores
faciat, qui timebuntur. mit dem amicus gravis vir ist wohl ein geeig-
neter dient des hauses gemeint. — Dasz sich auch freie zu solchen
Pädagogendiensten hergaben, zeigt I 2, 10.
A.Messer: Quiutiliaa als didaktiker. 191
füllte schule, übrigens ist es für den künftigen redner unerläszlich,
dasz er von früh an durch Zusammensein mit menschen sich der
Schüchternheit entschlage. die schule bietet gelegenheit, freund-
schaften zu schlieszen , die bis ins alter dauern , lob und tadel für
den einen schüler hat auch nutzen für die andern, hier allein ist es
möglich, den ehrgeiz, jenen mächtigen sporn für die Studien, zu
nützen; hier allein kann die unwillkürliche nachahmung der schüler
unter einander platz greifen ; endlich wirkt es auf den lehrer selbst
anregender, vor einer classe als vor einem einzelnen zu sprechen.
Neben dem Unterricht in der schule des 'grammatikers' hat die
Unterweisung in den andern fächern der cykOkXioc rraibeia herzu-
gehen. '*" der besuch der rhetorenschule schlieszt sich an. nur be-
züglich des rhetors hat sich Quintilian eingehender über die er-
fordernisse, denen er genügen soll, ausgesprochen.'^" wir wollen
diese ausführungen mit den einzelnen vorhergehenden andeutungen
zu einem gesamtbilde vereinigen, das uns zeigen soll, wie der
lehrer nach Quintilians sinn beschaffen sein musz und wie sein
Verhältnis zu den schülern sich zu gestalten hat.
Tüchtiges sachliches wissen und (zumal beim rhetor) sach-
liches können musz sich verbinden mit lehrgeschick und lehr-
trieb '^', mit hingebung an den beruf und erfahrung. '*' den schülern
gegenüber musz er möglichst individualisierend zu verfahren suchen,
darum musz er vor allem ihre intellectuelle und ethische beanlagung
zu erkennen suchen. '^^ auch musz er bemüht sein, dem geistigen
niveau der schüler, dem grade ihrer leistungsfähigkeit sein lehr-
verfahren und seine anforderungen anzupassen, also keine über-
bürdung! ist das, was er bietet, zu hoch für die knaben oder zu
reichlich , so wird es so wenig aufgenommen , wie wenn man eine
grosze quantität flüssigkeit auf einmal in ein gefäsz mit enger
Öffnung gieszen will: einträufeln musz man das wissen, nicht ein-
schütten. '^* der lehrer musz sich vorkommen wie ein erwachsener,
der mit einem kleinen kinde einen weg macht: er musz es an der
band nehmen und seine schritte verkleinern nach dem trippeln des
kindes. '^'^ strenge zucht soll in der schule herschen'*^ aber grund-
satz musz sein: mehr durch verhüten'", mehr durch ermahnen '^^
wirken als durch strafen; schlage sind durchaus zu verwerfen. '^^
Wie in der bildung überhaupt bei Quintilian das ethische
moment stark hervortritt, so auch im Verhältnis des lehrers
und Schülers, es genügt nicht, wenn der lehrer — auch für den
1S9 I 10, 1 ff.
'ä" II 2. — Quintilian bemerkt selbst, dasz diese ausführungen
nicht nur für den rhetor, sondern auch für die übrigen lehrer geltung
haben. II 2, 2.
'3' I 4, 23. X 5, 19. XII 11, 14. — Ist die gelehrsamkeit des gram-
maticus nicht sehr bedeutend, so soll er sich lieber eng an ein ge-
bräuchliches lehrbuch anschlieszen. I 5, 7.
192 I 11, 14. 193 I 3, 1—7. »9» I 2, 27—29. »95 u 3^ 7_9.
1'« I 2, 5. '" I 3, 14. 198 n 2, b. '99 I 3^ 13—18.
192 A. Messer: Quintilian als didaktiker.
lehrer der rhetorik gilt dies — lediglich in ein bestimmtes Wissens-
gebiet einführt, eine bestimmte fertigkeit vermittelt, aber gegen die
persönlichkeit des schülers mit glatter höflichkeit sich abschlieszt —
wie das wohl im höheren Unterricht zu zeiten so sein mag. nein,
er soll sich auch den älteren Zöglingen gegenüber als geistiger
vater fühlen.'^"" darum kann er aber auch nicht das eigne sittliche
selbst hinter seine lehrthätigkeit als indifferent zurücktreten lassen,
sondern er musz mit seiner ganzen persönlichkeit wirken,
er kann nur dann gegen moralische fehler und schwächen bei seinen
Schülern auftreten, wenn er selbst frei davon ist. sein ernst gehe
nicht bis zur Unfreundlichkeit, seine freundlichkeit werde nicht
burschikos, er sei vor allem nicht langweilig , trocken und pedan-
tisch.^"' er bekämpfe den zorn, lasse aber nicht das tadelnswerte
ungerügt hingehen, er sei einfach und schlicht in seinem lehrton,
geduldig und genau in seinem lehrverfahren; er suche mehr durch
stätigkeit und consequenz .zu erreichen als durch raaszlose anfoi'de-
rungen. die schüler musz er zu selbstthätiger raitarbeit heranziehen,
indem er den regsamen , die von sich aus fragen , gerne auskunft
gibt, die gleichgültigen dagegen durch fragen in atem hält, im
loben sei er nicht knauserig — das erzeugt abneigung — , aber auch
nicht zu verschwenderisch, das bewirkt lauheit. bei der beurteilung
der sehülerleistungen werde er ebenso wenig bitter und satirisch,
wie grob und beleidigend. — Manche lehi*er fahren dabei die schüler
an, als ob sie persönliche feinde vor sich hätten. — Er soll dabei
manches loben, manches hingehen lassen, manches ändern — aber
mit angäbe des grundes — , auch von dem seinigen hinzuthun; bis-
weilen soll er selbst musterarbeiten dictieren; gänzlich verfehltes
soll er nochmals anfertigen lassen und dabei in dem schüler die hofF-
nung erwecken, dasz er es viel besser machen könne.
Endlich ist auch noch auf das verschiedene alter und können
rücksicht zu nehmen: mancher gut gemeinte versuch ist anzu-
erkennen, aber dabei zu bemerken, dasz die anerkennung nur eine
relative sei, dasz man später besseres erwarte. ^"^ für den redelehrer
aber insbesondere gilt, dasz er täglich selbst seinen schülern eine
200 sumat igitur ante omnia parentis erga discipulos suos animum.
II 1, 4. Quintilian gibt hier übrigens auch nur der allgemeinen römi-
schen auffassung ausdruck; vgl. Willmann, didaktik P s. 201, der z. b.
verweist auf Juv. sat. 7, 209: di praeceptorem sancti voluere parentis
esse loeo. • — Die folgenden ausführungen sind, soweit nicht andere
belegsteilen angegeben werden, aus dem zweiten capitel des zweiten
buches entnommen, das die Überschrift trägt 'de moribus et officiis
praeceptoris'. dies capitel ist in der humanistischen litteratur un-
zähligemal ausgeschrieben worden, es verdient in der that durch seinen
reichen inhalt, den es in knappe und zierliche form kleidet, auch heute
noch gelesen und beherzigt zu werden.
2"' II 4, 8: quapropter in primis evitandus et in pueris praecipue
magister aridus usw.
^"^ diese ratschlage für die correctur und beurteilung der sehüler-
leistungen stehen II 4, 10 — 14.
A.Messer: Quintilian als didaktiker. 193
mustergültige leistuug vorführe; denn, wie das sin-ichwort sagt:
viva vox alit plenius ; und das lebensvolle vorbild des lehrers, zumal
wenn ihm die schüler liebe und Verehrung entgegenbringen , wirkt
mehr als die leblosen muster in den büchern. dabei sollen die
schüler aufmerksam und bescheiden zuhören; denn der lehi-er soll
nicht dem geschmack und urteil der schüler entsprechend reden,
sondern umgekehrt soll er ihr urteil durch seine leistungen erst be-
richtigen und bilden, ungehörig ist es, dasz die schüler gegenseitig
ihre leistungen beloben und beklatschen: nur der lehrer hat über
sie zu richten.
Bei der betrachtung des Verhältnisses zwischen eitern und
lehrer wollen wir uns zunächst erinnern, dasz Quintilian sich nicht
in einem Zeitalter der durchgeführten staatsschule , der prüfungen
und berechligungen befindet, der einflusz des elternhauses
istalso bedeutender. — Zunächst musz der vater sorgfältig die
schule aussuchen, der er seinen söhn anvertrauen will: die besten
lehrer sind zu wählen und zwar gleich von an fang an. der be-
gründung der letzteren forderung hat Quintilian ein besonderes
capitel (II 3) gewidmet, er bekämpft darin die ansieht, mittel-
mäszige lehrer seien für den elementarunterricht geeigneter; denn
da sie nicht durch eine so weite geistige kluft von den schülern ge-
trennt seien, so seien sie leichter zu verstehen und nachzuahmen;
auch seien sie nicht zu stolz, die mühselige kleinarbeit des anfangs-
unterrichts auf sich zu nehmen. — Man könnte diesen erwägungen
zustimmen, bemerkt er, wenn solche lehi'er den schülern lediglich
weniger beibrächten, aber sie bringen ihnen falsches bei, was
nachher wieder mühsam ausgemerzt werden musz. darum hat der
flötenspieler Timotheus von schülern, die vorher bei einem andern
lehrer waren , das doppelte honorar verlangt, ferner : der treffliche
lehrer beherscht jedenfalls auch die demente seines faches am
sichersten, fehlt ihm aber der wille sie zu lehren, so verdienter
überhaupt nicht den namen eines lehrers. also wie Phoenix bei
Homer, so sei der lehrer, den man wählt, tam eloquentia quam
moribus praestantissimus.^"^
Der vater soll ferner bestrebt sein , den lehrer sich zum freund
zu machen, dann wird sein junge in der schule nicht vernachlässigt
^03 es wurde schon in anderm zusammenhange bemerkt, dasz in
dieser erörterung zu wenig zwischen dem sachlichen wissen und
können des lehrers und seiner didaktischen fähigkeit unterschieden
ist. die letztere musz allerdings in hohem masze gerade für den an-
fangsuuterricht vorhanden sein, von dem eisteren wird auf der elemen-
taren stufe ein geringeres masz genügen als auf der höheren; wobei
nicht in abrede gestellt werden soll, dasz derjenige, welcher sein fach
wirklich mit philosophischem geiste beherscht, am besten das wesent-
liche und das unwesentliche zu scheiden und den wissenschaftlichen
Stoff am einfachsten und verständlichsten darzustellen vermag: eine
wirklich populäre darstellung setzt vollendete wissenschaftlichkeit voraus
übrigens kommen für unsere frage noch andere gesichtspunkte in betracht.
N. Jahrb. f. phil. u. päd, II. abt. 1897 htt. 4 u. 5. 13
194 A.Messer: Quintiliau als didaktiker.
werden , der lehrer wird sich dann ihm gegenüber mehr von Zu-
neigung als von Pflichtgefühl leiten lassen.*"' — Man sieht:
hiermit geraten wir auf die schwachen Seiten des privatschul-
wesens. das zeigt auch die bemerkung: selbstverständlich werde
der lehrer mit begabten und eifrigen Zöglingen besonders an-
gelegentlich sich beschäftigen in suam quoque gloriam. natürlich,
er ist ja zugleich geschäftsmann, der für seine schule reclame machen
musz! derartiges findet übrigens Quintilian ganz berechtigt, er
tadelt nur, dasz die eitelkeit und Urteilslosigkeit der eitern vielfach
ungünstig auf den Unterrichtsbetrieb selbst einwirke, so macht es
ihnen eitel freude, wenn das söhnchen möglichst früh aus dem
Stegreif reden kann; sie legen auf das häufige declamieren
eigner elaborate des schülers übertriebenen wert, in solchen
fragen musz aber der lehrer an dem festhalten, was vom didaktischen
Standpunkt als das richtige erscheint.*"^ anderseits darf er nicht
des geschäftsinteresses halber die schüler möglichst lange in seiner
anstalt festhalten wollen; denn ein hauptzweck der lehrkunst be-
steht ja gerade darin, den weg des lernens abzukürzen: omnia
breviora reddet ordo et ratio et modus,*"®
Übrigens vergiszt Quintilian nicht ganz, dasz auch die
schüler pflichten haben, freilich das capitel darüber (II 9) ist
gar kurz: die 'pflichten' bestehen im gründe nur in der einen: ut
praeceptores suos non minus quam ipsa studia ameut. uns möchte
es vielleicht rätlicher erscheinen, nicht zur liebe zu verpflichten,
sondern zur arbeit, sollte sich nicht bei tüchtiger gemeinsamer
arbeit, bei der der schüler sich geistig gefördert fühlt, die liebe
unter der band von selbst einstellen — , wenn nur der schüler
merkt, dasz der lehrer auch ein herz hat? aber von einer
pflicht zur arbeit sagt Quintilian nichts, es stimmt dies zu
dem 'philanthropischen' zuge, den wir schon früher an ihm
bemerkt haben: angenehm der lehrer, angenehm der lehrstoff, an-
genehm das lehrverfahren, prügel streng verpönt, gewis ist ein
solches streben zu billigen, aber darf es ausschlieszlich masz-
gebend sein? ob wohl die menschen, denen man in der jugend jede
Schwierigkeit aus dem wege geräumt, für das leben gut vorbereitet
sind ? das leben ist kein spiel, die schule soll es auch nicht sein !
Nach der betrachtung des bildungsziels und der personen, die
den schüler zu diesem ziele hinleiten sollen, mag nunmehr das
nötige über die bildungsstoffe bemerkt werden.
Die eigentlichen, centralen bildungs Wissenschaften
sind für Quintilian wie für die Römer überhaupt grammatik und
rhetorik.*"^ das griechische ist neben dem lateinischen soweit
20* I 2, 15 f. 205 II 4, 16. 7, 1. X 5, 21. ^"^ XII 11, 13 f.
207 Willmann, didaktik I« s. 188. — Zum belege dafür, dasz Quin-
tilian in seinen erörterungen über Stoffe, gang und verfahren der
bildungsarbeit im allgemeinen nur das wiedergibt, was bei den Römern
A. Messer: Quintiliau als didaktiker, 195
zu beireiben, dasz das volle erfassen der griechischen litteratur
möglich ist: Zielpunkt bleibt auch hierbei die lateinisch e eloquenz.
Die 'grammatik' umfaszt (in beiden sprachen) die eigent-
liche Sprachlehre (recte loquendi scientia und scribendi ratio)
und die lectüre und Interpretation der dichter (poetarum
enarratio).*"^ mit diesen beiden teilen der grammatik(methodice und
historice) sollen leichte aufsatzübungen verbunden vs^erden.'"'
Der betrieb der 'rhetorik' umfaszt auszer der Unterweisung
im eigentlichen rhetorisch -dialektischen system schrift-
liche und mündliche Übungen'^'" und lectüre der histo-
riker und redner.*^" Quintilian faszt die höhere stufe des
rhetorischen Unterrichts, die vor allem eine auf reichtum der
spräche basierte sichere fertigkeit (facilitas, eSic) anstrebt und zur
fähigkeit aus dem stegreif zu reden hinanführt, im zehnten buche
nochmals gesondert ins äuge, auch hier sind scribere, legere,
dicere die verschiedenen Seiten des betriebs. die Übungen sind
natürlich schwieriger und werden selbständiger vorgenommen, die
lectüre ist viel umfassender, zieht nicht nur redner und historiker,
sondern auch dichter und philosophen im weitesten umfange in ihr
bereich , gleichviel ob sie auf früheren stufen des Unterrichts schon
behandelt worden sind oder nicht.^'^
Um diese fundamentalen disciplinen gruppieren sich als ac-
cessorische zunächst die encyclischen fächer: musik, 'geo-
raetrie'^'^ ferner Unterweisung durch den Schauspieler und
den turnlehrer^'^ endlich zum abschlusz philosophie, ge-
schichte, Jurisprudenz,^'^
Der accessorische Charakter dieser disciplinen ergibt sich
aus der römischen anschauung überhaupt, aus der art, wie Quin-
üblich war, wenn auch mit vereinzelten reformvorschlägen, verweise
ich hier ein für allemal auf die Zusammenstellungen bei Eckstein,
lateinischer und griechischer Unterricht s, 3 — 43.
208 I 4, 1 f. Quintilian weist bei dieser gelegenheit darauf hin,
dasz die grammatik plus habet in recessu quam fronte promittat: text-
kritik, höhere kritik, ästhetische Würdigung der autoren, kenntnis auch
der prosaischen spräche, der metrik , astronomie , philosophie, bered-
samkeit gehören dazu, das sind natürlich anforderungen an den 1 ehrer:
er braucht das alles gelegentlieh bei der enarratio poetarum. dasz
übrigens lediglich die dich ter le ctüre als aufgäbe des grammaticus
erscheint, ist für die lateinische spräche einigermaszen verständlich,
auch bei uns liegt ja (abgesehen von den schriftlichen Übungen) der
Schwerpunkt des muttersprachlichen Unterrichts in der enarratio poe-
tarum. man hat wohl diese praxis einfach auf das griechische
übertragen.
509 I 9 2)0 II 4. 6. 7. 10,
*" II 5. — Die notwendigkeit des Unterrichts im rhetoi'ischen system
und verschiedene Vorfragen desselben werden besprochen II 11 — 21.
das System selbst füllt die bücher III— IX und XI.
212 so sagt auch Quintilian in bezug auf Homer und Vergil aus-
drücklich: neque enim semel legentur I 8, 5.
213 I 10. 214 I 11. 215 XII 2—5.
13*
196 A. Messer: Quictilian als didaktiker.
tilian sie neben grammatik und rhetorik mehr beiläufig behandelt,
und wird von ihm , bezüglich der encyclischen fächer wenigstens,
auch ausdrücklich hervorgehoben,^'*
Bei der erörterung der notwendigkeit und des bildungsgehalts
der musik-'^ wird mehr das Studium der musikalischen theorie als
das erlernen irgend eines instruments oder ausbildung im gesang
hervorgehoben. Quintilian führt dabei zunächst mehrere autoritäten
für den wert der musik an sich und als bildungsmittel an
und weist auf das musikalische und rhythmische element in der rede,
auf das rhythmische in der gesticulation bin.
Die von Quintilian sogenannte geome tri e umfaszt die geo -
metrie (im dem engeren, uns geläufigen sinne), die arith-
metik und die astronomie.^'^ was ihren bildungsgehalt und ihre
notwendigkeit für den redner betrifi't , so bezeichnet er es als eine
vulgaris opinio , die auch er zu billigen scheint: agitari animos et
acui ingenia et celeritatem percipiendi venire inde.*'^ aber auszer
dieser formal bildenden Wirkung lassen sich noch weitere gründe
für sie anführen, rechnen zu können und die fertigkeit zu be-
sitzen, die zahlen mit den fingern darzustellen, bezeichnet Quintilian
als ein erfordernis, dem jeder, der nur irgendwie anspruch auf
bildung erhebt, genügen musz. "" die geome trie (in ihrer an-
wendung auf die feldmeszkunde) ist oft bei grenzstreitigkeiten not-
wendig, aber sie steht auch mit der rhetorik in formaler Verwandt-
schaft, beiden ist gemeinsam die Ordnung, der aufbau aus Schlüssen,
das aufdecken trügerischer Wahrscheinlichkeiten, der redner bedarf
ferner unter umständen astronomischer kenntnisse. viele fragen
endlich, die ihm vorkommen können, z. b. über art und weise von
Verteilungen, über teilung ins unendliche, über die Schnelligkeit der
Vermehrung , können durch geometrische beweisführung einfach ge-
löst werden.
In beschränktem masze dienen auch Schauspielkunst und
gymnastik-^' der heranbildung des künftigen redners. erstere
bat auf deutliche und richtige ausspräche hinzuwirken , sie bildet
gesticulation, mienenspiel und Vortrag, wobei besonders der aus-
druck der Stimmungen und affecte zu beachten ist. die gymnastische
ausbildung fördert die gewandtheit der bewegungen und des ganzen
*'•' I 10, 1=8, wo es heiszt (§ 6): similiter oratorera, qui debet esse
sapiens, non geometres faciet aut musicus quaeque bis alia subiungam,
sed bae quoque artes, ut sit consummatus, iuvabunt.
2" I 10, 9—33.
2'^ I 10, 35: cum sit geometria divisa in numeros atque formas;
I 10, 46: quid? quod se eadem geometria tollit ad rationem usque
mundi? in qua, cum siderum certos constitutosque cursus numeris
docet, discimus nibilesse inordinatum atque fortuitura. — Von den
mathematiscben wissenscbaften iiberbaupt wird gehandelt I 10, 34 — 49.
2'" er fügt bei: sed prodesse eam non ut ceteras artes, cum per-
ceptae sint sed cum discatur, existimant.
2*0 I 10, 35. «» I 11.
A.Messer: Quintilian als didaktiker. 197
auftretens und trägt so gleichfalls zur ausbildung der gesticulation
bei. abscblieszend treten dann noch hinzu: philosophie, ge-
schichte und j urisp rüden z. in dem zweiten bis vierten capitel
des zwölften buches wird deren bedeutung für den redner ausführ-
lich untersucht, die m o r a 1 p h i 1 o s o p h i e zunächst vollendet durch
herbeiführung ethischer einsieht die sittliche ausbildung des redners,
auch ist sie ihm unentbehrlich wegen der zahllosen ethischen momente
seiner stoffe; der dialektik bedarf er zum beweisen, widerlegen
und disputieren; die naturphil osophie gibt für die ethik die
philosophische grundlage durch nachweis der göttlichen Vorsehung,
unseres göttlichen Ursprungs und unseres zieles, der tugend ; sie ist
auch sonst, namentlich in bezug auf religiöse materien für den redner
wichtig, gegenüber den philosophischen schulen wird ein eklektisches
verhalten empfohlen, von der geschichte wird dem redner ge-
liefert exemplorum copia und nur dies; darum hat er auch als
gleichwertig zu berücksichtigen quae sunt a clarioribus poetis
ficta. die Jurisprudenz, das privat-, Staats- und kirchenrecht
(scientia iuris civilis et morum ac religionum rei publicae) ist dem
redner ihres materiellen inhalts wegen unentbehrlich.
Überblicken wir nunmehr den gang des Unterrichts, die
aufeinanderfolge der einzelnen fächer. im römischen
bildungswesen lassen sich drei stufen unterscheiden: die elemen-
tare , welche den gewöhnlich vom grammatista erteilten Unterricht
im lesen und schreiben umfaszt, die mittelstufe, den Unterricht des
grammaticus und die Oberstufe, die rhetorenschule, der gedanke,
dasz zuerst das vorwiegend formal bildende, dann das die Sach-
kenntnis (eruditio) fördernde zu behandeln sei, wird nur einmal
(I 8, 8) gelegentlich der lectüre, und zwar mehr beiläufig aus-
gesprochen: sed pueris, quae maxime Ingenium alant atque
animum augeant, praelegenda; ceteris quae ad eruditio nem
modo pertinent, longa aetas spatium dabit.
Bezüglich des elementarunterrichts setzt Quintilian
voraus, dasz er vom paedagogus erteilt -werde. ^'"
Eratosthenes u. a. haben geraten , mit diesem elementarunter-
richt nicht vor ablauf des siebenten jahres zu beginnen; dann
erst habe das kind die nötige fassungsgabe und Widerstandsfähig-
keit. Quintilian , bei seiner abneigung gegen feste normen , hält es
lieber mit denen, die wie Chrysippus wollen nullum tempus vacare
^•^ Quintilian sagt dies zwar nirgends ausdrücklich, aber er spricht
nur von der einen schule des grammaticus (der grammatista oder litte-
rator wird nirgends erwähnt), beim eintritt in diese schule sind die
demente, die ja 'spielend' erlernt werden, schon angeeignet (vgl. II 1, 1:
sed nobis iam paulatim accrescere puer et exire de gremio et discere
serio incipiat). endlich: wenn der paedagogus nur als begleiter, an-
stands- und sittenmeister dienen sollte, wozu dann die erörterung über
seine wissenschaftliche bildung? (I 1, 8).
198 A. Messer: Quintilian als didaktiker.
cura.^-^ die erziehung setzt ja auch scbon so frühe ein, warum
nicht die bildung?-^' es wird ja nicht viel gelernt in dieser
zeit, aber was gelernt wird, gewährt immerhin einen vorsprung für
später; auch wird nur das gedächtnis in anspruch genommen
und das ist jetzt am leistungsfähigsten; endlich soll dieser elementar-
unterricht nur ein spiel sein: abneigung gegen die Studien durch
zu hohe anforderungen darf er jedenfalls nicht erzeugen, mit dem
griechischen soll der anfang gemacht werden, denn latein lernt
der knabe von selbst; aber es darf nicht längere zeit aus-
schlieszlich betrieben werden (sicut plerisque moris est I 1, 13),
weil es sonst die lateinische ausspräche verdirbt, eine nähere be-
gründung für die erlernung des griechischen brauchte Quintilian
nicht zu geben; er erwähnt nur beiläufig (mehr zur rechtfertig ung
des Vorausschiebens dieses faches vor das latein als des faches
selbst) : simul quia disciplinis quoque Graecis prius instituendus est,
unde et nostrae fluxerunt.
Eine Zeitbestimmung für den eintritt in die grammatikerschule
findet sich nicht, während der Zugehörigkeit zu dieser genieszt
der schüler auch die Unterweisung des geometres, musicus, comoedus
und in der palaestra. "^ für den Übergang in die rhetorenschule, die
griechische sowohl wie die lateinische, lehnt er ausdrücklich eine
genaue festsetzung ab: er soll erfolgen, cum poterit.^'-'® er tadelt
übrigens das hinaufschieben der grenze zwischen gramma-
tiker- und rhetorenschule, bei dem der rhetor sich auf die
anleitung zu den eigentlichen declamationes und zwar nur im genus
deliberativum und iudiciale beschränkt, das übrige dagegen von dem
grammaticus vorweggenommen wird, die lehrer des griechischen
halten die grenze im allgemeinen richtiger fest, über die rhetoren-
schule hinaus führt ^'^ dann der im zehnten buch geschilderte freiere
"^ die frage, wann der elementarunterricht zu beginnen sei, wird
besprochen I 1, 15 — 20.
"' dieser hinweis auf die erziehung beweist nichts, er zeigt aber,
ebenso wie die folgenden benierkungen, dasz Quintilian den eigentlich
entscheidenden punkt, die rücksicht auf die gesundheit, nicht ge-
würdigt hat, wie ja überhaupt bei ihm die körperliche ent-
wicklung kaum beachtet wird.
225 das gleichzeitige betreiben dieser gegenstände wird ausführ-
lich begründet (I 12). wir haben darüber schon in anderm zusammeu-
hang gesprochen.
2**" die frage ist erörtert II 1 (besonders § 7).
"' ich drücke mich absichtlich so unbestimmt aus, weil Quin-
tilian nichts darüber sagt, ob er diesen teil des studienganges noch
ganz oder teilweise in die rhetorenschule verlegt oder nachher an-
setzt, er ist wohl, wie ich im text andeute, als das Übergangsstadium zu
fassen, denn ein ganz freier, selbständiger betrieb ist zweifellos voraus-
gesetzt, dieser aber brauchte nicht auszuschlieszen, dasz daneben noch
die rhetorenschule besucht wird, man lese die anekdote nach, die
X 3, 12—14 erzählt wird, der arme Julius Secundus, der da für seine
arbeit den anfang nicht finden kann, war adhuc scholae operatus. —
Übrigens hören wir bei Quintilian überhaupt fast nichts über die
A. Messer: Quintilian als clidaktiker. 199
betrieb der rhetorischen Übungen und der zur Vervollkommnung
der sprachbeherschung dienenden lectüre, womit sich das Studium
der Philosophie, geschichte und Jurisprudenz verbindet, solche
Studien wie auch die eigentlich rhetorischen Übungen müssen übri-
gens den redner auch stets in der px-axis begleiten: studendum semper
et ubique.^^^ der beginn d er prakti sehen bethätigung (vor
gericht) soll nicht verfrüht, aber noch weniger zu lange hinaus-
geschoben werden; was psychologisch sehr richtig begründet wird:
nam cotidie metus crescit, maiusque fit semper, quod ausuri sumus,
et, dum deliberamus, quando incipiendum sit, incipere iam serum
est.^-^ empfohlen wird auch nach dem beispiele Ciceros, ziemlich
zeitig schon einige mal als redner aufzutreten — das lehrt die praxis
kennen und zeigt, wo es uns noch fehlt — alsdann mag man sich
noch einige zeit ganz den Studien widmen.
Für das Unterrichtsverfahren auf der elementarstufe, in
der grammatiker- und der rhetorenschule gibt Quintilian mancherlei
anweisungen.'-'" nur in einzelnen punkten scheint er dabei von der
allgemein geübten praxis abzuweichen, dies findet z. b. gleich am
anfang statt, wenn er, mit richtiger Würdigung der anschaulich-
keit, rät, namen und formen der buchstaben zugleich lernen zu
lassen (die gewöhnliche methode präge zuerst nur die namen in
ihrer reihenfolge ein).^^' es folgt das erlernen der silben. beim
schreibenlernen empfiehlt er holztafeln mit eingeschnittenen
buchstaben zu gebrauchen, das nachziehen derselben gibt gröszere
Sicherheit und macht das führen der band durch den lehrer über-
flüssig, gut und schnell schreiben zu können (was gewöhnlich ver-
nachlässigt wird) ist wichtig für das schriftliche concipieren der
reden, bei den leseübungen ja keine überhastung, das erzeugt
Unsicherheit, stocken, wiederholen, um immer nach rechts hin das
folgende schon übersehen zu können, bedarf es einer mechani-
schen fertigkeit, die erst nach langer Übung sich einstellt, zu den
Schreibübungen nehme man ungewöhnlichere Wörter, damit sie
unter der band bekannt werden und Sprüche ethischen inhalts, auch
lasse man solche auswendig lernen, das rasche hersagen schwer
auszusprechender Wörter oder wortreihen übt die zunge.
Der grammaticus gibt zunächst die lautlehre^^', dann die
redeteile^^^ besonders gründlich ist die flexion der noraina und verba
äuszere Organisation der schulen und die äuszeren formen
des betriebs.
22^ X 7, 27.
229 XII 6, 3. das ganze capitel handelt von dieser frage.
23" für die untere stufe kommt besonders in betracht: I 1, 24 — 37;
für die mittlere: I 4 — 9; für die obere II 4 — 8. 10. anleitung zum selb-
ständigen arbeiten gibt das zehnte buch.
231 I 1, 24 ff. hier auch die belege für das folgende.
232 I 4, 6-17.
233 I 4, 17—21.
200 A. Messer: Quiutilian als didaktiker.
einzuprägen.*^^ von den drei Vorzügen der rede: ut emendata, ut
dilucida, ut ornata sit, strebt die grammatik als emendate loquendi
regula zunächst den ersten an. sie lehrt die barbarismen (fehler in
einzelnen Wörtern) und soloecismen (fehler in Wortverbindungen)
vermeiden ^^"' und weist auf als normgebend für das sprechen: die
analogie, die etymologie, die autorität, den Sprachgebrauch.'^^ für
das schreiben kommt die Orthographie*" hinzu; sie darf sich nicht
in kleinigkeiten verlieren , aber gründlichkeit ist hier wie in der
grammatik überhaupt notwendig: non obstant hae disciplinae per
illas euntibus, sed circa illas haerentibus (§ 35).
Bei der dichterlectüre"' ist vor allem das lesen selbst zu
üben. Voraussetzung ist: Verständnis des zu lesenden; sinngemäszes
und schönes lesen wird angestrebt; bei dramatischer lectüre ist der
Wechsel der sprechenden durch Veränderung der stimme anzu-
deuten (nicht mehr!), man beginne, wie üblich, mit Homer
und Vergil. ihre Vorzüge werden allerdings erst erwachsene bei
erneuter lectüre ganz würdigen, Interim et sublimitate heroici car-
minis animus assurgat et ex magnitudine rerum spiritum ducat et
optimis imbuatur. auch tragiker sind nützlich, lyriker wegen sitt-
licher bedenken nur in auswahl, komiker ebendeshalb erst später
vorzunehmen, an der lectüre werden die redeteile und die metrischen
gesetze eingeübt; die eigentümlichkeiten der poetischen spräche,
ungewöhnliche ausdrücke (glossemata). tropen und figuren werden
beachtet, praecipue vero illa infigat animis, quae in oeconomia
virtus, quae in decore rerum, quid personae cuique convenerit, quid
in sensibus laudandum, quid in verbis, ubi copia probabilis, ubi
modus, also auch eine ästhetische Würdigung, dazu kommt
die sachliche interpretation (enarratio historiarum). der lehrer be-
denke dabei, dasz es zu den virtutes grammatici gehört aliqua
nescire !
Dem grammaticus fallen auch zu einige elementare rhe-
torische Übungen (dicendi primordia)^^^: äsopische fabeln münd-
lich und schriftlich nacherzählen, verse auflösen und mit steigender
freiheit variieren, bearbeitung von sententiae (allgemeinen Sätzen),
chriae(anwendung solcher auf einen bestimmten fall), ethologiae
(Charakterschilderungen) im anschlusz an die lectüre (quia initium
ex lectione ducunt); narratiunculas a poetis celebratas notitiae
causa non eloquentiae tractandas puto.
Auch indem rhetorischen Unterricht können wir drei selten
unterscheiden, die einführung in die rhetoi'ische theorie, die
(prosa-) lectüre und die mündlichen und schriftlichen Übungen,
über die form, wie die theoretische Unterweisung erfolgen soll,
hat sich Quintilian nicht ausgesprochen, in den Inhalt derselben
gewährt uns seine institutio einen trefflichen einblick. die lectüre
234 I 4^ 22—29. 235 I 5^ 5_54. aar, j g 237 j 7 238 j g.
ss'J 1 9.
A. Messer : Quintilian als clidaktiker. 201
von bistorikern und besonders von rednern^*" ist freilieb nur bei
den griecbiscben rbetoren in gebrauch und wird auch da gewöhn-
lich unterlehrern überlassen. Quintilian empfiehlt sie dringend, es
soll das nicht mehr ein elementarer betrieb sein, bei dem der lehrer
vorliest, der schüler nachliest und einzelne ausdrücke erklärt werden,
und bei dem man sich mit den einzelnen schülern abgeben musz,
sondern der lehrer soll silentio facto unum aliquem (quod ipsum
imperari per vices Optimum est) constituere lectorem, ut protinus
pronuntiationi assuescant; tum exposita causa, in quam scripta
legetur oratio (nam sie clarius quae dicentur intelligi poterunt)
nihil otiosum pati usw."^' die besprechung richtet sich zunächst auf
die inventio, indem sie in den einzelnen teilen der rede die ihnen
eigentümlichen Vorzüge nachweist, also im prooemium die kunst,
den hörer zu gewinnen, in der narratio kürze, klarheit, glaubwürdig-
keit usw. auch die mittel, durch die der Verfasser die aflfecte zu er-
regen weisz, werden zum bewustsein gebracht; endlich die elocutio
betrachtet.
Auch schlechte reden, besonders solche, die dem raode-
geschmack entsprechen, sollen behandelt und den schülern gezeigt
werden, warum sie schlecht sind, bei all diesen besprechungen
sind die schüler durch fragen zur mitarbeit heranzuziehen, ihr urteil
ist zu bilden.
Für die auswahP'^ gibt er die regel : ego optimos quidem et
statim et semper sed tarnen eorum candidissimum quemque et
maxime expositum velim. also ist für knaben Livius geeigneter als
Sallust, der zwar ein gröszerer historiker, aber schwerer verständ-
lich ist. unter den rednern zuerst Cicero (et iucundus incipientibus
quoque et apertus est satis, nee prodesse tantum sed etiam amari
potest) , dann , nach dem rat des Livius , ut quisque erit Ciceroni
simillimus. davor, die lectüre der älteren (der Gracchen, Catos u. a.)
mit knaben zu betreiben, glaubt Quintilian ebenso warnen zu müssen
wie vor der lesung der modernen, jene sind im ausdruck zu rauh
und nüchtern, diese zu zierlich und affectiert.
240 II 5.
^*^ auch hier ist die äuszere seite des angeratenen Verfahrens
nicht recht klar, folgt auf die Vorlesung der ganzen rede (oder etwa
gröszerer abschnitte) die darlegung des Sachverhalts und die besprechung
oder — wie es wohl auch lieiszen könnte und wie es wohl zweck-
mäsziger sein dürfte — wird nach bestinimung des schülers, der zu
lesen hat, der Sachverhalt auseinandergesetzt und dann gleich im an-
schlusz an einzelne gelesene abschnitte die rede besprochen? — Die
Worte: silentio facto lassen vermuten, dasz das allgemeine silentium,
in der rhetorenschule wenigstens, nicht das gewöhnliche war.
für die grammatikerschule läszt die bemerkung (I 2, 15): at enim
emendationi praelectionique numerus obstat den schlusz zu, dasz sich,
wenigstens bei anleitung zum lesen und Verbesserung (doch wohl der
schriftlichen arbeiten), der lehrer lediglich mit den einzelnen
abgab, ohne allgemeine aufmerksamkeit und demgemäsz allgemeines
silentium zu verlangen.
2'2 II 5, 18-26.
202 A.Messer: Quintilian als didaktiker.
Die schriftlichen und mündlichen Übungen der rhe-
torenschule werden ausführlich erörtert, das vierte capitel des
zweiten buches gibt die verschiedenen gattungen der themen an.
es sind : 1) narrationes. 2) beweis oder Widerlegung solcher erzäh-
lungen (z. b. von dem raben, der dem Valerius im kämpf mit dem
Gallier zu hilfe kam). 3) lob und tadel von persönlichkeiten, ver-
gleichung solcher. 4) communes loci (z. b. in adulterum, aleatorem
oder adulter caecus, aleator pauper). 5) theses (fragen wie rusticana
vita an urbana potior? ducendane uxor? 6) leg um laus ac vitu-
peratio (besprechung von gesetzesvorschlägen: eine Übung für vor-
gerückte)."^ dasz die schüler auch alle ihre derartigen aufsätze aus-
wendig lernen und voi'tragen, widerrät Quintilian -^^: es sei nützlicher,
auserlesene stellen aus rednern, historikern aliove quo genere digno-
rum ea cura voluminum lernen zu lassen, diese bieten bessere
Vorbilder, die sich tief in die seele einprägen und unbewust (non
sentientes) werden die schüler bei der eignen production ihnen nach-
ahmen, ferner übt es das gedächtnis mehr, fremdes als eignes zu
lernen.
Bei diesen aufsätzen musz zunächst eine bis ins einzelne
gehende anleitung erfolgen. -^^ das ist nützlicher als die sorg-
fältigste correctur nachher: primum quia emendationem auribus
modo accipiunt, divisionem vero (die mit dem lehrer festgestellte
disposition) ad cogitationem etiam et stilum perferunt; deinde quod
libentius praecipientem audiunt quam reprehendentem (beides psy-
chologisch sehr richtig!), allmählich musz allerdings die Selbständig-
keit des schülei's gröszer werden.
Die Verbesserung^'^ durch den lehrer musz die gründe der
änderungen erkennen lassen und vor allem darauf bedacht sein, den
schüler nicht zu ängstlich in seinem arbeiten und mutlos zu machen.
Die declamationes^" endlich, die eigentlichen redeübungen
(über fingierte stofife aus allen drei redegattungen), nehmen in der
rhetorenschule den breitesten räum ein. Quintilian billigt dies, wie
sehr er auch den zu seiner zeit üblichen betrieb verabscheut, ihm
gegenüber betont er, dasz die declamationes lediglich den zweck
haben, für die im wirklichen leben vorkommenden reden
vorzubereiten, sie müssen also inhaltlich und formell diesen
möglichst angenähert werden.
Sehr beherzigenswerte ratschlage für das selbständige
weiterarbeiten an der eignen rednerischen (und schriftstelleri-
schen) aubbildung enthält das zehnte buch, auch auf dieser obersten
stufe lassen sich lectüre, schriftliche und mündliche Übun-
gen unterscheiden, die lectüre musz jetzt sehr umfassend wer-
I
*" es sind dies die gebräuchlichen rhetorischen progymnasmata.
vgl. Volkmann, rhetorik der Griechen und Kömer bei Iw. Müller, hand-
buch der class. altert.-wiss. 11 s. 457.
244 II 7. 245 II 6. «« II 4, 10 — 14. 247 H JQ.
A.Messer: Quiutiliau als didaktiker. 203
den ^^®, in gleicher weise poeten, bistoriker, redner und pbilosophen
berücksichtigen ; sie musz dabei doch sehr sorgfältig sein , nicht
nur das einzelne, sondern nach wiederholter lefjung auch das ganze
der litterarischen producte ins äuge fassen. -^^ für schriftliche
Übungen gilt Ciceros wert"": stilus optimus effector ac magister
dicendi.
Zunächst langsam und mit aller Sorgfalt schreiben-''! summa
haec est rei: cito scribendo non fit, ut bene scribatur; bene scri-
bendo fit, ut cito (§ 10). aber man kann auch in der Sorgfalt zu
weit gehen : nee promptum est dicere, utros peccare validius putem,
quibus omnia sua placent an quibus nihil (§ 12). auf die nieder-
schrift folge die emendatio, pai's studiorum longe utilissima.'^'^
ihre aufgäbe ist adiicere, detrahere, mutare. man gehe erst nach
einiger zeit daran, wenn uns die eignen producte etwas fremd ge-
worden, ne nobis scripta nostra tamquam recentes fetus blan-
diantur. — Et emendatio ipsa finem habeat!
Da es sich bei diesen Übungen hauptsächlich um gewinnung
von Wortvorrat und gewandtheit im ausdruck handelt, so empfiehlt
sich besonders das übersetzen aus dem griechischen-^', ferner
die wetteifernde prosaische bearbeitung von Stoffen, die schon von
dichtem und von rednern behandelt worden sind"^, endlich die
manigfache Variation eigner aufsätze (von den oben erwähnten
themen sind dazu besonders geeignet die Be'ceic und loci com-
munes).'^^ die declamationes müssen den redner auch in der praxis
stets begleiten."^ auch historisches, dialoge und poetisches musz
hie und da der abwechslung halber, mehr zur erholung, abgefaszt
werden. ^'=''
Der schon vorgerücktere jünger der rhetorik schliesze sich an
einen bewährten redner an , wohne oft den gerichtsverhandlungen
bei, höre die reden beider jjarteien und fasse sie selbst nochmals ab,
so wie er sie für angemessen hält. "^ von dem schriftlichen con-
cipieren der reden schreitet man fort zur Vorbereitung auf reden
(erst kürzere, dann längere) durch blosze meditation^^^; und dies
*'8 der doch recht reichhaltigen litteraturübersicht (X 1, 46 — 133)
schickt er die bemerkung voraus: fateor enim plures legendos esse
quam qui a me nominabuntur.
2« X 1, 20.
2=° Cic. de or. I 33, 60. — Die Übungen selbst werden im dritten
capitel des zehnten buches besprochen, diese geistvollen ausführungen
über die Imitation im zweiten capitel haben wir schon in anderm zu-
sammenhange gewürdigt.
2^' X 3, 5 ff. das schlieszt nicht aus, dasz, wenn uns gedanken
und Worte reichlich zuströmen, ein abschnitt auch einmal rascher hin-
geworfen wird, nur musz er nachher mit kritik nochmals vorgenommen
werden (§ 7).
252 X 4. 253 X 5, 2 f.
254 X 5, 4—8. 255 X 5, 9—13.
2=s X 5, 14. 25- X 5, 15 f.
2'»s X 5, 17—20. 259 X 6.
204 A.Messer: Quintilian als didabtiker.
führt endlich zu dem vermögen, aus dem stegreifzu reden, das
für den redner unentbehrlich ist und zugleich den höhepunkt seiner
leistungen, die schönste frucht seiner Studien bildet.^*"
260 X 7. — Der Vollständigkeit halber verzeichne ich hier noch die
litteratur über Quintilian als didaktiker und pädagogen.
dieselbe bot übrigens für die vorstehende arbeit so gut wie keine aus-
beute, sie mag aber als beweis dienen für die auch im vorigen und in
diesem Jahrhundert fortdauernde Schätzung Quintilians nach der hier
behandelten seite hin; denn es werden darin meist die gedanken Quin-
tilians von den betr. Verfassern zu ihrer gegenwart in Beziehung gesetzt.
Olpe, Chr. Ferd., progr. de Quintiliano optimo scholae regendae
magistro. 4. Dresdae 1772. — Oettelius, G. Chr., de consilio Quin-
tiliani a poetis imprimis Homero et Virgilio lection. iuvenil, esse in-
cipiendam. gymn. -progr. 4. Salfeldiae 1782 (14 s.). — Lehrbuch der
schönen Wissenschaften in prosa. aus d. lat. d. Quintil. unter
d. aufsieht m. anm. u. vorr. v. Schi räch. Heimst. 1773 — 75. 3tom.
in 8". nochmals in verbesserter aufläge von Jul. Billerbeck, Helm-
stedt 1825. — Andres, Bonaventura, Quinktilians pädagogik und
didaktik mit anmerkungen herausgegeben. 8'\ Wirzburg 1793 (195 u.
122 s.). (dieses recht interessante buch gibt im ersten teil eine reihe
Quintiliauischer grundsätze, die mit bezugnahme auf die bestehenden
Verhältnisse weiter ausgesponnen werden, im zweiten eine Zusammen-
stellung der didaktisch wertvollen abschnitte im urtext.) — Quin-
tilians lehren und Warnungen an junge schriftsteiler, aus d. lOn b.
ausgezogen, von d. nachahmung od. nachfolge, in: mus. f. gr. u. röm.
litt, dritte st. (1795) s. 124—132. — Billerbech, H. L. J., comment.
de finibus inter studia literarum gymnasiorum et academiarum regendis
ad meutern Quintiliani subiecta ratione ea, quam studia gymn. nostrorum
et acad. postulant. 4. Hildeshemiae 1800. — Gedicke, L. F. G. E.,
Quintilians gedanken über d. öff. u. häusl. erzieh, nebst einigen anm.
u. Zusätzen, progr. 8. Bautzen 1805. — Rüdiger, Car. Aug., de
Quintiliano paedagogo prolusio. 4. Fribergae 1820 (9 s.). — Otto,
Quintilian und Rousseau, eine pädagogische parallele, gymn. -progr. 4.
Neisse 1836 (19 s.). — Boeckh, A., de delectu in studiis instituendo
(Quint. I 8). ind. lect. hih. 1839/40. 4. Berol. 1839 (4 s.). kl. sehr. IV
s. 471 ff. — Nisard, .^ug. , de imitandi ratione in litteris secundura
Quintiliani opinionem. 8. Paris 1845 (21 s.). — Pilz, Carl, Quintilianus.
ein lehrerleben aus der römischen kaiserzeit. 8". Leipzig 1863. —
Fleisch mann, Anton, Quintilians pädagogik. progr. d. akad. gymn.
4. \yien 1864 (38 s.). — Dassenbach er, Job., die Verdienste Quin-
tilians um den sprachl. unterr. progr. d. real -gymn. 8. Mähr.-Neu-
stadt 1871 (13 s.). — Froment, Th., quid e M. Fabii Quintiliani ora-
toria institutione ad liberos ingenue nunc educandos excerpi possit. 8.
Parisiis 1874 (103 s,).
(fortsetzung folgt.)
GiESZEN. August Messer.
E. Plaumann: Admet und Alkestis und der arme Heinrich. 205
17.
DER MYTHOS VON ADMET UND ALKESTIS UND DIE SAGE
VOM ARMEN HEINRICH.
Dasz die liebe, zumal des weibes, zu jedem opfer fähig ist und
selbst das eigne herzblut freudig für den geliebten gegenständ hin-
gibt, ist der grundgedanke in dem griechischen mythos von 'Admet
und Alkestis' und in der deutschen sage vom 'armen Heinrich'.
Die offenbar landläufige form der erzählung von der Alkestis
finden wir beim Apollodoros in seiner ßißXioGriKr), wo sie
I 9, 14—15 lautet: 0ipr\c be 6 Kpriöeuuc Oepdc ev GeccaXia KTicac
e^ewricev "Ab)ariTov Kai AuKoOpfov. AuKOÜpTOC laev ouv rrepi
Nepeav KaiLUKrice, Yn^ac be €upubiKr|V, die be evioi cpaciv 'A|ncpi-
Geav, eYtvvncev 'OcpeXiriv KXriGevTa 'Apxe^opov. 'Abpr|TOu be
ßaciXeiiovToc tujv Oepüjv eGriteucev 'AttöXXuuv auTuj luvricieuo-
lievLfj xfiv TTeXiou GuyaTepa "AXKriCTiv. eKCiviu be buuceiv eTiaYTei-
Xaiaevou TTeXiou ifiv GuyaTepa tlu KaiaZeuHavTi äp|ua Xeoviuuv
Ktti KOtTTpuuv 'AttöXXuuv CeuEac ebujKev • ö be komicoc rrpöc TTeXiav
"AXKriCTiv Xa)ußdvei. Guuuv be ev toic yömoic eSeXctGexo 'Apieiuibi
GOcai • bid TOÜTO töv GdXajuov dvoiEac eupe bpaKÖVTUuv cneipaic
ueTrXripuüjaevov. ' 'AttöXXujv be emuiv eEiXdcKecGai ttiv Geöv ijuicato
Tiapd Moipoiv, i'va, öiav "AbjuriTOC )aeXXi] xeXeutdv, diroXuGri toO
Gavdiou, dv eKouciiuc Tic ÜKep auToö GvriCKeiv eXiiiai. ujc be f|XGev
fi ToO GvriCKeiv fme'pa piie toO TiaTpöc iir]Te Tfjc ^riipöc unep auToO
GvncKeiv GeXövTUüv "AXxricTic uTrepaireGave • Kai auifiv rrdXiv dire'-
ireimjjev^ fi Köpri, ujc be evioi XeTOuciv 'HpaKXflc [dveKÖ|uice] M^X^-
cdjuevoc "Aibri-^
Das wunderbare Schicksal der Alkestis hat nun auch seinen
dramatischen dichter bei den Griechen gefunden, und zwar den
TTOiriTric xpaYiKLUTaTOC, den Euripides. das stück beginnt mit
einem prolog, der uns die Vorgeschichte des dramas gibt: Zeus hat
den wunderthätigen arzt Asklepios, Apollos söhn, durch seinen blitz
erschlagen, weil er durch seine heilkunst selbst tote dem leben
wiedergegeben, im zorn hierüber hat Apollo die verfertiger der
blitze, die Kyklopen, getötet, wofür ihm Zeus die busze auferlegt
' 'schon den Homerischen gedichten sind die verschiedenen formen
nicht fremd, in denen sieh der mensch dem cultus gegenüber ver-
sündigen kann, denn es begeht nach ihnen derjenige einen schweren
frevel, der dem dienste eines gottes thätigen widerstand leistet . . .
oder die Verehrung einer gottheit in auffälliger weise vernachlässigt.'
L. Schmidt, die ethik d. a. Gr. II s. 16.
^ vgl. Plato symp. 179'=.
^ so wohl schon Phrynichos, nach ihm Euripides (fragm. trag. Phryn.
2 und 3). nach andern wird sie von Herakles aus dem Hades geholt
(Lucian, dialog. mortuor. 23: Kai ty\v öiaoYevf) juou "AXKriCTiv irap-
6Tr^|i\|)aTe 'HpaKXei x«piZö|uevoi. Röscher, ausführl. lexicon der griech.
u. röm. mythologie u. "AXKrjCXic. seine tbat wird auch erwähnt Apollodor
ßißXioerjKri 2, 6.
206 E. Plaumanu: Admet und Alkestis und der arme Heinrich.
hat, eine zeit lang einem sterblichen dienstbar zu werden. Apollo
hat nun in irdischer gestalt sich als hii-t bei seinem freunde, dem
als besonders gastfreundlich berühmten könige Admetos von Pherä
verdingt , der in glücklicher und von blühenden kindern gesegneter
ehe lebt mit Alkestis, der schönen tochter^ (Eur. Alk. 177 ff.) des
königs Pelias von lolkos (v. 37 ff.), geliebt von seiner gattin* und
von glücklichen unterthanen. allein die götter haben ihm den tod
bestimmt, da gelingt es dem Apollo, für seinen freund von den
Mören zu erwirken ^ dasz derselbe dem tode entfliehen solle, wenn
jemand sich freiwillig für ihn opfere, doch kein freund, nicht vater
und mutter können sich trotz ihres alters entschlieszen, den tod für
Admet zu wählen, nur Alkestis, 'seine blühende, lebensfrohe gattin,
die glückliche mutter heranblühender kinder', ist von so i-einer, auf-
opfernder liebe zu ihi*em gemahl beseelt, dasz sie sich bereit erklärt,
dem Sonnenlicht für ihn zu entsagen, und heute gerade soll sie
sterben, in der sichern empfindung, dasz der tag der entscheidung
gekommen, hat die fürstin in frischem quell wasser gebadet, an dem
hausaltar die göttin gebeten, sich ihrer beiden waisen anzunehmen,
dann von dem schlafgemach , von den an sie sich anschmiegenden
kindern, auch von der ganzen dienerschaft, besonders aber von ihrem
gemahl zärtlichen abschied genommen zum unsäglichen schmerze
des letzteren, jezt treten jene alle aus dem palast, aber Alkestis
wird bereits schwächer und schwächer, mit der beteuerung, das?,
sie lediglich aus liebe zu Admet sterbe, verbindet sie schlieszlich die
bitte an den gatten, nicht wieder zu heiraten, und er verspricht es;
vielmehr wolle er sein ganzes leben hindurch um sie trauern, nie
solle gesang und saitenspiel bei ihm wieder erklingen; sie werde
sein 'einzig liebes traumbild' sein, bis sein tod sie wieder vereinen
werde, daraufhin gibt sie die kinder in seine bände und sinkt dann
ohnmächtig zusammen. Admet geht nun, für die bestattung der
fürstin die nötigen Vorbereitungen zu treffen , und von seinem ge-
folge wird die leiche derselben hinter ihm hergetragen. — Jetzt er-
scheint Herakles und fragt nach Admet, derselbe solle ihm den weg
* vgl. Hom. II. II 713—15:
TüJv (sc. o'i <l)€päc ^v^iuovTo) f\px' 'AburiTou qpi\oc iraTc ^vöeKO vriOiiv
eö|ur|\oc- TÖv ütt' 'A&iariToio x^Ke öia -fuvaiKwv
"AXKrjCTic , TTeXiao eu-faTpOüv elöoc üpiccr].
vgl. Paus. V 17, 11.
* das zärtliche Verhältnis von Admet und Alkestis betreffend vgl.
Hom. Od. VI 182 ff.:
DU |uev Yctp ToO Y^ Kpeiccov koI äpeiov
f] 06' ö|.iocppov^ovT€ vormaciv oTkov IxT^ov
ävi'ip Kai Tuvt'i • ttöW äXfea bucjueveecciv
Xdpjuaxa b' eüjuev^Trici, jnäXicxa bi t' ^kXuov aOroi.
^ nach Euripides allerdings durch täuschung, vielleicht im anschlnsz
an Aeschylus, nach dessen Eumeniden v. 172. 723 und 728 f. (oiVLU
TrapriiräTricac dpxctiac Oedc) Apollon die Mören trunken gemacht und
in der trunkenheit ihnen das versprechen abgenommen hat. Röscher
a. a. 0. u. "AöiuriToc.
E. Plaumaun : Admet und Alkestis und der arme Heinrich. 207
weisen, weil er nach den rossen des Diomedes ausziehe, gleich tritt
auch Admet in trauerkleidern samt gefolge heraus und heiszt den
gast freundlich willkommen, der erstaunt gleich nach dem gründe
der trauerkieider fragt, allein Admet antwortet dauernd auf eine so
versteckte art, dasz Herakles hinter den eigentlichen grund seiner
trauer nicht kommt, von Admets gastfreundschaft also ungescheut
gebrauch macht, durch einen diener sich in die freradenzimmer
führen und wein vorsetzen läszt. — Als Admet jetzt an der spitze
des trauerzuges aus dem palaste tritt, kommt auch sein vater Pheres
mit dienern und grabesspenden für Alkestis hinzu und spricht jenem
sein mitgefühl aus, gleichzeitig aber auch seine befriedigung dar-
über, dasz Admets weib für ihn gestorben und so er, der vater,
nicht seines kindes beraubt werde, und wünscht dann der toten
heil in der unterweit. Admet aber weist des vaters teilnähme und
geschenke schroflf zurück, ja er wendet sich schmähend gegen ihn
mit harten woi'ten des Vorwurfs darüber, dasz der alte in sklaven-
sinn nicht für ihn, den söhn, gestorben; er werde in zukunft seine
eitern als solche nicht mehr betrachten, und sagt sich von seiner
kindespflicht los. Pheres aber leugnet es, dasz nach thessalischem
und griechischem gesetze eine Verpflichtung für ihn bestehe, statt
des sohnes zu sterben, vielmehr zeuge es von feigheit des sohnes,
dasz er selbst den tod gescheut und sein weib für ihn zu sterben be-
schwatzt habe, darin bekunde sich seine liebe zum leben, und diese
behersche auch den vater und dürfe ihm nicht verargt werden,
schlieszlich eilt Pheres in hellem zorn davon, während Admet ihm
nachrufend sich nochmals von ihm lossagt und dann sein gefolge
auffordert, die verstorbene zum Scheiterhaufen zu führen. — Ein
diener, der nun aus dem palaste tritt, leiht seinem unmut worte
über den gefühllosen und anspruchsvollen gast, den er und seine
mitdiener bewirten müsten , ohne sichs merken lassen zu dürfen, in
wie traui-iger läge ihr herr und sie alle sich befänden bei dem tode
der herrin, die allen gleichsam eine mutter gewesen, gleich er-
scheint auch Herakles selbst, mit kränzen geschmückt, und macht
dem diener vorwürfe wegen seines düstern, dem gaste gegenüber
unpassenden aussehens, und fordert ihn auf, vielmehr mit ihm zu
zechen, weil man das leben genieszen müsse, so lange man lebe.
da hört er nun allmählich zu seiner Verwunderung von dem diener,
dasz nicht ein fremdes weib, sondern Admets gattin selbst gestorben
sei. erstaunt darüber, dasz dieser trotzdem in seinem gastlichen
sinne ihn, den fremden, empfangen habe, fragt er nach der be-
gräbnisstätte und thut sogleich den entschlusz kund, dafür die
Alkestis für ihren gatten wiederzuholen, jetzt kehrt Admet mit
seinem gefolge vom begräbnis in sein ödes haus in tiefer trauer mit
seinen verlassenen kindern zurück, nicht der hinweis seiner greisen
unterthanen im chor auf das allgemeine menschenloos, noch darauf,
dasz er nicht der erste sei, dem solches geschehe, nicht die ermah-
nung, sein leid mannhaft zu tragen, nicht der trost der getreuen
208 E. Plaumann: Admet und Alkestis und der arme Heinricli.
diener vei'mag seinen kummer zu lindern, er preist vielmehr das
Schicksal seiner gattin , die nun über alles leid erhaben sei ; er aber
komme in ein ödes haus, ohne freundlichen grusz zu verwaisten
kindern, zu weinenden dienern, und dazu werde noch üble nach-
rede kommen, dasz er aus feigheit nicht selbst habe sterben wollen,
sondern sein weib für sich habe sterben lassen, so sei bei übler
nachrede und bösem geschick sein leben nichts nütze. — Nun
kommt Herakles, ein verschleiertes weib führend, zurück und macht
dem Admet vorwürfe, dasz er ihm über den tod seiner gattin
nicht die Wahrheit gesagt habe, da er ihm nahe genug zu stehen
glaube, um sein vertrauen zu verdienen, dann bittet er ihn, das ver-
schleierte weib, welches er im kämpf gewonnen, ihm aufzubewahren,
bis er selbst die thrakischen rosse gewonnen. Admet aber weist zu-
nächst jenen Vorwurf damit ab, dasz er aus freundschaft, um Herakles
nicht weiter ziehen zu lassen, ihm sein leid verhehlt habe; bittet ihn
dann aber, aus verschiedenen gründen die hut der Jungfrau einem
andern zu empfehlen, weil sein schmerz noch zu frisch sei. er kann
sich jedoch nicht enthalten einzugestehen, dasz an wuchs und
haltung diese Jungfrau seiner verstorbenen gattin gleiche, und ein
wunderbares sehnen zieht seinen blick immer wieder auf die tief
verschleierte gestalt. trotzdem lehnt er die aufnähme derselben ab,
wie oft auch Herakles es ihm andeutet, dasz es mit ihr eine besondere
bewandtnis habe, schlieszlich musz er auf des Herakles bitten die
Jungfrau doch in empfang nehmen; und nun erhebt dieser den
Schleier mit der frage an Admet, ob sie seinem weibe nur gleiche, und
fordert ihn dann auf, sich seines glückes zu freuen in dem besitze
seiner wiederbelebten gattin. erstaunt tritt Admet zurück in der
befürchtung, es sei das nur ein trugbild der hölle. erst als Herakles
ihm das gegenteil versichert, macht sich seine freude in Worten luft,
und er gibt deshalb befehl zu groszen opfern und festen zur feier
dieses freudigen ereignisses^ wobei des mächtigen Zeussohnes in
dankbarkeit und liebe gedacht werden solle.
Ein blick in des Euripides drama zeigt uns, dasz er in der Vor-
geschichte einzelheiten als bekannt voraussetzt und also voraussetzen
durfte, so ist bei ihm nicht ersichtlich, warum die götter dem Admet
den tod vor der zeit bestimmt haben ; wir müssen also doch wohl
den bei Apollodor angegebenen grund auch für Euripides annehmen ;
denn einen grund verlangen wir doch beim dramatischen dichter,
oder soll etwa allein die allgewalt des Schicksals als solcher ange-
nommen werden, da v. 247 f. Admet von sich und Alceste sagt:
öpqi (Helios) ce Kd)ae buo KttKuJc TrenpaYÖTac
oubev 0eouc bpdcavxac dvö' ötou 9avei?
ferner sind an stelle der Artemis, die ihre Verletzung durch Admet
rächt, die götter in ihrer gesamtheit eingesetzt, womit natürlich
' Klein, gescbicbte des dramas bd. I 'hat in maszvoller und ge-
rechter beurteilung die sebönheiten des Stückes gewürdigt und bervor-
gehoben' (Ellinger). vgl. Scblegel, über dramat. kunst u. litt. II 245 f.
E. Plaumann: Admet und Alkestis und der arme Heinrich. 209
auch der eigentümliche modus der räche, wie ihn Apollodor erzählt,
gefallen ist.
Von den beiden arten ferner, wie nach Apollodor und einer
Variante des mythos der opfertod der Alkestis belohnt wurde,
muste der dramatiker natürlich eine wählen, und er wählte die,
welche unbedingt als die dramatischere erscheint, wenngleich wir
den Vorgang nicht sehen, nämlich die Wiedergewinnung derselben
durch den kämpf des Herakles mit dem tode, den ersterer aus dank-
barkeit für den urgastlichen sinn des Admet übernimmt und mit
glück zu ende führt, denn die verherlichung der gastlichkeit steht
doch neben dem preise der selbstlosen liebe, die auch vor dem vor-
zeitigen tode nicht zurückschreckt, — ein punkt, der um so wich-
tiger ist, als der Grieche ungemein am leben hieng — als nebenidee
des dramas auszer allem zweifei. welch ein vorteil dadurch für den
Charakter des Admet gewonnen wird , werden wir gleich sehen.
In Admets charakter ist der hervorstechendste zug sein
edler sinn, der sich vorzüglich in uneingeschränkter gastlich-
keit bekundet. Tipöc T«P Aiöc eiciv ctTiavTec Eeivoi (Hom. Od.
VI 207) war seine unerschütterliche Überzeugung, und daraus folgte
für ihn der grundsatz, die gastfreundschaft keinem und unter keinen
umständen zu versagen, 'so hat denn', heiszt es auch bei L. Schmidt,
die ethik der alten Griechen II 327, 'die Alkestis des Euripides an
der bedeutung der gastlichen pflichten eines ihrer hauptmotive,
welches trotz der hier und da an das burleske streifenden ausführung
hinreichend hervortritt, denn Admetus, der seine gastfreundschaft
dem gott Apollo gegenüber schon einmal bewähren konnte (v. 568 ff.),
findet gelegenheit, sie, unter eigentümlich schwierigen umständen an
Herakles zu üben, dieser ist nach langer Wanderung ermüdet nach
Pherä gekommen, und Admetus kann ihm nicht verschweigen, dasz
sein haus durch einen todesfall in trauer versetzt ist, verhindert ihn
aber dennoch, dasselbe zu meiden, indem er ihm verschweigt, dasz
die betrauerte sein weih ist. dadurch hauptsächlich wird Herakles
so gerührt, dasz er sich entschlieszt, Alkestis aus dem Hades zurück-
zuholen.' oft und deutlich ist daher dieser grundzug von Admets
Charakter durch Euripides betont, so darin, dasz Apollo einst aus
dem himmel verbannt gerade zu Admet in den dienst trat, wie jener
selbst sagt v. 1 — 2:
o) buu|uaT' 'Ab|ui]Tei' ev oTc eiXriv etuu
6ficcav TpaneZiav aivecai Geöc rrep ujv.
und v. 8 — 10:
eXOiLv be YöTav xrivb' eßoucpopßouv Hevuj
Ktti Tovb' ecujZiov oTkov ec TÖb' fiiuepac.
öciou f ap avbpoc ocioc wv eTuxxcvov usw.
vgl. V. 68. 509 ff. 539 und 545 f. , wo ihm z. b. der chor den Vor-
wurf macht, dasz er trotz seiner trauer einen fremden bei sich auf-
genommen habe, den er aber entrüstet zurückweist mit der vor-
wurfsvollen frage v. 553 f.:
N. Jahrb. f. phil. u. päd. II. abt. 1897 hft. 4 u. 5. 14
210 E. Plauniann: Admet und Alkestis und der arme Heinrich.
dXX' ei böiuujv cqpe Kai iröXeujc dirriXaca
Eevov inoXövia , luäXXov dv |a' errr^vecac ;
um dann gleich hinzuzufügen v. 555 f. :
ou bfJT' errei jjlox cujaqpopd juev oubev dv
Ibieiujv eTiYveT', dHeviurepoc b' i^w.
von seinem hause überhaupt sagt er, demselben sei jede Verletzung
der gastlichen pflichten fremd, v. 566 f.:
rdiLid b' ouK eTTiCTatai
laeXaGp' dTTiueeTv oub' drijudZieiv Hevouc.
daher denn auch das ungeteilte lob, das die greise des chors (v. 569 flf.)
in einem längeren liede, besonders in str. 1 und 4 ihm spenden, vgl.
V. 809. 823. 830. 855 f.
Doch er war nicht nur gastlich, sondern überhaupt sorg-
fältig in seinen pflichten gegen die götter, wie er doch
schon oben (v. 10) als dvr)p ocioc bezeichnet worden ist. so heiszt
er trotz blutenden herzens doch möglichst heiter den Herakles bei
sich willkommen v. 509 :
Xaip', Ol Aiöc TTai TTepceuuc t' dqp' aijaaTOC.
darum darf er aber auch von des Herakles gesinnung gegen ihn
sagen v. 511: euvouv b' övia c' eHemcTaiuai. er ist also gott-
geliebt, und deshalb geht sein Schicksal göttern zu herzen; so
sagt Apollon v. 42 :
cpiXou Tdp dvbpoc cujuqpopaic ßapuvoiaai. vgl. v. 1116 f.
war also sein Verhältnis und verhalten den göttern gegenüber
im allgemeinen musterhaft, so erscheint es ebenso gegenüber den
menschen, und zwar sehen wir ihn zunächst als einen zärtlich
liebenden gatten; ein diener berichtet v. 201 f.:
xXaiei t' aKomv ev xepoiv cpiXiiv ^x^v,
Ktti imii npobouvai Xicceiai usw.
so fleht er Alkestis an v. 275 ff. :
|afi Tipoc ce Geijuv xXric )ne npobouvai,
\xr\ TTpoc TTaiboiv ouc öpcpavieic,
dXX' dva TÖX)ua*
coO Y dp qpGijuevnc oükct' dv eirjv •
ev coi b' ec^iev Kai lr\v Kai )ari.
cfiv Ydp qpiXiav ceßö)aec9a.
und V. 341 f.:
dpa fioi cxeveiv irdpa
TOidcb' duapTdvovTi cuZ;utou ceGev;
deshalb will er auch das fremde weib nicht in sein haus aufnehmen,
weil ihr anblick ihn dauernd an seinen unersetzlichen Verlust erinnern
und ihm heisze thränen des Schmerzes und der Sehnsucht auspressen
würde, v. 1046 ff. :
OUK dv buvaiMriv irivb' öpuJv ev buj|uaciv
dbdKpuc eivar )ari vocoOvti )ioi vöcov
TTpocGrjc dXic fäp cujacpopd ßapOvo)aai.
E. Plaumann: Admet und Alkestis und der arme Heinrich. 211
wird doch schon der anblick ihrer altersgenossinnen die schmerz-
liche erinnerung seines Verlustes in ihm wecken, vgl. v. 952 f.:
ou fap eHave'HoMai
Xeuccuuv bctjuapioc inc ejurjc öjuriXiKac,
und die einsamkeit des hauses, die öden räume, der verwaiste thron
treiben ihn hinaus v. 944 flf.
Weil er sie so zärtlich geliebt, soll auch nie ein anderes weib
an ihre stelle treten, so versichert er dem Herakles v. 1090: OUK
eCTi TIC TLub' dvbpi cuTKXi9r|C€Tai , nachdem er schon vorher ihr
selbst versichert hat (v. 928 ff.), dasz ihr bild nie aus seinem herzen
schwinden werde:
ecxai Tab' ecTai , )ufi Tpecric * CTrei c' iffh
Ktti Ziüucav eixov Kai öavoOc' €)afi T^vf]
jaövri KCKXricei, koutic dvxi coö rroxe
TÖvb' avbpa vüjLicpri GeccaXic TtpoccpGeTHeTai usw.
es ist ihm nach solchem verlust das eigne leben nicht lieb, ja eine
last, und er wünscht sich selbst den tod (vgl. 861 ff.), daher auch
seine fassungslosigkeit bei dem unverhofften wiedersehen seiner
gattin, deren erscheinung er für ein trugbild der hölle halten zu
müssen fürchtet, v. 1123 ff. :
Ol Geoi, Ti XeEuj; cpdcju' dveXiriCTOV TÖbe*
Yuvaka Xeuccuu Triv cjuriv eTriTumuc ,
f| Ke'pTOjuöc )ae 9eoö Tic CKnXriccei x^pd;
daher auch seine innig zärtliche begrüszung, als er sich von der
Wahrheit der erscheinung überzeugt hat; v. 1133 f.:
uj qpiXTdxrjC YuvaiKÖc ö|U)Lia Kai be'iaac,
e'xuj c' deXTTTOJC, oöttot' öipecGai boKUJV,
und seine jubelnde freude, an der er sein ganzes volk in festen und
dankopfern teilnehmen zu lassen wünscht v. 1155 ff. auch vgl. noch
V. 96 f. 231 f. 250 f. 264 f. 382. 384. 425 ff. 878 f. 895 ff. 1037 ff.
1082. 1092. 1094. 1097. 1133 f.
Wie aber sein herz von liebe zu seiner gattin erfüllt ist, so
hängt es auch mit innigkeit an den Unterpfändern ihrer liebe, den
kindern; er ist ein zärtlicher vater. dies erkennt seine gattin
ihm an v. 302 f.: ToOcbe Ydp qpiXeic oux fjccov f\ 'yw iraibac usw.,
und er selbst lehnt den wünsch nach mehr kindern von einer
etwaigen andern frau entschieden ab v. 334 f. :
dXic be TTaibuuv, Tüjvb' övr|civ euxojaai
GeoTc tevecGar coO ydp oük lijvriiueGa.
Für sein volk ferner hat er ein fürsorgliches herz, und
es besteht zwischen dem herscher und seinen unterthanene in schönes
Verhältnis gegenseitigen Vertrauens, 'fürst und volk reichen sich die
band, lieb' und treue weihen sich dem könige'; denn er ist zwar ein
strenger, aber edler fürst, vgl. v. 770 f. als z. b. Alkestis beim ab-
schied von den ihrigen die bitte ausspricht, Admet möchte den
kindern ein rechter vater sein und an ihnen ihre stelle zugleich mit
vertreten und nicht mehr heiraten, damit die kinder nicht der un-
14*
212 E. Plaumann: Admet und Alkestis und der arme Heinrich,
gunst einer Stiefmutter ausgesetzt würden, geben schon die Vertreter
des Volks, die greise des chors, ehe er selbst es ausspricht, in seinem
namen die Versicherung ab, dasz er diese bitte der frau erfüllen
werde, v. 326 f.:
6dpc€i, irpö TOUTOu fäp XeTeiv oux alojJiax'
bpdcei idbe usw.
ihre teilnähme an der trauer des fürsten versichern sie v. 369 f. :
Kai )afiv ifvj coi TrevBoc ibc qpiXoc qpiXuj
XuTTpöc cuvoicu) Triebe-
und V. 813:
fiiaiv becTTOTLuv j^eXei KttKd.
Doch sein Charakter hat auch Schattenseiten, zunächst
musz uns anstöszig erscheinen der mangel an ehrerbietung
gegen seine eitern, speciell seinem vater gegenüber, dem er ins
gesiebt die bittersten vorwürfe macht, weil er, der doch an der
schwelle des todes stehe, sich nicht habe entschlieszen können, für
ihn, seinen söhn, zu sterben, zu Alkestis sagt er v. 336 ff.:
oicuj be TTev6oc ouk eTY\c\ov tö cöv,
dXX' ecT* dv aiujv oüjaöc dvTe'xil , Tuvai ,
CTUTÜJV i^ev r\ )lx' exiKTev, ex^öipu^v b' e)aöv
TTtttepa* XÖYUJ ydp rjcav oük epTMJ (piXoi. vgl. v. 469 ff.
auch lehnt er des vaters grabesspenden für Alkestis mit entschieden-
heit und in der schroffsten weise ab, ja er sagt sich in aller form
von ihm los , zweifelt sogar seine Vaterschaft bei ihm an , nennt ihn
einen feigling und spricht sich selbst von jeder Verpflichtung gegen
die eitern frei, 'und doch war das anrecht, welches als der unmittel-
bare persönliche gewinn aus dem kinderbesitze angesehen wurde, die
pflege im alter' (L. Schmidt, ethik II 140). da der vater selbst-
verständlich über äuszerungen seines sohnes von der art mit recht
empört ist, so findet zwischen ihnen eine recht erregte scene statt
(v. 629 ff.), und als der vater voll entrüstung sich entfernt, ruft ihm
der söhn seine obigen äuszerungen noch nach (v. 734 ff,), 'nun ist
aber von den pflichten der eitern gegen die kinder nicht häufig die
rede, wohl weil das Vorhandensein einer innigen Zuneigung zu ihnen
im gründe selbstverständlich, ihr fehlen, wo es ausnahmsweise vor-
kommt, als ein zeichen äuszerster unnatur betrachtet wird, einen
um so wichtigeren platz nehmen ... die pflichten dieser gegen jene
in der ethischen reflexion der Griechin ein' (L. Schmidt, ethik II 141).
'von seinen kindern gehaszt und verflucht zu werden, ist daher nach
Theognis ein schlimmeres loos als der tod und die schwersten krank-
heiten' (L. Schmidt a. a. o. II 138). so können wir dem Admet den
Vorwurf nicht ersparen, dasz er wie ein undankbarer söhn zu einer
verkennung seines Verhältnisses zu den eitern sich hinreiszen läszt
und dem vater einen Vorwurf macht, der ihn selbst trifft, 'dagegen
ist es nichts als eine auf die lachlust der zuschauer berechnete um-
kehrung des naturgemäszen Verhältnisses, wenn in dieser durchaus
i
E. Plaumann: Admet und Alkestis und der arme Heinrich. 213
burlesken® scene (v. 629 — 738) Admet den schein annimmt, als ob
es ihm fi-eistehe, sich von seinem vater loszusagen, weil dieser sich
nicht statt seiner gattin für ihn geopfert hat' (Schmidt a. a. o. II 139).
warum aber hängt er so am leben , dasz er selbst des lebens seiner
schönen, jugendlichen und von ihm innig geliebten gattin nicht
schonen mag? sein vater sagt ihm ins gesicht v. 694 ff.:
cu foöv dvmbujc biejudxou tö ixy] Gaveiv
Ktti Zifjv TiapeXGujv ifiv Treirpiuineviiv Tvx^^
TttÜTriv KaiaKTOC. (vgl. v. 420 ff.)
was will es da heiszen , dasz er sie bittet und beschwört, ihn nicht
zu verlassen, und versichert, dasz sein leben für ihn dann auch
keinen wert mehr habe; dasz er das loos der frau preist, die nun
bald über leid und schmerzen erhaben sein werde; und wenn er be-
reut, dai^z er nun rechtlos sein dasein weiter führe, dasz er jetzt, wo
er sie verloren, erst recht ihren wert erkenne, v. 935 ff. :
q)iXoi, YuvaiKÖc bai)Liov' euTuxectepov
ToujuoO vo|uiZ!uu, Kairrep ou boKoOvö' ö)aiuc.
Tfjc |uev Ydp oubev d\YOC ävperai ttot€,
TToXXuJv be jLiöxOujv euKXenc eTraucaio.
e^tu b' öv ou xp^v lr]v , Tiapeic tö |u6pci)aov
XuTipov bidEuj ßioTov dpii jnavGdvuD.
er hat selbst die empfindung, dasz man ihm den Vorwurf der feig-
heit nicht ersparen und er also der gattin beraubt und gleichzeitig
beschimpft leben werde, v. 954 ff. :
epei be in' öctic exöpöc wv Kupei xdbe •
iboö TÖv aicxpuic KuvQ' öc ouk eiXi] öaveiv,
dXX' r|V e'Til.uev dviibouc dvpuxict
TTeqpeuTev "Aibriv eii' dvr)p eivai boKei;
CTu^ei be Touc teKÖvrac auTÖc oü Ge'Xujv
eaveiv. TOidvbe Ttpöc KaKoTci KXriböva
e'Huj. Ti juoi Z!fiv bfiia Kubiov, cpiXoi,
KttKUJC kXuovti Ktti KttKUJC TTeTTpaf OTi ;
und sein eigner vater sagt ihm v. 696 ff . :
eil' e^riv dv|iuxiav
Xe'-feic, YuvaiKÖc, ui KdKicO', ficcri]ue'voc,
ii Tou KttXoO coO TipouGave veaviou;
mit seinen obigen werten trifft er genau das, woran wir anstosz
nehmen, allein vom Standpunkt des Griechen aus schützt ihn eben
die unbedingt gültige liebe zum leben und wohl auch der nunmehr
unabänderliche beschlusz des Schicksals, dasz Alkestis sterben müsse,
nachdem sie sich dazu bereit erklärt und somit ihrer pflicht genügt
hat, wodurch das von Admet begangene unrecht an dem, was ihm das
liebste wai', gerächt wui'de. freilich sollte er sie ja dann wieder er-
8 zur erkliining s. G. EUinger, Älceste in der modernen litt. s. 1.
214 E. Plaumann: Admet und Alkestis und der arme Heinrich,
halten, 'zu den festesten Voraussetzungen nämlich , von denen der ^
glaube der alten Griechen nicht lassen mochte, gehörte, dasz in den
Schicksalen der menschen eine strenge gerech tigkeit waltet, welche
das gute belohnt und das böse bestraft' (Schmidt a. a. o. I 47). und \
ersteres geschah hier damit, dasz Admet nicht nur dem tode ent- \
gieng, sondern auch seine gattin wiedererhielt dafür, dasz er sich -^
durch ungewöhnliche gastlichkeit vor allen andern menschen aus-
zeichnete, 'des Admet tod aber wäre bei dem hohen alter seines
vaters Pheres, sowie auch bei der noch zarten jugend seines sohnes
Eumelos nicht blosz für sein volk ein Unglück, sondern bei der gast-
lichen gesinnung des Admet auch für die ganze menschheit ein
groszer verlust gewesen.'
So ist Admet denn ein edler fürst, ein liebender und innig ge-
liebter gatte, ein treuer und liebevoller vater, ein gottesfürchtiger
mann, der vor allen andern menschen durch eine bei seinen lands-
leuten hochgeschätzte tugend sich auszeichnet, dasz er trotzdem in
einem falle einer gottheit den schuldigen tribut zu zahlen unter-
läszt, musz er schwer büszen. das ist das tragische in seinem ge-
schick. doch schlägt die busze schlieszlich zu seinem glück aus; und
das schafft uns befriedigung.
Wie Admets cardinaltugend die gastfreundschaft ist, so ist
es bei Alkestis die zärtliche, selbstlose, opferfreudige
liebe des weibes zu ihrem manne, die, um ihn zu retten, selbst vor
dem tode in jugendlichen jähren nicht zurückschreckt (vgl. Schmidt
a. a. 0. I 204), trotzdem dasz sie ein schuldloses edles weib ist
(vgl. V. 324 flF.). v. 282 ff. sagt sie:
CTOü ce TTpecßeüouca koivti ific ejufjc
Hiuxiic KttTacTTicaca qpiljc xöb' eicopäv
övriCKO) , TTapöv )uoi jui] BaveTv uirep ceöev usw.
dies erkennt auch ihr gatte tief gerührt an v. 340 f. :
cu b' dvTiboöca tIic ejuflc ict qpiXiaTa
ijjuxnc ^cuucac. (vgl. v. 384.)
so thut auch der chor v. 460 AT. :
cu Totp. iJL» Mova oi qpiXa YuvaiKuuv,
cu TÖV auTttc
eiXac TTÖciv dvii cäc otJLieTvpai
ipuxäc e^ "Alba*
und V. 439 flf. :
icTuj b* "Aibac ö )Lie\aTXaiTac Geöc 6c t' im. kuOtt«
TTribaXio) T€ YepuJV
veKpoTTOjaTTÖc itei,
TToXu bri TToXu YuvaiKa dpicxav
XiMvav 'AxepovTiav TTOpeu-
cac eXaia biKuuTTuj.
Vgl. V. 231 f. 199 f! 150 f 144.84f.33flf. so thut auch Apollo v. 17 f.
und der diener v. 615 f. (vgl. v. 154 flf.):
E. Plaumaim: Admet uud Alkestis und der arme Heinrich. 215
ecBXfic Tctp oubeic dviepei Kai cuucppovoc
YuvaiKÖc f]|udpTiiKac-
und ebenso Herakles v. 1083 (vgl. v. 824. 1013):
YuvaiKÖc keXfjc lijaiiXaKac" Tic dvTepei;
Ihre Schuldlosigkeit ist betont in den schon oben citierten
Worten Admets v. 247 f.
Dazu steht sie noch in blühendem alter, ist schön und
lebensfroh; sie selbst sagt v. 288 f.:
oiib' ecpeicdjuriv
iißric e'xouca bilip' ev oic eiepiröiuriv.
und Thanatos meint v. 55 in bezug auf sie:'
veujv qpBivövTuuv jaeTZiov dpvujuai ^ipac.
der dichter schreibt ihr v. 159 zu XeuKÖV XPÖ« und v. 174 xpuuTÖC
€i»eibfi qpuciv ('der wange zartes rot') und Admet sagt v. 332 f.:
ouK ecTiv oÖTuuc oure Traipöc euYevoOc
out' elboc dXXiuc euTTpeTrecTdTri ^vvr\.
ihre freude am leben bekundet der diener v. 205 f.:
öjuujc be KaiTiep c|uiKpöv e|U7Tveouc' e'Ti
ßXe'ipai TTpöc aiiYdc ßouXeTai Tdc fiXiou,
und V. 262 klagt sie selbst tief:
oiav öböv d beiXaiOTttTtt TTpoßaivuu
und V. 301 :
ipuxfic Ydp oubev ecTi Ti|uidjTepov.
dafür ist auch beweisend ihr rührender abschied von dem Schlaf-
zimmer und ehebett, wo sie einst dem geliebten gatten die Jung-
fräulichkeit geopfert bat, v. 177 S.
Dazu haben sich noch andere Vorzüge gesellt; sie ist eine zart -
liehe mutt er. so bittet sie v. 164 ff. die gottheit des bauses, sich
ihrer verwaisten kinder anzunehmen :
be'cTTOiv', e-jih Ydp epxo|uai xaTd xöovöc,
TtavucTttTÖv Te TTpocTTiTvouc' aiTvicojuai,
TeKv' opqpaveOcai rajud, Kai tuj )li€v qpiXri
cuZieuHov dXoxov , Tri öe Yevvaiov ttöciv.
tief schmerzvoll ruft sie v. 270 in der empfindung von dem nahen
des todes zu den kindern aus :
TGKVa TEKV', 0UK6TI be
ouKETi judTTip cqpiJuv ecTiv.
auch wünscht sie die kinder nicht der Ungunst einer Stiefmutter
ausgesetzt zu sehen v. 304 ff.
Deshalb genieszt sie auch innige liebe; v. 991 ff. heiszt es in
dem chorliede von ihr:
qpiXa juev öt' fjv |ue6' fnaOüv,
(piXa be Gavouc' ec dei.
schmerzerfüllt ruft ihr söhn Eumelos aus v. 393 f. :
iuu ]xo\ Tuxac. luaia be KdTuu
ßeßaKev, oÜKeT' ecxiv, iL
216 E. Plaumann: Adniet und Alkestis und der arme Heinrich.
. ,c,, /:
TTüTep, uqp rikux).
TTpoXiTToOca b' upiöv ßiov
ujpcpdvicev iXdfiUJV.^
vgl. V. 324. 264 f. 289 ff.
Auch ist sie eine geliebte fürstin und hei-rin.* sc ver-
wünscht der diener den dienst bei der bewirtung des lästigen gastes,
des Herakles, da er dadurch verhindert werde, seiner geliebten herrin
das letzte geleit zu geben, v. 765 ff.:
Kai vOv eTib laev ev bö)ioiciv eciiiL
Sevov, TTavoöpYov KXüuTra Kai Xi^ciiiv Tivd,
f\ b' eK bö)Liujv ßeßrjKev oub' ecpecrröiariv
oub' eHeteiva xeip' äTTOi|uujZ!uuv e|ufiv
becTToivav , i\ |uoi Ttäci t' oiKeiaiciv fjv
|ur|T)ip' KaKÜüV TctP M^piujv eppiiero
öpTCtc laaXdccouc' dvbpöc u-,\v,
an einer andern stelle (v. 825) klagt derselbe schmerzvoll: aTTUüXö-
jaecöa Tidviec, ou Keivri laövri. vgl. v. 773 ff. 762 ff.
Beim abschied weinen alle diener, und jedem reicht sie zum
scbeidegrusz die band. v. 192—96 vgl. v. 213 ff. 105 ff. 79 ff.
Der chor aber begleitet sie beim scheiden mit den herzlichsten
Segenswünschen für das jenseitige leben v. 741 ff.:
iuu IUI. cxeiXia TÖX)aiic
Ol Yevvaia ku\ \xeY dpicTr),
Xaipe- TTpöcppoiv be xöövioc 6' '€p)Liiic
"Aibnc le bexo'T'. ei be ti KÖKei
TiXeov ecT' «TaGoic , toutujv lueiexouc'
"Aibou vujLiqpri Trapebpeüoic.
geradezu göttliche ehrung wird ihr in aussieht gestellt, jedenfalls
sie derselben für würdig erklärt v. 995 ff. :
\ir\hk veKpujv ujc cpOiiaevuJv xuJMa vo|uiZ:ec9a)
TÜjußoc Tdc dXöxou, öeoici b' ö)aoiujc
Ti|adc6ai, ceßac euTTÖpuJv.
Kai TIC boxMi«v KeXeuBov
eiaßaivujv tdb' epei'
aüia TTOie rrpouGav' dvbpöc,
I
vgl. Schiller, das lied von der glocke v. 250 flf.:
ach, die gattin ists, die teure,
ach, es ist die treue mutter,
die der schwarze fürst der schatten
wegführt aus dem arm des gatten,
aus der zarten kinder schar,
die sie blühend ihm gebar,
die sie an der treuen brüst
wachsen sah mit mutterlust —
ach, des hauses zarte bände
sind gelöst auf immerdar;
denn sie wohnt im schattenlande,
die des hauses mutter war!
E. Plaumann: Admet und Alkestis und der arme Heinrich. 217
vöv b' ecTi ladKaipa baiiauuv *
Xaip\ o) TTÖTvi', eiü be boinc
ToTai viv rrpocepoOci cpfjiuai.
Fügen wir nun noch hinzu, dasz sie entschieden gottes-
fürchtig ist, wenn sie so gottergeben stirbt, nachdem sie mit
peinlicher genauigkeit die religiösen Vorbereitungen zu ihrem tode
vollzogen (vgl. v. 159 flf.), so dürften die hauptztige ihres Charakters
zusammengestellt sein als einer liebevollen, selbstlosen, opferfreudigen
frau, einer zärtlichen mutter, einer fürsorglichen fürstin und eines
gottergebenen weibes.
Auch Phädrus bei Plato cu|aTTÖciov 179'"= führt Alkestis als
beispiel dafür an, wie die wahre liebe den menschen selbstlos macht
und ihm sogar den mut einflöszt, für den geliebten zu sterben; es
heiszt dort: Ktti diTexvujc, ö ecpr) "0|ur|poc, fievoc ejunveOcai evioic
Tuuv fipuiujv TÖv Geov, toOto ö "Gpuuc toic epijuci Trape'xei tiTvö-
inevov nap* auToO ('als seine gäbe' KLehrs). '" Kai juriv uTrepa-rro-
GvriCKeiv ye |uövoi eGeXouciv oi epOuviec, ou |uövov öti dvbpec,
dXXd Ktti Tuvakec. toutou be Kai r\ TTeXiou GuTdinp "AXkvictic
iKavf)v juapTupiav rrapexeTai, uTiep ToObe toO Xötou, eic touc
"eXXrivac eGeXricaca luövri unep toO auTi^c dvbpöc dTToGaveiv,
övTujv auTuJ TTüTpöc Tc Kai lariTpöc- ouc eKeivri tocoOtov uirep-
eßdXeio irj qpiXia bid töv epojTa, ujcre dnobeiEai auTOuc dXXo-
ipiouc öviac TUJ uieT Kai 6vö)naci )uövov irpocriKoviac. Kai toOt'
epfacaiaevri tö epTOv oütuu KaXöv ^'boSev epYdcacBai ou pövov
dvöpujTTOic dXXd Kai toTc GeoTc, ujcie ttoXXujv rroXXd Kai KaXd
epYaca|Ufevuüv , eüapiGjariioic bri ticiv ebocav toOto y^Pöc oi Geoi
eE abou dveivai ndXiv ir\v vjjuxriv dXXd Kai Tr]v eKCivric dveicav
dTocGevTec tuj epfuj. oütuü küi Geoi xriv Tiepi töv epoiia ciroubriv
le Kai dpeiriv judXicxa Ti|aujciv.
Doch Diotima behandelt es in ihrer rede in Piatons Gastmahl
als eine selbstverständliche Voraussetzung, dasz die höchsten
thaten der aufopferung durch den gedanken an den
gewinn eines ehrenvollen namens bei der nachweit
eingegeben werden, und erkennt darin eine der drei formen
des dem menschen natürlichen strebens nach der teilnähme an der
Unsterblichkeit (Schmidt a. a. o. I 197). und auch hierfür wird
Alkestis als beispiel angeführt und damit eine etwas veränderte auf-
fassung des motivs zu ihrer that gegeben ; es hätte sich dann mit
der liebe der ehrgeiz gepaart, diese berühren sich allerdings bei
Plato sehr eng. vgl. cu^Tröciov 178<='': ö Tdp XP^'l dvGpuuTTOic
fiTeicQai TiavToc tou ßiou toic jueXXouci KaXujc ßiiucecGai toOto
oÜTe cuTTtveia oiaTe ejunoieiv oütuj KaXujc oÜTe Ti)Liai ouTe ttXoO-
toc out' dXXo oubev d)c epoic. XeYw be hr\ ti toOto; Tfiv |uev
eTTi ToTc aicxpoTc aicxuvr|v , im be toTc KaXoic cpiXoTiiuiav.
Dann heiszt es cu)li7t6ciov 208'='': enei T€ Kai tujv dvGpuuTTOiv
8. überhaupt die treffliche Übersetzung von K. Lelirs.
218 E. Plaumann: Admet und Alkestis und der arme Heinrich.
€1 eGeXeic eic iriv (piXoTi)uiav ßXeqjai, Qavixaloic av ific dXoTiac
iT€pi ä eTUJ eipHKa, ei )Liri evvoeic, ev9u)uri9eic ibc beivüuc bidKeiviai
epujTi Toö övo|uacToi Yeve'cGai küi kXeoc eic töv dei xpövov
dedvaiov KttTaBecGar Kai uirep toütou kivöuvouc re Kivbuveueiv
eTOi)aoi eici -rrdviec, judXXov r\ uirep tujv Tiaibtjuv, Kai xpiFai'
dvaXiCKeiv Kai ttövouc TToveTv oücTivacoOv Kai ÜTrepaTroBvriCKeiv.
enei oi'ei cu, eqpri, "AXktictiv unep 'AbjuriTou dnoeaveiv dv r] 'AxiX-
Xe'a TTaTpÖKXuj eTranoGaveTv 11 TrpoaTroGaveiv dv tov fmeiepov
Köbpov ÜTTep xfic ßaciXeiac tujv Traibiuv, (nil oio/aevouc aGdvaiov
)iivri|uiiv dpeific nepi auTUJV ececGai, i^v vOv vnueTc e'xoiaev. ttoXXoO
Ye bei, ecpri' dXX\ oTjuai, uirep dpeific dGavdiou Kai Toiauiric
böHric euKXeouc navtec ndvia rroioOciv, öcuj dv djueivouc uici,
TOCOUTUJ jadXXov. tou fäp dGavdiou dpujciv. (vgl. Schmidt a. a. 0.
I 204).
Danach ist der ehrgeiz eine natüi'liche folge von der liebe oder
untrennbar verbunden mit ihr.
Bei den Römern wurde der mythos von der Alkestis
auch vielfach auf der bühne aufgeführt, ein beweis für das Interesse,
■welches man der that der Alkestis entgegenbrachte, vgl. Juvenal
6, 652: spectant subeuntem fata mariti Alcestim; als stoff eines
pantomimus nennt ihn Lucian de saltu 52 (vgl. Röscher a. a. 0.). ein
stück des Laevius mit dem titel Alcestis wird erwähnt von Gellius
noct. Attic. 19, 7. 'wenn nun', heiszt es bei Friedlaender in der
Sittengeschichte I 511 f., 'hier vorzugsweise schwächen und thor-
heiten, verirrungen und laster der römischen frauen geschildert
worden sind, so ist der grund nur der, dasz die Zeitgenossen sich
mit Vorliebe darüber verbreitet, bei ihren scheinlosen fugenden aber
selten verweilt haben, da diese der satire wie der rhetorik keinen
oder keinen so dankbaren stoff boten, doch fehlt es nicht ganz an
Schilderungen von eben, in welchen 'die gatten durch gegenseitige
liebe und, indem wechselweise eines sich dem andern unterordnete,
in wunderbarer eintracht lebten: wobei das verdienst einer guten
frau um ebenso viel gröszer ist, als (bei einer unglücklichen ehe)
die schuld einer schlechten' (Tac. Agric. c. 6); an Schilderungen
von gattinnen und müttern, die das licht des hauses waren (wie
Annia Regula, die gemablin des Herodes Atticus auf ihrem grab-
mal genannt wird), namentlich die briefsammlung des jüngeren
Plinius lehrt uns eine reihe edler und trefflicher frauen kennen, er
berichtet auch den heldenmütigen tod einer frau aus seiner Vater-
stadt Como, den er mit recht dem so viel gepriesenen der älteren
Arria" gleichstellt, bei einer fahrt über den Comer-see hatte ihm
ein älterer freund eine villa und an dieser ein über das wasser vor-
springendes gemach gezeigt, aus dem jene junge frau mit ihrem
mann sich herabgestürzt hatte, derselbe litt infolge einer langen
krankheit an fressenden geschwüren ; er zeigte sie seiner frau und
I
vgl. Plin. epp. III 16. Tac. ann. 16, 34. Martial I 14.
E. Plaumann: Admet und Alkestis und der arme Heinrich. 219
fragte sie, ob sie das übel für heilbar halte, es erschien ihr hoff-
nungslos, sie ermahnte ihn, sich den tod zu geben und war dabei
nicht nur seine gefährtin, sondern auch seine führerin und sein Vor-
bild; sie banden sich aneinander und stürzten sich so in den see."^
diese that erinnert an den opfertod der Alkestis, wenn hier auch die
frau nicht für den mann stirbt, aber doch stirbt sie mit ihm ge-
meinsam und ist seine führerin zum tode; sicherlich hätte sie, —
die empfindung haben wir — wohl auch ersteres gethan , wenn es
zu seiner rettung gedient hätte.
Der mythos von der Alkestis ist nun auch in der modernen
litteraturoft dramatisch behandelt worden, betreffs dieses punktes
kann ich auf eine interessante und lehrreiche kleine schrift 'Alceste
in der modernen litteratur' (Halle a. S., buchhandlung des Waisen-
hauses 1885) von Georg E Hing er verweisen, der darin 'der ganzen
entwicklungsgeschichte dieses stoffs in der neueren dichtung nach-
geht und dieselbe in ihren einzelnen phasen verfolgt', also sämtliche
dramatische, gesungene und nicht gesungene bearbeitungen der
Deutschen, Franzosen, Italiener, Engländer, originale und Über-
setzungen, selbst die volksschauspiele oder Puppenspiele mit ein-
geschlossen von Hans Sachs bis Herder durchgebt, ihren Inhalt an-
gibt und eine kurze kritik ihnen beifügt, den inhalt möge man dort
nachlesen, doch ist es vielleicht nicht uninteressant oder überflüssig,
wenn ich in kurzen Worten die von Ellinger über die einzelnen stücke
gefällte kritik wiedergebe und mich darauf beschränke, nur stellen-
weise kurze bemerkungen hinzuzufügen.
Die zahl der bearbeitungen, die Übersetzungen mit einbegriffen,
beträgt nicht weniger als zwanzig, darunter elf von Deutschen, je
vier von Franzosen und Italienern und eine von einem Engländer,
zeitlich folgen diese stücke so aufeinander:
Hans Sachs (1494 — 1576) tragedia mit VII personen, die
getreu frau Alceste mit ihrem getreuen mann Admeto und hat
3 actus (1551): interessant nur wegen des stoffs. — Der Alceste-
stoff ist mit der ermordung von Alcestens vater Pelias durch Medea
verquickt. — Wie alle trauerspiele des Hans Sachs äuszerst schlecht
gearbeitet (E. s. 2 ff.).
Alexander Hardy. tragödie: Alceste ou la Fidelite (1602),
jedenfalls nach Euripides gearbeitet, vermittelt durch die lateinische
Übersetzung des Schotten Buchannan (1506 — 82). dem modernen
dichter erschien es anstöszig, dasz Admet bei Euripides in Alcestens
Opfer einwilligt, und bei allen Verschiedenheiten der modernen
1* s. Plin. epp. VI 24: navigabam per Larium nostrum, cum senior
amicus ostendit mihi villara atque etiam cubiculum, quod in lacum pro-
minet: 'ex hoc', iiiquit, 'aliquando municeps nostra cum marito se prae-
cipitavit'. causam requisivi. maritus ex diutino morbo circa velanda
corporis ulceribus putrescebat: uxor ut inspiceret exegit; neque enim
quemquam fidelius indicaturum possetne sanari. vidit, desperavit; hor-
tata est, ut moreretur comesque ipsa mortis, dux immo et exemplum
et necessitas fuit. nam se cum marito llgavit abiecitque in lacum.
220 E. Plaumann : Admet und Alkestis und der arme Heinrich.
Alceste-dramen ist doch dieser zug allen gemeinsam, dasz Alceste
gegen den willen , meist auch ohne willen des Admet ihre that voll-
führt (E. s. 4 ff. u. 36 ff.).'" das stück selbst enthält unorganische
Zusätze aus der Hercules- und Theseussage — es fehlt deshalb die
einheit — die dramatische technik ist mangelhaft, doch versuche
darin , Spannung zu erregen — die änderungen des Euripides nicht
immer glücklich' (E. s. 6f.).
Quinault: Alceste ou le triomphe d' Aleide (1674). oper.
musik von Lullj. beeinfluszt durch Hardy. — Sieht man von dem
vergleich mit dem antiken stücke und einigen andern mangeln ab,
so ist es geschickt gemacht — streben nach genauer motivierung —
abwechslung in der handlung — zarte und anmutige verse — manig-
fache decorationskünste. — Getreues abbild der anschauungen des
Zeitalters Ludwigs XIV: kein glaube an eheliche treue, 'die ehe
zerstört die Zärtlichkeit und macht die liebe reizlos: wollt ihr ewig
lieben, so heiratet niemals!' diese worte Cephisens sind charak-
teristisch für Quinault; sie bezeichnen den geist, welcher das ganze
stück beherscht und durchdringt, daher Admet und Alceste nicht
gatten, sondern liebende (E. s. 7 flf.).
Wolfhart Spangenberg, deutsches textbuch zu der im
jähre 1604 auf dem Straszburger akademietheater aufgeführten
lateinischen Übersetzung der Euripideischen Alkestis von Buchannan
(E. s. 12).
Zwei deutsche Übersetzungen der Alceste des Quinault
(oper), beide in Hamburg aufgeführt, schon Wieland kannte die
beiden stücke und hat sie im deutschen Merkur (1773) analysiert
(in dem aufsatze: über einige ältere deutsche Singspiele, die den
namen Alceste führen usw.; von der zweiten Übersetzung sagt übri-
gens Wieland, dasz sie 1719 auf dem groszen Braunschweigischen
theater aufgeführt sei).
Die erste der beiden Übersetzungen ist von einem
sonst unbekannten herrn Matsen schon 1680 verfaszt. die verse
sind plump, der Personenstand ist vermehrt durch die hanswurst-
artige persönlichkeit des Rochas (E. s. 12) 'Alceste und hans-
wurst — ein barokkischer einfall', sagt Wieland in jener abhand-
lung, 'wobei dem poeten selbst das herz ein wenig geschlagen zu
haben scheint! allein er rechtfertigt sich in seiner vorrede damit:
'dasz dieser Rochas nicht für morose und stoische köpfe, sondern
für leute, welche einen zulässigen scherz lieben, hinzugefügt sei',
und beweiset die zulässigkeit der sache durch eine stelle des ge-
lahrten D. Morofs, welche unglücklicherweise für seinen Rochas
nichts beweist.'
Die zweite Übersetzung ist von dem bekannten hofpoeten
'^ dasz aber auch schon im altertum, und zwar bei den Römern,
vereinzelte stimmen sich geltend machten, welche die einwilligung des
Admet in das opfer der Alcestis nicht billigten, darüber s. Ellinger a. a. o.
s. 56 m. im nachtrag.
E. Plaumann: Admet und Alkestis und der arme Heinrich. 221
Johann Ulrich Koenig von 1719. auch hier ist der Personen-
stand des Quinault vermehrt durch die Amazonenkönigin Hippo-
lite (!). die Übersetzung ist nicht so steif und ungelenk, wie die
Matsens, doch ist die dichtung im Verhältnis zum original sehr ver-
wässert (E. s. 12 ff.). — Wieland bemerkt übrigens zu Koenigs
notiz in seinem vorbericht, sein werk sei einesteils eine Übersetzung
der französischen Alceste, dasz in der that der deutsche dichter
durchaus so viel an dieser geändert, davon- und dazugethan habe,
dasz er seine Alceste mit gutem fug für seine eigne Schöpfung hätte
ausgeben können, 'was am meisten an ihm gelobt zu werden ver-
dient , ist , dasz er die würde des sujets besser in acht genommen
und die komischen scenen weggelassen hat, welche bei Quinault das
wenige Interesse, das die ernsthaften allenfalls erregen könnten, fast
gänzlich vernichten.'
Des Italieners Aurelio Aureli drama (oper) L'Antigona
delusa d' Alceste, entstanden 1664. nur der anfang schlieszt
sich an Euripides an, dann vermischt der dichter den mythos nach
weise der italienischen operndichtung des 17n Jahrhunderts mit
einem modernen, völlig frei erfundenen stoff, einer ganz modernen
eifersuchtsgeschichte. auch rein dramatisch betrachtet ist nichts zu
loben (E. s. 14 ff.), auch Wielands urteil lautet ähnlich: ^Aurelis
oper ist, wie die italienische oper jener zeit überhaupt, phantastisch
im Inhalt; da ist keine idee von dem stück des Euripides, das zu
kennen der dichter scheinbar absichtlich verleugnet; bis auf die
namen ist alles erfindung und ganz gegen den geschmack des landes,
in dem es spielt, der dichter will nur erstaunen, nicht Interesse für
seine personen erwecken, einfachheit des planes ist principiell ver-
mieden, ebenso das natürliche der ausführung. eine menge von
personen kommt darin vor usw.' übrigens wählte Haendel das
drama Aurelis zur grundlage für seine oper.
Deutsche Übersetzung von Aurelis drama vom jähre
1693. Wieland nennt als Übersetzer einen Paul Thiemich, der
schule zu St. Thomas in Leipzig collegen. die Übersetzung ist von
ähnlicher qualität wie die Übersetzung der Alceste des Quinault
durch Matsen (E. s. 19). im anschlusz an Aureli und durch ihn d. h.
durch die eben angeführte Übersetzung desselben beeinfluszt sind
zu nennen drei deutsche volksschauspiele (Puppenspiele);
denn zu den ständigen repertoirestücken des puppentheaters gehörte
die Alceste: a) von einem solchen berichtet F. v. Matthisson , er-
innerungen, Zürich 1810; b) noch stärker durch Aureli beeinfluszt
ist ein zweites Puppenspiel 'Alceste oder der Höllenstürmer'; c) ein
drittes Puppenspiel 'der betrogene ehemann oder der seltsame und
lächerliche jungfernzwinger', das übrigens auszer dem namen des
Admet mit der Alceste -sage gar nichts zu thun hat (vgl. über alle
drei E. s. 19 ff.).
Des Italieners Pierjacopo Martello (1665 — 1727) drama
(oper) 'Alceste' : bestreben alles wunderbare wegzulassen und durch
222 C. Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen.
natürliche Vorgänge zu ersetzen ; aber nicht consequent durchgeführt,
wie es die figur des Hercules beweist (E. s. 22 f.).
Drama des Engländers Thomson: der stoff ist völlig ins
moderne übergeführt; titel 'Eduard und Eleonora'. so interessant
der versuch auch ist, den alten stoff in ein neues gewand zu kleiden,
so wenig kann diese bearbeitung den künstlerischen ansprüchen
genügen: mangel an dramatischer bewegung; personen zu wenig
interessant, weil zu gleichartig in edelmut; ganze stellen aus dem
Euripides entlehnt nicht zum vorteil des modernen dramas. inter-
essant Lessings äuszerst günstiges urteil darüber, wie er es später
schwerlich gefällt haben würde (E. s. 24 — 29).
Des Italieners Calsabigi gesungenes drama 'Alceste': es
ist die einzige Alceste , die sich durch Glucks musik immer auf den
bühnen erhalten hat. C.s drama verrät geschmack und Verständnis ;
er strebt zur einfachheit des Euripides zurück; keine verwirrenden
episoden und zusätze; nebenpersonen nur im notfalle, ja der Hercules
des Euripides fehlt sogar ganz (die gestalt, in der wir Glucks Alceste
jetzt auf der bühne sehen, ist die französische bearbeitung der oper,
in die man die gestalt des Hercules eingefügt hat). (E. s. 29 ff.)
(Fortsetzung folgt.)
Danzig. E. Plaumann.
18.
EIN VERSUCH DIE LEHRE VOM GEBRAUCH DER ZEIT-
FORMEN, BESONDERS IM FRANZÖSISCHEN, ZU VER-
VOLLSTÄNDIGEN, ZU BERICHTIGEN UND AU^ IHREN
GRUND ZURÜCKZUFÜHREN.
Vor zwanzig jähren etwa machte ich den versuch, die regeln
über die tempora der Vergangenheit im französischen auf ihren
grund zurückzuführen, ich trage jetzt allerlei nach , um das damals
bemerkte zu vervollständigen und zu stützen, wem meine er-
klärungen nicht zusagen, den möchte ich bitten, sie zu widerlegen
und durch bessere zu ersetzen, jedenfalls handelt es sich um dinge,
die der erklärung bedürfen, die frühere abhandlung ist dem leser
schwerlich bekannt oder zur band, das zum Verständnis notwendigste
werde ich daher kurz wiederholen, mit kleinen änderungen, die den
grund der sache wenig berühren.
Man soll keine eulen nach Athen tragen, darum pflege ich
nichts dem druck zu übergeben, ohne das, was einer der letzten
und besten meiner Vorgänger über den gegenständ gesagt, damit
zu vergleichen, so prüfe ich die richtigkeit meiner ansieht, lasse
mich, wo nötig, eines besseren belehren und kann im entgegen-
gesetzten fall einwendungen , die man mit unrecht dagegen machen
C. Kunibert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen. 223
könnte, im voraus berücksichtigen und widerlegen.* das erste mal
zog ich die grammatik Mätzners zur vergleichung herbei ; heute lege
ich die von Plattner zu gründe.^
Aus dem gesagten geht schon hervor, dasz ich ihm damit eine
ehre erweise; doch musz ich dies noch besonders betonen; denn ein
deutscher bruder in Moliöre, dem ich einmal dieselbe ehre erwies,
hat mich dafür ins angesicht gesegnet, ich werde einem jeden
dankbar sein, der (wie es früher einmal Mangold und Mahrenholtz
gethan, jener in bezug auf den Tartuffe, dieser auf die Fourberies
de Scapin) diese oder irgend eine andere arbeit von mir berück-
sichtigend oder der seinigen zu gründe legend, mich im Interesse
der Sache in anständiger weise über meine Irrtümer belehrt,
niemand ist unfehlbar, und eine grosze grammatik, wie die von
Plattner, kann nicht von Irrtümern frei sein.
Allgemeines, die vier festen punkte indergegen-
wart, Vergangenheit und zukunft,' 'gieb mir einen festen
punkt im weltenraum', sagte Archimed, '^so will ich die erde aus
ihren angeln heben ! ' dieser ausspruch, so oft als denkmal mensch-
licher grösze angestaunt, ist noch mehr eins menschlicher schwäche
und überhebung. unsere schwäche nur läszt uns zu dem kühnen
wort so hinaufschauen und die seine zwang den groszen mann,
die bedingung zu stellen; sie bedurfte eben des festen punktes , der
ihr versagt war, und — hätte wohl auch noch Schiffbruch gelitten,
wenn die bedingung erfüllt worden wäre, zum ausdruck unserer ge-
danken bedürfen wir gleichfalls eines festen punktes im räume der
Zeiten ; im praesens, um ruhig auf ihm zu verharren ; in den andern
Zeitformen, um, dort festen fusz fassend, den blick vorwärts zu
werfen und rückwärts, im praesens, perfect, futur I wird der punkt
stillschweigend vorausgesetzt: die gegenwart des redenden, sie ist
ihm selbst und dem zuhörer bekannt: ich schreibe, werde schreiben,
habe geschrieben, überall sonst drückt man ihn aus, durch eine
zweite verbalform, ein adverb oder eine adverbiale bestimmung.''
so unser imperfect und plusquamperfect: 'Romulus gründete Rom
im jähre 753', 'ich gieng hinaus, war schon hinausgegangen, als
er ankam'.' zuweilen brauchen wir zwei solche punkte und
richten dann den blick , von dem einen vorwärts , von dem andern
rückwärts, auf etwas, das in der mitte liegt zwischen beiden; so im
futurum II und in dem eigentümlich französischen pass6 ant6rieur. im
* zugleich zeigt mir die abweichende ansieht meines Vorgängers,
welche punkte vor allem der aufklärung bedürfen.
2 die zweite aufläge, sie ist vom jähre 1887. die von Lücking
und Benecke sind älter.
^ die hier besprochenen dinge sind wohl überhaupt noch von
niemand berührt worden, ihre theoretische und praktische Wichtigkeit
wird im laufe der arbeit immer mehr hervortreten.
* einige ausnahmen später, sie bestätigen übrigens die regel.
^ auch im conditionnel: 'ich würde hinausgehen, je sortirais', wo
eine bedingung zu ergänzen ist.
224 C. Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen.
futurum 11 ist jedoch der erste wieder die selbstverständliche gegen-
wart des redenden , und nur der zweite bedarf des besonderen aus-
drucks: 'wann du kommst', oder 'nach zwei stunden werde ich die
arbeit vollendet haben.' das passe antörieur aber, das futurum
exaetum der Vergangenheit, bedarf zugleich noch der bestimmung
desjenigen punktes der Vergangenheit, von dem man,
sowie einer Vorbereitung auf den Inhalt der in der mitte liegenden
thätigkeit^ auf die man hinausschaut, wenigstens durch eine
zweite verbalform : 'il me fallait faire ce travail; je l'eus fini
ä deux heures.'
I. Der feste punkt der gegenwart ohne besondere
Zeitbestimmung.
a) Das praesens, das praesens, die gegenwart des redenden,
der au gen blick, wo er spricht, bedarf also keiner näheren be-
stimmung. genau genommen bezeichnet es nur einen punkt der
thätigkeit wie das englische 'I am speaking'. das sprechen ist schon
und noch in seiner mittleren dauer begriffen, ein interessantes bei-
spiel davon findet sich in B6rangers le Tailleur et la fee: 'ton fils
atteint (von dem blitz) va perir consum6.' er ist nur auf dem wege
zum untergehen, kommt nicht wirklich um: denn
dieu le regarde et I'oiseau ranime
vole en chantant braver d' autres orages.
anders in Sätzen wie: 'le Nil prend sa source dans l'intferieur de
l'Afrique et va se jeter dans la M6diterran6e', wo wir va gar
nicht übersetzen: 'ergieszt sich (wirklich).' da bezeichnet das
praesens anfangs- und endpunkt, die volle und zugleich zur eigen-
schaft gewordene thätigkeit. so besonders von fähigkeiten, gewohn-
heiten, vor allem, wenn ein einzelwesen die gattung ver-
tritt: 'der bäcker bäckt.' wenn die natur des subjects es erlaubt,
kann die thätigkeit der gattung, selbst die des bloszen individuums,
die ewigkeit umfassen: *Jesus lebt und ich mit ihm. gott ist all-
gegenwärtig.'
Zuweilen vertritt das praesens ein futurum, iraperfectum, per-
fectum , um vergangenes oder zukünftiges lebhaft zu vergegen-
wärtigen: *il m'arrive un grand malheur, Charleraagne passe les
Alpes, met en fuite les Lombards' usw.' 'on vient' sagt der keilner,
indem er davonläuft, und: 'je suis raort; je suis enterr6', der, seines
Schatzes beraubte Moliöresche geizhals. in diesem fall bezeichnet
das praesens oft nur, dasz man etwas thun will oder soll: il part
dans trois jours.
b) Das futur simple, auch das einfache futur braucht blosz
in der gegenwart festen fusz zu fassen und stellt dann von diesem
Standpunkt die thätigkeit nur überhaupt als zukünftig hin : 'ich
werde sprechen'; und wie das praesens hat es gleichfalls zugleich
ß an die stelle der thätigkeit kann natürlich auch ein leiden treten
oder ein zustand.
' diese zwei beispiele sind aus Plattner.
C. Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen. 225
jene, auf einen punkt beschränkte und eine umfassendere bedeutung,
von 'je serai lä a sept heures' bis zu 'les envieux mourront, mais
jamais l'envie' und 'Dieu est, fut et sera'. in beiden fällen ist es
oft die strengste form des befehls. in der erwartung, dasz man ge-
horche, wird das befohlene schon als in der zukunft geschehend hin-
gestellt: 'tu ne tueras pas = du sollst^ nicht töten.' wir ge-
brauchen so, in noch schrofferer weise, wohl das praesens, von dem
einzelnen fall, der unmittelbar bevorstehenden zukunft: 'du rührst
dich nicht vom fleck!' und auch allgemeiner: 'das tbust du mir
nicht wieder.' wie das von der zukunft gebrauchte 'je pars usw.'
vorzugsweise ein 'wollen', bezeichnen dies praesens und futurum
ein 'sollen'.^
Das futur kann auch ein perfectum vertreten, das vergangene
erscheint als zukünftig, vom Standpunkt einer früheren Vergangen-
heit; dann bedarf aber diese, die nicht, wie die gegen-
wart, von vorn herein bekannt ist, eines besonderen
ausdrucks: 'ä la mort de Theodose le Grand, l'empire
romain formait les deux empires d'orient et d'occident, qui ne
seront plus reunis."" ebenso ein praesens, um die Wahrscheinlich-
keit auszudrücken : 'le choeur de cette 6glise sera du 15e siöcle' '"
(= 'wird sein' oder 'ist wohl aus').
c) Das perfectum, passe indefini. das perfectum stellt ein
ereignis der Vergangenheit, vom bekannten Standpunkt der gegen-
wart, nur ganz allgemein als in j e n e r vollendet worden oder in
dieser vollendet hin: 'j'ai ecrit pendant que tu as lu' und blosz
'j'ai ecrit une lettre' ; daher meist ohne Verbindung mit andern
Zeiten und ereignissen der Vergangenheit; drum nennt es der Franzose
mit recht passe indefini.
Nicht dasz es uns ohne jeden compass umhertreiben liesze auf
dem meere der zeiten. der satz: 'Dieu a cr6e le monde' z. b. ver-
setzt uns schon durch seinen Inhalt an den anfang aller Zeitrech-
nung, der: 'Romulus a fonde Rome' jeden, für den er sinn hat, in
den Zeitraum, in den das ereignis hineinfiel, daraus folgt: die im
ind6fini vorgeführten ereignisse der ferneren Vergangenheit müssen
wichtig sein; sonst könnte man sie ja nicht als bekannt voraus-
setzen; auch verdienten sie sonst nicht, aus dem Zusammenhang mit
s oft verliert es diese schroffe bedeutung, wenn nicht von einer
allgemeinen Vorschrift die rede ist, z. b.: tu diras ä ton maitre que usw.
^ natürlich nur in der zweiten und dritten person, besonders in
der zweiten.
•" aus Plattner. nebenbei noch die bemerkung, dasz unser futurum
'ich werde sprechen' aus ''i. w. sprechend' herzuleiten ist. vgl.
'I shall be writing.' jenes futurum von der Wahrscheinlichkeit ist viel-
leicht in folgender weise zu erklären: 'wenn ich die Sache überlege,
werde ich wohl zu der ansieht kommen müssen, dasz . . .'; der kürze
wegen ist die bedingung ausgelassen, und zum ersatz dafür oder zur
erinnerung daran dasjenige, woran die bedingung geknüpft wird, selbst
in das tempus gesetzt, in dem sie stehen müste.
N. Jahrb. f. phil. u. päd. II. abt. 1897 hft. 4 u. 5. 15
226 C. Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen.
andern herausgerissen, für sich allein, der nach weit vorgeführt zu
werden.
Andei's bei der sogenannten gegenwart. da fiöszen auch un-
bedeutende dinge interesse ein; nur müssen uns diese, als der gegen-
wart angehörig, bekannt sein, oder wir setzen voraus, dasz sie
ihr angehören, da kann man sagen: 'ein mann ist vom dache ge-
fallen', was man nicht erwähnen würde als ein vor 100 jähren vor-
gefallenes ereignis. wer von geschichte, von ereignissen der ferneren
Vergangenheit keinen begriff hat , wird wohl gar auch diese , wenn
ganz allgemein davon geredet wird , in die gegenwart verlegen und
denken, das ihm unbekannte Rom sei erst jetzt von einem herrn
Romulus gegründet worden, natürlich kann zu dem ind6fini, wie
zu dem present und futur, jede angemessene Zeitbestimmung hinzu-
treten, auch wird wohl in eine fortlaufende erzählung ein pass6 in-
dfefini eingeschoben, oder sie schliesztoder beginnt mit einem ind6fini,
wenn man sie, z. b. eine mit einem freund gemachte reise, mit einer,
vom festen punkt der gegenwart aus gemachten bemerkung
einleitet, unterbricht oder schlieszt: 'j'ai fait cette semaine un tr6s
interessant vojage.' 'depuis ce temps je ne Tai pas revu.'
Das eigentliche perfectum, das tempus der nur vom Standpunkt
der gegenwart betrachteten, allgemeinen, unbestimmten Vergangen-
heit, findet selten Verwendung, selbst im gewöhnlichen leben begnügt
man sich nur im ersten augenblick auf die frage: 'was gibts neues?'
mit der antwort: 'ein mann ist vom dache gefallen.' bald geht man
auf die einzelheiten ein, und, damit der zuhörer sich in diesen zu-
recht finde, erzählt man sie vom Standpunkt der Vergangenheit,
in ihrem Verhältnis zu einander.
So auch, wenn in den büchern jemand etwas eben erlebtes be-
richtet, wie im drama. in der erzählenden litteratur aber, in der
geschichte, im epos und roman, wo meist der Schriftsteller selber
das wort führt, kann dieser unmöglich die vielen vorfalle einer
ferneren Vergangenheit blosz vom Standpunkt der gegenwart als
vergangen hinstellen, .sätze wie: 'Romulus hat Rom gegründet,
Columbus bat Amerika entdeckt', gebraucht man fast nur in Schul-
büchern, um der Jugend einzelne besonders wichtige thatsachen
recht einzuprägen, oder um sie beim übersetzen in fremde sprachen
im gebrauch der tempora und grammatischen formen zu üben.
Die grammatik von Plötz bringt bei dem p. ind6fini fol-
gende Sätze, von denen mir der erste bedenklich erscheint: 'au mois
de mars 1815, le Moniteur universel (Journal ofticiel de Paris)
a donn§ successivement les nouvelles suivantes de l'arrivee de
Napoleon P"^ en France : l'anthropophage est sorti de son repaire. —
l'ogre de Corse vient de debarquer au golfe Juan. — le tigre est
arrive a Gap. — le monstre a couch6 ä Grenoble. — le tyran a tra-
vers6 Lyon. — Tusurpateur a 6t6 vu ä soixante Heues de la capi-
tale. — Bonaparte s'avance ä grands pas , mais il n'entrera jamais
dans Paris. — Napoleon sera demain sous nos remparts. — l'em-
C, Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen. 227
pereur est arriv6 ä Fontainebleau. — sa majeste imperiale et royale
a fait hier au soii' son entree dans son chäteau des Tuileries, au
milieu de ses fideles sujets.'
Statt a donne würde ich donna sagen, der Inhalt dieses ersten
Satzes ist zu unbedeutend, um, ganz aus dem Zusammenhang heraus-
gerissen, für sich allein der n a c h w e 1 1 vorgeführt werden zu können ;
das defini aber bringt ihn, wie wir später bei der besprechung dieses
tempus sehen werden, in jenen Zusammenhang wieder hinein, und
der mit der geschichte bekannte, in die bestimmte Vergangenheit
versetzt, denkt sich dann die damit verbundenen ereignisse hinzu."
Soll jedoch das d6fini bleiben, so müste man den unbedeuten-
den Inhalt als ein ereignis der sogenannten gegenwart behandeln;
dann müsten wir aber schon vorher auf den Standpunkt derer ver-
setzt worden sein, für die er gegenwart war; und da diese 1815
lebten, fiele die Jahreszahl weg und wohl auch der name des monats ;
dafür könnte man setzen: cette semaine, la semaine derniöre oder
etwas ähnliches.
In den übrigen sätzen ist alles in Ordnung, sie sind vom Stand-
punkt der Zeitgenossen aufgefaszt, auf den der erste satz uns ver-
setzt hat.
Plattner über das indefini. meine bemerkungen über
das präsent und futur enthalten manches in bezug auf erklärung
und definition das sich bei Plattner nicht findet, jedoch nichts, das
ihm widerspricht, anders beim ind6fini. 'das perfect (p. ind.)', sagt
Plattner, 'bezeichnet eine abgeschlossene handlung, welche (hier-
durch scheidet es sich vom historischen perfect == p. defini) mit
der gegenwart in Zusammenhang steht, mon fröre est parti
(abgereist und daher gegenwärtig nicht hier), aus diesem gründe
steht das perfect (nie dashistor, perf.'-), wenn eine abgeschlossene
handlung in einen Zeitpunkt'^ verlegt wird, in dessen grenzen auch
noch der gegenwärtige augenblick fällt'', z. b. 'aujourd' hui, cette
semaine, cette ann6e usw.' dann aber fährt er fort: 'auszer-
dem steht es a) bei lebhafter erzählung: je suis venu, j'ai vu,
j'ai vaincu' und, im Widerspruch mit seiner definition: b) bei histori-
schen angaben, wenn dieselben nicht einer fortlaufenden er-
zählung angehören: 'les Huns ont produit en Europe, par leur lai-
deur et leur förocite, une impression d'horreur qui s'est longteraps
conservee dans le souvenir des peuples'. 'Corneille est n6 oder na-
quit ä Rouen en 1606': der von den Hunnen gemachte eindruck,
die geburt Corneilles im jähre 1606 stehen nicht mehr im Zusammen-
hang mit der gegenwart. Plattners definition schlieszt diese fälle
" ebenso wie bei dem satz: Romulus fonda Rome.
•* steht eine solche Zeitbestimmung nicht unmittelbar dabei, so
kann man wohl das defini setzen: j'ai eu beaucoup ä faire aujour-
d'hui. je me levai k 6 heures, je pris mon cafe', je sortis ä 7 usw.
'^ besser: Zeitraum, in den der gegenwärtige augenblick noch als
Zeitpunkt hineinfällt.
15*
228 C. Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen.
aus, ist also durch eine weniger enge zu ersetzen; die meinige aber
erklärt diese beispiele, die der seinigen widersprechen, der satz von
den Hunnen reiszt eine noch für die nachweit, der brief Caesars eine
für die damalige gegenwart interessante thatsache aus dem Zusammen-
hang heraus, um jene vom Standpunkt der damaligen zeit, diese von
dem der jetzigen, blosz als geschehen hinzustellen; wenn aber Caesar
zum überfiusz die nachricht von seiner ankunft und Orientierung
mit der des sieges verbindet, so geschieht es nur, um durch ihre
bedeutungslosigkeit anzudeuten, wie wenig mühe der sieg ihm ge-
kostet, und diese Verbindung eben gibt jenem bericht den bekannten,
aus dem Widerspruch zwischen der geringen mühe und dem groszen
resultat hervorgehenden witzigen, geistreichen anstrich.
IL Ein fester punkt der Vergangenheit, mit beson-
derer bestimmung dieses punktes, von dem man die
ereignisse betrachtet (imperfectum, perfect. histori-
cum, plusquamp. , imparfait, passe döfini, plusque-
parfai t).
1. Unterschied zwischen unser m imperfectum (im-
parfait und p. d6fini) und dem eigentlichen perfectum
(p. indefini). das perfectum, passe ind6fini, eignet sich also nicht
für eine erzählung, die in behäbiger weise mit allen einzelheiten be-
kannt macht, anders das imperfectum'", welches gerade diese in
ihrer zeitlichen, ursächlichen oder sonstigen Verbindung mit
einander vorführt, die sätze : 'Karl fällt, ist gefallen, wird fallen'
bedürfen im gewöhnlichen leben keines näher bestimmenden Zu-
satzes; aber 'Karl fiel?' da heiszt es gleich 'wann?' man würde es
nicht einmal sagen, ohne das wann durch andere sätze, meist wieder
mit einem imperfectum, zu bestimmen, das imperfectum zwingt uns,
den Standpunkt der gegenwart zu verlassen'' und versetzt uns jedes-
mal in die zeit, in welche jeder einzelne teil der begebenheit hinein-
fällt, damit wir alles in ihr gegenwärtig schauen und in der fremden
Vergangenheit wie in der eignen gegenwart uns behaglich und zu
hause fühlen, zu diesem zweck aber musz uns, bei der menge der
mit einander verbundenen ereignisse, gleich von vorn hei-ein und
immer wieder von neuem , stets und überall , in dieser Vergangen-
heit erst recht der i^unkt angewiesen werden, auf dem wir festen
fusz fassen sollen, um von da aus gleichzeitiges, vergangenes und zu-
künftiges in richtiger beleuchtung zu schauen und zu unterscheiden.
Nur in drei fällen bedarf man einer solchen bestimmung nicht,
erstens, wenn keine besondere Vergangenheit gemeint ist, son-
dern die ganze vergangene ewigkeit, um den ausdruck zu ge-
brauchen: 'gott war, gott ist und wird sein.'
" unser imperfectum, zugleich das perf. historicum und passe' de'fini.
'^ dies meint wohl auch Plattner, wenn er sagt, das historische
perfect stehe nicht in Zusammenhang mit, in beziehung zu
der gegenwart. dies gilt aber auch vom imparfait und lateinischen
imperfectum, also von unserm imperfectum in seinem ganzen umfang.
C, Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen. 229
Zweitens, bei einzelnen bekannten aus der Welt-
geschichte und ihrem Zusammenhang herausgerissenen that-
sachen, wo schon die thatsachen selbst oder namen hinreichend an
die zeit und die Verhältnisse erinnern: 'Romulus gründete Rom.'
'Hannibal war^® ein groszer feldherr, wenn es jem als '^ einen gab.'
während der satz 'Karl der grosze schlug die Sachsen' nichts auf-
fallendes hat, würde 'Karl schlug den Johann' gewis bedenken er-
regen, jener versetzt in das leben eines mannes, in eine reihe von
begebenheiten, die wir kennen, so dasz man das fehlende unwillkür-
lich ergänzt und ohne durch eine menge von begebenheiten ver-
wirrt zu werden, die zwei angeführten ausnahmen bestätigen also
nur die regel; bei der zweiten aber müssen die von der angeführten
thatsache berührten Verhältnisse wieder so wichtig oder auch
interessant sein'^, dasz man bei dem leser die fähigkeit und die
lust, das zum Zusammenhang notwendige zu ergänzen, voraussetzen
darf, wir haben nur ein imperfectum. der Franzose aber hat
dafür zwei formen; und während auch er die eine imparfait
nennt, hat er die andere als bestimmte Vergangenheit, pass6
defini, zugleich von der unbestimmten, dem ind6fini, und vom
imparfait untei-schieden. '®
2. Unterschied zwischen imparfait und passe de-
fini. das pass6 indefini war unbestimmt, weil es die Vergangen-
heit nicht näher angab; doch gilt das auch noch in anderer hinsieht.
Jedes ding, für sich betrachtet, hat anfang, mitte und ende;
an der kleinsten begebenheit, an jedem anfang, jeder mitte, jedem
ende selbst kann man wieder diese drei teile unterscheiden, und das
indefini" kümmerte sich auch darum nicht; ebenso wenig unser
imperfectum.'^ das französische defini und imparfait hingegen
kehren gerade diesen unterschied hervor, im gegensatz zum in-
defini könnte man sie daher beide d6finis nennen, das eine jedoch
verdient den namen noch aus einem dritten gründe, und so behielt
auch der Franzose für das andere den 'imparfait' bei, um so mehr,
als dieser wieder genau angibt, wodurch sich das imparfait vom
defini unterscheidet, 'j'^crivais', gleich dem englischen 'I was
writing'^", ich war schreibend, je partais, ich war abreisend, setzt
*" hier sind beide fälle vereinigt.
>' und deshalb wenigstens dem redenden so wichtig erscheinen,
so z. b. bei inschriften auf grabsteinen usw.: 'er war ein treuer gatte
usw.'; aber da gehen doch angaben über geburt, todesjahr, vielleicht
noch anderes vorher, dies gilt auch von dem satz über Napoleon und
den Moniteur vom mois de mars 1815. es ist interessant als ein
beispiel menschlicher Unbeständigkeit.
'^ das lateinische steht hier auch dem französischen nach, es hat
nur eine form für das defini und indefini.
^^ ebenso wenig die übrigen Zeiten, mit ausnähme des imperf.,
passe' defini und der davon abgeleiteten plusquamperf. und p. ante'rieur.
2° die Normanen nahmen wahrscheinlich das bedürfnis dieser Unter-
scheidung mit nach England hinüber, und da der Angelsachse keine
230 C. Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen.
den anfang der thätigkeit, als schon hinter mir liegend, voraus,
und das ende liegt noch in der zukunft, es bezeichnet nur einen
Zeitraum oder -punkt aus der mittleren dauer; und wendet
man dies wieder auf den anfang allein an , um auch an ihm anfang,
mitte und ende zu unterscheiden, so heiszt es nur: 'meine Vor-
bereitungen zu diesem anfang waren schon und noch in ihrer
mittleren dauer begriffen'; also wenn es sich um eine eisenbahn-
fahrt handelte, nicht einmal : 'ich wollte gerade einsteigen' sondern
etwa: 'ich hatte erst ein billet gelöst, wollte eins lösen, hatte be-
schlossen eins zu lösen' und wie die Zwischenstufen zwischen dem
ersten gedanken und dem wirklichen anfang der ausführung sonst
noch heiszen mögen.-' in diesem sinn kann man schon sagen: 'je
partais, j'ecrivais' wie im present: 'je pars (lundi), wenn man noch
nicht einmal die geringste von den äuszer liehen handlungen an-
gefangen, die zum abreisen gehören, wenn man nicht einmal die
feder zum schreiben in die band genommen hatte, j'ecrivis hin-
gegen heiszt: ich fieng an zu schreiben und schrieb wirklich, da
werden anfangs- und endpunkt der wirklichen thätigkeit in
einen punkt zusammengezogen, und diese wird durch die sie ein-
schlieszenden grenzen (man denke an das lateinische fines) de-
finiert, fehlt ein weiterer zusatz, so bleibt ihre Zeitdauer freilich
unbestimmt, und j'6crivis kann ebenso gut ein blosz beginnendes
wie ein länger anhaltendes schreiben bezeichnen; in dem einen
fall fieng dann blosz dieser anfang, in dem andern aber die länger
dauernde thätigkeit wirklich an und ward ausgeführt, anders jedoch,
wenn ein object oder eine Zeitbestimmung hinzutritt, in 'j'^crivis
une lettre' oder 'deux heures' bleibt es nicht beim beginnen, bei der
bloszen Verwirklichung des Schreibens überhaupt; die thätigkeit,
die mit dem anfang des briefes oder der zwei stunden begann, ge-
langte erst mit deren ende zum abschlusz."
zwei einfachen formen dafür hatte, bildeten sie sich neben dem un-
bestimmten einfachen imperfect die umschreibende nebenform, deren,
freilich prosaische, unpoetische derbheit den unterschied am klarsten
hervortreten läszt, und diese dehnten sie dann auch auf alle übrigen
tempora aus: I am, shall be writing usw.
*' die beweisenden beispiele folgen später.
*' andere Zeitformen können aucli wohl einmal den anfang be-
zeichnen, aber es ist ihnen nicht besonders eigentümlich, so z. b.: il
m'ordonne d'ecrire et j'e'cris. j'aurai, je serai , ich werde sein, be-
kommen (weil das zukünftige haben erst anfangen musz) , tu peux
Favoir (ebenso), ebenso natürlich das conditionnel. in gewissen fällen
selbst das inde'fini und plusqueparf. so Dumas, Diane de Lys II 3:
""et votre mari? — il n'a rien su.' ebenda II 6: 'comment l'auriez-
vous SU?' und IV 2: 'comment avez-vous su cela?' und II 3: 'je ne tiens
pas du tout i'i connaitre ce monsieur', wie III 2: 'on se demande
comment tu l'as connu', wo savoir 'erfahren' und connaitre 'kennen
lernen' zu übersetzen ist. ebenso: il avait su ä l'hotel qua sa fille
de'me'nageait (d'Hervilly, le trou de vrille, am schlusz). von dem imparf.
in diesem sinn wird später die rede sein.
C. Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen. 231
In La Fontaines fabel 'la laitiere et le pot au lait' rechnet die
milchfrau sich vor, wie sie aus dem ertrag ihrer milch endlich würde
ein Schwein anschaffen können, dann fährt sie fort: 'als ich es be-
kam, war es schon von ziemlicher stärke', und dies 'bekam' drückt
sie durch 'je l'eus' aus. 'je l'avais' würde die mittlere dauer, oder
besser, irgend einen teil oder punkt derselben bezeichnen, den
anfang des habens aber, oder auch den bloszen anfang dieses an-
fangs", die Vorbereitungen dazu, als schon hinter ihr liegend, voraus-
setzen: ich war schon im besitz oder auf dem wege-^ zum besitze;
'je l'eus' hingegen bezeichnet die volle besitz nähme vom anfang
bis zum abschlusz: 'ich fieng an es zu haben und halte es dann
wirklich.' auch wenn sie sagen wollte: 'ich besasz es, mit ein-
schlusz des anfangs- und endpunktes, gerade sechs monate',
auch dann raüste das dfefini stehen, 'je l'avais six mois' hiesze: 'in
dem augenblick, von welchem ich rede, besasz ich es schon,
war ich schon so lange im besitz', ohne bezeichnung des anfangs-
und endpunktes; und versteht es sich auch von selbst, dasz sie dann
vor sechs monaten in den besitz gelangte, es verstünde sich nicht
von selbst, dasz dieser jetzt aufhörte; er könnte noch lange dauei'n,
wenn man nicht hinzufügt, dasz ihr das Schwein genommen ward,
das defini hingegen sagt, fest abgerenzt und bestimmt: 'ich besasz
es sechs monate, anfangs- und endpunkt eingeschlossen.' — Ebenso:
'cette guerre dura 6 ans', während das gleich bei einem bestimmten
punkt der mittleren dauer stehende und auch stehen bleibende
durait die möglichkeit nicht ausschlieszt, dasz der krieg noch 100
jähre länger gedauert hat.
Der unterschied zwischen imparfait und defini im allgemeinen
tritt auch groszartig hervor an einer stelle der Schöpfungsgeschichte:
'Dieu dit que la lumiöre se fasse et la lumiere se fit.' hier zieht 'se
fit' anfangs- und endpunkt des lichtwerdens in eins zusammen, so
dasz sie sich decken; 'se faisait' griffe nur einen punkt aus der
mittleren dauer heraus; der anfang läge schon hinter uns, während
der endpunkt noch fehlte, auch hier wäre es gar möglich , dasz nur
die zu dem anfang getroffenen Vorbereitungen in ihrer mittleren
dauer begriffen waren.
'Gott ist, war und wird sein' läszt sich nur 'Dieu est, Dieu fut
et Dieu sera' wiedergeben. 'Dieu etait' hiesze: er war in irgend
einem Zeiträume oder gar -punkte zwischen dem anfang und
dem ende der vergangenen ewigkeit. selbst diese können wir uns
ja nicht ohne anfang denken, das d6fini 'fut' hingegen urafaszt sie
in ihrem ganzen umfang, man vergleiche noch : 'Annibal etait (zu
irgend einer zeit seines lebens) un grand g6neral , s'il en fut
(wenn es jemals einen gab).' das ganze sein der Vergangenheit
klappt in eins zusammen, so dasz die mitte sich den blicken entzieht.
Wir haben nichts, was dem pass6 defini gleich kommt; nur in
*' das nähere hierüber später.
232 C. Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen.
einem fall kann man auf etwas annähernd ähnliches hinweisen, in
*gott sprach: es werde licht und es ward licht' läszt sich 'ward'
schwerlich durch 'wurde' ersetzen.'-*
So bildet denn in einer hinsieht das dfefini mit dem ind6fini
einen gegensatz zum imparfait. es umfaszt die durch ein object be-
stimmte oder die durch eine Zeitbestimmung begrenzte thätigkeit
oder auch den bloszen wirklichen anfang der sonst unbestimmten
thätigkeit in ihrem ganzen umfang vom anfangs- bis zum endpunkt.
im gegensatz zum indefini aber reiszt es sie nicht, blosz als 'ver-
gangen vom Standpunkt der gegenwart, aus ihrem Zusammenhang
mit der Vergangenheit heraus, sondern versetzt uns, ebenso wie
das imparfait, gerade in diese hinein und läszt uns jenen ab-
geschlossenen anfang, jene ganze thätigkeit in der Ver-
gangenheit gegenwärtig schauen, wie das imparfait einen bloszen
Zeitraum oder -punkt ihrer mittleren dauer oder auch ihres
anfangs, und zwar zusammen mit andern imparfaits und definis, so
dasz sie, in ihrer Verbindung mit einander , den festen
punkt in der Vergangenheit, von dem wir jede der vielen
einzelheiten betrachten sollen, ihren zeitlichen, ur-
sächlichen und sonstigen Zusammenhang, näher be-
stimmen, während das auf dem bekannten Standpunkt der gegen-
wart stehen bleibende und auf die einzelheiten nicht eingehende
indfefini solcher bestimmungen und Unterscheidungen innerhalb der
Vergangenheit nicht bedarf.
Ich lasse ein paar sätze als beispiel folgen.
1) zwei imparf. : 'j'entrais, lorsqu'il sortait.' die zwei hand-
lungen laufen neben einander her, als solche, deren anfang schon
hinter, deren abschlusz noch vor den personen lag. ob ich wirklich
eintrat, er wirklich hinausgieng, bleibt unentschieden, vielleicht
wollte ich ihn oder er mich besuchen, und dies veranlaszte mich oder
ihn, wieder umzukehren.
2) 'je sortis, lorsqu'il entra.' beides 6eng an und ward aus-
geführt; wieder gleichzeitig, oder indem das 'sortis' dem 'entra'
folgte.^' vielleicht gieng ich hinaus, um ihn zu meiden, weil er
eintrat.
3) ebenso: 'je sortis lorsqu'il entrait'; nur dasz sein eintreten
schon und noch in der mittleren dauer begriffen war, als ich das
hinausgehen anfieng und ausführte.
" auch hat das impeifect von 'haben' zuweilen die bedeutnng 'be-
kommen' aber nur durch die Verbindung des verbums mit einem be-
stimmten Substantiv, so: 'ich besuchte deinen bruder und hatte das
glück (j'eus le bonheur), ihn zu hause zu treffen.' ebenso: 'da hatte
er einen glücklichen einfall.' die Zusammensetzung weist selbst schon
auf etwas neueintretendes hin. vgl. noch im englischen Swift Gullivers
voyage to Lilliput chapter III: 'I had the good fortune to divert the
emperor one day in a very extraordinary manner' und eh. IV: 'the
people had notice that . . .'
*^ vgl. 'lorsqu'il m'aper<;ut, il prit la fuite.'
C. Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen. 233
4) 'je sortais lorsqu'il enlra.' hier ward mein schon und noch
in der mittleren dauer begriffenes ausgehen vielleicht durch sein ein-
treten verhindert.
Zwei durch 'lorsque' verbundene imparfaits sind zwei neben
einander herlaufende mathematische linien, zwei d6finis zwei mathe-
matische punkte, die zusammenfallen oder einander folgen; ein
imparf. und ein d6fini hingegen eine linie, die, selbst ohne anfangs-
und endpunkt, von einem in sich abgeschlossenen punkte durch-
schnitten wird, der in sie hineinfällt, es ist grammatikalisch
gleichgültig, welches von den zwei mit einander verbundenen verben
man als den punkt betrachtet , auf dem man festen fusz faszt ; das
Verhältnis ist eben gegenseitig und das entscheidende, die zeitfrage,
wird nicht davon berührt.
Folgen einander zwei imparfaits oder zwei definis, deren gleich-
zeitigkeit oder sonstiges Zeitverhältnis nicht durch eine conjunction
oder etwas anderes angegeben wird, so gilt natürlich der satz; 'wer
zuerst kommt, mahlt zuerst.' dann ist alles in der Ordnung und
der reihenfolge zu denken, in der es uns entgegentritt, es fragt
sich also höchst selten''^ ob etwas an sich, sondern fast immer,
ob es in seinem Zeitverhältnis zu etwas anderem als in
der mittleren dauer begriffen, im abgeschlossenen anfang, in seiner
durch ein object, eine Zeitangabe bestimmten dauer vorgeführt
werden soll.
Einige beispiele mögen dies klar machen, mit ihrer hilfe werde
ich zugleich aus der grundbedeutung des imparfait und des döfini
die für die einzelnen fälle gültigen regeln ableiten und auch einige
freilich bekannte, aber meines Wissens noch nicht erklärte, besonders
auffällige eigentümlichkeiten zu erklären suchen, zuerst
A. das imparfait.
1. Das imparfait vom anfange des anfangs und
endes und von ereignissen usw., die nicht zu ende ge-
führt wurden (iraperfectum conatus). selbst an dem an-
fang und ende kann man, wie gesagt, anfangspunkt, mittlere dauer
und endpunkt unterscheiden, das zeigt sich am deutlichsten beim
imparfait und defini von commencer und achever.
Im folgenden satze liegt der feste punkt, von dem man etwas
neueintretendes betrachtet, in der mittleren dauer des anfangs: *je
commen^ais ä partager son frugal repas, quand nous vimes un
paysan qui, ä notre aspect, s'arreta sur le seuil usw. (Souvestre, les
boisiers, I, le braconnier). das heiszt: 'ich fieng eben an, wollte an-
fangen oder hatte eben angefangen.' worin dieser anfang bestand,
wie weit er gediehen war oder gedieh, wird uns nicht mitgeteilt,
vielleicht waren nur erst Vorbereitungen dazu getroffen, vgl. noch
zwei stellen aus Voltaires Charles XII, wo auch zwei imparf. diesen
festen punkt der mittleren dauer bezeichnen: livre 2 'cette etincelle
^^ die ausnahmen sind stäze wie 'dieu fut, Romulus fonda Roma' usw.
234 C. Hiimbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen.
coramen9ait a embraser l'empire' und livre 4 'le czar avait pass6
la riviöre ä une lieue de Pultava, et commeii9ait ä former son
camp', dagegen vom ganz sicheren wirklichen anfang und abschlusz
des anfangs: 'ces essais commencerent ä lui donner de la r6putation'
(madame Kiccoboni, Ernestine).
In dem satze mit 'je comraen^ais' hätte der redende vielleicht
nur dann wirklich angefangen mitzuspeisen , wenn ihn die an-
kunft des bauern nicht gestört hätte, bei commencerent fällt diese
möglichkeit weg. und wie mit dem anfang, so auch mit dem ende : *le
drame s'achevait; d6jä madame Kaucourt avait declamfe le naturel
et hurle la passion au gre des connaisseurs de l'endroit (Delatouche,
un Souvenir comique). und dann folgt, was auf diesem festen punkte
der mittleren dauer des achever eintrat.
Im folgenden satze findet sich beides zusammen : 'j'achevais
de m'habiller et je venais d'ouvrir ma fenötre, quandje vis passer
mr. Brogues, qui se disposait ä se rendre ä ses affaires (Revue des
deux mondes 15/1 93 s. 272). die aufführung und das anziehen
hatten schon angefangen , sich dem ende zu nähern , aber dies ende
selbst war immer noch in einem punkte seiner mittleren dauer: 'das
drama näherte sich eben oder immer mehr seinem ende, fast
war ich ganz mit dem anziehen fertig, als das oder das eintrat.'
Im folgenden satze fieng hingegen das achever an und ward zu
ende geführt zu einer zeit, wo etwas anderes schon und noch
in seiner mittleren dauer begriffen war: 'l'air meprisant de lord
Monteith, Taffectation avec laquelle il portait en avant son manteau
de vert de mer achevörent de m'instruire' = 'klärten mich
vollends auf (mad. la comtesse d'Asch, Sorcellerie).
Im vorletzten satze ward der redende möglicherweise durch den
anblick des Brogues am völligen anziehen verhindert.
Das imparfait gleich unserm conjunctiv des plus-
quamperfects: il p6rissait 'er wäre gestorben', il devait
'er hätte müssen', sowie von der vorherbestimmung
durchs Schicksal (imgegensatzzuildut, p6rit, fallut).
Der Franzose nennt sein conditionnel das imparfait des futur;
kehrt man den satz um , so ist sein imparfait das conditionnel der
Vergangenheit, die blosz in ihrer mittleren dauer au.sgedrUckte
thätigkeit gelangt nur dann zum abschlusz, wenn kein hindernis
entgegentritt, wenn irgend eine bedingung erfüllt wird, 'il p6rirait'
heiszt: 'er würde sterben' und 'il p6rissait' : 'er wäre gestorben; er
war schon und noch auf dem wege zum sterben, er starb aber
nur unter der daran geknüpften oder hinzu gedachten
bedingung.' so in Eacines Andromaque IV 1. die witwe Hektors
erklärt ihrer vertrauten, was sie zwingt, den Pjrrhus zu heiraten,
und hindert, dem gatten länger die treue zu bewahren. *est-ce lä
cette ardeur tant promise ä sa cendre?' — 'mais son fils perissait,
il l'a fallu defendre.' sein söhn starb, wenn sie sich ihm nicht
opferte. *le roi pris, une grande partie de la chevalerie couch6e
C, Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen. 235
dans la poussiere, la France 6tait perdue si le peuple ne l'evit
sauv6e' (Malte-Brun). Astyanax und Frankreich waren schon und
noch auf dem wege zum Untergang, als das volk und die mutter
die vollständige ausführung verhinderten, daher: wäre verloren
gewesen (wenn nicht . . .). fut perdue hingegen und perit würden
bezeichnen : beides fieng an und ward wirklich zu ende geführt.
Imparfait von devoir. nachdem der durch sein heimweh
nach Frankreich zurückgetriebene auswanderer in B6rangers 'retour
dans la patrie' die fruchtbarkeit der von ihm verlassenen wärmeren
länder gepriesen: 'toute l'annee lä brille orn6e de fleurs, de fruits,
et de fruits et de fleurs!' knüpft seine Vaterlandsliebe daran die be-
merkung: 'dieu te devait leurs föcondes chaleurs' = gott muste
dir ihre fruchtbare wärme geben, wäre vorher gesagt worden oder
würde nachher gesagt, dasz er sie Frankreich wirklich gab, so gäbe
das imparf. devait nur dafür den grund an, der, als das geben an-
fieng und ausgeführt ward, schon und noch in seiner mittleren
dauer begriffen war. dies ist aber nicht der fall: gott muste sie ihm
geben, war schon und blieb sie ihm noch schuldig; vom Zeitpunkte
des redenden angesehen, war das müssen schon und noch in seiner
mittleren dauer = er hätte es thun müssen, in folgendem satze
steht devait nur scheinbar für dut: 'quelque temps aprös, Michel-
Ange devait retourner ä Rome et y passer plus que"(sic) la moitiö
de sa vie' (Revue d. d. m. 1/2 93 s. 553). hier ist es nicht 'müste,
muste', sondern ''sollte' zu übersetzen. Michel-Angelo hat gerade
auf Rom geschimpft, und dann wird nicht gesagt, dasz er schon
jetzt dahin zurückgieng, sondern nur: es war um diese zeit
(schon und noch) bestimmt im buche des Schicksals, dasz
er vier jähre später dahin zurückkehren würde, diese bestim-
mung lastete vom anfang der zeiten oder seines lebens und auch
jetzt immer noch auf ihm bis zu dem augenblicke, wo sie erfüllt
worden war.
Im gegensatz dazu einige sätze mit dut und fallut. 'il lui
f a 1 1 u t redevenir bottier, mais il tenait trop ä ses nouvelles habitudes
pour y renoncer. il resolut d'ßtre ä Ja fois deux hommes, bottier
la nuit, fashionable le jour' (J. d'Hervilly, le trou de vrille, am
schlusz). 'il lui fallut' und ebenso 'il dut' bezeichnet: 'er muste
es thun und that es; zu der zeit, in die wir durch das vorher-
gehende versetzt worden, fieng er an es zu thun und führte es
zu ende', während 'fallait, devait' nur das 'müssen' an sich aus-
drücken, nicht in that umgesetzt; 'er war schon und blieb immer
noch müssend'.
In den sätzen: 'Karl der grosze ehrte die tapferkeit Witte-
kinds; darum gab er ihm als lehn das herzogtum Sachsen' und
'K. d. g. ehrte die taperkeit Wittekinds, indem er ihm das h. S.
als lehn gab* hat das imperfectum 'ehrte' eine sehr verschiedene
müste de heiszen, weil der satz keine vergleichung enthält.
236 C. Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen.
bedeutung. in dem ersten bezeichnet es nur das innere gefühl,
das nicht erst in dem augenblick aufkam, wo Karl dem Witte-
kind Sachsen gab, sondern schon und noch in seiner mittleren
dauer begriffen war, als das geben anfieng und ausgeführt ward; es
ist die Ursache, das ursprüngliche, das schon vorhanden war in
dem augenblick, wo die Wirkung eintrat, in dem zweiten satze aber
sind das 'ehren' und 'geben' gleichzeitig: Karl zeigte, dasz er den
W. ehrte, machte das innere gefühl äuszerlich sichtbar, und dies
Sichtbarwerden fieng erst an und ward zugleich zu ende geführt in
dem augenblick, wo er das geben anfieng und ausführte, unser
imperf. kann den unterschied nicht wiedergeben, der Franzose setzt
in dem ersten fall 'honorait' und in dem zweiten 'honora'. und
ebenso ist es beim müssen, zur not könnten wir sagen: 'er
muste es schon lange thun' statt 'hätte thun müssen', damit
vergleiche man nun: 'endlich muste er es thun.' in dem ersten
satz erscheint das 'müssen' als etwas, das schon und noch in seiner
mittleren dauer begriffen war, als ein sich gleich bleibender zustand ;
um ein nahe liegendes bild zu gebrauchen, als eine schuld, die schon
auf ihm lastete und immer noch nicht abgetragen, gelöscht ward;
ihr anfangspunkt liegt schon hinter, ihr endpunkt noch vor uns;
darum dürfen beide nicht ausgedrückt werden, sondern nur ein
Zeitraum oder -punkt der mittleren dauer. daher im französischen
'il devait' oder 'il fallait que'. in dem zweiten gibt das wörtchen
'endlich' dem 'muste' eine ganz andere bedeutung. hier werden
das theoretische und praktische müssen unterschieden, jenes war
auch hier schon in seiner mittleren dauer, da trat das praktische
hinzu; er ward endlich thatsächlich gezwungen, das schon lange
notwendige wirklich zu thun; das äuszere thun aber, das nun erst
anfieng und zugleich auch zu ende geführt ward, wie die löschung
der schuld durch die zahlende thätigkeit des Schuldners, rausz im
französischen durch das passe defini wiedergegeben werden, so
dasz anfangs- und endpunkt des löschens, mit überspringung jeder
mittleren dauer, sich in einem punkte berühren, bei honora
wird ein inneres gefühl, bei dut und fallut eine zu erfüllende
pflicht durch eine äuszerliche handlung mit anfangs-
und endpunkt in that umgesetzt, so kommt hier der unter-
schied zwischen imparfait und passe defini in voller macht zum
Vorschein.
Zwei beispiele von dut in demselben sinne: 'Ballanche dut
plaire, et il plut beaucoup' (Revue d. d. m. 1/1 93 s. 66). 'si
Menzikoff fit cette manoeuvre de lui-möme, la Russie lui dut
son salut; si le czar l'ordonna, il etait un digne adversaire de
Charles XII (Voltaire Ch. XII, livre 4), das faire, devoir, ordonner
fiengen erst an und wurden zugleich ausgeführt, als das ötre schon
und noch in seiner mittleren dauer begriffen war; oder: dies war
schon und noch in seiner mittleren dauer, als jenes anfieng und aus-
geführt ward.
C. Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen. 237
2. Das imparfait von dem, was man erst später aus-
führte, was man erst sollte oder wollte, 'je passai la soir6e
avec mon nouvel ami . . .; il partait le lendemain; mais il fut con-
venu que nous ne nous quitterions pas comme cela . . , sans avoir
consacr6 notre amiti§ par un verre d'eau de cerises' (A. Dumas pöre,
nouvelles impressions de voyage, un mot pour un autre). 'dös qu'il
eut un peu repris ses sens, il demanda une chambre et un lit; mais
la foire venait de finir ä Kaysersberg, et l'auberge etait pleine de
gens qui repartaient le lendemain' (Souvestre, au coin du feu,
les deux devises). das lendemain ist, von demanda, venait, etait aus
gerechnet, noch zukünftig und zeigt klar, dasz sie jetzt noch nicht
am abreisen sein konnten; in gedanken aber hatten sie es schon an-
gefangen, vielleicht auch schon Vorbereitungen dazu getroffen, und
insofern, aber auch nur insofern, war es in seiner mittleren dauer
begriffen.
In diesen zwei beispielen 'wollten' die betreffenden personen
^abreisen'; wären sie aber von andern dazu gezwungen, so träte
'sollen' an die stelle von 'wollen'; und dann hätte das blosze im-
parfait des verbs dieselbe bedeutung , wie vorher in dem satze über
Michel- Angelo der infinitif mit dem imparf. von devoir: 'in dem
buche des Schicksals stand es schon geschrieben, in ihm oder in
den gedanken des befehlenden hatte ihr abreisen damals
schon angefangen.' und in diesem sinne, von etwas blosz gedachtem
steht auch
3. das imparfait ohne beschränkende oder zu er-
gänzende bedingung von dingen, die nie angefangen
und ausgeführt, auch nicht in ihrer mittleren dauer
begriffen, nicht einmal wirklich vorbereitet waren,
nur in der phantasie hatten sie zu der angegebenen zeit an-
gefangen; diese malte sie sich vor; und da es bei dem vormalen
blieb, erscheinen sie als schon und noch in der mittleren dauer.
'Figurez-vous que j'ai 6t6 agit6e de l'id^e de faire un grand
coup . . . un beau matin je feignai s une effrayante migraine, pour ne
point paraitre de la journ6e. je m'echappais du chäteau, je prenais
le chemin de fer, j'arrivais ä Paris, j'entendais les Huguenots,
et je revenais dans la nuit pour reparaitre au dejeuner, guerie et
fraiche, comme une convalescente . . .je n'ai pas ose . . . et
pourtant on n'aurait rien su . . .' (Revue d. d. m. 15/9 91 s. 271).
dies alles ist eben abhängig zu denken von der Vorstellung, zu der
zeit, wo sie sich dies alles vorstellte, war für diese ihr Inhalt, wenn
auch nie ausgeführt, als der stoff, auf dem sie beruhte, schon vor-
handen, daher auch stets das imparfait nach den verben des denkens,
wenn man jenen inhalt nicht in die zukunft verlegt; dann aber steht
weder imparfait noch passe defini, sondern das imparfait der zukunft,
das conditionnel. hierüber noch später, ebenso : 'eile recommen9a,
pour la millidme fois peut-etre, un de ces rßves tout eveill6s que le
bon La Fontaine a chantös avec tant de gräce et de naivete' (de la
238 C. Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen.
laitiöre et le pot au lait). M'abord eile retranchait ä chacune de ses
semaines deux grandes journees de travail . . . eile se donnait tous
las trois mois une robe neuve . . ainsi par6e eile allait ä Meudon
par le bateau ä vapeur, et ne revenait que bien tard . . .* (Jules
Janin, les chäteaux en Espagne).
4. Das imparfait scheinbar vom fortschritt (eine
reihe imparfaits mit demselben subject, bei einem
neuen absatz oder capitel, mit einer adverbialen be-
stimmung); besonders von sitten und gewohnheiten,
auch von Handlungen als zeichen eines zustandes. in
der anfangs erwähnten arbeit hatte ich gesagt: 'eine reihe von
imparfaits kann niemals einen fortschritt ausdrücken, weil in dem
wesen jedes einzelnen nichts von fortschritt vorhanden ist . . . das
imparf. stellt uns gleich mitten in die thätigkeit, in ihre mittlere
dauer hinein . . . und wie wir von vorn herein darin stehen, so
bleiben wir auch darin ... es entläszt uns eben da, wo es uns
empfieng, während uns das pass6 defini mit einem schlage von
ihrem anfangspunkt an das ende führt, ein fortschritt in der zeit
und in der handlung."*"
Dies erleidet eine beschränkung. an sich drückt das imparf.
keinen fortschritt aus; aber die durch ein zweites imparf. aus-
gedrückte handlang kann man sich denken als der durch das erste
ausgedrückten folgend, blosz weil sie uns später entgegentritt, und
insofern kann auch eine reihe von imparf. einen fortschritt bezeichnen,
wenn die betreffenden bandlungen von derselben person ausgeführt
wurden und nicht gleichzeitig sein konnten, manchmal wird frei-
lich beim imparfait der fortschritt nur ausgedrückt durch einen
neuen absatz, den anfang eines neuen capitels (zwischen
beiden denkt man sich eine zeit verstrichen, während der allerlei
geschehen kann, wie zwischen den acten eines Schauspiels); oder
auch durch eine adverbiale bestimmung, wie 'zwei stunden
darauf, da bedarf es natürlich nicht mehr dieses ausdrucks durch
das verbum: 'donnez-moi l'enfant, disait Giuditta.' und in einem
neuen absatz: 'eile emmenait le pauvre petit 6tre, le lavait, le
peignait . . . et quelques jours aprös le renvoyait a ses parents,
qui criaient au miracle.'"
Besonders häufig ist diese ausnähme bei sitten und gewohn-
heiten. so z. b. in folgenden Sätzen über die kaiserwahl: 'die ehe-
maligen kurfürsten wählten einen fürsten zum könige von Deutsch-
es ich gebe die stelle verkürzt wieder. Mätzner hatte damals gerade
dem imparf. die fähigkelt zugeschrieben, den fortschritt auszudrücken,
und dem gegenüber muste ich damals meine ansieht in diesem punkte
ausführlicher begründen.
23 ich weisz nicht mebr, woraus diese stelle entnommen ist. in diesem
fall kann das imparf. den fortschritt noch mehr hervorheben als das
de'fini, wenn es aufgefaszt wird in dem sinne 'sie hatte schon an-
gefangen' im gegensatz zu 'sie fieng erst an', dies liegt aber nicht
in dem imparf. an sich.
C. Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen. 239
land ; ein herold rief ihn als nachfolger Karls des groszen aus. hierauf
begab er sich nach Italien, wurde in Pavia zum könige der
Lombardei gekrönt und endlich in Rom zum römischen kaiser
gesalbt.'
An sich liegt hier in jedem verbum und von einem zum
andern ein fortschritt vor, in der zeit wie in der handlung. blosz
auf einen fall angewandt, müsten sie daher im passe defini stehen,
der eine steht aber hier für alle, wie die paradigmen mensa und
amo für die substantiva und verba, die ihnen gleichen; und die
gesamtheit dieser fälle, in der sich erst die sitte oder ge wohn-
heit verkörpert, wird uns als schon und noch in ihrer mittleren dauer
begriffen vorgeführt; denn vorher, als sie erst anfieng , war sie
ja noch keine gewohnheit; und als sie ihr ende erreichte,
hörte sie auf es zu sein.^" besteht nun diese sitte wie hier aus ver-
schiedenen thätigkeiten, von denen eine jede für sich anfieng und
ausgeführt ward, und die aufeinander folgten, so treten diese be-
sonderheiten, da man nicht beides zugleich ausdrücken kann, zurück
hinter das durch sie verkörperte ganze; alle jene sätze werden als
ausdruck dieses einen ganzen zusammengefaszt, und dieses tritt
uns als schon und noch bestehend im imparfait in seiner mittleren
dauer entgegen, ebenso trat bei den schon erwähnten phantasie-
gebilden der fortschritt im einzelnen zurück hinter den ausdruck
der nichtWirklichkeit des ganzen.
Ebenso wenn handlungen, die anfiengen, ausgeführt wurden
und einander folgten, als zeichen eines zustandes, z. b. einer
aufregung, Verlegenheit aufgefaszt werden, die schon und noch in
ihrer mittleren dauer begriffen war. dies findet man besonders
häufig bei dem pathetische Südländer schildernden, selber patheti-
schen Alph. Daudet , während der mehr verstandesmäszig lebendige
Nordfranzose lieber den ström der thatsachen im pass6 d6fini vor-
führt, ein beispiel aus Tartarin de Tarascon : 'etourdi de tout ce
tumulte, le pauvre Tartarin allait, venait, pestait, jurait, se demenait,
courait apres ses bagages et, ne sachant comment se faire comprendre
de ces barbares, les haranguait en frauQais, en pi'oven^al, et m6me
en latin . . . on ne l'ecoutait pas . . .' dies war alles schon und noch
in seiner mittleren dauer begriffen, da aber: 'heureusement qu'un
petit homme intervint . . .'; an dieser stelle, zur Schilderung eines
mannes, der sich nicht zu helfen weisz, ist das imparfait so gut an-
gebracht , dasz niemand ein dfefini setzen würde, wir stehen mitten
in einem Wirrwarr, aus dem sich kein ausgang finden läszt.
'" an den begriff sitte knüpft sieh bekanntlich gleich der gedanke
an Wiederholung; diese aber verlangt nicht als solche das imparf,, son-
dern nur, wenn sie erscheint als die Verkörperung einer schon und noch
bestehenden, in einem punkte ihrer mittleren dauer vorgeführten sitte.
der Zeitpunkt, von dem man eine sitte betrachtet, in den man sich bei
ihr hineinversetzt, ist eben naturgemäsz einer, wo sie schon und noch
herschte.
240 C. Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen.
Aus dem gesagten ergibt sich zugleich, weshalb eigen Schäften
meist im imparf. stehen, auch bei ihnen pflegt man sich in eine zeit
zu versetzen, wo jemand sie schon und noch besasz; als das und
das geschah, waren sie schon und noch in ihrer mittleren dauer
begriffen.
Selbst die sätze von Giuditta mit dem kind lieszen sich als ein
schon in seiner mittleren dauer begriffener zustand auffassen.
Meine begründung dieser scheinbaren ausnahmen beim im-
parfait wird noch durch eine andere , entgegengesetzte . gleichfalls
nur scheinbare beim defini bestätigt.
B. Das pass6 defini von sitten und gewohnheiten
(wie von eigenschaften und zuständen), das defini tritt
an die stelle des imparfait, sobald man von einer sitte, von der die
einzelnen fälle zusammenfassenden gesamtheit, den bloszen anfangs-
punkt oder auch die ganze dauer, vom anfangs- bis zum endpunkt
darstellen will.
1. In folgenden beispielen wird einer sitte^', die
schon war oder gewesen war, im imparfait, eine solche,
die dann anfieng, im passe döfini entgegengestellt,
vom Standpunkt der alten sitte erscheint die eine als etwas, das
dann erst anfieng und ausgeführt ward, 'on les^^ faisait autrefois
de l'argent pris sur les ennemis: dans ces temps malheureux, on
donna celui des citoyens; les distributions n'avaient lieu qu'apr^s
une guerre: Neron les fit pendant la paix' (früher hatte man das
6ine gethan, nun aber und von nun an that man das andere)
(Montesquieu, consid6rations sur la grandeur et la decadence des
Romains cap. XV). — 'le senat voyait de pres la conduite des
g6neraux, et leur ötait la pens6e de rien faire contre leur devoir.
mais lorsque les legions passörent les Alpes et la mer, les gens de
guerre, qu'on 6tait oblige de laisser pendant plusieurs campagnes
dans les pays que l'on soumettait, perdirent peu ä peu l'esprit de
citoyens; et les g6n6raux, qui disposerent des armees et des
royauraes, sentirent leur force, et ne purent plus ob6ir (ver-
lernten das gehorchen) (Montesquieu c. IX).
Das zweite buch von Voltaires Charles XII beginnt mit einer
Schilderung der gleichgültigkeit des beiden gegen alle Staats-
angelegenheiten und der änderung in seinen sitten und gewohn-
heiten von dem augenblickan, wo er anfieng, sich auf den
krieg vorzubereiten, 'il n'assistait presque jamais dans le conseil
que pour croiser les jambes sur la table ... du moment qu'il se
pr6para ä la guerre, il commen9a une vie toute nouvelle . . . il ne
connut plus ni magnificence, ni jeux, ni dölassements . . . il avait
aim6 le faste dans les habits; il ne fut vGtu depuis que comme un
simple Soldat . . . il renon9a aux femmes pour jamais . . . il r6solut
^' zum teil auch einem gewohnheitsmäszigen zustande.
^* les distributions oder älmliches.
C. Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen. 241
ausßi de s'abstenir de vin toufc le reste de sa vie.' ebenda livre II:
Ml r6gnait depuis longtemps dans les troupes su6doises une dis-
cipline . . . le jeune roi en augmenta encore la sev6rit6. il voulut
de plus qua dans une victoire ses troupes ne döpouillassent les morts
qu'aprös en avoir eu^^ la permission.'
'Mme de la Tour d'Erableuse souffrait plus des douleurs de
Germaine que dessiennes. lorsqu'elle fut s6par6ede sachöre malade,
eile se remit peu a peu, et eile partagea moins pöniblement des
maux qu'elle ne voyait plus . . . eile ne fut'* jamais rassuree , mais
eile ne v6cut pas dans l'attente du dernier soupir de sa fille. eile
n'ouvrit Jamals sans trembler, une lettre d'Italie; mais, dans l'inter-
valle de cbaque courrier eile eut des instants de röpit (About, Ger-
maine Hachette 1890 s. 100 cap. V). — 'sa position etait döjä
meilleure. malheureusement il voulut combattre ses rivaux avec
leurs armes, il commanda ä son tailleur un habit d'une coupe
romantique . . . un paquet de breloques pendit'^ ä sa ceinture.
quoiqu'il eüt la vue excellente, il ne regar d a plus qu'avec un lorgnon
d'or' (Paul de Müsset, le Bisc61iais cap. V). — 'anim6 par Tair plus
pur (des bois) on arrivait ä comprendre l'espöce de delire qui, vers
le 12 siöcle, s'empara de la noblesse entiöre et la poussa dans les
forets . . . alors les bois, pareils ä une mar6e montante, envahirent
partout les champs et les villages' (man schuf wälder, wie man sie
heute vernichtet) (Souvestre, les boisiers cap. II). — 'depuis les
empereurs, il f u t plus difficile d'ecrire l'histoire. tout d e v int secret;
toutes les d6p6ches des provinces furent portees dans le cabinet
des empereui's; on ne sut plus que ce que la folie et la hardiesse
des tyrans ne voulut point cacher, ou ce que les historiens con-
jecturörent' (Montesquieu, considörations cap. XIII). — 'dös
l'ouverture du cinquiöme siöcle, de l'an 406 ä Tan 409, ce ne fut
plus par des incursions limitöes a certains points et quelquefois
efficacement reprim6es que les Germains infestörent les pi'ovinces
romaines' (Guizot, histoire de France). — 'Napol6on se tut, mais
depuis ce moment il traita froidement ce grand officier, sans pour-
tant le rebuter' (histoire de Napoleon et de la grande armee von
S§gur cap. III).
2. In den zwei folgenden Sätzen steht eine das
ganze leben eines menschen oder die ganze Vergangen-
heit umfassende bemerkung im d6fini. 'si nous ölevons un
jour un monument ä D6saugiers je proposerai d'y tracer cette courte
inscription: ä D., qui n'eut pas d'ennemis (n'avait bezeichnet nur:
'^ dies ist ein fall, wo auch das indefini von avoir 'erhalten' zu
übersetzen ist. zuerst denkt man sich in der zeit, wo die erlaubnis
noch nicht da ist, und von diesem Standpunkte ist das spätere avoir eu
zugleich ein avoir recju. vgl. das über j'aurai usw. bemerkte.
^* das fut. umfaszt wohl mehr noch die ganze dauer, weil nicht
pas, sondern jamais dabei steht.
^' im deutschen 'von jetzt an' hinzusetzen.
N. Jahrb. f. phil. u. päd. 0. abt. 1897 hft. 4 u. 5. 16
242 C. Humbert : die lehre vom gebrauch der Zeitformen.
zu irgend einer zeit seines lebens oder: als er gerade starb, n'eut:
niemals), ebenso: Ha vie fut celle du juste' (l'oraison funöbre sc. II,
vicomtesse de Chamilly). zugleich erinnere ich an die über 'Dieu
est, fut et sera' gemachte bemerkung. vgl. noch: 'les Romains
f urent braves', die ganze zeit ihres bestehens, und 6taient in einem
besondern Zeitraum oder Zeitpunkt, von dem gerade vorher die
rede gewesen; 'c'est une vieille cit6 norraande, s'il en fut (J. Janin,
mon voyage ä Brindes), und endlich die französische Übersetzung
eines schon deutsch gegebenen satzes : 'Annibal fut' und '6tait un
grand g6n6ral, s'il en fut' (wenn es jemals einen gab, während der
ganzen Vergangenheit vom anfangspunkt bis zur gegenwart, ihrem
endpunkt).^* das die ganze vergangene ewigkeit umfassende fut be-
darf um so weniger eines sie noch besonders hervorhebenden adverbs,
als es am ende steht und betont wird, siehe meine abhandlung
'die französische Wortstellung auf eine hauptregel zurückgeführt'
usw. im centralorgan für die interessen des realschulwesens 1878
s. 457—555.
Ähnlich ist auch folgende stelle aus einer novelle" von Henri
de Bornier: 'l'avocat, r6unissant toutes ses forces, r6suma tous les
faits de sa cause dans une de ces p6roraisons 6mouvantes comme
les murs du palais en entendirent rarement.' das zweite d6fini
umfaszt wieder die ganze Vergangenheit, die hinter dem redenden
liegt, vom anfangs- bis zum endpunkt, beide mit eingeschlossen,
und unabhängig von, ohne Verbindung mit der gegenwart; enten-
daient würde heiszen: 'wie sie damals, als er das r6sumer anfieng
und ausführte, die mauern des gerichtshofs selten hörten oder zu
hören pflegten'; das 'hören' hatte dann schon angefangen oder
vielmehr das 'selten hören' und war noch in seiner mittleren dauex*
begriflFen, als der advocat seine rede hielt.
In der folgenden stelle aus Guizots histoire de France steht
3. das d6fini erst vom anfang einer regierungs-
tbätigkeit und einzelnen handlungen, dann von der
ganzen regierung, vom anfang bis zum ende. Tentr^e de
Louis IX devenu majeur dans l'exercice personnel du pouvoir royal
ne changea rien ä la conduite des affaires publiques. point d'inno-
vation vaniteusement cherch6e pour constater l'avönement d'un
nouveau maltre ; point de x*6action ni dans les actes et les paroles
du souverain, ni dans le choix et le traitement de ses conseillers; la
royaut6 du fils continua le gouvernement de la möre. Louis per-
sista a lutter, pour la pr6pond6rance de la couronne, conti-e la puis-
sance des grands vassaux; il acheva de dompter le turbulent comte
de Bretagne, Pierre Mauclerc; il acquit du comte de Champagne
Thibaut IV les droits de suzerainet6 dans les comt6s de Chartres,
3* ebenso würde in Hes Phe'niciens f urent le peuple le plus com-
mer^ant de l'antiquite'' furent das ganze altertum umfassen (vgl. Plattuer).
" comment on devient beau.
C. Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen. 243
de Bleis, de Sancerre et la vicomte de Chäteaudun; il acheta de son
possesseur le fertile comt6 de Macon.' so weit der anfang der
regierungsthätigkeit, vom Standpunkt der vorigen regierung aus
angesehen, dann aber die ganze regierung, aus der Vogelschau an-
gesehen, nach ihrem abschlusz: ''ce fut presque toujours par des
proc6d6s pacifiques, par des n6gociations habilement conduites et
des Conventions fidölement ex6cut6es, qu'il accomplit ces accroisse-
ments du domaine royal; et quand il fit la guerre ä quelqu'un de
ses grands vassaux, il ne s'y engagea que sur leur provocation, pour
soutenir les droits ou l'honneur de sa couronne, et il usa de la
victoire avec autant de mod6ration qu'il en avait montr6 avant
d'entrer dans la lutte.'
4. Oft steht eine neue oder vom anfangspunkt bis
zum endpunkt eines Zeitraums her sehende sitte erst im
d6fini; dann aber sind wir mitten drin, und darum folgt
ein imparfait. 'voici quel fut pendant pres d'un mois le genre
de vie de Tambitieux Substitut, a six heures de matin il se levait
courageusement . . .' (Charles de Bernard , les alles d'Icare IX). —
'aussitöt que les soldats eurent pass6 le dötroit, tous ceux qu'ils
rencontrören t dans leur marche füren t des ennemis, et les sujets
de Tempereur grec eurent plus ä souflfrir que les Turcs de leurs
Premiers exploits. dans leur aveuglement ils alliaient la super-
stition ä la licence, et, sous les banniöres de la croix, commettaient
des crimes, qui fönt fr6mir la nature' (Michaud, I^ croisade). —
'il y avait une loi de majest6 contre ceux qui commettaient quelque
attentat contre le peuple romain. Tibere se saisit de cette loi, et
l'appliqua, non pas aux cas pour lesquels eile avait 6t6 faite,
mais a tout ce qui put servir sa haine ou ses d6fiances. ce n'6taient
pas seulement les actions qui tombaient dans le cas de cette loi,
mais des paroles, des signes et des pens6es möme' (Montesquieu,
considerations cap. XIV). — 'les hommes portaient alors des cra-
vates de dontelle, qu'on arrangeait avec assez de temps et de peine.
les princes s'6tant habillös avec pröcipitation pour le combat, avaient
pass6 negligemment ces cravates autour du cou: les femmes por-
t^rent^^ des Ornaments faits sur ce modMe; on les appela des
Steinquerques. toutes les bijouteries 6taient ä la Steinquerque'
(Voltaire, siöcle de Louis XIV chap, XVI), hier steht zuerst das
imparfait von einer damals schon bestehenden sitte, dann das
pass6 d6fini von einer dann neu aufkommenden, und zuletzt auch
diese wieder, nachdem ihre einführung erwähnt worden, vom Stand-
punkt der spätem zeit, als in der mittleren dauer begriffen, im
imparfait.
5. Zuweilen findet man auch die zu irgend einer
zeit in ihrer mittleren dauer begriffene sitte des noch
lebenden und die das ganze leben umfassende des schon
38 'nun' hinzusetzen.
16'
244 C, Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen.
gestorbenen zusammengestellt, so bei Cherbuliez (Valbert)
in der Revue d. d. m. 1 oct. 1882 s. 683 f.: 'le baron Nothomb
n'6tait pas de ces hommes qui, a force d'aimer l'ordre, redoutent
tout ce qui pourrait deranger leurs habitudes. ses Souvenirs lui
6taient cbers, mais il savait s'en affranchir, il n'6tait pas
le prisonnier de sa memoire.' und dann: 'il eut toute sa vie
l'esprit ouvert aux nouveautös. toute sa vie il eut l'amour des
voyages'; und dann wieder: 'il en faisait une chaque ann6e; on
pretendait m6me en sa famille que ses malles 6taient toujours
boucl6es' usw.; und endlich wieder zusammenfassend: 'rester jeune
jusqu'au bout, c'est un sort r6serv6 a peu de mortels et ce fut
le partage de M. Nothomb.'
In den folgenden Sätzen über Jeanne d'Arc denkt man sich
diese zuerst lebendig zu einer zeit, wo die sitte und gewohnheit
noch in der mittleren dauer erscheint, man versetzt sich mitten
hinein; dann aber steht man am ende ihres lebens und zieht daraus
das facit, aus der Vogelschau, vom anfangspunkt bis zum endpunkt. ^'
'dös son avance Jeanne d'Arc allait volontiers aux saints lieux.
eile se confessait souvent . . . toute sa vie eile eut le goüt des
pratiques, des observances, et comme une passion pour le son des
cloches' (Revue d. d. m. 1/8 90 s. 691). vergleiche noch: 'les Lac§-
dömoniens eurent dans tous lestemps une extröme d6f6rence
pour leurs öpouses et ils leur permettaient de s'ing6rer dans les
affaires publiques bien plus qu'ils n'osaient eux-m6mes s'ing6rer dans
leurs affaires priv6es' (Revue d, d. m. 1/11 80 s. 216).
Ähnlich in folgendem satze: 'Nelson Page (6crivain am6ricain)
ajoute, pour expliquer le peu de goüt que l'art d'6crire parut in-
spirer k ses ancötres, que l'ambition politique 6tait chez eux presque
g6n6rale, et qu'une merveilleuse facilitö de parole les distingua
toujours; ils appliquaient des facultas qui eussent pu trouver un
autre emploi ä d'6ternelles controverses sur le gros problöme de
l'esclavage' (Revue d. d. m. 15/4 83 s. 654). erst steht hier das
d6fini; parut zieht das facit aus dem leben aller vorfahren in bezug
auf den besprochenen gegenständ , vom anfangs- bis zum endpunkt,
die darin äuszerlich hervortretende gleichgültigkeit gegen schrift-
stellerische thätigkeit, und parallel damit steht ihr die alle aus-
zeichnende redegewandtheit gegenüber, daher gleichfalls distingua;
um dann dies doppelte facit zu erklären, sieht sich nun der Verfasser
ihr leben näher an , nicht mehr aus der Vogelschau des über dem
ganzen schwebenden, der alles aus der ferne mit einem blicke um-
faszt; und zu diesem zweck versetzt er sich jetzt mitten in ihr leben,
ihre thätigkeit hinein und sieht, wie sie, meist von politischem ehr-
geiz beherscht, die ihnen von anfang bis zu ende gegebenen anlagen
29 in derselben weise wird der schüler am ende eines aufsatzes
von den eigenschaften eines beiden am besten im de'fini reden, in der
mitte im imparfait.
A. Biese : zum deutschen -unterricbt. 245
vor allem mündlichen debatten über die sklavenfrage zu widmen
pflegten, es könnte hier überall das d6ßni stehen, dann fiele aber
jene feine Unterscheidung weg/"
'"* ich bemerke noch folg:endes: einen ganzen Zeitraum, ein ganzes
leben usw. umfassende ausdrücke, also auch toujours, ziehen gern das
defini nach sich, sie nötigen uns gleichsam, das ganze aus der
Vogelschau zu umfassen mit einem blick, und diesem toujours steht
hier beim imparfait das beschränkte, unterscheidende presque generale
gegenüber.
(fortsetzung folgt.)
Bielefeld. C. Humbert.
19.
ZUM DEUTSCHEN UNTERRICHT.
(s. Jahrgang 1896 s. 537—544.)
n.
Als Goethe in seinen gesprächen mit Eckermann auch einmal
auf das wesen des genies zu sprechen kam, da nannte er es 'eine
zeugende kraft, die von geschlecht zu geschlecht fortwirke und so
bald nicht erschöpft und verzehrt sein dürfte', so nennt er unter
den componisten, die eine bleibende productivität besessen hätten,
Mozart, unter den baukünstlern denjenigen, der zuerst die formen
und Verhältnisse der altdeutschen baukunst erfunden, 'denn seine
gedanken haben fortwährend productive kraft behalten und wirken
bis auf die heutige stunde', so wirke auch Luther fort, so auch
Lessing: 'freilich wollte er den hohen titel eines genies ablehnen,
allein seine dauernden Wirkungen zeugen wider ihn', dasz Goethe
recht behalte auch betreffs unserer heutigen jugend, das ist eine
der schönsten aufgaben des deutschen Unterrichts in der oberprima.
unsere schüler müssen eine 'dauernde Wirkung' von der lectüre
Lessings mit ins leben nehmen, wie ist das zu erreichen? die Jugend
musz spüren, dasz es einem stahlbade gleicht, sieh in Lessings klare
und reine gedankenweit zu versenken, dem streng logischen, licht-
vollen aufbau seiner urteile und schluszfolgerungen nachzuspüren,
der dialektischen kunst seines prägnanten und doch in den manig-
fachsten formen sich ergehenden stils bewunderungsvoll sich hin-
zugeben, für die begriflFsbildung und Stilentwicklung kann kaum
eine lectüre so fruchtbar gestaltet werden als die Lessings. man
leugnet es jetzt vielfach , zum schaden unserer jugend. man betont,
der negativ kritische zug, der seinem ganzen charakter und somit
seiner darstellungsweise aufgeprägt sei, verführe zum absprechen,
zum verwerfen, wer so spricht, übersieht die fülle fruchtbarer keime,
positiver gedanken, die sich in Lessings deductionen, auch wenn sie
246 A. Biese: zum deutschen Unterricht.
niederreiszen, finden, man führt ferner gegen ausgedehntere be-
handlung den hinweis auf die Wertlosigkeit mancher litteratur-
erscheinungen ins feld, ohne die seine kritik unverständlich bliebe,
so besonders in der Hamburgischen dramaturgie. von Olint und
Sophronia dürfte eine Inhaltsangabe mit einigen proben genügen;
und wie treffliche Vortragsgegenstände für die schüler bieten die
französischen dramen , die man im urtext und in der Übersetzung
den einzelnen in die band gibt, da spricht denn der eine, ehe man
zu der erörterung Lessings übergeht, über Corneilles 'graf Essex',
der andere über Semiramis von Voltaire, ein dritter über Zaire usw.,
ein vierter hat zur veranschaulichung des Schlegelschen dramas über
Torquato Tassos befreites Jerusalem II 1 — 56 zu berichten usw. usw.
so werden auch die zu übergehenden stücke durch möglichst ein-
gehende und treffende Inhaltsangaben von den schülern selbst über-
mittelt, so dasz der gebende und nehmende gewinn hat. eine fülle
der anregendsten fragen auch allgemeinerer, ästhetischer art thut
sich ja überhaupt ganz von selbst infolge der besprechung auf.
hierfür wie für alles einzelne sachliche bietet bei weitem die beste
anleitung die auch hinsichtlich der auswahl glücklichste ausgäbe
von J. Buschmann (Ferd. Schoeningh, Paderborn), hier läszt
man sich auch die anmerkungen unter dem text gefallen, da sie
knappheit mit beschränkung auf das wesentliche verbinden; die
fragen und aufgaben am Schlüsse verraten überall den kundigen,
scharfsinnigen pädagogen, der auf das sorgsamste die bahnen
der Lessingschen dialektik verfolgt, ohne je ins kleinliche oder
triviale zu verfallen, wie es in derlei ausgaben leider nur zu häufig
der fall ist.
Auch bei der lectüre Lessings musz es selbstverständlich die
wichtigste aufgäbe sein, von den einzelheiten zum allgemeinen auf-
zusteigen, Lessing zu begreifen in seiner eigenart und im Verhält-
nisse zu den führenden geistern seiner zeit, z. b. zu Gottsched, also
zu verstehen, aus welchen gründen Lessing ihn bekämpft, ferner, in
welcher weise er das im 17n litteraturbriefe entworfene programm
ausgeführt hat, sodann, welche gesetze er über die kunst der tra-
gödie aufstellt, womit sich die wichtigste frage verknüpft : von wel-
chen nationalen und poetisch kritischen gesichtspunkten aus Lessing
in seiner Hamburgischen dramaturgie Voltaire befehdet, vielleicht
ist es nicht unangebracht, hierbei etwas zu verweilen.
Es ist begreiflich, dasz mit stolzen planen und kühnen hoff-
nungen Lessing im jähre 1767 nach Hamburg gieng, wo das, was
er längst ersehnt hatte , ein nationaltheater gegründet ward mit
einer festen bühne. man erstrebte originalstücke mit nationalem
inhalt und charakter, und was hatte anderes Lessing allezeit sich
selbst als ziel gesetzt? wie herlich ward gerade in jener zeit dies
greifbare gestalt in der Minna von Barnhelm! so gieng er sieges-
freudig ans werk, und so entstand seine dramaturgie, die aus einer
theaterzeitung zu der grundlegendsten dramatischen ästhetik wurde,
A. Biese: zum deutschen Unterricht. 247
die ihn auf der höhe seines kritischen Vermögens, aber auch zugleich
als nationalen beiden zeigt, der mit der feder wider den welschen
geist streitet, wie der geistesverwandte preuszische könig mit dem
Schwerte, den Franzosen gilt vor allem seine fehde, ihren einflusz auf
die deutsche bühne will er brechen, und so streitet er besonders
scharf wider Voltaire, zunächst von nationalen bestrebungen aus.
nur selten freilich hebt Lessing diese selbst heraus, aber sie lagen
ja dem ganzen unternehmen als treibende kräfte zu gründe. Lessing
hebt den grundcharakter der Deutschen hervor, wenn er sagt: 'wir
Deutschen bekennen es treuherzig genug, dasz wir noch kein
theater haben.' was thun aber die Franzosen? was thut der herr
von Voltaire? er behauptet, selbst die Griechen könnten von den
Franzosen noch lernen, wenn sie wieder aufstünden, er ist also
durch echt französische eitelkeit verblendet, diese ist daran schuld,
dasz sie noch kein theater haben , weil sie sich in selbstbethörung
über die alten stellen, anstatt von ihnen zu lernen, und nun sollten
wir, fragt Lessing mit bitterer Ironie, in ihre schule gehen, sollten
lernen von einem herrn von Voltaire, der so unlauter und so eitel
in seinem charakter ist? musz uns Deutschen, die wir in treue und
ehrlichkeit unsern stolz suchen, nicht die ganze art dieses welschen
gecken abstoszen? — Und nun verfolgt der erbarmungs- und rück-
sichtslose kritiker — wie der grosze könig die beere der Franzosen —
den Voltaire mit unnachahmlicher kunst, spürt alle Schlupfwinkel
der Sophisterei, eitelkeit und unwahrhaftigkeit auf, und da sprüht
jener hasz, den die groszthaten Friedrichs geschürt hatten, jene Ver-
achtung, die aus der Charakteristik des Riccaut spricht, und so deckt
er die eitle gefallsucht des dichters auf, der vor das publicum heraus-
tritt und sich beklatschen läszt, während 'das wahre meisterstück
uns so ganz mit sich selbst erfüllt, dasz wir des Urhebers darüber
vergessen, dasz wir es nicht als das product eines einzelnen wesens,
sondern der allgemeinen natur betrachten.' 'und was hat der mann
von genie' — der dem verlangen des publicums, ihn kennen zulernen,
nachgibt — 'dabei wirklich vor dem ersten besten murmeltier voraus,
welches der pöbel gesehen zu haben ebenso begierig ist?' aber wie
leicht und gern liesz sich ein Voltaire in diese falle locken! spottet
Lessing mit beiszendem höhn, nicht minder über den mangel an
aufrichtigkeit MaflFei gegenüber, so dasz er sich in einem satze drei
Unwahrheiten zu schulden kommen lasse. — So tritt aus Lessings
betrachtungsweise hervor, wie unsympathisch dem Deutschen die
art Voltaires sein musz; und so ruft er die energische mahnung
aus, den falschen götzen vom throne zu stoszen und den nahe ver-
wandten Shakespeare auf den schild zu heben. — Es treiben zur
beseitigung des Voltaireschen einflusses aber auch poetisch-kritische
rücksichten. Lessing befehdet Voltaire als kritiker und als dichter,
erstens als kritiker: die schlage, die Voltaire gegen Maffei führt,
treffen zumeist ihn selber; den jüngeren Corneille chicaniert und
schulmeistert er in lächerlicher weise, auf grund der geschichte,
248 A. Biese : zum deutschen Unterricht.
wobei dem Voltaire dann allerlei Irrtümer mitunterlaufen, zweitens
als dichter: Voltaire ist einerseits nicht original, er liefert in der
Merope nur ein abbild der Maffeischen , was er ändert, ist albern
(rüstung — ring) ; er ahmt Shakespeare nach , ohne ihn zu erreichen,
in der Zaire stellt er nicht liebe, sondern galanterie dar, es sind ge-
spräche von liebenden, aber es tritt uns nicht die liebe selbst in
ihren phasen entgegen, wie sie aus dem keime des mitgefühls zu
duftiger blume und berauschender frucht erwächst; wohl bildet er
dem Othello den Orosman nach, aber er erreicht ihn nicht, denn die
leidenschaft soll dem funken gleichen , aus dem die flamme empor-
schlägt und dann das verzehrende feuer lichterloh sich verbreitet usw.
dies führt uns dahin, dasz wir das französische drama überhaupt
kahl und flach und kühl nennen müssen. — Anderseits befolgt
Voltaire nicht die regeln des Aristoteles; er ahmt, wie die Franzosen
überhaupt, die Griechen nur in den unwesentlichen punkten nach,
so in der einheit des ortes und der zeit, und wie verrenken sie
diese! Voltaire in der Merope! bei den Griechen entwickelte sich
die einheit des ortes und der zeit aus der einheit der handlung, aus
der Schlichtheit und natürlichkeit des ganzen dramatischen aufbaus,
besonders auch aus dem wesen des chors. — Und wie steht es ferner
mit der Wirkung der tragödie? fragt Lessing, was soll die tragödie
nach Aristoteles? mitleid und furcht erwecken, rühren, rührt uns
Voltaire? rührt er uns mit seinem gespenst? — Wieder ein beweis,
wie er Shakespeare falsch verstanden, und wie er Aristoteles nicht
begrifien hat! — Sind seine gestalten überhaupt tragisch? ist Merope
nicht eine kannibalin ? erweckt sie furcht und mitleid ? ('madame' —
so apostrophiert L. sie — ich müste mich sehr irren, oder Sie wären
in Athen ausgepfiffen worden!') kurz und gut, die Franzosen haben
kein theater, keine tragödie, die wir nachahmen könnten; ihre ti'a-
gödie erweckt nicht furcht und mitleid, höchstens Philanthropie;
zumeist geben sie Zärtlichkeit für liebe, philanthropische regungen
für erschütterung und rührung; sie haben keine wäi-me, keine glut
der empfindung.
Auf Lessings spuren giengen Goethe und Schiller fort, und so
rühmt Schiller ('an Goethe') : 'einheimscher kunst ist dieser Schau-
platz eigen, hier wird nicht fremden götzen mehr gedient; wir
können mutig einen lorbeer zeigen , der auf dem deutschen Pindus
selbst gegrünt; selbst in der künste heiligtum zu steigen, hat sich
der deutsche genius erkühnt, und auf der spur des Griechen und des
Britten ist er dem bessern rühme nachgeschritten.' — Das ist Lessings
verdienst. — Und wie steht es heute? unser nationaigefübl musz
trauern, wenn wir sehen, wie die fremden, wie die Franzosen neben
andern ausländex-n unsere deutscheu bühnen entweder direct oder
in ungelenken nachbildungen beherschen. man wird noch immer
an das bittere wort des groszen kritikers gemahnt, man könne bei-
nahe sagen , es sei der Charakter der Deutschen , keinen eignen
Charakter haben zu wollen.
A. Biese: zum deutschen Unterricht. 249
Was Lessing durch die schärfe seines Verstandes, die klarheit
seines stiles, die fruchtbarkeit seiner ideen, — was Schiller durch
das pathos seiner rede, durch die sittliche tiefe seiner denkweise — ,
das musz Goethe bei der Jugend wirken durch die plastik der an-
schauung, die wärme seiner empfindung, die zugleich den nährboden
seiner herlichsten gedanken bildet, und durch die grösze seiner all-
gewaltigen persönlichkeit überhaupt.
Er ist der Jugend weit schwerer zu erschlieszen und nahe zu
bringen als Schiller, und doch thut es gerade not in unserer zer-
fahrenen und zwiespältigen zeit, wie aber ist es möglich? die Wissen-
schaft hat treffliche Wegweiser gerade in den letzten jähren für die
bahn dargeboten, auf der wir zur erkenntnis des mikrokosmos 'Goethe'
gelangen, lange haben in begreiflicher scheu vor der grösze der auf-
gäbe die deutschen gelehrten gezögert, leben und schaffen ihres
grösten dichtergenius darzustellen, die tiefen seines wesens zu er-
gründen, die fülle seines geistigen wirkens zu erschöpfen und die
weite der Goethe-litteratur zu umspannen , erschien als eine Unmög-
lichkeit für den einzelnen, und doch kann die gegenwart von wenigen
groszen der Vergangenheit so viel lernen wie von Goethe, der die
deutsche poesie auf ihrem gipfel zeigt, der den naturwissenschaften
neue wege gebahnt hat, dessen geist in Wahrheit ein universeller
und von humanität und idealismus durchleuchteter war, so dasz auch
seine weltweisheit eine leuchte für unser denken und handeln wer-
den kann, wie seine dichtung eine unversiegbare quelle des genusses
und der Vertiefung unseres empfindens. und so rauste und musz
immer von neuem das wagnis, Goethes äuszeres und inneres sein zu
veranschaulichen, gewagt werden, denn freilich die weit Goethes
nach allen selten zu umfassen kann keinem gelingen, denn wer das
ästhetische beherscht, wird doch wieder den naturwissenschaften
nicht gerecht, oder wer für das epische und dramatische wohl nach-
fühlendes Verständnis besitzt, der vermag hinwiederum dem lyri-
schen nicht auf den grund zu dringen u. ä. m.
Das tritt auch bei den werken von Richard M. Meyer und
Albert Bielschowsky hervor, auf die wir hier nur flüchtig hin-
weisen wollen.
Beide werke sind in ihrer weise vortrefflich, bei beiden berührt
so wohlthuend und anregend das bestreben, das einzelne in beziehung
zum ganzen zu bringen; und das ist bei Goethe besonders die haupt-
sache. auch wo man bei Meyer, dessen verstand die phantasie und
das gemüt überwiegt, mehr ausgeklügeltes und pointiert antitheti-
sches als wirklich erwiesenes, mehr blendendes als erleuchtendes
und überzeugendes findet, musz man doch den Scharfsinn des Ver-
fassers anerkennen ; zuweilen bedauert man, dasz offenbar aus äuszeren
gründen Streichungen vorgenommen sind, die die einheitlichkeit ge-
stört haben, wer Goethes leben in prima zu behandeln hat, wird
ungemein viel anregung in dem schönen buche finden, über Goethes
wesen und seine dichtungen wie über sein Verhältnis zu Schiller, so
250 A. Biese : zum deutschen Unterricht.
auch über die Verschiedenheit ihrer naturen. mit recht geht Meyer
auf den classischen brief Schillers an Goethe vom 23 aug, 1794 zu-
rück, denn in der that eignet sich am besten jene Scheidung von
deduction (Schiller) und induction (Goethe) — was Schiller 'intuition'
= anschauung, erfahrung nennt — ; worin beide übereinstimmen,
das ist das ziel , den menschen von trüben schlacken befreien zu
wollen, damit rein und klar der echte, wahre mensch hervorgehe. —
Goethes grundanschauung der weit wird mit recht von Meyer ge-
kennzeichnet durch die aussprüche: 'das wahre, mit dem göttlichen
identisch, läszt sich niemals an uns direct erkennen , wir schauen es
nur im abglanz, im beispiel, symbol, in einzelnen und verwandten
erscheinungen, wir werden es gewahr als unbegreifliches leben und
können dem wünsch nicht entsagen, es dennoch zu begreifen.' so
heiszt es auch im Faust: 'am farbigen abglanz haben wir das leben'
und 'alles vergängliche ist nur ein gleichnis'. das buch schlieszt mit
der mahnung: 'nicht ein meister wollte Goethe selbst sein, sondern
ein befreier. die befreit er, die sich ihm willig ergeben, das ist das
letzte und höchste, was ein groszer mann seinem volke zu schenken
vermag: dasz er alle lehrt, unablässig zu streben, im dienste der
ideale «ohne hast, aber auch ohne rast» zu streben wie er. nie war
ein leben wie dieses eine kunstschöu aufsteigende entwicklung; so
viel hohes er schuf, das höchste bleibt sein bild — und alle seine
hohen werke sind herlich wie am ersten tag.'
Ragt Meyers buch hervor durch die dialektische schärfe und
bei aller liebe und bewunderung doch durch eine gewisse souveräne
kühle der betrachtung, so wirkt das buch von Bielscbowsky durch
die herzenswärme und begeisterung, durch den hingehendsten enthu-
siasmus; es ist von der ersten seite bis zur letzten fesselnd, spannend,
hinreiszend geschrieben. Goethe der gröste unter den menschlichen
menschen — wie Wieland ihn nannte — , das ist das grundthema,
das sich durch das buch hindurchzieht wie eine melodie durch eine
Symphonie, Goethe, diese wunderbare einheit von verstand und
Phantasie, von energie und empfindung, Goethe, ein glied aller
Zeilen, denn er ist ebenso zu hause am Main wie an der Um oder in
Italien, er versteht die regungen der Volksseele, sei es in Deutsch-
land oder im alten Griechenland oder in der renaissance, Goethes
leben das gehaltreichste, anziehendste und bewunderungswürdigste
unter allen seinen werken: das ist, was Bielscbowsky uns darlegt in
meisterhafter form, wie Goethe ein pandaimonion unsichtbarer
geister in köpf und herzen hegte, wie ihn seine unvergleichlichen
gaben beglückten, wie er aber auch unter ihnen gelitten hat: das er-
leben und empfinden wir mit, denn es ist nicht trockene Schulweis-
heit, die uns durch das Frankfurter, Leipziger, Straszburger und
Weimarer leben bis nach Italien hinleitet, wo die bluten zu den her-
lichsten fruchten sich entfalten, und die uns die jugendfrischen,
geniefrohen Schöpfungen des jungen dichters und die raeisterwerke
des mannes erläutert, sondern es ist der volle pulsschlag eines be-
A. Biese: zum deutschen Unterricht. 251
geisterten herzens und der kluge feine sinn , der auf eignen bahnen
spürt und überraschende, wenn auch nicht immer einwandfreie ge-
sichtspunkte findet, wie z. b. bei erörterung des Tasso, womit der
erste band schlieszt. er läszt mit Spannung und hoher erwartung
den zweiten erharren.
Goethe war das gröste 'naturproduct' — um einen lieblings-
ausdruck von ihm zu brauchen , und das gröste kunstwerk zugleich,
und so auch sein leben, er hat eben jene gröste und schwerste
kunst auch verstanden, die kunst zu leben, wie aber diese nur mit
heiszem ringen zu gewinnen ist, das lehrt auszer dem Faust be-
sonders der Tasso. Goethe hat auch hier von seinem innersten er-
leben tiefstes und schönstes niedergelegt, und wenn sich nun im
Tasso Goethe widerspiegelt, so haben wir den contrast zwischen
dem dichter der Wirklichkeit, der sich zum höchsten lebenskünstler
emporrang, und dem dichter der phantasie, der eben daran scheitert,
dasz er nicht zu leben versteht, und was lehrt dieser contrast? dasz
es Goethe selbst nur unter vielen schmerzen gelang, jene höhe der
Selbstzucht zu erlangen. Tasso ist eine problematische natur, die
sich nicht ins leben zu schicken weisz, es sich nicht gefügig zu
machen versteht und darum mehr ambos als hammer ist. und
warum ist diese ars vivendi, die dem Tasso versagt blieb, so schwer?
weil sie ebenso viel Selbsterkenntnis wie welterkenntnis, ebenso
viel Selbstüberwindung wie weltbezwingung erfordert, weil nur ein
starkes herz voll menschen- und weltliebe den widerstreit von idee
und Wirklichkeit, den kämpf mit enttäuschungen bestehen und ver-
winden kann.
Wie sehr der mensch selbst sein gröster feind ist, welch Danaer-
geschenk eine grosze einseitige begabung, welch leid neben allem
inneren reichtum ein empfindsames herz in sich schlieszt, wie der
lorbeer mehr ein zeichen der schmerzen ist als des glucks, der rühm
'ein Sonnenstrahl, der sich in thränen bricht', das lehrt uns der
Tasso. er hat daher eine tief ethische und somit auch tief päda-
gogische bedeutung; es ist eine seelenmalerei in ihm von einer fein-
heit, die ebenso wichtig wie schwierig für das erfassen eines schüler-
kopfes ist. nur für denjenigen jungen wie alten geist wird die
eigenart Tassos sich erschlieszen, dessen empfindungsieben einen
künstlerischen zug hat , der das selig unselige , das in einer reichen
gemütsweit liegt, wenigstens ahnen oder mitempfinden kann, es
gibt neuere ausleger, die mit einer härte und strenge, mit einem
sittlichen dunkel über Tasso zu gericht sitzen, weil er der selbst-
zügelung entbehre, von jubel in Verzweiflung, von der genialsten
begeisterung schier in Wahnsinn verfalle, die schranken, die ihn,
den armen dichter, von der hochgeborenen prinzessin trennen, über-
sehe, dasz man sich fragen musz, wo dann noch die anziehungskraft
dieser gewaltigen poetennatur liege, die der herzog und die gräfin
von Sanvitale bewundern und die edle, rein und hochgestimmte,
so überaus feinfühlige prinzessin liebt, soweit überhaupt ihr mildes,
252 A. Biese: zum deutschen unterricM.
sanftes, ätherisches wesen einer tieferen liebesregung fähig ist.
Tasso ist ein tragisches dichtergenie. sein genie wie sein verderben
ruht darin, dasz er ganz empfindung ist, ganz seele, herz, gemüt.
in der einsamkeit hat er sich vertieft, sind die schwingen der dichte-
rischen kraft gewachsen, in der einsamkeit schwelgend huldigt er
dem süszesten genusse reicher naturen, dem selbstgenusz und dem
naturgenusz; aber in der einsamkeit, in der entfernung und ent-
fremdung von den menschen liegt eine schwere gefahr; da lauern
die gespenster des argwohns und des mistrauens gegen andere und
gegen sich selbst, der Verzagtheit und Verzweiflung, so sehr die ein-
samkeit die tiefsten gründe des herzens erschlieszt, so dasz da&
höchste und reinste aus ihm geboren wird, so verderblich und ver-
hängnisvoll wird die selbstbespiegelung, die den rechten maszstah
durch vergleich mit andern verliert, und die verkennung der menschen,
der Wirklichkeit überhaupt, wer immer durch die erscheinungen hin-
durch die ideen des ewigen und schönen hindurchleuchten sieht, der
verachtet zu leicht jene und büszt dies dadurch, dasz er ihr opfer
wird, dasz er in dem lebenskampfe unterliegt. Tasso hat ein zu
weiches herz; seine tiefe empfindung führt ihn zur empfindlichkeit
und empfindsamkeit. was ihn grosz und schöpferisch macht, ist zu-
gleich sein elend, sein überstarkes gefühl macht ihn ungerecht gegen
andere, argwöhnisch, anderseits aber auch treibt es zur Selbstüber-
hebung, so dasz er wähnt, er könne die harte rinde sprengen, die
das innere eines Antonio umschlieszt, und er könne die band aus-
strecken nach einem unerreichbaren ideal, wie die tiefe Sympathie
aller handelnden personen — auszer dem Antonio — und des dichters
selbst dem Tasso gebührt, so sollen auch wir sie ihm schenken, an-
statt splitterrichterlich über ihn das Vernichtungsurteil zu fällen, er
ist ein groszer mensch, aber doch wieder klein; grosz in seiner
dichteranlage , grosz in seinem warmen, überströmenden herzen,
aber klein in menschen- und Weltkenntnis, klein gegenüber den
widerstreitenden Verhältnissen, die ihn wie der ström den ertrinken-
den hinwegreiszen. begeisterung und besonnenheit müssen sich die
wage halten , köpf und herz müssen gleichmäszig ausgebildet sein,
wenn der mensch zur inneren harmonie, d. b. zum glück gelangen
soll, wer zu weich, zu herzlich, zu liebevoll, zu Vertrauens-, zu
hoffnungsselig ist, der fällt eben, wie Tasso, von einer enttäuschung
und niederlage in die andere, der verzehrt sich selbst, der ge-
langt nie zu einem gleichgewicht, auf dem des menschen heil be-
ruht, aber wer möchte nicht mit einem solchen menschen, bei
dem die hohen Vorzüge die quellen der schwäche sind , der ganz
und gar poesie und genie ist, lieber sympathisieren, als mit jenem,
dessen wesen durch und durch prosaisch ist, als mit Antonio, dessen
köpf so klar und klug, dessen herz aber so kühl ist und der von
der nüchternen berechnung seines Vorteils bis zu häszlichem neid
und bis zu spöttischem höhn über alles dichterische schaffen sich
verleiten läszt?
A.Biese: zum deutschen Unterricht. 253
Bielschowsky hat Antonio zu schwarz gemalt, er hat die parallele
mit dem grafen Görtz zu weit getrieben. Goethe wollte in ihm nicht
■eine unedle gestalt zeichnen, sondern das widerspiel zu Tasso in dem
sinne, dasz dieser wohl das herz, aber nicht den köpf auf dem rechten
fleck bat, während es bei jenem umgekehrt der fall ist. beide sind
nicht Verkörperungen des Ideals eines menschen, sondern ihre
schwäche ist, dasz aus den beiden die natur nicht einen geformt
hat, wie die gräfin klug und scharf sagt, das umfassendste bleibt
immer, dasz beim menschen köpf und herz auf dem rechten flecke
sitzen, nicht blosz das eine von beiden, wie es bei Antonio und Tasso
hervortritt. Tasso läszt sich hätscheln und hätschelt sein herz selbst
wie ein krankes kind, er ist gefühls- und gemütsmensch und leidet
daher unsäglich unter dem widerstände der harten Wirklichkeit, die
zu meistern er nicht im stände ist, und geht somit, erschüttert in
den grundvesten seines seins, einer unsicheren, gewis nicht leidlosen
Zukunft entgegen. Antonio, der kühle verstand, triumphiert, be-
hauptet siegreich das feld, wo der arme poet in die fremde, ins
elend gehen musz. das ist eben die tragik des lebens. im Olymp
des Zeus ist des dichters wahre heimat, nicht auf der zerklüfteten,
rauhen erde, er trägt das sieges-, aber auch das schmerzenszeichen
auf der stirn.
Es ist sehr fein, was R. M. Meyer hervorhebt, dasz Antonio
und Tasso in dem Stadium beharren, das Goethe und Schiller über-
wanden. Goethe sagte über sich und den erst spät gefundenen
freund: 'selten ist es, dasz personen, die gleichsam die hälften von
einander ausmachen, sich nicht abstoszen, sondern sich anschlieszen
und einander ergänzen.' Tasso sieht alles dichterisch umgeformt an,
Antonio alles in 'der gemeinen deutlichkeit der dinge'; scheidet
jener poesie und leben zu wenig, so trennt dieser sie zu scharf und
sieht in Tassos künstlerischem wesen nichts als launen und kindische
Ungezogenheit; ist Tasso zu stürmisch in freundschaft und liebe, zu
überschwenglich im Wechsel der empfindung, so Antonio zu kalt, zu
hart, ungerecht. Tasso ist zu sehr dem ideellen, dem phantasie-
leben, Antonio zu sehr dem praktischen leben zugewandt; sein
dichterischer schwung ist, wo er sich zeigt, nur gemacht, nur künst-
lich ; er ahnt nicht, was es heiszt: 'alles vergängliche ist nur ein
gleichnis', während Tasso in solcher erkenntnis und empfindung
lebt und webt, so schönheitsliebend und schönheitsselig er ist, so
unpraktisch, unordentlich, rasch im handeln, unüberlegt, ungleich-
mäszig in denken und in Stimmung, ein spielball eines wankel-
mütigen gefühlvollen herzens. in alledem ist Antonio überlegen,
doch häszlich ist sein neid und seine eifersucht.
Bielschowsky verkennt aber gleichwohl den Antonio; zunächst
wenn er die worte 'mir war es lang bekannt, dasz im belohnen
Alphons unmäszig ist' als grobe beleidigung und taktlosigkeit auf-
faszt. fügt doch der gewandte weitmann hinzu: 'und du erfährst,
was jeder von den seinen schon erfuhr.' so schlieszt er also sich
254 A. Biese: zum deutschen Unterricht.
selbst ein, und so machen auch auf die andern die worte keinen
tiefen, keinen verletzenden eindruck. — Dasz Goethe sie später ein-
gefügt habe, ist doch nur verlegenheitsconjectur. — Auch am
Schlüsse die worte Tassos an Antonio 'edler mann!' wollte Goethe
wohl kaum anders aufgefaszt haben als voll aufrichtigkeit dem nach
einem halt suchenden dichterherzen entströmend, nicht aber als kahle
böflichkeitsformel. hat sich Antonio auch wahrlich nicht edel ge-
zeigt in jener streitscene , auch nicht in dem gespräche mit Alphons
(V 1), wo ihn dieser mit vornehmer ruhe zurückweist und den tadel,
den er über Tasso ausspricht, dämpft, so weist er doch mit echtem
gefühl am Schlüsse den unseligen auf das hin , was ihm im Schiff-
bruch seines glückes noch heil und rettung bieten kann: sein dichter-
genie , sein künstlerisches schaffen.
Wir ersehen am Schicksal Tassos, wie das leben durch leid er-
zieht und wie schwer die echte kunst zu leben sich erlernen läszt,
wie 'um uns herum gar mancher abgrund , den das Schicksal grub,
doch hier in unserm herzen ist der tiefste.' wir ersehen aber auch,
je häufiger wir die dichtung lesen, mit welcher unerschöpflichen
lebensweisheit Goethe dies werk ausgestattet hat, wie es, einem
naturproduct gleich, sich seiner genialen seele entrang zur mahnung
und Warnung für alle diejenigen, die, noch in der Selbstzucht be-
griffen , danach streben , köpf und herz, verstand und gemüt gleich-
mäszig auszubilden, ihr inneres in harmonie zu bringen, d. h. wahres
glück zu gewinnen, darin liegt die dichterische und pädagogisch-
ethische bedeutung dieses meisterwerkes.
Koblenz. Alfred Biese.
20.
DR. ErDENBERGER, DAS AVANCEMENT DER AKADEMISCH GEBILDETEN
JUSTIZBEAMTEN UND LEHRER IM SÄCHSISCHEN STAATSDIENSTE IN
DEN JAHREN 1886—1896. Leipzig, Rengersche buchhandlung. 1897.
Das schriftchen gibt eine wertvolle aufklärung über eine lebens-
frage des sächsischen gymnasialwesens. warum sind die sächsischen
gymnasiallehrer so tief unzufrieden mit dem für sie bestehenden
Stellenetat, während von einer gleichen Unzufriedenheit bei den
Justizbeamten des landes nichts verlautet, obgleich auch sie auf das
ausscheiden von Vorgängern und das freiwerden von stellen warten
müssen? die frage ist sehr ernst und hat eine hohe sittliche bedeu-
tung. es gilt den widerwärtigen schein zu beseitigen , als wenn die
angehörigen des erziehungsberufes im vergleich mit ihren zu dem-
selben Idealismus erzogenen bildungsgenossen vom richterstande die
ungeduldigen und begehrlichen, die nörgler und querulanten wären,
klarheit kann darüber nur geschafft werden durch eine nüchterne
und sachlich eingehende vergleicbung der beiderseitigen gehalts-
verhältnisse.
i ; . Richter : anz. v. Erdenberger avancement d. j ustizbeamten u. lehrer. 255
Diese arbeit liefert hier Erdenberger, und zwar mit den ein-
fachsten und handgreiflichsten ergebnissen. ÖttXoOc ö liOöoc TTiC
dXriGeiac ecpu. er beweist durch berechnungen, die jeder nachprüfung
standhalten werden, dasz der gegensatz zwischen den beiden beamten-
gruppen noch tiefer begründet ist als nur durch den hinlänglich be-
kannten verschiedenen bau der beiderseitigen gehaltsstafiFeln, näm-
lich: 3600 mk. anfangsgehalt bei den richtern gegen 2400 mk. bei
den lehrern, trotzdem dasz sich bei diesen das durchschnittliche
lebensalter immer ungünstiger verschoben hat und für die Inhaber
der niedrigsten stelle am 1 januar 1896 nicht weniger als 34,3 jähr
betrug; ferner die ungleiche differenz zwischen den gehaltsclassen:
600 mk. bei den richtern, durchschnittlich 300 mk. bei den lehrern;
endlich die geringe zahl der höchsten stellen bei den lehrern
(14, 12, 10), während bei den richtern jede stufe dieselbe zahl
von stellen hat.
Wenn nun die peinlich empfundenen und nahezu unerträglich
gewordenen misverhältnisse in den besoldungen der gymnasiallehrer
nur auf diesem allerdings vergleichsweise sehr unvorteilhaften bau
der gehaltsstaflfel beruhten, so könnte durch einen gründlichen umbau
abgeholfen und das princip des Stellenetats erhalten werden, dem
steht aber ein anderes hindernis entgegen, das in der vorliegenden
Schrift einleuchtend dargestellt wird, es fehlt für die gymnasial-
lehrer der kräftig erleichternde, eine gesunde und befriedigende be-
wegung ermöglichende Übergang in einen höheren gehaltsbereich.
als solchen gibt es nur die rectorate. nun kommt aber auf 17,6
lehrerstellen nur 1 rectorat, während bei den Juristen bereits auf
2,24 untere richter- oder staatsanwaltstellen 1 höhere justizstelle
kommt; der richter oder Staatsanwalt hat achtmal mehr aussieht einen
gehalt von 6000 mk. und mehr zu erreichen als der gymnasiallehrer.
Diese zahlen reden eine eindringliche spräche ; sie warnen vor
dem versuche, durch erhöhungen und Verschiebungen innerhalb des
Stellenetats die übelstände zu beseitigen, wenn diese Veränderungen
noch so durchgreifend wären, würde doch bei dem geringen abflusz
nach den rectoraten immer eine verhängnisvolle Stagnation an dieser
und jener stelle und eine unbillige ungleichmäszigkeit des avance-
ments drohen, das führt mit notwendigkeit auf den amtsaltersetat
als die für die gymnasiallehrerschaft natürlich gegebene einrichtung,
die einen auf die dauer befriedigenden und einwandfreien zustand
verbürgt, freilich nur unter der bedingung, dasz die gehaltssätze
denen der vergleichbaren akademisch gebildeten beamten angeglichen
werden und die höchstgehalte bei Zeiten zu erreichen sind , da sich
ja eben die meisten lehrer in mangel eines höher besoldeten dienstes,
zu dem sie aufrücken könnten, damit begnügen müssen.
Nun könnte man fragen, wie es sich eigentlich erklärt, dasz
sich die sächsischen gymnasiallehrer erst in dem jetzigen Jahrzehnt
und namentlich in den letzten fünf jähren auf ihre notlage besonnen
zu haben scheinen, vorher war es in ihrem kreise doch recht still
256 R. Richter: anz. v. Erdenberger avancement d. justizbeamten u. lehrer.
und ruhig, ich habe seit 1863 in diesen Verhältnissen gelebt und
vermag darum aus persönlicher erfahrung die sache einigermaszen
zu beurteilen, bis 1886 hatte ja jede schule ihren eignen Stellen-
etat, muste das nicht erst recht als ein harter druck wirken? die
gegenwirkung lag in folgendem, im anfange der sechziger jähre
war bei uns zu lande die zahl der candidaten des höheren lehramtes
sehr gering, so dasz frühzeitige anstell ung und günstige anfaugs-
beförderung die regel war. ich selbst bin in einem lebensalter von
23'/2 Jahren ständiger Oberlehrer geworden, was damals nichts auszer-
ordentliches war. auszerdem wurde mit einem so zu sagen patriar-
chalischen verfahren dringenden bedürfnissen in einzelnen coUegien
durch locale aufbesserungen und persönliche Zulagen abgeholfen,
ende der sechziger jähre aber begann , was die hauptsache ist , die
Periode der starken äuszeren entwicklung des höheren Schulwesens
in Sachsen, die zwei- und anderthalbjährigen classencurse wurden
aufgehoben und die einjährigen durchgeführt; zu den 11 alten huma-
nistischen gymnasien wurden 6 neue gegründet, zu den 6 alten real-
gymnasien 4 neue; zahlreiche parallelclassen musten eingerichtet
werden, dazu kam die ausgestaltung des realschulwesens; von den
jetzt bestehenden 23 realschulen sind weitaus die meisten in jenem
Zeiträume als sechsclassige höhere schulen organisiert worden, das
ergab natürlich eine flotte bewegung in der lehrerweit, öftere Ver-
setzungen und avancements, die die Ungunst des Stellensystems
nicht fühlbar werden lieszen.
Nun ist seit etwa 10 jähren jene entwicklung abgeschlossen,
es ist stillstand eingetreten, und zwar nach menschlicher berechnung
auf lange dauer; nun sitzen sie fest, eingekeilt in drangvoll fürchter-
liche enge, die vielen gleichaltrigen aus der zeit des aufschwungs:
hinc illae lacrimae!
Es handelt sich also um die Wirkung eines culturgeschicht-
licben Vorganges, nicht etwa um eine psychologisch auffällige er-
scheinung; es hat sich im letzten Jahrzehnt ein vollständiger wandel
in den äuszeren Verhältnissen der gymnasien vollzogen, ein wandel,
mit dem sich der alte stellenetat schlechterdings nicht mehr ver-
trägt, während in den beiden vorhergehenden Jahrzehnten die manig-
faltigen neugestaltungen immer wieder heilmittel boten, so kann
auch niemand eine vorwurfsvolle kritik früherer maszregeln in der
feststellung dieser thatsachen finden; sie bestätigt nur, dasz die
durchgreifenden neuen maszregeln, die allen anzeichen nach bevor-
stehen, in den thatsächlichen Verhältnissen ihren anlasz und ihre
berechtigung finden.
Leipzig. Richard Richter,
ZWEITE ABTEILUNG
FÜR GYMNASIALPÄDAGOGIK UND DIE ÜBRIGEN
LEHRFÄCHER
MIT AUSSCHLUSZ DEK CLASSISCHEN PHILOLOGIE
HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. RiCHARD RiCHTER.
21.
EIN GUTACHTEN GOTTFRIED HERMANNS.
Unter den briefen Gottfried Hermanns an Carl August Böttiger'
befindet sich ein von unbekannter band geschriebenes Schriftstück,
das die Überschrift trägt: 'über den lateinischen und griechischen
Sprachunterricht insbesondere.' zum glück belehrt uns eine später
gemachte handschriftliche bemerkung am oberen rande der ersten
Seite , dasz uns hier ein teil eines gutachtens abschriftlich vorliegt,
das Hermann im februar 1818 an das curatorium der Thomasschule
in Leipzig wegen Verbesserung dieser schule richtete, das gutachten
selbst ist gänzlich verschollen, denn weder ist es im archive der
Thomasschule, noch im ratsarchive der stadt Leipzig vorhanden,
ganz besonders aber musz auffallen, dasz in den langen Verhand-
lungen, die -während der jähre 1815 — 1821 zwischen dem schul-
curatorium^ und dem damaligen rector der schule Rost stattfanden^
zu dem zwecke, disciplin und unterrichtswesen an der Thomana
gründlich umzugestalten, auch nicht mit einem worte erwähnt wird,
dasz Gottfried Hermann zu beginn des Jahres 1818 bei dem cura-
torium der Thomana Verbesserungsvorschläge eingereicht hat. viel-
mehr erfahren wir aus einer längeren eingäbe des rectors Rost vom
9 october 1821, dasz Rost persönlich sechs jähre hindurch die durch-
» briefe an C. A. Böttiger bd. 76 nr. 102 — 133 (kgl. bibliotliek
Dresden).
* das curatorium der Thomasschule lag in den hiinden des stadt-
magistrats. 1818 versahen das curatorenamt der oberhofgerichtsrat und
biirgermeister dr. Siegmann und der baumeister Chr. Ludwig Stieglitz.
3 vgl. die schulacten, deren mitteilung ich hrn. Oberlehrer dr. Brause
in Leipzig \'erdanke; ferner das nachwort zur ersten lieferung von Rosts
beitragen zur geschichte der Thomasschule 1820 s. 14 — 21, sowie aus
dem 13n Jahrgang des neuen nekrologs der Deutschen s. 172 — 173 des
ersten teils.
N. Jahrb. f. phil. n. päd. 11. abt. 1897 hft. 6. 17
258 0. Fiebiger: ein gutacliten Gottfried Hermanns.
dachtesten und umfassendsten entwürfe ausarbeitete, durch deren
einführung er die ihm anvertraute schule zu heben gedachte , und
schlieszlich dieselben in einem groszen gesamtplan zusammenfaszte,
der den ungeteilten beifall des oberconsistorialpräsidenten v. Ferber,
des ritters professor Hermann und des studiendirectors Böttiger fand,
und am Schlüsse jener eingäbe erklärt Rost, er sei gern bereit, wenn
die vorgesetzte behörde ihn nicht für fähig genug halte, selbständig
eine neue Schulordnung zu entwerfen , jeden andern unterrichtsplan
annehmen zu wollen, der, was insbesondere die classische philologie
betreffe , die billigung der herren Blümner und Hermann gefunden
habe, auf grund dieses Zeugnisses ist also Rost allein derjenige ge-
wesen, der dem curatorium des öfteren eine änderung der schul-
Verfassung als dringend notwendig nahegelegt hat, und Hermann
hat zu Rosts vorschlagen nur sein placet gegeben, nichtsdesto-
weniger musz aber daneben die thatsache bestehen bleiben, dasz
Hermann selbst im februar 1818 ein längeres gutachten über eine
zweckmäszige Verbesserung des Unterrichts an der Thomasschule
abgegeben hat; nur wissen wir eben über die näheren umstände und
die besondere veranlassung, da lediglich ein teil jenes gutachtens
auf uns gekommen ist, gar nichts, praktischen erfolg hatten Her-
manns vorschlage ebenso wenig wie Rosts zahlreiche verbesserungs-
pläne. nur das eine setzte letzterer beim stadtmagistrat durch, dasz
die neue Ordnung der Leipziger Nicolaischule vom 29 februar 1820
für die Thomasschule, die bereits eine bedeutend bessere lehr-
verfassung hatte, keine geltung erhielt, im übrigen erliesz der
Leipziger magistrat am 17 mai 1819 nur bestimmungen, welche
die schuldisciplin besser regelten, und es hat bis zum jähre 1828
gedauert, ehe das unterrichtswesen der Thomana neu und gründlich
geordnet worden ist.^
So wenig aber auch das Herraannsche gutachten für die Weiter-
entwicklung des geistigen lebens an der Thomasschule bedeutung
gehabt hat, für uns bleibt es darum nicht minder wichtig und wert-
voll, denn einmal liefert es einen neuen beweis dafür, dasz Gott-
fried Hermann trotz seiner ausgesprochenen beanlagung für den
akademischen lehrberuf doch der entwicklung des höheren Schul-
wesens die lebhafteste teilnähme entgegengebracht hat. ^ und zum
andern bringt es vortrefflich die allgemeinen grundsätze zur an-
schauung, die der grosze meister der classischen philologie beim
Schulunterricht in den alten sprachen befolgt wissen wollte.
Vollständig ist Hermann in seinen ausführungen nicht und will
es nicht sein, billiger weise wird aber auch niemand verlangen.
* vgl. Stallbaum, zur erinnerung an die Versammlung ehemaliger
Thomaner am 27 und 28 juni 1854 s. 22 f.
* auch der brief Hermanns an Böttiger vom 24 miirz 1809 (bd. 76
nr. 111), der die an der landesschule Pforta durch Ilsen vorgenommenen
Veränderungen abfällig bespricht, läszt erkennen, wie sehr Hermaun auf
die förderung der höheren schule bedacht war.
0. Fiebiger: ein gutachten Gottfried Hermanns. 259
dasz eine Persönlichkeit wie Hermann, der nie eine öffentliche schule
besucht® hatte und der sich klar bewust war, dasz ihm in schulfragen
das unbedingt erforderliche praktische Verständnis abgehe '^j auf alle
einzelheiten des Unterrichts eingeht, dafür haben seine vorschlage
wiederum das überaus anziehende, dasz sie sich im wesentlichen auf
die erfahrungen gründen , die er bei seinem eignen bildungsgange
gesammelt und im späteren leben an sich erprobt hatte.
Auf der Unterstufe ist nach Hermann der altsprachliche Unter-
richt durchaus mechanisch zu betreiben und hat sich ausschlieszlich
mit der einübung und befestigung der grammatischen regeln zu be-
fassen, alles meditieren ist hier vom übel, ganz ähnlicb urteilt
Hermann in der vorrede zu seiner zweiten ausgäbe des Sopho-
kleischen Philoktet (s. XIX) ^: 'ex quo festinari omnia coepta sunt,
prius criticam facere pueri in scholis quam cognoscere grammaticam
discunt', mit dem hinweis darauf, dasz auf der schule vor allem die
elemente erlernt werden müsten, wozu auf der Universität zeit und
gelegenheit fehle, als sehr brauchbare gehilfen der lehrer in den
beiden unteren classen werden die sogenannten coUaboratoren em-
pfohlen, dergleichen nichtständige lehrkiäfte sind an der Thomas-
schule seit dem jähre 1802 beschäftigt gewesen.' auch an den
fürstenschulen finden wir sie seit dem beginn dieses Jahrhunderts
vielfach. '" ihre einführung in Meiszen erfolgte auf grund der
rescripte vom 29 mai und 3 juni 1812", wo es unter nr. 3 heiszt,
dasz die vier anzustellenden coUaboratoren die schüler zu beaufsich-
tigen und in den beiden unteren classen Unterricht zu erteilen
hätten, auch sollten sie, gerade wie Hermann es vorschreibt, in
besondern emendations- und correcturstunden die den Schülern auf-
gegebenen arbeiten durchsehen und durchsprechen. '- an der Thomas-
schule verwendete der collaborator Eger, wie aus seinem berichte
vom 30 october 1819 hervorgeht'', wöchentlich eine stunde dazu,
der vereinigten dritten und vierten classe ein leichtes speciraen zu
dictieren und es auch zugleich durchzugehen.
In den beiden oberen classen kommt es Hermanns ausführungen
zufolge beim Unterricht in den alten sprachen vorwiegend darauf an,
den schüler mit dem geiste derselben vertraut zu machen, nichts ist
aber dazu mehr geeignet als eine sorgfältige, eindringende classiker-
lectüre. nicht viele, sondern einige wenige Schriftsteller soll der
* vg). Köchly, Gottfried Hermann s. 4.
' Ameis, Gottfried Hermanns pädagogischer einflusz s. 15 f.
^ bei Ameis a. a. o. s. 37, in dessen buche viele citate aus Hermanns
Schriften sorgfältig zusammengetragen sind.
^ Stallbaum a. a. o. s. 24 anra.
*" Flathe, Sanct Afra s. 324; Kirchner, die landesschule Pforta
s. 66 und 68 fif.
1' Flathe a. a. o. s. 322.
*2 Flathe a. a. o. s. 331. vgl. über diese art der correctur auch
Eckstein, lateinischer und griechischer Unterricht s. 310.
•' s. die schulacten.
17*
260 0. Fiebiger: ein gutachten Gottfried Hermanns.
Schüler lesen , und zwar einen auf einmal , aber wenn möglich voll-
ständig und wiederholt, mit dieser Forderung stellte sich Hermann
in directesten gegensatz zu der allenthalben herschenden praxis.
denn selbst an den fürstenschulen ist es bis in den anfang dieses
Jahrhunderts hinein allgemein üblich gewesen, die verschiedensten
Schriftsteller gleichzeitig neben einander zu lesen. '^ Hermann hatte
das in seiner Jugend anders gelernt, sein lieblingslehrcr Carl David
Ilgen las mit ihm in zwei jähren nur zwei capitel aus Xenophons
memorabilien und vier bücher der Ilias'^ und auf der Universität
legte ihm sein lehrer Friedrich Wolfgang Reiz nichts eindringlicher
ans herz, als gleichzeitig nicht mehr als einen schriftsteiler zu lesen. ^'
kein wunder, dasz Hermann, der es sich unter dem einflusse dieser
lehrer für sein ganzes leben zum grundsatz gemacht hatte, nur einen
Schriftsteller oder einen gegenständ auf einmal zu treiben'^, nach-
drücklich eine 'notitia rerum plurimarum sine ullius rei scientia' ver-
wirft'" und gegen die 'levitas saeculi' eifert '^ welche die Jugend wohl
viel, aber nichts gründlich lernen lasse, das, was der schüler nach
Hermanns ansieht auf der Oberstufe des gymnasiums vor allem auf-
fassen lernen soll, ist und bleibt das wesen der alten sprachen, und
das lehrt ihn allein eine planmäszige schriftstellerlectüre verstehen,
überaus zahlreich sind die äuszerungen, die Hermann der Wichtig-
keit des gegenständes angemessen bei jeder gelegenheit gerade in
dieser frage gethan hat. ganz im allgemeinen sagt er darüber: 'eine
spräche lernt man überhaupt nur durch vieles und verständiges
lesen der Schriftsteller'^", und an einer andern stelle urteilt er*':
'commendare soleo aliis, ut quis linguarum rationem usu multaque
lectione, sicuti vernaculam linguam discimus, cognoscere studeat.'
im besondern läszt sich nach Hermanns meinung sinn und gefühl
für die groszen feinheiteu der griechischen spräche 'nur durch vieles
und verständiges lesen der alten erwerben'. ''• aber nicht nur um-
fassend soll die schriftstellerlectüre sein, sie musz sich auch , wenn
'* vgl. Kössler, gcschichte der fürsten- und landesschule Grimma
8. 191 und 193.
*5 Köchly a. a. o. s. 4; Jahn, Gottfried Hermann s 5.
'^ vgl. Hermanns praef. act. soc. Gr. s. IX: 'haec ei duo potissi
mum debeo , primum ut non multos simul scriptores, sed unum quoque
tempore solum legerem, deinde ut non credere temere, sed cogitare
assuescerem . . .', und Köchly a. a. o. s. 6.
'^ vgl. Jahn a. a. o. s. 14 und Hermanns aufforderuug an die com-
militoneu (opusc. V s. 319): 'illud animo reputate et tenete firmiter,
eligere sibi quemque debere unam aliquam materiam, in quam totus
incumbat in eaque quasi domicilium pouat suum.'
•'^ vgl. Hermanns festgrusz an die jubilierende Pforte bei Köchly
a. a. 0. s. 138. Hermann bekennt sich damit zu dem grundprincip der
fürstenschulen, keine vielwisserei zu pflegen, vgl. Flathe a. a. o. s. 325.
'9 vgl. Jahns jahrb. für philol. u. päd. bd. 27 1839 s. 433.
20 zeitschr. f. altertumswissensch. 1834 s. 202.
*• opusc. V 8. 51.
" Jahns jahrb. f. philol. u. päd. bd. 14 1830 s. 165 und opusc. I
8. 129.
0. Fiebiger: ein gutachten Gottfried Hermanns. 261
sie von wirklichem nutzen sein soll, jedesmal nur auf einen ein-
zigen Schriftsteller erstrecken, denn nur so ist es möglich, sich den
Sprachschatz und die ausdrucksweise eines Schriftstellers wirklich
anzueignen, wie Hermann das, übereinstimmend mit den werten
seines gutachtens, so schön lateinisch wiedergibt": 'unum . . qui
scriptorem aliquamdiu solum legit, familiarius ei adsuescit, ingenium
eins, cogitandi sentiendique rationem, dicendique genus et consuetu-
dinem, omnino quidquid eius proprium est, paulatim imbibit suumque
facit, ut, si deinceps ad alium progrediatur, facile et quae communia
habeant et quibus rebus discrepent animadvertat atque discernat.'
dagegen richtet die gleichzeitige lectüre mehrerer Schriftsteller nur
Verwirrung an und führt dazu, dasz die sprachlichen eigentümlich-
keiten der einzelnen autoren nicht richtig erkannt werden, eindring-
lich warnt Hermann vor diesem fehler einmal in seiner vorrede zur
Tauchnitz-ausgabe der Ilias, wo es heiszt'-': 'apertum est . . quo
quis plura simul tractet, eo magis distrahi attentionem animi rerum
varietate, impedirique quo minus ea percipiat, quae propria singu-
lorum sunt? quo fit ut confundantur omnia ac permisceantur, nee
distingui quae diversa sunt possint', und anderseits in der vorrede
zu den acta societatis Graecae (s. IX) mit den worten : 'multa . . et
varia simul legendo confunditur et conturbatur animus copia rerum
et diversitate, ut omnia permisceat nee percipere discrimina possit.'
erst wenn der schüler einen Schriftsteller völlig beherscht, wozu eine
nochmalige Wiederholung des gelesenen sehr viel beiträgt^', soll er
zur lectüre eines andern übergehen, das befähigt ihn, mit Verständ-
nis auf den unterschied in der ausdrucksweise der einzelnen Schrift-
steller zu achten", ihre gedanken von selbst richtig zu erfassen",
und so allmählich bei fortgesetzter lectüre zu einer richtigen er-
kenntnis des classischen altertums durchzudringen, die vielen leuten
deshalb abgeht, weil sie die alten Schriftsteller entweder verkehrt
oder unzureichend verstehen.^* einzig und allein auf der grundlage
^^ vgl, die praef. act. soc. Gr. s. IX.
" abgedruckt opusc. III s. 77.
^^ den wert der Wiederholung legt Hermann dar mit den worten
(opusc. III s. 77): 'tertio . . curandum est, ut repetatur lectio. nam
prima cuiusvis scriptoris lectio vix aliam habet utilitatem, quam ut
imaginem aliquam scriptoris animo concipiamus, non ut eius ingenium
penitus cognoscatur: neque omnia quae ei propria sunt quibusque differt
ab aliis bcriptoribus percipi . . possunt. quarum rerum copia augetur
repetenda lectione, quoque saepius repetitur, eo magis in animum lectoris
penetrat scriptoris ingenium.
2^ vgl. Hermanns worte in der praef. act. spc. Gr. s. IX: 'si deinceps
ad alium progreditur, facile et quae communia habent et quibus rebu?
discrepant animadvertit atque discernit.'
" diese meinung spricht Hermann in Jahns jahrb. f. philol. u. päd.
bd. 23 1838 s. 201 aus: 'den richtigen mittelweg findet man durch vteles
und lebendiges lesen der alten selbst, ohne interpreten.'
'^s des längeren verbreitet sich Hermann darüber in der praef. act. soc.
Gr. s. XI: 'indignabar, quod, quamcunque partem antiquitatis attingerem,
262 0. Fiebiger: ein gutachten Gottfried Hermanns.
einer nach Hermanns Vorschriften getriebenen classikerlectüre be-
kommt der Schüler nach und nach von selbst gefühl für die eigenart
des antiken stils und vermag selbst dinge, die bei keinem alten
Schriftsteller vorkommen, in echt classischer form auszudrücken,
damit verrät uns Hermann das grosze und doch so einfache ge-
heimnis seines lateinischen stils. denn das erregte die ungeteilte
bewunderung der Zeitgenossen, dasz Hermann die modernsten be-
griffe echt antik wiederzugeben verstand^', und dasz er trotz des
individuellen gepräges seines lateins alles im sinne und geiste der
alten dachte und ausdrückte.^"
So lange freilich dem schüler infolge unzureichender lectüre
das richtige gefühl für die feinheiten der classischen ausdrucksweise
noch abgeht, sollen eigentliche stilübungen, die überhaupt nur im
lateinischen vorzunehmen sind , mit ihm lieber nicht angestellt wer-
den, weil sie dem noch nicht genügend vorbereiteten mehr schaden
als nützen, in der zweiten classe soll der schüler daher lediglich ins
deutsche übertragene stücke aus guten Prosaschriftstellern ins latei-
nische zurückübersetzen und bei der rückgabe der arbeit vom lehrer
unterwiesen werden, warum der alte schriftsteiler an den stellen,
VFO die rüekübersetzung von dem Wortlaute des Originals abweicht,
sich correcter als der schüler ausgedrückt habe, diese retroversions-
übung bezeichnet bereits der alte Straszburgor latinist Johannes
Sturm als den 'primus gradus in exercitatione stili'^', und Hermann
empßehlt sie anderwärts ^'^ als das wirksamste mittel, um dem
schüler 'von der unendlichen manigfaltigkeit von redensarten, Wort-
stellungen , zusamraenfügungen der sätze', die für die griechische
spräche so charakteristisch ist, einen begritf zu geben, an der
Thomasschule scheint im jähre 1819 in secunda nicht einmal die
erste Vorbedingung für die vornähme stilistischer Übungen, die Her-
mann in der sicheren beherschung der grammatischen regeln er-
blickt, erfüllt gewesen zu sein, denn dem berichte des lehrers
Voigtländer ^^ ist zu entnehmen, dasz dieser bei der emendation der
angefertigten specimina und extemporalia infolge der häufig vor-
kommenden grammatischen fehler es für angezeigt hielt, nur die
guten Lateiner der secunda auf feinheiten im ausdruck aufmerksam
zu machen, eigentliche freie lateinische stilarbeiten sollen nach
Hermann nur von den scbülern der ersten classe geliefert werden,
und zwar sollen dieselben in besonderen stunden im einzelnen durch-
plurima incerta, falsa, inepta, atque adeo sanae rationi repugnantia
tradi viderem. cuius rei causam cum in eo positam esse animadverterem,
quod scripta veterum vel perperam vel non satis intellecta essent:
. . omne Studium eo contuli, ut linguarum rationem usuraque scriptorum
quam possem certissime explicatum haberem.'
'3 vgl. Platner in der zeitschr. f. altertumswissenscli. 1849 s. 3.
30 Jahn a. a. o. s. 18 f.
3' s. Eckstein a. a. o. s. 311.
3« in Jahns jahrb. f. philol. u. päd. bd. 14 1830 .s. 165 f.
33 vgl. die schulacten.
0. Fiebiger: ein gutachten Gottfried Hermanns. 263
gesprochen werden, für dergleichen emendationen waren an den
fürstenschulen für das lateinische wöchentlich zwei stunden an-
gesetzt.^^ die arbeiten bestanden in abhandlungen, reden und decla-
mationen über gegebene themata.
Hand in hand mit einer guten stilistischen Schulung müssen
auf der Oberstufe zur förderung der kenntnis von prosodie und
metrik metrische Übungen gehen, über ihren wert äuszert sich
Hermann ausführlich in einem briefe an den rector Kirchner von
Pforta^^: 'mit groszem vergnügen habe ich die fertigkeit und ge-
wandtheit wahrgenommen, womit ihre Schüler die lateinische poesie,
namentlich in der epischen gattung, zu handhaben verstehen, es
freut mich das um so mehr, da die kunst, lateinische gedichte zu
machen, immer seltener zu werden scheint, so dasz man selbst von
männern, die die sache verstehen sollten, oft gedichte zu lesen be-
kommt, denen nicht nur alle lateinische färbe, sondern sogar pro-
sodische richtigkeit fehlt, ich halte überhaupt diese Übungen für
ganz besonders wichtig, weil der lehrer dabei mit weit mehr be-
stimmtheit und schärfe, als es in der prosa geschehen kann , auf die
wähl der ausdrücke, die richtige Wortstellung, die Vermeidung leerer
phrasen und flickwörter und was dergleichen mehr ist, aufmerksam
zu machen und so den sinn für das wahrhaft antike zu wecken und
zu bilden veranlassung findet.' im vergleich zu den anforderungen,
die, was metrische fertigkeit anlangt, auf den fürstenschulen an die
Schüler gestellt wurden, verlangt Hermann in seinem Thomasschul-
programm durchaus nichts auszergewöhnliches. denn beispielsweise
auf der fürstenschule zu Grimma begannen die lateinischen vers-
übungen bereits auf der Unterstufe '^ während in den oberclassen
alsbald freie bearbeitungen einer sogenannten versmaterie oder gar
carmina in verschiedenen versmaszen von den schülern eingereicht
wurden, ausdrücklich betont Hermann, dasz zu eigentlichen poeti-
schen arbeiten nur die wirklich poetisch beanlagten schüler heran-
gezogen werden sollen, denn seiner meinung nach gehörte zu wirk-
licher poesie mehr, als mit hilfe des gradus ad Pamassum eine strophe
zusammenzusetzen" oder aus zusammengestöppelten dichterischen
phrasen centonen zu verfertigen.^' vielmehr war er von der Über-
zeugung durchdrungen, dasz nur eine angei'egte, feinfühlende dichter-
lectüre dichterisches empfinden zu wecken im stände sei, nicht aber
eintöniges silbenmessen, wie er das so treffend in der epitome doctrinae
metricae (s. VHI) ausspricht: 'id imprimis curare debent, ut non
multos simul, sed unum eundemque poetam quoque tempore, eumque
solum, et iterum atque iterum, neque obscura illa cum diligentia.
^■* Rössler a. a. o. s, 194; Flathe a. a. o. s. 331.
^* Kirchner, bericht über die säcularfeier der königl. landesschule
Pforta 8. 10 anm.
'* vgl. Köchly a. a. o. s. 109; Rössler a. a. o. s. 195.
" Jahns Jahrb. f. philol. u. päd. bd. 23 1838 s. 200.
38 ebd. bd. 14 1830 s. 166.
264 0, Fiebiger: ein gutachten Gottfried Hermanns.
quae singulas syllabas atque apices rimatur, sed, quo fine scripserunt
poetae, oblectationis causa, legant.'
Im griechischen sollen die schüler auf der Oberstufe vor allem
dichterlectüre treiben, da uns das wesen der griechischen spräche
in ihrer ursprünglichsten und reinsten form in den werken der grie-
chischen poesie entgegentritt, auszerdem kommt das Studium der
Prosaschriftsteller im griechischen auf der schule auch schon um des-
willen weniger in betracht als im lateinischen, weil es unmöglich
aufgäbe des griechischen Unterrichts sein kann, die schüler in der
kenntnis der griechischen spräche, deren prosa so unendlich viele
feinheiten im ausdruck aufweist, so weit zu fördern, dasz sie die-
selbe auch nur annähernd stilistisch beherschen.^^ Hermann will
daher schreibübungen im griechischen nur in dem umfange angestellt
wissen, als zu einem richtigen Verständnis der griechischen Sprach-
eigentümlichkeiten unbedingt erforderlich ist. und ferner sollen die
schüler durch die schriftlichen arbeiten den beweis liefern, 'dasz sie
eine gattung von Schriftstellern hinlänglich gelesen haben, um in ihr
wesen eingedrungen zu sein', beide forderungen stellt Hermann im
eiugange seiner besprechung der griechischen gedichte des königs
Ludwig von Baiein auf.^" was nun die beschäftigung mit den grie-
chischen dichtem betrifft, so soll als erster und vornehmster unter
ihnen von den schülern der Homer gelesen werden, diesen platz hat
ihm vor Hermann bereits Friedrich August Wolf angewiesen, der
ihn als das A und das 0 der griechischen dichterlectüre bezeichnet,
und der bei einer andern gelegenheit sagt: 'in schola ex poetis
Graecis prope unus Homerus.'^' so allgemein aber auch seit Wolf
die Wertschätzung des Homer als schulschriftstellers geworden war,
so beklagt Hermann doch, dasz dessenungeachtet noch recht viele
den wahren nutzen der Homerlectüre für die schule nicht recht ein-
sähen.''^ ausführlich begründet er daher in den beiden berühmten
vorreden zu den Tauchnitz-uusgaben der Ilias und Odyssee''^, warum
ihm die lectüre des Homer gerade für anfänger ganz besonders
zweckmäszig erscheint, seiner ansieht nach eignen sich die Homeri-
schen gesänge einmal vortrefflich zur einführung in die dichtei'-
lectüre, weil sie so ungemein leicht verständlich sind, wie die be-
kannten Worte besagen ^^ : 'est Homerus Graecorum scriptorum multo
et facillimus et difficillimus: facillimus delectari cupientibus . . idque
Homerus ita facit, ut nee quae narrat obscura sint, nee dictione
utatur impedita.' zum andern ist ihre Sprechweise überaus schlicht
und einfach, wie wir das in den opusc. III 75 ausgesprochen finden:
'dicendi genus . , quo utitur, ita planum et simplex est, ut neque in
2ä dasselbe urteilt Ecksteiu a. a. o. s. 478.
''0 vgl. Jahns jahrb. f. philol. u. päd. bd. 14 1830 s. 165.
■" Eckstein a. a. o. s. 459.
•»2 vgl. opusc. III 74.
*^ abgedruckt im dritten bände der opusc.
*^ opußc. III 75. vgl. auch opusc. II 18.
0. Fiebiger: ein gutachten Gottfried Hermanns, 265
constructione verborura, neque in sententiis quidquam sit, quod
morari lectorem possit, nisi forte vel significationes verborum quo-
rundam, vel temporum modorumque ratio, vel vis particularum.'
gerade diese einfachheit aber musz der anfänger sich anzueignen
suchen, weil sie allein nach Hermanns vporten''^: 'per huius (i. e.
Horaeri) lectionem simplicitati illi adsuescimus, quae fundamentum
est verae accurataeque scientiae' die grundlage für ein gründliches
wissen bildet, denn nichts ist verkehrter als im anfang schrift-
steiler mit Schülern zu lesen, die geschraubt, dunkel und verworren
schreiben/* drittens läszt sich die griechische spräche nirgends
besser als am Homer studieren, denn, um mit Hermann zu reden ^^:
Linguae Graecae omnis ratio quasi radices suas in hoc poeta habet.'
und schlieszlich ist eine genaue kenntnis des Homer darum so
wichtig, weil die übrigen Schriftsteller mehr oder weniger aus dieser
quelle geschöpft haben. ""^
In welcher weise der lehrer die Homerlectüre einrichten soll,
darüber gibt Hermann in den opusc. HI 75 folgende ausführlichere
Weisung^': '(eo perducendi sunt discipuli), ut postquam ex tribus
quattuorve rhapsodiis formas verborum constructionumque regulas
a magistro acceperint, deinde reliqua ipsi oblectationis causa legere
possint. eoque fine totus iis perlegendus est Homerus.' diese
Weisung hat darum so groszen wert, weil Hermann in dieser frage
ganz aus eigenster erfahrung spricht, er selbst war nämlich von
seinem lehrer Dgen durch die lectüre von vier büchern der Hias in
das Studium des griechischen eingeführt worden und hatte sich eigen-
händig eine grammatik der Homerischen spräche zusammenstellen
müssen.^" und ebenso hatte er an sich die Wahrnehmung gemacht,
wie nutzbringend das fortgesetzte, vollständige lesen des Homer sei.
denn bei Jahn^' lesen wir, dasz er von sich glaubte, 'die Ilias mit
ausnähme des katalogs und einzelner gleichgültiger stellen , wo er
sich in den formein irren könne , aus dem gedächtnis herstellen zu
können', allerdings hat er seinen Homer auch gründlichst gelesen,
denn opusc. HI 81 erzählt er: 'aliquando Hiadem quater aut quin-
quies inter paucos dies perlegi, ut nunc rerum, nunc orationis, nunc
numerorum, nunc poetarum ingenii totiusque carminum coloris
diversitates adnotarem.' mit recht lautet darum sein urteiP*: 'si
Homeri . . multa aceurataque lectione in schola exercerentur pueri,
firmum et solidum nanciscerentur scientiae fundamentum.'
*^ opusc. III 77.
« opusc. III 77 f.
^' vgl. opusc. III 77. dieselbe ansieht vertritt Hermann in den
opusc. I 309 nnd II 18.
^« opusc. III 77.
*^ das nämliche wird opusc. III 80 empfohlen.
5° vgl. Jahn a. a. o. s. 5.
^' a. a. 0, s. 15.
^2 praef. edit. sec. Philoct. s. XIX.
266 0. Fiebiger: ein gutachten Gottfried Hermanns.
Auf den fürstenschulen^' ist die Homerlectüre übrigens ganz
im sinne Hermanns gepflegt worden, denn Rössler^* bemerkt aus-
drücklich in seiner schulgeschichte von Grimma: 'dasz jeder den
Homer ganz durchnahm, war selbstverständlich.' nur in einem
punkte stimmen die schulmänner der gegenwart nicht mit Her-
manns ansichten überein. denn während letzterer fordert, dasz das
Studium der griechischen spräche mit dem Homer begonnen werde,
sind die ersteren der meinung, dasz es zweckmäszig sei, wenn der
Schüler im an fang das attische an dem einfachen Xenophon lerne,
um dann bei gröszerer reife die Schönheiten Homerischer spräche
und dichtung mit wirklichem genusz zu verstehen. ^^
Auch für das griechische verlangt Hermann, dasz versübungen
mit den schülern angestellt werden, sie gelten ihm deshalb für
weniger schwierig als griechische stilübungen, weil die poesie^^
'durch das versmasz, durch dialekt, durch gewisse jeder gattung
eigne formen der wörter, der redensarten, der Wortstellungen, der
gedankenverbindung weit festere und engere schranken hat', und
erleichtern überdies das Verständnis der auszerordentlich manig-
faltigen und reich gegliederten griechischen versformen sehr, von
den Engländern kann Hermann das nicht genug rühmen"'', dasz sie
sich so viel in griechischen versen versuchen, und er fordert die
Deutschen in dieser hinsieht zur nachahmung auf. aber so leicht
es einem Hermann geworden sein mag, griechische verse zu liefern,
wie uns unter anderem seine musterhafte Übertragung einzelner
scenen des Wallenstein ins griechische beweist'®, für die schüler
boten freie griechische versübungen doch grosze Schwierigkeiten,
an den fürstenschulen sind daher freie griechische verse nur in prima
gemacht worden''', und in unsern tagen haben derartige schwere
Übungen gleich ganz aufgehört. '^'^
Im letzten abschnitte seines gutachtens führt Hermann aus,
in welcher weise die alten Schrift steller auf der schule am zweck-
mäszigsten gelesen und erklärt werden, in den Schulstunden soll
ausschlieszlich die sogenannte statarische lectüre zur anwendung
kommen, d. h. der lehrer soll das zu behandelnde Schriftwerk so-
wohl in sprachlicher wie in sachlicher hinsieht in der schule sorg-
fältig durchnehmen, da die schüler ohne diese anleitung, im anfang
wenigstens, schwerlich im stände sein dürften, einerseits die eigen-
art der fremden spräche zu begreifen und anderseits genau auf den
inhalt und gedankengang des zu lesenden Schriftstellers zu achten.
^3 über den betrieb der Homerlectüre an der Thomasschule im Jahre
1819 liegt uns ein bericht nicht vor.
" a. a. o. s. 242.
*ä vgl. Eckstein a. a. o. s. .369 fif.
56 Jahns Jahrb. f. phil. u. päd. bd. 14 1830 s. 165.
5' Jahns Jahrb. f. philol. u. päd. bd. 14 1830 s. 164.
58 Köchly a. a. o. s. 197 f.
'' Rössler a. a. o. s. 194.
60 Eckstein a. a. o. s, 488.
0. Fiebiger: ein gutachten Gottfried Hermanns. 267
eine richtige, dem bedürfnis angepasste behandlung der alten Schrift-
steller ist freilich keineswegs leicht. Hernoann verlangt von ihr®':
dasz sie 'überall das notwendige gibt und weder durch unnötiges
und ungehöriges vom vorliegenden gegenstände abführt, noch das,
was misverständnissen ausgesetzt ist, unberührt läszt' ; und weiter
heiszt es in der bekannten abhandlung de officio interpretis®': 'per
se planum est, imperfectam esse interpretationem, cui desit aliquid
eorum, quibus opus est. opus est autem iis, quae eum, cui quid ex-
plicatur, vel nescii-e scias, vel non sponte intellecturum credas, vel
aliter quam debeat accepturum suspiceris.' es sind das die näm-
lichen grundsätze, die lange vor Hermann bereits Johannes Sturm
aufgestellt hat, wenn er sagt®^: *ita properandum, ut necessaria non
praetereantur, ita commorandum, ut nihil nisi necessarium exer-
ceatur.' zu einer erschöpfenden schriftstellererklärung gehört nach
Hermann, dasz nicht nur grammatische fragen erörtert werden, son-
dern dasz sich damit sowohl eine eingehende besprechung der vor-
kommenden antiquarischen merkwürdigkeiten, wie eine verständige
ästhetische betrachtung des gelesenen verbindet, darum sollen diese
antiquarisch-ästhetischen excurse auch wenn irgend möglich gleich
unmittelbar im altsprachlichen Unterricht angestellt und nicht erst
für die einschlägigen anderweitigen unteri'ichtsstunden aufgespart
werden, in unsern tagen wäre dazu überhaupt keine möglichkeit.
aber zu anfang dieses Jahrhunderts waren an den höheren schulen
für griechische und römische antiquitäten, für archäologie, mytho-
logie und philosophie in der regel besondere lehrstunden angesezt/*
dasz Hermann auf eine sorgfältige berücksichtigung der realien, wie
auf die Würdigung der ästhetischen Schönheiten im gedankenausdruck
bei der altclassischen lectüre so viel gewicht legt, ist ein groszer
fortschritt im vergleich zu der anschauungsweise früherer zeiten , in
denen die erklärung der alten Schriftsteller fast ausschlieszlich im
abfragen von formen und durchsprechen und ableiten grammatischer
regeln bestand, die wichtige forderung, sich bei der schriftsteller-
interpretation nicht mit bloszer worterklärung zu begnügen, ist an
der Meiszner fürstenschule übrigens bereits 1812 erhoben worden,
denn die damals erneuerte Schulordnung enthält unter anderem die
bestimmung, dasz künftig die wortexegese eingeschränkt werden
solle und die realien dafür in den Vordergrund treten möchten.®^ da-
gegen scheint 1819 an der Thomasschule im wesentlichen noch die
alte praxis befolgt worden zu sein, denn in dem berichte des lehrers
Voigtländer heiszt es: 'bei der erklärung der schriftsteiler war mein
erstes bestreben, jedes wort, das erklärungsfähig war, . . entweder
nach der Ordnung der Wörter im texte oder nach der construction,
6» Wiener jahrb. bd. 124 1848 s. 228.
"^ abgedruckt in den opusc. VII 101.
" bei Eckstein a. a. o. s. 300.
«< Flathe a. a. o. s. 330; Rössler a. a. o. s. 193.
•■■5 Flathe a. a. o. s. 327 und 338.
268 0. Fiebiger: ein gutachten Gottfried Hermauns.
die allemal vorhergieng, . . zu erklären, d. h. teils nach der etymo-
logischen form, teils nach seiner bedeutung, und zwar zuerst nach
seiner eigentlichen, woraus dann die für die jedesmalige stelle
passende aufgesucht wurde, zu fragen, dann die vorkommenden
gegenstände aus mythologie, geschichte, antiquitäten kürzlich , da
grammatik immer das vorzüglichste ist, zu berühren und nun die
Übersetzung so weit als möglich wörtlich folgen zu lassen . . . end-
lich wurden auch Schönheiten im ausdruck, gedanken und der-
gleichen nicht ganz übergangen.'
Auszer dem statarischen lesen in der schule sollen aber die
Schüler zu hause zu eifriger cursorischer privatlectüre angehalten
werden, so war es auch an den fürstenschulen brauch, denn Flathe*^
wie Rössler" berichten übereinstimmend, dasz in der regel zu-
nächst einige abschnitte eines Schriftstellers in der schule genau ge-
lesen und erklärt wurden, worauf dann die schüler das übrige zu
hause cursorisch lasen, wenn Hermann anderwärts in seinen Vor-
lesungen über encyclopädie*^ empfiehlt, einen Schriftsteller das erste
mal möglichst cursorisch zu lesen, um so von dem ganzen eine
Vorstellung zu bekommen, oder wenn er in der epitome doctrinaa
metricae*^ sagt: ^ita debemus accuratam illam lectionem a cursoria,
quam vocant, disiungere, ut a cursoria illa et incipiendum et in ea
finiendum esse meminerimus. nam incipiendum ab ea est, ut men-
tem prius ingeniumque scriptoris cognoscamus, quam de singulis
eins locis dictisve iudicemus, et finiendum in ea, quia operosiore illa
et accuratiore lectione hoc ipsum consequi studemus, ut sine difficul-
tate legere scriptorem possimus', so kommen diese Vorschriften ledig-
lich für die Universität, nicht aber für die schule in betracht. denn
für den schüler ist ein erstmaliges orientierendes cursorisches lesen
darum nicht notwendig, weil seine lectüre vom lehrer, der selbst-
verständlich eine genauere bekanntschaft mit dem zu lesenden Schrift-
steller besitzen musz, überwacht und geleitet wird.
Damit bin ich mit meiner besprechung des Hermannschen gut-
achtens zu ende, es enthält, wie wir gesehen haben, eine fülle von
gedanken, die in Hermanns Schriften entweder in ähnlicher form
wiederkehren oder durch sie treffend erläutert werden; und wir
müsten Hermann sicherlich auch dann für den Verfasser jenes eigen-
artigen Schriftstückes halten, selbst wenn uns jene auf s. 257 be-
sprochene randbemerkung nicht zu hilfe käme, die Hermanns autor-
schaft auszer frage stellt.
Ich lasse nun Hermanns gutachten selbst folgen.
ß« a. a. o. s. 327.
6' a. a. 0. s. 24 1.
** bei Ameis a. a. o. s. 35.
6» edit. a]t. 1844 s. VIII f.
0. Fiebiger: ein gutachten Gottfried Hermanns. 269
TJber den lateinischen und griechischen Sprachunterricht
insbesondere.
Was nun die erlernung der lateinischen und griechischen spräche
anlangt, so wird in den beiden untern classen, wo blosz das mecha-
nische der spräche und grammatische festigkeit erworben werden
soll, auf den geist aber noch gar keine rücksicht genommen werden
kann, natürlich mehr arbeit des lehrers erfordert, da hier, was dem
Schüler aufgegeben wird , fast blosz in auswendiglernen und über-
setzen, und höchstens auch in einigen kleinen versuchen zu aufsätzen
bestehen kann: so ist das durchsehen und corrigieren solcher arbeiten
unvermeidlich; aber eben deshalb erfordern diese classen am meisten
die beihilfe von collaboratoren. es läszt sich jedoch auch hier die
Sache für den lehrer weniger mühsam und für den schüler mit über-
wiegendem vorteil einrichten, wenn die aufsätze nicht zu hause cor-
rigiert und dem schüler zurückgegeben, sondern in besonderen
corrigierstunden vor der ganzen classe und mit aufrufung einzelner
schüler zur anzeige und berichtigung der fehler durchgegangen
werden.
In den beiden obern classen, bei denen die festigkeit in der
grammatik als schon erworben anzusehen ist, kommt es nun auf die-
jenige behandlung der sprachen an, wodurch man in ihren geist ein-
geführt werden soll, hierzu gibt es schlechterdings nur einen ein-
zigen weg, und dieser besteht in dem zvveckmäszig angeordneten
selbstlesen nicht vieler, sondern einiger wenigen classiker, und
dieser nicht abwechselnd noch stückweis, sondei-n nur eines ein-
zigen auf einmal, welcher anhaltend zwar mit aufmerksamkeit, aber
cursorisch, dagegen, um die etwaigen nachteile des cursorischen
lesens zu vermeiden , nach befinden wohl auch wiederholt zu lesen
ist. durch ein solches lesen wird man mit einem Schriftsteller all-
mählich, ohne zu wissen wie, vertraut; das gemüt wird mit ihm be-
freundet und durch ihn erwärmt; durch dieses belebte gefühl prägt
sich ihm das eigentümliche und charakteristische desselben immer
tiefer ein; und indem das fortgesetzte und wiederholte lesen das ge-
schäft immer leichter und angenehmer macht, entsteht von selbst
und unvermerkt ein typus in der seele, der eben so fester und
sichei-er ist, je weniger er sich in deutliche begriffe auflösen läszt.
ist erst ein solcher typus entstanden, so hat er von selbst auf das,
was man spricht oder schreibt, einen unwillkürlichen einflusz; man
ahmt nicht mehr nach, sondern man hat sich das in tausend kleinen
Zügen bestehende wesen des alten angeeignet; man drückt es, ohne
zu wissen oder zu wollen, in dem was man selbst macht, wieder aus;
und selbst das, was bei den alten nicht vorkommt, weisz man auf
die art zu denken und darzustellen, wie er es gedacht und dar-
gestellt haben würde, ein solches allmählich eingeprägtes bild eines
einzigen Schriftstellers ist der erste wahre schritt, den geist des
altertums zu erkennen, indem dann wieder ein anderer Schriftsteller
270 0. Fiebiger: ein gutachten Gottfried Hermanns.
ebenso gelesen wird , tritt nun auch dieser in seiner individualität
lebhaft hervor; und wenn so mehrere nach und nach gelesen und
aufgefaszt werden, entsteht ein richtiges gefühl sowohl dessen, was
den allgemeinen Charakter des classischen altertums ausmacht, als
der besonderen Verschiedenheiten desselben, hieraus geht eine rich-
tige beurteilung dessen hervor, was an jedem ort und zu jedem tone
gehört, und eine gewandtheit, überall das rechte zu treffen; und so
bildet sich das, was man stil nennt, eine der sache angemessene,
klare, in sich selbst harmonische darstellungsart, die ganz von dem
verschieden ist, was man gewöhnlich zu sehen bekommt, von der
undeutlichen, verworrenen, bunten und abgeschmackten zusammen-
raffung alter und neuer, poetischer und prosaischer phrasen, die,
wie antik immer jede einzelne für sich , doch zusammen nur etwas
widersinniges, geschmackloses und allem antiken Charakter gänzlich
widerstreitendes geben.
In der ersten hälfte der periode nun, wo der schüler mit dem
geist der alten vertraut werden soll, sind stilübungen eher nach-
teilig als nützlich, indem nicht eher eine nachbildung möglich ist,
als bis das urbild richtig aufgefaszt ist, und mithin jeder versuch
etwas nachzubilden nicht blosz verunglücken musz, sondern durch
die Überlegung, die er erfordert, die aufmerksamkeit gewöhnlich
auf auszerordentliche dinge leitet, wodurch selbst die richtige auf-
fassung des Urbildes erschwert, gehindert und auf eine art begonnen
wird, die, von einer schiefen ansieht ausgehend, den wahren ge-
sichtspunkt oft auf immer verrückt, es sollten daher wohl in der
zweiten classe, als welche eigentlich die erste hälfte dieser periode
umfaszt, schriftliche stilübungen gänzlich ausgesetzt bleiben, desto
mehr aber auf privatlesen guter zur bildung des stils geeigneter
Prosaiker gedrungen werden.
Allein, da es nicht ratsam sein würde, die vorher erworbene
fähigkeit sich grammatisch richtig auszudrücken, ungeübt ruhen zu
lassen, und nicht vielmehr zu den späterhin vorzunehmenden stil-
übungen gewissermaszen vorzubereiten: so dürfte hier das zweck-
mäszigste sein, einzelne deutsch übersetzte perioden aus guten clas-
sikern zu dictieren und diese in den lehrstunden selbst ins latei-
nische übertragen zu lassen , wobei dann jedesmal das original als
muster verglichen und die schüler auf die gründe, warum etwas so
oder anders ausgedrückt worden, aufmerksam gemacht würden.
Nicht minder können zu eben diesem behufe poetische themata
in Versen von leichterer art aufgegeben werden, die, wie sie auch
anfangs ausfallen mögen, doch nicht nur als eine ganz verschiedene
gattung von Schreibart, dem prosaischen stil wenig abbruch thun,
sondern auch einerseits durch die auf das metrum und die prosodie
zu wendende aufmerksamkeit zu erlernung dieser sehr notwendigen
kenntnisse dienen, anderseits für eigentliche poetische Übungen
gerade solche Vorübungen sind, wie die grammatikalischen Übungen
der unteren classen für die eigentlichen stilübungen.
0. Fiebiger: ein gutachten Gottfried Hermanns. 271
Die eigentlichen stilübungen nun gehören nach diesen ansichten
für die erste classe, nachdem sich der schüler in secunda durch
fleisziges und zweckmäsziges privatlesen dazu geschickt gemacht
hat. indessen musz auch in dieser classe dieses privatlesen stets
fortgesetzt werden, bei den schriftlichen stilübungen aber würde
sehr darauf zu sehen sein, dasz der lehrer, der solche ausarbeitungen
notwendig zu hause durchsehen müste, nicht auf einmal zu viele
aufsätze zu corrigieren hätte, er würde daher wöchentlich nur eine
gewisse anzahl zu erhalten und , nachdem er dieselben corrigiert
hätte, sie ebenso, wie oben bei den grammatikalischen Übungen der
untern classe bemerkt worden, in besonderen stunden mit bemerk-
lichmachung des fehlerhaften durchzugehen haben, die poetischen
Übungen sind zwar von allen schülern ohne ausnähme zu verlangen;
aber zu eigentlichen poetischen arbeiten dürften nur diejenigen,
welche anlagen zur poesie haben, nach vorhergegangenem fleiszigen
lesen der dichter, vorzüglich anzuhalten sein.
Ähnlich, obwohl mit einiger Verschiedenheit, verhält es sich
mit der griechischen spräche, da hier die Übung im schreiben nichts
wesentliches, sondern nur ein hilfsmittel zu schnellerem und tieferem
eindringen in das wesen der spräche ist, so kann in den obern classen,
wo die schüler mit dem geiste des altertums bekannt werden sollen,
die bei der lateinischen spräche erforderliche behandlungsart nicht
mehr als richtschnur dienen, die lateinische spräche ist ihrer natur
nach eine prosaische spräche, und ihr charakter würde daher aus der
prosa zu schöpfen sein, auch wenn sie nicht zum behuf des Sprechens
und prosaischen Schreibens erlernt würde, die griechische spräche
hingegen ist ursprünglich von der poesie ausgegangen, und durch
diese gestaltet worden; ihre prosa ist nur die zur höchsten Voll-
kommenheit gereifte frucht langer und manigfaltiger ausbildung
und eben deshalb mit unendlichen Schwierigkeiten verbunden, wenn
daher die griechische spräche so erlernt werden soll, dasz man in
ihr wesen und ihren geist eindringe, so musz, wie überwiegend auch
der nutzen ihrer prosa für die Wissenschaften ist, doch mit dem der
anfang gemacht werden, wo bei den wenigsten Schwierigkeiten der
griechische geist am bestimmtesten und lebendigsten erscheint,
dieser geist nun, dessen wesen in der naturgemäszesten einfachheit
und edelsten Ungezwungenheit besteht, und der zugleich, da die
Römer nur nachahmer der Griechen sind, der geist des ganzen
classischen altertums ist, kann nirgends mit dieser klarheit und
leichtigkeit aufgefaszt und ergriffen werden, als in dem Homer, den
die Griechen selbst als ihr ideal anerkennen und von dessen lesen
alle bildung bei ihnen ausgieng. es ist hier nicht der ort, die gründe
für diese behauptung ausführlicher zu entwickeln ; ausgemacht aber
ist es, dasz ein mit dem Homer begonnenes Studium der griechischen
Sprache für die richtige auffassung des wesens und geistes des ge-
samten altertums ebenso entschiedenen und in dem ganzen leben
fortwirkenden nutzen habe, als das gegenteil grosze und nie ganz
272 0. Fiebiger : ein gutachten Gottfried Hermanns.
zu verwischende nachteile hat. es ist demnach höchst wichtig, dasz
in secunda anleitung zum lesen des Homer gegeben, der dichter
selbst aber privatim von den schillern ganz durchgelesen und dies
als unnachläszliche notwendigkeit angesehen werde.
Auch das bekanntmachen der schüler mit der hellenischen
spräche dürfte eben nicht von nutzen sein, dafür wären Übungen
in griechischen versen anzusetzen, eine sache die leichter ist als
griechische prosa und zu erlernung der von so vielerlei regeln und
feinheiten abhängigen prosodie ungemein viel beiträgt.
Es dürfte wohl nicht geraten sein , classische autoren in den
lehrstunden cursorisch zu behandeln, teils ist schon an sich nicht
klar, wie eine cursorische behandlung dazu beitragen soll, den reich-
tum und genius der spräche besser kennen zu lernen, da hierzu
gerade das gegenteil erfordert wird, nämlich ein längeres verweilen
bei dem, was man, wenn man blosz auf das verstehen des sinnes im
ganzen sieht, übergehen würde; teils würde ein cursorisches lesen
durch hier und da eingestreute, meistens rhetorische und ästhetische
bemerkungen, auf keinen fall zur beförderung gründlicher kenntnisse
und richtiger bestimmter ansichten dienen, vielmehr ist nach reif-
lichem erachten alles cursorische lesen lediglich dem privatfleisze zu-
zumuten, von den lehrstunden aber gänzlich auszuschlieszen. denn
nicht nur, dasz die gründliche grammatische und antiquarische be-
handlung stets fortgesetzt werden musz, so ist sie auch gerade das, was
der schüler für sich selbst nicht erreichen kann, sondern wozu er not-
wendig des lehrers bedarf; nicht minder erfordert die rhetorische
und ästhetische beurteilung eines Schriftstellers oder einzelner stücke
desselben , wenn sie nicht in leere ausrufungen oder seichte andeu-
tungen ausarten soll, ebenso gut, wie das grammatische und anti-
quarische, eine genaue, klare und ausführliche auseinandersetzung.
Es können auch nicht immer die Sacherklärungen füglich bei
Seite gesetzt und auf den dahin einschlagenden anderweitigen Unter-
richt verwiesen werden, und nur insofern, als jener anderweitige
unterriebt für den einzelnen fall hinreichend sein würde , was oft
nicht der fall ist, indem viele Sacherklärungen ein tieferes eingehen
in das einzelne notwendig machen, als in dem anderweiten all-
gemeinen Unterricht verlangt werden kann.
Dagegen dürfte das privatlesen , welches seinem oben an-
gegebenen zwecke nach cursorisch sein musz, zu befördern, zu leiten
und unter gehöriger aufsieht zu erhalten, es sehr zweckmässig sein,
dasz teils in besonderen stunden die schüler über das, was sie ge-
lesen, examiniert, teils ihnen das befragen des lehrers über das, was
sie nicht verstanden, zur pflicht gemacht würde, eine pflicht, deren
erfüUung zu bewirken, eben jene esamina ein sehr gutes mittel zu
sein scheinen.
Dresden. Otto Fiebiger.
A. Messer: Quintilian als didaktiker. 273
(16).
QUINTILIAN ALS DIDAKTIKER UND SEIN EINFLÜSZ
AUF DIE DIDAKTISCH- PÄDAGOGISCHE THEORIE DES
HUMANISMUS.
(Fortsetzung.)
Zweiter abschnitt.
Die wiederauffindung der vollständigen institutio oratoria
und ihre bedeutung.
1. Quintilians institutio oratoria war i m mittelalter nicht
ganz unbekannt, in den karolingischen zeiten bemüht sich Ser-
vatus Lupus, der abt von Ferriöres, ein exemplar zu erhalten.^®'
schon bei ihm erscheint, wie später bei Petrarca, das interesse für
Quintilian in Verbindung mit einer ausgesprochenen Vorliebe für
Cicero, auch Wibald von Stablo hat die institutionen gekannt
und als lehrmittel der rhetorik geschätzt, ebenso Petrus von
Blois.^*^ aber in Italien scheinen sie lange wie verschollen ge-
wesen zu sein. Petrarca erhielt von Lapo da Castiglionchio eine
handschrift der institutionen zum geschenk.^^^ er hatte vorher schon
die unter Quintilians namen erhaltenen declamationen kennen ge-
lernt ^^*, ihnen aber wenig geschmack abgewinnen können, um so
gröszer war jetzt seine freude. in seinem 'Orkusbrief' vom 7 december
1350 faszt er sie in die worte: olim tuum nomen audieram et de tue
aliquid legeram, et mirabar unde tibi nomen acuminis. sero in-
genium tuum novi: oratoriarum institu tionum liber heu!
discerptus et lacer venit ad manus meas . . . diu tuis in rebus
erravei-am : errori finem advenisse gratulor. vidi formosi corporis
artus effusos; admiratio animum dolorque concussit. et fortasse
nunc apud aliquem totus es, et apud talem forsitan, qui suum hos-
*^' Beati Servati Lupi opera ed. Balurius. edit. II. Antwerp.
1710. epist. 1. 8. 62. 103. Voigt^ a. a. o. II 331 f., dem ich auch das
vorstehende citat entnehme, beiläufig sei hier bemerkt, dasz auch
Hieronymus in seinem brief de institutione filiae (epistula 107 ad
Laetam) Quintilian sehr ausgiebig benutzt hat (eine Übersetzung
des briefes gibt C. Ernesti in der Sammlung der bedeutendsten päd.
sehr. bd. III, Paderborn 1889).
"2 Voigts I 238, der hinweist auf Wibaldi epist. 167 ed. Jaffe monum.
Corbei. s. 284. Ciceronis opp. rec. Orelli, edit. alt. vol. 111 s. VIII.
263 Pierre de Nolhac. Petrarque et l'humanisme. Paris 1892 (biblio-
th^que de Tecole des iiautes e'tudes. sciences philologiques et histori-
ques. fascicule 91) s. 281—90, dem ich auch die folgenden auf Petrarca
bezüglichen angaben entnehme.
*^* dasz Petrarca in den anfangsworten des briefes auf die decla-
mationen anspielt und nicht auf den geistvollen dialog de causis
corruptae eloquentiae, der ja ebenfalls bisweilen dem Quintilian zu-
geschrieben wurde, hat Nolhac (s. 282) wenigstens sehr wahrscheinlich
gemacht.
N. Jahrb. f. phil. u. päd. 11, abt. 1897 hft. 6. 18
274 A. Messer: Quintilian als didaktiker.
pitem habet incognitum! quisquis in te reperiendo fortunatior
fuerit, sciat se rem magni pretii possidere quamque si noverit primas
inter divitias locet . . . opto te incolumem videre et, sicubi totus
es, oro ne diutius me lateas.
In dem briefe spricht die erste begeisterung über den ge-
winn eines solchen Schatzes, der um so wertvoller erscheinen muste,
als Petrarca die wichtigsten rhetorischen Schriften Ciceros (de ora-
tore, Brutus, orator) nicht besasz,*^^
Hatte ja doch auch der majestätische klang und der süsze Wohl-
laut der Tullianischen rede ihn schon als knaben berauscht, seine Ver-
götterung Ciceros war seitdem durch alles gewachsen , was er von
ihm oder über ihn las. jetzt lernte er auch Quintilian als Verehrer
des meisters kennen, muste er ihm darum nicht von vorn herein
als geistesverwandter und freund erscheinen? er schreibt in seinem
alter: nil mihi fere nisi unus Cicero sapiebat, praecipue ex quo
Quintiliani institutiones oratorias legi."® schon daraus
sehen wir, dasz seine hochschätzung Quintilians von dauer war.
noch deutlicher zeigen dies die randbemerkungen seines exemplars,
das sich jetzt in Paris befindet.*''' dieselben sind am zahlreichsten
in den büchern X — XII, am wenigsten häufig in den büchern II — V.
der verschiedene Inhalt läszt dies sehr erklärlich erscheinen: dort
die geistvollen ausführungen über die aneignung vollkommener
sprachbeherschung durch vielseitige lectüre, schreib- und rede-
übungen im zehnten buch , die feinsinnigen bemerkungen über den
decor oratorius, die memoria und die actio im elften und endlich
die darstellung der sittlichen und wissen>chaftlichen ausbildung des
redners auf dem höhepunkt der rednerischen Vollkommenheit im
zwölften, hier dagegen meist ziemlich trockene rhetorisch-technische
partien, die die grosze verderbtheit des textes noch weniger an-
ziehend erscheinen lassen muste. die bemerkungen selbst sind zum
teil lediglich begeisterte ausrufe, wie : graviter, urbane et eleganter,
magnifica exhortatio, apertissima similitudo, subsiste et vide usw.,
teils zeigen sie, wie Petrarca seine lectüre zu den damaligen Verhält-
nissen in beziehung setzte, zu I 1, 8 (nihil enim peius est iis, qui,
paulum aliquid ultra primas literas progressi, falsam sibi per-
suasionem induerunt, von Quintilian in bezug auf die paedagogi
gesagt) bemerkt er: notate hoc, scholastici de nihilo tumescentes;
zu I 2, 6 (dem scharfen tadel der damaligen, verweichlichten kinder-
erziehung): notate nimium indulgentes parentes; zu X 2, 4 (iraitatio
per se ipsa non sufficit, vel quia pigri est ingenii contentura esse
iis, quae sint ab aliis inventa . . .): hinc illud quod est in scholastica
disciplina. das wort: nihil crescit sola imitatione (X 2, 9) ist ihm
so aus dem herzen gesprochen , dasz er es nochmals an den rand
schreibt, und gelegentlich der bemerkung, dasz der wahre nach-
**^ sie kamen erst 1422 iu Lodi zum vorscbein. Voigt ^ I 245.
•" epist. rer. senil. XVI 1 (opera omnia. Basileae 1581) s. 984.
*67 gg igt ^er codex Parisinus 7720, vgl. Nolhac s. 284.
A, Messer: Quintilian als didaktiker, 275
ahmer auch über einen Demosthenes hinausgeben dürfe, braust er
auf: notate, asini, quos nee nomine digner.'^-
Petrarcas exemplar, eine bandschrift aus der mitte des 14n Jahr-
hunderts, gehört zu jener altern classe der Quintilian-handschriften,
denen durch ausfall verschiedener blätterlagen etwa zwei siebente!
des textes fehlen.""^ sie enthält I 1, 6 (verum nee de patribus
tantum loquor) —V 14, 12; VIII 3, 64— VIII 6, 17; VIII 6, 67
— IX 3, 2; X 1, 107— XI 1, 71; XI 2, 33- XII 10, 43. es fehlten
also hauptsächlich teile, die speciell rhetorisch- technischen er-
örterungen gewidmet waren, so in der groszen lücke von V 14, 12
— VIII 3, 64 der gröste teil des schluszcapitels von buch V über
Enthymem und Epicheirem, das buch VI, welches die peroratio, die
affecterregung, die anwendung von scherz und witz, die gerichtliche
debatte und die bedeutung von urteil und Überlegung (iudicium) bei
der rednerischen thätigkeit behandelt, ferner buch VII, das mit
seinen sehr ins einzelne gehenden erörterungen über die disposition
ganz dem genus iudiciale angehört, endlich buch VIII bis fast an
das ende des dritten capitels, also von der darstellung der elocutio
die ausführungen über latinität und deutlichkeit des ausdrucks und
teilweise die über den redeschmuek. dagegen waren die partien, die
vorzugsweise allgemein didaktischen ausführungen gewidmet sind,
mit verhältnismäszig geringen lücken vorhanden, so fehlten z. b. im
ersten buch auszer der vorrede nur die bemerkungen über die durch-
schnittlich gute beanlagung der kinder und über die notwendigkeit
einer sorgfältigen auswahl der ammen , deren Sprechweise auch zu
berücksichtigen sei. die kenntnis des buches scheint jedoch
wegen seiner verderbten und unvollständigen gestalt
zunächst nicht in weitere kreise gedrungen zu sein, ob
Boceacio eine abschrift besessen ist sehr zweifelhaft."" dercanzler
Salutato, das haupt des Florentiner humanistenkreises um die
wende des Jahrhunderts, kannte Quint. in seiner verstümmelten ge-
stalt"', seine hoflfnung aber, aus Frankreich eine vollständige band-
schrift zu erhalten, erwies sich als trügerisch."^ Gasparino da
Barzizza, der Stifter der schule des Ciceronianismus, der später
auch zuerst mit einem lehrbuch der rhetorik hervortrat"', machte
sich daran, das fehlende aus eigner erfindung zu ergänzen."''
^*8 interessant sind auch die bemerkung^en über sich selbst, zu
denen ihn die lectüre veranlaszt. eine anzahl bei Nolhac s. 288 f.
^^^ diese handschriftenclasse, als deren archetypus der codex
Bernensis 351 aus dem anfang des zehnten Jahrhunderts gilt, ist ver-
treten durch den Ambrosianus II (sig^natur F 111 sup.) den codex
Joannensis, 3 Parisini (7719. 7720 [die bandschrift Petrarcas] 7722) und
2 Vossiani (1 und 3) in Leyden. C. Halm, die textesquellen der
rhetorik des Q. sitzg.-ber. der Münchner akademie 1866. bd. 1 s. 493 S.
weitere iitteratur über die handschriften bei Teuffei, gesch. d. röm.
litteratur.
«'" Nolhac s. 281 u. anm. 2. "i ebd. s. 281.
"* Voigt a. a. o. I s. 238 und anm. 3.
^''^ a. a. o. ^'^ a. a. o.
18*
276 A. Messer: Quintilian als didaktiker.
2. Aus dieser einen thatsacbe läszt sich schon schlieszen, wie
grosz die freude der humanisten sein mochte, als die ahnung, die
Petrarca in dem oben erwähnten briefe ausgesprochen, sich buch-
stäblich als Wahrheit erwies, indem Poggio in der kloster-
bibliothek von St. Gallen in staub und moderein voll-
ständiges exemplar auffand."^ es geschah dies im winter
1415 auf 1416."* o lucrum ingens! schreibt Lionardo Bruni an
Poggio auf die freudige künde hin, insperatum gaudium! ego te,
Marce Fabi, quando te integrum aspiciam! et quantus tu mihi tum
eris! quem ego quamvis lacerum crudeliter ora
ora manusque ambas populataque tempora raptis
auribus et truncas inhonesto vulnere nares [Aen. VI 495 ff.]
in deliciis habebam. oro te, Poggi, fac me quam cito huius desiderii
compotem, ut, si quid humanitus impendeat, hunc prius viderim,
quam e vita discedam. Quintilianus, rhetoricae pater et oratoriae
magister eiusmodi est, ut quum tu illum diuturno ac ferreo bar-
barorum carcere liberatum huc miseris, omnes Hetruriae populi con-
currere gratulatum debeant. ^^' wie bezeichnend spricht sich hier
die damals herschende Schwärmerei für die altrömische litteratur
aus! noch ein anderer brief mag hier, wenigstens teilweise, eine
stelle finden, der in anlehnung an Quintilian"* einen gedanken aus-
führt, der uns in der folge immer und immer wieder in den päda-
gogisch-didaktischen Schriften der humanisten entgegen tritt, in
einem brief vom 15 december 1417"® erzählt Poggio dem Baptista
Guarino von seinem funde. darin heisztes: nam quid est, per Deum
immortalem, quod aut tibi aut caeteris viris possit esse iucundius,
acceptius, gratius, quam cognitio earum rerum, quarum commercio
doctiores efßcimur et, quod maius quiddam videtur, elegantiores?
nam quum generi humano rerum parens natura dederit intellectum
ac rationem , tamquam egregios duces ad bene beateque vivendum,
quibiis nihil queat praestantius excogitari, tarnen haud scio an sit
omnium praes tantissimum , quod ea nobis elargita est usum
rationemque dicendi, sine quibus nee ratio ipsa neque
intellectus quidquam ferme valerent! solus est enim
2" a. a. 0. s. 237 f.
*'ß Poggio schrieb den codex in Constanz, wohin er ihn mitnehmen
durfte, in 53 tagen mit eigner band ab, und zwar wie er selbst in seiner
handschrift bemerkt scde apostolica vacante, also zwischen 24 mai 1415
und 11 nov. 1417 (Voigt I s. 238 anm. 5). der ausflug nach St. Gallen
hatte aber im winter stattgefunden (Voigt I s. 237). es musz dies der
winter 1415 auf 16 gewesen sein; denn schon am 13 sept. 1416 ant-
wortet Lionardo Bruni von Florenz aus auf die erste benachrichtigung
von den St. Gallener funden (Voigt I s. 237 anm. 2j.
"■^ ep, IV 5 (Leonardus Brunns [Arretinus] epi.stolarum libri VIII
reo. Mehus. p. I. II Florentiae 1741). I s. Hl ff.
»^8 II 16, 12—17.
*^ä ep. 1 5 (Poggius, epistolae rec. Thomas de Tonellis vol. I,
Florentiae 1832).
A. Messer: Quintilian als didaktiker. 277
sermo, quo nos utentes ad exprimendam animi virtutem, a reli*
quis animantibus segregamur.
Anfang april 1417 schreibt Bruni von Florenz aus an Poggio:
Quintilianus tuus laboriosissime emendatur; permulta sunt enim
in nostro vetusto codice, quae addenda tue videantur. sed
in quibus locis vetustus deerat . . plerisque in locis insanabilis
morbus est.^'°
Man wird annehmen dürfen, dasz sich nunmehr die kenntnis
Quintilians rasch verbreitete. Valla mochte besonders die aufmerk-
samkeit auf ihn lenken, da er es in seiner erstlingsschrift (um 1428)
wagte, ihn sogar über Cicero zu stellen'®', 'was freilich die her-
gebrachte Schätzung des letzteren nicht zu beeinträchtigen ver-
mochte.
Spätestens um die mitte des Jahrhunderts wurde Quintilian
auch in Deutschland wieder bekannt, in einem briefe aus dem jähre
1454 eifert Gregor Heimburg gegen 'Quintilians redeblümchen' ^'^
und als 1456 von der artistenfacultät in Heidelberg 56 bände
römischer autoren gekauft wurden, befand sich auch die institutio
darunter.*®^ — Für die spätere zeit wird ihre Verbreitung bezeugt
durch die grosze anzahl von drucken, die sich an die editio prineeps
(Rom 1470) in rascher folge anschlössen.^®*
3. Vergerio ist, soweit uns bekannt, der erste der italieni-
schen humanisten , der die bildung und erziehung zum gegenständ
einer besonderen schrift gemacht hat.^®' ihre Vollendung fällt in die
2»o ep. IV 9 Mehus a. a. o. I s. 120. — Über das Verhältnis des
vetustus codex zu der handschrift Poggios schreibt Bruni in dem vor-
her citierten briefe (IV 5) : in Lac inventione tua scito maius lucrum
factum esse, quam tu sentire videaris, Quintilianus enim prius lacer
atqne discerptus cuncta membra sua per te recuperabit. vidi enim
capita librorum, totus est, cum vix nobis media pars et ea ipsa
lacera superesset, die worte media pars aollen hier wohl bedeuten:
die hälfte, denn wollte man sie übersetzen: das mittlere stück, so
würde dies auf eine handschrift von dem umfange des exemplars
Petrarcas nicht passen , da hier im ersten buch nur wenig fehlt und
auch das letzte fast vollständig vorhanden ist. oder sollte man in
Florenz eine noch verstümmeitere handschrift besessen haben als
Petrarca?
^^' vgl. a. a. 0. I^ s. 464. — Auch einen commentar zu der institutio
hat Valla geschrieben. Voigt II ^ s. 392.
^'^^ Voigt II 3 s. 288.
2«3 Voigt IV s. 296.
^"^ vgl. die bibliographischen werke von Hain und Panzer.
^^'' das von mir benutzte exemplar hat den titel: Petri Pauli Vergerii
ad Ubertinum Caesariensem de ingenuis moribus opus incipit foeliciter
(Panzer, aun. typ. I s. 247 nr. 34 [od. 28]. Hain II s. 482 nr. 15991).
die schrift umfaszt 25 blätter in 8° (mit moderner bleistiftzählung). in
demselben bändchen ist enthalten: Plutarchus de liberis educandis in
der Übersetzung des Guarino; Hieronymi praesbiteri de otüciis liberorum
erga parentes (2 blätter); Magni Basilii de institutis iuvenum über,
übersetzt von Leonardus Aretinus. am Schlüsse steht: impraessum
Brixie per Boninum de Boninis de Ragusia anno domini MCCCCLXXXV
die VI decembris.
278 A.Messer: Quintilian als didaktiker,
jähre 1402 bis 1404.^^® der Verfasser war ein vielseitig gebildeter
mann, nicht nur in der artistenfacultät, sondern auch in der juristi-
schen und medicinischen hatte er akademische grade erworben. ^-^
dem entsprechend hat er auch seinen stoff mit weitem blick behan-
delt, körperliche, geistige und sittliche bildung in gleicher
weise berücksichtigt, auf die Verschiedenheit der Individualitäten
wird sogleich im anfange eingegangen; die intellectuellen und
ethischen naturanlagen versucht er auf körperliche beschaffenheiten
zurückzuführen; der geistigen bildung weist er einen sehr reichen
inhalt zu; das interesse des Staates an tüchtiger erziehung und bil-
dung wird betont, die spräche ist klar und gewandt. Salutato, dem
er die schrift übersandt hatte, begründet das lob, das er ihr spendet,
in seinem briefe an den Verfasser mit den worten: non enim mihi
Visus es adulescentulum instituere, sed ad omnem vitae rationem et
aetatis humanae differentias virum perfectissimum erudire. placet
Stylus, placet rara penes modernes soliditas, quae sobriam redolet
vetustatem, placet dispositio, quae veluti gradibus procedens rerum
naturam sequitur nee omittit aliquid nee perturbat. et, ut breviter
loquar, carissime Petre Paule, quod ad institutionem vitae pertinet
Ciceronem nostrum et Ambrosium tractantes de officiis exhausisti.'*^
286 der terminus a quo ergibt sich aus einer an den prinzen Uüer-
tinus von Carrara gerichteten stelle (fol. 216): apud Brixiam cum
unper esses in exercitu Germanorum, progredi ausus es in hostes
armatus. A. Rösler. der im siebenten band der 'bibliothek der katho-
lischen Pädagogik' (Freiburg 1894) eine sehr schätzbare Übersicht über
die pädagogischen leistungen Italiens im 15n Jahrhundert gibt, bezieht
diese stelle auf den krieg, den Francesco Novello 1390 zur wieder-
gewinnunji seines gebietes mit erfolg führte (s. 76. 78). Leo (geschichte
der italienischen Staaten III s. 106 fif.) berichtet allerdings bezüglich
dieses kriegcs, dasz Francesco 'mit einer zalilieichen begleitung grösten-
teils deutscher kriegsmannschaft' in Italien eingetroffen sei, aber von
einer 'schlacht bei Hrescia' verlautet nichts, auch wird der ausdruck
Vergerios: cum esses in exercitu Germanorum weit passender er-
scheinen, wenn wir an das beer denken, das der deutsche könig Ruprecht
von der Pfalz im jähre 1401 nach Oberitalien führte. Leo (a. a. o. III
8. 341) gibt dazu eine mitceilung, die unsere stelle vollständig erklärt:
october 1401 kam Ruprecht in Trident an. Francesco da Carrara
führte ihm italienische hilfsvölker zu, und durch das gebirge zogen sie
in das Brescianische, wo nachher auch kämpfe stattfanden. — Also
kann die genannte stelle nicht wohl vor dem jähr 1402 geschrieben
sein. — Den terminus ad quem gibt das datum von Salutatos tod :
mai 1406 (Voigt u. a. o. IP s. 458). auf eine noch frühere zeit dürfte
der umstand hinleiten, dasz der verhängnisvolle krieg, in dem Venedig
den herschern von Carrara einen so schrecklichen Untergang bereitete
(1405), schon 1404 seinen anfang nahm, die schrift setzt an den stellen,
wo sie sich direct an Ubertinus wendet, den ungestörten bestand des
fürstentums voraus, auch werden (fol. 24') seine beiden älteren brüder
Franciscus und Jacobus, die 1405 einen tragischen tod fanden (Leo
a. a. o. III s. 114 f.), als lebende Vorbilder erwähnt.
2" Voigt a. a. o.
'8** der brief Salutatos, sowie das antwortschreibeu Vergerios, in
dem er einige kleine ausstellungen, die jener gemacht, zu widerlegen
A.Messer: Quintilian als didaktiker. 279
noch zur zeit des feinsinnigen kritikers Paolo Giovio (1483 — 1552)
wurde die Schrift in den schulen gelesen, und bis in das 17e Jahr-
hundert hinein hat man sie gedruckt.^®* von allem, was der
italienische humanismus auf didaktisch -pädagogischem gebiet her-
vorgebracht hat, gebührt dieser schrift neben der Vegios sicher
die meiste beachtung. um so wichtiger erscheint auch die
frage, ob und inwieweit sie von Quintilian beeinfluszt sei.
Wir haben oben gesehen , dasz man im kreise Salutatos die in-
stitutio oratoria kannte, allerdings nur in der gestalt, wie sie auch
Petrarca besessen hatte, aber die partien von allgemein didaktischem
Charakter waren ja meist vorhanden. Vergerio hat mit den Floren-
tiner humanisten nicht nur in brieflichem verkehr gestanden, er hat
auch zeitweise in ihrer mitte gelebt, er hat in Florenz — freilich
nicht lange — dialektik, vielleicht auch eloquenz und rhetorik ge-
lehrt*'", und später, als er schon ein angesehener magister an der
hochschule zu Padua war, hat er abermals in Florenz sich ein-
gefunden, um bei Manuel Chrysoloras das griechische zu lernen.-"
also — rein äuszerlich betrachtet — ist die möglichkeit, dasz
er Quintilians institutio aus eigner lectüre kannte , wohl gegeben,
man könnte, bei dem Interesse der dortigen humanisten für Quin-
tilian, diese kenntnis als eine wahrscheinliche bezeichnen, wenn
nicht der gedanke nahe läge, dasz der traurige zustand des textes
vom lesen abschreckte, durch die betrachtung der äuszeren mög-
lichkeit oder Wahrscheinlichkeit läszt sich also die frage, ob er bei
abfassung seiner schrift Quintilians werk gekannt habe und von ihm
beeinfluszt worden sei, nicht entscheiden, die betrachtung des in-
halts musz uns die antwort geben, allerdings dürfen wir gleich-
heit der ansichten an und für sich noch nicht als be-
weisgrund für beeinflussung durch Quintilian benutzen, es ist ja
erziebung und bildung ein gebiet, auf dem jeder zunächst passiv
seine erfabrungen sammelt, und auf dem auch die meisten, sei es
auch nur gegenüber jüngeren familiengliedern, bei eigner be-
thätigung zu beobachten und erfabrungen zu machen gelegenheit
und anlasz haben, bei der weitgehenden Übereinstimmung mensch-
lichen Wesens in verschiedenen zeiten und an verschiedenen orten
werden sich hier vielfach die gleichen ansichten finden , ohne dasz
sucht, ist abgedruckt bei Muratori, rerura italicarum scriptores, tom. XVI
p. 230—234.
2'»8 Voigt a. a. o. II ^ s. 458.
"0 Voigt 13 s. 341.
29' Voigt V 8. 220. es war dies zwischen 1397 und 1400; Chryso-
loras verliesz Florenz im märz 1400. Voigt a. a. o. I^ s. 227 anm. 3.
mit dem in anm. 2 gesagten erledigt sich auch die bemerkung Röslers
(a. a. o. s. 75 anm. 1), dasz Vergerio schon vor seinen Studien bei
Chrysoloras griechisch gelernt habe, er stützt sie auf eine stelle in
dem erwähnten briefwechsel zwischen Salutato und Vergerio, an der
letzterer bemerkt: ego vero id etiam antea in Graeco deprehendissera.
der brief ist eben nicht in das jähr '1393 oder wenig nachher', sondern
etwa in das Jahr 1403 oder 1404 zu setzen.
280 A. Messer: Quintilian als didaktiker.
eine entlehnung denkbar wäre, ferner ist ja die institutio oratoria
nicht sowohl durch neuheit und eigenart ihrer gedanken aus-
gezeichnet, als vielmehr durch den reichen niederschlag des vorher
geleisteten, das gilt für das pädagogisch -didaktische gebiet ebenso
gut, wie für das rhetorische, vieles, was wir bei Quintilian lesen,
lesen wir auch bei Plato, Aristoteles, Cicero u. a. wenn nun solches
von Vergerio wirklich aus antiken quellen geschöpft wäre, müste
es an sich gerade die institutio sein, aus der es geflossen? kurz, wir
werden, bei dem fehlen äuszerer beweisgründe, nur dann ein voll-
gültiges Zeugnis für die benutzung Quintilians durch Vergerio zu
besitzen glauben, wenn sich momente ergeben, die sich nur durch
die annähme einer solchen zwanglos erklären lassen, finden sich
derartige ?
Was zunächst den Inhalt der schrift im ganzen betrifft, so
faszt Vergerio seinen stoff mehr allseitig, bei Quintilian bleibt
doch der eigentliche gegenständ der erörterungen die intellec-
t u e 1 1 e bildung, und zwar die bildung zum r e d n e r , die körperliche
Seite wird nur gestreift, die sittliche in ihrer hohen bedeutung für
den redner zwar wiederholt betont, aber nicht speciell behandelt:
bei Vergerio dagegen sind diese drei selten gleichmäszig berück-
sichtigt; die rednerische fertigkeit tritt in seinem bildungsideal
durchaus nicht als das beherschende moment hervor; neben die
wissenschaftliche ausbildung stellt sich als gleichwichtig die mili-
tärische und staatsmännische — freilich geschieht dies letztere viel-
leicht nur mit rücksicht auf den prinzen, dem die schrift gewidmet
ist, denn bisweilen schiebt sich doch dem Verfasser, seiner eignen,
nach allseitiger intellcctueller ausbildung strebenden persön-
lichkeit entsprechend, unwillkürlich das stille gelehrtenleben als die
aufs höchste zu wünschende daseinsgestaltung vor.**' — Im ein-
zelnen finden sich manche Übereinstimmungen, beide fordern: der
Unterricht und die erziehung soll möglichst früh beginnen^*'; die
^^^ so heiszt es z. b. an einer stelle (fol. 13^): quae igitur potest
esse vita iucundior aut certe commodior, quam legere semper aut
scribere et novos quidem existentes res antiquitatis cognoscere, prae-
sentes vero cum posteris loqui atque ita omue tempus, quod et prae-
teritum est et futurum, nostrum facere. an einer andern (fol. IS**)
geht er in der Forderung sorgfältiger zeitausniitzung zum zwecke der
Studien soweit, dasz er rät, auch super coenam legere und soranum
inter libros exspectare aut certe per libros fugere; freilich der arzt in
ihm — er hatte ja auch medicin studiert — erhebt dagegen einspruch,
er fährt nämlich fort: quamquam physici obesse ea visui luminibus
quoque contendunt, quod et verum est, si modo praeter modum id aut
intentione nimia aut super nimiam saturitatem id tiat.
^'-J^ für die sittliche erziehung fordert er dies gleich im anfang
(fol. 26): artibus vero bonis nisi quis ab adolescentia fuerit instructus
aut si perversis infectus exstiterit, non facile de se speret in aetate
provectiore posse aut has abieere aut illas continuo sibi parare. iacienda
sunt igitur in hac aetate fundamenta bene vivendi et formandus ad
virtutem animus, dum tener est et facilis quamlibet impressionem ad-
mittere: qui ut nunc erit, ita et in reliqua vita servabitur. später
A. Messer: Quintilian als didaktiker. 281
intellectuellen und ethischen anlagen sind zu erforschen, und die
Schüler sind ihrer individualität entsprechend zu behandeln^"; der
ehrgeiz ist als sporn für die Studien zu benutzen ^^•^; für den anfangs-
unterricht soll man sich nicht mit mittelmäszigen lehrern begnügen,
sondern sogleich die besten wählen*^" u. a. trotz dieser mehrfachen
anklänge ist nirgends in der spi'achlichen fassung oder der be-
gründung der gedanken eine solche Übereinstimmung, dasz sie auf
eine entlehnung hinwiese, dieser umstand dürfte aber geradezu
gegen die annähme einer beeinflussung durch Quintilian in die
wagschale fallen, wenn sich zeigen wird, wie offenkundig die
benutzung der institutio oratoria bei allen übrigen italienischen
humanistenpädagogen ist — mit einziger ausnähme Lionardo Brunis,
dessen schrift aber wohl auch vor der entdeckung des vollständigen
textes abgefaszt und insofern mit der Vergerios auf gleiche linie zu
stellen ist. schwerer wiegt ein anderes: Quintilian ist bei Vergerio
nirgends genannt, während er doch sonst seine quellen anzugeben
pflegt, es werden citiert Plato dreimal, Aristoteles viermal, Plutarch
dreimal, Terenz, Sallust, Vergil je einmal, Cicero zweimal, Horaz
viermal, endlich sei noch auf eins hingewiesen : in manchen punkten
ist Vergerio anderer ansieht als Quintilian: er rät gegenüber man-
chen individualitäten zur körperlichen Züchtigung"®^, die Quintilian
völlig verwirft; er urteilt weit günstiger über frühreife knaben als
jener. "'^ an solchen stellen hätte es doch nahe gelegen, dasz er sich
mit Quintilian auseinandersetzte , aber auch hier findet sich keine
wird dieselbe forderung für die intellectuelle bilduug' erhoben (fol. 9^):
die Studien müssen a piima infantia beginnen : non erimns in senectute
sapientes, nisi iuvenes primum sapere coepimus. — Für Quintilian vgl.
1 1, 15—20.
^^* die Verschiedenheit der intellectuellen beanlagung wird be-
sprochen fol. 3^ z. 21 — fol. 4'' z. 20; die ethischen anlagen des knaben-
und Jünglingsalters werden charakterisiert fol. 5^ z. 19 — fol. 7 *> z. 9.
auch für die berufswahl wird sorgfältige berücksichtigung der indi-
vidualität gefordert (fol. 16^ z. 8 — fol. 17^ z. 22). bei Quintilian
kommt hauptsächlich in betracht I 3.
^^'' er sieht es als ein zeichen eines liberale ingenium an (fol. S"»):
studio laudis excitari incendique amore gloriae, unde oritur generosa
quaedam invidia et sine odio de laude probitateque contentio. vgl.
fol. 4% 9^. für Quintilian vgl. z. b. I 2, 22,
2^^ fol. 17'' heiszt es: et prima quoque artium elementa ab optimis
praeceptoribus accipere convenit. Quintilian begründet dies ausführ-
lich im dritten capitel des zweiten buches.
*^' vgl. fol. 9'': alii quidem laude et per spem honoris, alii mu-
nusculis blanditiisque alliciendi, minis alii flagrisque cogendi
erunt. Quintilian spricht über diesen punkt I 3, 13 — 18.
^^^ Vergerio glaubt nicht, dasz die, welche über ihr alter weise
sind, später thöricht werden, quod omnibus pene vulgo est usurpatum
(fol. 9^). er führt für seine ansieht eine spaszhafte anekdote an.
Quintilian dagegen äuszert (I 3,3): hie meus quae tradentur non diffi-
culter accipiet, quaedam etiam interrogabit, sequetur tamen magis
quam praecurret. illud ingeniorum velut praeco.x genus non temere
umquam pervenit ad frugem. dieser gedanke wird nachher noch näher
ausgeführt.
282 A. Messer: Quintilian als didaktiker.
bezugnahme auf ihn, weder eine offene, noch eine versteckte, alle
diese momente sprechen gegen die annähme, dasz Vergerio bei ab-
fassung seiner schrift von Quintilian beeinfluszt worden sei. dieses
ergebnis wird auch nicht erschüttert durch die eine stelle bei
Vergerio, die — soweit ich wenigstens bis jetzt sehe — nur aus
Quintilian, unmittelbar oder mittelbar, geflossen sein kann, bei der
ausführung des gedankens, dasz man von vorn herein stets den
besten lehrer und den besten lehrstoff suchen müsse, erwähnter den
griechischen musiker Timotheus, der von solchen Schülern, die schon
bei einem andern meister gelernt, das doppelte honorar gefordert
habe (fol. 17 '^). bei Quintilian steht die anekdote II 3, 3. betrachten
wir die stellen selbst:
Quintilian. Vergerio,
Propter quod Timo- Quam ob rem Timotheus, musicus suo
theum, darum in arte tempore illustris, qui ob multiplicatas in
tibiarum, ferunt duplices cithara cordas et novorum modorum adin-
ab iis, quos alius insti- ventionem Sparta iussus est exulare, ab
tuisset, solitum exigere discipulis quidem qui nihil apud alios pro-
mercedes, quam si rüdes fecissent certam paciscebatur mercedem,
traderentur. ab bis autem, qui ex aliis quippiam edi-
dicerant, duplam exigebat.
Dieser Timotheus wird zwar auch noch sonst in der antiken
litteratur erwähnt, in Paulys realencyclopädie sind auszer unserer
stelle noch folgende angeführt: Ath. XII s. 538 f.; XIII s. 565*;
XIV s. 626»'; 636«; 657«^. Paus. III 12, 8; VIII 50, 3. wozu noch
hinzuzufügen sind: Macrob. Sat. I c. 17; VII c. 16; noch andere bei
Pape, lexicon der griech. eigennamen. an diesen stellen erscheint
zwar wiederholt die notiz, dasz er wegen Vermehrung der saiten zu
Sparta bestraft worden sei, aber jene forderung doppelten lohnes
von Schülern anderer lehrer wird nirgends sonst erwähnt auszer bei
Quintilian. nun wäre es allerdings möglich, dasz diese anekdote
noch an einer andern stelle der antiken litteratur, die mir bis jetzt
unbekannt geblieben wäre, erwähnt sei, aber auch abgesehen da-
von beweist der vorliegende Sachverhalt noch nicht einmal eine un-
mittelbare herübernahme durch Vergerio. gerade weil die stelle
eine anekdote enthält, konnte sie leicht von ihrem ursprünglichen
platze losgelöst werden, in umlauf kommen und mittelbar, auf
mündlichem oder schriftlichem wege, Vergerio bekannt werden,
damit stimmt aufs beste, dasz die sprachliche fassung der stelle bei
den beiden autoren kaum eine leise Übereinstimmung zeigt, es
bleibt also dabei: eine einwirkung Quintilians auf Vergerio läszt
sich nicht nachweisen, ja sie ist in hohem grade unwahrscheinlich,'*®
"ä beiläufig sei noch eines umstandes gedacht, der scheinbar die
vorliegende frage berührt, in der später zu besprechenden schrift
Guarinos 'de modo et ordine docendi ac discendi' heiszt es fol, 9":
'nam ut ait Quintilianus optimum proficiendi genus esse docere quae
A.Messer: Quintilian als didaktiker. 283
Zeitlich am nächsten liegt der schrift Vergerios die des päpst-
lichen Sekretärs und späteren florentinischen staatscanzlers L i o n a r d o
B runi aus Arezzo (daher häufig Leonardas Aretinus genannt, 1369
— 1444). schon der titel de studiis et literis^"" besagt, dasz der
Inhalt lange nicht so umfassend ist, wie der von Vergerios schrift. es
ist keine allgemeine Unterrichts- und erziehungslehre , sondern es
handelt sich lediglich um die — höhere — intellectuelle bildung
einer auszergewöhnlich begabten jungen dame aus fürstlichem ge-
schlecht, der Prinzessin Baptista de Malatesta.^"' die abfassungs-
zeit vermittelst äuszerer gründe genauer zu fixieren, ist mir
nicht gelungen, nur soviel läszt sich sagen, dasz sie zwischen die
jähre 1409 und 1429 fällt, denn der in der schrift (s. 487) als
lebend erwähnte princeps familiae vestrae, mit dem Bruni lebhaft
über bestimmte fragen disputiert haben will, ist Carlo Malatesta von
Eimini^"^, dessen bekanntschaft er in den jähren 1408 und 9 machte,
didiceris. nuu lesen wir aber bei Vergerio fol. 19*: sed et alios quoque
docendo, quod scimus, non parum et ipsi iuvabimur. Optimum namque
proficiendi genus est docere, quod didiceris. das wäre in der tliat ein
beweis für die benutzuug Quintilians durch Vergerio — , wenn die
stelle wirklich aus Quintilian stammte , allein sie findet sich in der in-
stitutio oratoria nicht, es liegt also ein irrtum Guarinos vor. er ist
leicht erklärlich, zweifellos arbeitete Guarino mit hilfe seiner citaten-
sammlung. dabei konnte leicht durch ein versehen eine Verwechslung
des autorenuamens eintreten, was die sitte, citatensammlungen anzu.
legen betrifft, so gibt Guarino in der genannten schrift (fol. 9") selbst
Vorschriften darüber, die anweisungen zu excerpierendem lesen und
zur anlegung von Sammlungen der lesefrüchte unter bestimmten rubriken
wiederholen sich in den didaktischen Schriften der humanisteu so häufig,
dasz man hier wohl von einer feststehenden sitte reden darf, interes-
sante belege dafür finden sich bei Max Herrmann, Albrecht von Eyb
und die frühzeit des deutschen humanismus (Berlin 1893) s. 84 ff. s. 92
(woraus man sieht, dasz man solche citatsammlungen kaufen konnte).
Eyb selbst gibt in seiner margarita poetica auch eine rhetorische
phrasensammlung (a. u. o. s. 184 ff,), er hatte übrigens u. a. an Johann
Lamola (c. 1400—1449) in Bologna einen schüler Guarinos zum lehrer
gehabt (a. a. o. s. 76),
^O" ich benutze den abdruck der schrift in der Sammlung von
Th. Crenius: consilia et methodi aureae studiorum optime instituen-
dorum. Rotterodami 1692, s. 470—495. der name der prinzessin lautet
hier irrigerweise Isabella, den richtigen namen gibt Mehus, Leonardi
Bruni Arretini epistolae (Florenz 1741) I s. LX, der auch weitere aus-
gaben nennt, wozu noch Voigt a. a. o. II s. 481 eine Liptzik 1469 hin-
zufügt.
3"' Jöcher im 'allgemeinen gelehrtenlexikon' sagt über sie: Baptista
Malatesta, eine gemahlin Guidonis, des grafen von Urbino und tochter
Galeatii Älalatestae, fürsten von Pesaro, hat mit den gelehrtesten
leuten disputieret, orationem in laudera Martini V, von der wahren
religion, von der menschlichen gebrechlichkeit und briefe geschrieben,
ist auch 1447, nachdem sie zwei Jahre vorher eine nonne des ordens
S. Clara worden, und den namen Hieronyma angenommen, gestorben.
^"^ dasz dieser gemeint ist, beweist zur genüge ein brief, den Bruni,
allerdings erst nach dem tode Carlos, an einen der hofleute seiner nach-
folger schrieb, es ist brief 7 des sechsten buches in der oben citierten
Sammlung von Mehus. darin heiszt es (Mehus a. a. o, II s. 51 f.):
284 A. Messer: Quintilian als didaktiker.
als er sich mit Gi'egor XII bei jenem fürsten aufhielt'"', und der
1429 starb. '"^ diese daten reichen aber nicht einmal aus, um zu be-
stimmen, ob die abfassung der schrift vor oder nach der auf findung
des vollständigen Quintiliantextes staltgefunden hat. wir müssen
auch hier, bei dem fehlen äuszerer beweisgründe, hauptsächlich auf
den Inhalt der schrift unsere Untersuchung richten. Quintilian
wird darin nirgends genannt, auch eine anlehnung an ihn im ganzen
oder im einzelnen ist nicht erkennbar, auch nicht an solchen stellen,
wo eine solche nahe gelegen hätte , z. b. bei empfehlung der lectüre
der bistoriker (c. VII s. 482 f., verglichen mit Quint. X 1, 34) und
der dichter (c. VIII s. 483—94, verglichen mit Quint. I 8 ; X 1, 27 ff.),
bei der besprechung des rhythmus in der prosaischen rede stellt er
im anschlusz an Cicero '^"^ peinlichere forderungen '"' als Quintilian,
der die berücksichtigung der versfüsze in der prosa verständig ein-
schränkt (IX 4, 112 ff.) und die gänzliche Vermeidung gewisser
füsze für nicht durchführbar erklärt (IX 4, 87). gelegentlich""'
führt er aus, dasz sich die prinzessin in rhetorische subtilitäten nicht
zu vertiefen brauche, dabei nennt er als für sie wertlos eine anzahl
termini technici der rhetorik, die sich zum teil bei Quintilian nicht
finden, so die hypocrisis (== pronunciatio), die interrogationes bici-
pites , die responsiones veteratoriae. alles dies dürfte die annähme
einer benützung Quintilians verbieten.'"- bedenken wir nun, mit
welcher begeisterung Bruni den fund Poggios begrüszte, mit welchem
eifer er sich selbst an der herstellung des textes beteiligte, so wird
sich doch zunächst wohl das mit völliger gewisheit behaupten lassen,
dasz die abfa&sung unserer schrift vor das jähr 1415/16 zu verlegen
ist. — Wir dürfen aber hierauf noch eine weitere schluszfolgerung
aufbauen, dasz Vergerio den unvollständigen Quintiliantext kannte,
erschien möglich, dasz Bruni ihn kannte, musz als wahrschein-
lich bezeichnet werden, da er enger als jener dem kreise Salutatos
angehörte — er war ein besonderer liebling und Schützling des alten
equidem tanto ardore generosam inclitamque Malatestarum familiam
colui, ut non alienum proceres illi me existimarent, sed unum de ipsis.
ut enim ceteros omittam , cum inclitae memoriae Carolo, principe
illius familiae ita aliqnaiido vixi, ut neque mensa, neque venatio,
neqne studia litterarnm ipsum ab eo sequestrarent, qui peractis ad
occasum venationibus ita redire Ariminum solebamus, ut duobus vel
tribus passuum milibus disputando summis interdum contentionibus ac
desperatis prope clamoribus certaremus. fuit enim ... ita pertinax
in disputando, ut quod semel dixisset semper defenderet etc.
203 Mehus a. a. o. I s. XXXVII. Leo, gesch. d. ital. Staaten IV
s. 562. Voigt a. a. o. 1' s. 572.
80* Leo a. a. o. IV s. 572.
30= inbezug auf Verwendung des dactylus und iambua vgl. Cicero,
or. 57, 192, des päon: or. 64, 218; 58, 196, des ditrochaeus und creticus:
or. 63, 213 und 64, 215.
306 c. IV (bei Crenius s. 478 f.).
807 c, V (bei Crenius s. 479 f.).
SOS Voigt a. a. o. I' s, 304—312.
A.Messer: Quintiliaa als didaktiker. 285
canzlers^"^ — und sein besonderes interesse für Quintilian so un-
zweideutig hervortritt, auch kann man es aus der oben citierten
briefstelle in nostro vetusto codice ersühlieszen. wenn nun trotzdem
bei ihm eine benutzung der (unvollständigen) institutio nicht nach-
weisbar ist, so darf das gleiche bei Vergerio um so weniger auf-
fallen, für letzteren aber diese thatsache festzustellen, erscheint aus
dem gründe wichtiger, weil seine schrift diejenige Brunis durch die
reichhaltigkeit ihres Inhalts weit überragt.
Damit scheiden also die abhandlungen Vergerios und Brunis
aus der reihe der Schriften, auf die ein einflusz Quintilians statt-
gefunden hat und die den gegenständ dieser Untersuchung bilden,
aus, aber gleichzeitig gewinnen sie eben dadurch doch wieder für
uns ein erhöhtes interesse. wir werden sie nämlich zu vergleichen
haben mit denjenigen, deren Verfasser zweifellos aus Quintilian
schöpfen, wir werden dabei die frage aufwerfen : sind durch die auf-
findung und Verbreitung des vollständigen Quintiliantextes neue
momente in die entwicklung der pädagogisch - didaktischen theorie
des humanismus gekommen? entspricht der — wie sich ergeben
wird — sehr ins breite gehenden benutzung Quintilians eine ebenso
tiefe einwirkung? zur beantwortung solcher fragen wird uns die
beabsichtigte vergleichung stoff bieten, wir können sie aber erst
anstellen, wenn wir die einwirkung Quintilians auf die späteren
humanisten näher untersucht haben, wir bedürfen aber zu jener
vergleichung einer eingehenderen kenntnis der schriften Vergerios
und Brunis, und dies macht es wünschenswert, eine Übersicht über
ihren Inhalt hier folgen zu lassen.
A. Vergerio.
I. Prooemium. wert und wesen der erziehung undbildung.
(fol. 2» — 3" z. 21.)
Gute erziehung und bildung, die möglichst früh beginnen
musz, ist das wertvollste, was die eitern den kindern hinter-
lassen können, besonders notwendig ist sie für hochstehende.
Der mensch besteht aus leib und seele: glücklich, wer
in bezug auf beide von der natur gut ausgestattet ist ; der ge-
bührende dank gegen die natur besteht in der ausbildung
ihrer gaben. ^'^
309 auf dieselbe annähme leitet ein anderer umstand, ende december
1406 schreibt Bruni an Niccoli, den bekannten litterarischen ratgeber
Cosimos von Medici, einen brief, in dem er die frage: quando narra-
tione opus sit, behandelt, wie nahe hätte es dabei gelegen auf Quin-
tilian, der diese frage IV 2, 4 — 23 ausführlich bespricht, hinzuweisen
(die stelle war auch in der unvollständigen handschrift vorhanden), ein
solcher hinweis erfolgt aber nicht.
^"' fol. 3'': quom enim sit homo ex anima corporeque constitutus,
magnum quoddam ab natura consecuti mihi videntur, quibus est datum,
ut et corporis viribus et ingenii valerent. nam qnom plurimos videa-
mua, quibus sine culpa evenit, ut et ingenio essent tardo et corpore
imbecilli, quantas gratias haberi naturae convenit, si secuudum utraque
haec et integri sumus et validi. ita autem referetur digna naturae
286 A.Messer: Quintilian als didaktiker.
(Also der gedanke einer harmonischen ausbil-
dung von geist und körper maszgebend für erziehung und
bildung.)
II. Psychologische einsieht als grundlage der erziehungs-
und bildungsarbeit. (fol. B^ z. 21—4" z. 20.)
Ein jeder musz sein eignes ingenium zu erkennen suchen;
das kind kann das noch nicht, deshalb müssen hier eitern
und lehrer stellvertretend es thun, und in quas res natura
proni aptique fuerimus, eo potissimum studia nostra conferri
et in eis totos versari conveniet. besonders diejenigen, welche
ein liberale ingenium von natur haben, dürfen es nicht brach
liegen lassen, oder illiberalibus implicari negotiis.
Kennzeichen des liberale ingenium (die nähere ausführung
der einzelnen 'kennzeichen' ist hier weggelassen).
1) studio laudis excitari incendique amore gloriae.
2) parere libenter maioribus.
3) ut gloriae laudisque studio ad optima conari velint.
4) qui sunt in actionibus prompti, fugientes otium amantque semper
aliquid recte agere.
5) si comminationes ac uerbera metuant, magis autem si dedecus
atque ignominiam.
6) disciplinam (resp. praeceptores) amari iudicio est.
7) qui natura benigni ac facile placabiles (ac multa in hunc modum
sumi a maioribus argumenta possunt). dazu körperliche kenn-
zeichen:
8) moUes carne aptos esse mente (scripsit Aristoteles, über solche
zeichen seien die zu befragen, qui per phisonomiam [sie!] de-
prehendi posse unius cuiusque ingenium nativosque mores pro-
fitentur; quam nos hie rationem totam relinquamus).
Ex cur 8 über den wert des beispiels in erziehung und Unter-
richt, ^h (fol. 4'» z. 20 — 5» z. 13.)
III. Die erziehung. (fol. 5» z. 13 — 8'' z. 25.)
A. die im jugendlichen alter liegenden neigungen.
(a, gute [sie sind usu et praeceptis confirmandi et iuvandi],
b. schlechte [sie überwiegen; sie stammen teils von der
natur, teils von der mangelnden erfahrung, teils von
beiden. — die 'erbsünde' wird nicht erwähnt!]).
1) largi ac liberales (geiz ein schlechtes zeichen; solche werden
auch die Wissenschaft zum zwecke des gewinnes betreiben,
quae quidem res est ab ingenuis mentibus prorsus aliena).
2) sie sind bonae .spei et magna facile sibi promittunt.
3) arrogantes, monitoribus asperi, contumeliosi aliis (Horaz.
ars p. 163).
gratia, si non neglexerimus eius munera, sed ea rectis studiis bonisque
artibus excolere curaverimus.
'" er bemerkt, dasz auch äuszerlich nicht viel versprechende kinder
treffliche menschen werden können. Socrates habe gesagt, die Jüng-
linge sollten sich im Spiegel betrachten: die schönen, damit sie ihre
Schönheit durch ihr benehmen nicht schändeten; die häszlichen, damit
sie sich geistige Schönheit erwürben, ein noch besserer Spiegel seien
die Sitten der mitmenschen: ad omnem doctrinam ut viva vox, ita et
vivi hominis mores plus valent. deshalb mögen sich die Jünglinge an
erprobte, ältere männer anschlieszen, und die älteren müssen bei den
jungen sich würdig aufführen, iuvenum enim aetas prona est ad
peccandum, ac nisi maiorum exemplis contineatur, facile semper in
deteriora prolabitur (fol. 5").
A.Messer: Quintilian als didaktiker. 287
4) prahlerisch und dadurch oft lügenhaft (ab hac mentiendi va-
nitate deterrendi sunt maxime; ebenso von foedi und in-
honesti sermones).
5) zu schüchtern (aus ängstlicher ehrliebe).
6) faciie mutant opiniones (quum sunt eorum humores in motu
propter augmentum corporis et abundat calor — wie über-
haupt öfter eine physiologische begründung seelischer eigen-
schaften und Vorgänge von Vergerio zn geben gesucht wird).
7) sehr leidenschaftlich (neque vigent ratione et prudentia, qua
illas (concupiscentias) moderari possint.
8) miserativi nee maligni moris.
9) maxime gaudent amicitiis (et sodalitates amant, quas ple-
rumque eadem die et ineunt et dirimunt).
Die aus den ethischen anlagen der Jugend sich er-
gebenden folgerungen für die erziehung.
1) die erziehliche einwirkung hat sich nach den ethischen an-
lagen zu richten. 2'*
2) die domestica disciplina reicht nicht aus; der staat musz
hier regelnd eingreifen. ^'^
3) die erziehlichen einwirkungen sind teils negativer, teils posi-
tiver art:
a, negative maszregeln. sie bezwecken besonders, dasz
die Jünglinge möglichst lange integri bleiben.^'* (deshalb
sie fernhalten von choreae, von jeder muliebris frequentia,
von erregenden gesprächeu, von einsamkeit. gut ist stete
körperliche und geistige thätigkeit und die gesellschaft
sittlich erprobter, älterer begleiten keine zu reichliche
nahrung; besonders kein wein!
b. positive einwirkungen.
a. gewöhnung an achtung vor der religion^'^ und vor
dem alter.
ß. gewöhnung an höflichkeit im Umgang (was mit beson-
derer bezugnahme auf die Stellung eines prinzen und
fürsten näher ausgeführt wird).
4) allzu grosze indulgentia der eitern bei der erziehung ist verderb-
lich, deshalb die mehrfach bestehende sitte, die kinder auswärts
bei verwandten oder freunden erziehen zu lassen, billigenswert).
'** fol. 6^. iuxta has igitur animadversiones erit adhibenda doc-
trina et boni quidem mores addiscendi, mali vero aut minuendi aut
prorsus eradicandi erunt.
^'ä fol. 6''. et cura iuvenum cum plurimum domesticae disciplinae
permissum est, nonnulla tamen solent legibus diffiniri, deberent autem,
ut fere dixerim, omnia; denn das Interesse des Staates an einer rich-
tigen erziehung sei grosz.
^'■^ imniatura namque venus et animi et corporis vires enervat.
3'^ fol. 1^: ante omnia vero decet et bene institutum adolescentem
rei divinae curam respectumque non negligere, nam quid erit illi inter
homines sanctum, cui divinitas despecta sit. besonders sind sie zu er-
mahnen non execrari divina nee sacra nomina irrisioni habere neque
sponte faciie iurare. es wird also im gründe nur ein wohlanständiges
verhalten gegenüber religiösen gegenständen angestrebt, nicht aber die
religion als grundlage der Sittlichkeit und die lebendige anteilnahme
am kirchlichen leben mit seinen gnadenmitteln als mächtiger hebel für
die ausbildung der sittlichen persönlichkeit gefaszt und verwertet, be-
merkenswert ist auch folgende stelle: nee vero usque ad aniles decet
superstitiones provehi, quod in ea aetate damnari plurimum solet et
irrisioni patere, sed ad certum modum, quamquam quis modus adhiberi
in ea re potest, in qua omne, quod possimus, infra modum est?
288 A. Messer: Quintilian als didaktiker.
IV. Die intellectuelle ausbildung. (fol. S^ z. 25 — lO»' z. 21.)
1) wesen und zweck der liberalia studia (liberalia studia
vocamus, quae sunt homine libero digna. ea sunt, quibus virtus
ac sapientia aut exercetur aut quaeritur).^*^
2) zeitiger beginn (dura faciles animi iuvenum, dum mobilis
aetas. Verg. Georg. III 165).
3) behandlung der schüIer (milde und strenge müssen wechseln
und sich gegenseitig mäszigen).
4) für die Studien fördernde und hindernde äuszere um-
stände (Vermögensumstände, wünsch und beruf der eitern,
landessitte).
5) die berufswahl mit einem an Ubertinus gerichteten excnrs
über den doppelten weg ad excolendam virtutem et ad gloriam
parandam: armorum et litterarum discipiina und näherer
Schilderung beider.
6) die bildungsstof fe.
a. die moralphilosophie. '"'
b. die geschichte.
(.'.. das zeichnen ^'^ (desiguativa oder protractiva, quantum ad
scripturam attinet).
d. grammatik, dialektik, rhetorik (in einem excurs weist er nach,
dasz für die antike rhetorik in der gegenwart sozusagen
keine stelle mehr sei).^'^
"^ er fährt fort: quibusque corpus aut animus ad optima quaeqne
disponitur unde honor et gloria hominibus quaeri solet, quae sunt sa-
pienti prima post virtutem proposita praemia, nam ut illiberalibus
ingenüs luctus et voluptas pro fine statuitur, ita ingenuis virtus et gloria.
das könnte auch Cicero geschrieben haben, überhaupt ist von der
ewigen bestimmung des menschen nach christlicher auffassung in der
ganzen schrift nicht die rede.
^'^ fol. 14^. ceterae quidem enim artium liberales dicuntur, quia
liberos homines deceant, pliilosophia vero idcirco est liberalis, quod eius
Studium liheros homines efficit.
3'8 die Griechen, bemerkt er (fol. 14''), unterrichteten ihre kinder
in vier gegenständen, es waren dies 1) litterae, 2) luctativa, 3) musica,
4) designativa. zu letzterer äuszert er sich also: designativa nunc in
usu non est pro liberali, nisi quantum forsitan ad scripturam attinet
. . . quoad reliqua vero penes pictores resedit (diese treiben
also keine 'liberale' beschäftigung!). die Griechen hätten sie betrieben
zur schärfutig des kunstverständnisses, denn sie hätten ja freude an
vasa, tabulae und statuae gehabt, diese stelle ist culturhistorisch
interessant.
3" die stelle kennzeichnet so treffend das unbefangene und scharfe
urteil Vergerios wie die innere hohlheit der in bälde so üppig wuchern-
den humanistischen rhetorik, dasz sie vollständig hier folgen mag. sie
lautet (fol. 15^): rhetorica vero tertia est inter rationales disciplinas,
per quam artificiosa quaeritur eloquentia, quam et tertiam posuimus
inter praecipuas civilitatis partes, verum ea cum nobilium hominum
studiis celebrari diu consuevisset, nunc pene prorsus obsolevit.
nam a iudiciis quidem eiecta penitus est, ubi non perpetua ora-
tione, sed invicem dialectico more adductis in causam legibus conteu-
ditur. in quo genere plerique quondam ex liomanis adolesceutibus
magnam gloriam sunt assecuti aut deferendis sontibus reis, aut defen-
dendis insontibus. in deliberativo vero genere iam apud prin-
cipe s, rerum dominos, nullus est ei locus, quum paucis expediri
verbis sententiam volunt et nudas afferri in consilium rationes. in
populis qui vel sine arte copiose dicere possunt, clari habentur.
A. Messer: Quintilian als didaktiker. 289
e. poesie.^20
f. musik (auch theoretische kenntnis derselben).
g. mathematik (arithmetik und geometrie).
h. naturwissenschaft.^^'
i. medicin.222
k. Jurisprudenz. '2'
1. theologie.^24
(Diese Wissenschaften sind nicht alle mit der gleichen
gründlichkeit zu betreiben, sondern eine ist nach der indi-
viduellen neigung und beanlagung als hauptstudium zu wählen,
aber ihr Zusammenhang ist so eng, dasz keine bei völliger
Unkenntnis der andern erfaszt werden kann, fol. 16'').^*^
7) einzelne Studienregeln.
a. sogleich die besten lehrer.
b. keine überbürdung.
c. Ordnung beim Studium.
d. abendliche repetition.
e. disputierübungen.
f. Zeiteinteilung und zeitausnützung.
demonstrativum (fol. lö*") genus restat, quod ut nusquam est usu
sublatura, ita vix usquam ratione invenitur. nam in faciendis
orationibus his artibus utuntur fere omnes, quae contra artem bene di-
cendi sunt, quae cum ita sint, elaborandum est tamen ei quem
volumus bene institutum, ut in omni genere causarum Or-
nate copioseque possit ex arte dicere. also doch rednerische
ausbildung — mehr zur ausstattung der persönlichkeit, als weil das
leben und die allgemeinheit sie brauchte, der subjective bildungsfactor
überwiegt also.
^2° fol. Ib^. proxima huic (der rhetorik) est poetica, cuius Studium
etsi conferre plurimum et ad vitam et ad orationem potest, ad delec-
tationem tamen videtur magis accommodata. ein unbefangenes
urteil, wie es bei den humanistischen pädagogen in diesem punkte selten
ist, da sie stets vorwiegend den ethischen und rhetorischen nutzen der
poesie betouen.
^*' fol. 16^. maxime vero scientia de natura intellectui humano
consona atque confoimis est, per quam naturalem (es ist wohl naturalia
zu lesen) rerum animatarum inanimatarumve principia passionesque
eorum, quae caelo et mundo continentur, motuum ac transmutationum
causas effectusque cognoscimus ac multorum quidem possumus
causas reddere, quae vulgo miranda videri solent. auch hier
ein aufklärerischer zug, wie er schon in der oben citierten bemerkung
über die religiöse Unterweisung hervortritt.
^^^ fol. 16^. medicina igitur est et cognitu pulcherrima et ad sa-
lutem corporis commodissima, verum exercitium habet minime
liberale.
^*3 fol. J6''. leg um peritia publice privatimque utilis est et
magno ubique honori habetur, et ipsa quidem a morali philosophia
derivata est, quemadmodum ab naturali medicina; aber auch hier ist
es nicht ehrenvoll, seine mühewaltung sich bezahlen zu lassen, die
letztere bemerkung ist für Vergerios antik gefärbte anschauungen ebenso
charakteristisch, wie das vorausgehende für seine klare einsieht in den
inneren Zusammenhang der Wissenschaften.
^^* fol. 16.^ scientia vero divina est de causis altissimis et rebus,
quae sunt semotae a nostris sensibus, quas intelligentia tamen attin-
gimus. das ist alles, was er darüber sagt.
^^' er schlieszt hieran eine Schilderung der verschiedenen bean-
lagungen und der ihnen passenden beschäftigungen (fol. 16 *> — 11^).
N. Jahrb. f. phil. u. päd. II. abt. 1897 hfl. 6. 19
290 A. Messer: Quintilian als didaktiker.
V. Die körperliche ausbildung. (fol. 19^ z. 21 — 25»' incl.)
A. körperliche Übungen.
1) ihre Verbindung mit dem Studium'*® und ihr ethischer und
gesundheitlicher wert^" (hinweis auf die spartanische er-
ziehung nach Plutarchs Lycurg).
2) auswahl und zweck der Übungen (es sind solche zu wählen,
welche die gesnndheit fördern und die glieder kräftigen, end-
zweck ist kriegerische tüchtigkeit. hinsichtlich der art und
schwere der Übungen ist auf die körperliche Constitution und
das verschiedene alter zu achten).
Waflfenübungen (mit gladius, ensis, fustis, lancea, clipeus).
laufen, springen, ringen, faustkampf, schleudern, bogen-
schieszen, Speerwerfen, Steinschleudern, reiten, zu pferd und
zu fusz kämpfen, schwimmen.
Excurs über die entwicklung des kriegswesens. das-
selbe ist auch theoretisch zu studieren.
B. erholungen.
1) spiele (grundsatz nuUus turpis aut noxius ludus) besonders
ballspiel (pila ludere).
2) jagd (auch Vogelfang und fischen).
3) völlige ruhe, auch kleine Spaziergänge oder ausreiten.
4) scherzhafte, witzige Unterhaltung (nach Plutarchs Lycurg).
6) gesang und saitenspiel. '**
6) tanz (zwar gut für die ausbildung der gewandtheit [dexteritas],
aber sittlich bedenklich).
7) brettspiele, wie überhaupt alle kampfspiele, in denen mehr
kunst als zufall entscheidet, sind empfehlenswert, Würfelspiel
dagegen verwerflich. ^^
VI. Schluszbemerkungen. (fol. 26^ — 26'».)
1) man hat vorgeschlagen, 8 stunden dem schlaf, 8 stunden der
erholung, 8 stunden dem Studium zu widmen, er will das weder
billigen noch verwerfen.
2) corporis cultus sit decens neque nimium exqUisitus neque
prorsus neglectus, sed cum rei, loco, tempori, tum maxime per-
sonae conveniat.
3) indulgenda sunt tamen adolescentibus quaedam neque omnia
eorum peccata severa sunt animadverslone punienda. nisi enim
ex parte aliqua iuventutem expleverit, 'aetatis illius vitia con-
feret in senectutem (also dem grundsatz, dasz die Jugend sich
austoben müsse, wird eine gewisse berechtigung zugestanden).
4) mahnung an den prinzen, die auf ihn gesetzten hoffnungen zu
erfüllen, thut er es, so ist Unsterblichkeit des namens (also die
^** denen freilich, deren geist mehr für die Wissenschaften geeignet
ist als der körper für den kriegsdienst, wird geraten sich um so eifriger
jenen zuzuwenden: quibus vero et Ingenium viget et corpus est validum ,
eos oportet utriusque curam habere et animum quidem ita formare , ut
vere possit decernere et ratione velit imperare (fol. 19 1'). also geistige
und sittliche Selbständigkeit als ziel, auch hier ist wie in der oben
citierten stelle (fol. 3^) die ausgestaltung der menschlichen Persönlich-
keit, der subjective factor der bildung, allein ins äuge gefaszt.
*2^ fol. 20''. nam deliciae quidem animos hominum corporaque
dissolvunt, labor vero confirmat et indurat.
■'"8 fül. 25*. die Siculi modi dienen mehr der remissio, die Gallici
der exercitatio und dem motus, die Itali halten die mitte, et item quae
pulsu aut cantu fit melodia decentior est, quae vero spiritu atque
ore minus videtur ingenuis convenire (von culturhistorischem Interesse!).
323 fol. 2.5'. aleae vero usus aut cupiditatem habet minime libe-
ralem, aut indecentem viro mollitiem.
A. Messer: Quintilian als didaktiker. 291
heidnische, nicht die christliche Unsterblichkeit!) sein lohn,
andernfalls triflft niemand sonst als ihn selbst die schuld (also
die notwendigkeit der eignen mitwirkung des zöglings, seines
guten willens nicht verkannt, die bedeutung von lehre und lehrer
nicht überschätzt).
B. Lionardo Bruni.
I. Prooemium. c. 1 (1. c. s. 473—76).
Hinweis auf Cornelia, Sappho, Aspasia als vorbild. Baptistas
rühm (dieser auch hier das ziel!) wird um so herlicher sein,
als die Studien jetzt so daruiederliegen , dasz es beinahe ein
wunder ist, wenn man bei einem manne, geschweige denn
bei einer frau, wahre bildung (eruditio) findet, eruditionem
non intelligo vulgarem istam et protritam, quali utuntur hi, qui
nunc theologiam profitentur, sed legitimam illam et ingenuam,
quae litterarum peritiam cum rerum scientia coniungit.
II. Peritia litterarum. c. 2—4 (1. c. s. 476—79).
1) um sie zu erlangen ist dienlich der Unterricht (praeceptio) ,
aber in weit höherem grade eigne Sorgfalt und fleisz (dili-
gentia atqne cura).ä^o
2) auf den grammatischen Jugendunterricht, den wir quasi
somniantes aufnehmen, will er nicht näher eingehen: eigne,
gründlichere grammatische Studien nach Servius, Donat, Priscian
müssen folgen. ^^'
3) lectüre.
a. nur solche autoren lesen, welche mustergültiges latein
schreiben.^^2
b. acri iudicio lesen (videat legens, quo quidque loco sit positum,
quid designent singula et quid valeant, nee maiora tantum,
sed minutiora discutiat).
c. christliche autoren: Augustinus, Hieronymus , Ambrosius,
Cyprianus, besonders Lactantius (vir omnium Christianorum
procul dubio eloquentissimus) oder eine (gute!) Übersetzung des
Gregor v. Nazianz, des Johannes Chrysostomus und ßasilius.
heidnische: Cicero ^^3, Vergil, Livius, Sallust (et alii poetae
ac scriptores suo ordine subsequuntur).
4) schreib- und Sprechübungen, dabei peinliche Sorgfalt auf
Sprachreinheit. 32*
"° denselben gedanken hat Vergerio in den schluszworten seiner
abhandlung ausgesprochen.
^'' es wird also ein doppelter grammatischer cursus vorausgesetzt,
was uns auch später z. b. bei Guarino begegnen wird.
^^^ die hoclisehätzung der 'Sprachreinheit' tritt bei Bruni viel
schärfer hervor als bei Vergerio. der mahnung nur zu lesen, quae
ab optimis probatissimisque latinae linguae auctoribus scripta sunt —
einer mahnung die in den schluszworten mit besonderem nachdruck wieder-
holt wird — fügt er die Warnung bei: ab imperitis vero ineleganterque
scriptis ita caveamus, quasi a calamitate quadara et labe in-
genii nostri (a. a. o. s. 477).
333 quem virum! deus immortalis! quanta facundia, quanta copia!
quam perfectum in litteris, in omni genere laudis singularem! — Vergil
wird genant decus ac deliciae litterarum nostrarum (p. 477).
334 ipsa vero curabit quam diligenter, ut quotiens ei vel loquendum
Sit, vel scribendum, nullura ponat verbum, quod non antea in aliquo
ipsorum (d, h. der mustergültigen autoren) repererit. — Man denkt un-
willkürlich an den Nosobulos im Ciceronianus des Erasmus und an seine
unendlichen register.
19*
292 A, Messer: Quintilian als didaktiker.
5) kenntnis der Orthographie, der quantität, des poetischen
und prosaischen rhythmus.'^^
III. Scientia rerum. c. 5—8 (1, c. s. 479—494).
A. disciplinen, von denen nur eine übersichtliche kenntnis
notwendig' ist.
1) geometrie und arithmetik.
2) astrologie.
3) rhetorik (wenigstens braucht eine frau derselben kein ein-
gehenderes Studium zu widmen: totam fori asperitatem viris
relinquet). ^^"^
B. disciplinen, die gründlich zu betreiben sind. ^37
1) sacrarum litterarura cognitio.^^'*
2) Philosophie (er meint, wie der Zusammenhang ^^^ zeigt, vor-
nehmlich moralpbilosophie).
3) historiae cognitio (sie ist geziemend, belehrend, leicht zu
fassen und zu behalten und bietet beispiele zum schmuck
der eignen productionen.
4) lectüre der redner (sie wirken in ethischer hinsieht mächtiger
als die philosophen durch erregung und sänftigung der aflfecte,
und sie geben seutentiarum verborumque ornamenta).
5) lectüre der dichter (sie wird ausführlich verteidigt und warm
empfohlen, eine frau allerdings mag die komiker und Satiriker
ungelesen lassen, aber einen Vergil , Statins, Seneca u. a.
musz auch sie studieren).-'^"
IV. Schlusz. c. 9 (1. c. s. 494 f.).
1) die sprachliche und sachliche bildung vereinigen! (et
litterae sine rerum scientia steriles sunt et inanes: et scientia
rerum, quamvis ingens, si splendore careat litterarum, abdita
quidem obscuraque videtur.)
2) religionis denique et bene vivendi studia mihi prae-
cipua sunt, cetera vero omnia, tamquam adminicula quae-
dam ad ista referri debent vel adiuvanda vel illustranda, eaque
de causa poetis et oratoribus et scriptoribus aliis inhaerendum.
3) zum Schlüsse nochmals die mahnung: nee umquam nisi optima
probatissimaque (natürlich in sprachli eher hinsieht!) legamusl
33» auch die anforderungen in diesem punkte gehen recht weit.
"•* er bemerkt zur ars rhetorica: mitius vero de hac postrema dixi,
quoniam si quisquam viventium illi adfectus fuit, me unum ex hoc nu-
mero esse profiteor.
3" est enini decorum, tum propriae gentis originem et pro-
gressus, tum liberorum populorum regumque maximorum et hello et pace
res gestas cognoscere.
33S natürlich nur die alten autoren lesen! novos istos, si boni
sint viri, honoret quidem ac veneretur, ceterum eorum scripta non un-
quam attingat (s. 481).
339 haec igitur duo , quorum alterum ad religionem , alterum (näm-
lich die Philosophie) ad bene vivendum spectat, reliquis praeferenda
sunt, charakteristisch ist die trennung von religion und Sittlichkeit.
340 die Stelle tritt durch fülle und wärme der darstellung hervor,
man merkt, dasz der Verfasser hier über eine gerade lebhaft umstrittene
frage spricht. — Ansprechend vermutet Rösler (a. a. o. s. 180), dasz
Bruni hier polemisiert gegen des cardinal Johannes Dominicis Schrift
lucula noctis (eine inhaltsangabe derselben gibt Rösler s. 7 ff. sie war
1405 erschienen, nimmt Bruni wirklich darauf bezug, so wäre dies ein
weiterer grund, seine schrift nicht allzu lange nachher anzusetzen).
(fortsetzung folgt.)
GiESzEN, August Messer.
E. Plaumann: Admet und Alkestis und der arme Heinrich. 293
(17.)
DER MYTHOS VON ADMET UND ALKESTIS UND DIE SAGE
VOM ARMEN HEINRICH.
(fortsetzung:.)
Wielands Alceste, Singspiel, von A. Schweitzer in musik
gesetzt und 1773 und 1774 auf dem damaligen Weimarischen hof-
theater aufgeführt. Ellinger zollt dem dramatischen fortschritt, den
dies drama gegenüber von Wielands Jugendarbeiten bekunde, bei-
fall; derselbe erkläre sich aus dem Studium Shakespeares und
Lessings. die dramatische technik ist besser, die spräche lebendiger,
und in der feinen psychologischen motivierung offenbart W. die
meisterschaft, welche er durch die ausbildung der poetischen er-
zählung sich angeeignet hat. E. rühmt den ersten und noch mehr
den zweiten act als vortrefflich entworfen und mit geschick aus-
geführt; tadelt dagegen den dritten und vierten, weil, besonders im
vierten, die handlung still stehe, und auch der fünfte ist trotz
einiger schönen stellen nicht unbedingt zu loben, den Personen-
stand betreffend fehlt, wie bei Calsabigi, der Pheres; dafür aber ist
eingetreten Alcestens Schwester Parthenia (E. s. 32 ff,).
Wieland trat mit dieser dichtung nach seinen eignen Worten
(Hempelsche ausg. , Berlin, bd. 29 s. 37 ff.) ausdrücklich mit dem
classischen dichter in die schranken, besonders nachdem dieselbe
von dem Deutschen Schweitzer in musik gesetzt war, dessen com-
position er mit dem höchsten lobe belegt, da er es verstanden habe,
so ganz in die idee des dichters und der handelnden personen sich
hineinzuversetzen selbst da , wo es dem dichter nicht gelungen sei,
seine gedanken in die rechten worte zu kleiden."* 'nur noch etliche
meisterstücke', fährt W. wörtlich fort, 'wie seine Alceste, so wird
dieser mann der nachweit gewis so ehrwürdig sein, als gewis mir
seine Alceste für die Unsterblichkeit der meinigen bürge ist'.
Schon aus diesen werten ist ersichtlich, dasz W. auf seine
Alceste nicht wenig stolz war; ja er gieng bekanntlich so weit, sie
für wesentlich besser zu halten als das Schauspiel des Euripides.
über seine Veränderungen und Verbesserungen hat er sich, wie be-
kannt, ausgesprochen im deutschen Merkur in den 'briefen an einen
freund'^ über das deutsche Singspiel Alceste (W.s werke, Hempel
Berlin, bd. 29 s. 37—73).
Fassen wir es mit wenigen worten zusammen, worin Wieland
den Euripides übertroffen zu haben meint, so ist es im gründe nicht
** vgl. damit, was Lessing 'Hamb. dramat. ankündigung' von dem
Schauspieler und seiner aufgäbe sagt: 'er musz überall mit dem dichter
denken; er musz da, wo dem dichter etwas menschliches widerfahren
ist, für ihn denken.'
*^ Joh. Georg Jacobi.
294 E. Plaumann: Admet uüd Alkestis und der arme Heinrich.
weniger als alles: da bat er zunächst die zahl der personen zum
vorteil des stücks gemindert: Apollo, Pheres, die chöre musten
fallen, eine person '^ freilich trat hinzu , doch durch die nahe be-
ziehung zu den bauptpersonen wurde sie ein angenehmer ersatz für
andere personen des Euripides. dann ist der i^lan des ganzen und
seine ausführung vereinfacht, dazu kommt drittens die art, wie
Hercules in die handlung verflochten ist, ebenso wie sein Charakter,
in welchem Wieland sich an die darstellung des Prodicus gehalten,
wiewohl er sich entschuldigen musz, dasz der charakter nicht durch-
weg aus einem gusse sei. und scblieszlich sind die Charaktere der
andern personen geändert und — gebessert, der Alcestens und der
des Admet, und letzteren rühmt er sich besonders gelungen dar-
gestellt zu haben , weil nur so durch mehrere acte unser Interesse
für ihn nach dem tode der liebenswürdigen Alceste wach zu ein-
halten möglich gewesen sei. und ganz zum schlusz ist auch die
Wiedererweckung Alcestens besser gestaltet und die etwa ent-
stehende frage nach dem 'wie?' treffender beantwortet.
Ellinger (a. a. o. s. 36 ff.) hebt hiervon drei punkte als haupt-
sächlich charakteristisch für die moderne Alceste-behandlung heraus
im unterschiede zu der Learbeitung des Euripides, gegen die auch
Wielands tadel in dem stück des Euripides sich richtet: 1) das ge-
spräch des Admet mit seinem vater Pheros; 2) die thatsache, dasz
Alceste sich mit Zustimmung des Admet opfert, und 3) das burschi-
kose auftreten des Hercules, unbedingt beistimmen kann Ellinger
— und auch ich bin der ansieht — nur dem ersten tadel, weniger
dem zweiten und am wenigsten dem dritten, man hat dabei einen
zu modernen maszstab angelegt.
Ergrimmt über das Singspiel und die fünf briefe darüber,
welche Wieland im januar und märz 1773 in den ersten heften
des von ihm eben begründeten 'deutschen Merkur' herausgegeben
hatte, machte ihn Goethe in einer farce (satire) 'götter, beiden
und Wieland' " lächerlich (Goethes werke herausgeg. von Strehlke,
Berlin, Hempel, bd. 8 s. 253 — 74). die ganze scene spielt in
der unterweit, wohin Merkur eben einige seelen geleitet hat und
auch Wieland im schlafe citiert wird. Merkur erhebt darin gegen
Wieland die anklage, dasz er seinen namen gemisbraucht, ihn pro-
stituiert habe; Admet und Alceste, dasz er ihre Charaktere ver-
hunzt, aus ihnen abgeschmackte, gezierte, hagere, blasse püppchen
gemacht, die beide für einander sterben wollten; zumal habe er
keine ahnung von den gründen für Admets liebe zum leben;
Euripides, Wieland habe keine ader griechischen blutes im leibe
und kein Verständnis für die idee von des Euripides stück, von den
Charakteren, von dem gründe, auf dem das stück aufgebaut sei,
auch nicht von der griechischen gastfreundschaft u. dgl.; ebenso
" Parthenia, Alcestens Schwester.
" form und einkleidung betreflfend s. Ellinger s. 39.
E. Plaumann: Admet und Alkestis und der arme Heinrich. 295
keine Vorstellung von dem werte des prologs und von der persön-
lichkeit, die ihn spreche, von Apollo, und von der bedeutung des
chors. Hera des spricht ihm schlieszlich überhaupt die Fähigkeit
der Phantasie ab, um gestalten, wie er, auch nur sich vorzustellen,
geschweige denn darzustellen, den gestalten Wielands wird hier-
gegen der Vorwurf gemacht, dasz dieselben alle aus einer familie
stammten, sie sähen einander ähnlich , wie ein ei dem andern, und
der dichter habe sie zu einem unbedeutenden brei zusammengerührt :
da sei eine frau, die für ihren mann sterben wolle, ein mann, der
für seine frau sterben wolle, ein held, der für beide sterben wolle,
so dasz nichts weiter übrig bleibe, als das langweilige stück Parthenia,
die man am liebsten beseitigte.
Ist nun früher die ansieht geäuszert worden (Rosenkranz,
Goethe u, s. werke, 2e aufl. s. 173), dasz das ganze mehr gegen den
deutschen Merkur als gegen die Alceste gerichtet gewesen sei; oder
(H. Koepert, über 'götter, beiden und Wieland', progr. d. gyranas.
zu Eisleben 1864), dasz Goethe unter anderm auch beweisen wolle,
Wieland habe keinen beruf zum dramatiker, so ist jetzt wohl die
ansieht herschend, dasz vielmehr einzig oder überwiegend das Sing-
spiel und die briefe es sind, welche Goethe angreift '\ vgl. Strehlke,
vorrede zu Goethes werken, bd. 8 s. 255 ff. und Foerster in der ein-
leitung dazu, ebenso Ellinger a. a. o. s. 36, der sogar behauptet, und
das scheint mir auch richtig, dasz weniger die Alceste selbst, trotz-
dem Goethe an dei'selben die modernisierung der alten helden-
gestalten'^ abstiesz, als vielmehr die briefe über das Singspiel das
ziel von Goethes satire sind.
Da möchte es sich denn doch zunächst fragen, — und dieser
frage Strehlkes musz man sich anschlieszen — ob Wieland wirklich
in seiner darstellung der Alceste einen so furchtbaren misgriff gethan
hat. man hat seit Goethes satire dies fast allgemein angenommen,
und es ist dem gegenüber schon auffallend , wenn F. H. Jacobi in
einem briefe an Heinse vom 24 october 1780 ein urteil Lessings an-
führt, welches ganz anders lautet: 'mir fällt bei dieser gelegenheit
ein', schreibt Jacobi, 'dasz Lessing von der farce «götter, beiden
und Wieland» sagte, Goethe hätte darin bewiesen, dasz er noch viel
weiter als Wieland entfernt sei, den Euripides zu verstehen. Goethes
ideen darüber seien der klarste unsinn, wahres tolles zeug, es sei
unverantwortlich von Wieland, dasz er dies damals nicht ans licht
gestellt habe.' allerdings stammt dieser brief aus einer zeit, in der,
'* schon Kehrein, die dramatische poesie der Deutschen, Leipzig
1840 I s. 279 sagt: 'gegen die allzu modern gehaltene Alceste war
Goethes jugendlich-kühne satire «götter usw.» besonders gerichtet.'
'ä schreibt Goethe doch selbst in einem briefe an seinen freund,
den consul Schoenborn in Algier, vom 1 juni 1774 in bezug auf dieses
stück: 'auf Wieland habe ich ein schändlich ding drucken lassen,
unterm titel «götter, beiden und Wieland, eine farce». ich turlupiniere
ihn auf eine garstige weise über seine moderne mattherzigkeit in dar-
stellung jener liesengestalten einer markigen fabelweit' (Str.).
296 E. Plaumann: Admet und Alkestis und der arme Heinrich.
wie aus dem übrigen inhalt desselben hervorgeht, Jacobi wegen der
kreuzerhöhung des Woldemar^" noch höchst entrüstet war, so dasz
er Lessings urteil etwas herb darstellen mochte; aber so viel ist
wenigstens darnach sicher, dasz Zelter (Goethe- Zelterscher brief-
wechsel V 55) bedeutend irrt, wenn er meint, Goethes farce habe
Lessing bei ihrem erscheinen groszen spasz gemacht usw. die
Alkestis des Euripides ist keineswegs eine tragödie im eigentlichen
sinne des worts. das beweist nicht allein die katastrophe, sondern
vor allem der durchaus mit komischen elementen versetzte Charakter
des Hercules, der sich wesentlich von dem in der tragödie z. b. in
den 'Trachinierinnen' des Sophokles oder in dem 'rasenden Heracles'
des Euripides selber unterscheidet.^' ja auch der Hercules des
Prodicus hat in gewissem sinne seine berechtigung. war es nun
Wieland zu verargen, dasz er von diesem vielgestalteten charakter
diejenige auffassung wählte, welche seinen zwecken am angemessen-
sten erschien? es handelte sich für ihn um ein rührendes Singspiel
— und wir glauben nicht, dasz er einen Heracles in anderer gestalt
als in der von ihm gewählten hätte brauchen können, kann sich
doch überhaupt das singspiel und die oper nicht auf eine allzu
specielle Zeichnung der Charaktere einlassen , sondern musz all-
gemeine typen festhalten, ebenso, scheint es, geschieht Wieland
unrecht, wenn Goethe ihn tadelt, dasz er den Admet nicht ohne
das gröste sträuben das opfer der Alkestis annehmen läszt. dem
modernen sinn widerstrebt das verfahren des Admet, der bei Euri-
pides seinen vater und seine mutter hat bewegen wollen , für ihn zu
sterben, und als diese nicht darauf eingehen, ohne weiteres das
opfer seiner gattin annimmt. Wieland muste der sache eine andere
Wendung geben, wenn er sie moderner anschauung näher bringen
wollte, das hat Goethe selbst in seiner Iphigenie gethan , die in-
dessen nur in diesem punkte mit der Alkestis verglichen werden
soll, aber wenn auch Wieland in diesen beiden punkten gerecht-
fertigt werden kann, so wird darum nicht behauptet, dasz sein
Singspiel nicht in vieler beziehung ein schwaches product ist, das
in handlung und Charakteristik zu den wesentlichsten ausstellungen
veranlassung gibt, dazu kam ferner, dasz Wieland, namentlich
nachdem Schweitzer sein stück in musik gesetzt hatte und dasselbe
20 yg]^ Foerster, einleitung zu Goethes leben und werken, Berlin,
Hempel, 1868, ausg. v. Strehlke. mit F. H. Jacobi trat eine etwas
längere Spannung ein. an dieser trug Goethe selbst die schuld, in
übermütiger laune und heiterer gesellschaft hatte er dessen roman
Woldemar (1779) an einen baura genagelt, war dann selbst auf diesen
hinaufgestiegen und hatte über den armen sünder eine komische stand-
rede gehalten, es dauerte einige jähre, bis Jacobi sich wieder ver-
söhnlich zeigte, vermittelungen durch Knebel, durcli frau von La Roche,
durcli frau Schlosser in Emmendingen (vgl. briefwechsel zwischen Goethe
und F. H. Jacobi s. 57) erwiesen sich als erfolglos; aber am 2 october
1782 schreibt Goethe usw.
" vgl. Ellinger a. a. o. s. 1: 'Euripides liesz bekanntlich die Alkestis
als viertes stück an stelle des satyrdramas aufführen.'
E. Plaumann: Admet und Alkestis und der arme Heinrich. 297
in Weimar aufgeführt war, allzu groszes gefallen an seinem eignen
werke fand und sich sogar berufen fühlte , wozu für ihn nicht die
mindeste veranlassung vorlag, die behandlung des Euripides in den
oben erwähnten briefen gegen die seinige herabzusetzen.^'* das
reizte Goethe, und die satire wurde ebenso schnell verfaszt wie
herausgegeben. — Die durchaus gemäszigten entgegnungen Wielands
finden sich in dem juliheft des Merkur von 1774. in einer derselben
beiszt es: 'wir empfehlen diese kleine schrift allen liebhabern der
pasquinischen manier als ein meisterstück von persiflage und sophisti-
schem witz , der sich aus allen möglichen Standpunkten sorgfältig
denjenigen aussucht, aus dem ihm der gegenständ schief vorkommen
musz , und sich dann recht herzlich lustig darüber macht, dasz das
ding so schief ist' (Str.). übrigens wüste Goethe , entweder weil er
sich überzeugte, dasz Wielands ansieht vom ästhetischen gesichts-
punkte aus wohl motiviert sei, oder weil es ihm leid that, den sonst
hochverehrten mann gekränkt zu haben , der noch dazu seine ent-
gegnungen in sehr gemäszigter weise aussprach, ihn, noch ehe sich
die Verhältnisse mit Weimar zu bilden begannen, durch einen offen-
herzigen bi'ief zu versöhnen (Foerster).
'Allerdings ist die satire', sagt auch Ellinger a. a. o. s. 39 ff.,
'in hohem grade ungerecht ; denn so erbärmlich , wie Goethe es
schildert, ist Wielands stück nicht; diesen schonungslosen spott hat
es keineswegs verdient, allein man musz immer erwägen, dasz es
Goethes absieht in allen dingen war, Wieland wegen der briefe im
deutschen Merkur zu strafen, wenn Goethe später in die bahn,
welche Wieland in der Alceste eingeschlagen, mit der Iphigenie
wieder einlenkte (vgl. auch E. s. 35 ff.), so kann man darin viel-
leicht ein zeichen sehen, dasz er die Ungerechtigkeit seines Urteils
erkannte und dasselbe durch die that wieder gut zu machen suchte.'
ein mündliches oder schriftliches eingeständnis dessen liegt sicher-
lich doch schon in dem oben angeführten briefe an Schoenborn und
speciell in der bezeichnung 'schändlich ding' für seine eigne dichtung
und 'garstige weise' für sein verfahren, aber auch in einem andern
briefe, an Kestner, schreibt Goethe: 'mein garstig zeug gegen Wieland
macht mehr lärm als ich dachte, er führt sich gut dabei auf, und
so bin ich im tort.' in einem andern briefe spricht er von einem
gewissen schand- und frevelstück 'götter, beiden und Wieland',
'hatte man früher die Alceste Wielands nur wenig beachtet und
sich besonders infolge der Verspottung Goethes daran gewöhnt, sie
als verfehlt zu betrachten , so gerät man jetzt in die gefahr , sie zu
überschätzen' (E. s. 35). ^^^
" vgl. auch Ellinger: 'was uns an dem ganzen aufsatz von Wieland
am unangenehmsten auffällt, ist die Selbstgefälligkeit und eitelkeit,
mit welcher er seine Alceste der des Euripides als voUkommneres werk
gegenüberstellte.'
23 sicherlich wäre es nun von groszem Interesse zuzusehen, ob
nicht vielleicht in der Weimarischen ausgäbe Goethes, in briefen usw.
298 E. Plaumann: Admet und Alkestis und der arme Heinrich.
Auch Bacine (1639 — 99) hat den plan gehabt, den Alceste-
stoff in moderner form auf die bühne zu bringen, bat ihn aber nicht
ausgeführt (E. s. 40).
Saint- Foix 'Alceste'. divertissement 1752. nicht behand-
lung der antiken sage, sondern eine frostige allegorie, ein ganz
klägliches machwerk; eine fade, platte Schmeichelei gegen den
französischen dauphin und dessen gattin (E. s. 40 f.).
Alfieri, der gröste italienische tragiker des 18n Jahrhunderts
'Alcesta seconda'; eine mystification, als wäre auch dieses die Über-
setzung eines zweiten Stückes des Euripides (thatsächlich hat A.
die Alkestis des Euripides übersetzt), deshalb am Schlüsse jeden
actes ein chorgesang; nüchtern und banal, die hellenischen helden-
gestalten sind aller grösze entkleidet und zu ganz gewohnlichen
menschen gemacht, doch fehlen auch die sonstigen poetischen
Schönheiten; die handlung matt, motivierung schwach, spräche
schablonenhaft; Alcestens edelmut eindruckslos, weil auch Pheres
desselben teilhaftig ist (E. s. 42).
Jean Fran9ois Ducis 'Oedipe chez Admöte 1778.' Ver-
bindung der Alceste-sage mit den vergangen des Oedipus auf
Kolonos; wunderlicher mischmasch; Admet und Alceste, Polynices
und Oedipus wetteifern in Opfermut (unnatürlich!), dabei jedoch
auszerordentliches theatralisches geschick und reichliche theater-
effecte, aber die spräche frostig, hohles pathos und ungehörige Ver-
mischung zweier sich ganz fremder sagen, im ganzen ist das stück
ungenieszbar (E. s. 45 fl".).
Cornelius von Ayrenhoff, Wiener poet. Satire auf die
Alceste-sage 'Alceste', ein lustspiel des Aristophanes, aus dem
griechischen übersetzt (zuerst gedruckt in Ayrenhofifs sämtl. werken,
Wien 1803). hauptangrifiF gegen Calsabigi gerichtet, in seiner vor-
rede bezeichnet er die sage als abgeschmackt und für einen Christen
gefährlich, im stück erscheint Alceste als gemeine buhlerin. arm-
selige erfindung, klägliche ausführung, gewürzt mit platten, faden
scherzen und niedrig gemeinen, obscönen witzen: ein erbärmliches
und albernes, ja ekelhaftes machwerk (E. s. 47 ff.).
Herder 'Admetus' haus oder der tausch des Schicksals', ein
drama mit gesängen, 1802 — 3: in einzelnen zügen durch Calsa-
bigi beeinfluszt. nicht durchweg gelungen und hinter Wielands
Alceste zurückstehend ; es fehlt die belebende dramatische kraft,
zerbröckelt in einzelne lyrische scenen; auch Verletzung der Stim-
mung z. b. der tod als knochenmann in einem antiken drama!
(E. s. 50 flf.).
vor allem im Goethejahrbuch etwas neues über 'götter, beiden und
Wieland' steht; auch inwieweit die Alceste Wielands in aufsätzen und
reeensionen wapen ihres etwaigen einflusses auf Goethes oder Glucks
Iphigenie besprochen worden ist. doch die umstände verbieten mir
dies, auch kann für meinen zweck obiges genügen.
E. Plaumann: Admet und Alkestis und der arme Heinrich. 299
Mit Herders stück schlieszt die entwicklungsgeschichte der
Alceste in der modernen litteratur vorläufig ab (E. s. 53).
Einen dem mythos von der Alkestis vielfach ähnlichen stofE"
hat Hartmann von Aue behandelt in der sage 'der arme Heinrich',
einer poetischen erzählung, zu der er den stoff einer lateinisch auf-
gezeichneten einheimischen sage entlehnte, einer geschlechtssage
seiner lehnsherren, der schwäbischen herren von Aue.^' hierbei
musz ich verweisen auf ein buch von P. Cassel : 'die Symbolik des
blutes und der arme Heinrich von Hartmann von Aue (Berlin,
A. Hofmann & co., 1882).* im besonderen kommen hier in betracht
die abschnitte 'jungfrauenopfer' s. 138 ff., 'kinderopfer und blut'
s. 147 flF. , 'von der heilung des aussatzes durch blut' s. 158 ff. und
für den armen Heinrich der abschnitt: 'die dichtung und ihre
deutung' s. 124 — 223. es ist dies buch nach des Verfassers eignen
werten eine in gröszerem maszstabe angelegte fortführung eines
aufsatzes von ihm in dem Weimarischen Jahrbuch des jahres 1854,
Der Stoff knüpft an bekannte zeitvorstellungen an (rittertum,
bauernstand, aussatz, Salernos medicinischer ruf), behandelt ein
tiefes Seelenproblem und ist im besten sinne geistlich und fromm -^
rührend und erhebend, der plötzliche Umschlag des geschicks ist
ebenso wahr als ergreifend geschildert (Frick)^®:
Im lande der Schwaben lebt ein ritter, der bei jugendlichem
alter reich an macht und weltlicher fügend und deshalb weit und
breit berühmt ist. doch bei diesem weltlichen reichtum geistlich
arm wird er in dem voUgenusz irdischer guter von gott mit einer
schweren prüfung heimgesucht und beweist an sich, dasz der mensch
gerade dann dem tode am nächsten ist, wenn er am besten zu leben
glaubt": er wird von dem aussatz (miselsucht)^^ befallen, infolge
dessen die menschen voll ekel sich von ihm abwenden, alle ärzte, die
er befragt, erklären ihn für unheilbar, zu Salerno schlieszlich er-
hält er die rätselhafte antwort, dasz er zwar heilbar sei und doch
*» eine nachdichtung des liedes besitzen wir von Chamisso.
*■' vgl. Eggert, über die erzählenden dichtungen Hartmanns von
Aue, Schwerin 1874 (Calvary u. co., Berlin), s. 8.
*6 vgl. Frick, aus deutsch. Ibb. 4r bd.; auch über das dichterische
motiv.
27 vgl. C. a. a. 0. 8. 198.
2^ der aussatz wurde als strafe gottes angesehen, der damit be-
haftete wurde aus der gesellschaft ausgestoszen, durfte nicht den öffent-
lichen gottesdienst besuchen usw. galt der aussatz als durch natür-
liche mittel unheilbar und begnügte man sich eben darum mit der
Absonderung der kranken, so war das mittelalter von der heilkraft
übernatürlicher mittel überzeugt, dazu gehörte in erster linie das un-
mittelbare eingreifen gottes, — 'weil vom aussatze heil zu werden,
wunderbar war und selten in jener zeit, so ist an eine göttliche gnade
dabei zu denken, ganz natürlich' (C. a. a. o. s. 219) — dann schlangen
und besonders das blut unschuldiger kinder; höchste reinheit sollte
höchste Unreinheit heilen; auch thau vom himmel kommt vor. Goetzinger,
reallexikon.
300 E. Plaumann : Admet und Alkestis und der arme Heinrich.
nicht genesen könne"; denn schlechterdings könne er nur gerettet
werden, wenn eine reine Jungfrau freiwillig für ihn ihr herzblut
hingebe, 'die reichen und groszen denken nun allerdings, sie
können alles mit ihrem gelde erkaufen ; aber können sie denn Un-
schuld und freie liebe erzwingen? welcher mensch, ob auch noch so
reich, kann denn freiwillige liebe in dem masze nötigen, dasz sie
sich ihm ohne ein Wölkchen von trübsinn opfert? wer kann Un-
schuld erzwingen, die durch ihr blut nur dann heilt, wenn auch
nicht ein gran von geheimen sündigen gedanken daran hängen ge-
blieben?'^" da sinkt denn Heinrichs letzter trost, und betrübnis
bis zum lebensüberdrusz ergreift ihn.^' so kehrt er heim und ver-
schenkt alle seine habe, nur einen einsamen meierhof am waldes-
rand behält er für sich, um dort sein leid zu beklagen und seine
tage zu beschlieszen. der Verwalter dieses hofes nimmt aus dank-
barkeit für die rücksichtsvolle behandlung, die er genossen, den
herrn bei sich auf und pflegt ihn mit liebe und treue. ^^ zumal seine
achtjährige tochter, ein irdisch armes, aber geistlich desto reicheres
kind'^ bringt dem herrn besonders zärtliche Zuneigung entgegen,
weicht nicht von seiner seite und 'weisz gefällig, spielend, kosend
ihm des bittern grames wölken von der stirne zu verscheuchen',
so gehen drei jähre der quäl für den dulder dahin: da erfährt das
mädchen durch einen zufall, durch welches mittel allein der kranke
geheilt werden könne, und sofort sagt es ihr eine stimme im innern,
dasz sie berufen sei, den herrn zu retten; und ihr entschlusz ist ge-
faszt. ^'* vergebens versucht der vater mit der Versicherung, dasz sie
'thöricht überschwengliches verspreche, wie es kinder zu thun
pflegten, weil sie den herben tod noch nicht geschauet', von ihrem
vorhaben abzubringen^^; vergebens die mutter mit dem hinweis
darauf, dasz ihr entschlusz eine Verletzung des vierten gebots sei;
vergebens Heinrich selbst damit, dasz ihr anerbieten ein kindischer
einfall sei, den sie bald bereuen werde. '^ sie aber schätzt ihr leben
eben gering, wenn sie ihm nicht helfen kann." so zieht sie denn
mit ihrem herrn nach Salerno und wird bei dem arzte eingeführt,
der zunächst unter vier äugen ein strenges verhör mit ihr abhält,
ob sie auch nicht etwa durch drohungen ihres herrn zu ihrem ent-
schlusse veranlaszt sei , und ihr eröffnet, dasz sie dann ohne nutzen
29 vgl. C. a. a. 0. s. 198.
30 vgl. C. a. a. 0. s. 199.
" vgl. C. a. a. o. s. 202.
32 vgl. C. a. a. o. s. 203.
33 vgl. C. a. a. 0. s. 205.
3< über die darin sich bekundende tiefe philosophische auffassung-
des weiblichen wesens und unvergleichliche feinsinnigkeit Hartmanns
s. C. a. a. o. s. 207 f.
35 Vgl. C. a. a. o. s. 209 ff.
36 Über den einflusz der öffentlichen meinung auf Heinrichs ent-
schlusz s C. a. a. o. s. 221.
37 vgl. C. a. a. 0. s. 218.
E. Plaumann: Admet und Alkestis und der arme Heinrieb. 301
für ihren herrn den tod erleiden würde; auch dasz er ihr das herz
bei lebendigem leibe herausschneiden müsse, doch die quälen des
todes schrecken sie nicht; sie bleibt fest in ihrem entschlusz. schon
will nun der meister das messer, das er in ihrer gegenwart gewetzt
hat, an sie legen: da ergreift den Heini'ich reue darüber, dasz er um
sein lästerliches leben diese Unschuld opfern und schreiend blut auf
seine seele laden wolle; 'es überkommt ihn mit einem neuen wesen;
ihm wird das unrecht, das er begehen will, auf einmal klar, und
wie von einer neuen herzensgewalt ergriffen, mag er jetzt ihren tod
um keinen preis; ihn erweicht nicht ihr bitten, ihn erweicht nicht
ihr spott'.^® er ist entschlossen, sein siechtum in demut und geduld
zu tragen, so bleibt sie am leben, und Heinrich zieht mit ihr heim
auch ohne die hofifnung, gesund zu werden, und selbst auf die ge-
fahr hin, dort spott zu ernten, den er nun nicht mehr fürchtet, der
lohn aber solcher treue bleibt nicht aus; denn er, der herzen und
nieren des menschen prüft und durchschaut, hat ir triuwe unde ir
not erkannt, nimmt den aussatz von ihm und macht ihn gesund und
frisch wie vor zwanzig jähren. Heinrich aber hat jetzt keine andere
gedanken^* als den des dankes und der liebe zu dem opferfreudigen
mädchen, dem er ehre und leben schuldet, und nimmt sie deshalb
zur gattin. 'so endet die überstandene prüfung im lohne ver-
borgener treuer liebe vor gottes altar' (C). nach einem langen
schönen leben aber erwerben sie das reich gottes. — Die erzählung
lag dem dichter vor; ihm aber gehört die feine psychologische aus-
führung; er schafft aus der geschichte die schönste und reinste
Sittenlehre für seine Zeitgenossen; man könne das leben genieszen,
aber nicht ohne gott; mau brauche nicht die guter der weit, die
Schönheit, den rühm, den beifall zu verwerfen, aber nicht auf sie
allein das heil zu stellen, ist eines mannes würdig, er lehrt die
süsze gewalt einer keusch verborgenen neigung, er lehrt, dasz treue
durch gottes huld zum ziele gelange; dasz rücksichtslos nach besse-
rung der irdischen Verhältnisse gegen gottes willen zu streben
sündig ist, dasz aber ein liebevolles, minnigliches wesen selbst die
unterschiede ausgleicht, welche stand und reichtum sonst darstellen.
an herrn Heinrich und an dem mägdlein bezeugt er die Wahrheit
des alten Spruchs:
wer reht tuot der ist wol geborn:
äne tugent ist adel gar verlorn.'**^
die erzählung ist eine asketische erinnerung an die in Jugend und
kraft blühenden ritter, voll reichtum und behaglichkeit, kühn in
thaten und durch erfolge, dasz sie vor den armen und dürftigen bei
gott keinen vorzug haben.*' die ergreifenden gegensätze aber in
dem innigen, frommen gedichte sind die Zerbrechlichkeit des
38 vgl. C. a. a. o. s. 213.
39 vgl. C. a. a. o. s. 214.
^0 vgl. C. a. a. o. s. 219.
"' vgl. C. a. a. 0. s. 197.
302 E. Plaumann: Admet und Alkestis und der arme Heinrich.
menschlichen glückes und die Stetigkeit der treue, der zarteste
weibliche Opfermut und die tiefgewurzelte Selbstsucht in dem
mannesherzen, die Überwindung dieses schlimmsten inneren feindes
und damit die äuszere genesung und die Wiederherstellung des
glückes. "'
Was die Charaktere betrifft, so sehen wir in Heinrich
einen mann von edler geburt v. 42 f.
sin burt unwandelbaere
und wol den fürsten gelich usw.
Vgl. V. 39. 45.
Er ist jung, schön, heiter: v. 60 'er was ein bluome der
jugent' und 78 'und froellches muotes', und erfreut sich bedeuten-
den reich tum s V. 38 f. er het ze sinen banden geburt und dar
zuo richeit (vgl. v. 41. 76 ff.), so dasz er auf denselben stolz sein
kann und mit demselben die kunst des arztes zu gewinnen hoffen
darf, um sich aus seiner traurigen läge zu retten v. 207 — 13 :
ja hän ich guotes wol die kraft:
ir enwellet iwer meisterschaft
und iwer reht ouch brechen
und dar zuo versprechen
beidiu min silber und min golt,
ich mache iuch mir also holt,
daz ir mich harte gern ernert
sagt er zu dem meister der heilkunst in Montpellier, dazu besitzt er
edlen sinn (v. 46) und ist wohlthätig; er ist eine Zuflucht
der verwandten und armen und höchst gerecht v. 64 — 67:
er was der nothaften fluht,
ein schilt siner mäge,
der milte ein glichiu wäge:
im enwart üher noch gebrest.
besonders beweist er diesen edlen, wohlthätigen sinn dem bauern
gegenüber; derselbe ist vor seinesgleichen besonders gut gestellt;
er wird nicht mit zins und steuern gedrückt (v. 267 — 82), steht im
schütze des herrn vor jedem leid und gibt nur so viel, als er frei-
willig und gern gibt v. 267 f. :
swaz dirre gehöre gerne tete
des dühte sinen herren genuoc
(vgl. 927 — 30). dabei ist der herr selbst nicht müszig; denn ehre
und rühm werden nur durch eifer und anstrengung gewonnen
(v. 68 f.); und er ist deshalb reich an weltlichen ehren und
freuden v. 54 — 59:
an alle missewende
stuont sin ere und sin leben.
im was der rehte wünsch gegeben
ze werltlichen eren;
die künde er wol gemeren
mit aller hande reiner tugent;
** vgl. Frick
E. Plaumann: Admet und Alkestis und der arme Heinrich. 303
im V. 61 wird er genannt 'der werlte fröude ein Spiegelglas' und
v. 76 — 81 heiszt es von ihm:
der herre Heinrich
also geniete sich
eren unde guotes
und froeliches muotes
und werltlicher wünne
und was für al sin künne
gepriset unde geeret.
er gesteht es später selbst, dasz all sein streben auf irdischen genusz
gerichtet war (v. 385—89).
Dabei ist er ohne falsch, gerade, offen (v. 507) ein mann
von feiner sitte (v. 51. 63. 74), zuverlässig und treu, ein
mann von wort (v. 50, — 53), heiszt er doch: staeter triuwe ein
adamas (v. 62); verständigen rates kundig: er was des rätes
bruecke (v. 70 vgl. 74); ein Sänger der liebe (v. 71), kurzum er
besitzt jede weltliche tugend, die ein ritter in seiner jugend
haben kann v. 32—37:
an im enwas verge33en
deheiner der tugent,
die ein ritter in siner jugent
ze vollem lobe haben sol.
man sprach do nieman also wol
in allen den landen.
Vgl. V. 59. 1340 f. deshalb ist er allbekannt (v. 47) und beliebt
(v. 127), und sein späteres tragisches Schicksal findet allgemeine
teilnähme selbst da, wo man ihn nicht persönlich kennt (v. 263
— 66), ebenso wie das gerücht von seiner genesung freudige auf-
regung in seiner ganzen heimat schafi"t, welche die leute nicht zu
hause duldet, so dasz sie ihm meilenweit entgegenziehen, um sich
möglichst bald von der Wahrheit selbst zu tiberzeugen (v. 387—91).
Das ist doch wohl, meine ich, eine ganze reihe der schönsten
tugenden, die unsern ritter zieren! und doch befällt ihn eine so
schreckliche plage, trifft ihn eine so peinliche strafe, nun, der
dichter gibt uns aufschlusz darüber und betont es ausdrücklich, dasz
nur weltliche ehren und tugenden ihn zieren, und weist
darauf hin, dasz an ihnen allein der mensch sich nicht genügen
lassen dürfe; es gebe noch höhere, die er besitzen müsse, um vor
leid bewahrt zu sein, so vergi:5zt auch unser ritter in dem genusz
der guter, freuden und ehren dieser weit ganz, dasz ihr besitz nicht
allein sein verdienst sei, und dasz es auch einmal anders werden
könnte, und bereitet sich nicht nur nicht auf einen Wechsel vor,
sondern wird hochmütig und vergisztgott, von dem alle gute
und vollkommene gäbe kommt, so trifft ihn das Unglück unvor-
bereitet V. 153—56 :
ein swinde finster donerslac
zebracb im sinen mitten tac,
ein trüebe3 wölken unde die
bedaht im siner sunnen blic.
304 E. Plaumann: Admet und Alkestis und der arme Heinrieb.
V. 82 f.:
sin hochmuot wart verkeret
in ein leben gar geneiget.
(vgl. 150 f. 404). traurig gesteht er v. 400 flf.:
sus troug ouch mich min tumber wän,
wan ich in lützel ane sach,
von des genäden mir geschach
vil eren unde guotes.
Auch P. Cassel a. a. o. s, 198 äuszert sich in ähnlicher weise:
'Heinrich war eine blume der ritterschaft , ein musterbild in treue
und in gute: 'er sang viel von minne, darum konnte er von der weit
lob und preis gewinnen, er war hövesch und darzuo wls.' aber
nach Hartmanns auch in seinen liedern vorgetragener ansieht reicht
das nicht aus, der weit lohn zu haben; man musz ein 'gottesritter'
sein; das war der herr Heinrich nicht; er wüste nicht, dasz wer in
der höchsten würde vor gott lebt, vor gott am wenigsten gelte, wenn
er die demut nicht besitzt; darum wird 'sein hochmut bald ver-
kehret in ein sehr niedriges leben' usw.
Je unerwarteter der schlag ihn trifft, desto schneller verliert
er die geduld (v. 137), und er wird trürec und unfrö (v. 148); ja er
geht sogar so weit, dasz er wiederholt den tag seiner geburt ver-
flucht (v. 57 — 62). und doch wird ihm noch der trost zu teil, dasz
diese krankheit verschieden auftrete und vielleicht noch heilbar sei.
als aber gar zu Montpellier und dann zu Salerno von ärztlichen
autoritäten auf sein befragen die unheilbarkeit des leidens ihm er-
öffnet wird, da versinkt er in tiefe trostlosigkeit (v. 223 — 36). es
ist also wohl hauptsächlich als ein act der Verzweiflung zu betrachten,
dasz er nun auf sein ganzes besitztum verzichtet, es an arme und an
die kirche verschenkt, damit gott sich seiner armen seele erbarme
(v. 242—60):
daz sich got erbarmen
geruochte über der sele heil
(254 f.). hierin scheint schon ein anfang zur besserung zu liegen;
allein die rechte ergebung in gott fehlt ihm noch; er ist
noch nicht fähig, sein Schicksal ganz in gottes band zu legen und
mit ergebung zu tragen, doch zieht er sich aus scheu vor der weit
in die einsamkeit zurück auf ein einsames gereute, dessen pächter
aus dankbarkeit ihn bei sich aufnimmt (v. 208 — 60. 283 — 94). wie
denn überhaupt edle gesinnung Heinrich eigen ist, so zeigt er sich tief
dankbar gegenüber dem bauern und seiner familie, zumal da dessen
tochter sich seiner pflege so treulich annimmt (v. 328 — 41), dasz
auch er für das kind eine herzliche Zuneigung faszt. doch lehnt er
das angebot des mädchens, für ihn zu sterben, ab, weil er es (v. 927
— 30) für einen kindischen einfall hält, von dem er fürchtet, dasz
er doch nicht zur ausführung komme und sein leben nicht werde
gerettet werden (937 — 48), also entschieden aus einem selbstischen
E. Plaumann: Admet und Alkestis und der arme Heinrich. 305
gründe, wie es auch der umstand beweist, dasz er schlieszlich, nach-
dem er sich von dem ernst der Willigkeit des mädchens überzeugt
hat und auch die eitern ihre einwilligung gegeben, doch das an-
erbieten annimmt; und so ist der 'centralpunkt seines gefühls die
bewahrung des selbst ohne achtung fremden wohls'. allerdings ge-
schieht dies nicht ohne thränen und trauer und bedenken (v. 998
— 1019), wie wir es von seinem edlen sinn erwarten, allein es
siegt doch die Selbstsucht über den edelmut, und des
mädchens leben scheint verloren, als dasselbe aber bereits zum
tode gefesselt ist und das messer zum schnitt ins herz geschärft
wird und Heinrich das wetzen desselben hört, da gibt ihm dies
jedesmal einen stich ins herz und (v. 1234 ff,):
da er stuont vor der tür,
und erbarmete in vil s^re
dag er si niemer mere
lebende solte gesehen,
und er geht in sich und ergibt sich in gottes willen (1242 — 46). die
reine Selbstlosigkeit des mädchens hat endlich seiner bessern empfin-
dung zum siege über seine Selbstsucht verholfen. er thut die
liebe zum leben gegen gottes willen ab (v. 280), erbittet dringend
ihr leben von dem arzte; und es ist dies keine flüchtige regung mehr
in ihm, sondern nachdem er sich zu diesem entschlusse durch-
gerungen hat, bleibt er trotz des Widerspruchs des mädchens dabei
(v. 1333 — 41), selbst als sie dies als einen act der schwäche und
feigheit seinerseits auslegt, und der lohn des himmels bleibt nicht aus
für beide; ihr wille wird für die that angesehen und seine ergebung
in gottes willen der höchsten belohnung gewürdigt; er wird geheilt
und dadurch werden sie beide aufs höchste erfreut (v. 1341). — So
ist er nun endlich zur gottergebenheit und gottesfurcht durch-
gedrungen, welche als die kröne aller tugenden ihm gefehlt hat.
allein auch die liebe, die reinste entwicklung des gefühls, das gegen-
teil von Selbstsucht , wo die Opferung für fremdes wohl der central-
punkt ist, ist nun in sein herz gezogen, und er begehrt und nimmt
das wesen zum weibe, dessen völlige Selbstlosigkeit diesen wandel
in ihm gezeitigt hat, und kann er damit auch gleichzeitig ihr und
den ihrigen den dankestribut abtragen , den er ihnen schuldig ist :
so führen sie auf erden ein glückliches leben bis ans ende und gehen
ein zur ewigen freude nach dem tode.
Wahr und tief erfaszt ist es, sagt auch Frick, dasz der unglück-
liche mann, der seine guter weggegeben, auf alles glück verzichtet
und sich auf den tod gefaszt gemacht hat, doch nicht frei ist von
einer gewissen Selbstsucht, die das eigne dem tode geweihte leben
retten will, die trübsal ist strafe, erziehung, läuterung; aber sie
hatte bei dem elenden manne noch nicht ganz ihren zweck erreicht,
erst nachdem er durch den anblick einer völlig uneigennützigen
liebe herr über seine eigennützige regung geworden , sein geschick
und seine hoffnung ganz in gottes band ergeben hatte, war die
N.jnhrb. f. phil.u. päd. II. abt. 1897 hft.6. 20
306 E. Plaumann : Admet und Alkestis und der arme Heinrich.
innerliche reinigung (v. 303) vollbracht und die Würdigkeit zu
neuem, erhöhtem lebensgltick gewonnen.
Das mädchen steht noch in ganz jugendlichem alter,
sie zählt erst acht jähre zu der zeit, wo Heinrich sich aufdenmeier-
hof zurückzieht; und auch als sie den entschlusz faszt, für ihren
herm sich zu opfern, ist sie erst drei jähre älter (v. 694), also eigent-
lich noch ein kind , und zwar ein schönes, anmutiges kind, dessen
sich auch der kaiser nicht hätte schämen dürfen, v. 311 — 14:
si was ouch so genaeme
da3 si vvol gezaeme
ze kinde dem riebe
an ir waetliche.
V. 1197—1200:
dö si der meister ane sach
in sime herzen er des jach,
das schoener creatiure
al der werlte waere tiure usw.
Vgl. V. 673 ff.:
alle die mich sehende sint,
sprechent, ich si daz schoenste kint,
das si zer werlte haben gesehen.
Vgl. V. 1233: *ir lip der was vil minneclich', und derselbe ausdruck
V. 1273.
Zu der Schönheit des leibes hat sich auch eine schöne seele
gesellt.''^ dieses schöne, anmutige kind ist voll des zartesten
mitleids für seinen herm, das um so wunderbarer ist, als die
andern leute sich von ihm fern halten, v. 315 — 25:
die andern beten den sin
dag si ze rehter mäje in
wol gemiden künden:
do floh si zallen stunden
zuo im und iiiender anders war.
si was sin kurzewile gar.
si bete gar ir gemüete
mit reiner kindes güete
an ir berren gewant,
das ™**" ä^ zallen stunden vant
undr ir berren füege.
Schwere seufz er entringen sich des nachts ihrem um den
herm besorgten herzen (v. 74 — 79) und mit heiszen thränen
benetzt sie ihrer eitern füsze. denn sie sagt es sich und den eitern,
sie könnten keinen gleich guten herrn finden, wenn sie diesen ver-
lieren sollten (490 — 99, vgl. 520 — 24). daher auch ihre aus reiner
herzensgute entspringende dienstwilligkeit ihm gegenüber
(305 ff. 342 ff,), er gilt ihr eben nicht als unrein (er dühte sl vil
reine); pflegte sie doch ihres herrn füsze in ihrem schosze zu halten
V. 461 ff.:
^' über die entwicklung der neigung des mädchens zu ihrem herrn
8. die feinsinnigen gedanken Cassels a. a. o. 207 f.
E. Plaumann: Adniet und Alkestis und der arme Heinricli. 307
wan eg hete diu vil süe3e
ir lieben Herren füege
stände in ir 8ch63en.
Vgl. oben 324 f. sobald sie dann in erfahrung gebracht, auf welche
weise ihm noch und nur allein zu helfen sei, da zeigt sie einen zumal
für ihr alter erstaunlichen mut und eine mehr als kindliche
freudige entschlossenheit. v. 525—31:
des einen si sich gar verwac
gelabtes morne den tac,
da3 sx benamen ir leben
umbe ir herren wolte geben.
von dem gedanke wart si dö
vil singes muotes unde fro.
und nicht insgeheim vor den eitern will sie es thun, sondern sie er-
klärt es ihnen offen am nächsten tage. v. 557 ff.:
ich bin ein maget und bän den muot:
e ich in sibe verderben,
ich wil e für in sterben.
und zwar in völliger Selbstlosigkeit und uneigennützigkeit und ohne
äuszere veranlassung, lediglich aus eignem inneren dränge, vgl.
840—42. 1069 — 71. 1071-1107.
Nun ist es wohl natürlich, dasz die eitern und dann ihr herr
selbst sich diesem ihrem entschlusse widersetzen, allein mit er-
staunlicher klugheit, die weit über ihr kindesalter hinausgeht,
weisz sie alle gegengründe zu entkräften, vgl. 467 — 70. 593 — 627.
wie überzeugend spricht sie, dasz es jedes menschen erste pflicht
sei, sich vor der weit zu bewahren, um rein zu gott einzugehen, und
diese pflicht stehe höher als das von der mutter angeführte gebot
von den pflichten der kinder gegen ihre eitern ; und sie danke gott,
dasz er ihr jenen gedanken eingegeben habe. v. 605 — 10:
ist im (dem menschen) die sele danne verlorn,
so waer er be33er ungeborn.
63 ist mir komen üf da3 zil
(des ich got iemer loben wil),
da3 ich den jungen lip mac geben
umbe da3 ewige leben.
wie rührend und eindringlich weisz sie zu bitten, v. 681 — 740:
muoter, saeligez wip,
sit ich nü slle unde lip
von iuwern genäden hän,
so länt3 an iuwern hulden stän,
da3 ich ouch die beide
von dem tiuvel scheide
und mich gote müe3e geben usw.
vgl. 801-37. 1168-70. 1016 f. 1107—10. 1146-70. 1289-1304.
Da gewinnen die eitern die übei'zeugung , dasz ihr entschlusz
ein von gott eingegebener gedanke sein müsse, v. 347 f. :
iedoch geliebte ir3 aller meist
von gottes gebe ein süe3e geist.
20*
308 E. Plaumann: Admet und Alkestis und der arme Heinrich.
damit hat sie auch deutlich ausgesprochen, dasz die liebe zu ihrem
herrn nicht das einzige motiv zu ihrer selbstlosen Opferung ist,
sondern dasz frömmigkeit und gottergebenheit und der
wünsch, die kröne des ewigen lebens zu erwerben, bei
ihr mitwirken, 'alles ist', sagt Wackernagel (LG. s. 165), 'mit
anmutig lebendiger leichtigkeit und mit feinster seelenkunde vor-
getragen , namentlich in den reden des mädchens , das mit dem un-
gestüm seiner Sehnsucht nach dem bimmel die erste und eigentliche
Ursache seines entschlusses, die liebe zu Heinrich ""^ vor sich selbst
verbergen will*, mit der festigkeit des willens weisz sie auch
Heinrichs Widerspruch zu beseitigen, wie sie solchen neben ihrer
klugheit auch schon vorher den eitern gegenüber gezeigt, wenn es
V. 589 — 92 von ihrem vater heiszt:
alsus so wände er si do
beidiu mit bite und mit drö
gesweigen; do enmohter.
und V. 628:
nu gunnet mirs, wan ej muoj wesen.
und V. 841—43:
wan mir mac daz nieman erwern
zewäre , ich enwelle ernern
minen herren unde mich.
dieselbe festigkeit bewährt sie auch nachher dem arzte gegenüber,
der durch die Vorhaltung der einzelheiten der section sie auf die
probe stellt; und sie erklärt sein zögern geradezu wie vorher
Heinrichs Weigerung (1071 — 1107) für einen act der feigheit
V. 1124 ff.:
iwer angest ist ein teil ze grö^
dar umbe das i*^^ sterben sei.
deswär, ir handelt 63 niht wol
mit iwer grojen meisterschaft.
ich bin ein wip und hän diu kraft:
geturret ir mich sniden
ich getar ez wol erliden usw.
und V. 1134 ff.: (vgl. v. 1171-96)
zwar, ich enwaere her niht komen,
wan das i^^ mich weste
des muotes also veste
das ^^^ ^3 ^^^ '"^^ dulden usw.
und wie aufrichtig sie es gemeint hat, wie ernstlich sie es zu thun
gewillt gewesen ist, geht auch daraus hervor, dasz als die section
unterbleibt (v. 1269 ff.), sie aufs höchste enttäuscht ist und unsäg-
lichen schmerz darüber empfindet v. 1281 ff.:
" über die art dieser liebe , ihr entstehen und ihr ziel s. Cassel
a. a. o. s. 207. doch sagt er an anderer stelle (s. 217 f.) : 'der grund,
um welchen das mädchen sein leben opfert, hat ja einen irdischen bei-
gescbmack.'
E. Plaumann: Admet und Alkestis und der arme Heinrich. 309
do diu maget rehte ersach
da3 ir ze sterben niht geschach,
da war ir muot beswaeret mite.
si brach ir zuht unde ir site:
st gram unde roufte sich;
ir gebaerde wart so jaemerlich
da3 si nieman hete gesehen,
im waere ze weinenne geschehen.
vil bitterlichen si schre:
we mir vil armen unde owe!
wie sol e3 mir nu ergän?
muo3 ich alsus verlorn hän
die riehen himelkrone?
diu waere mir ze löne
gegeben umbe dise not.
nu bin ich alrest tot usw.
Vgl. 1305—41. 1473—1516.
Kurzum 'vortrefflich geschildert ist die Willigkeit des mägdleins,
ihr junges leben für den geliebten herrn zu opfern, ihre innige Sehn-
sucht, dem kranken zu helfen, die reinheit und Selbstlosigkeit ihrer
absieht, die festigkeit ihres willens, die klugheit und eindringlich-
keit ihrer rede, mit der sie den widerstand der schmerzerfüllten
eitern und des unglücklichen kranken besiegt, das fromme verlangen
nach der kröne des himmels und die freudige erhebung über lust
und leid der erde, nie ist eine selbstlose, ganz sich hingebende,
tiefe liebe eines edlen, reinen weiblichen herzens ansprechender,
wahrer und ergreifender dargestellt, als von Hartmann im 'armen
Heinrich' (Prick).
Die letzte persönlichkeit, die wir zu betrachten haben, ist der
bau er; denn seine frau tritt zu wenig hervor und zeigt sich eben
nur als zärtliche, besorgte mutter. in ihm sehen wir einen mit
gesundheit und kraft ausgestatteten (v. 295 — 98), fleiszigen
(267), heiteren und zufriedenen (270 f.) mann (vgl. 1414),
der sich im Wohlstände befindet (280 — 82). letzteren hat er der
liebens Würdigkeit seines herrn zu verdanken, und er beweist seine
dankbarkeit durch die that, indem er allein den herrn bei sich
aufnimmt (278 — 84), um so das genossene gute ihm zu vergelten
und sein mitleid und seine treue dem herrn zu bekunden, der sonst
von den menschen verlassen ist (278 ff. 354 ff. 370 ff. 417 ff. 972 ff.
1015 ff.).
Trotz dieser anhänglichkeit und treue gegen seinen herrn bleibt
er doch ein zärtlich liebender vater, und tief und innig ist
der schmerz und die sorge um sein kind, als die gefahr droht es zu
verlieren (549 ff. 573. 875 ff. 987 ff. 1027 ff.), doch schlieszlich
überwindet er dem herrn zu liebe diesen schmerz und gestattet das
Opfer der tochter, und diese Überwindung trägt ja dann reiche
frucht (855 ff. 972 ff. 1396 ff. 1437 ff.). — 'Der gedanke, der in
der lieblichen erzählung ausgedrückt ist, ermangelt nicht in man-
chen seiner einzelnen züge der analogien mit dichtungen
früherer zeit, auf Hiob verweist Hartmann selbst einigemal,
310 E. Plaumann: Admet und Alkestis und der arme Heinrich.
aber im Hiob ist eben nur das plötzlich eintretende, scheinbar un-
verschuldete elend und die lange duldung des frommen mannes ein
gegenständ des Vergleichs, der sehr nahe lag; sonst fehlte ja der
biblischen theodicee die active liebe und der romantische schmelz
unserer kleinen erzählung, auf die eben der dichter den eigentlichen
poetischen nachdruck legt (Cassel a. a. o. s. 215)."' auf die geschichte
vom Hiob, sagt auch Frick, nimmt der dichter selbst bezug, ohne
jedoch mit seinem vergleich vollkommen recht zu haben, wie es die
geschichte desselben lehrt: wie das leiden eu tragen sei, so dasz auf
dem herzensboden der geduld und ergebung die rechte segensfrucht
des kreuzes wächst und reift, das zeigt uns das geschick Hiobs. er
war ein knecht gottes, untadelig in seinen wegen, gesegnet mit
allerlei glücksgütern. schlag auf schlag traf ihn wie blitz aus
heiterm himmel unglück. er verlor alles, sogar seine gesundheit.
mit bösen schwären bedeckt und von schmerzen gepeinigt, war er
ein spott der leute und Verachtung des volks. mit gottergebenheit
und frommer geduld ertrug er anfangs das schwere, unverschuldete
geschick. als aber der schmerz allzu grosz ward, da verfluchte er
den tag seiner geburt, murrte gegen gott und suchte auf seine
gerechtigkeit zu pochen, der herr aber wies ihn zurecht; er er-
kannte gottes Weisheit und seine thorheit, 'schuldigte sich und that
busze im staube und in der asche'. mit der inneren läuterung
wandte sich seine äuszere plage, gott segnete ihn aufs neue und
gab ihm zwiefältig so viel als er gehabt hatte. Hiob 42, 11: *da
kamen zu ihm alle seine brüder und alle seine Schwestern und alle,
die ihn vorhin kannten, aszen mit ihm in seinem hause und kehrten
sich zu ihm und trösteten ihn über alles unglück, das der horr über
ihn hatte kommen lassen.'
So erschwerte, sagt eben derselbe, Parzival sein leid und ver-
längerte seine friedlose Irrfahrt dadurch, dasz er sich für unschuldig,
gott für hart und ungerecht hielt , dasz er murrte und klagte , ja
gott absagte, nach schwerer prüfung folgte endlich das höchste
glück, die Seligkeit.
Vergleich kann angestellt werden, heiszt es ebenfalls bei Frick,
auch zwischen Heinrich und Anfortas in Wolframs von Eschenbach
Parzival. Anfortas erfreute sich eines vollkommenen glucks, im
werben um irdische liebe vergasz er seines gottes. der stich eines
vergifteten Speers brachte ihn in qualvolles Siechtum, alle heil-
versuche erweisen sich als erfolglos, in der stille der abgeschiedenen
Gralsburg verseufzte er seine tage, der aufenthalt am einsamen see
erleichterte auf stunden seine quäl, die treue der templaisen wankte
nicht; ihre teilnähme half das weh des königs tragen, fern winkte
die hofifnung auf erlösung, wenn ein fremder ritter zum Gral kommen
und die erlösende frage thun würde, der ritter kam, aber die frage
unterblieb, die quäl blieb ungestillt, nachdem das lange leid den
i'eitere analogien s. ebenda s. 215 ff.
J. Vollert: anz. v. G. Schnell die volkstümlicheu Übungen des turnens. 31 1
Anfortas innerlich geläutert und von allem weltsinn befreit» hatte,
erlöste ihn die frage der teilnehmenden liebe von seiner krankheit.
er gewann neue kraft und jugendschöne : sein neugeschenktes leben
stellte er in den dienst gottes.
Man hat auch, fügt oben Cassel hinzu, an die ähnlichkeit mit
Alkestis gedacht, die für ihren gemahl sich opfert und von Hercules
der unterweit entrissen wird, aber hier ist das oijfer wirklich an-
genommen, es fehlt die romantische zuthat der jungfräulichen liebe,
die rettung geschieht auch nur der Alkestis wegen,
(fortsetzung folgt.)
Danzig. E. Plaumann.
22.
DIE VOLKSTÜMLICHEN ÜBUNGEN DES DEUTSCHEN TURNENS VON DR.
G. Schnell. Leipzig, Voigtländer. 1897.
Der fleiszige mitherausgeber der Zeitschrift für turnen und
jugendspiel hat unter dem genannten titel ein büchlein veröffent-
licht, das es sehr verdient, weiter bekannt zu werden, und nicht zum
wenigsten in den kreisen der turnlehrer an den höheren schulen,
weil es von einem manne herrührt, der selber den turnunterricht an
einer höheren schule erteilt und darum aus eigner erfahrung viele
praktische winke für die erlernung und durchführung volkstümlicher
Übungen geben kann und in der that gibt, die schrift führt den
Untertitel 'eine anleitung zur erlernung volkstümlicher wettübungn';
er würde vielleicht dem gesamtinhalt mehr entsprochen haben, weil
einmal nicht alle volkstümlichen Übungen aufgeführt, dann nicht
allein das deutsche turnen berücksichtigt und endlich alle Übungen
nur als wettübungen besprochen sind, aber das iat eine kleinig-
keit, über die wir mit dem verdienten Verfasser nicht rechten wollen. —
Behandelt sind: wettlauf, Stafettenlauf, flachrennen mit graben,
Hürdenrennen, schnellgehen, hoch-, weit- und dreisprung, stabvveit-
sprung, tauziehen, gerwerfen, kugelstoszen (ob nicht besser 'kugel-
werfen' zu nennen? das gewicht von 5 kgr. gestattet wohl noch
das werfen), weitwurf mit kleinem, groszem und stoszball , faust-
ballweitschlagen, fuszballweitstoszen, schlagballweitschlagen, ziel-
werfen mit dem kleinen ball, fuszballzielstoszen ; angehängt sind
etliche nützliche bemerkungen über das trainieren.
Wer selber im Unterricht steht, wird sehen, wie viel aus dem
büchlein zu lernen ist. wettübungen zu veranstalten und so zu
leiten, dasz sie für teilnehmer wie Zuschauer fesselnd bleiben, ist
schwer, und darum ist, besonders heute, wo auf körperliche aus-
bildung nicht blosz durch turnen mit recht so groszer wert gelegt
wird, wo die einstige feindschaft zwischen deutschem turnen und (in
der hauptsache doch) englischem sport sich glücklicherweise in ein
312 J.Vollert: anz.v.G. Schnell die volkstümlichen Übungen des turnens.
friedliches zusammenarbeiten verwandelt , jeder gute rat , jede sach-
kundige angäbe in solchen dingen sehr willkommen.
Besonders gelungen erscheinen mir die abschnitte über den
lauf, das schnellgehen und den hoch-, weit- und dreisprung. wohl
den meisten fachgenossen werden ferner die trefflichen angaben neu
sein, die Schnell über den besten ablauf vom mal, das flachrennen
mit graben und hürdenrennen, den schottischen sprung, das tau-
ziehen mit anlauf, das englisch-amerikanische kugelstoszen macht,
von groszem wert ist hier sowohl seine klare ausdrucksweise, die
misdeutungen ausschlieszt , wie die beifügung der zwölf guten ab-
bildungen.
Nur noch ein paar bemerkungen. dasz bei manchen der an-
geführten Übungen dem Schönheitsgefühl in das gesiebt geschlagen
wird, wie z. b. bei dem schottischen sprung, ist nicht zu verwundern,
handelt es sich doch bei dem sport und ebenso auch bei den volks-
tümlichen Übungen, die dem sport ganz nahe stehen, nur um die
gröstmögliche leistungsfähigkeit. wenn aber einmal die rücksicht
auf schönes aussehen, auf tadellose ausführung der Übung wegfällt
(wie z. b. bei dem sprung nach Sch.s ansieht die schnür gestreift
werden dürfte, wenn sie nur nicht herabfällt), ist wohl schwer ein-
zusehen, warum ein fallen nach glücklich übersprungener schnür als
grobe Sünde, welche die wertung der Übung vereitelt, gelten soll. —
Bei dem Weitsprung musz die absprungstelle deutlich bezeichnet
sein : das hochspringen könnte für sich mit einem gewissen recht
dasselbe verlangen. — Die haltung der Engländer beim kugelstoszen
erinnert lebhaft an den Myronischen diskobolos, der, anders als wir
beim steinstoszen oder kegeln gewohnt sind , an dem vorgesetzten
rechten fusz vorbei mit dem rechten arm die eherne Scheibe zu
schleudern im begriff ist. — Dasz auch Seh. dem undeutschen ge-
bahren der deutschen sportweit entgegentritt, ist sehr erfreulich:
nützte es doch bei jenen pharaonisch verstockten, thörichten menschen
endlich etwas! — Sollte es sich nicht empfehlen, in den Zusammen-
setzungen wie 'sportsweit, sportsfest' usw. das aus dem plattdeutschen
in das hochdeutsche zu unrecht eingedrungene s gerade so wegzu-
lassen wie in 'sportzeitung' ?
Zum schlusz: möge das buch in die bände recht vieler fach-
genossen kommen und ausgibig benutzt werden!
ScHLEiz. Johannes Vollert.
ZWEITE ABTEILUNG
FÜR GYMNASIALPÄDAGOGIK UND DIE ÜBRIGEN
LEHRFÄCHER
MIT ADSSCHLÜSZ DER CLASSISCHEN PHILOLOGIE
HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. RiCHARD RiCHTER.
23.
ERWÄGUNGEN DIE BENÜTZUNG DES GRIECHISCHEN
NEUEN TESTAMENTS IM UNTERRICHTE BETREFFEND.
Dem religionsunterrichte in den oberclassen der gymnasien
stehen wohl überall in Deutschland nur je zwei wochenstunden zur
Verfügung, wie viel an verschiedenartigem, schwerwiegendem stoffe
in diesen je zwei stunden zu bewältigen ist, weisz jeder kundige,
kein wunder daher, dasz die lectüre des neuen testaments im urtexte,
die zur zeit unserer groszväter und urgroszväter in den gymnasien
eine so bedeutende rolle spielte, neuerdings in immer bescheidnerem
umfange betrieben wird, die neuen preuszischen lehrpläne stellen
es dem lehrer anheim, 'wenigstens abschnittweise den griechischen
text heranzuziehen', eine wesentlich andere Stellung nimmt auch
H.Schiller nicht ein in seinem handbuche der praktischen pädagogik.
Sehr mit recht weist dieser auf die völlige Veränderung der
läge seit der reformationszeit hin. er für seine person bezeichnet es
danach als ausreichend für die allgemeine bildung, wenn einzelne
*für die glaubens- oder Sittenlehre besonders ergibige und charakte-
ristische capitel' in der Ursprache gelesen werden, manche werden
nicht einmal das nötig finden', andere eine weitergehende herbei-
ziehung des Originals geboten erachten, alle einigen sich wohl aber
heutzutage in der Verurteilung der früheren Unterrichtsmethode, die
den religionsunterricht der oberclassen wesentlich in einer halb aka-
demischen theologisch-philologischen behandlung einzelner im ur-
texte gelesener Schriften des neuen testaments aufgehen liesz.
Können gymnasiasten in das 'heilige original', mit Faust zu
reden, nur so eingeführt werden, dasz sie dabei einen bailast von
* erstaunlich ist, zu welchen verzichten sich neuerdings manche
Vertreter der griechisch-lateinischen Studien unaufgefordert bereit er-
klären, als lebten wir schon ganz im Americanismus.
N. jahrb. f. phil. u. päd. II. abt. 1897 hft. 7. 21
314 Th.Vogel: die benutzung des griech. neuen testaments im unterrichte.
Philologie mit in kauf nehmen müssen, so bleiben sie besser unein-
geführt. das ist sicher der sinn des betreffenden passus in den
preuszischen lehrplänen, der mehr abratend als auffordernd klingt,
aber neben dem misbrauch ist doch ein verständiger, zweckmäsziger
gebrauch wohl denkbar.
Die — heutzutage wohl nur noch vereinzelt vorkommende —
durchnähme mehi-erer gröszeren neutestamentlichen Schriften im Ur-
texte raubt dem religionsunterrichte zeit, die er für wesentlicheres
braucht, ganz cursorisch betrieben hat eine solche wenig sinn, bei
gründlicher behandlung aber wird sie nicht nur sehr aufhältlich
sein, sondern auch philologisch- antiquarische erörterungen nötig
machen, die den religionslehrer nur zu leicht verleiten können,
den theologen hinter dem philologen zurückzustellen, welcher an-
strengung würde es allein bedürfen, um gymnasiasten in die spräche
eines Lukas, Paulus, Johannes einzuführen, die sich so wesentlich
von der der schulschriftsteller unterscheidet!
Mit recht begnügt man sich daher neuerdings fast allgemein
mit der durchnähme ausgewählter längerer oder kürzerer abschnitte,
naturgemäsz wird der lehrer bei seiner auswahl überwiegend sich
durch theologische gesichtspunkte leiten lassen, er wird den urtext
vornehmlich bei solchen stellen heranziehen, die für jeden christen-
menschen eine classische bedeutung haben, nächstdem bei besonders
schwierigen, für deren völlig klares erfassen das zurückgehen auf
den Wortlaut des Originals von Wesenheit ist.
Innerhalb gewisser eng gezogenen grenzen darf daneben aber
wohl auch das litterarisch-philologische element zur geltung kommen,
ja möchte es im hinblick auf die gesamtaufgabe des gymnasiums.
Zahlreiche stellen des neuen testaments sind durchaus geeignet,
ältere gymnasiasten — vorausgesetzt, dasz durch eingestreute lako-
nische bemerkungen sprachliche anstösze für sie aus dem wege ge-
räumt werden — im original auch ästhetisch tiefer anzuregen, die
volkstümliche Schlichtheit der erzählung in den evangelien, die
tiefe, weihevolle Innerlichkeit des Johannes, die machtvoll-geniale
Vortragsweise des Paulus, die feinsinnige detailmalerei des Lukas
müssen auf jeden gymnasiasten, der für hellenische auffassungs-
und ausdrucksweise ein gewisses sensorium gewonnen hat, bei liebe-
voller beschäftigung mit dem original einen gewissen zauber ausüben,
vielleicht verlohnt es sich , bei diesem den theologen minder nahe
liegenden gesichtspunkte etwas länger zu verweilen, wenn er auch
bei der zu treffenden auswahl nur nebenbei für sie in betracht
kommen kann.
Was zunächst die neutestamentliche spräche anbelangt, so
mutet sie jeden gymnasiasten, der in seinem Xenophon, Plato und
Demosthenes zwar leidlich zu hause ist, von der langen reihe be-
deutender Prosaiker aber von Polybios bis auf Plutarch, Arrian und
Lucian hinab auszer einzelnen proben so gut wie nichts kennt , zu-
nächst recht fremdartig an wegen lexikalischer und syntaktischer
Th.Vogel: die benutzuug des griech. neuen testaments im unterrichte. 315
eigenheiten aller art, vornehmlich aber wegen des starken einflusses,
den alttestaraentliche auffassungs- und ausdrucksweise auf sie aus-
geübt hat. manches einzelne wirkt anfangs schier barbarisch auf
den, dem die KOivn völlig fremd ist. selbst blöden äugen musz sich
aber daneben die Vertiefung und verinnerlichung bemerklich machen,
welche die darstellungsmittel des Hellenismus durch die eigenartige
gedankenweit und gedankenarbeit des Judenvolks erfahren haben,
während eine ganze reihe ehedem gangbarster ausdrücke ganz ver-
schwindet, tauchen, wie in der Septuaginta, so noch mehr im N. T.
neue in groszer zahl auf, darunter viele geistvollsten und eigen-
artigsten gepräges; andere, wie aYaTTr), ttictic, cXttic, xotpic, eiprivr),
buvajaic, biKttiocuvri, böEa, cdpH, Gdvaioc, erhalten eine engere,
vertieftere bedeutung. dxaipoc, dbeXcpöc, cuvep^öc, eTTiCKOTTOC,
KiipÜTteiV, eKKXrjcia — alles gangbare ausdrücke der classischen
prosa und doch wie ganz eigenartig anders werden sie im N. T.
verwendet!
Und der stil! von dem für die classische ausdrucksweise so
charakteristischen partikelreichtum haben sich nur bescheidene reste
erhalten; im gebrauche des artikels, der modi, tempora, genera
verbi, der präpositionen machen sich Verwitterungen' aller art be-
merklich, die unsägliche eintönigkeit der satzanfänge mit Ktti in
der apokalypse wirkt ebenso ungriechisch wie anderwärts die zahl-
reichen asyndeta (insbesondere partikellose antithesen). dort macht
sich hebräischer, hier römischer einflusz geltend, der den Attikern
so geläufige optativ mit dv fängt an zu verschwinden, ja für Johannes
ist dieser modus so gut wie nicht mehr vorhanden, nach Immers
hoi'meneutik des neuen testaments, Wittenberg 1873, s. 101 über-
haupt nicht.-
Für den sprach- und geschichtskundigen ist es in hohem grade
reizvoll, im N. T. die verschiedentlichen bestandteile zu verfolgen,
die auf die heilige spräche der Juden, semitische volksdialekte,
macedonischen, ägyptischen, syrischen Hellenismus usw. hinweisen,
so dasz man oft an das eiepaic Y^iuccaic gemahnt wird, gymna-
siasten im religionsunterrichte mit derartigen erörterungen zu be-
helligen , wäre unverantwortlich, anderseits gehört es doch mit zu
den heilsveranstaltungen unseres gottes, dasz das, was der herr und
seine jünger ai-amäisch zu einem engen kreise geredet hatten, durch
das medium einer spräche, die aus griechischem, semitischem und
römischem, wenn auch in ungleichem Verhältnisse, bestandteile auf-
genommen hatte, über die grenzen des Römerreiches hinaus ver-
breitet wurde.
Erbaulich musz es auf jeden humanistisch gebildeten christen-
menschen wirken, zu verfolgen, wie gewisse plane ausdrücke des
classischen griechisch durch die einwirkung jüdischer und christ-
licher anschauungen sich vertieft haben und aus dem bereiche des
2 doch s. den text ev. Jo. 13, 24.
21'
316 Th. Vogel: die benutzung des griech. neuen testaments im unterrichte.
alltäglichen in eine heilige Sphäre erhoben worden sind, warum
soll dies und ähnliches nicht gelegentlich durch bedachtsam aus-
gewählte bei spiele den schillern nahegeführt werden? geschieht
das geschickt, so läszt sich sicher eine tiefer gehende anregung er-
zielen ohne merklichen Zeitverlust, nur musz man die sache mög-
lichst durch sich selbst wirken lassen, mit ein paar TTUKvd änt] zu
ihr sich begnügend.
Eine noch gröszere Zurückhaltung als geboten erscheint der
neutestamentlichen spi-ache überhaupt gegenüber, wird einzuhalten
sein bezüglich des usus der einzelnen Verfasser, dasz jeder gymnasial-
abiturient wenigstens von Paulus, Johannes und Lukas einen ent-
schiedenen eindruck auch nach der schriftstellerischen Seite erhalten
habe, erscheint geboten; dazu genügt aber im wesentlichen eine
ernst betriebene lectüre der deutschen bibel. ein frevel wäre es,
bei dieser das volle erfassen des wesentlichen zu beeinträchtigen
durch hinweisung auf stilistisch-grammatische quisquilien im ori-
ginal, dasz TTopeiiecBai ein lieblingswort des Lukas ist, TÖT€ bei
Matthäus, eu6uc bei Markus, dju^v, djnfiv Xexiu im ev. des Johannes
auffällig oft vorkommt u. dgl., darf schülern völlig gleichgültig sein
und bleiben, wozu sollte es ihnen dienen? keine eindringende
Unterweisung wird dagegen unterlassen dürfen, sicher auch nicht
unterlassen, darauf hinzudeuten, welche prägnante bedeutung
gewisse an sich meist wenig gehaltvolle griechische ausdrücke im
sprachgebrauehe des Johannes, Paulus, Petrus und der pastoral-
briefe angenommen und für alle folgezeit im kirchlichen usus be-
halten haben, es ist das um so unerläszlicher, weil die ihnen zu
gründe liegende auffassung in der deutschen Übertragung nicht immer
voll wiedergegeben ist oder von uns spätgebornen aus Luthers Über-
setzung nicht mehr recht herausgehört wird, so deckt sich z. b. das
wort glaube als neudeutscher religiöser t. t. durchaus nicht mit
TTICTIC, ist unser wort 'liebe' entschieden zu weit im Verhältnis zu
dxdTTri.
Auch von der zai'theit, herzigkeit, grazie und dialektischen
schärfe des Originals geht in jeder Übersetzung naturgemäsz ein teil
verloren. Luthers meisterübertragung überbietet, möchte man sagen,
an manchen stellen die Urschrift im punkte der körnigkeit, wucht,
lapidaren bestimmtheit, an andern wirkt sie auf das deutsche gemüt
noch inniger als jene, zahlreiche feinheiten des gedankenausdrucks,
namentlich aber der gedankenverknüpfung gehen in ihr verloren schon
wegen der Unübertragbarkeit gewisser partikeln, constructionen, der
im genus verbi, in der Unterscheidung halbsynonymer präpositionen
begründeten feinheiten; daher wirkt vielfach das original milder,
einschmeichelnder, im einzelnen auch nach seite der gedaukenverbin-
dungen klarer, beispiele anzuführen erscheint unnötig.
Dasz die Verfasser der apokalypse, des ev. Jo. , des ersten
Johannesbriefes und Markus (unter denen ja auch wieder zu unter-
scheiden ist) mit weltlicher bildung wenig ausgerüstet waren und
Th. Vogel : die benutzung des griech. neuen testaments im unterrichte. 317
das griechische idiom mangelhaft beherschten, wird der leser der
deutschen bibel höchstens aus der Wiederholung derselben werte
kurz nach einander und der eintönigkeit der anknüpfungen ent-
nehmen, falls er überhaupt darauf achtet, da^z Lukas ein fein-
gebildeter (jedenfalls geborener) Grieche war, an schriftstelle-
rischer beanlagung und gewandtheit beträchtlich über dem zunächst
mit ihm zu vergleichenden Matthäus und hoch über Markus und
Johannes stehend, tritt in der Übersetzung ungleich weniger hervor
als in der Urschrift, noch weniger, dasz die unzweifelhaft echten
Paulinischen Sendschreiben, der erste Petrus- und die pastoralbriefe
neben einem beträchtlichen nicht abzuleugnenden gemeingut unter
einander stilistisch -lexikalische Verschiedenheiten von belang auf-
weisen.
Dasz dem so ist, hat für die christliche gemeinde sein gutes,
je mehr diese alle neutestamentlichen Schriftsteller unterschiedslos
als gottesmänner auffaszt und danach würdigt, um so besser für sie.
in die seele des gymnasialprimaners möchten aber doch die für die
Christenheit wichtigsten heiligen schriftsteiler des N. T. bei aller
hochhaltung ihres gemeinsamen Verdienstes auch eingeprägt sein
als einzelpersönlichkeiten mit besonderer artung und ausrüstung.
ist nun auch das bekannte wort 'der stil ist der mensch' als eine
Übertreibung abzuweisen, so bekundet sich diese einzelpersönlich-
keit unleugbar nicht zum geringsten im stile, das wort im weitesten
sinne gefaszt.
Lassen sich nicht auch dahin gehende winke beim unterrichte
gelegentlich einstreuen, ohne dasz der verdacht 'philologischen be-
triebes' dabei aufkommen kann? wir meinen: ja. aber beileibe
keine zusammenhängenden erörterungen dieser art more academico,
sondern nur hinlenkung der aufmerksamkeit auf diesen punkt bei
gegebenem einzelanlasz!
Man braucht den eingang des Lukasevangeliums, der apostel-
geschichte und des Hebräerbriefes geweckten primanern nur grie-
chisch laut vorzulesen, so wird jeder von ihnen von selbst urteilen :
das ist echtes griechisch mit rhythmus und einer an profane muster
gemahnenden färbung: eTT€ibr|7Tep — in ex^i()r\cav dvaidHacBai —
eboEev Kdjuoi — otKpißüuc KaGeEfjc Ypdu^ai — töv |nev TrpujTOV
XÖTOV eTTOiricd.uriv usw. das gemahnt an die besten classiker, in-
dem es zugleich vom neuteslamentlichen sprachgebrauche sich kennt-
lich abhebt, jedes capitel der apostelgeschichte verrät in einer reihe
von Zügen den mit hellenischen Staats-, Verkehrs- und bildungs-
verhältnissen wohl bekannten schriftsteiler, in so zahlreichen ganz
charakteristischen Wendungen berühren die acta sich mit Xenophon,
Polybius, Philo, vornehmlich mitJosephus, dasz eine beacht-
liche profanbildung bei deren Verfasser nicht in zweifei gezogen
werden kann, liest man mit älteren schülern die Schilderung des
apostelconvents, des aufenthalts in Athen, der groszen verhörein
Cäsarea und Jerusalem, der Seereise griechisch, so wird man daher
318 Th.Vogel: die benutzung desgriech. neuen testaments im unterrichte.
kaum umbin können, auf die profangräcität hier und da bezug zu
nebmen. — Bei der lectüre eines der groszen Pauliniseben briefe
im original möcbte jeder achtsame schüler von selbst mit bewunde-
rung erfüllt werden 1) vor der hohen genialität, mit der der Gamaliels-
schüler die mittel der von ihm nicht voll beherschten griechischen
spräche seinen machtvollen und eigenartigen gedanken dienstbar
macht, nicht minder 2) vor der anpassungsgabe, die es ihm möglich
gemacht hat, bis zu einem hohen grade auch in rhetorisch-dialekti-
scher beziehung 'den Gi'iechen ein Grieche zu werden*, ihm, dem
ibiUJTric TUJ XÖYiu, einem Lukas und dem verf. des Hebräerbriefes
gegenüber, warum sollte nicht auch der lebrer auf derartiges ge-
legentlich noch hinweisen? ist er das nicht der sache schuldig?
Unter allen Paulinischen briefen ragen als grosz angelegt,
sorgfältigst ausgefeilt und rhetorisch ausgeschmückt der Römer-
und erste Korintherbrief hervor, in diesen stücken auch den zweiten
Korinther- und Galaterbrief merklich überbietend, gleichviel, ob
bei der niederschrift jener beiden Sendschreiben geborene Griechen
wie Timotheus redactionelle beihilfe geleistet haben oder nicht,
jedenfalls tritt die reiche gedankenweit Pauli in ihnen uns am
classischsten in der form entgegen, sein höchstes können ist in
ihnen zusammengefaszt behufs einer eindringlichen Wirkung auch
auf höher gebildete freunde des evangeliums an den culturstätten
Rom und Korinth. der Jugendunterricht hat keinen anlasz, darzu-
thun, wie sehr 2 Thess., Eph. und Col. dagegen abfallen, um so
mehr unseres erachten« aber die Verpflichtung, die besondere bedeu-
tung von Rom. und 1 Cor. auch nach seite der form gebührend her-
vorzuheben, belebung der rede durch fragen , apostrophen, selbst-
einwürfe usw. gehört ja zum Paulinischen stile überhaupt, aber
das fragende r\ und }xr] ou, das Ti ouv epoOjuev (cpri)Lii, üjuiv eiTTUü),
das dXXd XeYiw, epei Tic u. dgl. ist fast nur den genannten beiden
briefen eigen. ^
Zur Charakteristik des Schriftstellers Paulus gehört auch ganz
wesentlich 1) bei aller ideenfülle die geflissentliche Wiederholung ge-
wisser stereotyper, zum teil ihm allein eigner formein (der widmung,
der eingangsbenediction, der doxologie, des schluszsegens usw.),
2) das starke hervortreten des persönlichen (bes. 2 Cor., Gal., Phil,
und Philemon). auch das ist wohl des hinweises wert.
Von einem 'aufbau', einer 'stoffgruppierung' mit bewustsein
wird man im ernste wohl nur sprechen können bei dem ev. Mt., Jo.,
Luc. und den actis, warum erzählt jeder der genannten drei evan-
3 so kleinlich es erscheinen mag, bei heiligen Schriften auf minutien
wie }J.iv — bi zu achten, so geschehe es doch beiläufig, in sieben Schriften
des N. T. fehlt diese echt griechische form der gegenüberstellung ganz,
in andern tritt sie sehr spärlich auf, unverhältnismäszig oft in den
actis (seltener ev. Luc.), ziemlich häufig bei Mt., Ilebr., Rom. und 1 Cor. —
Der kenner wird das nicht als zufällig ansehen, der gebrauch von
|Liev gehörte damals zu den kennzeichen des gebildeten, ausgefeilten
Stils, völlig fremd ist er daher der apokalypse.
Th.Vogel : die benutzung des griech. neuen testaments im unterrichte. 319
gellsten manches nicht, was andere bieten, warum manches in
anderem zusammenhange, anders motiviert oder ausgeschmückt,
daneben auch völlig neues? die annähme verschiedener quellen er-
klärt ungezwungen nur einen teil dieser erscheinung. ein weiterer
erklärungsgrund möchte in des erzählers art und plan zu suchen
sein, für Johannes kam es darauf an, das Christusbild nach ge-
wissen Seiten neu zu beleuchten, für Matthäus, 1) Judenchristen voll
zu befriedigen und 2) nach gewissen Symmetrierücksichten seinen
Stoff zu verarbeiten, im ev. Luc. und den actis sind unverkennbar
bei der stoffgruppierung neben theologischen — bewust oder un-
bewust — auch ästhetische rücksichten im spiele gewesen, die
eintönigkeit wird vermieden, schlichte hebraisierend-einfache er-
zählungen, gleichnisse, reden wechseln ab mit fein ausgearbeiteten
bildern aus der heiligen geschichte und (besonders in den act.) der
Vorführung ergreifender scenen. das lehrhafte wird verteilt, man-
ches räumlich und zeitlich nicht genau fixierbare wird in den 'reise-
bericht' des ev. eingewoben, gern läszt Lukas auch gleichgültiges
oder erfreuliches auf entsetzliches folgen zur erholung des lesers.
auf eine gewisse Symmetrie im aufbau des evangeliums und der
apostelgeschichte ist öfters schon hingewiesen worden, eine ver-
gleichung im einzelnen wäre ja nur Spielerei, aber die beiden rrpö-
Xofoi ev. 1 — 3 und act. 1 — 4 haben nach Stimmung und klangfarbe
etwas verwandtes; erst nach ihnen setzt der 'gegenspieler' ein, welt-
lich zu reden, wirken unter dem volke der verheiszung, wirken unter
ungläubigen, Verleumdungen, Verfolgungen, verhör auf leben und
tod hier wie dort; beide Schriften hoffnungsvoll und getrost aus-
klingend im vertrauen auf die verhieszene oder bereits erschienene
*kraft aus der höhe', die ähnlichkeit wird noch dadurch erhöht, dasz
der stoff der sogenannten apostelgeschichte sich um Paulus gruppiert
wie der des evangeliums um den herrn. Luc. 24,50 — 52 wirken dazu
fast wie eine auf act. 1, 9 ff. 2, 46 ff. hinweisende 'verzahnung' auf
den beuiepoc Xötoc hin, oder umgekehrt.
Die thatsache, dasz der haupterzähler des neuen bundes mit
den feineren kunstmitteln gi'iechischer geschichtschreibung vertraut
und so beanlagt war, dasz auch gebildete Griechen seiner darstel-
lung sich erfreuen konnten, möchte auch der Jugend nahegeführt
.werden als eine der gnadenveranstaltungen anseres gottes neben
andern, die nötig waren, um das N. T. so sich gestalten zu lassen,
wie es geschehen ist.
Die frage, wie das neue testament im unterrichte zu behandeln
sein möchte, getraut der verf. sich in ihrer allgemeinheit nicht
zu beantworten, wie auch die Überschrift derartiges nicht in aussieht
stellt, als philolog hat er sich begnügt, das beizubringen, was ihm
als solchem nahe lag. als pädagog und christenmensch könnte er es
nur beklagen, wenn die mit mühe aus den oberclassen hinaus-
gewiesene 'neutestamentliche philologie' in anderer form sich wieder
einschliche, bestimmt genug vermeint er es ausgesprochen zu haben,
320 Th.Vogel: die benutzung des griech.neuen testaraents im unterrichte.
dasz das von ihm angeregte neben ungleicb wichtigerem nur
ganz bescheiden auftreten dürfte, wie etwa bemerkungen über antike
plastik und architektur im altclassischen unterrichte.
Wir Germanen müssen nur der uns angeerbten unart uns mehr
und mehr entäuszern, alles, was überhaupt im unterrichte vor-
kommen soll, breitspurig via et ratione zu behandeln, die schule
soll doch nicht nur auf einen sicheren besitz abfragbaren wissens
hinarbeiten; das wertvollste, was sie überhaupt bieten kann, sind
rechtzeitig ausgestreute Samenkörner, geeignet, in der stille wurzel
zu fassen und zu keimen, in diesem sinne wünsche ich die und jene
der gegebenen andeutungen aufgefaszt zu sehen.
Wird nur die wünschenswerte beschränkung auf dann und wann
eingestreute winke grundsätzlich geübt, so halte ich es auch um der
*concentration' willen für sehr empfehlenswert, dasz der religions-
unterricht der oberclassen fühlung mit dem altclassischen unter-
richte sucht, wo sie von selbst sich ihm darbietet, die Juden spielen
eine wenn auch bescheidene rolle bei Horaz, Christen bei Plinius
dem jüngeren undTacitus, anklänge an christliche anschauungen
finden sich bei Seneca, die innere Zerrissenheit und haltungslosig-
keit der herschenden römischen kreise um Christi geburt und danach
deutet auf ein unbefriedigtes tiefinnerstes sehnen hin. anderseits
spielen römische Statthalter und legionen in Palästina eine rolle zur
zeit Jesu und seiner apostel, desgleichen heidnisches Staats- und ge-
richtswesen. heidnische philosophen und rhetoren, heidnische lebens-
gewohnheiten, gröbere und feinere lebensgenüsse usw. treten den
boten der neuen lehre an den hauptculturstätten der alten weit ent-
gegen, gleich zwei verschiedenartigen Strömungen flutet in der
apostelgeschichte jüdisch-christliches und hellenisches neben ein-
ander und im christlichen Hellenismus zusammen.
Die verschiedentlichen zusammenhänge, die zwischen Rom und
Jerusalem thatsächlich bestanden, läszt natürlich kein Unterricht un-
beachtet, ersprieszlich ist es aber wohl, wenn dann und wann auch
auf verborgenere fäden hingewiesen wird , die herüber und hinüber
flössen, so liegt es nicht fern , meine ich , bei der erwähnung von
Forum Appii (act. 28, 15) an den reiseaufenthalt des Horaz daselbst
zu denken, wie anders die Stimmung der reisenden, das ganze lebens-
bild in dem und jenem falle ! dasz der proconsul Gallio, der Paulum
(act. 18, 12) zu verhören hatte, ein bruder des philosophen Seneca
war, gibt gewis zu denken, wie nicht minder die Phil. 4, 22 er-
wähnten ÖTioi €K Tf]c Kaicapoc okiac usw.
Zum Schlüsse noch ein gesichtspunkt. der wünsch der schule,
dasz ihre entlassenen zöglinge dem griechischen Homer, Sophokles
und Plato auch in späteren jähren stille stunden widmen möchten,
erfüllt sich in unserer von so vielen interessen hin und her gezogenen
zeit wohl selten genug, anders möchte es, kann es sein mit dem
griechischen testament. am wenigsten wird dieses wohl mit andern
Schulbüchern bei seite geschoben werden, wenn es im unterrichte
A.Messer: Quintilian als didaktiker. 321
nicht überwiegend als quellenbuch für dogmatik und dogmen-
geschichte behandelt worden ist, sondern als ein heiliges buch,
dem verstand, gemüt, -wille fruchtbarste anregung entnehmen
können, das auch einer hohen anziehungskraft nach der mensch-
lichen Seite nicht entbehrt für alle, die dem einzelnen liebevoll
nachgehen, den einen schüler mag das evangelium Jobannis, den
andern die apokalyjDse am tiefsten packen, im allgemeinen möchten
das evangelium des Lukas, die apostelgeschichte und der erste
Korintherbrief eines nachhaltigen eindrucks auf primanerherzen nicht
verfehlen , zumal wenn deren auslegung neben dem uuerläszlichen
theologischen ernst etwas von dem zugleich humanen und ästheti-
schen anhauche verspüren läszt, der den beiden Schriften des ge-
treuen gehilfen und arztes Lukas für alle zeit die herzen mehr philo-
logisch beanlagter naturen leichter erschlieszen wird, als es mancher
dogmatisch bedeutenderen des N. T. bei ihnen gelingt.
Dresden. Th. Vogel.
(16).
QUINTILIAN ALS DIDAKTIKER UND SEIN EINFLUSZ
AUF DIE DIDAKTISCH- PÄDAGOGISCHE THEORIE DES
HUMANISMUS.
(Fortsetzung.)
Dritter abschnitt.
Der einflusz Quintilians auf die didaktisch-pädagogische
theorie des humanismus.
In den nunmehr zu besprechenden Schriften zeigt sich neben dem
einflusz Quintilians vielfach auch der der kleinen unter Flu tarchs
namen gehenden abhandlung TT€pi TTaibuüV dfuuTfic. Guarino hat
dieselbe ins lateinische übertragen, und in seiner Übersetzung wurde
sie auch, wie ich gelegentlich zeigen werde, meist benutzt. ^^' sie
tritt vielfach ergänzend neben die institutio; denn sie richtet ihr
hauptaugenmerk auf die körperliche ausbildung und die erziehung,
gebiete, die bei Quintilian nur gestreift sind, ein kurzer überblick
über den inhalt mag hier folgen: eine klare, durchgreifende dis-
position ist nicht vorhanden; die einzelnen gedanken, die meist durch
eine fülle von anekdoten und aussprüchen belegt sind, reihen sich
nur lose aneinander.
341 ich bediene mich der ausgäbe Brixiae 1485. dieselbe enthält
auch, wie schon erwähnt, die abhandlung Vergerios und die Übersetzung
der kleinen schrift des Basilius über das Studium der heidnischen litte-
ratur, die Bruni ende 1405 übersetzte (Voigt II'' s. 104 anm. 1). auf
sie sei auch mit einem werte hingewiesen, da sie in der damaligen
pädagogischen litteratur nicht gerade selten herangezogen wird, sie
322 A.Messer: Quintilian als didaktiker.
1) hj'gienische Vorschriften über die ehe (c. 1 — 3).
2) die drei factoren der bildung uud erziehung qpücic, XÖYOC (|bid9r|Cic),
l9oc (ctCKTicic, laeXerri) (c. 4).
3) die erste pflege (die mutter soll selbst stillen, nötigenfalls sorg-
fältige wähl der amme) und die anfange der erziehung (c. 5).
4) sorgfältige wähl der kinder, die mit den eignen erzogen werden
(c. 6).
5) über die wähl der pädagogen und lehrer (c. 7).
6) wert einer tüchtigen bildung und erziehung (c. 8).
7) Warnung vor dem zu frühzeitigen aus dem Stegreif reden und
einige positive ratschlage über ausbildung der redefertigkeit (c. 9).
8) die ^ykOkXio iraiöeüjuaTa, die ^k 7Tapa6po|af|C und Y^üiuaxoc
2veKev zu betreiben sind, finden ihr centrum und ihr ziel in der
Philosophie, deren versittlichende Wirkung betont wird.
eine erörterung der drei möglichen lebensführungen, des irpaKTlKÖC,
öeuupriTiKÖc und dircXaucTiKÖc ßioc leitet zu der empfehlung, das
theoretische und das praktische leben zu verbinden (c. 10).
9) die körperliche ausbildung. ihre Wirkung: eupu9|Uia und jiü))ari ;
ihr endzweck: die kriegerische tüchtigkeit (c. 11).
10) behandlung der schüler. Verwerfung der schlage (c. 12).
11) Warnung vor überbürdung: notwendigkeit der erholung (c. 13).
12) einzelne Vorschriften über die sittliche erziehung (auch die frage,
ob epojVTec zuzulassen sind, wird erörtert) (c. 14. 15).
13) behandlung der erwachsenen söhne (sie sind besonders vor bösem
Umgang und vor Schmeichlern zu behüten) (c. 16. 17).
14) die eitern müssen strenge und nachgibigkeit vereinigen (sie müssen
bisweilen touToüc äva|ii)avncK€iv, ÖTi ifivovTO veoi). fehler müssen
sie bisweilen übersehen (c. 18).
15) die allzu vergnügungssüchtigen söhne bald verheiraten (c. 19).
16) wert des väterlichen beispiels (c. 20).
I. Die italienischen humauisten Corraro, Yegio, Enea Silyio,
Guariuo und Filelfo.
Ehe wir zur behandlung derjenigen theoretischen leistungen
des italienischen humanismus auf dem gebiete der pädagogik und
dialektik übergeben, die im laufe des 15n Jahrhunderts den sehriften
Vergerios und Brunis folgten, sei hier des mannes gedacht, der sich
bespricht zunächst die intellectuelle ausbildung, empfiehlt die — aus-
wählende — benutzung der antiken prosaischen und poetischen
litteratur, die aber nur propädeutischen wert hat, gedenkt der behand-
lung des körpers: er musz sich dem geist völlig unterordnen, das
ewige ziel musz immer im äuge behalten werden; darauf lenkt auch
die erziehung bin, die auf gewöhnung und einsieht beruht. — Endlich
sei auch noch erwähnt, dasz in den unter Galens namen überlieferten
Schriften einzelnes pädagogischen Inhalts ist, so der irpoxpeTTTiKÖc XÖYOC
(Cl. Galeni opp. omnia ed. Kühn, Lipsiae 1821 — 33, I— XX) in vol. I,
worin über den wert der bildung, über den des gehurtsadels, über artes
liberales und illiberales — maierei und bildhauerkunst zählen hier, im
gegensatz zu Vergerio, zu den ersteren — ansichten vorgetragen wer-
den, die auch unter den humanisten gang und gäbe sind, und worin
namentlich die ausführliche Verurteilung der athletik interessant ist;
ferner uepi äpicxric KaxacKeufiC xoö dJÜjuaxoc i'tihüüv (aufzeigung des ein-
flusses des körperlichen factors auf die psyche) in vol. IV, irepi biOYVuü-
ceujc Kai GepaTreiac xojv ev xrj ^kcxcxou vpoxTl Ibiwv iraOinv und itepl
ILiiKpäc cqpaipac in vol. V; endlich noch irepi cucxdceaic iaxpiKf|c (de
constitutione artis medicae) in v. I.
A.Messer: Quintilian als didaktiker. 323
wie eine lichtgestalt von dem oft dunklen und frivolen treiben der
humanisten abhebt, des lebrers und erziehers von gottes gnaden:
Vittorinos da Feltre. auf ihn hat ja sicherlich auch Quintilian'"
und vermutlich auch Vergerio eingewirkt, jedenfalls war es ganz
im sinne Vergerios, wenn er neben gründlicher wissenschaftlicher
bildung auch der erziehung und der körperlichen entwicklung hohen
wert beilegte.
Einer der schüler dieses Vittorino hat eine schrift gesehrieben,
deren wir in diesem Zusammenhang gedenken müssen; denn sie will
nicht lediglich erzählen, wie es bei Vittorino gewesen ist, sondern
sie will lehren: quomodo educari debeant pueri. der
Venetianer Gregorio Corraro ist ihr Verfasser, er hat sie seinem
bruder Andreas am hochzeitstage geschenkt 1430^'^; dem anlasse ent-
sprechend ist sie in hexametern abgefaszt — es sind im ganzen 293.'"
die einleitenden verse lauten:
haec tibi de libris veterum, germane , relegi,
1 quaeque super pueris docuit pater optimus olim
Victorinus: et hie aliquid quod discere possit,
si quem digna manet studiorum cura, docebo.
ich gebe im folgenden in kürze den inhalt der einzelnen versgruppen
an und stelle die zugehörigen Quintiliancitate sogleich daneben.
V. 5 — 26. sorgfältige wähl der amme. rücksicht auf ihre sitten und
ihre spräche. Quint. I 4, 5.
(für den rat, dasz die mutter ihr kind eigentlich selbst stillen solle
[v. 18 f.], vgl. Plutarch a. a. o. c. 5.)
V. 27 — 32. gewissenhafte auswahl des lebrers. Quint. I 1, 8.
V. 33—40. rat schon vor dem 7u jähr mit dem Unterricht zu beginnen
unter ausdrücklicher berufung auf Quint. I 1, 15 — 19.
V. 41 — 43. das spielende lesenlernen mit hilfe elfenbeinerner buch-
staben. Quint. I 1, 26.
V. 44 — 45. dasz das spiel den charakter der kinder erkennen lasse.
Quint. I 3, 11.
V. 46 — 53. zur besten naturanlage musz arbeit hinzukommen. Quint.
pr. z. I § 27 u. ö.
V. 54 — 74. excurs über die klägliche Stellung der lehrer und über die
corrumpierende Wirkung eines sittenlosen elternhauses (für das
letztere bietet ein vorbild Quint. I 2, 6 — 8).
V. 75—83. der lehrer musz sein von tadellosen sitten, von väterlicher
gesinnung gegen seine schüler; er musz das lernen möglichst er-
leichtern und über die sitten wachen. Quint. II 2.
2*2 wir werden den beweis dafür unten bei besprechung der schrift
Corraros erbringen, in einer handschrift Vergerios steht: 'scriptus
Mantuae apud praeclarum magistrum Victorinum Feltrensem Marcus
Guardus.' Schmid, encyclopädie IX s. 761 ff.
3'3 Voigt a. a. o. I^ s. 416 anm.
^*^ sie ist abgedruckt in dem werke Karl Rosminis: idea dell' ottimo
precettore nella vlta e disciplina di Vittorino da Feltre e de suoi discepoli,
libri IV, Bassano 1801, s. 477—87 (deutsch von Orelli). einen neuen ab-
druck, den ieh hier benutze, gibt Wilh. Krampe in einem anhang seines
buches: die italienischen humanisten und ihre Wirksamkeit für die Wieder-
belebung gymnastischer pädagogik (Breslau 1895).
324 A.Messer: Quintilian als didaktiker.
V. 84 — 88. die jüng^ereu Zöglinge sollen nicht mit den älteren vermischt
sitzen. Quint. II 2, 14.
V. 89 — 96. notweudigkeit der körperlichen erholung und des Spiels
(mit medicinischer begriindung). Quint. I 3, 8 — 10.
V. 97—102. nachträgliche bemerkung über den lehrer: höheres alter
ist bei ihm kein nachteil; er soll nicht zu zahlreiche Schüler an-
nehmen (für letzteres Quint. I 2, 15).
V. 103 — 110. über die körperliche Züchtigung, nur bei gröszeren scheint
er sie völlig ausschlieszen zu wollen, die praxis Vittorinos, der
davon, allerdings nur in ausnahmefällen, gebrauch machte, scheint
Corraro hier bestimmt zu haben die ansieht Quintilians, der sie gänz-
lich verwirft (I 3, 13 — 18), mit einer kleinen modification
aufzunehmen.
V. 111 — 131. die Verschiedenheit der Individualitäten und ihre be-
rücksichtigung. Quint. I 3, 1 — 7; ohne engen anschlusz.
V. 131 — 143. die erwähnung des Simonides und seiner ars memoriae
(vgl. Quint. XI 2, 11) leitet hinüber zur lectüre, die ja zum teil
wie z. b. Vergil dem gedächtnis einzuprägen ist; neben Vergil wird
Cicero genannt.
V. 143 — 157. über die eignen productionen der schüler; zum teil
im anschlusz an Quint. II 4 (speciell für die bemerkung nee mihi
displiceant pueri, quibus exuberat vis usw. vgl. II 4, 5).
V. 157—158. kenntnis der metrik. Quint. I 8, 13.
V. 159-179. musik. Quint. I 10, 9—25.
V. 180—183. dazu auch corporis actus et decorus motug qui dicitur
ei)pu9|u(a, wie es bei Quint. I 10, 26 heiszt.
V. 184 — 191. der Unterricht im griechischen (begründet wird er mit
der bemerkung, dasz die abwechslung dem jugendlichen geiste not-
wendig und dasz er dabei doch sehr leistungsfähig sei: Quint. I 12).
V. 192 — 194. Warnung vor gänzlich zurückgezogenem gelehrtenleben.
V. 195—203. die ehrliebe, der mächtigste sporn für die Studien. Quint.
I 2, 21-25.
v. 204 — 228. klage über den durchaus auf gewinn und materiellen ge-
nu.sz gerichteten sinn der Venetianer.
V. 229 — 260. beredsamkeit in Verbindung mit Weisheit als begründerin
der Staaten. Cicero de or. I 8, 33.
V. 261 — 288. über die dichtkunst; meist im anschlusz an Horaz.
V. 288—293. schluszwort. bitte, das gedieht dem Vittorino zu lesen
zu geben.
Die Übereinstimmungen mit Quintilian sind, wie schon ihre
zahl und wie an mehreren stellen der Wortlaut unwiderleglich zeigt,
bei Corraro durch entlehnung der einzelnen stellen aus der institutio
zu erklären, sein gedieht besteht also zum grösten teil aus gedanken
Quintilians, die er lediglich in verse gebracht hat. von den andern
libri veterum , die er als quelle angibt, merken wir wenig: an je
einer stelle ist anlehnung anPlutarch, Cicero und Horaz zu erkennen,
wenn er auszerdem auf die lehre Vittorinos hinweist, so zeigt das
deutlich, wie eng dieser selbst in seinen ansichten und in seiner
Wirksamkeit sich an Quintilian anschlosz.
Etwa gerade in die mitte des Jahrhunderts gehören die beiden
umfangreichsten der hier zu besprechenden Schriften, deren Verfasser
Maffeo Vegio und Enea Silvio sind, die erstere ist betitelt
de educatione liberorum et eorum claris moribus 1. VI;
J
A.Messer: Quintilian als didaktiker. 325
sie wird in den ausgaben meist dem Francesco Filelfo beigelegt,
doch steht die autorschaft Vegios fest.^*° ihre abfassung fällt in
die zweite periode seines lebens , da erst während seines aufentbalts
und seiner thätigkeit an der römischen curie 'der einst sorglose und
selbst lascive dichter ein mann von wahrer und tiefer frömmig-
keit'^" geworden war. er war wohl nicht vor 1441 datarius ge-
worden und 1458 ist er gestorben, in diese zeit fällt also die ab-
fassung. da in der schrift durchweg der gereifte mann spricht, so
wird sie wohl — mit rücksicht auf sein geburtsjahr 1406 — etwa
um 1450 anzusetzen sein.
Vegio hat nicht wie Vergerio auf allen gebieten des wissens
Studien gemacht; er steht auch nicht so frei über seinem stoff wie
jener, aber durch fleisziges zusammentragen von belegen, durch
streben nach systematischer Vollständigkeit zeichnet er sich aus.
dabei ist er kein gedankenloser compilator , sondern er zeigt be-
sonnenes urteil ; auch hat er nicht lediglich aus büchern geschöpft,
sondern er verwertet mehrfach glücklich die erfahrungen, die er
selbst während seiner Schulzeit gemacht hat.
Die institutio (und zwar I 6, 32 — 38)^" citiert er nur einmal
II c. 14 (s. 91) ausdrücklich, wenn er hinzufügt, dasz er auf
Quintilians urteil in allen fragen groszes gewicht legt,. so will er
damit wohl andeuten, dasz er ihn nicht nur an dieser einen stelle,
sondern wo immer sich gelegenheit bot, zu rate gezogen hat. er be-
wahrt aber seine Selbständigkeit in der anordnung des stoflFes und in
der fassung und einkleidung der gedanken in worte, er bringt ferner
gern eine ganze fülle von belegen bei: so tritt denn bei ihm die an-
lehnung nicht so ofifen hervor wie etwa bei Corraro und Enea Silvio.
Die folgende Zusammenstellung soll ein urteil über die art
seiner benutzung ermöglichen; auch soll darin zugleich der nach-
weis erbracht werden, dasz er auch aus der schrift rrepi TraibuJV
äYUUYfjc und aus Vei-gerios tractat^^® geschöpft hat.
Der Inhalt des werkes gliedert sich übersichtlich in drei
hauptteile:
^*^ ich benutze die ausgäbe: Francisci Philelphi et poetae et ora-
toris darissimi de educatione liberorum aurei libri sex. Parisiis. apud
lohannem Gonrmont (auf die zeit der ausgäbe weist die ihr vorgedruckte,':
Guilelrai Houueti Carnotensis oratio habita in exordio operis Philelphici
de educatione 1507 ad kal. Mains), ich habe den titel ausführlich an-
gegeben, weil diese ausgäbe unter den 16 verschiedenen editionen, die
Kopp in der einleitung seiner Übersetzung (bibliothek der katholischen
Pädagogik II s. 11 f.) zusammenstellt, nicht angeführt ist. ich gebe
nach ihrer capiteleinteilung — paginiert ist sie nicht — die citate; die
in klammern beigefügte Seitenzahl bezieht sich auf die Übersetzung
Kopps.
^« Voigt a. a. o. II ^ .s. 41.
^*~ das Quintiliancitat III 7, 25 bei Kopp s. 91 ist unrichtig.
^^* der hinweis auf diese beiden quellen fehlt in der Übersetzung
Kopps, die im übrigen in sehr dankenswerter weise die fundstätten der
einzelnen citate angibt.
326 A. Messer: Quintilian als didaktiker.
I. pflichten der eitern in bezug auf körperliche pflege und
erziehung der kinder (Is buch).
II. Unterricht der kinder (2s buch) und der reiferen Jugend
(3s buch).
III. pflichten der kinder (Sittenlehre für die Jugend 4s — 6s
buch),
in den drei letzten büchern ist — was bei ihrem rein ethischen in-
halt erklärlich ist — eine benutzung Quintilians nicht bemerkbar.
Buch I.
1) bedeutung des beispiels und der gewöhnung für die er-
ziehung c. 1 (s. 25—36). Quint. II 5, 15. XII 2, 30. Plut. c. 20.
[der ausfall gegen die eitern, die die kinder durch ihre schlechten
Sitten schädigen (s. 30 f.), scheint sein Forbild zu haben in
Qiiint. I 2, 6—8.]
2) grundlegung eines gesunden leibes- und Seelenlebens
durch ein sittliches und rationelles eheliches leben
c. 3—5 (s. 39-47).
[pflichten des ehemanns (s. 37). Plut. 2. 3 (wo auch die anecdote
von Diogenes sich findet).
pflicht der mutter die kinder selbst zu stillen (s. 39 — 43). Plut. c. 5.
verbot des weingenusses für kinder (s. 45 f.). Vergerio fol. 7'.]
3) sittliche erziehung c. 6—9 (s. 47—52).
[Verwerfung der turpes aut inanes anilesque fabellae (s. 47). Plut.
c. 5.
keine abgeschmackten kosenamen, die leicht fürs leben bleiben
(s. 47). Vergerio fol. 2«.
bekämpfung des hangs zum leichtsinnigen schwören und lügen
(s. 49). Vergerio fol. ob 7"».
vorsieht in der wähl der Spielkameraden. Quint. I 1, 7.
Plut. c. 6.
Umgang mit älteren, trefflichen männern (s. 52).
(hinnähme von ermahnnng zeichen einer guten charakteranlage.
Vergerio fol. 7^ 8».)
Zuchtmittel (anweudung der körperlichen Züchtigung: bei
der häuslichen erziehung s. 52 — 58; in der schule s. 77. Vegius
ist zu völliger Verwerfung derselben geneigt, wie Quint. I 3,
13 — 17. Plut. c. 12. nur die aussprüche der hl. schrift bestimmen
ihn, sie in ausnähme fällen zuzulassen s. 56 u.).
positive ratscbUige für die behandluug der kinder s. 54. Plut.
c. 12.
Verschiedenheit der ethischen beanlagung und deren
behandlung c. 12 (s. 58 — 60). Quint. I 8, 1 — 7 (ohne engen
anschlusz).
abmahnung vor allzu groszer milde und nachsieht bei der
erziehung c. 13 (s. 61—64). Quint. I 2, 6. Plut. c. 20. Vergerio
fol. 8".]
Buch II.
1) wert der bildung c. 1 (s. 66—68). Plut. c. 8.
2) zeitiger beginn des Unterrichts c. 2 (s. 69).
[nicht nach dem 7n jähr. Quint. I 1, 15 — 19 will ihn sogar noch
früher beginnen,
der vergleich von den eindrücken in dem jugendlichen geist mit
dem abdruck des siegeis im wachs. Plut. c. 5.
nicht sogleich den kindlichen geist mit arbeit überladen. Quint.
I 1, 20,]
A.Messer: Quintilian als didaktiker, 327
3) Unterricht in öffentlichen schulen c. 2 (s. 69). Qnint. I 2.
4) wähl des studienortes c. 3 (s. 70 f.).
[die Vaterstadt in der rege! vorzuziehen, doch bei gefahr der Ver-
zärtelung durch die eitern besser eine fremde Stadt. Vergerio
fol. 8".]
5) not wendigkeit der hofmeister (paedagogi) und vorsieht bei
deren auswalil c. 3 (s. 71 f.). Quint. I 1, 8 (Leonidas, lehrer
Alexanders, Veg-, s. 71 u.). Plut. c. 7.
6) auswahl der iehrer c. 4 (s. 73 f.). Quint. II 3. Plut. c. 7.
[nicht mittelmäszige lehrer für die elemente, Quint. I 1, 21 — 24.]
7) Verhältnis zwischen eitern und lehrer c. 5 (s. 74 — 76).
Plut. c. 7.
8) Verhältnis zwischen lehrer und schul er c. 6 (s. 76—78).
[väterliches Verhältnis. Quint. II 2, 4.
berücksichtigung der altersstufen und der anlagen bei den an-
forderungen; keine überbürdung. Quint. I 1, 20. I 2, 27. Plut.
c. 13.]
9) benutzung des ehr- und Schamgefühls beim Unterricht
c. 7 (s. 78—80). Quint. I 2, 22—27. Plut. c. 12.
[rangordnung der scliüler c. 8 (s. 80-83). Quint. I 2, 23.
das richtige masz im lob e. 9 (s. 83 f.). Plut. c. 12.
Übersicht über das verhalten des lehrers (s. 84). Quint. II 2, 5—8.]
10) der Unterricht c. 10.
[die drei bedingungen des Unterrichts natura, disciplina,
exercitatio (s. 84 f.) mit ausdrücklichem hinweis auf Plut. c. 4.
schriftliche Übungen c. 10 (s. 85 f.). Quint. I 9.
auch in versen. Quint. X 6, 15 f.
behandlung der correctur. Quint. II 4, 10 — 14.
Übung des gedächtnisses c. 11 (s. 86 f.). Quint. XI c. 2.
bes. § 3 u. 4.
die empfehlung der disputierübungen , des eignen lehrens und
der abendlichen repetition. Vergerio fol. 18'' f.
Verwerfung des unvorbereiteten Sprechens c. 12 (s. 87 f.).
Plut. c. 9.
form der darstellung. Quint. I 5 u. 6. VIII 1 — 3.
consuetudo und ratio (die sich in analogia und etymologia
zeigt) als zuverlässigste führer bei der Wortwahl. Quint. I 6.
bes. § 1. 3. 43 fif.
Verschiedenheit der darstellung bei den verschiedenen materien
c. 14 (s. 92 f.). Quint. II 4, 3—9. 20. XII c. 10.
öffentliches auftreten der knaben, Übungen im ver-
trag. Quint. I 2. I 10.
lectüre c. 15 (s. 34—102).
Verlegung der komikerlectüre in das reifere alter (s. 95).
Quint. I 8. 7.
beginn mit den epikern Homer und Vergil (s. 97) J-*^ Quint.
I 8, 5.
abwechslung im Unterrichtsstoff c. 16 (s. 103). Quint.
I 10—12. Plut. c. 10.]
ä^^ wenn er bei dieser bevorzugung der epiker auf das urteil
'unserer vorfahren' verweist, und ebenso wenn er (s. 96) bemerkt:
•■unsere vorfahren verlangten, dasz der Unterricht im lateinischen und
griechischen gleichzeitig betrieben werde', so meint er mit den 'vor-
fahren', der damaligen redeweise entsprechend, die alten Kömer. beide
bemerkungen gehen wohl auf Quintilian zurück; die an zweiter stelle
genannte auf I 1, 12 — 14.
328
A.Messer: Quintilian als didaktiker.
Buch III.
1) berufswahl und berü cksichtigung der Individualität
dabei c. 1. 2 (s. 104—113). Vergerio fol. 16" f.
2) weitere unt err ich tsg^egenstände c. 3 — 5 (s. 114 — 117).
musik. Quint. I c. 10.
zeichnen. Vergerio fol. 14h 3r.o
gymnastik. Quint. I 11, 15—19. Plut. c. 11. Yergerio fol. 22'> S.
3) spiele c. 6 (s. 117—119). Quint. I 3, 8—13. Vergerio fol. 24»» ff.
[Vegio verwirft, abweichend von Vergerio (fol. 25^), das Schach-
spiel (s. 118 f.) und den Vogelfang, wenigstens den von raub-
vögeln (non decet! s. 118 f.). Vergerio fol. 24''.]
4) Studium der (inoral-)phi losop hie c. 9 (s. 119 f.). Quint. X
1, 35 f. XII c. 2 (in anderem Zusammenhang). Plut. c. 10. Vergerio
fol. 14^
5) die (nichtwissenschaftlichen) lebensberufe c. 8 (s. 120 f.).
6) beaufsichtigung der reiferen Jugend c. 9 (s. 121 — 126). Plut.
c. 16. 17.
7) erziehung der töchter (s. 127—131).
8) gebet für die kinder (s. 131 f.).
Eigentlich nirgends sind ganze stellen aus Quintilian herüber-
genommen, dies spricht ebenso für Selbständigkeit der arbeit Vegios
350 da Vergerio von Vegio nirgends genannt wird, so mögen hier
stellen, an denen sich die benutzung nicht nur durch den gleichen
inhalt, sondern noch deutlicher durch die form zu erkennen gibt,
folgen.
Vergerio fol. M*» designativa Vegius III c. 3 quod ad figura-
vero nunc in usu non est pro liberali, tivam vero pertinet, non multum
nisi quantum forsitan ad scripturam instamus, quod nee multum nunc
attinet. scribere namque et ipsum inter liberales artes habeatur. picto-
est protrahere ac designare, quoad res enim ea magis utuntur, nisi
reliqua vero penes pictores resedit. forte ad formandos literarum cha-
erat autem non solum utile, sed racteres referatur, cuius peritia
etiam lionestum quoque huiusce- cuique etiam literatissimo non
modi negotium apud eos, ut Aristo- pravae cedit dignitati atque orna-
teles inquit; nam in emptionibus mento. quare in ea erunt pueri
vasorum tabularumque acstatuarum, exercendi, quae vero pictorum pro-
quibus Graecia maxime delectata pria est, non tarn honesta quam
est, succurrebat, ne facile decipi utilis etiam antiquis esse videba-
pretio possent et plurimum con- tur, quod ad habendum de vasis ac
ferebat ad depreheudendam reruni tabulis statuisque emendis iudicium
quaenaturaconstantautartepulchri- (quibus plurime illi delectabantur)
tudinem ac venustatem, quibus de maximum eins artis ne a venditori-
rebns pertinet ad magnos viros et bus deciperentur adiumentum prae-
loqui iiiter se et indicare posse. stabat.
Vergerio fol. 4'' namque si P. Vegius I c. 1 nam si P. Scipio-
Scipio et Qu. Fabius, quort Omnibus nem et Qu. Fabium accipimus )(id
fere generosis mentibus usu evenit, quol praestantissimo etiam cuique
illustrium virorura contemplandis contingit), dum magnorum virorum
imaginibus excitari se magnopere imaginibus inspiciendis animum in-
dicebant, quae res lulium quoque tenderent,^quam maxime ad virtutem
Caesarem visa magni Alexandri excitari inflammarique solito.s esse,
imagine ad summam rerum accendit, si et lulius Caesar, inspecta Alexan-
dri iraagine plurimum et ipse magna-
rum rerum gloria ineensus est, quod
esse poterit efficacius exemplura
quam viva spiransque vox simul et
facies parentum?
quid consentaneum est evenire, quom
ipsam vivam et'figiem et adhuc Spi-
rans exemplum intueri (possimus)?
I
A.Messer: Quintilian als didaktiker. 329
wie die ganz unabhängig von Quintilian, Plutarch und Vergerio er-
folgte anordnung des stoflfes (die allerdings bisweilen, besonders im
3n buch, zu wünschen übrig iHszt). man wird wohl vermuten dürfen,
dasz Vegio in allen punkten, in denen der Stoffes zuliesz, die insti-
tutio um rat angegangen hat — es findet sich keine stelle , an der
seine ansieht nicht mit der Quintilians im einklang stünde — aber
seine benutzung ist, entsprechend der gründlichkeit seiner arbeit
und der heranziehung auch zahlreicher andei'er quellen, eine durchaus
■würdige.
Nicht dasselbe kann über die des Enea Silvio-^' gesagt wer-
den, es mag dies mit dem charakter seiner abhandlung zusammen-
hängen: sie ist eine gelegenheitsschrift. auf aufforderung Kaspar
Wendeis, des lehrersdes damals 10jährigen Ladislaus (Postumus),
hat er sie zu ostern 1450 dem prinzen dargebracht. ^^^ eine Über-
sicht über den inhalt mag auch hier für die aufzeigung seiner ab-
bängigkeit von Quintilian und Plutarch den rahmen abgeben, die
wörtlich oder fast wörtlich herübergenommenen stellen sind durch
ein Sternchen kenntlich gemacht.
I. Einleitende bemerkungen s. 244 — 247.
1) die drei factoreu der bildung natura, disciplina (ars), exer-
citatio s. 244. *Quint. I 1, 1 f. *Plut. c. 4.
2) die erzieh ung musz sieh auf den körper und den geist
richten s. 245.
3) die erfordernisse des lehrers s. 245—247.
[die anekdote von Leonidas, dem lehrer Alexanders. *Quint.
I 1, 9.
die Warnung vor den halbgebildeten lehrern. *Quint. I 1, 8
(in bezug auf die paedagogi).
Phoenix als lehrer des Achill. *Plut. c. 7.
die folgenden mahnungen an den lehrer s. 246. *Quint. II
2, 5.353
(von z. 15 an wieder *Plut. c. 7.)
die bemerkung über die körperliche Züchtigung mit ausdrück-
lichem hinweis auf Quint. I 3, 13 — 17. Plut. c. 12.]
3^' ich benutze eine ausgäbe mit der Überschrift: incipit tractatulus
per Eneam Silvium editus ad regem Bohemie Ladislaum. s. 1. et. a.
(Hain, repertorium bibliographicum nr. 205). daneben citiere ich nach
der Übersetzung von Galliker in der bibliothek der katholischen päda-
gogik bd. II (Freibnrg 1889) s. 223 fif.. der Verfasser bemerkt selbst
in der vorrede (s. 240): 'die zahllosen incorrectheiten, welche dem latei-
nischen texte anhaften, haben die arbeit sehr erschwert und eine voll-
ständige correcte eruierung des sinnes bisweilen sogar verunmöglicht.'
die heranziehung Quintilians und Plutarchs hätte diesem Übelstande ab-
geholfen.
3=2 vgl. die vorrede Eneas (s. 243 f.) und Voigt a. a. o. II ^ s. 315.
35' Enea, der selbst kein griechisch verstand, hat die abhandlung
•rrepl uaiötjuv äyu^Yflc in der Übersetzung Guarinos benutzt, was die ver-
gleichung einiger stellen beweisen mag (Guarino ist nach der früher
erwähnten ausgäbe citiert).
Gu. fol. 31* qualis Achillis pae- Aen. fol. 4* reete etiam Peleus
dagogus Phoenix erat, quem idcirco Achillis curae Phoenicem praefecit,
N. jahrb. f. phil. u. päd. U. abt. 1897 hft. 7. 22
330 A. Messer : Quintilian als didaktiker.
II. Die pflege und ausbildung des körpers s. 247 — 254.
[die bemerkung über die xcipovo|aia s. 248. *Quint. I 11, 17.^^''
notwendigkeit der erholung s. 248 f. *Plut, c. 13. ^^^^
die ratschlage über die bezähmung der körperlichen gelüste
s. 253 f. Basilius a. a. o. fol. 52 M
III. Die geistige ausbildung s. 254—298.
1) wert der geistigen guter s. 254 — 256. Plut. c. 8.
2) zeitiger beginn des Unterrichts s. 257 f. 'Quint. I 1,15 — 20. '^^
3) bedeutung der reinen spräche der mütter und ammen (s. 258).
Quint. I 1, 3 ff.
4) religiöse Unterweisung, die lectüre der profanschriftsteller,
auch der dichter, musz ihr dienen (s. 259). Basilius fol. 46'' f.
5) sorgfältige auswahl der ges ellschaft des knaben (s. 261 f.).
Quint. I 1, 7. Plut. c. 6.
(für die bemerkung über die Schmeichler vgl. Plut. c. 17.)
Peleus, utestapudHomerum, Achillis ut ei dicendi pariter atque agendi
curae praefecisse dicitur, ut ei di- ductor foret ac magister.
cendi pariter ac faciendi ductor foret
atque magister.
kurz darauf heiszt es im griechischen text des cap. 7: 6i&aCKCtXouc Y^P
ZriTriT^ov ToTc t^kvoic, oi Kai toIc ßioic elclv äöidßXTiToi koI toTc rpöiroic
dveniXriTCTOi koI raic ^inTreipiaic öpicToi. Guarino übersetzt (fol. 31«):
inquirendi filiis praeceptores , quorum vita nullis obnoxia criminibus,
irreprehensi mores et optimum experimentura. er hat offenbar die worte
Koi ToTc ^liireipiaic äpicxoi nicht verstanden; vielleicht war der text
seiner vorläge hier corrupt. Enea versucht nun der stelle durch einen
znsatz aufzuhelfen, er schreibt (fol. 4°): oportet autem praeceptorum
vitam nullis obnoxiam esse criminibus, irreprehensos mores, Optimum
experimentum, ut nee habeant vitia, quae vetant.
^•°"' Enea bat hier seine vorläge nicht verstanden:
Quint. I 11, 17 et certe, quod Aen. fol. 5'' servandus est igitur
facere oporteat non indignandum in motu omnique statu decorum.
est discere, cum praesertim haec in qua re tarn curiosi Graeci fuerunt,
chironomia, quae est, ut nomine ut gestus legem perscripserun t
ipso declaratur, lex gestus et ab (sie!) quam Cironomia (sie!) voca-
illis temporibus heroicis orta sit, et verunt ; eam Socrates probavit,
a sumniis Graeciae viris et ab ipso Plato in parte civilium actionum
etiam Socrate, a Piatone quoque in posuit, Crisippus in praeceptis de
parte civilium posita virtutum et a educatione liberorum omisit.
Chrysippo in praeceptis de liberorum
educatione compositis non omissa.
355 Plut. c. 13 in der Übersetzung Aen. fol. 6^ Plantae namque cum
Guarinos fol. 36^: Plantae enim cum raodicis aluntur aquis, multis suf-
modicis aluntur aquis, multis suf- focantur. nosse oportet vitam
focantur. reminisei enim oportet nostram in duas partes esse divi-
nostram omnem vitam in remissio- sam, in Studium ac remissionem.
nem ac sturiinm esse divisam. quo- sie vigiliae somnus, pa.x bellum,
circa non vigiliara modo, verum aestas hiems, operosi festique dies,
etiam somnum esse repertum, non laboris condimentum est otiura;
bellum solum, sed etiam pacem, non bestes enim disciplinarum , ut a
hiemem, sed et tranquillitatem, non Piatone dictum est, labores atque
operosos, sed festos etiam dies, et somni.
ut generatim loquar, laboris con-
dimentum est otium.
356 an der stelle (s. 257) ist, wie Quintilian zeigt, im texte Eneas
statt Theodosio Hesiodo zu lesen.
A. Messer: Quintilian als didaktiker, 331
6) die sprachliche aushildung (s. 262 — 292).
a. spräche, das den menschen vom tier unterscheidende merk-
mal (s. 262). Quint. II 16, 12.
b. gegen das voreilige reden aus dem Stegreif (s. 263). Plut. c. 9.
c. einige regeln über die ausspräche (s. 264). *Quint. I 11, 1. 8.
I 1, 37.
d. Verwendung des ehrgeizes als sporn (s. 264). * Quint. II 2, 22.
I 3, 7.
e. Vermeidung unehrbarer reden (s. 264 f.). Plut. c. 14.
f. gegen das hartnäckige disputieren (s. 265). Plut. c. 14 i. f.
g. die ausbildung des gedächtnisses (s. 265 f.).
dessen dreifache fähigkeit. * Quint. I 3, 1.
auswendiglernen von aussprüchen. Quint. I 1, 36.
h. grammatik.
a. einleitende bemerkungen.
nur das überflüssige in der grammatik schadet. * Quint,
I 7, 30.
Caesar schreibt über analogie. Quint. I 7, 34,
die Schreibung calidus statt caldus. * Quint. I, 6, 19.
die grammatik das fundaraent. * Quint. I 4, 5.
ß. die drei hauptteile der grammatik (s. 267). * Quint. I 4, 1.
die nun folgenden einzelheiten aus dem ersten haupt-
teil der grammatik, der recte loquendi scientia,
die in der Übersetzung 10 Seiten (s. 267—276) füllen,
sind mit ganz unbedeutenden abänderungen und Zu-
sätzen aus Quintilian zusammengeschrieben.^^'
bezüglich des zweiten hauptteils der grammatik,
der lectüre (s. 277—286), wird bemerkt:
sie musz sich auf dichter, historiker und redner er-
strecken (s. 277). * Quint. I 4, 4.
sie soll mit Homer^^^ und Vergil beginnen (s. 277),
* Quint. I 8, 5.
in dem nun folgenden excurs über die dichterleetüre
(s. 277—284) ist mehrfach (s. 281 f.) Basilius (fol. 46 b.
47 ä) benutzt,
in der besprechung des dritten hauptteils der gram-
matik, der ratio scribendi (s. 286 — 292), sind nur einige
einzelheiten aus Quintilian entnommen:
ethisch wertvoller stoff für die Schreibübungen (s. 287),
*Quint. I 1, 34 f.
über die Schreibung von optimus (s. 288). * Quint.
I 7, 7 (von Enea misverstanden).
ä" die belege für dieses umfangreiche plagiat mögen hier, nach
den Seiten der Übersetzung geordnet, folgen: zu s. 267 Q. I 5, 3. 57.
58. 60; zu s. 268 Q. I 5, 61. 68. 71. 70. VIII 6, 4. 5. 6; zu s. 269
Q. VIII 6, 7. 14. 15. I 5, 71. 72. VIII 3. 34; zu s. 270 Q. VIII 3, 37. 35.
I 5, 3. 4, I 4, 11. I 6, 10, 11; zu s. 271 Q. I 6, 5. I 5, 46, 51. I 5, 8.
9. 12. 15. 18; zu s. 272 Q. I 5, 34. 35. 36. 46, 50. I 6, 1 ; zu s, 273
Q. I 6, 17. 3. 4. 8. 28. 32. 34; zu s. 274 Q. I 6, 37. 32. 30. 1. 39. 40;
zu s. 275 Q. I 6, 2. 42. 41. 3. 43; zu s. 276 Macrobius I 15, 17. Q. I
6, 43. 44. 45.
^^8 es macht fast den eindruck, als habe er den rat Quintilians,
mit Homer und Vergil zu beginnen, einfach herübergenommen und dann
sei ihm erst eingefallen, dasz es ja dafür dem prinzen gänzlich an
einem lehrer des griechischen fehle, übrigens rät Vegius ebenfalls mit
Homer und Vergil zu beginnen, während er sich sonst über das grie-
chische ganz ausschweigt: also handelt es sich bei ihm doch offenbar
auch um einfache herübernahme der stelle aus Quintilian.
332 A. Messer: Quintilian als didaktiker.
über cum und quum (s. 270). *Quint, I 7, 5.
über Gaius und Caius (s. 270). *Quint. I 7, 28 (mis-
verstanden).
über den buchstaben k (s. 290). *Quint. I 7, 10.
7) rhetorik s. 292 f.
als lehrer derselben wird neben Cicero und Aristoteles Quin-
tilian genannt,
8) dialektik s. 292.
die Vermeidung unnützer Spitzfindigkeiten.
anekdote von Alexander s. 293. *Quint. II 20, 3.
9) musik s. 293 f.
die anekdote von Themistokles (s. 194). Quint. I 10, 19.
die stelle über Jopas^^s (Verg. I 746). *Quint. I 10, 10.
die bemerkung über die Pythagoreer. Quint. IX 4, 12.
10) geometrie und arithmetik s. 294 f. *Quint. I 10, 34.
48, 39—44.
11) astronomie s. 295—297. *Quint. I 10, 47. 48. I 4, 4. I 12, 1.
2. 4. 5. 7. 9.
(die anderthalb selten sind ganz aus der institutio entnommen.)
12) Philosophie s. 297 f.
der name 'philosoph'. Quint. XII 1, 19.
die drei teile der philosophie. Quint. XII 2, 8. 10.
Die Übersicht spricht für sich selbst: sie zeigt unwiderleglich,
dasz die abhandlung Eneas vermutlich mit einer gewissen eilfertig-
keit — man denke an die falsche auffassung von Quintilianstellen
und an die bemerkung über das griechische — hauptsächlich aus
Quintilian, Plutarch und Basilius zusammengeschrieben ist. am
peinlichsten tritt dies hervor in dem abschnitt über die grammatik,
der doch wohl nur eingelegt ist, um mit gelehrsamkeit zu prunken.
Enea mochte ein solches verfahren, welches bekanntlich die an-
sehauungen seiner zeit weniger hart beurteilten , den nordischen
barbaren gegenüber, für die ja die schrift zunächst bestimmt war,
als ganz unverfänglich ansehen.
In einem wohlthuenden gegensatz zu der schrift Eneas steht
durch ihre gründlichkeit die abhandlung Guarinos de modo et
ordine docendi ac dicendi^"" (um 1458 geschrieben^^'), wir
haben darin theoretische anweisungen , die aber durchaus auf dem
nährenden und haltgebenden boden der praxis erwachsen sind; denn
Baptisto Guarino , der liebling und nachfolger seines berühmteren
'59 zur ehrenrettung Eneas sei bemerkt, dasz nicht er aus dem
Jopas einen 'schüler Virgils' macht, wie es in der oben erwähnten
Übersetzung heiszt. der lateinische text bietet wie auch Quintilian:
ille Vergilianus.
3«" ich benutze eine ausgäbe mit dem titel: Baptista Guarinus
de modo et ordine docendi et disceiidi. am Schlüsse heiszt es: finit
modus . . . impressus Heydelberge per Henricum Knoblochtzcr impressorie
artis magistrum anno salntis nostre Millesimo quadringent esim o
octogesimo nono. sie umfaszt 11 blätter in 8" (Hain nr. 8131). aus
der angäbe des druckjahres ergibt sich, dasz die angäbe Röslers (a. a. o.
s. 142 a. 4), Beatns habe die schrift zu Straszburg 1514 zuerst im
drucke herausgegeben, unrichtig ist.
3ß' Voigt a. a. 0. P s. 551 a. 3.
A. Messer: Quintiliau als didaktiker. 333
Vaters, gibt hier, wie er im widmungsbrief betont (fol. 2* f.), nur
solche Vorschriften, die in der schule seines vaters zu Ferrara in
langer anwendung sich erprobt haben, so konnte denn auch der
alte Guarino in dem der abhandlung vorgedruckten briefe mit recht
darüber sagen: iuvenilis fertilitas cum senili maturitate contendit.
Die Schrift zerfällt, abgesehen von einer kurzen einleitung, in
drei teile: der erste bespricht das Verhältnis zwischen lehrer und
Schüler (fol. 2** — S**), der zweite beschreibt den gang des Unter-
richts (fol. 3'' — 8^), der dritte gibt anleitung zum selbständigen
weiterarbeiten (fol. S'' — 11^). bei dem Charakter der schrift, die
nicht aus einigen büchern zusammengeschrieben ist, sondern mehr
einen bericht über bestehende einrichtungen darstellt, ist es begreif-
lich, dasz der einflusz Quintilians weniger hervortritt; er zeigt sich
aber gleichwohl, besonders im ersten teil, das Verhältnis zwischen
lehrer und schüler ist ganz so gefaszt, wie es Quintilian als wünschens-
wert bezeichnet, die schüler sollen sich gelehrig zeigen ^^^ und den
lehrer wie einen vater achten und lieben (fol. 2^ i. Quint. II 9.
II 2, 4 — 8). man möge sich nicht für den anfangsunterricht mit
schlechten lehrern begnügen (fol. 3^), eine mahnung, die wie bei
Quintilian (II 3, 1 — 3) durch die anekdote von dem musiker Timo-
theus illustriert wird, die schüler sollen nicht (propter literarum
disciplinam!) geschlagen werden, wofür dieselben gründe, wie sie
Quintilian (I 3, 13 — 17) und Plutarch (c. 12) geben — wenn auch
nicht alle — angeführt werden. ^'^^ die etwas älteren schüler musz
der lehrer durch ehrgeiz und Wetteifer anzuregen versuchen (fol. 3 **),
wozu auch Quintilian (I 2,26) rät. bei dem Unterricht in den ersten
elementen soll die schülerzahl nur klein sein, bei dem höheren Unter-
richt ist eine gröszere zahl eher von nutzen, nam quo maior erit
turba eo diligentius praeceptor ipse legere conabitur. bei Quintilian
heiszt es (I 2, 9) : nam optimus quisque praeceptor frequentia gaudet
ac maiore se theatro dignum putat (ähnlich I 2, 29. 31). die vorher-
gehende bemerkung ergab sich wohl aus der praxis des älteren
Guarino, der für den ersten elementarunterricht unterlehrer heran-
zog, bei Quintilian ist sie überflüssig, da er voraussetzt, dasz die
ersten elemente durch die paedagogi beigebracht werden (I 1).
Seltener sind die anlehnungen an Quintilian im zweiten teil,
3^2 als motiv dafür wird dargeleg^t, dasz kein besitz honestins sei
als die doctrina — unverkennbar in anlehnung' an Plutarch Ttepl iraibuiv
ÖYUJT'nc c. 8. die bemerkung über den einflusz von reichtum und armut
auf die Studien scheint auf Vergerio bezug zu nehmen, auf dessen be-
nutzung auch noch andere stellen hindeuten, bei Vergerio heiszt es
(fol. 10^): magis profusa rerum copia quam summa inopia bonis in-
geniis nocere consuevit; tametsi per extremas difficultates generosa
natura solet in altum emergere, bei Guarino (fol. ä**) in extrema inopia
positum haud facile est emergere.
^^^ dazu wird noch ein neuer, so recht mitten aus der praxis ge-
schöpfter, gefügt: adde quod raetu verberum declamationes eis pro-
positas non ingenio proprio, sed ab aliis occulte compositas afFerunt,
quod capitale et perniciosura est.
334 A. Messer: Quintilian als didaktiker.
der den gang des Unterrichts schildert, aber sie finden sich auch
hier, gleich die forderung, dasz ein gründlicher Unterricht in der
grammatik das fundament bilden müsse , und dasz vor allem die
fiexionslehre sicher einzuprägen sei, wird fast in denselben worten
ausgesprochen wie bei Quintilian. ^^* der grammatische Unterricht
wird in zwei bestandteile, die recte loquendi scientia und die poeta-
rum enarratio , welche auch als methodice und historice bezeichnet
werden (fol. 4^*), genau so, wie es in der institutio (I 9, 1) heiszt:
et finitae quidem sunt partes duae, quas haec professio pollicetur,
id est ratio loquendi et enarratio auctorum, quarum illam metho-
dicen , hanc historicen vocant. — Dasz er Quintilian mit selbstän-
digem urteil benutzt, zeigen seine bemerkungen über den griechi-
schen Unterricht (fol. 5'' f.).'^^ mehrei-e gründe werden für denselben
angeführt, einer derselben wird ausdrücklich aus Quintilian (I 1, 12)
entlehnt: er lautet: simul quia disciplinis quoque Graecis prius in-
stituendus est, unde et nostrae fluxerunt. wenn aber Quintilian
(I 1, 12) rate mit dem griechischen zu beginnen, so habe er dies —
wie Guarino treffend bemerkt — doch wohl nur deshalb gethan,
quod suis temporibus latinam linguam omnes haberent, nee in ea
tanta elaboratione opus esset (fol. 6*). auch darin zeigt sich seine
auf praktische erfahrung gegründete Selbständigkeit, dasz er den an-
fang der lectüi-e nicht mit Homer (so Quintilian I 8, 5), sondern mit
leichteren prosaikern zu machen rät (fol. 6^). — Bei der erörterung
der für die lectüre in betracht kommenden autoren beruft er sich
nur bezüglich Lucans aul Quintilians urteil (X 1, 90): eum oratori-
bus magis, quam poetis imitandum esse (fol. 7^); das Studium der
institutio aelbst empfiehlt er dringend (fol. 8^).
In dem dritten teil, der anluitung zum selbständigen weiter-
arbeiten , findet sich (fol. 9 '') die schon in anderem Zusammenhang
erwähnte stelle: nam, ut. aitQuintilianus, optimum proficiendi genus
esse docere, quae didiceris. dieselbe steht, wie schon bemerkt, nicht
in der institutio, wohl aber wörtlich bei Vergerio (fol. 19"), woraus
folgen dürfte, dasz er diesen gekannt und benutzt hat. wie Vergerio
(fol. 18^ ff.), so mahnt auch Guarino (fol. 10'') zur Ordnung beim
studieren, zu sorgfältiger Zeiteinteilung und zu regelmäsziger abend-
licher repetition des am tage gelesenen, in den schluszworten end-
lich verwertet er einen gedanken Quintilians (I 1, 1), wenn er aus-
führt, der Wissensdurst und die bethätigung in der Wissenschaft sei
36* bei Guarino heiszt es, die Schüler müsten vor allem gründlich
lernen nomina et verba declinare, sine qulbus nullo modo pervenire ad
intellectum sequentium possuut (fol. 4^). Quintilian {l 4, 22): nomina
declinare et verba inprimis pueri sciant, neque enim aliter pervenire
ad intellectum sequentium possunt.
^^•^ Guarino ist, beiläufig bemerkt, der erste, der dem griechischen
eine eingehende erörterung- widmet; bei Corraro und Enea ist es nur
gestreift, bei den andern mit stillschweigen übergangen — auch ein
beweis dafür, wie verhältnismäszig spät dieses fach im schulbetrieb
sich eine sichere Stellung eroberte.
A.Messer: Quintiliau als didaktiker. 33&
dem menschen so natürlich, wie dem vogel das fliegen, dem pferde
das laufen; daher denn der name humanitatis studia wohl be-
gründet sei.
In diesen letzten werten ist denn auch leise angedeutet, was
Ouarino als die eigentlich erstrebenswerte daseinserfüllung ansieht :
■das stille, von der weit abgekehrte gelehrtenleben.'^* es ist also
wohl auch nicht ganz zufällig, wenn Guarino in seiner schrift ledig-
lich den eigentlichen Unterrichtsbetrieb ins äuge gefaszt hat.
•ofiFenbar interessierte ihn dieser mehr als die körperliche ausbildung
und die erziehung. damit steht ganz im einklang, dasz wir auch in
der schule seines vaters ein überwiegen des philosophischen
«lements wahrnehmen.^"
Wenn wir für unsere schrift ein gegenstück suchen, so bietet
sich nicht sowohl die abhandlung Vergerios — obwohl diese wahr-
scheinlich benutzt ist — sondern die Lionardo Brunis, in welchem
zusammenhange darauf hingewiesen werden mag, dasz der ältere
Guarino zu jenem in naher beziehung gestanden hat.'®^ — Was uns
aber hier besonders interessiert: dieses dem Guarino vorschwebende
bildungsziel harmoniert nicht mit dem Quintilians; immer wieder
eifert dieser gegen ein von dem leben abgekehrtes schulgetriebe,
immer wieder weist er auf die praktische bethätigung als das eigent-
liche ziel hin. in dieser beziehung zeigt sich kein einflusz Quintilians
auf die schrift des Jüngern Guarino, ebensowenig wie auf die schule
des älteren.'«^
Filelfos kleine abhandlung über die erziehung"" (1475) ent-
hält trotz ihrer kürze fast alle bezeichnenden züge humanistischer
ä^6 an andern stellen tritt dies noch deutlicher hervor, so mahnt er
(fol. 11^) die Jünglinge: nihil hoc litterato otio dulcius esse arbitrentur.
3" Rösler a. a. o. s. 161 f.
3^^ es soll übrigens nicht verschwiegen werden, was Voigt (P s. 308)
über Bruni bemerkt: ''überliaupt widerstrebte seine männliche natur
dem gedanken, als liege das letzte ziel des menschen- oder auch nur
des gelehrtenlebens in der arbeit des Studierzimmers und der medi-
tation, in der einsamkeit und musze, deren lobpreisung zu seinem ärger
«eit Petrarca mode und selbst von Salutato nicht ganz abgestreift wor-
den war . . . schwerlich hätte ein anderer der humanisten es über sich
gebracht, den feldherrn über den philosophen zu stellen.' in seiner
schrift tritt dieser zug entschieden nicht hervor; allerdings ist sie an
eine frau gerichtet, aber doch auch dieser war nicht jedes fehl prakti-
scher bethätigung verschlossen: man denke an christliche charitas.
^^"^ übrigens sind uns auch von dem älteren Guarino ein paar kurze
Studienregeln erhalten, die er von Chrysoloras empfangen haben will
und die er in einem brief an seinen zögling Lionello mitteilt. sie
stehen in deutscher Übersetzung bei Kösler a. a. o. s. 138. eine ver-
gleichung zeigt, dasz sie Guarino der söhn fast alle in seine schrift
aufgenommen hat.
^'0 es ist eigentlich ein brief an Mathias Trivianus, den erzieher
des damals sechsjährigen prinzen Giangaleazzo Sforza, er ist abge-
druckt bei_ Rosmini (vita di Francesco Filelfo, Milano 1808, I. II)
II s. 463 — 78, wonach ich eitlere.
336 A. Messer: Quintilian als didaktiker.
Pädagogik, wie denn auch ihr Verfasser eine der charakteristischsten
gestalten des humanismus ist. in trefflicher weise hat dies Voigt
durch seine humorvolle Schilderung Filelfos gezeigt. — Auch unter
den hecatostichen Filelfos (satirarum hecatostichon decades decem,
Mailand 1476) findet sich eine (die erste des 6n buches) de modo
et ordine totius vitae. Wimpheling hat sie in den lesestoff seiner
adolescentia aufgenommen, sie enthält nur anweisungen über die
sittliche lebensführung und die körperliche ausbildung, bietet dem-
nach keine gelegenheit zur anlehnung an Quintilian."' dagegen
zeigt eine solche die an erster stelle genannte schrift. die forde-
rung, dasz der erzieher die geistige und sittliche Veranlagung seines
Zöglings zu erkennen suche (s. 465) , dasz er durch sein beispiel
wirke, dasz man auf die früheren eindrücke, weil sie am festesten
hafteten, besonders sorgsam achten müsse, ist uns aus Quintilian wohl
bekannt."^ ebenso wird mit Quintilian (I 2, 22) die aemulatio mit
altersgenossen als ein wünschenswerter sporn für die Studien be-
zeichnet, vor allzu groszer strenge aber gewarnt (s. 467), ferner das
spielende lesenlernen mit hilfe elfenbeinerner buchstaben empfohlen
(s. 467 vgl. Quint, I 1, 26). in den weiteren ausführungen, welche
die körperliche bildung und den höheren wissenschaftlichen Unter-
richt betreffen, ist eine einwirkung Quintilians nicht bemerkbar.
^''' ein anderes ziemlich umfangreiches werk Filelfos wird von ihm
selbst wiederholt als 'sehr nützlich für die Jugend' bezeichnet, es sind
das seine in den letzten lebensjahren abgefaszten fünf bücher de morali
philosophia, vor deren Vollendung er gestorben ist (am 31 juli 1481).
das werk enthält aber keine erziehungslehre , sondern eine erörterung
der ethischen grundbegriflfe, wobei eine kritik der ansichten der antiken
moralphilosophio gegeben wird, das werk wurde ediert von Franciscus
Kobortellus, Mailand 1552. infolge irriger identificierung mit dem werke
Vegios, das ja, wie erwähnt, vielfach unter dem namen Filelfos gieng,
ist es in der neueren litteratur meist übersehen worden, so auch bei
Voigt a. a. o. I^ s. 365. ich habe darauf aufmerksam gemacht im archiv
für geschichte der philosophie jalirg. 1896, heft 3.
37* dasz er sie auch thatsächlich aus Quintilian herübernimmt, darauf
deutet der gebrauch derselben beispiele: Aristoteles und Leonidas als
erzieher Alexanders (Quint. I 1, 23. 9).
(fortsetzung folgt.)
GiESzEN. August Messer.
E. Plaumann: Admet und Alkestis und der arme Heinrich. 337
(17.)
DER MYTHOS VON ADMET UND ALKESTIS UND DIE SAGE
VOM ARMEN HEINRICH.
(fortsetzung und sclilusz.)
Wie ich über die ähnlichkeit zwischen Alkestis und dem armen
Heinrich denke, geht aus den von mir gegebenen Charakteristiken
und der nun folgenden eingehenden parallele hervor, denn
es lassen sich jener griechische mytbos und diese deutsche sage in
verschiedenen punkten in parallele stellen.
In Admet sehen wir einen mann, der sich der gunst der götter
überhaupt, besonders aber des Apollo und Heracles erfreuen darf,
von ihnen geschätzt wird und mit glücksgütern aller art gesegnet ist.
Auch Heinrich bei Hartmann ist durch gottes gnade ausgestattet
mit allen irdischen gütern und hohen weltlichen tugenden und er-
scheint so als ein echter weltlicher ritter nach dem ideal, wie es dem
dichter vorschwebte. — In seinem glücke versäumt es Admet, einer
bedeutungsvollen gottheit ein ihr gebührendes opfer darzubringen.
denn diese gottheit ist Artemis, die schwester Apollos, der zu Admet
in einem recht nahen, man möchte sagen, intimen Verhältnis steht;
und es soll doch wohl dadurch das vergehen des Admet als besonders
schwerwiegend erscheinen. Euripides thut dieser misachtung gött-
licher ansprüche und der Versäumnis des Admet nicht besonders
erwähnung, da aber ein grund für Admets strafe , zumal im drama,
verlangt wird, so müssen wir doch wohl den bekannten annehmen.
Heinrich hat seinen sinn ebenfalls nur aufs irdische gerichtet;
denn er denkt nicht daran, dasz schlieszlicb sein reicbtum und sein
glück nicht sein verdienst seien , sondern dasz er es einem höheren
zu verdanken hat, dem es zu danken er jedoch versäumt, es fehlt
diesem ideal des ritters also die religiöse seite des rittertums.
Die strafe bleibt in beiden fällen nicht aus: Artemis rächt sich
dadurch, dasz sie dem Admet ein Schlangenknäuel in das braut-
gemach sendet, um so seinen tod herbeizuführen, nach einer Variante
der sage — und dieser folgt Euripides — haben die götter in ihrer
gesamtheit die räche für Admets Verletzung göttlicher ansprüche
übernommen und haben ihm den vorzeitigen tod bestimmt.
Über Heinrich ist dafür, dasz er gottes vergessen, zwar nicht
gleich der tod, aber wohl eine krankheit verhängt, die nach da-
maliger anschauung und dem damaligen stände ärztlicher kunst als
unheilbar galt und also nach einem traurigen, einsamen leben sicher
zum vorzeitigen tode führen muste.
Allein Admets gönner Apollo, der vater des Asklepios, des
arztes unter den göttern, erwirkt von den Mören — nach Euripides
allerdings durch täuschung — dasz für jenes tod der eines andern
angenommen werden solle, falls jemand ihn freiwillig auf sich
nehme, wenn aber Admet geneigt ist, ein solches opfer von einem
338 E. Plaumann: Admet und Alkestis und der arme Heinrich.
andern anzunehmen, so zeigt sich darin seine dem menschen über-
haupt, besonders aber dem Griechen eigentümliche liebe zum leben,
zumal er noch in blühendem alter steht und blühender gesundheit
sich erfreut.
Auch Heinrich soll nach dem ausspruch eines gelehrten arztes
von seiner sonst unheilbaren krankheit befreit werden, wenn ein
anderer sich entschlieszen könne, freiwillig für ihn dem leben zu
entsagen; allein nach mittelalterlicher anschauung genügt nicht
eines beliebigen tod, sondern es musz eine reine Jungfrau sein."
auch Heinrich liebt bei seiner Jugend das leben, trotzdem dasz er von
krankheit heimgesucht ist und von den menschen gemieden wird;
und auch er würde geneigt sein, ein solches opfer anzunehmen. —
Anfangs müssen beide, Admet und Heinrich, wie es den anschein
hat, auf rettung verzichten, zwar hat Admet noch eitern, die hoch
betagt sind, und manchen freund; allein sein leben will niemand
für ihn opfern. Heinrich aber steht sozusagen allein da. es wäre
deshalb wohl an ihm gewesen, sich in das vom hiramel verhängte
los zu fügen und abzuwarten , ob gott nicht gnade üben wolle, im
gegenteil; es verlieren beide die fassung und besonnenheit, so dasz
Admet nur die heftigsten vorwürfe für seine eitern hat, weil sie
dem leben nicht in seinem Interesse entsagen wollen, während
Heinrich sich in Verzweiflung seiner guter entäuszert, um sich in
die einsamkeit zurückzuziehen.
Einen interessanten gegensatz zu dem pietätlosen benehmen
Admets seinen eitern gegenüber bildet übrigens das des mägdleins
in Hartmanns erzählung, indem es die doch gewis von deren Stand-
punkt aus berechtigten vorwürfe der mutter, dasz das kind gegen
das vierte gebot verstosze, wenn es seine eitern durch freiwilligen
und vorzeitigen tod betrübe, pietätvoll mit den verständigsten
gründen widerlegt.
Endlich entschlieszt sich für beide je ein weibliches wesen, für
Admet seine jugendliche gattin, für Heinrich ein liebevolles kind,
eine unschuldige Jungfrau ^^, das leben zu opfern, jene zu ihres
gatten und ihrer kinder, diese zu ihrer eitern tiefem schmerz; und
beide männer nehmen das anerbieten an , wenn auch anfangs mit
erklärlichem widerstreben und nach anfänglicher Weigerung, und
bekunden dadurch ihre Selbstsucht^, die allerdings bei Admet er-
klärlicher und entschuldbarer ist; denn mit seinem tode wäi-e nicht
nur die gattin ihres mannes, sondern auch die eitern ihres sohnes,
die kinder ihres vaters, das volk seines fürsten beraubt worden.
^* vgl. P. Cassel, die Symbolik des blutes s. 138 39 u. bes. 200 ff.
■*' vgl. Cassel a. a. o. 8. 217 u.
*^ herr Heinrich war nämlicli nach dem anerbieten des mädchens
und nach langen kämpfen wieder von der weltlust überwältigt worden;
er wollte gesund werden durch des arztes kunst und das opler an-
nehmen, das ihm geboten ward. C. a. a. o. s. 212.
« vgl, C. a. a. o. s. 221.
E. Plaumann: Admet und Alkestis und der arme Heinrich. 339
Beide männer machen sich auf höhn und spott gefaszt darüber,
dasz sie das opfer eines weibes angenommen, Heinrich auch noch
deswegen , dasz er schlieszlich , wie es schien , unverrichteter sache
von Salerno nach hause zurückkehren sollte.
Das motiv zu so mutvoller that ist bei beiden weiblichen wesen
innige liebe zu dem dem tode geweihten ; doch tritt bei beiden noch
ein anderer grund hinzu: bei Alkestis die sucht nach unsterblichem
rühm bei der nachweit; bei dem mädchen aber die Sehnsucht nach
der kröne des ewigen lebens.
In beiden fällen scheint für das opfer rettung ausgeschlossen;
dort bat Thanatos bereits die Alkestis in empfang genommen, hier
ist der arzt in ein besonderes zimmer zur section getreten , und die
verschlossene thür bildet gleichsam die scheide zwischen leben und
tod. — Jene innige liebe seiner gattin rettet den Admet und seine
von den göttex-n hochgeschätzte gastlichkeit ihm die gattin, indem
ein Vertreter der götter, der vielfach der weit zum retter gesandt
ward, sie dem tode abringt, anderseits rettet die opferfreudigkeit
des mägdleins ihren herrn. dort wird die vom tode bereits in
empfang genommene Alkestis am grabmal ihm wieder abgerungen ;
hier ringt Heinrich mit aller kraft seiner beredsamkeit, die ihm
durch das göttliche in ihm , nämlich die aufrichtige reue und
demütigung und den festen entschlusz, sein los in geduld und er-
gebung tragen und nicht mehr wie früher leidenschaftlich nach
heilung streben zu wollen, eingegeben wird, sie dem arzte ab,
dessen messer sie eben opfern soll, durch die reine, selbstlose gute
des mägdleins, die sich freiwillig dem tode hingibt, ist das herz des
kranken von aller Selbstsucht befreit, in beiden fällen erwirkt ein
göttliches oder ein gott die rettung des opfers.
So werden dort die getrennten gatten in unerwarteter v/eise
zu einem glücklichen leben wieder vereinigt, dessen genusz darum
um so schöner ist. auch hier findet schlieszlich eine innige Ver-
einigung der beiden als gatten statt, nachdem in beiden fällen das
noch bestehende hindernis beseitigt ist: dort musz erst die toten-
weihe von Alkestis genommen und sie so völlig der oberweit wieder-
gegeben werden ; hier musz erst der bauer, des mädchens vater, aus
seiner unterthänigkeit entlassen und freigesprochen und so seine
tochter nach der anschauung des mittelalters dem Heinrich eben-
bürtig gemacht werden. — In beiden fällen findet also ein Über-
gang von tiefster trauer zu höchster freude statt.
Auch die sage vom armen Heinrich ist dramatisch
behandelt worden von dem Österreicher Joseph (ritter von)
Weilen (1830 — 89) in dem vieractigen Schauspiel 'Heinrich von
der Aue' (1874). es spielt in Schwaben gegen ende des groszen
deutschen Interregnums (1250 — 73), wo gegenkönige waren Richard
von Cornwall und Alfons X von Castilien.
Auf seiner Stammburg residiert Heinrich von der Aue in un-
getrübtem glück und sorglos in reichem besitz und vollem lebens-
340 E. Plaumann: Admet und Alkestis und der arme Heinrich.
genusz, umgeben von einer groszen zahl von freunden, die infolge
seines urgastlichen sinnes dort stets gern gesehen sind und gern
dorthin kommen, mit scheelen äugen sieht Heinrichs jüngerer halb-
bruder Hadmar, wie hab und gut der familie vergeudet wird, in
dessen besitze, wie er meint, er selbst sein müste. in ihrer jugend
ist nämlich Heinrich als schwächlicher knabe von seinem lehrer, dem
kräuterkundigen arzte Hieronymus in der einsamkeit, Hadmar aber
unter der scharfen zucht des vaters erzogen, der deshalb auch ge-
wünscht hat, dasz Hadmar einst das besitztum verwalte, plötzlich
ist der vater gestorben, ohne seinen nachfolger im besitze testa-
mentarisch festgesetzt zu haben, und so hat Heinrich als der ältere das
erbe als lehen von könig Richard angetreten, das er nun zu Hadmars
schwerem verdrusz maszlos vergeudet trotz der wiederholten Warnung
des alten hausvogts Walther und seines früheren lehrers Hieronymus,
der bei beginn des Stücks deshalb mit schwerem herzen von ihm
scheidet, um seine andern kranken zu besuchen. Hadmar hat, wie
schon öfter, die bürg verlassen, diesmal, um einen entscheidenden
schritt bei könig Richard zu thun, damit das besitztum ihm zu-
gesprochen werde, zumal da Heinrich ein unzuverlässiger freund sei,
der auch anhänger des gegenkönigs Alfons bewirte, so dasz dort,
vermöge seiner gastlichkeit, milde und freigebigkeit die feindlichen
ritter zu friedlichem furnier sich vereinigen, nun kehrt Hadmar zu-
rück, und aus seinen Worten entnehmen wir, dasz wirklich jener ent-
scheidende schritt von ihm gethan worden ist. sobald das furnier
beendigt ist und Heinrich seinen bruder freundlich begrüszt hat,
wird ein höriger bauer namens Konrad mit seiner tochter Elsbeth
gemeldet, der um entlassung aus der hörigkeit bittet, dafür aber
alle seine ersparnisse und zinsung für lange zeit verspricht, sofort
erklärt ihn Heinrich für den eigentümer seines grundstücks; das
geld aber bestimmt er zur künftigen aussteuer für Elsbeth, die einen
besonders tiefen eindruck auf ihn gemacht hat. dankerfüllt erklärt
sie sich dafür bereit, wenn zu dem glücke ihres gütigen herrn ein-
mal auch nur eine kleinigkeit fehlen sollte, ihr leben gern für ihn
opfern zu wollen, ein gedanke, der bei Heinrich eine besonders senti-
mentale Stimmung hervorruft, während er diese seinen freunden
und seinem bruder gegenüber äuszert, erscheint ein herold deskönigs
Richard mit einer Urkunde, durch welche Heinrich auf die klage
Hadmars hin, dasz er auch Richards feinde bei sich aufnehme und
sein besitztum vergeude, seines lehens für verlustig und Hadmar
von Aue als der rechtmäszige lehnsherr erklärt wird, da Hadmar es
offen zugibt, geklagt zu haben, so gerät Heinrich in eine auszer-
gewöhnliche seelische aufregung, die ihm das augenlicht raubt, so
dasz er blind in Walthers arme sinkt (act I).
So ist Hadmar nun im besitz der bürg; doch im Innern der-
selben brechen bereits beim mahle Streitigkeiten zwischen den rittern
der beiden parteien aus und setzen sich nach auszen fort trotz des
friedensgebots Hadmars. auch der erblindete Heinrich tastet sich
E. Plaumann: Admet und Alkestis und der arme Heinrich. 341
heraus, und Hadmar bittet ihn, von seinen falschen freunden abzu-
lassen und zu ihm ins haus zu treten, da Heinrich dies höhnisch
ablehnt, entschlieszt sich ersterer in gegenwart der ritter und teil-
weise unter ihrem beifall, sich — durch die oben berichtete Vor-
geschichte — zu rechtfertigen, doch Heinrich bezeichnet sein ver-
fahren als verrat und fordert trotz Hadmars warnung seine freunde
auf, das mit list ihm entrissene mit gewalt v?iederzuerobern. mit
tiefem schmerz erkennt der eben jetzt zurückkehrende Hieronymus
die von ihm mit besorgnis geahnte läge der dinge und, musz er zvrar
Hadmars früheres störrisches wesen tadeln, so musz er leider doch
auch bemerken, dasz Heinrich ganz von räche und hasz erfüllt ist;
und um diese zu stillen, fordert Heinrich sogar von Hieronymus,
dem er wegen seiner erziehung alle schuld an der gegenwärtigen
läge beimiszt, die wiedergäbe des augenlichtes. da derselbe aber zu
diesem zwecke seine hilfe versagt, vielmehr seinen zögling auffordert,
in frieden in die bürg zurückzukehren und die heilung seines leidens
und Wiederherstellung seines rechts abzuwarten, ohne den Heinrich
überreden zu können, sagt er sich von ihm los. nun erklärt Eisbeth,
die unterdessen schon bei Hieronymus für ihren herrn, jedoch ver-
geblich und unter des letzteren eignem Widerspruch , fürbitte ein-
gelegt und sich selbst und ihr leben zum opfer angeboten hat, leise
ihrem vater, dasz sie den herrn durch wunderthätigen, unter be-
sondern umständen und zu bestimmter zeit aufgefangenen thau des
himmels retten wolle — ein moment, das übrigens der dichter nach-
her ganz fallen läszt. Heinrich ruft jetzt laut seine freunde zum
kämpfe auf; wenn er sich an räche gesättigt haben werde, dann
möge ewige blindheit sein loos sein (act II).
Hadmar wartet, während seine freunde in der bürg sichs wohl
sein lassen und auszerhalb derselben bereits dörfer und hütten von
den feinden in brand gesteckt sind, sehnsüchtig auf hilfe von aus-
wärts, wiewohl er selbst wenig Zuversicht mehr hat — wie ein blick
in sein inneres zeigt, den er uns III 2 thun läszt — , wenn er seinen
mit trug betretenen weg betrachtet. Heinrich hat inzwischen in
Konrads hause aufnähme und in Eisbeth eine treue pfiegerin gefunden.
Da erweckt neue hoffnung in Hadmar die ankunft des ritters
Helferstein, leider bringt dieser aber die nachricht, dasz könig Richard
tot sei und die fürsten zur neuwahl sich bereits in Frankfurt a. M.
versammelten; auch sei Hadmars recht nichtig, da der verstorbene
könig Richard die entscheidung über Heinrichs leben eigenmächtig
getroffen habe, ohne die fürsten zu befragen, als inzwischen auch
die meidung eintrifft, dasz die feinde auf drei straszen gegen die
bürg heranrückten, so tritt Helferstein mit seiner eigentlichen ab-
sieht hervor und fordert für seine und seiner freunde hilfe ein dritt-
teil von Hadmars besitz, eine forderung, die letzterer selbstverständ-
lich ablehnt , weil er ja gerade des vaters erbe unverkürzt erhalten
möchte, er sich durch erfüllung jener forderung auch selbst um den
preis seines Verrats bringen würde, auf seine aufforderung musz
342 E. Plaumann : Admet und Alkestis und der arme Heinrich.
Helferstein vielmehr mit seinen freunden die bürg räumen; Hadmar
selbst aber stürzt ohne rüstung mit seinen freunden durch die ge-
öffneten thore dem feinde entgegen in dem bewustsein seiner schuld
statt des ursprünglich gewählten Wahlspruchs: *moin recht und
Richard!' einsetzend: 'weh dem, der mit recht und Ordnung spielt!'
(III 1—3).
Während dessen genieszt Heinrich die treueste und nach Konrads
Überzeugung geradezu übertriebene pflege von seiten Elsbeths in
Konrads hause, trotzdem dasz Heinrich durch launenhaftigkeit sie
förmlich plagt, wofür er sie dann anderseits seine liebe kleine frau
nennt, zu des vaters erstaunen fängt sie nun auch an, von ihrem nahen
tode zu sprechen, der ihr durch das eigentümlich veränderte wesen
der von ihr gepflegten tauben angedeutet werde. Konrad hält diesen
ihren zustand für krankhaft und will Hieronymus befragen, im not-
falle sogar nach Salerno sich wenden, wo erfahrene meister der heil-
kunst seien, die jede krankheit heilten, eine äuszerung des vaters,
welche die besondere aufmerksamkeit Elsbeths erregte. — Da bringt
der ritter Urach die künde, dasz noch an diesem tage Heinrichs
bürg fallen und er wieder in dieselbe einziehen werde, dies sollten
seine pfleger dem Heinrich bei seinem erwachen mitteilen, schmerz-
voll gedenkt jetzt Elsbeth der bevorstehenden trennung von ihrem
herrn; nun will sie aber für ihn nach Salerno wandern, um ein mittel
zur erleichterung seines leidens zu holen, da eben jetzt Heinrich aus
dem hause tritt, wird ihm jene mitteilung gemacht, jedoch kann ihm
dabei Elsbeth den Vorwurf nicht ersparen, dasz die Zerstörung der
hütte manches armen seine schuld sei , — was übrigens eben auch
gegenständ seines traumes gewesen ist. gerade will er nun auch
selbst zum kämpfe hinaus: da ertönt der ruf 'sieg!' und verschiedene
ritter von Heinrichs partei erscheinen und führen seinen bruder
Hadmar gefangen vor ihn. in der ersten aufwallung des zorns will
ihn Heinrich niederstoszen, wie es Hadmars wünsche entsprochen
haben würde, aber als Elsbeth sich ins mittel legt, begnadigt er ihn
und bezeichnet die begnadigung eben als seine räche gerade in dem
augenblicke, in welchem Hieronymus wieder erscheint mit den pro-
phetischen Worten: 'das chaos endet, und licht wird es — licht! du
mein teurer Heinrich.'
Jetzt bringt ritter Frohberg die erfreuliche botschaft, dasz
Rudolf von Habsbux-g zum kaiser gewählt sei , was bei allen , auch
bei Hadmar, die hoö'nung auf frieden und recht im lande erweckt.
Hieronymus führt nun den Heinrich mit sich fort, und Elsbeth ruft
leuchtenden auges aus, dasz sie nach Salerno gehe (III 4 — schlusz).
Heinrich weilt nun längere zeit bei Hieronymus, getragen von
der hofi'nung, dasz bald die spuren des verheerenden krieges im dorfe
durch seine spenden verwischt sein werden, die er durch Hieronymus
dort austeilen läszt, und auch von der hoffnung auf genesung seiner
äugen, doch voll unruhe über Hadmars und Elsbeths ausbleiben;
letztere vermiszt aber besonders schmerzlich ihr vater Konrad , der
E. Plaumann: Admet und Alkestis und der arme Heinrich. 343
die schuld an ihrem ausbleiben Heinrich zuschiebt, kaum aber hat
Hieronymus den Heinrich ins zimmer geschickt und gott inbrünstig
um heilung seines herrn gebeten, da erscheint Elsbeth, die in Salerno
gewesen und von einem erfahrenen arzte als heilmittel die Weisung
erhalten hat, man solle mit dem blute einer reinen junfrau die äugen
des kranken bestreichen; davon würden sie gesund werden; sie er-
klärt sich auch gleich bereit zu dem opfer, wovon Hieronymus dem
herrn Heinrich gleich mitteilung zu machen verspricht und deshalb
hineingeht. Heinrich lehnt zunächst ihr anerbieten als thöricht,
kindisch und auch aussichtslos ab. doch um so dringender bittet
sie ihn, der jetzt selbst vor die hütte getreten ist, mit hinweis auf
den wert seines , die Wertlosigkeit ihres eignen lebens , und so sagt
er endlich zu, bereut aber gleich seinen entschlusz, zieht Elsbeth
innig an sich als sein licht , sein ein und alles, und wird so gerührt,
dasz thränen seinen äugen entquellen und er die binde von den-
selben abgenommen haben will, dies thut Hieronymus nun endlich
mit dem gebet an gott, sein äuge jetzt zu erleuchten, und wirklich
fallen nun die ersten strahlen des lichts in des kranken äugen, deren
erster blick in Elsbeths klares auge^", auf ihre lieblichen wangen
und purpurlippen fällt; sie aber ist ob des wunders ganz entzückt
und glaubt sich schon der erde entrückt, jetzt erscheint, vonHadmar
begleitet, ein reichsherold mit dem deutschen banner , das Heinrich
mit patriotisch-prophetischen worten begrüszt (IV 5) ; und Hadmar
berichtet, dasz er in Frankfurt bei der kaiserkrönung einen neuen
lehnsbrief für Heinrich erbeten und sich selbst angeklagt habe.
Heinrich aber schreibt sich die hauptschuld an ihrem Zerwürfnis zu
und bittet seinen bruder, jetzt das leben mit ihm zu teilen; erklärt
auch in anwesenheit der genannten und des inzwischen auf die künde
von Elsbeths rückkehr herbeigeeilten Konrad, dasz er gewillt sei,
das liebevolle mädchen zum danke für ihre treue pflege und opfer-
willigkeit zum weibe zu nehmen, alle billigen seinen entschlusz,
und Hieronymus segnet auf Heinrichs bitten ihren bund mit der
mahnung, festzuhalten an 'recht, Wahrheit und treue'.
Wie in Hartmanns erzählung sehen wir auch in Wcilens
drama in Heinrich einen im besten Wohlstände sitzenden ritter ( I 1),
■wir finden auch bei ihm einen ihm unterthänigen bauer (I 7) mit
seinem kinde, bei dem er im unglück aufnähme findet (IH 4), und
von dessen tochter er trotz seiner launenhaftigkeit treulich gepflegt
wird (III 1), die er dann dafür bisweilen scherzweise seine kleine
frau nennt (III 14). dieselbe erklärt sich auch aus dankbarkeit bereit,
für ihren herrn alles zu thun, was zu seinem glück etwa einmal fehlen
sollte (I 7. II 3), und entschlieszt sich deshalb, als der arzt in Salerno
als das einzige heilmittel für Heinrichs erblindete äugen das be-
*" vgl. Chamisso 'der arme Heinrich':
und der erste blick des armen Heinrich
fiel ins aug' ihr, das verklärend strahlte
ihres reinen herzens sanften frieden.
344 E. Plaumann : Admet und Alkestis und der arme Heinrich.
zeichnet hat, dasz dieselben mit dem blut einer reinen Jungfrau be-
strichen werden müssen (IV 3), für ihn ihr herzblut hinzugeben, ein
entschlusz, der so fest bei ihr steht, dasz sie gott inbrünstig bittet,
ihren worten kraft zu verleihen, um ihren herrn zur annähme ihres
anerbietens zu überreden (IV 3), auch bei Weilen weigert sich
Heinrich anfangs der annähme ihres angebots mit fast derselben
begründung wie bei Hartmann (IV 4). auch hier läszt sie sich
durch seine anfängliche Weigerung nicht gleich abschrecken, viel-
mehr sucht sie neue gründe in dem hinweis auf den wert von
Heinrichs leben, den unwert ihres eignen (IV 4). selbst die Ver-
weisung auf die daraus sich ergebende Verlassenheit ihres vaters
(IV 4) verfängt bei ihr nicht, auch hier erklärt sich Heinrich
schlieszlich zur annähme des opfers bereit (IV 4), freilich um seinen
entschlusz, wie dort, gleich wieder zu bereuen, auch hier wählt
Heinrich schlieszlich aus demselben gründe Elsbeth zur gattin (IV 6)
und findet seine wähl allgemeine billigung.
Doch mancherlei momente hat der dramatische dichter
seinen zwecken entsprechend verändert.
Der bauer und hörige knecht Heinrichs hat ein vermögen sich
gespart und will sich deshalb zu langjähriger zinsung verpflichten
(I 7) für den fall, dasz er aus der börigkeit entlassen und zum selb-
ständigen besitzer seines grundstücks gemacht werde, auch bittet
er hier selbst gleich am anfang des dramas darum, und die ge-
währung dieser bitte dient gleich dazu, um den kern von Heinrichs
Charakter festzustellen, die fürsorge Elsbeths für ihren heiTn tritt
hier zunächst hervor in einer fürbitte, die sie bei Hieronymus für
ihn einlegt, er möge dessen augenleiden heilen (II 5). Elsbeths
weitere mühe und pflege des herrn wird hier als geradezu über-
trieben und ihre eigne gesundheit schädigend (III 4) dargestellt,
wenigstens von selten ihres vaters, dessen einziges kind sie ist, und
der in sich die sorge von vater und mutter für sie vereinigt, es
erinnert dies an die schlaflosen und tbränenvollen nachte, welche
bei Hartmann das mädchen in ihrer sorge um die zukunft des herrn
zubringt, die Sehnsucht des mädcbens nach dem tode bei Hartmann
erscheint hier als eine todesahnung (III 4), die dem glauben des
mittelalters entspricht, und die bei Konrad die befürchtung einer
krankheit seiner tochter erweckt, gegen die er ärztlichen rat ein-
holen will (III 4). so macht hier Konrad selbst auf Salerno auf-
merksam, was dann Elsbeths entschlusz dortbin zu pilgern erzeugt
(III 4), den sie auch ausführt, doch allein und ohne jemandes wissen
(III 7) , während Heinrich in der zeit durch wohltbaten die spuren
des bruderkrieges (IV 1) zu verwischen bemüht ist. bei Hartmann
schenkt er seine ganze habe an arme oder die kirche. Elsbeths ver-
schwinden veranlaszt dann Konrads vorwürfe für Heinrich, dasz er
daran und damit wahrscheinlich an ihrem tode die schuld trage
(IV 1), wie denn Konrads benehmen jetzt im gegensatz zu der
früheren zeit und auch zur epischen dichtung steht, wo die eitern
E. Plaumann: Admet und Alkestis und der arme Heinrich. 345
ihre tochter nur mit sehr schwerem herzen und unter heiszen thränen
mit Heinrich nach Salerno ziehen lassen; auch Heinrichs gesinnung
gegen Konrad ist freilich ganz anders, weil er sich schuldig fühlt.
Elsbeth kehrt auch im drama von Salerno zurück nach beschwer-
licher Wanderung (IV 3), aber um erst das opfer für ihren herrn zu
übernehmen, endlich werden auch hier beide mit einander ver-
bunden und ihr bund , wie dort durch priester, so hier durch Hiero-
nymus gesegnet (IV 6). in Heinrichs Charakter ist beim dramatiker
die cardinaltugend seine gastlichkeit, die dort mehr als milde er-
scheint (I 1—3).
Allein in einer summe von momenten ist der drama-
tische dichter seine eignen wege gegangen.
Gleich im titel des dramas ist Heinrich als mitglied eines be-
stimmten ritterlichen geschlechts bezeichnet. — Eine der personen
des epos ist weggelassen , weil sie auch dort wenig hervortritt und
durch ihre beseitigung eine erhebliche lücke nicht entstand, die
mutter des mädchens; ja, es wäre für sie kaum eine rolle im drama
übrig, auch ist hier Elsbeth das einzige kind des bauern , während
dort noch von andern kindern die rede ist. — Dafür hat Weilen aber
eine ganze summe anderer pei'sonen eingeführt, so einen jüngeren
Stiefbruder Heinrichs, namens Hadmar (I 2), der zu der action des
ersteren die gegenaction leitet, dazu kommt der hausvogt Walther,
der vermöge seines alters eine art Vertrauensstellung einnimmt
(I 1), so dasz er den jugendlichen herrn zu warnen sich erlauben
darf, dann kommt hinzu eine ganze anzahl von rittern , weil der
dramatiker seinem Schauspiel einen politischen hintergrund gegeben
und es in die zeit des groszen deutschen Interregnums verlegt hat.
Ganz eigentümlich ist dem dramatiker die art, wie er Heinrich
von gott bestrafen läszt, die erblindung (I 8). geschah dies aus
ästhetischen gründen oder weil jener blind genieszt und seine freunde
blind genieszen läszt; weil er blind ist in liebe und hasz? denn
weniger wunderbar als die heilung des aussatzes ist auch die des
augenleidens nicht; in übernatürlicher weise erfolgt sie in beiden
fällen, auf diese abw.eichung von der überlieferten sage vom armen
Heinrich sucht uns der dramatiker übrigens recht früh vorzubereiten,
gleich II 1 scheidet Hieronymus von Heinrich mit den worten:
noch einen blick in deine armen aug'en
und meine bände segnend auf dein haupt,
WO uns der grund für die bezeichnung 'arme äugen' zunächst nicht
ersichtlich ist, selbst nach den unmittelbar voraufgehenden worten :
o fürchte, dasz ein dunkler Vorhang plötzlich
verhüllend falle um die sonn'ge weit,
nach der du, allzu lebensfreudig, schaust.
deutlicher wird es schon I 2 , wo die plötzliche Vorstellung der er-
blindung durch den starken weingenusz bei Heinrich erweckt wird,
wie es nach seiner aussage auch nach scharfem ritt der fall sei, dann
deuten darauf seine worte I 7, die er in bezug auf Elsbeth sagt:
N. Jahrb. f. phil. u. päd. II. abl. 1897 hft. 7. 23
346 E. Plaumann : Admet und Alkestis und der arme Heinrich.
mein krankes äuge trinkt genesungstrank
aus dieser züge wunderbarem born,
WOZU er nach einigen zeilen hinzufügt:
o herr der gnaden, willst du mich bestrafen
um meiner sünden willen, nimm mir alles,
erhalt' mir nur dein köstlichstes geschenk,
den könig in der sinne reich: das ange!
und wirklich tritt seine erblindung nach heftiger gemütsbewegung
ein (I 8). wenn der dichter ihn nachher eine binde um die äugen
tragen läszt, so geschah das wohl zur erleichterung für die darstel-
lung und zur bequemeren Vorstellung der blindheit für den Zu-
schauer, zumal da seine blindheit längere zeit und auch dann noch
fortdauert, nachdem Heinrichs äuszere Verhältnisse sich zum guten ge-
wandt haben und seine bürg für ihn wieder erobert ist, durch seine
blindheit wird seine hilflosigkeit veranlaszt , in der er ein schützen-
des plätzchen in Konrads hause findet (III 4) , und der entschlusz
Elsbeths, nach Salerno zu wandern, um für ihren herrn ein heilmittel
zu schaffen, eine Wanderung, die sie ohne jemandes wissen unter-
nimmt, so dasz sie als verschollen oder gar tot gilt, bis ihre plötz-
liche rückkehr (IV 2) erfolgt, neu ist auch die genaue Schilderung
ihrer Wanderung nach Italien (IV 3), die übrigens ein wenig an-
klingt an die angäbe des weges dorthin, wie wir sie in Schillers
Teil V 2 lesen, mit dieser ihrer gesinnung gegen ihren herrn hängt
es auch zusammen, dasz ihr bei der nachricht des ritters Urach,
Heinrich werde bald in seine bürg wieder als herr einziehen, der ge-
danke der trennung von demselben so tief schmerzlich ist (IV 4).'^'
vermöge ihres vertrauten Verhältnisses zu Heinrich darf sie es auch
wagen (III 4) , dem herrn den Vorwurf der schuld an dem unglück
des krieges zu machen, auf die in aussieht stehende heilung des
kranken deutet die prophezeiung des Hieron^mus, der gerade in dem
augenblicke zurückkehrt, als Heinrich gegen Hadmar statt räche
gnade übt III 6: 'das chaos endet, und licht wird es, — licht! o du
mein teurer Heinrich !' ist doch mit dieser that der anfang seiner
völligen umkehr von seinem bruderhasse und die ergebung in sein
Schicksal erfolgt, wie sie nachher zu tage tritt, wo thränen der reue
und rührung (III 4) seinem äuge entquellen, das dadurch für licht
wieder empfänglich wird, so dasz ihm die binde abgenommen wer-
den und, nachdem des Hieronymus brünstiges gebet um licht für
seines zöglings äuge erhört worden ist, sein blick in Elsbeths äuge
fallen kann (IV 4), ein blick, der ihm den schätz erst ganz entdeckt,
der in dieses mädchens herzen ruht, und den sein eigen zu nennen
jetzt sein einziger wünsch wird, der wünsch findet denn auch bald
erfüllung, nachdem seine absieht von allen anwesenden, auch von
Elsbeths vater, billigung erhalten hat (IV 6).
*• vgl. damit in der erzählung Hartmanns ihren schmerz um die
nicht erfolgende Opferung v. 1281 ff.
E, Plaumann: Admet und Alkestis und der arme Heinrich. 347
In dem Charakter des haupthelden sind die grundeigen-
schaften die gastlichkeit, milde, Freigebigkeit, als deren
Urbild ^^ er gilt (I 2. I 3.), eigenschaften , welche im mittelalter an
den fürsten und rittern besonders gern gesehen und , wo sie vor-
handen waren, gerühmt wurden, wie es die gleichzeitigen dichter
und Sänger so vielfach thun, ebenso wie das gegenteil scharf getadelt
wird, es wird ausdrücklich betont (I 3), dasz bei ihm nur die königin
freude hersche, dasz sein besitz nur für seine freunde vorhanden sei,
wie es z. b. I 7 zeigt:
Heinrich: Freund Helferstein, ich weisz, mein rapp' gefällt dir,
der von arab'scher zucht, er ist mir lieb,
mach' mir ihn werter noch, nimm ihn von mir!
Helferstein: Was fällt dir ein?
Heinrich: Du nimmst ihn? — Ja? ja? — Dankl^^
sein haus ist ein ofifenes, und festlich werden stets darin die gaste
empfangen und die tafel für sie hergerichtet (I 1. I 3), was sich hier
besonders darin zeigt, dasz er nicht nur die ritter von seiner und
könig Richards partei , sondern auch von der gegenpartei bei sich
aufnimmt (I 2 — 4) und zu friedlichem turnier vereinigt; ist er doch
selbst ein wackerer ritter im turnier (15). — Seine band
ist auch für andere stets offen, ja zu offen, wie es die scene
mit dem bauern Konrad zeigt, den er auf dessen erste bitte und
ohne bedenken aus der hörigkeit entläszt; denn, sagt er I 6:
das wörtchen bitte ist ein Schlüssel, der
zu allen stunden alle pforten öffnet
in meinem schlösse;
und ebenso die scene mit dem diener (I 2), dem er den goldenen
becher, aus welchem derselbe seinem herrn den wohlschmeckenden
willkommentrunk credenzt hat, schenkt, da ist denn wohl am platze
des Hieronymus warnung an Heinrich (1 1), 'masz zu halten in lieb'
und hasz, mit geld und gut'; und ebenso die des hausvogts Walther
(I 1). Heinrich beachtet sie nicht, und so musz eine fügend für ihn
zum fallstrick werden.
^* vgl. dazu in Goethes satire 'götter, helden und Wieland' die idee
der persönlichkeit des Admet nach Euripides: 'ein junger, ganz glück-
licher, wohlbehaglicher fürst, der von seinem vater reich und erbe und
herde und guter empfangen hatte und darinnen sasz mit genüglichkeit und
genosz, und ganz war und nichts bedurfte, als leute, die mit ihm ge-
nossen, und sie, wie natürlich, fand, und des hergebens nicht satt wurde,
und alle liebte, dasz sie ihn liehen sollten, und sich götter und menschen
so zu freunden gemacht hatte und Apollo den himmel an seinem tisch
vergasz — der sollte nicht ewig zu leben wünschen?'
'"^ vgl. damit Schiller, braut von Messina I 5:
Don Cesar: Du nahmst die pferde von arab'scher zucht
in anspruch aus dem marstall unsers vaters.
den rittern, die du schicktest, schlug ichs ab.
Don Manuel: Sie sind dir lieb,. ich denke nicht mehr dran,
Don Cesar: Nein, nimm die rosse, nimm den wagen auch
des vaters, nimm sie, ich beschwöre dich,
und so an andern stellen.
23*
348 E. Plaumann: Admet und Alkestis und der arme Heinrich.
Sein Verhältnis zu seinem bruder Hadraar ist sehr
zärtlich, ohne dasz jedoch von dessen seite seine Zärtlichkeit
erwidert wird, so wird Hadmar, als er nach längerer abwesenheit
wieder im stammschlosse erscheint, von Heinrich als sein allerbester,
ihm angeborener freund begrüszt I 5 :
du kennst die freunde doch, die du hier siehst?
sie sind recht sehr mir lieh, du aber bleibst
mein allererster, allerbester freund.
die freunde, die im leben wir erwerben,
sind Zufalls gaben, doch der bruder ist
der angeborne freund, ein teil von uns. usw.-^
Diese seine bruder liebe tritt ins hellste licht (I 7), als er es
durchaus nicht glauben will, dasz Hadmar gegen ihn geklagt habe,
trotzdem er es aus dessen eignem mund hört, er hätte, so behauptet
er II 4 — und wir sind nicht abgeneigt, es zu glauben — wenn sein
bruder je den wünsch ernstlich geäuszert hätte , statt seiner das be-
sitztum zu gewinnen, es aus liebe zu ihm abgetreten, da wird er
denn also in seinen heiligsten empfindungen verletzt, als er sich
überzeugen musz, dasz wirklich sein bruder, den er für seinen aller-
besten freund gehalten, als sein feind sich betragen (I 5) und gegen
ihn geklagt habe, wie er aus der botschaft des herolds ersieht
(I 7. 8), durch welche er gewaltsam und durch list des besitzes be-
raubt wird, den er aus liebe zum bruder gern freiwillig hingegeben
hätte, deshalb findet denn bei ihm scheinbar ein völliger abfall von
seinem eigentlichen Charakter statt, aus zärtlichster liebe wird
grimmiger, wütender hasz (18), in welchem er den bruder
mit dem Schwerte durchbohrt hätte, wenn er nicht durch sein er-
blinden daran verhindert worden wäre (I 8). deshalb wünscht er
auch den krieg mit seinen zerstörenden folgen, weil darin, so hofft
er, auch sein erbe zu gründe gehen werde, damit der bruder sich
dessen nicht freue, weil dieser um des besitzes willen an ihm zum
Schurken geworden (II 4). er wird also scheinbar aller bruderliebe
bar (II 5), wie Hieronymus mit schmerz bemerken musz; ja er reizt
jetzt selbst die seinigen zum rachekampfe (II 5). dieser hasz wäre
schlieszlich, als Hadmar unterlegen und gefangen vor Heinrich ge-
führt wird, für jenen tödlich geworden (III 4), wenn nicht allmäh-
lich in Heinrich eine rückkehr zu seiner eigentlichen natur ein-
getreten wäre, geleitet durch seinen guten genius in der person
Elsbeths, die, als Heinrich seinen bruder durchbohren will, da-
zwischentritt.
Sein durch den bruder getäuschtes vertrauen macht ihn auch
'gl. dazu Schiller, braut von Messina I 4:
die neigung gibt
den freund, es gibt der vorteil den gcfährten;
wohl dem, dem die gehurt den bruder gab!
ihn kann das glück nicht geben! anerschafifen
ist ihm der freund, und gegen eine weit
voll kriegs und truges steht er zwiefach da!
E. Plaumann: Admet und Alkestis und der arme Heinrich. 349
gegen andere schroff und ungerecht, so gegen seinen
treuen leiter, erzieher und arzt Hieronymus, dessen erziehung er
die schuld an allem beimiszt (II 5); auch gegen seinen treuen haus-
vogt Walther (III 1); selbst sein launenhaftes betragen seiner
treuen pflegerin Elsbeth gegenüber ist aufsein dadurch gereiztes
wesen zurückzuführen, ja, trotz seiner blindheit wäre er schlieszlich
selbst zum kämpfe hinausgeeilt (III 4), wenn nicht der inzwischen
errungene sieg (III 5) die ausführang seiner unüberlegten absiebt
unnötig gemacht hätte.
So zeigt sich seit jenem acte seines bruders überall ein über-
masz des hasses, in das sich das übermasz der liebe verwandelt hat.
doch wir sollen auch die rückkehr zu seiner eigentlichen natur sehen,
als Hadmar gefangen vor ihn geführt wird, übermannt ihn zwar
noch einmal der hasz, er läszt ihn dann aber vorElsbeths dazwischen-
treten fahren (III 5) und gewährt Verzeihung, so findet er sich
gleichsam wieder in der ihm angeborenen liebe zum bruder, den er
nun auch wieder stets um sich sehen möchte, wie es seine sehnsuchts-
volle frage nach dem abwesenden beweist IV 1 : 'wo mag doch
Hadmar hingeraten sein?' schlieszlich schiebt er, als der bruder ihm
eröffnet, dasz er sich vor kaiser Rudolf verklagt habe, vielmehr sich
selbst die schuld zu an allem , was vorgefallen. — Und er hat seine
liebe nicht an einen unwürdigen verschwendet, freilich hat ja
Hadmar an ihm wie ein feind gehandelt, wie es Heinrich, wie es
Elsbeth behauptet, und wie es Hadmar selbst eingesteht — III 3
nennt er seine handlungsvveise selbst 'verrat' — ; allein er sieht
eben in seiner Verblendung kein anderes mittel, den für ihn un-
erträglichen zustand zu ändern ; sehen zu müssen, wie seines vaters
erbe vergeudet wird, ohne dasz der besitzer sich warnen läszt, ist
auf die dauer für ihn unerträglich, und er thut den verwerflichen
schritt, allein schon die bereitwilligkeit, vor dem bruder und dessen
anhängern sich zu rechtfertigen (II 4), und deren ausführungj sein
wünsch, es möchte nicht zum kriege kommen, und die Warnung da-
vor, ja die mahnung zum frieden (II 1. 2. 4) und die darin sich be-
kundende friedensliebe; seine aufrichtige i'eue (III 2), die er nur
mit mühe und auch nur für kurze zeit mit gewalt zurückdrängen
kann, indem er künstlich das be wustsein in sich schafft, dasz er im
recht sei, zeigen, dasz auch bei ihm nur ein vorübergehender ab-
fall von seiner eigentlichen natur erfolgt ist. denn wenn er dem
ritter Helferstein gegenüber die kenntnis davon leugnet, dasz könig
Richard nicht, ohne die fürsten zu befragen, Heinrichs leben auf
Hadmar übertragen durfte, so thut er das wider besseres wissen
(III 3). im Innern ist er sich sehr wohl bewust, dasz sein recht auf
thönernen füszen steht, und er wundert sich kaum, dasz er so wenig
Unterstützung findet, ohne jedoch bereits so viel sittliche kraft ge-
wonnen zu haben , um sein unrecht jetzt schon offen einzugestehen,
zuletzt ersehen wir es noch aus seinem mangelhaften vertrauen zu
seinem recht (III 3) und dem entscheidungskampf ; dieser ist nur ein
350 E, Plaumann: Admet und Alkestis und der arme Heinrich.
Verzweiflungskampf (III 3) , in welchem er gern den tod gefunden
hätte, doch leider trotz tapferster gegenwehr gefangen genommen
wird (in 7). was ihm nun das peinlichste ist, er wird vor Heinrich
geführt, dessen äuge er trotz seiner erblindung mit seinem bösen ge-
wissen fürchtet, willkommen wäre ihm daher der todesstosz ge-
wesen, den sein bruder auch gegen ihn führen will, den aber Elsbeth
durch ihre bitten unmöglich macht (III 5). wie vernichtet steht er
nun da; denn statt des todes gnade und Verzeihung zu finden, darauf
ist er nicht gefaszt. jetzt ist aber auch gleich sein ganzes sinnen
daraufgerichtet, wie er wohl sein unrecht tilgen könne, als daher
die künde gebracht wird (III 7), dasz Rudolf von Habsburg zum
deutschen kaiser gewählt sei, ist auch sein entschlusz sofort gefaszt;
denn dieser name erweckt in ihm, ebenso wie in den andern, die
hoffnung, dasz nun endlich wieder eine zeit des rechts und friedens
eintreten werde, weil nun wieder ein richter im reiche sei. vor dem
throne also bei der krönung zu Aachen will er sein unrecht be-
kennen und des bruders altes recht von neuem bestätigen lassen
(IV 5). so geschieht auch, und nun ist sein erster gang zum bruder,
um vor ihm zu knien und in begleitung des deutschen reichsheroldes
diesen schritt kund zu thun. — So hat also auch Hadmar sich selbst
überwunden und sich seinem bruder in edler gesinnung als eben-
bürtig gezeigt, jetzt wollen sie alles gemeinsam besitzen und ihr
Wetteifer soll nur aufs wohlthun an andern gerichtet sein (IV 5).
Elsbeth, des bauern tochter, ist betreffs des Charakters im
allgemeinen so gehalten, wie im epos; sie ist das liebevolle, opfer-
freudige, selbstlose wesen wie dort, dasz schon früh eine besondere
Zuneigung zu ihrem herrn bei ihr ohne ihren willen sich eingeschlichen
hat, ersehen wir schon aus I 6, wo Konrad berichtet, dasz sie schon
den tritt seines rosses kenne, und als er neulich eine schleife ver-
loren, sie dieselbe wie eine reliquie aufbewahrt habe.
Der bauer Kon r ad erscheint insofern etwas anders, als zwi-
schen ihm und seinem herrn eine entfremdung dadurch eintritt, dasz
er die schuld an dem verschwinden seiner tochter, die sein ganzes
glück, sein höchster schätz ist, seinem herrn zuschiebt, weil er nicht
weisz, dasz jener schritt allein und selbständig von ihr gethan ist. aus
der eile, mit der er auf die künde von ihrer rückkehr herbeistürzt,
können wir es ersehen und verstehen, wie er gegen denjenigen ein-
genommen sein muste, den er als verantwortlich für ihr verschwinden
ansah.
Hieronymus endlich ist der ruhige, besonnene, welterfahrene
lehrer, arzt und freund Heinrichs, dessen herz für seinen zögling
aufs wärmste schlägt; und mag auch dieser sein herz von ihm ab-
wenden, er lebt, so schmerzlich das ist, doch der hoffnung, dasz
derselbe schlieszlich doch wieder auf den rechten weg zurückkehren
werde, kennt er doch des Jünglings herz, dessen knabenjahre er ge-
leitet, in den er das bewustsein eingepflanzt hat, dasz man den
menschen vertrauen schenken dürfe; sollte er da nicht selbst von
C. Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen. 351
solchem vertrauen erfüllt sein? und er behält recht, denn aller
streit, aller neid und alle misgunst löst sich in vertrauen, liebe und
frieden auf in der familie und im staate; und mit freuden und be-
wustsein stimmen wir ein in den patriotischen grusz und wünsch
Heinrichs, den er dem deutschen reichsbanner entgegenruft (IV 5) :
gegrüszt, du kaiserlicher aar!
wie dich mein aug', das kaum dem licht erschlossen,
mit stolz begrüszt, so mögen künftige
noch ungeborene geschlechter dich,
o deutsches banner, stolz und freudig griiszen,
und wo du wehst, sollst du zum siege wehn!
Danzig. E. Plaumann.
(18.)
EIN VERSUCH DIE LEHRE VOM GEBRAUCH DER ZEIT-
FORMEN, BESONDERS IM FRANZÖSISCHEN, ZU VER-
VOLLSTÄNDIGEN, ZU BERICHTIGEN UND AUF IHREN
GRUND ZURÜCKZUFÜHREN.
(fortsetzxing.)
C. Einzelne fälle, in denen der unterschied zwischen
imparfait und pass6 döfini im deutschen auf eine be-
sondere weise wiedergegeben werden musz. wir haben
für das imp. und pass6 defini nur ein imperfectum und geben den
unterschied entweder gar nicht wieder, wie in: 'gott war', 'die
Römer waren tapfer', oder durch zusätze und indem wir uns anderer
ausdrücke bedienen, einige dieser änderungen und zusätze muste ich
schon besprechen , um den unterschied zwischen den zwei sprachen,
wie zwischen den zwei französischen Zeitformen klar zu machen, so
bei devait, fallait und dut, fallut, und bei s'il en fut.^' einige andere,
die mir aufgefallen sind, werde ich hier noch berühren.
1. Vecut= blieb am leben: eile eut" un second fils, qui fut
baptise aussi et tomba malade, l'enfant gu6rit et v6cut. Clovis
s'apaisa et fut un peu moins incredule ä Christ, übersetze: 'und
war von jetzt an weniger ungläubig.' das pass6 d6fini gibt 6tre
hier die bedeutung von devenlr."*^ aber v6cut? es heiszthier: 'blieb
am leben.' da das kind schon lebte, kann von einem anfang des
lebens in gewöhnlichem sinn nicht die rede sein, wohl aber in einem
andern, man denkt sich den knaben schon als beute des todes: da
tritt auf einmal, nach der die entscheidung bringenden krisis, wieder
das leben ein."
■** ebenso bei donna , fit (von nun an) und ne purent plus (ver-
lernten) in den zwei sätzen aus Montesquieu).
*^ eut = 'bekam' ward auch schon besprochen.
■*' darüber später.
** in demselben sinn das futur: rassurez-vous, lui dit-il, eile vivra
(Mole-Gentilhomme, Tora Frick VIII).
352 C, Humbert die lehre vom gebrauch der Zeitformen.
2. Je fus = je devins = ich ward oder wurde, wie
das pass6 d6f. von avoir 'ich erhielt' bedeuten kann = 'ich fieng an
zu haben', so das von 6tre 'ich ward' = ich fieng an zu sein, wie
je devins; doch ist es nicht ganz dasselbe, dies zeigt sich besonders
in einer noch nicht angeführten Übersetzung der bibelstelle 'es werde
licht und es ward licht': Dieu dit: que la lumiöre soit et la lumiöre
f ut. devenir heiszt 'werden'; sein pass6 d6fini bezeichnet daher nur,
dasz dies werden, fut hingegen, dasz das sein anßeng und aus-
geführt ward; in demselben augenblick, wo es anfieng licht zu
sein, war es auch schon, in devint tritt, wegen seiner ursprüng-
lichen bedeutung, das allmähliche immer noch hervor, in fut ist es
verschwunden, so auch in dem satze: 'ce jour consacr6 au plaisir
fut le plus penible qu' Alix eüt encore pas;6 de sa vie (Ancelot, une
demoiselle de compagnie)', wo es dem devint am nächsten kommt
und 'ward schlieszlich' übersetzt werden kann, ähnlich : je fus
stup6fait . . . qui ne l'eüt pas 6t 6 ä cette singuliöre r6v6lation?
(J. d'Hervilly, le trou de vrille, am schlusz). das plötzliche der Um-
wandlung gibt die grösze der Überraschung wieder: 'ich ward ganz
verblüfi't.' wir würden hier meist 'war' sagen, wie von einer
vollendeten thatsache. im gegensatz zu dieser ruhe und bewegungs-
losigkeit macht das lebendige fut in einem augenblick den
Sprung vom anfangs- zum endpunkt. in folgendem satze wäre daher
fut nicht angebracht gewesen: l'homme qui partout ailleurs eüt 6t6
signal6 comrae un vagabond redoutable, devint, dans ce lieu
maritime, k demi sauvage, l'objet d'une sorte de culte et d'attrac-
tion (Desbordes-Valmore, le smogler eh. 1).
Um so mehr aber in folgender stelle von Eugöne Sue^^: Nar-
cisse dit ä son pöre Bernard Gelin: 'je serai podte ... je suis
poöte'. — 'Sois donc poöte' dit Bernard . . . 'd'autant plus',
ajouta-t il, 'que 9a vexera Jamot l'6picier, dont le fils n'est qu'un
homme de lettres.'
Et voilä comment Narcisse fut poöte. du jour, oü Narcisse
fut poöte, il allait en coucou chercher la po6sie aux Batignolles etc.
Das fut ist hier ebenso komisch, wie in der angeführten bibel-
stelle erhaben, und diese komik wird noch durch die Wiederholung,
durch die vorhergehenden: serai, suis und sois gesteigert; vater und
söhn glauben, man könne im handuradrehen dichter werden; und
diese komik passt zu dem inhalt der ganzen erzählung.^^
Auf der suche nach poesie in der Wirklichkeit geht der arme
Narcisse zur see; sein schiff wird eine beute der korsaren, diese
werden von einem englischen kriegsschiff gekapert und er 'mit ge-
fangen, mit gehangen'.
In derselben weise unterscheidet sich fut von dem passe d6f. von
aller und arriver, wo es mit diesem gleichbedeutend gebraucht wird.
*^ les Charmes de la poesie pratique. chapitre 1.
•*6 mau achte auch auf das dem fut. folgende imparfait: allait.
C. Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen. 353
3. Je fus, je m'en fus = j'allai, je m'en allai, j'ar-
rivai, ich gieng etc. das pass6 d6f. gibt 6tre oft die bedeutung
von aller: 11 n'alla pas ce jour-lä ä Kensington j 11 s'en fut dans la
Cit6 remettre au courant ses livres de commerce en arriöre (Mad.
Desbordes-Valmore, le nez rouge, am schlusz). 11 paya sa note et
s'en fut ä la gare (Revue d. d, m. 1/5, 93 s. 80).
Le baron, plein de confiance, fut au rendez-vous. il fut re-
marqu6, suivi, assassin6 (histoire du manteau von einem anonymus).
Je me levai et fus m'asseoir, ä quelque distance, sur une racine
qui se trouvait au bord du ruisseau (une nuit chez les sauvages,
anonymus). je fus hier aux invalides (Montesquieu), je fus frapper
du m6me pas ä la porte d'une hötellerie (J. Janin, mon voyage
ä Brindes).
Narcisse, arrivant ä Brest, fut droit chez le cousin (E. Sue, les
Charmes de la po6sie pi-atique eh. l). eile repliqua: ^la tasse n'est
pas cassee', et il s'en fut (= s'en alla^', ohne weiteren zusatz).
(Revue d. d. m. 1/2 s. 646.)
Et je m'en fus''®, car je n'y tenais plus = und fort war ich,
denn ich hielt's nicht mehr aus (6vasion du capitalne Castöla des
pontons anglais).
In Voltaires Charles 12, livre 4: 'quand 11 fut vers le bourg
de Lesno, le czar parut ä la töte de 40000 hommes' tritt mit dem
anfangspunkt zugleich der endpunkt der bewegung kräftig hervor =
als er anlangte; fut ist viel energischer, bebt die Schnelligkeit mehr
hervor, als arriva, weil 6tre keine bewegung ausdrückt: er war so
zu sagen da, ohne gegangen zu sein.
Vergleiche noch: sa peine fut perdue = gleng verloren,
4. Fut ==k am dazu, erreich te, fiel aus. I'arm6e prit son
chemin par Ferrare et Bologne; eile fut sur le point, d'entrer en
Toscane, et les Espagnols ne juraient que par le sac glorleux de
Florence; mais une Impulsion plus forte entralnait les Allemands
vers Rome, comme autrefols les Goths leurs a'ieux (Michelet,
Pr6cis de l'histolre moderne: L6on X, Fran9ois I"^'', et Charles-Quint).
das beer gieng nicht wirklich nach Toskana; ^fut sur le point'
drückt nur aus, dasz man nahe an die ausführung des gedankens
herankam und dies fieng an und ward zu ende geführt, übersetze:
'das beer kam fast dazu . . .' dies war schon etwas bildlich, rein
bildlich: 'ma surprise fut au comble (= stieg auf, erreichte
den höchsten grad) lorsque mr. de Pauny entra' (Mad. la com-
•" an der stelle: il s'eu alla. quand il fut parti . . . können wir
fut nur mit 'war' übersetzen (simple histoire, von d'Arpentigny).
'^^ von fus = allai könnte ich noc-h eine unmasse beispiele an-
führen, ebenso j'ai e'te' = je suis alle'; da ist aber ein groszer unter-
schied, j'ai, il a ^te deuten zugleich an, dasz man zurückgekommen
oder von dem orte wieder fortgegangen, il est alle wenigstens nicht'
(bei je suis alle kann man es schlieszen aus dem gegensatz zwischen
aller und venir, weil der redende zugleich subject ist).
354 C. Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen.
tesse d'Ash, Sorcellerie). — Ebenso: 'la rfeponse fut favorable au
Genevois (= fiel aus)' (Mad. Thierry, le souper de l'escalade).
5. Je fus = ich blieb, zeigte mich jetzt oder von
nun an, und zeigte mich im allgemeinen, in Voltaires
Charles XII livre 4 heiszt es: 'mais le cosaque fut fidöle ä son
nouvel alli6.' die Versuchung zum abfall trat an ihn heran und ihr
gegenüber ward er treu erfunden, fieng er an seine treue zu zeigen
bis ans ende, weil er es nun auch vorher gevpesen war, deshalb =>
blieb; wäre er es nicht schon gewesen, dann = zeigte sich jetzt
oder von nun an. 6tait aber gienge nur auf die innere gesinnung,
die als ein grund des nicbtabfallens angeführt würde, der schon
in seiner mittleren dauer war.'*^ ebenso bei Michaud, P ci'oisade,
eh. VI: 'leurs pr6dications ne füren t pas inutiles == blieben nicht
fruchtlos, d. h. die Wirkung, die noch kommen, anfangen muste,
blieb nicht aus.
6. J'eus la force==es gelang mir, il y eut = es folgte,
il eut == er begieng, es wurde(n) ihm (= er bekam), es
wurde ihm zu teil, je pris le coftret d'une main tremblante,
j'eus ä peine la force de l'ouvrir (Mad. Tastu, le bracelet maure, in
der mitte), auch hier nicht der blosze zustand, sondern in handlung
umgesetzt, wie er sich durch diese offenbarte; der raangel an kraft
fieng an sich äuszerlich zu zeigen und führte dies aus: 'nur mit
mühe gelang es mir ihn zu öffnen.'
II y eut une minute affreuse, pendant laquelle nous n'enten-
dimes et ne vlmes rien = es folgte eine . . . (Mad. la comtesse
d'Ash, Sorcellerie).
Bernadotte eut le tort, de vouloir s'opposer ä cette f6te, en
disant que c'6tait une offense pour la France. Bernadotte begieng
das unrecht, oder versehen, den fehler, sich diesem feste widersetzen
zu wollen, fieng an es zu thun und führte es aus (Thiers). Condö
eut trois chevaux tu6s sous lui (Voltaire, Louis XIV, eh. 12). wieder:
er fieng an, sie als getötete zu haben und führte dies aus, sie wurden
ihm getötet.
Nous eümes le plaisir de faire une centaine de pas, ayant un
pied en France et l'autre en Espagne (Viennet, voyage dans les
Pyr6n6es orientales). wir hatten = es wurde uns zu teil.
7. Je crus devoir = ich beschlosz(?). il demanda ä
M. Lacombe un moment d'entretien pendant la soir6e. le pöre ne
c r ut point devoir refuser(J. d'Hervilly, le trou de vrille, am schlusz).
*ne croyait point devoir' hiesze, dasz zu der zeit, in die der satz
uns versetzen soll, jene ansieht als solche schon und noch in ihrer
mittleren dauer begriffen war, 'crut' zieht den anfangs- und endpunkt
desselben in eins zusammen, der vater fieng an zu glauben, er
*^ in dem satz: 'pendant quelque temps eile fut fidele k .son excuse'
blieb sie dem getreu, hielt sie sieh an das, was sie als entschuldigiing
vorgebracht hatte (Charles de Bernard, l'anneau d'argeut, IV) ist das
fut durch die Zeitbestimmung eingeschränkt.
C. Hunibert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen. 355
dürfe sich nicht weigern und beschlosz sich nicht zu weigern, es
könnte sogar heiszen: 'er weigerte sich wirklich nicht, setzte den
gedanken in that um.' doch darüber später.
8. Je voulus = ich beschlosz (mit dem infinitiv). das
d6fini von vouloir zieht oft den anfangs- und endpunkt des inneren
wollens in einen punkt zusammen, dann heiszt auch voulut: 'be-
schlosz'. so in den sätzen: 'Stanislas voulut aller lui mßme flechir
Charles' (Charles XII, livre 7).
Le roi voulut camper auprös de Bender (Charles XII, livre 5).
II voulut accoutumer ses Moscovites ä ne point connaitre de
Saisons'" et les rendre un jour pour le moins 6gaux aux Su6dois^'
(Charles XII, livre 7).
9. Je voulus von der äuszerlichen Verwirklichung
des wollens (mit dem infinitiv). fast eben so oft zieht voulus den
anfangs- und endpunkt des Versuches zusammen, seinem wollen aus-
druck zu geben, sei es nur durch gebärde, mienenspiel, worte oder
thaten. dann heiszt es, wenn der nebensatz dasselbe subject hat,
d. h. wenn ein bloszer infinitiv davon abhängt: 'ich sprach den
wünsch aus, versuchte, liesz es mir nicht nehmen, liesz mich dazu
bewegen; und wenn eine Verneinung hinzukommt: ich weigerte
mich. 'M. Lacombe voulut me reconduire jusque sur le pallier;
il 6tait deux heures de l'aprös-midi; le voisin 6tait sorti et (auf dem
pallier) nous vimes la cl6 ä la serrure' (J. d'Herville, le trou de
vrille, am schlusz). hier wird die äuszerliche betbätigung, Verwirk-
lichung vom anfangs- bis zum endpunkt in eins zusammengezogen,
ebenso in den folgenden sätzen: il n'y eut que le pape qui voulut
attendre pour le reconnaltre que le temps eüt affermi sur sa töte
cette couronne qu'une disgräce pouvait faire tomber (Cbai-les XII,
livre 4). er erklärte, er wolle warten, bis . . . = er weigerte sich
anzuerkennen, voulut-il? == liesz er sich dazu bewegen?
Descartes voulut-il jamais changer une ligne ä ce qu'il avait 6crit?
(Revue 15/2 93 s. 359) == fieng er jemals an, ein solches wollen zu
bethätigen?
Der unterschied zwischen diesem voulut und voulait zeigt sich
klar in folgenden versen aus Racines Bajazet I 1 :
II se souvient toujours que son inimitie
voulut ^^ de ce graiid corps^^ retranclier la moitie',
lorsque, pour affermir sa puissance nouvelle,
il voulait^*, disait-il, sortir de leur tutelle.
der kritiker GeoflFroy nannte daher dies 'voulut lorsqu'il voulait' mit
unrecht une espöce de galimatias. vergleiche noch 'le marquis la
pria d'examiner avec attention s'il se trompait. eile le voulut bien'
*" im ertragen der kälte.
^' den Soldaten Karls XII.
"^ 'beschlosz' oder 'versuchte'.
^■^ der janitscharen.
^* beabsichtigte, wünschte, dieser wünsch war schon vorhanden,
dann kamen jener entschlusz und der versuch der ausführung.
356 C. Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen.
= sie willigte ein (Madame Riceoboni, Ernas tine). 'il voulut
rester seul avec lui ; mais le vieillard ayant d6clar6 qu'il n'avait pas
de secret pour moi, ce fut devant nous denx que le jeune hemme
s'expliqua et nous sümes toute son histoire (J. d'Herville, le trou de
vrille, am schlusz). 'der junge mann wünschte, sprach den wünsch
aus, mit dem greis allein zu sein.' da er aber nicht mit ihm allein
blieb, dies nicht ausführte, scheint es meiner ansieht zu wider-
sprechen; doch steht nicht rester, bleiben selbst, im defini, son-
dern nur das 'bleiben w ollen' und dieses setzt sich wieder in that
um. der wille, ein wünsch kann sich durch bloszes mienenspiel,
durch eine geringe bewegung oder durch die spräche zu erkennen
geben; und letzteres liegt hier vor.
Zwischen dem bloszen mienenspiel und der vollständigen that
gibt es noch viele andere mittelstufen, in denen sich der wille oder
wünsch äuszerlich offenbart und die man alle als 'versuch' auffassen
könnte, in dem satze: 'il voulut la remercier: mais sa voix se noya
dans les larmes (M0I6 Gentilhomme, Tom-Frick IX) läszt sich voulut
geradezu mit 'versuchte' wiedergeben.
Ebenso vielleicht in Michauds premiöre croisade chap. 3:
'l'empereur voulut voir l'homme extiaordinaire', wo man voulut
auch 'verlangte' übersetzen kann.
10. Voulut mit que = verlangte, befahl. Charles
voulut que le trait6 s'achevät aussi rapidement qu'il 6tait descendu
en Z6eland (als er seine landung bewerkstelligt hatte). (Charles XII,
livre 2.) hier heiszt voulut verlangte oder befahl, weil der inhalt
des nebensatzes von andern ausgeführt werden soll, dasselbe haben
wir in den folgenden beispielen :
11. Voulut mit que = bewirkte, ebenfalls umsetzen des
gedankens in that: le hasard voulut que mr. Morley eüt ä pr6sider,
le lendemain, au banquet du 'club des quatre- vingts' (Revue d. d.
m. 1/11 91 s. 183).
12. Voulut mit que = bestimm te (vom letzten willen,
testament). mon grand-oncle conserva son tralneau jusqu' ä sa
mort et voulut (bestimmte) dans ses derniers moments, qu'il füt
remis ä ma mdre, sa niöce ch6rie, comme un souvenir de l'heureuse
Inspiration de son fils (J. N. Bouilly, le traineau aus 'mes röcapitu-
lations'). er fi eng an, seinem wollen mündlich oder schriftlich
ausdruck zu geben und führte es aus; wie oben le hasard, durch die
ereignisse selbst.'^ und ebenso bei manchen andern verben:
'"^ ebenso wie voulut bezeichnet manchmal auch aima mieux das
umsetzen des bloszen gedankens in that. so aller Wahrscheinlichkeit
nach in folgender stelle aus Duruys histoire de France: 'les ge'n^raux,
appelcs au conseil, proposaient de marcher sans retard sur cette ville;
Louvois aima mieux laisser des garnisons dans les places: l'arme'e
s'en trouva aflfaiblie et ses Operations retardees.' der zusatz: 'das
beer ward dadurch geschwächt usw.' setzt voraus, dasz er es nicht
blosz in gedankeu vorzog, sondern wirklich that. übersetze daher:
C. Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen, 357
13. Möritörent (valurent) = verschafften: l'oraison
funöbre de la reine möre qu'il pronon^a en 1667 lui valut r6v6ch6
de Condom (Voltaire, Louis XIV über Bossuet). les cheveux blancs
de Sim6on lui meriterent (= valurent^*') toute la confiance de
Pierre (Michaud I croisade eh. 2). sie fiengen das thatsächliche
verdienen und wertsein an und führten dies aus.
14. On put faire^man that wirklich, es gelang, erst
mit der ausführung der thätigkeit gelangt auch das können zu
seinem endpunkt. mais la nation, dont Föducation n'6tait pas faite
encore, ne les soutint pas; la cour put les chasser impun6ment de
leur salle (Duruy, histoire de France II 133 Hachette). im gegen-
satz zu pouvait drückt hier put aus, dasz dieses durch die Verhält-
nisse ermöglichte können (pouvait) anfieng sich äuszerlich zu
bethätigen und es ausführte = und so konnte man nun." ce fut ä
peine s'il put b6gayer un nom . . . (Mol6-Gentilhomme, Tom-Frick)
== nur mit mühe gelang es ihm.
15. Ils jugörent que. so kamen sie auf den gedanken
(das vorher gesagte brachte sie darauf): ils jugörent qu'il fallait
donner aux soldats de la 16gion des armes plus pesantes que Celles
de quelque peuple que ce füt (Montesquieu, consid6rations eh. 2).
vgl, je crus. aprös y avoir mis toute son application (auf die ver-
gleichung eines bildes mit dem original) Ernestine jugea la copie
parfaite = erklärte sie, es stimme ganz mit dem original überein
(Madame Riccoboni, Ernestine).
16. Je connus = ich erkannte: k sa maniöre de me saluer, je
connus qu'il avait 6t6 soldat (d'Arpentigny, trös simple histoire).
17. Onvit = man sah aufkommen, entstehen: onvit
un nouvel art chez les Romains, mais les travaux ne furent pas
(wurden nicht) moindres (Montesquieu consid6rations eh. 1). zu-
weilen kann man sich nur helfen, indem man ein adverbium hin-
zufügt.-®
18. II fracassa = er zerschmetterte infolge dessen. Me
prince (Cond6)', erzählt Duruy in seiner histoire de France 'par un
mouvement, detourna le coup, qui lui fracassa le poignet'. man
hielt ihm eine pistole an den köpf; infolge seiner bewegung aber
zerschmetterte man ihm nur das handgelenk.
19. Jenesus==da wüste ich nicht mehr (im gegensatz zu
früher), je ne sus que penser de lui, lorsqu'il me röpondit: ce sont
des miracles (Viennet, voyage dans les Pyr6n6es orientales). das
nichtwissen fieng erst an und ward zugleich vollendet infolge seiner
Louvois aber wollte es nicht oder weigerte sich, er liesz besatzungen
in den festen platzen.
^^ das imparf. würde heiszen: hatten verschafft; dann hatte es
schon angefangen.
" ebenso je crus = und so glaubte ich nun als eine erst ein-
tretende folge,
'* einige solche fälle haben wir schon erwähnt.
358 C. Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen.
antwort. in der bedeutung 'wir erfuhren' haben wir schon nous
sümes gehabt {= wir fiengen an zu wissen).
20. Am kräftigsten zeigt sich der unterschied zwischen impar-
fait und pass6 d6fini, wo ein imp. und ein p. d6f. desselben
verbums einander folgen, da w ird jenes ein deutsches
plusquampe rfectum mit 'früher, ehemals' und dieses
ein imperfectum mit 'nun' oder 'von jetzt an'.
'Madame Saint- Omer occupa la mansarde donnant sur la
cour, afin de n'avoir pas sans cesse devant las yeux les crois6es du
somptueux appartement qu'elle occupait en face, et dont^^ on
faisait justement la vente du mobilier (J. N. Bouilly, les jeunes
filles de Paris).' occupait hier = avait occup6e, früher nämlich,
als sie noch reich war; nun aber verkaufte man ihre möbel in dem
üppigen appartement (auch imp.), und sie fieng an in die mansarde
zu ziehen und führte dies aus, sie zog wirklich in die mansarde.
die mittlere dauer des occupait wurde durch das beginnende
occupa unterbrochen, während das faisait la vente immer noch in
seiner mittleren dauer war. 'puis, il pria, lui qui ne priait pas,
n'ayant gu§re su appr6cier dans la religion que sa force sociale
(Revue d. d. m. lö/lO 92 s. 731).' er, der nicht zu beten pflegte,
früher nie gebetet hatte, jetzt betete er, fieng er an zu beten,
das pass6 d6fini bezieht sich hier nur auf den einzelnen fall, es
könnte aber ebenso vom beginn einer ganz neuen lebensweise gesagt
werden, dann wäre es 'von nun an betete er' zu übersetzen, be-
achte noch n'ayant guöre su = da er kaum, infolge seiner er-
ziehung, gelernt hatte, vgl. das schon früher über avoir eu, su,
und connu bemerkte, auch der imp6ratif von savoir bedeutet 'er-
fahren', insofern das wissen noch erst anfangen soll: sachez,
^'■^ hier ist ein grober Schnitzer; der genitiv dont kann nicht regiert
werden von einem subst. mit einer prJiposition wie du mobilier. über
dem accusativ la vente war dies wohl vergessen,
(fortsetzung folgt.)
Bielefeld. C. Hümbert.
24.
LATEINISCH-DEUTSCHES SCHULWÖRTERBUCH VON F. A. HeINICHEN.
SECHSTE VERBESSERTE AUFLAGE, BEARBEITET VON C. W AGENER.
Leipzig 1897. B. G. Teubner.
Auf das an sich gut eingeführte Schulwörterbuch von Heinichen
jetzt, wo es zum sechsten male aufgelegt ist, von neuem hinzuweisen,
liegt genügender anlasz vor. nachdem nemlich die vierte und fünfte
aufläge von A. Draeger besorgt waren, der in der vorrede zur
vierten aufläge von sich rühmen konnte, er habe mehr als 50000 Ver-
besserungen an dem buche vorgenommen, ist das buch nunmehr in
die pflege Carl Wageners in Bremen gekommen, es wird bei ihm
F. Fügner: anz. v. Heinicheu- Wagener latein. Wörterbuch. 359
gut aufgehoben sein, er widmet ihm seine reiche belesenheit in der
römischen litteratur, seine gründlichen kenntnisse auf dem gebiete
der formenlehre, seine erstaunliche arbeitskraft und arbeitsfreudig-
keit. die sind auch dem buche zugute gekommen, so dasz es in der
tliat in verbesserter aufläge vorliegt.
Die neuarbeit des herausgebers besteht in folgendem, voraus-
geschickt ist dem eigentlichen wörterbuche ein 'kurzer abrisz der
römischen litteratur und Stilistik', ähnlich, aber kür/er als bei
Stowasser. diese einleitung ist programmgemäsz und sorgfältig
gearbeitet, s. XI — XXVII in je zwei spalten und in 84 paragraphen.
nicht jeder wird von einem Schulwörterbuch solche beigäbe ver-
langen, aber sie sich gefallen lassen, wenn sie so anspruchslos und
vorsichtig auftritt, wie die gäbe Wageners. da die schüler ein-
leitendes über die autoren jetzt wohl überall in ihren ausgaben
finden und einen überblick über die wichtigsten stilistischen dinge
in ihren grammatiken, so bedürfen diese einer solchen einleitung
kaum, wohl aber solche, die latein für sich treiben, erfordernis wäre
blosz eine einigermaszen gesprächige deutung der abkürzungen, und
soweit solche auf litterargeschichtliche und grammatisch-stilistische
dinge eingehen müste, wäre dann auch von diesen zu sprechen, wie
gesagt, man würde wohl den 'kurzen abrisz' nicht vermissen, wenn
er fehlte, da er aber gebracht ist, nimmt man ihn ganz gern mit in
den kauf.
Das Wörterbuch selbst ist nur um wenige selten vermehrt, aber
im einzelnen sorgfältig revidiert, neue schriftsteiler sind nicht heran-
gezogen, aber auch keiner, selbst Plautus nicht, gestrichen, für die
beibehaltung dieses dichters spricht nicht allein der grund, den der
herausgeber in der vorrede angibt, sondern mehr wohl noch der,
welchen Heinichen zur ersten aufläge aussprach : die entwicklung
der bedeutungen und constructionen läszt sich in der that nur unter
berücksichtigung des Plautus annähernd genau darstellen, gerade
auf die logische oder psychologische abfolge der bedeutungen hat
W. sorgsam geachtet und manches in diesem stücke verbessert, viele
belege hat er offenbar nachgeprüft, manchen gestrichen, der minder
lehrreich war, andere nach den besten kritischen ausgaben ver-
bessert, was Wortlaut und Orthographie anlangt, ferner ist das
wichtigste aus der formenlehre hinzugefügt, was dankbar zu be-
grüszen ist. auszerdem sind die artikel über eigennamen vermehrt,
so dasz der schüler nun die allererste künde über die namen, die bei
der präparation aufstoszen, schon im lexikon finden kann. Voll-
ständigkeit ist hier wohl nicht beabsichtigt, sonst wäre bei aller
schon vorgenommenen Vermehrung doch nocb manches nachzutragen,
beschränkung in diesen mehr abseits liegenden dingen ist gewis heil-
sam und notwendig, wenn die schriftstellerausgaben zweckmäszige
namenverzeichnisse führen, nicht blosze namen mit einigen stellen-
angaben, so braucht der schüler auch solche aufschlüsse nicht im
lexikon zu suchen, wo sie streng genommen nicht vermutet werden.
360 F. Fügner: anz. v. Heinichen-Wagener latein. Wörterbuch.
Sehr zu billigen ist die Zurückhaltung des herausgebers in
fragen der etymologie und Semasiologie, die schule hat gesichertes
zu bieten , aber nicht auf fragliches einzugehen, der herausgeber
hoflft, und wir mit ihm, dasz die nähere Zukunft auf beiden gebieten
feste ergebnisse zeitigen werde, von denen auch ein Schulwörterbuch
nutzen ziehen dürfe, an Stowassers Wörterbuch ist die Verwertung
der etymologie bekanntlich nicht seine stärkste seite. dasz übrigens
Wagener semasiologischen erwägungen durchaus nicht abhold ist
und spuren seiner Vertrautheit mit den bedingungen, unter denen
sich der wortsinn wandelt, überall begegnen, ist schon oben an-
gedeutet.
Entschiedene billigung verdient das vorgehen Wageners, alle
vocale , auch die in positionssilben, mit kürzen- und längenbezeich-
nungen zu versehen, auf die Orthoepie ist der gröste wert zu legen,
und jede Unterstützung, die das streben des lehrers erfährt, wirk-
liches latein zu sprechen und zu lehren , ist dankbarst zu begrüszen.
nun ist aus Wageners angaben zu ersehen, dasz die fälle, in denen
wir nichts bestimmtes über die quantität des vocals wissen, nur noch
gering an zahl sind, es gibt ja lehrer, die einen wahren horror vor
quantitätszeichen haben und es fast für ein crimen laesae halten,
wenn der für die band und das äuge des Schülers bestimmte schrift-
stellertext solche zugaben bekommt, aber diese werden sich nach und
nach beruhigen, wenn sie sehen, dasz die gefürchtete denkfaulheit
ausbleibt und die ausspräche des latein sich bessert, ist doch die
richtige ausspräche einer frcmdsprache kein entbehrlicher schmuck
des Unterrichts, sondern eine gewichtige förderung des richtigen
Verständnisses.
Auch die Übersichtlichkeit ist in der neuen aufläge gestiegen,
namentlich durch anwendung des fettdrucks für angäbe der einzelnen
abschnitte der artikel. ich finde nur , man müste die fetten ziffern
und buchstaben nicht auch für Verweisungen gebrauchen , denn da-
durch werden leicht Irrtümer erweckt, das schülerauge ist ja noch so
mangelhaft geschult, deshalb wären auch öftere absätze wünschens-
wert, z. b. contemplatio, contemplator, contemplatu und contemplor
müsten nicht einen artikel bilden, ist es doch auch z.b. bei ostentatio,
ostentator, ostento nicht geschehen.
Wenn schon bisher das Schulwörterbuch von Heinichen zu den
brauchbarsten gehört hat, so gilt dies für die neueste aufläge noch
in höherem grade, vielleicht legt die entwicklung des lateinunter-
richts dem herausgeber später einmal die frage näher, ob der kreis
der zu berücksichtigenden Schriftsteller nicht zu weit gezogen und
dafür ein engerer kreis um so genauer darzustellen sei, aber er kann
solchen möglichkeiten auf grund der jetzigen gestalt des buches mit
ruhe entgegensehen.
Hannover. Fkanz Fügner.
ZWEITE ABTEILUNG
FÜR GYMNASIALPÄDAGOGIK UND DIE ÜBRICtEN
LEHEFÄCHEß
MIT AUSSCHLÜSZ DER CLASSISCHEN PHILOLOGIE
HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. RiCHARD RiCHTER.
(16).
QUINTILIAN ALS DIDAKTIKER UND SEIN EINPLUSZ
AUF DIE DIDAKTISCH- PÄDAGOGISCHE THEORIE DES
HUMANISMUS.
(fortsetznng'.)
II. Agricola, AViniplieliug, Bebel, Murmeilius.
Im Ciceronianus urteilt Erasmus ül3er Rudolf Agricola
also: agnosco virum divini pectoris, eruditionis reconditae, stilo
minime vulgari, solidum, nervosum, elaboratum, compositum, sed
qui nonnihil resipiat et Quintilianum in eloquendo et Isocratem in
orationis structura utroque tarnen sublimior, Quintiliano etiam fusior
ac dilucidior. quod voluit praestitit nee dubito, quin Ciceronis
figuram potuisset effingere, si huc vertisset omne Studium, dieses
ehrenvolle urteil des bumanistenfürsten über Agricola mag uns
einerseits zum beleg dienen für dessen bedeutung, anderseits weist
es auf ein nahes Verhältnis Agricolas zu Quintilian hin, ein solches
constatiert auch sein biograph Johann von Plenningen, wenn er be-
merkt: Quintilianique lectioni praecipue, quem quidem dictione sua
fere effingit atque exprimit, animum applicuit."^ man wird von
vorn herein vermuten dürfen, dasz sich dieser enge ansehlusz an
Quintilian nicht allein auf das formelle beschränkt habe. Agricolas
Schriften bestätigen dies, vor allem sein bedeutendstes werk, die
drei bücher de inventione dialectica. sie bieten nach dem com-
petenten urteile Prantls"^ 'lediglich eine Ciceronianisch-Quinti-
^'•^ ich entnehme die stelle dem buche Hartfelders, Melanchthon
als praeceptor Germaniae, s. 329 anm. 3, der verweist auf Naumanns
Serapeum X 1849, s. 102. — Wir erfahren auch, dasz Agricola während
seines aufenthalts in Ferrara den ganzen Quintilian abschrieb. G. Ihm in
der einleitung der unten zu erwähnenden Übersetzung s. 11.
^'* geschichte der logik, bd. IV s. 167. doch wird dieses urteil
dem buche vielleicht nicht ganz gerecht, zunächst gibt es seinem inhalt
nach mehr, die topik ist lediglich in buch 1 (de locis) und buch 2
N. Jahrb. f. phil. u. päd. II. abt. 1897 hft. 8. 24
362 A. Messer : Quintilian als didaktiker.
lianische topik'. eine nähere betrachtung dieser schrift und ihrer
abhängigkeit von Quintilian gehört aber nicht in den bereich
unserer Untersuchung, die sich auf das pädagogisch- didaktische ge-
biet beschränkt, uns interessiert hier lediglich sein brief de for-
mando studio"' (1484). der anlehnungen an Quintilian sind hier
nicht gerade viele, er spricht im ersten teil (s. 53 — 58) von den
zielen und Stoffen der bildung. durchaus im mittelpunkt steht ihm
die Philosophie, sowohl die moralphilosophie , die in der hl. schrift
ihre norm findet, als auch die naturphilosophie, der sich alsdann die
verschiedensten Wissensgebiete: geographie, botanik, kriegswesen,
architektur, maierei usw. angliedern können (s. 56). gleichzeitig
aber musz erworben werden die gäbe schöner darstellung, die er 'in
zweiter linie als das wichtigste erachtet'"* (s. 57). allerdings wird
die eloquentia in den schluszbemerkungen (s. 62 f.) sehr in den
Vordergrund gestellt, er spricht es hier geradezu aus, dasz er in den
alten Sophisten mit ihrer fertigkeit über jegliches thema in beliebiger
ausdehnung zu reden, sein bildungsideal sehe."' das stimmt nun
(de locorum usu) behandelt, dienen diese beiden bücher mehr dem
hauptzwecke des redners, dem docere, so faszt das dritte buch zunächst
die beiden andern zwecke, das movere und delectare, ins aug^e und
handelt deshalb de affectibus, de copia et brevitate, ferner erörtert es
die dispositionsichre. — Auch ist das urteil Prantls nicht so zu ver-
stehen, als ob Agricola dem Quintilian sklavisch folge, vielmehr be-
währt er vielfach ihm gegenüber sein selbständiges urteil, über Quin-
tilians behandlung der loci (in buch 5) urteilt er (I c. 3): Quintilianus
deinde in V. Institutionis tradidit eos, magis (quantum videtur) ut ob-
servatum aliis sequeretur morem, quam quia putaret ad institutum suum
magnopere pertinere. itaque est videre ab dialecticis rhetoribusque
acceptoa locos permixtos ab eo et in unum confusos acervum.
b. II c. 25 zieht er die grenzlinie zwischen rhetorik und philosophie
(oder dialektik) und weist nur die elocutio der rhetorik zu, polemisiert
gegen die auffassung: oratorem vel rhetora esse, qui de qualibet re
posset apte ornateque dicere, und meint, Cicero und Quintilian redeten
zwar anders, seien im gründe aber derselben ansieht wie Aristoteles
und Hermogenes, die die rhetorik auf die civiles quaestiones be-
schränkten; b. I c. 2 lanterscheidet er in der dialektik von der inventio
das iudicium gegen die ansieht Quintilians VI 5. b. III c. 8 betont
er in ausdrücklichem gegensatz zu Quintilian (VII pr.), dasz sich
auch für die dispositio allgemeine regeln aufstellen lieszen. — Bei-
läufig sei bemerkt, dasz das schluszcapitel des dritten buches auch
manche didaktische winke enthält, die sich zum teil an Quint. VII 10
anlehnen.
^'^ ich benutze den abdruck in: Rodolphi Agricolae Phrysii non-
nuUa opuscula. Anuerpiae 1511. die citate beziehen sich auf die Über-
setzung von G. Ihm in dem 15n band der 'Sammlung der bedeutendsten
pädagogischeu schritten' (Paderborn bei Schöningh).
3'6 ut una opera et rerum noticia tibi et quod post eam proxi-
mum feci commode eloquendi ratio contingat,
3^' die stelle ist um so auffallender als sonst bei den humanisten
die bezeichuung 'sophisteu' für die Scholastiker gewissermaszen stehend
ist, es zeigt Agricolas klares urteil, wenn er hier — freilich ohne es
eigentlich zu wollen — der sache den richtigen namen gegeben hat.
denn in der that ähneln die Sophisten (allerdings in noch höherem
A. Messer: Quintilian als didaktiker. 363
allerdings nicht überein mit dem bildungsideale Quintilians, dem
vir ille vere civilis et publicarum privatarumque rerum administra-
tioni accommodatus, qui regere consiliis urbes, fundare legibus, emen-
dare iudiciis possit (I pr. § 10). ebenso wenig harmoniert die cen-
trale Stellung, die Agricola (und mit ihm die meisten humanisten)
der Philosophie (natürlich nicht der scholastischen!) zuweisen,
mit der ansieht Quintilians, der in ihr nur eine hilfswissenschaft der
rhetorik sieht. "^
Durchaus originell ist, was Agricola bei dieser gelegenheit über
die Verwendung der muttersprache zum zwecke der (lateinischen)
eloquentia sagt (s. 57). wenn er ebenda betont, dasz man zunächst
das recte latineque, dann erst das ornate dicei'e lernen müsse, so ist
das eine so oft ausgesprochene mahnung, dasz er sie nicht erst aus
Quintilian (etwa VIII pr. § 18. 19 u. ö.) zu entnehmen brauchte.
Der erste teil der schrift enthält also keinen gedanken, den wir
notwendig auf Quintilian zurückführen müsten, dagegen zeigt der
zweite, die erörterung des Verfahrens beim studium, an einzelnen
stellen anlehnung an jenen, zugleich bezeugt er aber auch wieder
Agricolas selbständiges urteil.
Hatte z. b. Guarino^'^ in seiner philologischen genauigkeit ge-
fordert, über keine stelle, die man nicht völlig verstanden hinweg-
zugehen, so rät Agricola (s. 58) gerade, zunächst darüber hinweg-
zulesen, oft komme die aufklärung aus einem andern buche oder
sonstwie gelegentlich, sie stelle sich unter umständen auch bei einer
spätem nochmaligen lectüre ein. schlieszlich sei es aber auch kein
Unglück eine stelle einmal nicht zu verstehen; wobei er an Quin-
tilians witziges wort erinnert: ex quo mihi inter virtutes gramma-
tici habebitur aliqua nescire (I 8, 2). in diesem punkte zeigt sich
Agricola als der echte, geistesverwandte schüler Quintilians,
nicht Guar in 0. was er (s. 59 f.) über die ausbildung des ge-
dächtnisses und speciell über den wert der mnemotechnik sagt, deckt
sich mit den ausführungen Quintilians XI 2, auf den (XI 2, 40) er
auch ausdrücklich hinweist, dagegen ist eine kleine abweichung von
demselben zu constatieren in der kurz vorhergehenden erörterung
(s. 58), wo er als die drei hauptmomente der wissenschaftlichen be-
grade die Vertreter der sogenannten jüngeren sophistik in der römi-
schen kaiserzeit) den humanisten weit mehr als den Scholastikern,
s. Paulsen, geschichte des gelehrten Unterrichts, 2e aufl. (1896) I s. 69.
^^^ ich erwähne von den zahlreichen hierher gehörigen stellen nur
eine, die sich gerade an die vorher citierte anschlieszt (I pr. § 11):
quare tametsi me fateor usurum quibusdam, quae philosophorum libris
continentur, tarnen ea iure vereque contenderim esse operis nostri
proprieque ad artem oratoriam pertinere.
^^ä fol. 10^. Guarino entnahm dies den früher erwähnten studien-
regeln seines vaters. vgl. Rösler a. a. o. s. 138. übrigens mochten
der dunklen stellen damals mehr auftreten als in einer mit commen-
taren reich ausgestatteten zeit. — Auch Sturm hat sich über die vor-
liegende frage einmal ausgesprochen (in der schrift nobilitas litterata
c. 15).
24*
364 A. Messer: Quintilian als didaktiker.
thätigung hervorhebt: richtig auffassen, treu bewahren, selbständig
producieren, er fährt fort; primum diligentis lectionis est opus,
secundum fidae memoriae, tertium assiduae exercitationis.
Quintilian schreibt sowohl das auffassen als auch das behalten
dem gedächtnis zu^''" und für das eigne producieren fordert er —
die entsprechende naturanlage vorausgesetzt — auszer der exer-
citatio die ars, welche noch die imitatio in sich begreift.
Die besprechung der vorher bezeichneten drei stufen : auffassen,
behalten, producieren bildet übrigens den zweiten teil der scbrift;
besonders der letzte punkt wird ausführlicher erörtert (s. 60 — 63).
es sind dazu umfangreiche Sammlungen unter bestimmten rubriken
anzulegen (eine forderung, die uns z. b. auch bei Guarino entgegen-
tritt) und dieselben sind oft durchzugehen, um ein präsentes wissen
zu erzielen, ferner ist , um das eigne denken und die eigne produc-
tion anzuregen, der aufgenommene stoff allseitig zu erwägen, dia-
lektisch zu verarbeiten (was an einem beispiele gezeigt wird), die
eigne production nämlich — und zwar in erster linie die schrift-
stellerische — wird im verlaufe dieses gedankenganges (s. 60) als
das eigentliche ziel der bildungsarbeit hingestellt.^^' dieser zug
musz also noch in das oben bezeichnete bildungsideal Agricolas ein-
gefügt werden, das sich demnach jetzt darstellt als der rastlos
Wissensstoff (aus büchern!) in sich aufnehmende und ihn (ledig-
lich dialektisch!) verarbeitende gelehrte, der im stände ist, sein
wissen jederzeit durch rede und schrift zur darstellung zu bringen
und der darin seine eigentliche lebensaufgabe erblickt,
Agricolas brief will, abgesehen von der aufstellung dieses
bildungszieles^'^*, den dahin führenden weg nur in den letzten
Stadien selbständigen Studiums schildern, wie die sittlich -religiöse
und körperliche ausbildung, so bleibt auch der schulmäszige Unter-
richt — der ja bekanntermaszen Agricola ein greuel war — un-
berücksichtigt, so boten denn gerade die partien Quintilians, in
denen er sonst stark benutzt wurde — man denke z. b. an seine er-
•''80 I 3, 1 eius (sc. memoi-iae) duplex est virtus, facile perclpere
et fideliter continere.
äßi er will zeigen, quo pacto ex iis quae discendo percepimus ipsi
excudere aliquid proferreque valeamus. hie praecipuus esse videtur
laboris soUicitudiuisque in studia collatae fr actus, quodsi nihil ipsi
ad posteros mandare poterimus nihil extra ea quae didicimus ad prae-
sentes proferre, quid tandem inter librum et uos iutererit, nisi quia
liber ea, quae semel in illum congesta sunt, bona fide semper servat
redditque ... er sieht also in der aufnähme des bildungsstoffes nur
ein — mühevolles — aufhäufen, dessen einziger zweck darin besteht
das aufgenommene für mit- und nachweit wieder von sich zu geben,
der gedanke, dasz es noch andere motive für die bildungsarbeit gibt
und dasz sie diese zwecke verfolge, die lediglich in der ausgestal-
tung des subjectes sich vollenden — tritt nicht hervor.
3*2 für Agricolas ansieht von der philosophie als der centralwissen-
schaft vgl. auch seine klare und schwungvolle rede ^über die philo-
sophie', deren Übersetzung Ihm a. a. o. s. 31 — 51 bietet.
A.Messer: Quintilian als didaktiker. 365
örterung des Verhältnisses zwischen lehrer und Schüler — für Agricola
hier keine anknüpfungspunkte. dieser umstand mag mit zur er-
kläi'ung dienen, dasz in der vorliegenden schrift die anlehnungen
an Quintilian seltener sind, als sich bei der nahen beziehungAgricolas
zu ihm an sich erwarten liesze.
JacobWimpheling^-^ soll folgendes gebet gern gesprochen
haben :
du mittler Jesus!
sei gnädig mir armen sünder,
der ich des gemeinen nutzens,
der einigkeit der Christen,
der heiligen schrift,
und dasz die Jugend recht auferzogen werde,
ein liebhaber bin.
es sind darin deutlich die 'groszen gegenstände' bezeichnet, denen
sein leben gewidmet war: i'eligion, Vaterland, Jugenderziehung, da-
mit ist aber schon gegeben, dasz die religiös-sittliche er-
ziehung ihm besonders am herzen liegt, dabei war er aber weit
entfernt den wert der wissenschaftlichen bildung zu ver-
kennen, so legt er z. b. im Stylpho^^^ (1480) dem Vincentius die
Worte in den mund: tolle universitates et tolles Romam et papam
opprimes et clerum gregemque per devia coges aberrare (s. 9). in
den schluszworten dieser schulcomödie begründet er eingehend die
mahnung: tria vobis vehementer amplectenda sunt: ars, imitatio et
exercitium (s. 16) , ein satz, der uns zeigt , dasz er über die bei bil-
dung und erziehung wirksamen factoren gerade so dachte wie Quin-
tilian. er hat übrigens auch über den u nter rieht mehrfach sich
ausgesprochen und vor allem auf Vereinfachung und rationellere ge-
staltung desselben gedrungen, je mehr er auf die bestehenden Ver-
hältnisse rücksicht nimmt und wirklich ins einzelne gehende, prak-
tisch realisierbare vorschlage macht — so gibt er z. b. im Isidoneus
genaue anweisung, welche teile, ja welche verse des doctrinale zu
behandeln, welche zu überschlagen seien — um so weniger war ihm
mit einfacher herübernahme von gedanken und ratschlagen aus
älteren Schriften gedient, gleichwohl können wir nachweisen , dasz
er Quintilian und einzelne der schon besprochenen Schriften italieni-
scher humanisten gekannt und benutzt hat.
In dem Isidoneus ^*^ (1497) dürfte lediglich der abschnitt
283 die meisten hier in betracht kommenden Schriften sind übersetzt
von J. Freundgen im 13n band der 'sammlung der bedeutendsten
pädagogischen Schriften aus alter und neuer zeit', die bei Schöningh in
Paderborn erscheint.
3^'' Stylpho, herausgegeben von Hugo Holstein. Berlin 1892
in der Sammlung: 'lateinische litteraturdenkmäler des 15n und 16n Jahr-
hunderts, herausgegeben von Max Herrraann und Siegfried Szaraatolski,
2*^ ich benutze eine ausgäbe mit dem titel: Isidoneus Germanicus
ad R. P. D. Georgium de Gemmingen Spireusem praepositum Jacobi
Vympfelingi Sletstatini. Argentorati 1508 per Henricum Gran. — Die
citate mit angäbe einer Seitenzahl beziehen sich auf die Übersetzung.
366 A. Messer: Quintilian als didaktiker.
über die eigenschaften eines guten lehrers^®^ in engem anschlusz an
Quintilian II 2 gearbeitet sein, bei der besprechung der körper-
lichen Züchtigung weist er ausdrücklich auf Quintilian (I 3, 13 — 18)
und Enea Silvio hin (s. 168 f.). die mahnungen an den fort-
geschritteneren Schüler, Ordnung zu halten im Studium, zur gewin-
nung gröszerer Sicherheit selbst zu lehren (s. 164), das tagespensum
abends zu repetieren (s. 170) haben wir ebenso bei Guarino gefunden,
dessen schrift hat Wimpheling sicher gekannt, denn im schluszwort
weist er zur ergänzung seines buches, das unvollständig und eilig
abgefaszt sei, auf Guarino und daneben auf Basilius' uns bekannte
schrift, auf Enea Silvio u. a. hin (s. 173). ebenda nennt er auch
nochmals Quintilian unter den heidnischen Schriftstellern, die sich
besonders um erziehung verdient gemacht hätten.
Die schrift Agatha rchia 1498 zeigt keine anlehnung an
Quintilian, ebenso wenig die Adolescentia (1500); es ist das
schon darin begründet, dasz der Inhalt beider ethischer natur ist. —
es mag hier jedoch daraufhingewiesen werden, dasz die letztere
lediglich eine weitere ausführung dessen ist, was Ver-
gerio in seiner abhandlung de ingenuis moribus über
diesen gegenständ gesagt hatte. Wimpheling unterscheidet
sich von Vergerio hauptsächlich durch stärkere betonung des reli-
giösen Clements, das ja bei jenem vollständig in den hintergrund
getreten war. übrigens sind ganze abschnitte aus der vorläge wört-
lich herübergenommen. ^^^
Die schrift 'an die ratsherrn der freien stadt Strasz-
burg' (1501) gibt auch zu einer benutzung Quintilians keine ge-
legenheit. übrigens wird hier Vergerios' schrift wegen ihres mora-
lischen Inhalts zur lectüre für die schüler des zu gründenden
gymnasiums ausdrücklich empfohlen (s. 388).
Auch die diatriba de proba institutione puerorum in
trivialibus et adolescentium in universalibus gymnasiis (1514)^®^ die
ihrem inhalt nach vielfach mit dem Isidoneus sich deckt, zeigt
keinerlei anlehnungen an Quintilian. nur am Schlüsse wird er ein-
mal erwähnt (fol. 14''). die stelle ist für Wimphelings Verhältnis
zu ihm, wie auch zu der antiken litteratur überhaupt charakteristisch
und mag darum hier folgen, quantus est hie christianus aflfectus
386 cap. 30, s. 165—170.
387 ich füo^e die nachweise dafür bei: Wimph. c. 2. 3 (s. 183 f.^;
Verg. fol. 2"; W. c. 4 (s. 184 f.); V. fol. 3^ W. c. 5 (s. 185); V. fol. 3'';
W. c. 8 (s. 187); V. fol. 3" f.; W. c. 11 (s. 188); V. fol. 5"; W. c. 25
(s. 198); V. fol. b^. für die 20 gesetze des sittliclien Verhaltens c. 32 — 51
(s. 204—250) vgl. Verg. fol. 7'' — 8''. dabei wird aber im allgemeinen
Vergerio ;ils quelle nicht genannt, nur an zwei stellen der von mir
benutzten ausgäbe (fol. 20 und 22; es entspricht dies s. 243 z. 15
[von unten] und s. 248 z. 10 [v. u.] der Übersetzung) ist der name
Vergerius an den rand gedruckt; in dieser weise sind auch sonst viel-
fach die quellen bei Wimpheling bezeichnet.
388 ich citiere nach der ausgäbe: Hagenaw per Henricum Gran 1514.
A. Messer: Quintilian als didaktiker. 367
praeceptorum gravia et publica vitia dissimulantium in bonam
institutionem adolescentium. ci'ediderim Quintilianum, De-
mosthenem, Aul. Gellium paganos maiores erga mores suorum
discipulorum virtutesque sedulitatem adhibuisse. crediderim paganos
illos non minus ad litteras et ad naturalem honestatem tradendam
quam ad crumenas aere alieno suflfarcinandas sollicitos fuisse atque
circumspectos. nee enim in ethnicis lumenquohonestum
naturale cernerent prorsus extinctum fuit. —
Gewissermaszen das gegenbild des würdigen Wimpheling ist
innerhalb des oberdeutschen humanismus Heinrich Bebel, 'ein
typus des jungen humanismus: emancipiert, leichtfertig, zuversicht-
lich, ruhmredig, streitlustig und unermüdlich in der Verfolgung der
gotischen und vandalischen barbarei'/^' am bekanntesten unter seinen
zahlreichen Schriften sind seine facetiae (1506). aber er verdient
nicht nur in der litteraturgeschichte, sondern auch in der geschichte
der Pädagogik einen platz, von 1497—1516 hat er an der damals für
den humanismus so wichtigen Universität Tübingen die lectur für
eloquenz und poesie innegehabt und hat dort, wie er sich rühmt,
'die Tübinger Jugend viel lateinischer gemacht und die schauder-
hafte und schmutzige barbarei abgeputzt'. ^"^ zu seinen schülern ge-
hören Jacob Heinrichmann, Johann Altensteig, Johann Brassicanus,
Michael Coccinius (Köchlin) , die alle für die humanistische reform
des Schulwesens gewirkt haben und durch ihre grammatiken zum
teil wohl bekannt sind. Bebel selbst hat Schulbücher geschrieben,
die recht stark benutzt wurden'^', aber auch die pädagogisch-didak-
tische theorie hat er in den bereich seiner schriftstellerei gezogen.
Schon in seinen Schulbüchern, zumal in den didaktischen
bemerkungen, die er ihnen beigefügt, tritt die benutzung Quintilians
sehr in den Vordergrund.
In der vorrede zu seinem modus conficiendarum episto-
larum^^- (1500) führt er ganz im anschlusz an Quintilian (I 1, 5
und n 3) aus , wie fest die eindrücke in der frühen jugend haften
und wie notwendig deshalb ein guter anfangsunterricht sei (fol. 1 ^).
er polemisiert alsdann (fol. 2 *) gegen die gewöhnlichen 5 partes
epistolae (salutatio , exordium, narratio, petitio, conclusio): quod si
me audire vis, abstinebis a partibus et multis praeceptis epistolarum,
hoc te docebit Quintilianus dicens (II 13, 1 f.): nemo autem a me
exigat id praeceptorum genus . . . ut quasi quasdam leges immuta-
389 Paulsen, geschichte des gelehrten uuterrichts I^ s. 138.
2^" a. a. o.
3^1 sein modus conficiendarum epistolarum erlebte zwischen 1503
und 1513 mindestens neun ausgaben, seine ars versificandi et carminum
condendorum zwischen 1506 und 1520 zehn, vgl, Paulsen a. a. o.
^'■'^ die von mir benutzte ausgäbe hat den titel: commentaria episto-
larum conficiendarum (bei Schurer 1513). der widmungsbrief an Ulrich
von Würtemberg ist aus dem jähre 1500.
368 A. Messer: Quintilian als didaktiker.
bili necessitate conscriptas studiosis dicendi feram ... et idem : nam
in Omnibus fere minus valent praecepta quam experimenta (II 5, 16).
also zwei wichtige grundsätze Quintilianischer didaktik hat er hier
als maszgebend für sein ganzes buch an den anfang gestellt, für
die behandlung der spräche gibt er den rat (fol. 29^): at si me
audire vis, si esse et haberi cupis latinus in singulis intuendum est,
ut dicit Fabius de elocutione 1. VIII (1, 1), ut sint latina quae
dixeris , perspicua, ornata, et ad id, quod efficere volumus, accom-
modata.
Noch an einer gröszeren anzahl von stellen beruft er sich auf
Quintilian; wir können sie hier, da sie nicht didaktischen Inhaltes
sind, übergehen.
Auch in seiner ars versificandi^''^ (1506) tritt der einflusz
Quintilians zu tage, unter den quellen , deren er sich bei abfassung
des buches bedient habe, nennt er ausdrücklich Quintilian. nach-
dem er im cap. XV dargelegt: qui auctores sint sequendi, stellt er
für die Imitation den grundsatz auf: considerandum est, ut Quin-
tilianus (I 6, 42) testatur, magni auctores non quid dixerint, sed
quid persuaserint. im cap. 18 gibt er Vorschriften darüber, wie
die dichterischen versuche anzustellen seien: nicht mit leeren worten
die verse füllen, nicht lieblingsausdrücke überall anbringen, nicht
Worten nachjagen und ihnen zuliebe den gedanken gewalt anthun,
grundsätze, wie sie ebenso Quintilian (VII p, § 32) für die rede-
übungen aufstellt, dann mahnt er die schüler noch, bei ihren poeti-
schen versuchen ja nicht zu ängstlich zu sein, facile enim, ut dicit
Quintilianns (II 4, 6), remedium est ubertatis, sterilia nuUo labore
vincuntur; was noch durch zwei weitere Quintiliancitate belegt wird.
Bebeis theoretisch-didaktische schrift führt den titel
de institutione puerorum^^* (1506). er will nur besprechen
modum discendi et quibus artibus quibusque praeceptoribus sint in-
stituendi (fol. 1'^). die religiös -sittliche erziehung weist er in dem
Widmungsbrief dem vater zu und betont zugleich die notwendigkeit
der erholung und der körperlichen ausbildung für einen gedeihlichen
fortgang der studien.^^^ die stelle zeigt unverkennbare anlehnung an
^^^ benutzt -wurde eine ausgäbe mit dem titel: ars versificandi et
carminum condendorum cum quantitatibus syllabarum . . . denuo emen-
data. Argentinae 1513.
39* opusculum H. Bebelii Justingensis de institutione puerorum
quibus artibus et praeceptoribus instituendi et tradendi sint una cum
apologia et defensione poetices contra aemulos; mit einigen andern
Schriften Bebeis gedruckt. Argentinae 1513 bei Scburer.
^^^ sie lautet (fol. 1^): prius tarnen quam incipiam de institutione
dicere, persuasum tibi velim pueros nimium et ultra tempus in libris
non esse detinendos et scbolis. quod enira (ut Ovidius canit) caret
alterna requie durabile non est: liaec reparat vires fessaque membra
levat. dispensandum igitur tempus est pro studio et remissione, animi
sunt autem remittendi non somnio nimio neque desidia, sed in ludis,
qui ab honesto decoroque non discedunt corpusque exercitatione robo-
randum ludendumque pila, arcu, lucta, saltatione, disco, nee item suo
A. Messer: Quintiliau als didaktiker. 369
Quintilian (I 3, 8—11) und weiterhin an Vergerio (fol. 23=»— 25"^),
den er gleich im anfang neben Plutarch, Guarino, Filelfo (gemeint
ist wohl Vegio, dessen buch 1493 in Straszburg gedruckt worden
war), Enea Silvio als Vorgänger nennt.
Was im anfange der schrift selbst (fol. 2^) über den lehrer ge-
sagt wird, ist fast vollständig aus Quintilian (I 1. II 3) (der auch
wiederholt citiert wird) entnommen, sogleich gute lehrer wählen;
denn die eindrücke in der kindheit haften besonders fest, die ver-
kehrten noch zäher als die richtigen, kann man 'gute' lehrer nicht
haben, so nehme man wenigstens solche, die ihres geringen wissens
sich bewust sind und sich belehren lassen: hoc te non ego, sed opti-
mus iuventutis doctor, Fabius libro primo institutionum docet brac-
teate propheticoque oraculoj worauf die bemerkung Quin-
tilians über die paedagogi (1 1, 8) citiert wird, gleichalterige knaben
sind dem schüler beizugesellen, quorum studio invideant laudibusque
mordeantur, sociis enim moventur studio aemulationis ad discendum
(vgl. Quint. I 2, 17).
Es folgt nun (fol. 3** — 6=*) die apologia pro poetis contra bar-
baros bestes, sie ist in verhältnismäszig maszvollem tone gehalten,
bekundet reiche belesenheit und zeigt anlehnung an Enea und
Guarino, auf die auch (fol. 6=*) ausdrücklich hingewiesen wird.
Der letzte teil (fol. 6=» — 8^) wird eingeleitet mit den werten:
tertium est et ultimum, quod ad eruditionem et eloquentiam
(dies also das bildungsziel!) duxi necessarium, quibus artibus qui-
busque auctoribus pueri imbui debeant. er bespricht zunächst den
grammatischen Unterricht, die Verwerfung der seither üblichen
philosophischen behandlung der grammatik , die für alle sprach-
erscheinungen Ursachen angeben will, begründet er unter ausdrück-
licher bezugnahme auf Quintilian (I 6, 1—3) mit dem satze (fol. 6'') :
quod nulla sit danda ratio in grammatica, sed omnis eloquendi vis et
observatio pendeat ex auctoritate historiarum, oratorum et poetarum..
Mit Vergil rät er die lectüre zu beginnen (fol. 7^), abermals
mit hinweis auf Quintilian (I 8, 5). er citiert ihn auch bei seinem
rat, die poetische lectüre besonders zu pflegen und unter den
rednern Cicero vor vollen zu tractieren.
Die angeführten belege werden genügen, uns zu dem ergebnis
zu führen, dasz die institutio oratoria für Bebel in der didaktik that-
sächlich 'ein orakel', ein kanonisches buch war, und dasz er in ihr
nicht nur hie und da nach citaten gesucht, sondern dasz er sich
wichtige grundsätze Quintilians wirklich zu eigen gemacht hat.
Johannes Murmellius, den wir nunmehr als Vertreter des
niederdeutschen humanismus zu besprechen haben, steht von
tempore abstinendum a cantii musicisque organis, adsit aut cythara
testudinea aut lyra fistula vel simile, quod sua sonoritate animum ho-
minis componat gravesque meditationes et curas mitiget, ut eo vali-
dius Ingenium possit redire ad labores.
370 A. Messer: Quintilian als didaktiker.
allen bisher genannten deutschen humanisten am meisten mitten
im leben der schule drinnen: 'im kerne seines wesens ist er
immer bildner der jugend gewesen, seine berufsthätigkeit war der
schule geweiht; auch die meisten seiner philologischen arbeiten
dienen der schule in ihren näheren oder entfernteren zwecken; und
viele seiner dichtungen haben eine unmittelbare bedeutung für er-
ziehung und Unterricht.'^''* ebenso wie Wimpheling beharrt er un-
erschütterlich auf dem boden der christlich - kirchlichen lebens-
anschauung: nur die erkenntnis und Verehrung gottes kann ihm als
endzweck der studien gelten, aber in seinem bestreben, eine reform
des Schulwesens im sinne des humanismus durchzuführen, geht er
einen schritt weiter als Wimpheling: er hat sich in seiner prakti-
schen thätigkeit allmählich von der Unzulänglichkeit des doctrinale
— das war ja damals das hauptkampfobject — überzeugt und
wirkt nun für dessen beseitigung, während Wimpheling noch daran
festhielt.
Von denjenigen seiner schriften , die uns hier interessieren, ist
die früheste und wohl auch die bedeutendste das opusculum de
discipulorum officiis, quod encheiridion scholasti-
corum inscribitur (1505).''"
In dem cap. 2 (s. Ö9 flF.): quod pueri scholae mancipandi et a
tenera aetate instituendi sunt, beruft er sich sowohl für den vorzug
der schulerziehung vor der privaten wie auch für die notwendigkeit
eines zeitigen beginnes auf Quintilian (I 2 oder 11,5 ß.). er teilt
Quintilians ansieht (I 1, 1), dasz es nur wenig menschen gebe, die
von natur ungelehrig seien ; denn wie die vögel zum fliegen, die pferde
zum laufen erschaffen seien, so sei den menschen die thätigkeit und
regsamkeit des geistes eigen, was er im cap. 7 de memoria tenaci
sagt, zeigt keine anlehnung an Quintilian^**®, obwohl eine solche
nahe lag. im cap. 9: quod mediocris facultas scholastico ojjtima est
ist der ausspruch : solet tamen interdum per extremas difficultates
generosa natura (ad similitudinem palmae) in altum emergere et
magis profusa i^erum copia, quam summa inopia bonis ingeniis
nocere consuevit, wörtlich ausVergerios schrift de ingenuis moribus
(fol. 10^) entnommen, nur die eingeklammerten worte sind hinzu-
gefügt. ^^^ die capitel 14 — 19 die von dem lehrer und dem Verhältnis
^9ß J. Freundgen in der einleitung der Übersetzung der päda-
gogischen Schriften, Paderborn bei Schöningh, 18r band s. 50.
^ä' in einem neudrucke herausgegeben von A. Bömer, Münster
1892. darauf beziehen sich die citate, in klammer ist die Seitenzahl
der Übersetzung von J. Freundgen angegeben.
5^* hier wird auch geraten: capilli saepe pectendi sunt, non tarn,
ut comptus puer conspiciatur, quam ut melius cellula memorialis
valeat (s. 34).
39!* beiläufig sei bemerkt, dasz die stelle über Plato, der für die
akademie absichtlich einen ungesunden ort gewählt habe s. 35 (s. 81 f.)
aufBasilius' oben erwähnte rede an die Jünglinge (vgl. fol. 52 1') zurück-
geht, ferner scheint das cap. 12 'von der ausnutzung der zeit' (s. 83—85)
A.Messer: Quintilian als didaktiker, 371
desselben zu den schülern handeln, zeigen, wie wir das bei dem-
selben Stoffe schon öfter constatiert haben , starke benutzung Quin-
tilians. vor schlechten lehrern wird gewarnt (s. 90 f.) durch die
anekdote von Leonidas, dem erzieher Alexanders (Quint. I 1, 9), und
mit Quintilians bemerkung über die halbgebildeten und ein-
gebildeten paedagogi (I 1, 8). das capitel 16 qualis sit bonus prae-
ceptor et quae sint eins officia, enthält zwei gröszere Quintilian-
citate I 2, 27 f, (warnung vor überbürdung) und 11 2, 4 — 8 (ver-
halten des lehrers gegen die schüler). in dem nächsten capitel 17
probates magistros vel laborioso itinere requirendos esse, wird nach
dem vorgange Quintilians (I 12, 15) auf Plato als beispiel hin-
gewiesen (s, 100). in das capitel 19 quae sint discipuli erga prae-
ceptorem officia, nimmt er das ganze neunte capitel des zweiten
buches der institutio (de officio discipulorum) auf. bei der be-
siDrechung des Verhältnisses der mitschüler zu einander (cap. 21
s. 109 — 111) eignet er sich Quintilians wort an: licet ipsa vitium
sit ambitio, frequenter tarnen causa virtutum est und kurz darauf
citiert er als Quintilianisch den ausspruch : Optimum proficiendi
genus est docere quae didiceris, der, wie wir oben gesehen haben,
von Guarino der schrift Vergerios entnommen und fälschlich dem
Quintilian zugeschrieben wurde: ein beweis für die benutzung
Guarinos durch Murmellius, auf die auch andere momente hin-
weisen, im capitel 23 wird ganz in der weise Quintilians (I 3, 8 flf.)
über die berücksichtigung des körperlichen factors bei der erziehung
einiges wenige gesagt: die Studien sind bisweilen durch ehrbare
spiele (nur davon ist die rede) zu unterbrechen, damit der geist
um so frischer zur arbeit zurückkehre.
Denselben gegenständ wie das encheiridion behandelt auch die
1510 abgefaszte schrift de magistri et discipulorum officiis
•epigrammatum Über, nicht nur sein bedürfnis sich bisweilen
in Versen auszusprechen mag den Murmellius zu der abfassung be-
wegen, sondern wohl auch der umstand, dasz der stoff recht geeignet
war, darin persönliche spitzen gegen seinen früheren rector Timann
Kemner anzubringen.''"'' gleich in der praefatio (s. 17) schreibt er
wieder — offenbar mit beziehung auf Kemner — Quintilians oben er-
an Guarinos schrift de modo et ordine docendi ac discendi (fol. 10^ f.)
sich anzuschlieszen, auch dort wird der ausspruch Theophrasts und als
beispiel Plinius und Cato erwähnt, auch die empfehlung des lauten
lesens als förderlich für die gesundheit am Schlüsse des cap. 20 (s. 108 f.)
findet sich ebenso bei Guarino (fol. 10^).
*"" A. Bömer hat die schrift, die noch Reichling in seiner be-
kannten Murmelliusbiographie (Freiburg 1880 s. 91) als vermutlich
verloren bezeichnet, wieder herausgegeben (Münster 1892). derselbe
bespricht in der einleitung (s. 7 — 11) die fehde mit Kemner und findet
treffend ihren grund 'in der unglücklichen fügung des Schicksals, dasz
Murmellius, der conrector der domschule, tüchtiger als der rector
Kemner, letzterer dazu ein eiteler, selbstgefälliger, fremde arbeiten
geringschätzender mann war und ersterer, nachdem er einmal an-
gegriffen worden, einen harten köpf zeigte'.
372 A.Messer: Quintilian als didaktiker.
wähnte bemerkung über die paedagogi (11,8) aus. die epigrammelV
und V de officiis magistri et discipuli und qualis debeat esse prae-
ceptor lehnen sich an an Quint. II 2, 4 — 8. II 9, 1 — 3, ebenso
nr. XXIV discipuli officia, die mahnung, die Quintilian I 2, 28 aus-
spricht, bringt er im gedieht X (s. 24) in folgende verse :
ars est tradere liberalis artem
angusto memor ore vasculorura,
quae complentur aqua influente sensim;
quantum discipuli rüdes, videto,
doctrinae excipere et teuere possint.
das epigramm XXI qualis debet esse praeceptorum vita klingt an
an Quint. II 2, 1 — 8, speciell v. 9 ist fast wörtlich daraus ent-
nommen.
Ein wort noch über den Scoparius (erschienen lölS)."' er
ist eine bunte Sammlung von humanistisch gefärbten oder im sinne
des humanismus verwertbai'en stellen und abschnitten, das von dem
Verfasser selbst herrührende bildet nur den allerkleinsten teil, als
capitel 9 (s. 134 f.) erscheint wiederum die stelle über die paeda-
gogi (Quint. I 1, 8) und Leonidas (I 1, 9); die erstere lesen wir
nochmals im cap. 22 (s. 142 f.) aus Murmellius' anleitung zur
verskunst (tabulae in artis componendorum versuum rudimenta
1515) entnommen; das cap. 10 (s. 135) bildet die stelle über
Aristoteles als erzieher Alexanders (Quint. I 1, 23); das cap. 11,
die über das feste haften der in der kindheit aufgenommenen ein-
drücke (I 1, 5), die nochmals in zwei epigrammen (s. 142) ver-
wertet wird.''"''
Resümieren wir: auch für Murmellius ist die institutio ein masz-
gebendes buch , aber seine benutzung beschränkt sich auf ein enges
gebiet, es sind im wesentlichen nur die erörterungen über pflichten
der lehrer und schüler und über das Verhältnis zwischen ihnen, die
er — zum teil wiederholt — ausschreibt, diese beschränkung ist
darin begründet, dasz seine hier in betracht kommenden Schriften
im allgemeinen nur diesen stoff behandeln ; derselbe mochte ihm —
einer hauptsächlich aufs ethische gerichteten natur — besonders
nahe liegen.
III. Erasnius.
In dem encomium moriae desErasmus preist die narr-
beit auch ihre Verdienste um den stand der Schulmänner (gram-
matici). was sind sie doch für bedauernswerte geschöpfe! nicht
^"1 übersetzt von J. Freundgen a. a. o. s. 119 — 267.
^"^ auch in dem s. 126—131 abgedruckten briefe des Aldus Manu-
tius (1507) wird die stelle über Leonidas citiert und auszerdem Quint.
II 5, 19 f. gelegentlich des rates, die lectüre mit Cicero zu beginnen. —
Unter den empfehlenswerten erklärern der classischen autoren werden
zu Quintilian genannt (s. 206): Laurentius Valla, Georg Merula, Rafael
Eegius, Jodocus Badius.
A. Messer: Quiutiliau als didaktiker. 373
ludi verdienen ihre schulen zu heiszen, sondern cppovriCTi^pia^"^,
pistrina und carnificinae. dort plagen sie sich und schreien sie sich
ab, kommen langsam um vor schmutz und gestank — und doch
dünken sie sich, durch die gnade der stultitia , die ersten der sterb-
lichen zu sein, so sehr gefällt und schmeichelt ihnen ihre herscher-
stellung dem furchtsamen schülervolk gegenüber, das sie mit
drohender miene, wütigem schreien, mit rute, stock und karbatsche
tyrannisieren — esel in der löwenhaut. noch mehr beseligt
sie das frohe bewustsein ihrer gelehrsamkeit, mit der sie auch den
einfältigen eitern imponieren, welche wonne, wenn sie ein un-
bekanntes wort in einer halbvermoderten handschrift entdeckt,
oder den namen der mutter des Anchises gefunden, oder ein altes
steinstück mit ein paar verwitterten buehstaben ausgescharrt haben!
welcher triumph ! man meint sie hätten Afrika bezwungen ! — Dazu
ihr Cliquenwesen, ihre gegenseitige lobhudelei: Hans kratzt den
Kunz, damit Kunz den Hans wieder kratzt. ^"^
Anderseits ihr 'collegialer' sinn, mit dem sie über einander
herfallen, wenn einer einmal einen kleinen Schnitzer gemacht hat.
was für Zänkereien, was für tragische kämpfe entstehen da sofort!
mag man das narrheit oder Wahnsinn nennen, jedenfalls ist es ihr,
der narrheit, verdienst, dasz diese armseligsten aller menschen sich
so glücklich vorkommen, dasz sie nicht mit dem Perserkönig tauschen
möchten.
S 0 etwa war — ins komische verzerrt — das bild , das sich
Erasmus von dem damaligen lehrerstand entworfen hatte. ''°^ wie
muste sich ihm dem gegenüber die lehrerpersönlichkeit, welche dem
denkenden leser der institutio oratoria vor das geistige äuge tritt,
sjmiDathisch abheben, sind es ja doch gerade die entgegengesetzten
tugenden, die sie zieren: väterliches Verhältnis zu den Schülern, ein
auf das wesentliche in der Wissenschaft und auf das wirkliche im
leben gerichteter sinn , der sich frei zu halten bestrebt von aller
pedanterie und kleinigkeitskrämerei , der die billigen triumphe
eines dem leben entfremdeten wissenschafts- und schulgetriebes
verschmäht, in der that gehört Quintilian — rhetorum
longe princeps, wie er ihn gelegentlich nennf*"® — zu den
lieblingsschriftstellern des Erasmus: sein feiner ästheti-
^°^ so hat sie auch Agricola genannt in seinem brief de formando
studio, der ausdruck stammt aus den Wolken des Aristophanes.
^"* at nihil omnium suavius, quam cum ipsi inter sese mutua talione
laudant ac mirantur, vicissimque scabunt.
*°^ als gegenstück dazu lese man die überaus drastische rede
Melanchthons de raiseriis paedagogorum (jetzt leicht zugänglich in
den lateinischen litteraturdenkmäleru des 15n und 16n Jahrhunderts,
herausgegeben von M. Herrmann und S. Szamatolski, heft 4),
^°^ an einer andern stelle urteilt er über ihn: non ex alio scriptore
melius discitur ßomani sermonis puritas, nee est alius lectu iueundior aut
puerorum ingeniis accommodatior. vgl. Hartfelder, Melanchthon
als praeceptor Germaniae s. 330 anm. 4.
374 A. Messer: Quintilian als didaktiker,
scher sinn, sein kritischer, von edlem Selbstgefühl getragener geist
mochten ihm besonders congenial sein, man darf behaupten, dasz
Quintilian auf die schriftstellerische thätigkeit des
Erasmus auf pädagogisch-didaktischem gebiet einen
teils anregenden, teils maszgebenden einflusz geübt
bat. eine betrachtung der einzelnen Schriften wird dies erweisen,
es kommen in betracht: de ratione studii (1512), de duplici copia
verborum ac rerum (1512), institutio principis christiani (1518),
colloquia (1519), de ratione conscribendi epistolas (1522), christiani
matrimonii institutio (1526), Ciceronianus (1528), de pueris statim
ac liberaliter instituendis (1529).^"^
In dem an Petrus Viterius gerichteten widmungsbrief zu der
kleinen schrift de ratione studii'*"'' betont er, wie bei aller
menschlicher thätigkeit das planmäszige verfahren von nutzen sei,
indem es arbeit und umwege erspare, die abhandlung selbst zer-
fällt in zwei teile; der zweite, umfangreichere führt den sondertitel
de ratione instituendi discipulos. der erste handelt zunächst von
dem bildungs- und Wissensstoff; er beginnt mit den oft citierten
Worten: principio duplex omnino videtur cognitio, rerum ac ver-
boi'um. verborum prior, rerum potior.'"'^ wozu er sogleich die
Warnung fügt: sed nonnulli dum dviTTTOic ut aiunt ttociv ad res
discendas festinant, sermonis curam negligunt, et male affectato
compendio, in maxima incidunt dispendia. — Die trennung der
verba und res, des formalen und des materiellen elements , der
sprachlich -logischen bildung und der aneignung des sachlichen
Wissens, lag schon der Scheidung des triviums und quadriviums zu
gründe; sie findet sich auch bei den früheren humanisten, was leicht
erklärlich ist, denn sie ist naheliegend und in der natur des mensch-
lichen geistes wie seiner objecto wohl begründet, bei Quintilian tritt
sie gelegentlich hervor*'", wird aber nicht zum einteilungsprincip
erhoben.
Erasmus schickt sodann die mahnung voraus, sogleich das beste
und zwar von den besten lehrern zu lernen, das richtige sei auch
das leichteste, anderseits hafte das verkehrte, einmal aufgenommen,
mit merkwürdiger Zähigkeit: alles ganz im sinne Quintilians.*"'
Unter den formal bildenden lehrstoffen steht an erster stelle
die grammatik. darunter ist, wie bei Quintilian, die im engei'en
sinne grammatische Spracherlernung und die lectüre zu verstehen,
das griechische ist sofort mit dem lateinischen zu verbinden:
^"^ in den ganz auf ethischem gebiet sich bewegenden Schriften
encheiridion niilitis christiani (1501) und de civilitate morum
puerilium ist natürlich ein einflusz Quintilians nicht zu erwarten, ich
citiere nach der ausgäbe: opera omnia Basileae 1540.
^"^ opp. I s. 444 — 452. zu dem einleitenden gedanken vgl. Quint.
XII 11, 13: omnia breviora reddet ordo et ratio et modus.
40« opp. I s. 445. 4'" zb. X 1, 5. VIII prooem. 18 u. ö.
4" II 3.
A. Messer: Quintilian als didaktiker. 375
denn diese beiden sprachen enthalten alles wissenswerte und sind
so innig verwandt, dasz sie in Verbindung mit einander leichter er-
faszt werden als einzeln. Quintilian^'- habe geraten, mit dem grie-
chischen zu beginnen, aber das lateinische bald folgen zu lassen und
jedenfalls beide mit gleicher Sorgfalt zu behandeln. Erasmus sagt
nicht geradezu, dasz der rat Quintilians genau zu befolgen sei, aber
er verneint es auch nicht, wie Guarino es gethan, der mit recht
darauf hinwies, dasz zu Quintilians zeit das latein eben mutter-
sprache gewesen sei. es macht den eindruck, als wolle Erasmus
lediglich anraten , mit beiden sprachen möglichst bald zu beginnen
und feie gleich sorgfältig zu betreiben ^'^; wobei es allerdings auf-
fallend bleibt, dasz er verkannt haben sollte, welche Schwierigkeiten
die gleichzeitige einführung in zwei fremde sprachen mit ihrem
verschiedenen formen- und Wortschatz den schillern bereiten muste.
die praxis lag ihm eben doch ferner als einem Guarino.
Der grammatische betrieb musz sich möglichst vor einem
sichverlieren in einzelheiten hüten; die reine spräche wird am besten
erworben durch steten umgang mit solchen, die gut lateinisch
reden, und durch fleiszige lectüre. auch Quintilian hatte in bezug
auf den grammatischen Unterricht geäuszert (I 8, 33) : nee ijpse ad
extremam usque anxietatem et ineptas cavillationes descendendum;
atque bis ingenia concidi et comminui credo. er dringt aber da-
neben auf gründlichkeit: sed nihil ex grammatica nocuerit, nisi quod
supervacaneum est. er mochte zu seiner zeit veranlassung haben zu
dieser mahnung, wie es anderseits Erasmus mit grund überflüssig
erscheinen konnte sie beizufügen, da er ja, wie seine humanistischen
Vorgänger alle, ankämpfte gegen einen Unterricht, der mehrere jähre
hindurch damit beschäftigt war, die schüler lediglich grammatisch
zu drillen. — Quintilian hatte (I 1, 6) darauf hingewiesen, wie sehr
bei den Gracchen und bei den töchtern eines Laelius und Hortensius
die gewählte spräche des elternhauses fruchte getragen habe,
wenn Erasmus diesen gedanken aufnimmt, so beachtet er doch auch
zu wenig die veränderten Zeitverhältnisse, wo waren damals die
familien zu finden, in denen das classische latein die Umgangssprache
bildete? — Bezüglich der Würdigung der lectüre in ihrem wert
für die sprachliche Vervollkommnung genügt es auf das lOe buch
der institutio hinzuweisen.
In der auswahl der lectüre bindet sich Erasmus nicht an
Quintilian. auszer der reinen spräche ist ihm hier der unter-
"'2 I 1, 12.
^'^ damit der leser selbst urteile, setze ich die stelle ganz hierher.
sie lautet: primum igitur locum grammatica sibi vendicat, eaque
protinus duplex tradenda pueris, Graeca videlicet ac Latina . . .
a Graecis auspicari nos mavult Quintilianus , sed ita, si bis literis
perceptis, non longo iiitervallo latinae snccedant, sane utrasque pari
cura tuendas esse monet, atqne ita futurum, ut neutrae alteris ofticiant.
ergo utriusque linguae rudimenta et statim et ab optimo prae-
ceptore sunt haurienda.
376 A. Messer : Quintilian als didaktiker.
haltende Inhalt maszgebend. deshalb stellt er voran Lucian und
AristoiDhanes , Terenz und Plautus. diese nebst Demosthenes und
Herodot, Homer und Euripides, Vergil, Horaz, Cicero, Caesar und
ev. Sallust genügen für die sprachliche bildung; darum nicht zu
spät der Fortschritt zur rerum cognitio. diese ist im wesent-
lichen den Griechen zu entnehmen, doch darüber später! zu-
nächst noch einige bemerkungen über das bei der sprachlichen
ausbildung zu beobachtende verfahren.^'* die elegantien des Valla
sind heranzuziehen und durch eigne Sammlungen zu berichtigen und
zu ergänzen ; die grammatischen und rhetorischen figuren, die metri-
schen gesetze sind einzuprägen; auch studium der dialektik (aber
nach Aristoteles) kann nichts schaden — auch Quintilian hatte es
angeraten (II 4, 41). mit Cicero und Quintilian (X 3, 1) betont er:
Optimum dicendi magistrum esse stilum. auch die ausbildung des
gedächtnisses ist wichtig: lectionis thesaurus heiszt es bei ihm,
wie bei Quintilian (XI 2, 1). über die ars memoriae urteilt er ebenso
wie jener (XI 2, 23 flF.) : wenn auch die Verbindung der zu behalten-
den Vorstellungen mit gedachten räumlichen gebilden unter um-
ständen von nutzen sein kann, so besteht doch die sicherste 'ge-
dächtniskunst' in richtigem verstehen, geordnetem lernen, häufiger
Übung und Wiederholung. — Endlich ist es für die Studien über-
haupt sehr förderlich, selbst zu lehren.
Den zweit enteil: de rationeinstituendidiscipulos"^
beginnt er mit der bemerkung, Quintilian habe über diesen
Stoff so sorgfältig gehandelt, dasz es geradezu eine an-
maszung sei, nach ihm darüber schreiben zu wollen, er
scheint es denn auch in den folgenden ausführungen absichtlich
zu vermeiden, das, was bei jenem schon trefflich gesagt war,
nochmals zu sagen, so ist z. b. das Verhältnis von lehrer und schüler
nicht näher behandelt, was ergibt, ergänzt teils Quintilian, teils
stellt es das bei jenem an verschiedenen stellen behandelte übersicht-
lich zusammen und modificiert es den Zeitverhältnissen entsprechend.
Zunächst bespricht er die wissenschaftlichen anforde-
rungen, die an den lehrer zu stellen sind, er musz wahrhaft
encyclopädisch gebildet sein — wenn er auch nur die demente lehrt,
(wo bleibt auch da die rücksicht auf die Wirklichkeit?!) er musz,
kurz gesagt, 'alles' gelesen haben. '"^ natürlich denkt dabei Eras-
mus zunächt nur an die antike litteratur, aber die ältere christliche,
die werke eines Basilius, Origenes, Chrjsostomus, Ambrosius und
Hieronymus werden mit eingeschlossen, für die mythologie ist auch
Boccaccios genealogia deorum heranzuziehen; die kenntnis der anti-
quitas ist nicht nur aus den autoren , sondern auch aus münzen und
*'* opp. I s. 445. *'s opp. I p. 446 if.
■"^ opp. I s. 446: erit igitur huic per omne seriptorum genus
vagandum, ut optimum quemque primum legat, sed ita, ut neminem
relinquat ingustatum, etiam si parum bonus sit autor. welcher gegen-
satz zu unserem specialisierten wissenschaftsbetrieb!
A.Messer: Quintilian als didaktiker. 377
Inschriften zu gewinnen, philosopbie und theologie, poesie und
kosmographie, geschichte und astrologie müssen durchaus studiert
werden, aber auch militärwesen und ackerbau, musik und archi-
tectur müssen dem bekannt sein, der die alten autoren erklären
will, er foi^dert also eine ebensolche allseitige bildung von dem
lehr er (auch von dem, qui minima parat docere) wie Quintilian
von dem redner (dem perfectus orator wohlverstanden!), ohne
dasz dabei der blosz accessorische charakter mancher bildungs-
stoflfe hervorgehoben wird, was doch bei Quintilian der fall ist
(I 12, 14). er sieht freilich ein, dasz seine anforderungen sehr hoch
gehen, aber er entschuldigt es mit den worten: onero sane, sed
unum, ut quam plurimos exonerem. volo, ut unus evolvat omnia,
ne singulis universa sint evolvenda/''' der lehrer hat sich nämlich
bei seiner lectüre Sammlungen anzulegen, aus denen er dann seine
Wissenschaft concentriert den schülern mitteilt, damit ist denn auch
das nötige über die rerum cognitio gesagt.
Es folgt die erörterung des lehrverfahr ens. für das 'spielende'
erlernen der buchstaben verweist er auf Quintilian (1 1,26). nach
einprägung der ersten demente musz der knabe sofort zum latein-
sprechen angehalten werden, auch werden die allernotwendigsten
grammatischen regeln gegeben und dann sogleich lectüre und
Schreibübungen begonnen und dabei die beispiele zu den zuvor er-
lernten regeln hervorgehoben und eingeprägt, es beginnen nunmehr
die Übungen im lateinischen aufsatz. die einzelnen arten, die
hier Erasmus nach ihrer zunehmenden Schwierigkeit geordnet vor-
führt, sind naturgemäsz im allgemeinen dieselben, wie sie Quintilian
im 9n cap. des ersten buches für den gi-ammatiker und im 4n cap.
des zweiten buches für den rhetor empfiehlt — selbstverständlich im
anschlusz an dis praxis der damaligen schulen — , nur ist Erasmus
reichhaltiger, und er hält sich auch nicht ängstlich an die in der
institutio gegebene reihenfolge.
Ähnlich wie Quintilian (II 6) fordert auch Erasmus, dasz der
lehrer zu diesen arbeiten anfangs genaue anleitung gebe und dasz
er eine sorgfältige correctur und besprechung den gelieferten auf-
sätzen widme. ^'^ auch hier geht Erasmus mehr ins einzelne, so er-
gänzt auch das, was er über die Interpretation der schrift-
steiler ausführt^'" in vielen punkten die bemerkungen Quintilians
darüber (I 8. II 5). für die beurteilung der Schriftsteller, die dabei
auch zu erfolgen hat, wird dabei ausdrücklich u. a. auch auf
die litteraturübersicht im In cap. des lOn buches der institutio
hingewiesen.
*" opp. I s. 447. erklärlich werden diese forderungen dadurch, dasz
es damals noch nicht möglich war, diese kenntnisse aus systemati-
schen darstellungen der einzelnen disciplinen oder aus coramentaren
zu entnehmen.
*" opp. I s. 449.
^'ä opp. I s. 450 — 452.
N.j.nhrb. f. phil. u. päd. II. abt. 1897 lift.8. 25
378 A. Messer: Quintilian als didaktiker.
Die Schrift de duplici copia v erborum ac rer um^^" hat
Erasmus ausdrücklieh für die schule bestimmt, zunächst für die
seines englischen freundes Colet: opus videlicet quum aptum
pueritiae tum non infrugiferum (ni fallor) futurum nennt er sie
in dem widmungsbrief. in welcher hinsieht soll nun diese schrift
die Jugend fördern, welches Unterrichtsziel erreichen helfen? gleich
die einleitungsworte geben uns aufschlusz : . . . non est aliud vel
admirabilius, vel magnificentius quam oratio, divite quadam senten-
tiarum verborumque copia aurei fluminis instar exuberans. es handelt
sich also darum, der rede durch wort- und gedankenreiehtum eine
gewisse fülle zu verleihen, näher wird dies ausgeführt im 7n cap.^^'
unter der copia verborum ist die souveräne beherschung des Wort-
schatzes zu verstehen; die fähigkeit einen gedanken durch figuren
aller art: synonymie, heterosis, enallage, metaphora u. a. zu
variieren; bei der copia rerum handelt es sich darum, den gegen-
ständ der rede durch eine fülle von gedanken: beweisen, beispielen,
vergleichungen, ähnlichkeiten, unähnlichkeiten, contrasten u. a. all-
seitig zu beleuchten; natüx'lich musz auch das vermögen vorhanden
sein, wenn nötig, die gröste kürze walten zu lassen.
Für die Zweiteilung in eine copia verborum und rerum beruft
Erasmus sich ausdrücklich auf Quintilian, der (X 1, 61) in bezug
auf Pindar bemerkt : novem vero lyricorum longe Pindarus princeps,
Spiritus magnificentia, sententiis, figuris, beatissima rerum ver-
borumque copia, velut quodam flumine eloquentiae. aber noch
mehr: Erasmus bezeichnet seine ganze schrift gewisser-
maszen als eine weitere ausführung Quintilianischer
gedanken. er bemerkt gleich im anfang (c. 2), Quintilian habe
diese materie mehrfach kurz berührt — er meint wohl stellen wie
18,8. X 1 , 5 — si quod a d m o n u i t Fabius, fährt er fort, ad plenum
tradere voluisset, non admodum futurum erat opus iis meis prae-
ceptiunculis. er fand aber nicht nur die anregung zur inangriff-
nahme seiner arbeit bei jenem , sondern die institutio bot ihm auch
für die ausführung vieles und er hat fleiszig davon gebrauch ge-
macht, und zwar meist mit ausdrücklichem hinweis auf seine quelle.
Schon zur begründung der thatsache, dasE er die
copia verborum ac rerum als Unterrichtsziel aufstellt,
beruft er sich auf Quintilian"^, der beispielsweise an Homer das
vermögen, in gröster fülle und in gröster kürze zu reden, be-
wunderungswürdig gefunden hat. er übei-sieht nicht, dasz die dahin
zielenden Übungen für die Schüler auch gefahren in sich schlieszen,
dasz sie zu ungesunder fülle und schwulst veranlassen können, was
Quintilian an Stesichorus getadelt habe. *'^
Aber auch darüber tröstet er sich mit einer erwägung, die ihm
Quintilian an die band gibt: adolescentiam instruo, in qua Fabio
«0 opp. I s. 1—95. *2i opp. I s_ 4
«2 cap. 3. opp. I s. 2 und Quint. X 1, 46.
«3 cap. 4. opp. I s. 3 und Quint. X 1, 62.
A.Messer: Quintilian als didaktiker. 379
non displicet orationis luxuries, propterea quod facile, quae super-
sunt, iudicio resecentui', quaedam etiam aetas ipsa deterat, quum
interim tenuitati atque inopiae nulla ratione mederi queat. ferner
ist, ebenfalls nach Quintilians ansieht, ein besonders schwerer fehler
der rede die OjuoioXoYia 'quae nulla varietatis gratia levat taedium,
estque tota coloris unius'.*^'
Unter den Übungen, welche zu der hier erstrebten fertigkeit
hinleiten sollen, nennt er an erster stelle, ebenfalls nait ausdrück-
licher berufung auf Quintilian : saepius 'ex industria sententias quas-
dam sumamus easque versemus quam numerosissime velut eadem
cera aliae atque aliae formae duci solent'.^^^ auch das übersetzen
aus dem griechischen, das auflösen von gedichten in prosa, die
fleiszige lectüre mit Observation und Imitation hat schon Quintilian
angeraten J-^
Die behandlung der einzelnen variandi formulae kann hier
nicht verfolgt werden, nur so viel sei bemerkt, dasz Erasmus dabei
das reiche material, das die behandlung der elocutio im 8n buch
der institutio bot, gewissenhaft benutzt hat. besonders ergibig war
das 6e capitel, die behandlung der tropen für sein erstes buch (die
copia verborum), das 3e und 4e capitel für das zweite (die copia
rerum).
Die institutio principis christiani (1518)'" erörtert
nicht, wie etwa die dem Ladislaus Postumus gewidmete schrift des
Enea Silvio, nur die eigentliche bildung und erziehung der fürsten,
sondern der weitaus gröste teil ist ratschlagen gewidmet, die den
fürsten anleiten sollen, den zahlreichen und schweren pflichten seiner
Stellung gerecht zu werden, was aber hier über die sorgfältige wähl
des lehrers , die ihm nötigen eigenschaften , über ammen und Spiel-
kameraden, über zeitigen beginn der bildung und erziehung, über
die behandlung des Zöglings gesagt wird^^^, das sind meist gedanken,
wie wir sie auch bei Quintilian finden und wie sie uns in den seither
betrachteten Schriften so häufig entgegengetreten sind ; womit nicht
behauptet werden soll, dasz sie Erasmus einfach aus der institutio
herübergenommen habe: das war für ihn, der den inhalt des buches
so sehr in sich aufgenommen hatte , wirklich nicht nötig — zumal
bei dieser materie.
Die familiaria colloquia'" (1519; in ihrer jetzigen gestalt
1530) bieten bei ihrem reichen und bunten inhalt doch verhältnis-
mäszig wenige erörterungen, bei denen sich der einflusz Quintilians
zeigen konnte, doch wo derselbe, dem stoff'e nach, möglich ist, da
können wir ihn auch thatsächlich constatieren. in dem gespräch
de lusu redet der eine schüler den lehrer an: seit tua prudentia
^2* cap. 8. opp. I s. 4. das Quintiliancitat steht VIII 3, 52.
^^^ cap. 9. opp. I s. 4 und Quint. X 5, 9.
*^^ Quint. X 5, 2 flf. X 5, 4. X 1, 8 ff.
*" opp. IV s. 431—73. 42^ opp. IV s. 433—36.
*29 opp. I s. 526—756.
25*
380 A. Messer: Quintilian als didaktiker.
vigorem ingeniorum excitari moderato lusu, quemadmodum nos
docuisti ex Quintiliano."^" das gespräch brevis de copia praeceptio ""
berührt kurz den in dem buche de duplici copia behandelten stoff.
bei der besprechung desselben haben wir bereits gezeigt, wie eng
sich in dieser materie Erasmus an Quintilian anlehnt, in dem reizen-
den Virtuosenstückchen, dem gespräch echo, klingt bereits der grund-
gedanke des Ciceronianus an. das Verhältnis dieser schrift zu Quin-
tilian werden wir noch aufzuweisen haben, in dem ars notoria
überschriebenen gespräch ''^^ macht er sich lustig über diese kunst,
quae hoc praestet, ut homo minimo negotio perdiscat omnes dis-
ciplinas liberales, wenn er dem gegenüber liebe zu den Studien,
richtiges Verständnis, häufige Wiederholung und Übung als die beste
'gedächtniskunst' bezeichnet, so befindet er sich im völligen ein-
klang mit den von Quintilian besonders im 2n capitel des llnbuches
entwickelten gedanken.
Viel durchgreifender als in den coUoquien macht sich der ein-
flusz Quintilians in dem buche de conscribendis epistolis^'^
(das 1522 seine endgültige gestalt erhielt) bemerkbar, wie in der
schrift de duplici copia, so erörtert er auch hier eine wichtige seite
des damaligen Unterrichts; wie dort, so bot ihm auch hier die
institutio für die behandlung des Stoffes selbst ein reiches mate-
rial, das von ihm nach gebühr benutzt wird, dies im einzelnen nach-
zuweisen, würde auch hier über den rahmen unserer Untersuchung
hinausführen''^': wir müssen uns auf die allgemeinen didakti-
schen Vorschriften, die er für diesen Unterrichtsgegenstand gibt,
"° opp. I s. 540. er spielt an auf die stelle Quint. II 3, 8—13. —
In dem unmittelbar vorausgehenden kleinen gespräch monitoria paeda-
gogica sind nur anstands- und Sittenregeln enthalten, wofür Quintilian
keine beziehungspunkte bot.
431 opp. I s. 462-64. ^32 opp_ I s_ 721 f.
^33 opp. I s. 296—419.
"•3' nur kurz sei hier aufgezeigt, inwiefern ihm die institutio für
das technische zahlreiche anknüpfungspunkte" bot. zunächst sind
schon an sich rhetorik und epistolographie durch ihren gegenständ aufs
engste mit einander verwandt, in der mittelalterlichen schule war die
rhetorik allmählich ganz zu der ars dictandi et epistolaudi zusammen-
geschrumpft (vgl. M. Herrmann, Albrecht von Eyb s. 174 ff.), es lag
nahe, dasz man nunmehr auch diese seite des schulbetriebs durch her-
beiziehen der jetzt weit genauer bekannt gewordenen rhetorik der alten
neu belebte. — Erasmus unterscheidet bei den briefen das suasorium
genus (s. 333 — 92) und das genus demonstrativum (s. 394 — 404, darunter
auch ein genus indiciale); was sich in diesen beiden classen nicht unter-
bringen läszt, faszt er unter der aufschrift de extraordinariis generibus
(s. 404 — 19) zusammen, er konnte dabei das, was Quintilian über die
drei genera der rede ausführt, mit geringen modificationen für die
Charakterisierung der einzelnen briefgattungen verwenden, ebenso boten
zu entlehnungen gelegenheit die erörterung über die erregung der affecte
(s. 333 — 47), über den gebrauch der beispiele, der fabulae, der obtestatio
(s. 333 — 35), über den passenden stil, die amplificatio und die figurae
(s. 338 ff.), bezüglich der inventio verweist er geradezu auf die vor-
Bchriften der rhetorik (z. b. s. 393).
A. Messer: Quintilian als didaktiker. 381
beschränken, diese sind hier besonders reichhaltig; denn wenn er
auch gelegentlich"'" bemerkt, das buch sei für die schüler selbst
bestimmt, so betont er doch auch mehrfach ^^^ dasz er dem lehr er
darin anweisungen geben will, der 'gute lehrer' freilich, so läszt er
durchblicken, bedürfte dessen nicht, aber da man solche zur zeit
nicht habe , so wolle er vorläufig die mediocriter literati didascali
unterstützen, gerade die didaktischen ratschlage, die er in diesem
buche gibt, zeigen recht deutlich das nahe Verhältnis wirklicher
geistesverwandtscbaft, in dem Erasmus zu Quintilian steht:
er begnügt sich nicht, hier und da an der Oberfläche zu schöpfen,
sondern er hat wirklich den tiefsten gehalt der institutio, ihre
groszen leitenden grundsätze sich zu eigen gemacht.
Gleich in dem einleitungscapitel: quis epistolae character, klagt
er über die pedanterie der Schulmeister, hoc indoctum doctorum
genus et illiterata literatorum turba, die alles in feste regeln schnüren
wollen und z. b. jeden brief, der mehr als 12 zeilen lang ist, ver-
dammen, er fährt fort: recte Fabius (VI 1, 36) scribit absurdum
fore, si quis Herculis personam et cothurnos infanti tribuat — verum
multo videtur absurdius, si infantis fasciolas calceolosque Herculi
coneris accommodare. also gerade das, was ein grundzug Quintiliani-
scher didaktik ist, die ab Weisung alles pedantischen und starren
regelkrams, hat er hier an den anfang gestellt, kurz darauf
(s. 302) macht er sich lustig über die, welche quasdam compendiarias
recte scribendi leges verlangen , quas et ita breves esse volunt , ut
tertiam paginam non totam impleant: et ita efficaces, ut intra men-
sem non totum, e muta pecude reddant oratorem eloquentem, ebenso
hatte Quintilian (II 13, 15) erklärt: Interim nolo se iuvenes satis
instructos, si quem ex his, qui plerumque cii'cumferuntur, artis libel-
lum edidicerint, et velut decretis technicorum tutos putent. multo
labore, assiduo studio, varia exercitatione, plurimis experimentis,
altissima prudentia, praesentissimo consilio constat ars dicendi.
genau dieselbe anschauung über den nur begrenzten wert theore-
tischer Vorschriften, wie sie die schluszworte an den tag legen,
spricht auch Erasmus nachdrücklich aus. theoretische anweisungen,
heiszt es bei ihm, würden geradezu schaden, wenn sie den lernenden
zu der meinung verleiteten, dasz die kunst recht zu schreiben ohne
eifrige Übung, hingebenden fleisz und allseitige wissenschaftliche
ausbildung erworben werden könne. ^"
Quintilian hatte immer und immer wieder betont, nicht die
kenntnis der regeln allein mache den künstler, sondern vor allem
das eigne urteil (consilium), das taktgefühl, das die theoretischen
Vorschriften im einzelnen fall den gegebenen Verhältnissen anzu-
passen wisse ^'^; auch Erasmus erklärt (s. 300): non damnabilis
"' z. b. opp. I s. 340. ^38 s. 310. 303. 33. ^" g. 303.
*^^ ich erinnere nur an die eine stelle V 5, 11: illud dicere satis
habeo, nihil esse non modo in orando, sed in omni vita prius consilio
frustraque sine eo tradi ceteras artes usw.
382 A. Messer: Quintilian als didaktiker.
libertas, si non destituat nos consilium, cui decet ai-tem ubique
cedere; und die erörterung der frage, ob das genus Rhodiense
oder Atticum das richtige sei, lehnt er ab mit der bemerkung
(s. 300) : at Fabius existimat eum Optimum dicendi genus sequi,
qui pro re, pro loco, pro tempore, pro qualitate auditorum quam
appositissime dicit*^^ ut inepte faciant, qui dictionem ad certas leges
adstringunt.
Wie sehr aber auch Erasmus die notwendigkeit eignen denkens
und eigner tüchtiger arbeit betont, so übersieht er, ebenso wie
Quintilian*^", durchaus nicht, dasz die theoretische an Weisung, und
zwar durch einen urteilsfähigen lehrer, viele mühe und viele um-
wege erspare (s. 303). was den lehrer selbst betrifft, so wünscht
er: modo ne sit ex horum numero, qui falsa persuasione doctrinae
turgidi, magna (ut inquit Fabius [I 1,8]) confidentia stultitiam suam
perdocent, illiteratiores quam ut alios docere possint, elatiores quam
ut ab aliis doceri se patiantur.
Ein grundsatz Quintilians ist: in Omnibus fere minus valent
praecepta, quam experimenta (II 5, 16). Erasmus hat in
seinem buche diesen grundsatz durchgeführt, indem er alle ein-
zelnen gattungen durch musterbriefe vor äugen führt.
Was Erasmus in den capiteln exercitatio et imitatio , quomodo
proponendamateria, de emendando (s. 302 — 14) über das Unterrichts-
verfahren in diesem fache sagt, erinnert vielfach an die erörterung
der schriftlichen Übungen in der schrift de ratione studii und zeigt
wie jene auf schritt und tritt den einflusz Quintilians. nur einzelnes
sei hervorgehoben: der lehrer musz bei der aufgabenstellung
zunächst ausführliche anleitung geben , wie das Quintilian II c. 6
näher dargelegt hat; die correctur soll nicht erfolgen his verbis,
60 vultu, quasi discipulum oderis (vgl. Quint. II 4, 10 ff.); über-
haupt ist zu grosze strenge und vor allem die körperliche
Züchtigung verwerflich (s. 312 mit hinweis auf Quint. I 3, 14 ff.),
dagegen ist der Wetteifer zu erregen (s. 312); der lehrer soll
nicht nur stets docieren, sondern auch öfter fragen (s.311), wofür
die begründung von Quintilian (II 5, 13) entlehnt wird, so könnten
noch viele hinweise auf Quintilian aufgezeigt werden: schon durch
ihre zahl beweisen sie, wie dem Erasmus die institutio aufs innigste
vertraut und nach ihrem Inhalt gegenwärtig war.
Von der schrift christiani matrimonii institutio (1526)
verdient der letzte, von der educatio handelnde teil*^' hier eine kurze
erwähnung. die erörteruugen über zeugung, Schwangerschaft und
erste pflege des kindes schlieszen sich an Plutarch an. dieser wii'd
auch namentlich citiert, wo er rät, dasz die mutter ihr kind selbst
stillen solle. **^ mit Aristoteles, Plutarch und Quintilian scheidet er
die drei factoren: natura, ratio, usus (sive exercitatio).'*'" über die
439 Quint. XII 10, 67 ff. ^^o vgl. II 13, 16 u.
opp. V s. 590—602. ■*<2 opp. V s. 592.
443
a. a. 0.
A. Messer: Quintiliau als didaktiker. 383
zeit, wann und die art, wie die bildungsarbeit zu beginnen sei,
spricht er sich ganz wie Quintilian (I 1, 15 — 20) aus: auch die zeit
vor dem siebeuten jähr schon ausnutzen, aber spielendes lernen!
vor allem abneigung gegen die Studien verhüten!"^ wie wichtig
die eindrücke des frühen kindesalters sind und wie fest sie haften,
wird wie bei Quintilian (I 1, 5) hervorgehoben (s. 594). über die
auswahl des lehrers und paedagogus, bei der eruditio und noch weit
mehr morum integritas zu berücksichtigen ist, spricht er (s. 595)
mit unverkennbarer anlehnung an Quintilian (I 1, 8. II 2) und
Plutarch (c. 7).
In der frage, ob Schulunterricht oder häusliche Unterweisung
den Vorzug verdiene, entscheidet er sich für letztere, abweichend
von Quintilian (I 2). allerdings behandelt er diese frage nicht rein
theoretisch, sondern nur mit rücksicht auf die bestehenden schulen,
die er samt und sonders verwirft, er empfiehlt einen mittel weg:
5 oder 6 knaben zu hause zusammen unterrichten zu lassen, oder
solchen, die einer öffentlichen schule angehören, noch einen privat-
lehrer beizugeben (s. 596).
Auch die anwendung körperlicher Züchtigung verwirft er in
dieser schrift nicht so unbedingt wie Quintilian (I 3, 13 — 18): est
aetas cui virgae sunt utiles: est, cui pro virgis sufficit obiurgatio
(s. 601). freilich gedenkt er ihrer nicht gelegentlich des Schulunter-
richts , sondern bei der erziehung durch den vater.
Der Ciceronianus''^^ (1528) gehört zu den Schriften des
Erasmus, in denen sich seine ei gen art im glänzendsten lichte
zeigt: die freiheit seines geistes, die übersprudelnde, originale kraft,
die mit urkräftigem behagen über alle die geistig armen sich erhebt,
die im engsten anschlusz an abgöttisch verehrte Vorbilder mühselig
nach versagter grösze streben, dennoch darf man sagen, dasz der
grundgedanke dieser schrift: der begriff der echten nach-
ahmung, genau der ist, den Quintilian im zweiten capitel
des zehnten buches (de imitatione) entwickelt, wenn
diese ideengemeinschaft in einer schrift, die so den ureigensten geist
des Erasmus widerspiegelt, hervortritt, so beweist das, wie nahe
ihm Quintilian steht, und es schmälert den rühm des Erasmus
nicht im mindesten, dasz ein anderer dieselben gedanken anderthalb
tausend jähre vor ihm gedacht und ausgesprochen hat. er hat sie,
wenn auch mit häufigen beziehungen auf Quintilian, so doch weit
reicher ausgeführt und originell eingekleidet; und dann: auch in der
gedankenweit ist, zwar nicht alles, aber das meiste schon einmal da-
gewesen, allein im wandel der geschlechter kommt es darauf an,
dasz das, was in büchern und papier vergraben ruht, vom geiste der
nachfahren erfaszt werde und wiederbelebt wirke — vernünftige ge-
danken verlieren nicht deshalb ihren wert, weil sie nicht originell sind.
Die hauptgedanken also, die Erasmus über falsche und wahre
s. 593. "5 opp. I s. 813-862.
384 A.Messer: Quintilian als didaktiker,
nachahmuüg entwickelt, finden sich auch bei Quintilian, der dabei
zumeist auch namentlich citiert wird, nicht einer ist nachzuahmen,
sondern die besten'*^®; nicht äuszerlichkeiten sind nachzuahmen:
mit recht verspottet Quintilian die, die durch reichlichen gebrauch
des periodenschlusses esse videatur ihre Cicero-ähnlichkeit documen-
tieren wollen. ^^' die sklavischen nachahmer machen geradezu ihrem
vorbilde unehre, wie das Quintilian an den nachäffern Senecas
nachweist. ^^® die nachahmung genügt als solche gar nicht zur pro-
duction, vieles ist schlechterdings nicht nachzuahmen, nicht immer
folgen wollen musz man dem vorbilde, sondern es zu über-
treffen trachten.'*''^ endlich ist doch das apte dicere ein haupt-
vorzug des redners — virtus meo quidem iudicio maxime necessaria
nennt es Quintilian (XI 1, 2) — wie kann der, der im 16n Jahr-
hundert nach Christus genau so redet wie Cicero im ersten vor
Christus, apte dicere? so ergibt sich geradezu: res ipsa clamitat
neminem posse bene dicere nisi prudens recedat ab exemplo Cice-
ronis und: Ciceroni simillimus, qui de quacunque re optima dicit
— aus demselben geiste heraus hat Quintilian gesagt: Attice dicere
est optime dicere. '"'"
Was gehört nun zur echten nachahmung Ciceros? vor allem
dienatur und das Ingenium Ciceros; das kann man aber nur
wünschen, nicht sich durch arbeit anquälen ^^': Cicero nasci
fortassis potest aliquis, fieri nemo.^^'"^ ferner, dasz man die wesent-
lichen Vorzüge Ciceros erreicht, diese liegen aber, wie Quintilian
bemerkt , nicht in den verba und numeri , sondern in rebus ac sen-
tentiis, in ingenio consilioque.^^^
Diese erreicht aber nur der, der seine eigne Individua-
lität in seinen Schriften zum ausdruck bringt, wie Cicero es ge-
than'*^*, und der damit in lebendiger beziehung zu der gegen wart
bleibt, wie ja auch Cicero ganz in seiner gegenwart gelebt haf^'^:
ego non agnoscam Tullianum nisi qui res n ostras Ciceroniana
tractet felicitate. diese letzte Wendung mag zeigen, wie Ei'asmus
aus dem grundgedanken die consequenzen in gröszerer schärfe und
Vollständigkeit zieht als Quintilian.
"« opp. I s. 822. Quint. X 1, .39 ff.
•»" s. 826. Quint. X 2, 18. "** s. 827. Quint. X 1, 127.
4" s. 8-29. Quint. X 2, 9.
4« Quint. XII 10, 27. iihnlich vor ihm Cicero Brut, c, 84. — Hier
macht auch Erasmns ein für sein klares, objeetives urteil sehr be-
zeichnendes zugestänflnis: mirum quo supercilio Thomas, Scoti, Durand!
similiumque harbariera exsecrentur: et tamen si res vocetur ad exactum
iudicium, illi cum se nee eloquentes, nee Ciceronianos iactitent, magis
Ciceroniani sunt, quam isti qui postulant haberi non iam Ciceroniani,
sed ipsi Cicerones (s. 833). monstri simile narras, lautet die antwort
auf diese bemeikung.
"^i s. 839. Quint. X 2, 19 f. ^''^ s. 829.
"53 s. 839 und 862. Quint. X 2, 16.
"^^ s. 839. 455 s. 856..
A.Messer: Quintilian als didaktiker. 385
Auch in den anschauungen, die Erasmus gelegentlich über
den redner und den rednerischen bildungsgang verrät,
herscht vollständige Übereinstimmung mit Quintilian. der redner
musz sein ein vir bonus■'^^ die eloquentia musz sich gründen auf
eine allseitige ausbildung''^^; die theoretischen regeln sind nützlich
und wichtig, aber wichtiger ist die eigne Urteilsfähigkeit, der takt
(consilium) -^^j nur der künstler selbst vermag an den werken die
kunst nachzuweisen '^^^; die Übungsreden dürfen sich nicht von der
Wirklichkeit und dem leben entfernen''*'' u. a. erwähnt werden mag
hier auch, dasz Erasmus in dieser schrift den Quintilian als einen
geeigneteren lehrer der rhetorik bezeichnet als Cicero, auf die frage
des Nosobulus: et artem unde petes rectius quam a Cicerone? ent-
gegnet Bulephorus : fateor, nemo tradidit felicius, nemo usus est
absolutius, sed tamen accuratius i^raecepit Quintilianus, atque etiam
copiosius, qui non praecepta modo proponit, verum etiam elementa,
progressuum rationem, usum , exercitationem ponit ob oculos, non
pauca adiiciens , quae M. Tullius vel praetermisit, vel obiter attigit.
quod genus sunt de ratione concitandorum aflfectuum usw. '^'*
Im höchsten masze endlich tritt die anlehnungan Quin-
tilian hervor in der schrift: pueros ad virtutem aclitteras
liberaliter instituendos idque protinus a nativitate
(1529)."'®- wie er in dem widmungsbriefe erzählt, hat er die schrift
schon während seines aufenthalts in Italien (also vor 1510) als ein
beispiel zu dem ersten entAvurf seiner abhandlung de copia con-
cipiert. er will darin zeigen , wie man ein gegebenes thema in
gröster kürze und in aller ausführlichkeit behandeln könne, bei
einem solchen musterbeispiel für Übungsarbeiten, bei dem es am
meisten auf die form ankam, ist es erklärlich und verzeihlich,
dasz Erasmus die gedanken , an denen er seine Virtuosität in der
Variation und amplification zeigen wollte, einfach aus einem andern
Schriftsteller herübernahm, sie stehen in der that alle, zum
teil in denselben Worten, bei Quintilian I 1, 1. 15 — 20
und I 12, 8 — 11.''*^ es sind folgende: der Unterricht musz nach
dem rat des Chrysippus möglichst früh beginnen, so lange die
kindesseele noch frei ist von sorgen und fehlem, noch bildsam ein-
drücke aufnimmt und zäh festhält, der einwand, dies alter fasse
noch nicht den Unterricht und ertrage noch nicht seine beschwerde,
ist hinfällig; denn 1) der elementarunterricht nimmt lediglich das
gedächtnis in anspruch und das ist jetzt am kräftigsten; 2) wir sind
zur erkenntnis geschaffen, darum kann diese nicht früh genug be-
*=ß s. 824. 825. Quint. XII 1.
'*" s. 822. Quint. I 10.
«5 s. 841. Quint. II 13, 14. XI 2, 27. 44. XII 10, 67 u. ö.
^5^ s. 841. Quint. II 5, 7.
''*"' s. 855. Quint. II 10. «i s. 841.
«2 opp. I s. 420-444.
463 Quintilian wird übrigens in der kurzen fassung der declamatio
nicht genannt, nur in der erweiterten wird er gelegentlich citiert.
386 A. Messer: Quintilian als didaktiker.
ginnen; 3) man braucht in dem späteren alter die dinge, die man
jetzt am leichtesten lernt; 4) die sittliche bildung beginnt ja auch
schon; 5) wenn das gelernte auch wenig ist, so braucht dies wenige
doch später nicht mehr gelernt zu werden; 6) der Unterricht füllt
am besten die zeit und verhütet moralische fehler; 7) sollte er die
köi'perliche kraft etwas beeinträchtigen, so gewinnt dafür der geist:
Sorgfalt vermeidet übrigens etwaige gefahren für die gesundheit;
8) das lernen musz jetzt noch ein spiel sein; 9) das jugendliche
alter ist thatsächlich gar nicht so schwach und schon deshalb recht
leistungsfähig, weil es sich der mühe nicht bewust wird.
In der erweiterten fassung hat sich Erasmus nicht völlig
auf die allseitige beleuchtung dieser grundgedanken beschränkt; in
einer ziemlich langen einleitung (s. 421 — 30) bespricht er einige
in beziehung dazu stehende punkte, aber ebenfalls mit anlehnung an
Quintilian (und Plutarch). die erziehung und bildung verdient die
gröste Sorgfalt, sie ist das wertvollste besitztum, das wir den kindern
hinterlassen ^*\ aber es gibt eitern, die ihre kinder geradezu selbst
verderben ^^°; drei factoren kommen besonders in betracht: natura,
ratio, exercitatio. *^^
Es folgt als behandlung des eigentlichen themas die Wider-
legung der gegen den frühzeitigen beginn des Unterrichts vor-
gebrachten einwände: 1) das kind fasse ihn noch nicht; 2) es habe
noch nicht die nötige körperliche Widerstandsfähigkeit; 3) das, was
in jener frühen zeit gelernt werde, sei so gering, dasz es gar nicht
in betracht komme. ^" im zweiten abschnitt knüpft er an den ge-
danken, dasz der anfangsunterricht möglichst leicht und angenehm
gemacht werden müsse, nähere erörterungen über das Verhältnis
von lehrer und schüler und über die anwendung körperlicher Züchti-
gung, für die ihm auch Quintilian vorbildlich ist. "^^
Nicht im einklang mit Quintilian befindet er sich, wenn er
schon für die früheren Stadien des Unterrichts mit berufung auf
eigne erfahrung den grundsatz aufstellt in eam igitur partem est
adiuvanda natura, in quam suapte sponte prona est, ^"^ Quintilian
hatte ausdrücklich diesen satz , den er übrigens als allgemein ver-
breitet bezeichnet, bekämpft und eine mehr allseitige ausbildung
empfohlen, die auch die selten des geistes, die von der natur
weniger entwickelt sind, berücksichtigt; nur für die eigne pro-
duction empfiehlt er berücksichtigung der persönlichen Indivi-
dualität.^" dieser punkt mag als beleg dafür dienen, dasz Erasmus
*" s. 422—25. Plut. c. 8.
46* s. 426 mit wörtlichem anschlusz an Quint. I 2, 6—8.
466 s. 427—30. Plut. c. 4. Quint. I 2, 20. 11, 2 u. ö. in der näheren
besprechung der natura (s. 429) anlehnung an Plut. c. 2. 3.
4" s. 430—33. 4.33—42. 422—44.
^es s. 434—39. Quint. II 2 und I 3, 13—18. ^69 g, 439
4'" Quint. II 8 und X 2, 14 ff, — So stimmt er auch nicht iibereia
mit Quintilians erörterungen über den groszen wohllaut der griechischen
spräche im vergleich zu der lateinischen, er sagt über einen seiner
E. Schwabe: zur geschicMe der deutschen Horazübersetzungen. 387
auch Quintilian gegenüber seine geistige freiheit bewahrt, vieles
hat er aus ihm entlehnt , aber er hat es gethan , weil es ihm aus der
seele gesprochen war; für einzelne seiner Schriften hat er gei'adezu
die grundgedanken bei Quintilian gefunden — oder vielleicht, rich-
tiger gesagt: wiedergefunden, aber er hat sie mit der fülle seines
geistes und der Schönheit seiner spräche umkleidet, er hat sie mit
klarem urteil auf seine eigne zeit angewendet und allseitig ihi'e con-
sequenzen gezogen.
beweise geradezu: ridiculum est quod Fabius hoc argumento persuadere
conatur nos Graecis inferiores esse vocum suavitate. die stelle findet
sich in dem dialogus de recta latini graecique sermonis pronunciatione.
opp. I s. 801; vgl. Quint. XII 10, 27 ff.
(fortsetzung folgt.)
GiESZEN. August Messer.
25.
ZUR GESCHICHTE DER DEUTSCHEN HORAZ-
ÜBERSETZUNGEN.*
3. Die Dresdner Übersetzung der vier odenbüeher (von
M. Johannes Bohemus).
Die zeitlich nächste Übersetzung, die in den kreis unserer be-
trachtungen zu ziehen ist, rührt aus Dresden her und ist unter den
auspicien des damaligen Kreuzschulrectors M. Johannes Bohemus
(Boehme, amtierte 1639 — 1676) entstanden.
Über das leben und die wissenschaftliche, pädagogische und
dichterische thätigkeit dieses sächsischen schulmannes, der zugleich
kaiserlicher gekrönter poet war, ist von 0. Meltzer in diesen jahrb.
bd. 112, s. 190 — 225. 265—287 erschöpfend gehandelt worden,
von ihm erfahren wir, dasz ein anhänger und hauptvertreter der
Opitzschen richtung, der professor der eloquenz August Buchner*
zu Wittenberg, der zugleich als der 'genossene' seit 1641 dem ver-
bände der fruchtbringenden gesellschaft angehörte , auf Bohemus,
der ebenda studierte (ao. 194), groszen einflusz gewann, es gelang
ihm (ähnlich wie bei Bucholtz, der auch in Wittenberg sich für
Horaz hatte begeistern lassen) den begabten jungen schulmann an
die Opitzsche tradition zu fesseln und auf Horaz hinzuleiten.
' vgl. jahrb. bd, 154 s. 305—333. s, 545—574.
2 prof, poeseos et orator. in acad. Witeberg. * 1591, f 1661. vgl.
Palm in der allg. d, biographie III s. 485 ff. Bursian, gesch. der class.
philol. in Deutschland s. 215 anm. 1 und bes. s. 298. Cholevius, gesch.
der deutschen poesie in ihren antik, dementen I 323. Gervinus, gesch.
der deutschen dichtung III 300 ff. die litteratur bei Goedeke, grund-
risz III 'ä s, 52—54.
388 E. Sch-wabe: zur geschichte der deutschen Horazübersetzuugeu.
Im jähre 1639 wurde Bohemus als nachfolger Hausmanns an
die Kreuzschule zu Dresden als rector berufen und setzte dort bald
die in Wittenberg gewonnenen anschauungen in thatsachen um.
nach der cbursächsischen Schulordnung^ von 1580 war, allerdings
zunächst nur für die drei fürst enschulen, nicht für die sogenannten
'partikularschulen', verlangt worden, dasz auch des Horatii Odae in
der obersten classe gelesen werden sollten, begeistert stimmte der
neue rector dieser anordnung der behörde zu. der neue aufschwung
der deutschen lyrik unter Opitz hatte auch ihn mit fortgerissen,
und mit bezugnahme auf ein wort seines lehrers Buchner: quocirca
nunquam satis laudari posse statuo illos, qui Horatii libros intro-
duxerunt in scholas eorumque lectione formari potissimum foverique
adolescentum studia voluerunt. id enim sensisse ipsos arbitrandum
eum esse auctorem Horatium, qui et pulcherrimo sermonis genere
linguam instrueret et aureis praeterea monitis imbueret animura ac
induendae verae virtuti praepararet usw. machte er sich an die
schöne und dankbare aufgäbe, mit einer Schnelligkeit, die uns heute
unbegreiflich vorkommt, wurde ein ganzes odenbuch in vier wochen
bewältigt, und dem Unterricht in diesem stoffe und den gleich-
zeitigen dichterischen be.strebungen des federgewandten mannes
verdanken wir die eigentümliche Übersetzung der 'dreiszig Dresdner
Schüler', über deren wirklicher autorschaft bis jetzt ein gewisses
dunkel liegt, das sich wenigstens einigermaszen, wie wir hoffen, auf-
hellen läszt.
Über seine absiebten bei abfassung dieser Übersetzung sagt
Bohemus in der vorrede der ersten ausgäbe (A) vom jähre 1643, die
sich an den damaligen regierenden bürgermeister 'der churfürstl.
S. Haupt- vnd Residentz Vestung Dressden', den 'Ehrenvesten usw.
Herrn Elias Gentzsch, Ictum' richtet, etwa folgendes: 'Weil ich
neben andren vnterschiedliche Authores in den fürnehmsten Sprachen
vnd insonderheit die herrliche Bücher Julii Caesaris zu Ende bracht,
als habe ich meine Discipulos auch in diesem fürtrefflichen Poeten
(d. h. Horaz) in Etwas anführen wollen. — Vnd damit sie zu
weiterem Fleiss erwecket würden, hab ich das Erste Buch, nachdem
es innerhalb Vier Wochen fruchtbarlich absolvieret, nicht allein
durch andere Parodias, mehrenteils sacras^) imitiren lassen, sondern
auch etlichen Geschicktem vnd Fleissigern anbefohlen (wozu auch
vnser Herr Opitius in seinem Lob vom Ackerbaw^ eben auss diesem
Poeten Vrsach gegeben) ein oder zwo Odas in teutscbe Verse zu
besserer Vbung zu vbersetzen. Welches, weyl es den Meisten
ziemlich abgangen, vnd nur etlichen wenigen zu helffen gewesen,
hab ich so fort fahren lassen , vnd ist entlichen geschehen , das für
3 Vormbaum, evang. schulorclnun'jen I s. 230 und bes. 281.
^ dies war das hergebrachte, zahlreiche beispiele finden sich in
der bekannten Sammlung der delitiae poet. Germ. Frankfurt 1614.
5 vgl. Opitz' gedichte, herausgeg. von Triller bd. I s. 139 — 144.
Lehnert, Königsb. programm des FriedrichscoUegs 1882 s. 2.
E.Schwabe: zur geschiebte der deutscheu Horazübersetzungeu. 389
gut angesehen worden, das Erste Buch zu publiciren, füi-nehmlich,
das die Discipuli hierdurch zu mehrern Pleiss Anlass bekemen.
Hoffe, es werde usw.' ganz ähnlich äuszert er sich zehn jähre später
in der vorrede (der ausgäbe A von 1654) zum dritten buche: 'In
diesem aller Welt bekanden Poeten habe ich ferner mit meinen
Discipulis, ihn in deutsche Pöesi zu bringen, fortgefahren und damit
sie zu mehrern Fleiss , wohin alles eintzig und allein angesehen, er-
muntert würden, solche auf Begehren zu publiciren, geschehen
lassen. — Wo was geirret, oder ein und der andre Vers was harte
und genötigt zu sein scheinet, so wisse man, dass Anfahende zur
Vollkommenheit noch nicht gelanget, und dass diese art zu über-
tragen schwerer sey, als mancher glaubet, der von andern urtheilet
und weder Vrtheil noch Verstand selber davon hat.'
Wir haben es also mit einem teils pädagogischen, teils poeti-
schen unternehmen zu thun. getreu der Opitzschen Vorschrift, dasz
metrische Übersetzungen notwendig seien , weil sie am meisten den
sinn für das formale schärften (und darauf legte man damals den
höchsten wert) , leitete also Bohemus bei seiner Horazlectüre seine
Schüler vornehmlich zu eigner reproduction nach dem antiken vor-
bilde an und gieng sogar so weit, diese erzeugnisse der musa scbo-
lastica dem publicum gedruckt darzubieten, verwenden liesz er, den
Opitzschen ansichten entsprechend, lauter neue einfache metra in
reimen, bisweilen auch Alexandriner, und liesz sogar, hierin seinem
lebrer Buchner folgend, den weiteren schritt zu, dasz auch ana-
pästische masze verwendet werden durften, mit stolz erklärt er in
der vorrede zum vierten buch der zweiten ausgäbe (B) vom jähre
1656: 'Denn auff solche Masse anjetzt ein Junger Knabe denHoratium
innerhalb wenig Tagen verstehen lernen kann, da er sonst hiebevor,
sonderlich wenn er dazu noch mit dem schedlichen Diktieren^ auff-
gehalten wurde, etliche Jahr damit zubringen muste, Deme diese
Übertragung missgefällt, der mache sie besser, es soll mich zu nichts
bewegen , als zur Nachfolge, kein Werck hat weder auff eine Zeit,
noch von einer Hand seine Vollkommenheit jemals erlanget.'
Diese Übertragung der Kreuzschüler liegt uns in einer doppelten
® in seinen programmen (2 bde. gedruckt von Melchior Bergen in
Dresden 1665. 1666) spricht sich Bohemus öfters gegen diese den eigent-
lichen Unterricht erstickende weise vieler lehrer aus, vgl. Meltzer ao.
ß. 214 note 36. ja er geht sogar so weit, den anhänger dieser ver-
alteten methode als infrunitus Eruditionis vespillo zu bezeichnen, ähn-
lich in der vorrede der ausgäbe A vom zweiten odeubuch: -Noch ist
zu betauern und zu beklagen, das in vielen Schuelen das vnnötige,
sehr beschwerliche, weitläufüge vnd schädliche Diktiren also ein-
gerissen, das die Jugend so lang gehindert vnd aufifgehalten wird, da
doch dieselbe, wenn man den modum Instituendi recht verstehet vnd
gebrauchen kann, in einem Jahr mit weniger Mühe vnd weit mehrem
Nutz viel weiter, wie aus der Erfahrung bewust, angeführet vnd ge-
bracht werden kann, als durch das hochhinderliche Diktiren in fünfif
vnd mehr Jahren nicht geschehen kann', vgl. Paulsen, gesch. d. ge-
lehrten Unterrichts, bd. I* s. 547.
390 E. Schwabe: zur geschichte der deutschen Horazübersetzungen.
fassung vor: ausgäbe A in vier einzelnen heften^ mit besonderen
vorreden, herausgegeben unter dem titel: 1) Des Hochberübmten
Lateinischen Poetens Q. Horatii Flacci Erstes Buch Odarum oder
Gesänge, in teutsche Poesi vbersetzt, Dressden, Gedruckt vnd ver-
legt durch Gimel Bergens Sei. Erben. 1643. mit widmung an den
obengenannten Bürgermeister Gentzsch. 2) Des — Ander Buch —
1643. 3) Des — Drittes Buch. — Dressden, verlegts Andreas
Löffler, Vnd druckts Melchior Bergen, Im Jahr 1655. 4) Des —
Viertes Buch. — Mit Churfürstlicher Sächsischer Freyheit nicht
nachzudrucken. Dressden in Verlegung Andreas Löfflers , druckts
Melchior Bergen, Im Jahre 1655. — Und daneben finden wir B)
eine gesamtausgabe ' des hochberühmten Lateinischen Poetens
Q. Horatii Flacci Vier Bücher Odarum oder Gesänge in Teutsche
Poesie übersetzet mit Churfürstlicher S. Freyheit nicht nachzu-
drucken, Dressden. In Verlegung Andreas Löfflers. Druckts
Melchior Bergen, Anno 1656.'
Die beiden ausgaben decken sich in ihrem Inhalt keineswegs,
am meisten entfernen sich A und B im texte der ersten beiden
odenbücber von einander, aber auch die beiden letzten sind (wie
Meltzer ao. s. 281 anzunehmen scheint) keineswegs identisch, sogar
die dedicationen der einzelnen bücher^ sind an verschiedene per-
sonen gerichtet.
Der anteil der einzelnen schüler an dieser Sammelübertragung
ist nun in ausgäbe A so gekennzeichnet, dasz jeder der jugendlichen
^ diese erste ausgäbe scheint wenig Verbreitung gefunden zu haben.
vgl. ÄJeltzer ao. s. 281 note 84. die angaben bei Degen I s. 168 sind
so verworren, dasz man auf den gedanken kommen musz, dasz er weder
ausgäbe A noch B selbst gesehen hat. aus den notizen bei Ro.senheyn
bd. I s. XXII könnte man fast schlieszen, dasz noch eine dritte aus-
gäbe vorhanden gewesen wäre, zu gesicht ist mir eine solche aber
nicht gekommen. — Ein exemplar der seltenen ersten ausgäbe in der
kgl. bibliothek zu Dresden (poet. vet. lat. 1025^). diesem exemplar
ist angebunden 1) eine sonst unbekannte schrift: Die fünfF Lustigen
Brüder — Mit lustiger Feder bescinieben durch Aulandern von Hoff-
mannswalde. 1672 (Pfeiffer bei Goed. grundrisz IIP s. 267? ?). sie enthält
aus Philander v. Sittewalds gesiebten die (auch aus Grimm , märchen
nr. 23) bekannte geschichte vom vogel, maus und bratwurst. 2) Bohemi
Homeriani operis Analysis dichotomica (also nach damals allgemein
geübter methode). Dresden, Bergen 1664.
* buch I. 1643 an Elias Gentzsch. 1656 (übrigens mit fast unver-
änderter vorrede) an: 'Herrn Johann Georgen, dises hochfürstlichen
Namens dem Andern', also den damaligen kurprinzen. — Buch II. 1643
an Nikolaus Helifreich 'Churfürstl. Hoflf- vnd Justitien Rath' (datiert
vom 12 februar). 1656 (datiert vom 24 april) an Haubold von Miltitz
'hochlöbl. Ober Cousi.storii Praesidenteu' und an den hofprediger Jacob
Weller von Molsdorff. — Buch III. 1655 (datiert vom 26 dec. 1654) an
sechs verschiedene verwandte und gönner. 1656 erscheinen deren nur
noch zwei. — Buch IV. 1655 (ohne datum) den drei damaligen bürger-
meistern von Dresden. 1656 deren nur noch zwei, dafür der für den
autor gewis sehr notwendige und nützliche inspector der kurfürstl.
sächsischen bibliothek, Christian Brehme, der nebenher 'Geheimter
Kammerdiener (!) vnd vornehmer des Rahts in Dressden' war.
E.Schwabe: zur geschichte der deutschen Horazübersetzungen. 391
autoren seinen naraen und geburtsort unter die von ihm über-
tragenen öden setzte, und zwar geht dies durch alle vier odenbücher
hindurch (nicht, vpie Degen a. a. o. und Rosenheyn a. a, o. angeben,
blosz in buch III und IV, oder wie Meltzer meint, nur in buch I
und II). in der ausgäbe B von 1656 ist dagegen ein Verzeichnis
sämtlicher beteiligten vorangedruckt, ohne den einzelnen ihren an-
teil besonders zuzuweisen, es sind ihrer im ganzen 31 (die 'berüch-
tigten dreiszig Dresdner schüler' bei Obbarius s. VIII) genannt,
doch fehlen sechs namen aus der ersten ausgäbe: Mauritius Striebel
und Christoph Faber aus Dresden, Gregor Harnisch aus Scheiben-
berg, Tobias Zimmermann aus Wölffen (?) in Thüringen, David
Schmid aus Nossen und Sigismund Richter aus Radeberg, wie wir
weiter unten sehen werden, sind die Übersetzungen der vier letzt-
genannten in der ausgäbe B ausgemerzt und durch andere producta,
wahrscheinlich aus Bohemus eigner band, ersetzt worden, einen
grund dafür können wir nicht angeben, denn in dem alphabetischen
Verzeichnis seiner schüler, das Bohemus im programm von 1657
(progr. II s. 111 — 120) gibt, und in dem er aufzeichnet, wozu es
die einzelnen gebracht haben, wird wenigstens Zimmermann als
schulrector in Glucksberg (Thüringen) genannt, Mauritius Striebel
wurde pastor in Roszwein, Gregor Harnisch pastor zum 'Durren-
lintz' (?) und Christoph Faber (der einer jüngeren generation an-
gehörte) war wenigstens schon magister. wir haben es also bei
ihnen keineswegs mit lauter verunglückten existenzen zu thun, deren
sich Bohemus später hätte schämen müssen, auffällig ist, dasz zwei
der im Verzeichnis von B weggelassenen, David Schmid und Sigis-
mund Richter, die bei der abfassung der ersten ausgäbe mit 7, resp.
2 öden beteiligt waren, in der Sammlung der programme des Bohemus
nirgends vorkommen, obgleich die namen der einzelnen schüler, die
bekanntlich bei solennen redeacten reichlich auftraten oder auch
nur bei der Verteilung der strenae^ beteiligt waren, sehr häufig er-
wähnt werden.
Die übrigen Übersetzer teilen sich scharf in zwei abteilungen,
von denen die ältere hälfte die bücher I und II, die jüngere die
bücher III und IV bearbeitete, da keine abteilung in das gebiet der
andern übergreift, so werden es also die primaner der Jahrgänge
1642 und 1654 gewesen sein, die meisten von ihnen sind nur ein-
mal zu Worte gekommen; einzelne jedoch , die dem herausgeber be-
sonders wohlgelungene producte zu tage geföi'dert zu haben schienen,
sind bis zu 10 öden vertreten, so übersetzte z. b. Johann Andreas
Lucius, der spätere hofprediger zu Dresden (vgl. progr. bd. I, vorr.
8. V), ein auch sonst häufig als redner auftretender Vorkämpfer
seiner mitschüler, die öden I 1. 7. 35. 36, 37; II 1. 16. 19. ein
anderer, Fridericus Bürger (später pastor in Somsdorf), der bei
^ d. h. fingierter weihnachts- oder neujahrsg-eschenke (meist Edel-
steine), die den fautores oder angeseheneren schülervätern mit einem
darauf bezüglichen lat. epigramm überreicht zu werden pflegten.
392 E. Schwabe : zur geschichte der deutschen Horazübersetzungen.
seinem abgange 1645 nach Wittenberg als discipulus probus pius
diligens eruditus bezeichnet wird, hat noch mehr geliefert, und
etwa das gleiche quantum leisteten bei dem zweiten jahrgange 1654
die primaner Elias Conrad und Esaias Hickmann,
Jedoch, keiner von den genannten, auch wenn sie sonst von
Bohemus mit hohem lobe gepriesen werden , hat sich nur irgendwie
später als dichter einen namen gemacht. Jöcher, Adelung, Goedeke
kennen sie nicht, und doch sind manche ihrer producte, nach
historischem maszstabe gemessen, auch nicht schlechter als viele
gedichte des 17d Jahrhunderts, die heute noch allbekannt sind, und
das musz auffallen, schon Meltzer ao. s. 282 hat daraufhingewiesen,
dasz es ein sehr bedenkliches experiment gewesen wäre, mit den
dichterischen produeten von schülern auf den öffentlichen markt zu
treten ; zumal da es sich (wie Bohemus selbst meinte , da er die
arbeiten Bucholtzens nicht kannte) um die erste Übertragung des
Horaz ins deutsche handelte, und so musz man denn auf die schon
von Meltzer ausgesprochene Vermutung kommen, dasz der anteil des
Bohemus an dieser Übersetzung gleich von anfang an ziemlich be-
deutend war, und wenngleich sein name auf den titelblättern als
autor fehlt, werden wir ihn wohl nicht mit unrecht als den Ur-
heber der ganzen Übersetzung wenigstens in ihrer anläge anzusehen
haben : ja es ist sogar wahrscheinlich , dasz auch der text der Über-
setzung zum guten teil von ihm herrührt.
Dasz schon seine Zeitgenossen solches annahmen, beweist ein
cpigramm des damaligen oberhofpredigers David Hoe von Hohenegg,
das der ausgäbe von 1643 vorgedruckt ist, und das Bohemus in der
andern ausgäbe wiederholen liesz:
Non est cuiusvis trausferie poemata Flacci:
Tu potes artificem teque, Boheme, probas.
Testatur specimen, quod iam prodiie iubetur:
Completum fac sis mox videatur opus!
unterzeichnet: auTOCXebiUJC (d. h. nach damaliger redeweise: aus
dem Stegreif) D. Hoe. ähnliches sagt Jacob Weller und ebenso
spricht sich der Freiberger Superintendent Sebastian Gottfried Starck
aus (vorrede zum vierten buch der ausgäbe A):
Quantae molis erat Veneres didicisse Latinas
Pindarum et ad Flacci concinuisse chelyn,
Tantae molis erit Germanos discere flores
Flaccum atque ad numeros ire, Boheme, tuos.
und auf eine solche, von Bohemus wenigstens zu erwartende, leistung
scheint hinzuweisen die mahnung, die sein alter lehrer Buchner an
ihn richtete (vorrede zu buch 11 in ausgäbe A) :
Qui Latio non eloquio patrii oris honorem
Copulat, ille, Boheme, mihi
Nee doctus satis et parum disertus.
das interessanteste beweisstück aber (das leider zu lang ist, um ver-
öffentlicht zu werden: scheint auch sonst unbekannt) ist das 'dem
Mag. Johann Böhmen, keyserlich gekrönten Poeten und in der Kur-
E. Schwabe: zur geschiohte der deutschen Horazübersetzungen. 393
fürstlichen Residentz Stadt Dx'esden Wolverdienten Rektorem, als
derselbe die allernutzbarste Bücher, des fürtreflichen Lyrischen
Poeten, Q. Horatii Flacci in unsere adele teutsche Haubt- und
Muttersprache versetzete gewidmete 'Ehrenlied', aus wohlmeinendem
teutschen Hertzen und Gemühte Abgesungen von Johann Rist,
Zwantzig-Jährigem Prediger zu Wedel an der Elbe.' es ist dies der
aus unserm gesangbuch wohlbekannte geistliche poet, der seit 1633
zu Wedel in Holstein pfarrer war (demnach ist unser gedieht auf
1653 zu datieren), vgl. Goedeke, grundrisz III'^ s. 79 ff. deutsche
nationallitt. bd. 27 s. 380 ff. (ed. Oesterlej).
Es bedarf weiterer beweise, die sich leicht herbeischaffen lieszen,
da der 'keyserlich gekrönte Poet' freigebig die ihm gewidmeten an-
erkennungsgedichte mit abdruckt, wohl kaum, denn dasz sich die
Sache so verhält, wie wir vermuteten, läszt sich auch anderweit
wahrscheinlich machen.
Wenn man nämlich die erste ausgäbe (A) der ersten beiden
odenbücher mit der zweiten vergleicht, so ergibt sich eine fast
überall grundstürzende Umarbeitung, ganz neu geformt erscheinen
I 8. 10. 19. 31. 34; II 5. 8. 18 (früher von D. Schmid); I 11. 33
(früher von S. Richter); I 15. 16; II 8 (früher von T. Zimmer-
mann); I 30; II 9 (früher von M. Striebel). die kurzen gereimten
inhaltsangaben sind durchgängig geändert, die einzelnen gedichte
sind stark überarbeitet, so dasz bisweilen sogar ganz andere strophen-
formen angewendet worden sind, nur in wenigen fällen ist es so,
dasz man das ursprüngliche in der retouchierung nach wieder-
erkennt, ganz selten aber ist etwas ohne alle Veränderung stehen
geblieben, da man nun nicht wohl annehmen kann , dasz die be-
treffenden autoren 14 jähre nach ihrem abgange von der schule ihre
poetischen Jugendsünden wieder vorgenommen haben (schon aus
localen gründen ist das unwahrscheinlich) , so haben wir es in den
ganz umgearbeiteten, resp. neu gedichteten Übersetzungen von
buch I. II der ausgäbe B mit einem product der ßöhmeschen muse
zu thun, und danach ist das urteil über sie abzumessen.
Weit anders steht es mit der zweiten hälfte (buch III. IV). im
dritten buche finden sich gröszere Veränderungen in B nur in ode 4.
11. 19. 27. 29. sonst sind nur einzelne Wörter und ausdrücke um-
gesetzt worden, im vierten buche sind die Veränderungen ganz un-
bedeutend, ein starkes stück freilich ist es, dasz Bohemus in seiner
Verehrung für Opitz so weit geht, dasz er (nb. ohne irgend wie
und wo dies kenntlich zu machen) diesem die Übersetzung von
III 30 wörtlich entlehnt, wie der text bei Triller, bd. II s. 418,
Lehnerdt, progr. des Königsberger Friedrichscollegs 1882, s. 7 lehrt.
Wenn wir also von diesen Schülerübertragungen ein klares bild
gewinnen wollen, müssen wir von der betrachtung der letzten beiden
odenbücher ausgehen, da in ihnen, wenigstens scheinbar, noch mehr
eignes steckt als in den ersten beiden, im tone unterscheiden sich
die beiden Schülergenerationen kaum von einander, und deshalb
N.jahrb.f.phil.u.päd. Il.abt. 1897 hft.S. 26
394 E. Schwabe: zur geschiebte der deutschen Horazübersetzungen.
kann man sie auch mit einander beurteilen, bei aller nachsieht für
das jugendliche alter der Übersetzer und bei berücksichtigung des
hier allein richtigen und lediglich anzuwendenden historischen
maszstabes bleibt es doch bei dem urteil von Rosenheyn (ao. bd. I
s. XXIII). 'der wert dieser Übersetzungen ist unbedeutend: sie
stehen den Bucholtzschen nach', d. h. sie teilen in reichem masze
die an diesem gerügten fehler, ohne seine Vorzüge zu erreichen,
sie sind breit, platt und wirken trotz manigfacher rhytbmen und
verhältnismäszig leidlicher vers- und reimtechnik ermüdend, um
den ungeschmack, den sie mit ihrer ganzen zeit teilen, zu discredi-
tieren, brauchte man nur das unbeholfene gestammel herzusetzen,
mit dem der Dresdner schüler dem Horaz'° sein Donec gratus eram
tibi nachstümpert, aber es ist wohl kaum billig, gerade die schönste
perle der Horazschen lyrik herauszulesen, um die weltenweite ent-
fernung zwischen dichter und Übersetzer darzulegen, als beispiel
sei ein weniger bedeutendes gedieht gewählt, die ode III 20 non
vides, quanto moveas periclo | Pyrrhe, Gaetulae catulos leaenae?
dessen Übertragung dem Elias Conrad entstammt, den, wenn wir
nach der menge der erzeugnisse abmessen dürfen, Bohemus für einen
der glücklichsten Übersetzer hielt.
An den Pyrrhus.
Mit was Gefahr du nimmst den Löwen ihre Jungen
Mit solcher wird Nearch von seiner Braut vertrungen.
Weist Du, wie die Löwen schnauben.
Wenn Du wilt die Jungen rauben
Vnd was für Gefahr drauff steht?
Bälde wirst Du gar aussreissen,
Pyrrhe, von dem Kampf vnd Baissen,
Wie ein feiger Rjiuber geht.
Wenn sie durch den dicken Hauffen
Junger Bursche schnell wird lauffen
Auss ergrimmter Liebsbegier,
Ihren Liebsten zu erlangen,
Da wird sich ein Streit anfangen
Ob er Dir bleyb oder ihr?
Vnd indem Du raussgezogen
Deine schnelle Pfeyl vnd Bogen
Sie die grimmen Zähne wetzt.
Vnd man sagt, dass dieses Kriegen
Auch, wer drinnen sollte siegen,
Sey in seine Macht gesetzt.
Vnd dass er in kühlen Winden
Wolle jetzt Erquickung finden
Indem sein gepudert Haar
Ihme auf die Schulter hange
Vnd er wie der Nireus prange
Vnd wie Ganymedes war.
"> charakteristische Sammlung von allerhand Übersetzungen dieses
gedichts bei Rosenheyn I s. 227—239. die beste von E. von Kleist (vgl.
auch: gedichte vom Verfasser des frühlings. Berlin, Voss, 1756, s. 144).
E. Schwabe: zur geschichte der deutschen Horazübersetzungeu. 395
die pointe des ganzen Gedichtes liegt bekanntlich darin, dasz, wäh-
rend Pyrrhus und das liebende mädchen um den holden knaben
Nearchus streiten, dieser, ohne auf sie zu achten, den fusz auf den
palmenzweig gesetzt hat, den er dem sieger überreichen soll, und
sich gleichgültig kühlung zufächelt, es dürfte schwer sein, dies aus
dem gedieht des Elias Conrad herauszulesen , und man kann sich
kaum des gedankens entschlagen, dasz der Übersetzer in Wirklichkeit
seinen autor nicht so recht verstand, sonst ist die form ziemlich be-
friedigend : die Übertragung entbehrt der lästigen zusätze, mit denen
Bucholtz so oft seine Übersetzungen verunzierte, und ist in der vers-
technik, wie bei der Opitzschen Schulung auch nicht anders zu er-
warten steht, sorgfältig, der ausdruck freilich ist unbeholfen und
wenig gewählt , und das 'gepudert Haar' ein störender anachronis-
mus. das gleiche geht auch durch alle die andern gedichte hindurch,
schwere Übersetzungsfehler sind, da Bobemus ein gelehrter schul-
mann war, natürlich vermieden, aber häufig hat man das gefühl, als
wenn der autor nur tastend nach dem sinn des ganzen hasche,
selten ist ein gedieht so geformt, dasz man es, ohne das original zu
hilfe zu nehmen, ohne weiteres verstehen könnte, bei den Römer-
oden mit ihrem zusammengedrängten Inhalt wird man das ent-
schuldigen und begreiflich finden , aber bei den der jugend so nahe
liegenden liebes- und trinkliedern erkennt man die ohnmacht. dazu
kommt breite im ausdruck, unangemessenheit der Strophenformen
und nicht seltene geschmacklosigkeiten und anachronismen. " auch
die spräche ist nicht tadellos, formen wie: nichtes (IV 8) täubelein
(IV 4) , abe, adeler, redener, die dem rhythmus ihre misgestalt ver-
danken, sind nicht selten, lyr (IV 3) und hier müssen sich reimen,
daneben finden sich auch eigenheiten des Meisznischen dialektes*^
und altertümliche formen.'^ dasz der ausdruck oft zu matt ist, läszt
" z. b. IV 12
In des Galba frischem Keller
Von dem besten Muskateller
und ebenda (nardi parvus onyx eliciet cadum)
Von der besten Art Zibeth^
Den der Ruch sehr hoch erhöbt.
^2 freilich nicht in dem sinne, wie E. Lange in diesen jahrb. 152
s. 139 ff. wollte; dieser meinte, man erkenne den sächsischen Ursprung
der Übersetzung in der Verwechslung von Tenuis und Media (pusch,
prausen, pUtz). derartige Schreibungen sind aber bekanntlich gemein-
gut der Orthographie des 17n Jahrhunderts, z. b. bei Opitz passim.
aber bestimmte indicien sind z. b. III 4. Pirithus steht dort und
krechset (reimt sich auf wachset: mundartl. krexen), III 29 duppelt
(mundartl. ausspräche), umb (mundartl. um) reimt sich III 4 auf Grimm,
scheinen mit bloszem infinitiv I 2, 25 (ohne zu, wie brauchen in
Oberlausitzer mundart), gezuschel I 9, erniemen (= praedicare)
I 12, vgl. beniemt (= appellatus). erbrembsen (= quatere) I 16, 5.
forberg (:= pracdium, Vorwerk) I 17 u. a. m.
*^ der wolck III 1. der sud (südwind) I 3. III 3. ziegel (habenae)
ib. scheussen ib. und sonst sehr häufig, heint 17. III 8 (mundartl.
hinte = heute nacht): eingetrungen (für eingedrängt) III 15 und auch
26*
396 E. Schwabe: zur geschiebte der deutschen Horazübersetzungen.
sich bei der breite der Übersetzung von vorn berein annehmen, bis-
weilen ist er aber auch zu stark; z. b. ut mater iuvenem — votis
ominibusque et precibus voeat, und
Wie seuffzet, wie wartet, wie traget Verlangen
Die Mutter, dasz ihr Sohn mög kommen gegangen
Wie nach ihm sie rufifet, sie winselt vnd fleht usw.
ein ähnlicher fall findet sich III 25 :
Audiat Lyde scelus atque notas
virginum poenas et inane lymphae
dolium fundo pereuntis imo
und
Lyde mag nun auch bedencken
Dieser Sünde Strafif' vnd Pein,
Wie sie in das Fass hinein,
Welches ohne Boden, müssen
Ohn' Auffhören Wasser giessen.
die letzten drei zeilen sind übrigens in der ausgäbe B folgender-
maszen abgeändert:
Wie sie müssen spat vnd frühe
Mit dem durchgebohrten Siebe
Wasser schöpfen ohne Liebe.
Die änderung stammt, wenn unsere oben (s. 393) gemachte
annähme richtig ist, von Bohemus selbst her und wirft kein günstiges
licht auf ihn, da er zwei überflüssige zusätze macht und die bilder
von fasz und sieb ohne jeden grund mit einander vertauscht, auch
sonstige änderungen Böhmes sind nicht glücklich, doch lohnt es
nicht dies mit beispielen zu erhärten, überhaupt macht die ganze
ausgäbe B , die offenbar zu einem bestimmten termine (wahrschein-
lich der thronbesteigung Johann Georgs II, dem das buch gewidmet
war, und die im j. 1656 erfolgte) hatte fei'tig werden müssen, mit
ihren vielen versehen und den weit zahlreicheren druckfehlern (als
in A), den eindruck einer etwas überhasteten arbeit, daraus erklärt
sich auch, dasz Bohemus, wenn es sich wirklich um schülerleistungen
handelt, eine menge dinge hat durchgehen lassen, die Schiefheiten
des ausdrucks enthalten und den schlusz nahe legen, dasz wir es mit
mangel an Verständnis zu thun haben, man vgl. z. b. III 21, 13:
tu (seil, vinum) lene tormentum ingenio admoves
plerumque duro , tu sapientium
curas et arcanum iocoso
consilium retegis Lyaeo.
zu welcher strophe Bohemus anstandslos folgende Übertragung
passieren läszt:
Du bist dem, der sonst verschwiegen,
Eine sanffte Marterbanck,
Offenbarest manchen Eanck (!)
sonst, mit grüner rosmari (fem.) III 23 zu-schmeissen, -reissen
(für zer-) III 24. lauchte (leuchtete) III 26. III 29. der eckel-
machen menge (für ekelerregend), trüge IV 9 (für trug), gediegen
IV 4 (für gediehen), das armut III 16. geheyen 16 (= warten), die
bursch (fem. sing.) I 7 u. a. m.
E. Schwabe: zur geschichte der deutschen Horazübersetzungen. 397
Dinge, so niemand thut rügen,
Vnd der Weisen klugen Raht
Offt Wein offenbaret hat.
das durfte ein rector der Kreuzschule, wenn er richtig zusah, un-
möglich durchgehen lassen, und beispiele für alle die gerügten
fehler, die sich aufzuzählen nicht lohnt, sind nicht etwa selten, son-
dern finden sich auf jeder seite. man kann auch das nicht für
Bohemus als entschuldigung anführen wollen, dasz er blosz aus Zeit-
mangel nicht dazu gekommen sei, das auszumerzen, was auszumerzen
war. denn es fehlte ihm selbst an poetischem gefühl und feinerem
formensinn, und vor allem an dem fleisz, den keine mühe bleichet,
dafür war ihm eigen ein naives vertrauen auf die eigne reimkunst,
gepaart mit einem bedauerlichen, oft sehr komischen mangel an
geschmack.
Dasz dieses urteil nicht ungerecht ist, erweist sich aus der ver-
gleichung der Übersetzung von buch I. II in den ausgaben A und B.
I)enn, wenn wir oben richtig geschlossen haben (s. 393), haben
wir in B zum guten teil des Bohemus eigne arbeit zu sehen , ganz
und gar aber dort, wo er die Übersetzungen von D. Schmid und ge-
nossen ausgemerzt hat. die schon früher vorhandenen fehler sind
stehen geblieben, so z. b. I 17, 18 fide Teia
in A:
Mit des von Theios Spiel
inB:
AufF Teius (!) Saitenspiel.
I 31, 4 kehrt aus A in B die insel Sardina wieder usw. ebenso der
anachronismus aus I 1 :
in A:
die starken Heerposaunen
Der Stücken trübe Gluth, vnd Donner der Carthaunen.
in B:
Er freut sich ob dem Schall der hellen heerposaunen
der Stücken Gluth, der Plitz vnd Donner der Carthaunen.
Bohemus hat offenbar das bestreben gehabt, die Übersetzung von
1643, die an auslassungen litt, zu vervollständigen; z. b. I 19 mater
saeva cupidinum lautet in A :
Mich bezwingt als ihren Sklaven
Venus, mich Cupido bind.
Auch der Mutter Semeis Kind
Treibt mich in den Liebeshafen:
Hafen, so zuvor mein Sinn
In den Wind geschlagen hin. (von D. Schmid.)
dies wird von Bohemus, um das ausgelassene lasciva licentia nach-
zuholen, in folgende ungestalt umgeformt:
Mich die Mutter schwerer Sclimertzen
Heisset vnd des Bacchus Zwang,
Auch der geile Müssiggang (!),
Wieder meinen Muht auffs Hertzen
Eichten, der ich gute Nacht
Gab der Lieb, sie nicht mehr achtt.
398 E. Schwabe: zur geschiclite der deutschen Horazübersetzungen,
In seinen Zusätzen kannte Bohemus kein masz. ode I 1 waren
in A 13 vierzeilige Alexandriner, in B sind es 24! — I 18 nullam,
Vare, saci*a (im ganzen 16 verse) sind in A 9, in B 11 sechszeiler,
und so fast überall, wäre nun damit gröszere Sauberkeit und ge-
schmackvollerer ausdruck erlangt, so liesze man sich das, trotz der
ermüdenden breite, noch gefallen, aber bei einer genaueren ver-
gleichung der Schülerübertragung mit des Bohemus eignen zuthaten
und abänderungen ergibt sich, dasz die letzteren durchaus geringeren
wert haben als die erste fassung, und dasz in ihnen an stelle einer
Verbesserung oft nur eine vergröberung getreten ist. wir beschränken
unsere beispiele auf das erste buch , schon darum , weil sich so auch
eine vergleichung mit der Bucholtzschen Übertragung ermöglicht,
so heiszt es z. b. von Glycera I 5, 4 (vgl. jahrb. bd. 154 s. 327) :
Cui flavam religas comam Simplex munditiis.
der Schüler (Friedrich Bürger) übersetzte:
Wem zu Gefallen nun zierst Du der Haare Gold
Und stellst Dich als wärst Du der stillen Einfalt hold?
Bohemus bessert:
Wem zu Gefallen butzst Du Dein goldgelbes Haar
Und stellest Dich doch sonst, als wärst Du simpel gar.
also, wenn nicht gar falsch, so doch mindestens schief, ebd. v. 12
miseri, quibus Intemptata nites.
der Schüler schreibt:
Der seheint vnselig mir,
Dem du, noch unerkandt, kömmst fromm vnd lieblich für.
Bohemus setzt dafür ein:
Der kommt mir elend für
Dem du getreue scheinst vnd fromm, du freches Thier!
Ein bei der erwähnung '^ von Bohemus dichterischen thaten
öfters verwendetes ciiat, die Übersetzung von I 13, 9 uror seu tibi
candidos Turparunt umeros immodicae mero Rixae usw. lautet:
Ich zerspringe, wenn beim Trinckeu
Dir der grämsche Telephus
Gar vnhöfflich darf zuwincken
Zancket sich, macht Dir Verdruss
Oder wenn der grobe KnoU
Dich ins Maul beisst als wie toll.
aber die grenzenlose geschmacklosigkeit kommt nicht auf rechnung
der 'berüchtigten dreiszig Dresdner schüler', wie Obbarius ao. will,
sondern gehört dem Bohemus selbst an, wenngleich jene selbst
nicht viel besser in A sagen:
Oder wenn der tolle Hund.
Dich gebissen in den Mund.
Wahre cabinettsstücke von geschmacklosigkeit liefert die von
Bohemus für die Zimmermannsche arbeit (vgl. s. 397) eingesetzte
Übertragung der 15n ode. so z. b. v. 13
'* Cholevius ao. Obbarius, Horazübersetznng s. VIII.
E. Schwabe: zur geschichte der deutschen Horazübersetzungen. 399
Nequiquam Veneris praesidio ferox
Pectes caesariem . . .
in der ausgäbe A :
Recht verj^eblich wirst Du setzen
Deines Hauptes Überzug
In der Hoheit stoltzen Schmuck.
also auch geringwertig, aber glänzend neben des Bohemus:
Wie vergeblich wirst Du butzen
Dann dein gelbes Haar nach Kunst,
Trotzende auf Venus Gunst
Und auf Alamode- Stutzen (!)
ebenso v. 19
Tarnen heu serus adulteros
Crines pulvere collines (sc. Paris).
in A ziemlich frei, aber leidlich im tone getroffen
Ob du gleich dein Haar wirst schmücken,
Wirst Du doch im Koth ersticken.
bei Bohemus aber:
Da wird, wenn er (sc. Ajax) Dich wird kriegen.
Dein Baruck (!) im Staube liegen.
ebd. V. 26
Merionen tu quoque
Nosces. ecce furit te reperire atrox
Tydides melior patre.
in A heiszt es wiederum leidlich gut und genau :
Merion wird Dich nicht schonen,
Diomedes wird Dir lohnen.
in B wiederum gröber und mit garstigem anachronismus:
Du wirst kennen lernen hier
Merion, der kein Quartier
Gib et (!). Schawe, wie durchreisset
Diomedes, tobet, schmeisset.
dieselbe roheit und geschmacklosigkeit bethätigt Bohemus bei dem
zarten I 23, 12 tempestiva sequi viro, was sein schiiler übersetzte
Endlich lass die Mutter doch,
Reiff zum süssen Liebesjoch.
er aber gibt es so deutlich , dasz man es mit bänden greifen kann
Lass die Mutter stehen an
Du bist reiff genug zum Mann (vgl. jahrb. 154 s. 331).
Die beispiele lieszen lieh leicht vermehren, zum teil sogar mit
solchen, die unsere äugen nicht mehr vertragen wollen, doch genug
davon ! denn es handelt sich um die geschichte der deutschen Horaz-
übersetzungen und nicht der curiositäten des 17n Jahrhunderts,
neben diesen monstren von roher geschmacklosigkeit verschwindet
alles andere, was etwa noch zu gunsten dieser arbeit vorgebracht
werden könnte, die reinliche verstechnik, das ziemlich gute deutsch
und die verhältnismäszig geringe zahl von fehlem, es bewährt sich
an Bohemus wiederum die alte schon dem Anakreon bekannte Wahr-
heit, dasz lyrische poesie nichts für die tage des alters ist, und dasz
400 C. Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen.
die verrostete leier nur dissonanzen gibt, dasz freilich die mistöne
so schrill sind und dasz sich solches dunkel über die Böhmesche
dichtkunst ausgebreitet hat, ist nicht seine schuld allein (und das
mag ihm zur entschuldigung dienen) sondern es sind die breiten
schatten , die die zweite schlesische dichterschule vor sich her wirft,
es ist charakteristisch, dasz für die nächsten fünfzig jähre sich keine
einzige metrische Übertragung des Horaz ins deutsche findet, nur
ein paar prosabearbeitungen, die zum teil für schukwecke bestimmt
waren, sind zu unserer kenntnis gekommen, erst, nachdem der
bombast und die schwülstigkeit von HoflPraann v. Hoffmannswaldau
und Lohenstein wieder überwunden waren, ertönten des Yenusiners
weisen wieder in deutschen klängen.
Von der mitteilung von proben sehen wir ab, da die zweite
bearbeitung (B), im gegensatz zu den Bucholtzschen arbeiten, sich
häufiger findet und verhältnismäszig leicht erreichbar ist.
Meiszen. Ernst Schwabe.
(18.)
EIN VERSUCH DIE LEHRE VOM GEBRAUCH DER ZEIT-
FORMEN, BESONDERS IM FRANZÖSISCHEN, ZU VER-
VOLLSTÄNDIGEN, ZU BERICHTIGEN UND AUF IHREN
GRUND ZURÜCKZUFÜHREN.
(fortsetzung.)
D. Von welchem Standpunkt man in jedem ein-
zelnen fall die frage zu beantworten hat, ob etwas an-
fieng und vollendet ward oder schon und noch in seiner
mittleren dauer begriffen war, sowie das imparfait von
dire, raconter, r6pondre, 6crire, stipuler und porter.
die angeführten beispiele haben wohl zur genüge gezeigt, dasz man
beim imparfait und d6fini nicht zu fragen hat, ob etwas an sich,
sondern ob es zu der zeit, in die man den leser versetzt hat, an-
fieng und vollendet ward oder schon und noch in der mittleren
dauer begrififen war. die beantwortung dieser frage ist aber nicht
immer so leicht, wie sie aussieht, wenigstens für die schüler; man
musz sie ihnen an einer unmasse von Sätzen, bei jedem von neuem,
ohne scheu vor Wiederholung (repetitio est mater studiorum) klar
machen, oder vielmehr, nachdem man es ihnen vorgemacht hat, sich
selber klar machen lassen, darf ich mir erlauben*', an einigen Sätzen
aus der an unserer schule gebrauchten Plötzschen graramatik zu
zeigen, in welcher weise dies geschehen kann?
^^ ich erlaube es mir, weil einige meiner schüler, die selber lehrer
geworden, mir gesagt, dasz auch sie die von mir befolgte methode bei
ihren schülern mit besonderem erfolg anwenden.
C. Humbert: die lehre vom gebrauch der zeitformeu. 401
'Charlemagne et les Saxons. le roi P6pin mourut en 768.
Cbarlemagne, son fils, lui succ6da; il etait fort de corps et grand
d'esprit, il avait une activite surprenaiite qui embrassait aussi
bien les affaires politiques d'un grand empire que les details de son
manage, tous les jours on lui faisait parvenir des rapports des
differentes parties de son royaume; les ordres necessaires 6taient
ensuite exp6dies sur tous les points. ce prince s out int pendant
plus de trente ans une guerre avec les Saxons, qui faisaient des
incursions continuelles dans le pays des Francs, eette puissante
tribu germanique persistait a rester dans le paganisme. la guerre
commen9a en 772. Charles entra dans leur pays, les battit ä
plusieurs rej^rises et d6truisit leur principal sanctuaire. il les
for9a ainsi ä la paix et exigea des otages. mais pendant que
Charles, en 774, d6truisait le royaume des Lombards dans la
Haute-Italie, les Saxons se r6voltörent et p 6n6trörent de nou-
veau dans son territoire.
Nach seiner rückkehr aus Italien im jähre 775 unternahm Karl
seinen zweiten zug gegen die Sachsen, er überschritt den Rhein,
zerstörte die festung (de) Sigiburg, gieng über die Weser und unter-
warf den grösteu teil der Sachsen , welche an dem rechten und dem
linken ufer (la rive droite et la rive gauche) dieses flusses wohnten,
aber bald riefen neue Unruhen den könig nach Italien, während er
dort war, empörten sich die Sachsen von neuem unter ihrem an-
führer Wittekind, im jähre 776 muste Karl seinen dritten feldzug
gegen sie unternehmen, er drang zum zweiten mal bis an die Weser
vor, im folgenden frühjahr hielt er bei Paderborn das erste maifeld
auf dem gebiete der Sachsen, viele sächsische edle erschienen in
dieser Versammlung und lieszen sich taufen, allein ihr erster an-
führer Wittekind kam nicht; er hatte sich zu dem könige der Dänen
zurückgezogen , welcher ihm einen Zufluchtsort in seinem lande ge-
währte, bald benutzte dieser unerschrockene Verteidiger der frei-
heiten seines Stammes die abwesenheit Karls, welcher in Spanien
war, und erregte neue aufstände, im folgenden jähre muste Karl
noch mehrere züge gegen die Sachsen unternehmen, wütend über
(de) diese fortwährenden aufstände, liesz der könig im jähre 782
fünftausend vierhundert Sachsen an der Aller hinrichten, diese
grausamkeit hatte nicht den erfolg, welchen er davon erwartete, im
gegenteil veranlaszte sie einen neuen furchtbaren kämpf, welcher
drei jähre dauerte, endlich im jähre 786 unterwarf sich Wittekind
und empfieng die heilige taufe. Karl, welcher seine tapferkeit ehrte,
gab ihm das herzogtum (de) Sachsen als leben der fränkischen könige.'
Vorher noch eine, für den schüler unentbehrliche bemerkung.
den ersten satz einer erzählung musz er ganz besonders beachten,
entweder faszt dieser das ganze mit anfangs- und endpunkt, wie aus
der Vogelschau, in einen punkt zusammen, z. b.: 'im jähre 1835®'
"* die Jahreszahl g^ibt hier den Zeitpunkt an von dem wir das
folgende betrachten sollen, sie vertritt einen satz wie: e'e'tait en 1835
402 C. Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen.
trug sich an der küste von Spitzbergen ein merkwürdiges ereignis
zu', dann steht das defini; oder er führt schon in die geschichte
selbst ein, und in diesem fall sagt er uns entweder gleich etwas,
das geschah, d. h. anfieng und zu ende geführt ward, wie: 'vier
norwegische matrosen wurden im jähre 1835 an der küste von
Spitzbergen ans land geschickt, um die bucht zu erforschen, in
welcher ihr schiff vor anker lag'; dann gleichfalls ein d6fini; oder
etwas , das schon in seiner mittleren dauer begriffen war, als etwas
anderes zu geschehen anfieng und wirklich geschah , z. b. : 'ein nor-
wegisches schiff lag in einer bucht Spitzbergens vor anker und, um
sie zu erforschen, wurden vier matrosen ans land geschickt', dann
musz natürlich das erste im imparfait^^, das zweite im pass6 döfini
stehen, will man aber sagen, dasz auch das 'ans-land-schicken' erst
in irgend welcher weise angefangen oder vorbereitet worden war,
als ein drittes anfieng und zu ende geführt ward, so kommt ei'st
dies letzte ins d6fini. in jedem einzelnen fall fragt es sich, mit wel-
chem Satz die eigentliche geschichte beginnen soll, aus ereig-
nissen, die in ihrer mittleren dauer begriffen waren und blieben,
läszt sich keine geschichte aufbauen, dies ist der, soviel ich weisz,
noch von keinem angegebene vernünftige grund für die, einem
jeden bekannte mechanische regel, dasz die hauptereignisse einer
erzählung im d6fini oder perfectum historicum stehen; ich sage nicht
'die ereignisse überhaupt', denn nebenumstände, die, nach der
andern ebenso bekannten und ebenso mechanischen regel im impar-
fait stehen müssen, können ebenso gut ereignisse sein; auch sage
ich nicht 'die hauptereignisse überhaupt', sondern die haupt-
ereignisse einer erzählung, die für diese erzählung selbst wichtig-
sten ; dies aber sind ohne rücksicht auf ihre sonstige Wichtigkeit
nur solche, die wirklich zum abschlusz gelangten, und so setzt man
denn auch gleich beim beginn diejenige thatsache, mit der das eigent-
liche geschehen erst beginnen soll, die erste, von der man sagen will,
dasz sie anfieng und ausgeführt ward, ins perfectum historicum oder
pass6 d6fini, und jedes vorher gehende imparfait, das uns mitteilt,
was schon und noch in seiner mittleren dauer begriffen war, er-
scheint dem gefühl nur als bestimmung des punktes , auf dem wir
festen fusz fassen sollen, und weckt in uns das verlangen nach einem
defini, das uns berichte, was denn zu der zeit eigentlich zu geschehen
anfieng und auch wirklich geschah, d.h. zu ende geführt ward.
Die frage nach der relativen Wichtigkeit jedes besonderen
ereignisses, wie während des ganzen Verlaufs, so auch am beginn
sur la cote de Spitzberg, der gegebene punkt braucht aber an sich
kein bestimmter zu sein; auch un jour würde genügen, wie in den
märchen.
'''^ hier wird jede Jahreszahl usw. überflüssig, der satz mit dem
imparfait gibt selbst den festen punkt an, von dem man das hinaus-
schicken zu betrachten hat und dieser feste punkt war wie gewöhn-
lich schon und noch in seiner mittleren dauer (daher iniparf.), als das
eigentliche ereignis anfieng.
C. Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen. 403
einer erzäblung, läszt sich nun manchmal verschieden beantworten
und dann musz man es dem gefühl eines jeden überlassen , v^elches
verbum er zuerst ins defini setzen will; z. b. in folgenden Sätzen
über die entdeckung Amerikas.
'Während die Portugiesen Indien zu erreichen suchten, indem
sie ihre entdeckungen an den küsten Afrikas fortsetzten, glaubte
der Genuese Christoph Columbus, dasz man nach diesem lande ge-
langen würde, wenn man nach westen zu schiffte, zuerst machte
er seinem Vaterland vorschlage, aber er sah sich zurückgewiesen.'
dasz 'machte . . .' im defini stehen musz, ist zweifellos; 'glaubte'
aber, bei dem Plötz das imparfait vorschi'eibt, liesze sich, seiner
Wichtigkeit wegen, und zugleich wegen seines Verhält-
nisses zu dem vorhergehenden, auch schon als ein solches
vorwärtstreibendes ereignis auffassen. Columbus fieng an zu glauben
und glaubte wirklich; dieser glaube erscheint selbst als etwas neues,
und mit diesem festen glauben fieng die ganze entdeckung an.
Bei den später folgenden hauptäätzen fragt man einfach nach
ihrem zeitlichen Verhältnis zu dem vorhergehenden hauptsatz, und
bei den nebensätzen nach ihrem Verhältnis zu dem hauptsatz, mit
dem sie in Verbindung gebracht sind, in dem stück über Charle-
magne et les Saxons läszt sich nur ein teil des letzten satzes ver-
schieden auffassen.
Vor beginn des stücks ist Pipin noch am leben, nachdem er
so oder so lange regiert hatte, fieng er an zu sterben*^ und führte
dies aus (mourut). am ende des ersten satzes stehen wir also in der
zeit nach seinem tode. nachdem er nun gestorben, fieng sein
söhn an, ihm in der regierung zu folgen und führte dies wirklich
aus (succ6da). dieser sitzt jetzt auf dem throne, die dann er-
wähnten eigenschaften fieng er jetzt nicht erst an zu besitzen, sie
waren schon und noch in der mittleren dauer begriffen , daher not-
wendig 6tait; und, weil er nun schon könig geworden, kann
auch ihre gewohnheitsmäszige betbätigung auf dem throne in ihrer
mittleren dauer gedacht werden, man beachte, dasz der satz mit
6tait zuerst kommt, nur durch ein semicolon von succeda getrennt,
und dann erst folgt il avait nach einem punkte; die verschiedenen
einzelnen handlungen , in denen sich jene eigenschaften bethätigen
und die in ihrem Verhältnis zu einander im defini stehen müsten,
weil erst die eine anfieng und ausgeführt ward und dann der an-
fang und die ausführung der andern folgte, stehen auch deshalb im
imparfait als Verkörperung der einen, in ihrer mittleren dauer ge-
dachten, sie alle umfassenden gewohnheit.
Als nun diese schon und noch in ihrer mittleren dauer begriffen
war, fieng Karl an, und führte es aus, den mehr als 30jährigen
krieg gegen die Sachsen zu führen , deren heidnischer sinn und ein-
^3 mourait oder vielmehr se inourait hiesze: er lag schon und
noch im sterben, die Jahreszahl gibt wieder die nötige Zeitbestimmung.
404 C. Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen.
fälle in sein land gleichfalls eine schon und noch in ihrer mittleren
dauer begriffene gewohnheit waren, dann kommt eine Zerlegung
des krieges in seine hauptteile, an fang und ausführung der
ersten feindseligkeit (commen9a *''*), vielleicht gleichzeitig mit entra^^;
nachdem dies geschehen, fieng das mehrmalige*^ schlagen an und
ward ausgeführt (battit) ; ebenso nachdem dies geschehen, dötruisit,
darauf forga und exigea, nun folgte friede und auf diesen anfang
und ausführung der empörung und neuer einfalle, zu einer zeit, wo
Karl schon angefangen hatte und noch damit beschäftigt war, das
reich der Longobarden zu zerstöi'en.
Nun fieng er an seinen zweiten zug zu unternehmen und führte
dies aus. dann kommen wieder die einzelnen handlungen, die wie
punkte auf einander folgten, nach einander anfiengen und aus-
geführt wurden (erst traversa, dann detruisit, darauf soumit). als
er aber das soumettre anfieng und ausführte, war das wohnen schon
und noch in seiner mittleren dauer begriffen; hiervon darf also jetzt
der anfangspunkt nicht mehr, der endpunkt noch nicht aus-
gedrückt werden (demeuraient). dann fiengen die Unruhen in Italien
an, Karl dahin zu rufen und führten es aus, d. h. er gieng wirk-
lich hin (rappelörent"). im folgenden satz ist er also in Italien ;
und , während dieser aufenthalt schon und noch in seiner mittleren
dauer begriffen war (etait), fiengen die Sachsen wieder eine em-
pörung an, die sie ausführten (rövoltörent). so muste er denn seinen
dritten zug unternehmen, und, da er auch dies anfieng und ausführte
und somit auch das müssen durch die ausführung sein ende erreichte,
steht dut und nicht devait. nun wieder die einzelnen ereignisse dieses
zuges, die wie punkte auf einander folgten (erst p6n6tra, darauf
tint, dann parurent und laissörent und endlich vint). dann aber:
Vitikind 6tait und accordait; denn sein aufenthalt in Dänemark und
die erlaubnis dazu fiengen nicht erst an, sondern waren, als er sich
schon dorthin zurückgezogen hatte, schon und noch in ihrer mittleren
dauer. hierauf anfang und ausführung einer neuen empörung (profita)
während eines schon angefangenen aufenthalts Kai'ls in Spanien
(etait), und als folge davon, wieder nach einander: dut entre-
^* über coinmen^a und commen9ait vgl. das früher bemerkte: er
fieng das beginnen an und führte das beginnen aus.
*^ wenn von zwei gleichzeitigen handlungen die erste im de'fini
steht, kann auch die zweite wohl im detini folgen, wenn die gleich-
zeitigkeit durch eine conjuuctiou oder eine adverbiale bestimmung aus-
gedrückt ist oder als selbstverständlich aus dem sinn hervorgeht, so
dasz sie nicht ausgedrückt zu werden braucht, wie hier, ebenso nach
dem gerade vorher die ganze dauer des krieges umfassenden soutint,
die einzelnen hauptereignisse des krieges.
^*^ das wiederholte schlagen wird als ein angefangenes und
zugleich vollendetes moment des krieges zu einem punkte zusammen-
gefaszt, trotz der Wiederholung; ebenso wie vorher der ganze krieg mit
anfangs- und endpunkt. das impaifait würde sie als damals schon und
noch in ihrer mittleren dauer begriffen hinstellen.
•"'7 durch rappelaient wäre dies nicht ausgedrückt.
C. Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen. 405
prendre (nicht devait) und fit. die folge hiervon nun negativ : n'eut
pas l'effet und positiv : causa, als aber diese üble Wirkung anfieng sich
zu zeigen und es auch ausführte, da war die erwartung einer besseren
anderen schon und noch in ihi-er mittleren dauer begriifen ; sie gieng
nicht blosz dem wirklichen erfolg, sondern sogar, als ihre Ursache,
schon der grausamkeit selber voran; dann dura trois ans; der
anfangs- und endpunkt der drei jähre bilden zugleich den der lutte.
dann nach einander anfang und ausführung des soumettre , recevoir
und donner, während das ehren der tapferkeit sich verschieden auf-
fassen läszt; als blosz inneres gefühl müste es im imp. stehen, denn
dieses war gewis schon in seiner mittleren dauer, als Karl ihm das
lehn gab; als dessen bethätigung aber im d6fini, denn diese war
gleichzeitig mit dem geben.
Noch einige andere besonders interessante oder wich-
tige fälle:
Le voyant si heureux (über den von der geliebten ihm zu teil
gewordenen empfang) je ne doutai point (zweifelte ich nicht
mehr) que le soir m6me il ne fit connaitre une fois de plus ä sa
möre son irrövocable rösolution de la demander en mariage et il ne
me semblait pas impossible qu'elle finit par capituler (Eevue d. d.
m. 15/1 93 s. 242).
Das verbum des denkens douter steht hier im defini, weil es
nicht als eine schon in der mittleren dauer begriffene Ursache , son-
dern umgekehrt als eine erst eintretende folge erscheint, aber
semblait bleibt im imp. , weil es nicht als eine folge seiner Zu-
friedenheit hingestellt werden soll ; auch sind wir schon durch das
pass6 d6fini doutai in eine zeit versetzt worden, wo das sembler in
seiner mittleren dauer gedacht werden kann.
Je distinguai une forme qui venait ämoi (Revue d.d.m. 1/3 93
s. 20). wenn von einem verbum des sehens, hörens, fühlens, denkens,
glaubens ein satz, z. b, mit qui oder que abhängt, der eine thätig-
keit^^ ausdrückt, die an sich offenbar anfieng und ausgeführt ward,
setzt der schüler leicht das pass6 d6fini. so in dem obigen satz,
und , um einen mit que hinzuzufügen , in : je vis oder crus , voyais,
croyais qu'un homme entrait dans ma chambre. an solchen fällen
kann man ihm am besten klar machen, dasz es nicht auf die thätig-
keit an sich ankommt, sondern auf das zeitliche Verhältnis ihres
anfangs und ihrer Vollendung zu dem übergeordneten satze; und
dieses erfordert hier das imparfait. in dem augenblich wo das sehen,
hören usw. anfieng und ausgeführt ward, muste das zu gründe
liegende ereignis schon angefangen haben, es ist auch hier das Ver-
hältnis von Ursache und Wirkung, der gegenständ der Wahrnehmung
geht der Wahrnehmung selber, und wäre es auch nur um eine
secunde, voran; lehrt doch schon die physik, dasz er die luftwellen
^■^ die Verneinung hat nichts mit der sache zu thun, ebenso wenig
wie vorher bei ne vint pas.
^^ es kann natürlich auch eine eigenschaft sein, ein zustand.
406 C. Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen.
in bewegung gesetzt haben musz, um wahrgenommen zu werden,
so war denn auch hier das venir und entrer schon in seiner mittleren
dauer, als das dadurch hervorgerufene distinguer, voir, croire an-
fieng und ausgeführt ward.
Das umgekehrte Verhältnis, dasz der gegenständ der Wahr-
nehmung später anBeng, ist bei der äuszeren Wahrnehmung nicht
denkbar, und bei der inneren nur da, wo er der zukunft angehört,
dann aber kann er überhaupt nicht durch ein tempus der Vergangen-
heit ausgedrückt werden; z, b. nach croire, penser u. a. also ent-
weder: je croyais (glaubte schon, oder crus, fieng an zu glauben)
qu'il venait oder qu'il viendrait ä moi. ob das wahrgenommene
der inneren oder der äuszeren weit angehört, ist dabei gleichgültig :
je croyais (crus) qu'il me haissait, m'aimait oder ha'irait, aimerait:
croire qua steht mit dem döfini in Picards vorrede zu seinen marion-
nettes: je m'obstinai, malgre le conseil de plusieurs amis , ä donner
un moment d'6blouissement ä Georgette, je persiste ä croire que
j'eus raison.^" hier denkt aber Picard nicht an ein blosz inneres
rechthaben, sondern an rechtbandeln: 'ich that wohl daran.' dies
thun ist aber, gleichzeitig mit dem 'je m'obstinai', von seinem an-
fangs- bis zu seinem endpunkt zu denken, an einer höchst auf-
fälligen stelle von Vignjs Cinq-Mars: 'eile vit que ce personnage,
s'emparant du de de la conversation, le tint avec un sang-froid im-
perturbable pendant tout le repas"' soll gleichfalls das d6fini die
ganze dauer hervorheben mit einschlusz des anfangs- und des end-
punkts. ebenda s. 28: 'il regarda encore quelque temps tous les
feux du chäteau, qui s'6teignirent successivement aprös avoir ser-
pentö dans les ogives des escaliers et rode dans les cours et les
6curies.' als er an fieng die lichter zu betrachten, schlängelten
sie sich noch durchs haus, die höfe und die stalle; anfangs sah und
betrachtete er nur die lichter an sich; da war das erlöschen noch
nicht in seiner mittleren dauer begriffen; darum musz hier aus-
gedrückt werden , dasz sie es später nach einander anfiengen und
ausführten, in 'il vit que les feux s'eteignaien t' hätte man das
umgekehrte Verhältnis.
In Plötz grammatik findet sich ein in beziehung auf die tem-
pora bedenklicher satz: 'als ich aus dem hause des bürgermeisters
hinausgieng, bemerkte ich jemand, der mir folgte.' unser imperfectum
läszt das Verhältnis unklar, und so mag es als deutsche Unklarheit
durchgehen, im französischen aber weisz ich nicht , was ich damit
machen soll, lorsque je sortis de chez le bourgmestre, j'aper^us un
homme qui rae suivait? der sinn soll doch wohl sein, dasz das
folgen dem bemerken vorangieng. dann müste man aber dem reden-
den schon in dem hause gefolgt sein und das wollte Plötz schwer-
lich sagen, das passe döfini 'suivit' hingegen würde andeuten, dasz
™ Picard, Oeuvres V 226 Paris, Barba 1821.
■"i ausgäbe Charpentier, Paris 1855, s. 16.
C. Humbevt: die lehre vom gebrauch der Zeitformen. 407
der mann erst anfieng zu folgen, nachdem man ihn schon bemerkt
hatte: erst bemerkte ich ihn, da aber folgte er mir noch nicht,
später fieng erst das folgen an, und dann hat die Verbindung von
apercevoir mit suivre keinen sinn.
Noch ein anderer Satz, der mir, so wenigstens, ohne Zu-
sammenhang mit andern, w^underlich vorkommt: 'die äugen
aller Römer hatten sich auf den Pompejus gerichtet, als es sich
darum handelte, einen anführer gegen die Seeräuber zu wählen.' das
Verhältnis ist wohl ganz umgekehrt: ''die äugen richteten sich,fiengen
an sich ... zu richten, sobald', oder 'als es sich . . .' se dirigörent . . .
dös qu'il s'agit.
Gegen meine bemerkungen über das imparf. und pass6 defini,
besonders über das defini von etre, könnte man einwenden: in Ver-
bindung mit einem part. pass6 sei auch das imparfait dieses verbums
gleichbedeutend mit 'werden'; darum könne auch diesem der begriff
des fortschritts nicht abgesprochen werden, und das gelte gar von
allen formen des mit seiner hilfe gebildeten passif.
Aber gerade dies musz stutzig machen, um so mehr, als in Ver-
bindung mit einem adjectiv oder subst. nur dem defini eine solche
bedeutung zu teil wird, ich möchte daraus schlieszen, dasz alle"
formen von etre nur dem mit ihnen verbundenen participe diese
bedeutung verdanken, etre, 'sein', läszt sich nicht ohne weiteres
in 'werden' verwandeln, nur beim pass6 döfini ist eine solche Um-
wandlung denkbar; da erklärt sich der auch sonst bei ihm nach-
gewiesene begriff des fortschritts, beim imparf. aber musz ich mich
ans participe halten.
Was bezeichnet puni? ich denke, im gegensatz zur thätigkeit,
das leiden, ob dieses aber der Vergangenheit oder der gegenwart an-
gehört, darüber sagt es mir gar nichts, daher hat 'je suis puni' zwei
bedeutungen: ich bin einer 'der bestraft wird' und 'der bestraft
w orden', und in dem letzten fall: 'ich bin ein schon bestrafter'
oder: 'ich bin', in dem ersten aber: 'ich bin ein bestraft
werdender' oder: 'ich werde' bestraft.
Die englische syntax hat manche berührungspunkte mit der
französischen, schon beim imparfait wies ich auf das umschreibende
'I was writing' hin, das in so auffälliger aber um so klarerer weise
'j'6crivais' wieder gibt, auch hier möchte ich an etwas englisches
erinnern: I have a house built und built a house. mit dem partic.
hinter dem object heiszt es: 'ich lasse mir ein haus bauen' d. h.:
'ich habe ein haus als ein solches, das gebaut wird'; und, vor dem
object: 'ich habe ein haus gebaut', wo es schon gebaut ist. und
nur diese zwei bedeutungen des participe geben auch dem damit
verbundenen etre die verschiedene bedeutung, so dasz j'etais puni
ich 'war' und 'ich wurde bestraft' übersetzt werden kann.^^ da-
natürlich mit ausnähme des passe de'fiai.
ebenso bekanntlich das englische to be mit dem particip. pass.
408 R. Richter: anz. v. 0. Kohl griechischer Unterricht.
bei bleibt der unterschied zwischen 6tais und fus auch in dem
'wurde' bestehen, ist unabhängig vom participe. im imparfait ist
das bestraftwerden schon und noch in seiner mittleren dauer be-
griffen, in einem Zeitraum oder -punkt zwischen dem anfangs- und
endpunkt, ohne fortschritt; im d6fini werden diese beide und somit
das ganze leiden in eins zusammen gezogen, so dasz man vom an-
fang bis zum ende des leidens fortschreitet und sich die mitte den
blicken entzieht.
(Fortsetzung folgt.)
Bielefeld. C. Hümbert.
26.
DR. 0. Kohl, griechischer Unterricht, aus Reins encyclo-
PÄDISCHEM HANDBUCH DER PÄDAGOGIK. Langensalza 1896.
Ein sehr reichhaltiger artikel: viel geschichtlicher stoff, viel
bibliographisches, eine fülle methodischer anweisungen, dazu in
knapper fassung wohlerwogene eigne urteile über streitige fragen,
wer zum griechischen unterrichte irgendwie in beziebung steht, mag
sich das Studium dieser vielseitig anregenden und belehrenden arbeit
dringend empfohlen sein lassen, in einzelheiten wird natürlich jeder
gräcist seine abweichenden auslebten haben, mir gilt Lysias als gute
lectüre für obersecunda: leicht zu bewältigende und leicht zu über-
sehende abgeschlossene stücke, anschauliche bilder aus dem Privat-
leben, vorteilhafte Vorbereitung auf Demosthenes. Isokr. panegyr.
erste hälfte ist in oberprima dankbar, rasch vom blatte gelesen und
culturhistorisch und nicht ohne kritik der rhetorischen methode des
Verfassers behandelt, dasz zu Herodots erzählung von der schlacht
bei Salamis die Perser in der Übersetzung ganz vorgelesen werden,
sollen , halte ich für ein falsches Zugeständnis an die sonst richtige
forderung, möglichst viel ganze kunstwerke zu bieten, dagegen
hat es meinen vollen beifall, dasz Plutarch wieder mehr zu ehren
kommen soll, vermiszt habe ich einige hinweise auf das wichtige
Verhältnis zwischen deutsch und griechisch in den oberclassen, wo
doch der deutsche Unterricht durch den griechischen die denkbar
beste Unterstützung erhalten kann, manchmal ist mir der verf. zu
zaghaft und nachgibig gegenüber den modernen anfechtungen des
griechischen, z. b. am Schlüsse seines geschichtlichen berichtes und
kurz vorher bei erwähnung der äuszerungen des kaisers in der
Berliner decemberconferenz. doch thut dergleichen dem wissen-
schaftlichen und praktischen werte der arbeit, der zum Schlüsse
nochmals betont sei, keinen eintrag.
Leipzig. Richard Richter.
ZWEITE ABTEILUNG
FÜR GYMNASIALPÄDAGOGIK UND DIE ÜBRIGEN
LEHRFÄCHER
MIT ADSSCHLDSZ DER CLASSISCHEN PHILOLOGIE
HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. RiCHARD RiCHTER.
(16).
QÜINTILIAN ALS DIDAKTIKER UND SEIN EINFLUSZ
AUF DIE DIDAKTISCH- PÄDAGOGISCHE THEORIE DES
HUMANISMUS.
(Fortsetzung.)
IV. Melanclithon und Sturm.
Melanchthon ist es, der den humanismus hinüberleitet in
das protestantische Schulwesen, das in ihm mit recht seinen schöpfer
verehrt, er steht so gewissermaszen auf der grenzscheide zwi-
schen theorie und praxis. gleichwohl wird er auch in unserer
Untersuchung eine sorgfältige beachtung verdienen, wenn anders die
theorie um der praxis willen da ist und die Verbindung beiden —
wie uns Quintilian selbst zeigt — zu gute kommt.
Zahlreich sind die einwirkungen, die Melanchthon
schon von früh an auf Quintilian hinlenken musten.
bereits in seiner Heidelberger zeit (1509 — 12) beginnen sie.
'wenngleich die Universität selbst kein sitz humanistischen wissens
geworden, darin z. b. Erfurt oder Wien sehr unähnlich, so lebte im
scholastischen Heidelberg doch eine stille humanistische gemeinde
lerneifriger Studenten.' "' noch wirkte also nach der geist des
kreises, dessen mittelpunkt Dalberg war und der mit Agricola
unlöslich verknüpft ist. Melanchthons groszoheim Reuchlin, der ihm
gern von jener zeit erzählte ^^-^ wie Pallas Spangel, Agricolas schüler,
Melanchthons lehrer''", mögen in ihm die Verehrung für Agricola,
der er oftmals ausdruck gegeben hat"\ erweckt haben. Agricola
aber muste ihn notwendig auf Quintilian hinlenken.
''' K. Hartfelder, Philipp Melanchthon als praeceptor Germani.ie,
Berlin 1889 (monumenta Germaniae paedagogica b. VII) s. 25. — Hart-
felder hat das Verhältnis Melanchthons zu Quintilian allenthalben ge-
bührend gewürdigt.
«* a. a. o. s. 15. ^" s. 22.
^■'^ auf einer undatierten ausgäbe von Agricolas de ratione studii
epistola ist als von Melanchthon herrührend hinzugefügt: ad formanda
N. jahrb.f. phil.u.päd. ll.abt. 1897 hft,9. 27
410 A. Messer: Quintilian als didaktiker.
Mit der Übersiedlung nach Tübingen trat er in den kreis
Beb eis ein, bei dem uns ja der einflusz Quintilians in so greif-
barer weise entgegengetreten ist, und der sicher wie in seinen
Schriften so auch in seinen Vorlesungen nachdrücklich auf Quintilian
hingewiesen hat/" so ist es gewis nicht zufällig, dasz Melanchthon
die herausgäbe der ersten schritt, die wir von ihm haben, mit einer
berufung auf Quintilian zu begründen sucht, er empfiehlt die 1514
edierten : clarorum virorum epistolae ad loannem ßeuchlin als
musterbeispiele für den stil, der nach der ansieht Quintilians durch
Übung und nachahmung am besten erworben werde.'*'* ebenso nennt
er in seiner Wittenberger antrittsrede (1518), in der er im
gründe 'das programm für die thätigkeit seines ganzen lebens' ent-
wickelt, Quintilian unter den besten quellen der Wissenschaft.^"
Endlich verdient unter denen, die ihn auf Quintilian hinführten,
Erasmus noch besondere er wähnung. ihm hat er ja von seiner
Tübinger zeit an stets pietätvolle Verehrung entgegengebracht,
speciell auf didaktischem gebiet harmoniert er mit
ihm vollständig, seine kurze ratio disceudi, der einzige anlauf
zu einer systematischen darstellung dieses gebietes, den er gemacht
hat, 'stimmt in allen wesentlichen punkten mit dem Erasmischen
commentariolus de ratione discendi überein, dessen wiederholte
lectüre er empfiehlt'.^'® wie sehr aber Erasmus den Quintilian
schätzt und benutzt, haben wir gesehen.
Dasz alle di^^se einflüsse nicht wirkungslos geblieben sind, dasz
auch Melanchthon selbst zu Quintilian in ein nahes Ver-
hältnis getreten ist, das beweisen die wissenschaftlichen
arbeiten, in denen er ihn benutzt, die urteile, die er über ihn
fällt, die bemühungen ihm im Löheren Unterricht eine stelle an-
zuweisen und vor allem die Übereinstimmung in den didak-
tischen anschauungen.
studia eorrigendaque indicia vix aliud hac epistola leges accommodatius.
proinde iuvenis operam dabis, ut. quam familiarissiraa tibi fiat' (a. a. o.
s. 16 anm. 4); 1531 gibt er die sclirift de formando studio heraus (a. a. o.
s. 589); 1536 feiert er den Agricola in einer lateinischen rede, 1539
schreibt er die dedicationsepistel für die neue ausgäbe von Agricolas
lucubratiönes, die Alardus Aemstelrodamus besorgte, a. a. o. s. 15 f.
*'5 in Tübingen lernte er auch Agricolas werlc de inventione dia-
lectica, das damals erschien, kennen; auch ist ihm bei seiner thätig-
keit als corrector in der Anshelmschen druckerei die schrift des
Mapheus Vegius, die 1515 herauskam und von ihm mit empfehlenden
Jamben begleitet wurde, näher bekannt geworden, a. a. o. s. 44 und 59.
^'« s. 57.
*'' er beglückwünsclt die studierenden zu dem, was ihnen in Witten-
berg geboten ist: fontes ipsos artium ex optimis auctoribus hau-
ritis. hie nativum ac sincerum Aristotelem, ille Quintilianum rhe-
torem, hie Plinium . . docet. Melanchthon declamationes, herausgeg.
von Hartfelder. Berlin 1891 (lat. litteraturdenkmäler des 15n und
16n jahrh. h. 4) s. 22.
^^^ Hartfelder, Melanchthon. s. 339. abgedruckt ist das erwähnte
1522 erschienene schriftchen CR. XX 701—704.
A. Messer: Quintilian als didaktiker. 411
Melanchthons dialektik ist direct und durch Vermittlung
Agricolas von Quintilian beeinfluszt, ebenso ist seine rhetorik
von ihm abhängig."' er bezeichnet seine arbeit geradezu als ^ein
vorbereitungsbuch für die rhetorischen Schriften Ciceros und Quin-
tilians', deren studium er nachdrücklich empfiehlt: nulli enim exstant
auctores nisi optimi, Cicero et Quintilianus, qui quidem in hoc
genere adeo excellunt, ut longe Graecos omnes, quorum vidimus
scripta, vicerint. ^^^ er rechnet ihn zu den autoren, die man kennen
musz, um 'über die natur und die figuren der darstellung recht ur-
teilen' und überhaupt einen schriftsteiler richtig interpretieren zu
können. '*''' auch als s p r a c h 1 i c h e s m u s t e r empfiehlt er ihn neben
Cicero und seinen Zeitgenossen, er rühmt besonders an ihm die an-
gemessenheit des ausdrucks, den proprius sermo.'*'^ so ist es be-
greiflich, dasz er ihn auch für die Jugendbildung nutzbar zu
machen suchte, schon in den ersten jähren betrieb er mit beson-
derem eifer die einrichtung einer Vorlesung über Quintilian an der
Universität Wittenberg. Camerarius hat sie 1522 zum ersten mal
gehalten ^^^ auch Melanchthon selbst hat ihn interpretiert^"'; ebenso
schlägt er eine solche Vorlesung in seinem gutachten für die Uni-
versität Leipzig (1540) vor und seine lectüre wird angeordnet in
dem lehrplan der ''oberen schule' zu Nürnberg, die unter leitung
Melanchthons gegründet wurde, endlich hat er auch einen com-
mentar zum zehnten buch geschrieben.''^^ mit gutem grund ver-
mutet Hartfelder, dasz Melanchthon seine ansichten über den
höheren Unterricht nicht selbst systematisch zusammengefaszt habe,
weil er in diesem buche der institutio schon das nötige gesagt fand :
hie liber decimus Quintiliani est quasi quidam modus studendi vel
ratio discendi."*®
In der that zeigt sich auf didaktischem gebiet eine
völlige Übereinstimmung in den grundbegrif fen zwi-
schen Melanchthon und Quintilian. ziel des Unterrichts ist
bei beiden die eloquentia, die beide mit dem ethischen in engste
beziehung setzen; wie Quintilian lehrt, dasz der orator ein vir bonus
sein musz, so definiert Melanchthon die vera eloquentia: quae est
■•'S a. a. 0. s. 211—20 und s. 220— 29. auch in der lateinischen
grammatik und in der prosodie wird Quintilian citiert s. 251 und 269
(mit anm. 4).
^'0 CR. II 543 und Hartfelder, Melanchthon, s. 229.
^8' a. a. o. s. 290.
^^2 a. a. 0. s. 344 f.
*^^ a. a. o. s. 508. vgl. den von Mel. herrührenden Vorschlag 'was
man für lection in artibus musz in alleweg haben' aus dem jähr 1520,
in dem auch Quintilian aufgeführt wird. Hartfelder, Melanchthoniana
paedagogica, Leipzig 1892, s. 76 und 78.
''*' Hartfelder, Melanchthon s. 560 und 564 und Mel. paedag. s. 169.
170. 174.
"^ Hartfelder, Melanchthon s, 619.
^^ß CR. XVII s. 653 und Hartfelder a. a. o. s, 339 f.
412 A.Messer: Quintiliau als didaktiker.
facultas res bonas sapienter et perspicue expouendi. ^''' auch die
mittel, die zur erreichung der eloquentia empfohlen werden, sind
bei beiden die nämlichen, legere, scribere und dicere sind die drei
arten der betbätigung in der rhetorenschule und bei den selb-
ständigen Studien, die Quintilian im zehnten buch bespricht: lectio,
exercitio stili und declamatio schlieszen auch die gesaratheit der
Übungen ein, die Melanchthon empfiehlt/^^ im einzelnen aber zeigt
er Selbständigkeit, er läszt sich nicht etwa durch die hohen an
forderungen, die Quintilian an die belesenbeit seines orator im
ersten capitel des zehnten buches stellt, bestimmen den nachdruck
auf die ausdehn ung der lectüre zu legen; er bleibt bei dem
grundsatz des jüngeren Plinius: multum legendum est, non multa.^'^'*
bei der exercitio stili hebt er die metrischen Übungen weit stärker
hervor als Quintilian. dieser hatte sie mehr um der abwechslung
und erholung willen empfohlen: ne carmine quidem ludere con-
trarium fuerit, Melanchthon dagegen fürchtet geradezu 'es möchte
um die Wissenschaft überhaupt geschehen sein, wenn man die an-
fertigung lateinischer verse vernachlässige'.^^" er stützt sich dabei
auf eigne erfahrung: video enim putidiuscule dicere, quotquot
poeticen non attigerunt, planeque humi repere nee verborum pondus
aut ullam figurarum vim tenere. iam cum asperas coufragosasque
compositiones multo sit facillimum in versibus deprehendere, fit,
ut qui Carmen condunt, de solutae orationis numeris rectius iudicent.
Bei den Übungen in eigner production reicht aber die
kenntnis der grammatischen und rhetorischen regeln nicht aus, viel-
mehr musz — darin sind beide einig — die nachahmung guter
muster dazu kommen: neque enim dubitari potest, quin artis pars
magna contineatur imitatione."^' wie Quintilian auf die bedeutung
der nachahmung in der entwicklung der musik, der raalerei und der
landwirtschaft hinweist und zu dem Schlüsse kommt: omnis denique
disciplinae initia ad propositum sibi praescriptum formari videmus,
so bemerkt auch Melanchthon: imitatio, si natura non repugnet,
sicut aliarum rerum artifices, ita et eloquentes efficit.^"^ als
muster für die nachahmung empfiehlt er Cicero und seine Zeit-
genossen, ohne aber Terenz, Livius und Quintilian auszuschlieszen.
*-' CR. XI s. 714 und Hartfelder a. a. o. s. 332. — Die Überein-
stimmung zeigt sich natürlich auch in einzelhei ten, z. b. in der
Scheidung der beiden selten der eloquentia, der form und des Inhalts.
Melanchthon sagt darüber: saepe autem diximus eloquentiam rebus
ac verbis contineri, rerum autem inventionem ac dispositionem esse,
elocutionem ad verba pertinere CR. s. 492, vgl. Quintilian (X 1, 4):
igitur eum, qui res invenire et disponere seiet, verba quoque et eli-
gendi et collocandi rationejn perceperit usw.
"8« Hartfelder a. a. o. s. 340 ff.
489 a. a. o. s. 341.
^»0 a. a. o. s. 342. das folgende citat steht CR. XI 61; die Quin-
tllianstelle X 5, 15.
«1 Quint, X 2, 1 und Hartfelder a. a. o. s. 342 f.
"92 Quint. X 2, 2 und CR. XIII 492. 497.
A. Messer: Quintilian als didaktiker. 413
eine ähnlich freie Stellung den ängstlichen Ciceronianern gegen-
über hatte ja Erasraus vertreten, und er hatte sich dabei auf das von
Quintilian adoptierte wort des Livius berufen : legendos Demosthenem
atque Ciceronem , tum ita, ut quisque esset Demostheni et Ciceroni
simillimus/®' dasz die nachahmung nicht mechanit^ch sich an
äuszerlichkeiten halten dürfe, ist ebenfalls im sinne des Quin-
tilian und Erasmus. seine Selbständigkeit zeigt sich aber auch
hier, indem er tadelnd bemerkt, Quintilian habe die imitatio rerum
und verborum vermischt. ""^^ wie in der römischen rhetorenschule
die declamatio den breitesten räum einnimmt und ihn nach Quin-
tilians ansieht auch einnehmen soll, so legt auch Melanchthon auf
diese Übung den grösten vrert. er ist sich dabei aber bewust,
dasz er mit der Bezeichnung declamatio nicht mehr ganz dasselbe
meint wie Quintilian. es zeigt dies, dasz er sich mit eignem urteil
den veränderlichen Zeitverhältnissen anzupassen wüste. Quintilian
betont — und er betont es mit besonderem nachdruck, weil er sich
bereits einer vielfach abweichenden pi-axis gegenüber wüste — dasz
die declamationes nicht Selbstzweck sind, sondern dasz sie ledig-
lich Vorübungen sein sollen für die wirklichen reden im
Senat und vor gericht, diesen müssen sie also möglichst ähn-
lich sein und wie diese vornehmlich der gerichtlichen und der
beratenden gattung angehören. ^^^ aber schon zu Quintilians zeit
gieng die geschichtliche Strömung dahin, der beredsamkeit allmäh-
lich den boden im wirklichen leben zu entziehen, in Melanchthons
zeit vollends kam ihr — der lateinischen eloquenz — eine ernst-
liche und reale bedeutung nicht mehr zu. wir haben oben über
diesen punkt eine äuszerung des klar denkenden Vergerio aus den
ersten zeiten des humanismus angeführt : die Sachlage hatte
sich nicht geändert — trotz des unendlichen humanistischen rede-
stroms, der seitdem während mehr als eines Jahrhunderts über das
christliche abendland hingeplätschert war. genau dasselbe urteil, das
Vergerio gefällt hatte, vernehmen wir am Schlüsse der humanistischen
Periode aus dem munde des mannes, 'in dessen denken sich die da-
malige weit vielleicht am objectivsten spiegelt' (Paulsen): des Eras-
mus.^^^ und doch nahm die lateinische eloquenz in dem geistigen
^^^ Quint. X 1, 39. vg-1. X 2, 24: sed non qui maxime imitandus
et solus imitandus est und Hartfelder a. a. o. s. 344 f. 348.
«^'» CR. XVII s. 669 f. Hartfelder a. a. o. s. 348.
^9-^ Quint. n 10. IV 2, 29. X 2, 12 u. ö. Melanchthons auslebten
über die declamatio bei Hartfelder a. a. o. s. 349ff. , der aber den
unterschied von Quintilian nur leise andeutet.
"'■"' im Ciceronianus läszt er den Bulephorus, der des Erasmus
ansichten vertritt, also reden: eloquentia, quae nihil aliud quam de-
lectat, non est eloquentia, nimirum in aliud reperta, quod nisi praestat,
nee decora videri debet bono viro. verum ut olim fuerit utilis elo-
quentia Cieeronis, hodie quis est illius usus? an in iudiciis? ibi
res agitur articulis ac formulis, per procuratoies et advocatos, quidvis
potius quam Ciceronianos. apud iudices? apud quos barbarus esset
Cicero, neque multo maior usus in conciliis, ubi singuli paucis aperiunt
414 A. Messer: Quintihan als diclaktiker.
güterverkehr dei' zeit ihre stelle ein: angebet und nachfrage waren
in reichstem masze vorhanden, die eloquentia war eben — luxus-
artikel, und zwar ein luxusartikel, der geradein mode war. 'die
rede bildete ein notwendiges dement und eine zierde jedes erhöhten
daseins. sehr viele festliche augenblicke, die gegenwärtig mit der
musik ausgefüllt werden, gehörten damals der lateinischen rede,'^'^
Dieser Sachlage wurde Melanchthon gerecht: die declamationen,
wie er sie empfiehlt und wie er sie selbst in groszer anzahl verfaszt
hat, sind nicht Vorübungen auf wirkliche 'orationes', durch die
der redner eingreift in das getriebe des lebens und der weit, son-
dern sie tragen ihren zweck in sich selbst, es sind ge legen -
heitsreden (meist dem genus demonstrativum angehörig) über
historische, philosophische, philologische, theologische, naturwissen-
schaftliche theraen. das damalige akademische leben bot anlasz zu
solchen rhetorischen acten in fülle, 'bei promotionen und nach
Prüfungen, bei leichenfeiern, beim antritt des lehramts und der-
gleichen'.
Die ur teile Melanchthons über die einzelnen classischen
Schriftsteller, die Hartfelder mit groszer Sorgfalt zusammen-
gestellt hat (s. 355 ff.), zeigen, was ja in der sache begründet ist,
manche Übereinstimmungen mit denen Quintilians, aber sie zeigen
noch deutlicher Melanchthons Selbständigkeit, er hat sie aus eigner
eingehender kenntnis heraus gefällt und nicht aus Quintilian einfach
herübergenommen. ■'^** alles dies bestätigt die richtigkeit des urteils,
quod videtur, idque G;illice aut Germanice. maxime vero res hodie per
consilium , quod arcanum vocaut, coiificiuntur: ad id vix tres homines
adhibentur, illiterati fere: reliquis licet coiisultare. iam etiam si res
aperentur hodie Latine, quis ferret Ciceronem ea peroraiitem , quae
dixit in Verrem , in Catilinam? , . . itaque cui tandem usui para-
mus hanc ope rosam Ciceronis eloquentiam? num contionibus?
vulgus Ciceronis linguam non intelligit: et apud popuhim nihil agitur
de re publica, sacris vero contionibus minime congruit hoc dicendi
genus. quis igitur superest usus, nisi forte in legationibus, quae Roniae
praesertim latine peraguntur. ex more magis quam ex animo, et
magnificentiae causa potius quam utilitatis gratia. in bis
enim fere nihil agitur rei seriae usw. auch wenn wir berücksich-
tigen, dasz die stelle hauptsächlich auf Ciceronianische eloquenz
sich bezieht — diese war übrigens seit Petrarca das ersehnte ziel —
so besagt sie doch genug.
■*" Burckhardt, die cultur der renaissance P s. 275 bei Hartfelder
a. a. o. s. 349.
*^^ die belege im einzelnen brauchen hier nicht gegeben zu wer-
den, da man die in betracht kommenden stellen aus Quintilian zum
allergrösten teil bequem beisammen findet in der litteraturübersicht
X 1, 46 — 131. — Auch sonst ergeben sich natürlich nocli manche
Übereinstimmungen zwischen beiden in einzelnen didaktischen grund-
sätzen. man vergleiche z. b. Melanchthons wort (Hartfelder s. 351):
exempla plus faciunt quam praecepta mit Quintilians ausspruch: quantum
Graeci praeceptis valent, tantuui Koniani, quod est malus, exemptis
XII 2, 70, vgl. II 5, 16; wie Quintilian (I 7, 33—35) schätzt er einen
gründlichen Unterricht in der grammatik usw.
A.Messer: Quintilian als didaktiker. 415
das Hartfelder über Melanchtbons Verhältnis zu Quintilian gefällt
hat (s. 348 f.): 'Melanchthon ist Quintilians schüler, wie ein tüch-
tiger mann der schüler des andern ist. frei von dem eiteln streben,
auf kosten des gegenständes originell sein zu wollen, entleiht er die
maszgebenden gedanken, ohne seine quelle zu verschweigen, aber
auch ohne kritiklose hingäbe, die in falsch verstandener pietät auf
eignes urteil verzichtet.'
Auf den ersten blick möchte es scheinen, als müsse bei Johannes
Sturm'®^ der einfiusz Quintilians besonders stark sein, was ihn
gegenüber den andern humanistischen Schulmännern kennzeichnet,
ist ja gerade das, dasz er auf die rhetorische ausbildung das
gröste gewicht legt; dabei ist Cicero sein vielbewundertes vorbild.
beides gilt auch für Quintilian: auch er will redner bilden, redner
wie Cicero oder noch vollendetere, was möchte näherliegend
scheinen, als dasz Sturm den weg, den Qiiintilian zu dem heisz-
ersehnten ziele hin vorgezeicbnet hatte, genau innehalten werde?
Sehen wir zu , ob die thatsachen diese Vermutung bestätigen,
ist sie richtig, so darf man wohl zunächst erwarten, dasz Sturm in
dem von ihm geschaffenen Unterrichtsbetrieb selbst der in-
stitutio eine hervorragende Stellung zuweisen w^rde. allein gerade
das gegenteil ist der fall: Quintilian wird in der schule
Sturms überhaupt nicht als lehrbuch benutzt oder
auch nur zum gegenständ der lectüre gemacht, er er-
scheint weder in dem grundlegenden lehrplan, der Schrift de lite-
rarum ludis recte aperiendis (1538), noch in dem fast30jahre
später erstatteten bericht über die Verhältnisse der schule, wie sie
sich thatsächlich gestaltet hatten, den epistolae classicae(1565).
Ciceros rhetorische Schriften, der auctor ad Herennium, Hermogenes
werden gele&en, aber nicht Quintilian/"" dabei wollen wir uns er-
innern, dasz Erasmus die institutio gerade wegen ihrer
brauchbar keit für den un ter rieh t warm empfohlen , dasz er
sie in dieser hinsieht den Schriften Ciceros und des auctor ad Her.
vorgezogen hatte ^°', dasz ebenso Melanchthon dem Quintilian
im Unterricht in der eloquenz eine mindestens ebenbürtige Stellung
neben Ciceru zuweist.
Die erklärung für Sturms verhalten liegt übrigens nahe, es
"ä die wichtipsten der hier in betraclit kommenden Schriften Sturms
sind abgedruckt bei Vormbaum, evani;elische Schulordnungen bd, I,
nämlich de litteraium ludis recte aperiendis (1538) , epistolae classicae
(1565), scbolae Lauiuganae (1565), epistolae academicae (1569y. da sie
hier am leichtesten zugänglich sind, so eitlere ich sie auch nach dieser
ausgäbe, die übrigen dagegen nach Hallbauer (Fridericus Andreas),
Johannis Sturmii de institutione scliolastica opuscuJa omnia, Jeiiae 1730.
=00 Vormbaum s. 667. 669. 670. 689. 691. auch in den scholae
Lauinganae werden zur rhetorischen ausbildung nur herangezogen der
auctor ad Her. (s. 739), Aristoteles, Hermogenes, Cicero (s. 741).
^0' Im Ciceronianus. opp. o. (Basileae 1550) I s, 842. 859.
416 A. Messer: Quintilian als clidaktiker,
handelt sich hier ja um den schulmäszigen Unterricht; es ist be-
kannt, wie Sturm alles darauf angelegt hat, den Schülern mögliebst
gerade die Ciceronianische latinität zu eigen zu macben, wie
darum Cicero in der lectüre überhaupt weitaus den breitesten
räum einnimmt, wie sich auch die schriftlicben Übungen an ihn an-
schlieszen. den humanisten entgieng es nun nicht, dasz sich Quin-
tilian bei all seiner Verehrung für Cicero in seiner latinität nicht
unwesentlich von ihm unterscheidet. Sturm aber berücksichtigte
auch bei den rhetorischen Schriften, die mehr wegen des
inhalts als wegen der form behandelt wurden, sehr sorgsam die
Sprache, das beweist sein urteil über den auctor ad Her.: in quo
scriptore non solum ipsarum est praeceptionum utilitas, sed etiam
sermonis puritas. aus diesen beiden gründen schreibt er ihn
der schule von Lauingen vor. Quintilian war also wohl dem
ängstlich auf die sprachreinheit bedachten Sturm nicht Cicero-
nianisch genug, als dasz er ihn in die schullectüre auf-
genommen hätte, aber auch in dem freieren betrieb der
Studien auf der academie gönnt er Quintilian keinen platz, in dem
brief an den professor der rhetorik in den academicae epistolae
(1569) ist auch nur von Cicero und Hermogenes die rede■''^ und in
der anleitung zu den studien während eines akademischen trienniums,
die er in der schrift nobilitas litte rata (1549) gegeben hat,
wird Quintilian nicht einmal unter den zu lesenden autoren ge-
nannt,^"' Cicero steht auch hier noch im mittelpunkt der lectüre^
und das streben durch stilübungen Ciceronianische eloquenz zu er-
reichen geht fort in heiszem bemühen — wie in der schule.
Konnte die rücksicht auf die sprachreinheit Sturm bestimmen
Quintilian aus dem Unterricht auszuschlieszen, so brauchte diese
rücksicht ihn selbst nicht zu hindern, an Quintilian inhaltlich
sich anzuschlieszen , ihm in seinen rhetorischen und didaktischen
Schriften zu folgen, war Quintilian selbst kein Cicero geworden, so
war er doch vielleicht nicht auszer stand zu zeigen, wie man es werde,
allein auch in seinen rhetorischen schrift en schlieszt sich
Sturm viel weniger an Quintilian — der natürlich auch benutzt und
citiert wird — als an Cicero und besonders an Hermogenes
an. dieses ^rhetorische Wunderkind' des zweiten christlichen Jahr-
hunderts steht seit etwa 1555 geradezu im vordergrumle seines
interesses. 'in diesem jähre gab er die schrift irepl ibeüijv, 1570 die-
selbe zum zweiten mal zugleich mit rrepi eupeceuüv, rrepi ctdceouv
und Trepi )Lie6öbou beivöiriTOC heraus; lateinische Übersetzungen
waren beigethan. die commentare sind die reichhaltigsten, die er
überhaupt verfaszt hat . . . das umfangreiche 1576 erschienene werk
de universa ratione elocutionis rhetoricae, welches man neben der
ratio linguae latinae resolvendae vom jähre 1581 als die schlusz-
»02 V. s. 718 f.
^03 Hallbauer s. 45 f.
A. Messer: Quintilian als didaktiker. 417
steine der rhetorischer) entwicklung Sturms bezeichnen kann, be-
nutzt in der ganzen methode, in der anordnung und ausführung des
-tüffes durchaus die kategorien des Hermogenes.'^"*
Was mochte Sturm von Quintilian abhalten und
ihn so sehr zu He rmogenes hinziehen? kurz gesagt: sein
innerstes wesen. 'Sturms wissenschaftliche gedanken
und Studien gehen fast ohne rest in rhetorik auf.' ihm
mochte Quintilian nicht ausschlieszlich genug rhetor sein, die Ver-
schmelzung des didaktischen und ethischen mit dem rhetorischen,
wie es Quintilian eigentümlich ist, mochte ihm unwissenschaftlich
vorkommen, mochte ihn geradezu abstoszen.
Dazu kommt ein zweites, was nahe damit verwandt ist:
Sturm war ein etwas trockener, pedantischer geist. es
kennzeichnet ihn, dasz er über den dürren rhetorischen katechismus,
Ciceros partitiones, urteilt: omnes libellos rhetoricos superant, si
recte explicentur et mandentur memoriae.""^ er schwelgt in einer
endlosen rhetorischen terminologie, in einer überfülle von
regeln, er zerfasert die Sprachgebilde, die er unter die
liipe nimmt, bis ins kleinste. ^"^ ganz anders Quintilian: ihm
kommt es nicht auf die namen, sondern auf die sache an, er er-
klärt: nee interest discentium, quibus quidque nominibus appel-
letur, dum res ipsa manifesta sit'^'^; er weisz, dasz die überfülle
von namen und regeln viel eher verwirrt als aufklärt, er weisz,
dasz die diligentissimi artium scriptores oft ab eloquentia longissime
luerint'^'\ denn res in oratore praecipua consilium est: das eigne
denken, das eigne fühlen vor allem macht den redner. aber
das läszt sich nicht säuberlich in regeln bringen, die man schülern
zum auswendiglernen aufgibt. — Wenn man das geistig freie , ur-
wüchsige und ungezwungene bezeichnen will , so pflegt man dafür
nicht das wort ^*chulraeisterlich' zu wählen, man fühlt vielmehr,
dasz diese begriffe eher in einem gewissen gegensatze dazu stehen.
Sturm war Schulmeister (allerdings in groszem stil) und er war
nicht die persönlichkeit das beengende und verknöchernde, das dieser
beruf in der regel mit sich bringt, von seinem wesen fern zu halten,
um so mehr da verwandte züge von anfang an in ihm vorhanden
sein mochten, so war denn Quintilian nicht sein mann, vielmehr
zog es ihn zu Hermogenes, der auch bei den — Byzantinern
als 'kanonische autorität' gegolten hatte, fx'eilich hatte er dieses
ansehen 'nur der beschränktheit seiner Verehrer' verdankt; 'that-
sächlich war er ein schwachkopf, der nur die kunst besasz, für
leute, welche sich nicht sehr anstrengen wollten, ein handliches com-
pendium zu schreiben; er hat nicht blosz keine neuen ideen in die
5°' E. Laas, die pädagrogik des Joh. Sturm (Berlin 1872) s. 78 f.
^05 de lit. ludis. V. s. 667.
"'^ Laas a. a. o. s. 96 f. u. ö. Sturms theorie der elocutio umfaszt
819 Seiten, Quintilian erledigt sie auf 106 Seiten.
»"' III 6, '2. JO« VIII pro. 1—3.
418 A.Messer: Quintilian als didaktiker.
rhetorik eingeführt, sondern auch seine kunst auf das niedere
niveau derschulbedürfnisse herabgedrückt', ^"^
So wird es uns nicht mehr auffällig sein, wenn wir auch in den
eigentlich didaktischen Schriften Sturms von einem ein-
flusse Quintilians wenig constatieren können, dazu wirken übrigens
noch einige andere momente mit. Sturm ist ja nicht *theo-
retiker'. seine Schriften sind unmittelbar für die praxis be-
rechnet und zum groszen teil auch aus der praxis hervor-
gegangen, damit ist schon eine gröszere Selbständigkeit von
vorn herein gegeben, wie wir dies z. b. auch bei Guarino und
Wimpheling beobachtet haben, ferner übt Sturm gegenüber
seinen quellen meist das occultare, das uns in seiner lehre
von der imitatio noch begegnen wird, die citierfreude der meisten
humanisten teilt er nicht, gerade auf unserm gebiet kann aber
Übereinstimmung in den ansichten noch nicht ohne weiteres als be-
weis für entlehnung angesehen werden, zudem lag ja jetzt bereits
eine reichhaltige litteratur vor, die, in den grundzügen überein-
stimmend, die humanistischen ideen in der pädagogik und didaktik
zur darstellung brachte, sie ist Sturm ohne zweifei nicht fremd ge-
blieben, wenn auch hier ausdrückliche hinweise bei ihm ganz fehlen,
wie viel er ihr, wie viel er Quintilian, wie viel er eignem denken
und erfahren im einzelnen verdankt, wird sich genau nicht feststellen
lassen, dennoch wird eine eingehendere betrachtung nicht ganz er-
gebnislos bleiben, zumal wenn wir auch solche punkte ins äuge
fassen, wo eine benutzung Quintilians hätte stattfinden können.
Der Schrift de litterarum ludis recte aperiendis, in
der er für seine praktische Wirksamkeit in Straszburg gewisser-
maszen erst das programm entwirft, wird man noch am ehesten
einen gewissen theoretischen Charakter zusprechen dürfen, aber
auch hier ist von einer einwirkung Quintilians nichts zu spüren,
genannt wird er gar nicht, das capitel, in dem man Quintilian viel-
leicht am meisten ausgeschrieben hat: das Verhältnis von lehrer und
Schüler ist von Sturm nicht näher behandelt , schlage schlieszt er
bekanntlich aus seiner anstalt nicht aus, wenn er auch dem all-
gemeinen zug der zeit folgend erklärt: optandum est nunquam ne-
^"^ Christ, cjriechische litteratiiro-escliiclite s. 553. Laas bemerkt
bei dieser gelegenheit sehr treft'end: 'zu allen Zeiten ist es die weise
oberflächlicher und mechanischer geister gewesen, sich in erklärliciiem
pharisäismus an der aberiiläubigen Vorstellung zu delectiercn, dasz mit
der wachsenden fülle von namen, titeln und notizen schrittweise auch
die einsiclit in die dinge und die wissensc-iiaftliche bedeutung ihrer
persönlichkeit zunehme' s. 104. — Es soll damit nicht gesagt werden,
dasz iSturm ein unbedeutender mensch gewesen sei: sein sittlich- tüch-
tiger Charakter, sein groszes Organisationstalent, seine reiche belesen-
heit, seine hervorragende stilistische gevvandtheit stehen auszer zweifei,
nur war sein sinn mehr auf das formale gerichtet, und so lag es für
ihn nahe in trockenheit und pedanterie zu verfallen, obwohl in seiner
beteiligung an den religiös-politischen fragen seiner zeit ein gegen-
gewicht dagegen liegen muste.
A. Messer: Quintilian als didaktiker. 419
cessariam esse virgae et ferulae severitatem. Festes scholarum
Orbilii sunt.^'" über das Verhältnis zwischen schule und eitern-
haus, über die notwendigkeit die individualität der schüler zu er-
kennen und zu berücksichtigen , über die zeit, wann man den Unter-
richt am passendsten beginnen solle, sprechen beide/'" Sturm denkt
darüber ungefähr ebenso wie Quintilian, aber dasz er sich an ihn
anlehne, ist weder in der fassung noch in der begriindung der ge-
danken zu erkennen, das gleiche gilt für die erörterung des anfangs-
unterrichts, der gestaltung der schriftlichen Übungen und der decla-
mationen.'-" bei der lectüre setzt er nicht die poeten an den anfang,
wie das Quintilian der römischen gewohnheit entsprechend empfohlen
und wie das auchErasmus und Melanchthon geraten, sondern Ci cero
ist ihm hier anfang, mitte und ende, er drängt alles andere in den
hintergrund'''^; auch im griechischen wird Homer durch Demosthenes
zurückgeschoben, wenn Sturm endlich das Verhältnis des philo-
sophus und orator so bestimmt: alter scientiam rerum, alter dic-
tionem verumque ornatum illorum , quae sciri possunt, policetur,
so war, wie wir gesehen haben, Quintilian darüber ganz anderer
meinung.
Noch zwei andere Schriften mehr theoretischen Charakters scheinen
für eine benutzung Quintilians besondere gelegenheit zu bieten, de
educatione principis (1451) und nobilitas litterata(1549).*"
die erstere handelt fast nur von den einem prinzenlehrer notwendigen
eigenschaften. selbstverständlich finden sich da manche Übereinstim-
mungen mit Quintilian , aber Sturm bleibt in der formulierung der
forderungen, die er an den lehrer stellt, wie in der näheren aus-
führung ganz selbständig.
In der andern schrift gibt er zwei jungen edelleuten einen
studienplan für ein akademisches triennium, also ratschlage für die
mehr selbständige bildungsarbeit, wie sie auch Quintilian im zehnten
buch erteilt, der gegenständ deckt sich sogar ganz unmittelbar, .da
auch Sturm lediglich die sprachliche bildung behandelt, er be-
zeichnet zwar im anfang rerum cognitio und latinae linguae ratio als
die beiden ziele des Studiums, aber behandelt hat er nur die der
sprachlichen ausbildung dienende lectüre und die stilübungen,
='" in den 'scliolae Lauinganae'. V. s. 733.
5«' Sturm bei V. s. 656— 58. 661. Quint. I 2, 15 f.; I 3; I 1, 15— -'0.
*'^ Sturm bemerkt über die schriftlich concipierten declamationen :
postremum etiam ex scripto poterit recitari: quam consuetudinem
non possum improbare usw. Quintilian scheint dies nirgends als ge-
bräuchlich oder statthaft anzunehmen.
^'^ in den scholae Lauing. (V. s. 689) empfiehlt er die rede pro Cluentio
mit Hinweis auf das lob Quintilians VI 4, 9, auf denselben beruft er
sich auch dort für die notwendigkeit die flexionslehre gründlich zu
lernen (V. s. 73!. Q. I 4, 22). dort hören wir auch (s. 734), dasz schon
den Schülern der unterschied zwischen dem lalein eines Varro und Cicero
und dem eines Plinius und Quintilian kenntlich gemacht werden soll.
^" beide sind abgedruckt bei Hallbauer; die erstere iu der von
Sturm selbst besorgten zweiten ausgäbe von 1581.
420 A. Messer: Quintiliau als didaktiker.
wobei er der imitatio eine besondere beachtung schenkt , die zur er-
werbung der Sachkenntnis anzustellende lectüre ist ebenso wenig
erörtert wie die commentatio und declamatio. er verspricht darüber
ein andermal zu reden. ^"^
In der lectüre nimmt natürlich Cicero eine ganz hervorragende
Stellung ein : ihm sollen (neben der religio) während der drei jähre
alle Vormittagsstunden gewidmet werden, darin ist er aber auch
ganz zu bewältigen.^'"
In den ratschlagen über die art, wie die lectüre zu betreiben
sei, zeigt sich jene schon oben berührte tendenz zur zerfaserung der
sprachlichen objecte: eine unmasse beobaehtungen , eine unmasse
notizen werden gefordert, wie sticht dagegen die weise Quintilians
ab, der mit gutem bedacht sich hier allgemeiner hält und auch dem
eignen ermessen des einzelnen eine stelle läszt.^'^
Wenn man die allgemeinen erörterungen Sturms über die
imitatio liest, so wird man eine Verschiedenheit von der auf-
fassung Quintilians nicht entdecken, auch Sturm ist die imitatio
nur mittel zum zweck: eo contendendum, ut nullo opus sit nobis
exemplo; Vorbild ist Cicero, aber es wird zugestanden, dasz er allein
nicht ausreicht: primus labor Ciceroni tribuatur et quod hinc deest,
id conquire aliunde^'®; die imitatio musz mit urteil angestellt werden :
libera enim, non servilis debet esse imitatio; als das, was nicht nach-
ahmbar sei, bezeichnet er mit berufung auf Quintilian Ingenium, in-
ventio, vis, facilitas: nascunlur enim ista nobiscum.^'^ das sind
alles durchaus maszvolk', vernünftige grundsätze. aber es zeigt sieb
auch hier, dasz die nämlichen grundsätze in verschieden gearteten
persönlichkeiten zu ganz verschiedener ausgestaltung gelangen und
zu fast entgegengesetzten Wirkungen führen können. Quintilian
und in seinem geiste Erasmus hatten auch Cicero für das beste
muster erklärt, aber sie hatten daneben betont: non qui maxime
imitandus et s o 1 u s imitandus est. was aber bei ihnen eine kraft-
volle forderung ist, die unzweifelhaft aus ihrem thatsäch liehen
verfahren hervorgeht, das ist bei Sturm ein mühsam abgerungenes,
theoretisches Zugeständnis, das in der praxis wahrscheinlich
keine nachachtung fand.
Quintilian und vor ihm Cicero hatten den redner wiederholt
gemahnt dissimulandam esse artem, damit der richter nicht in
ihm den rabulisten fürchte, damit der hörer überhaupt nicht die ab-
sieht merke und 'verstimmt' werde, da man ja die imitatio zur ars
rechnete, so konnte Erasmus dem gedanken die wendung geben:
itaque si feliciter Ciceronem imitari volumus dissimulanda cum
primis est ipsa Ciceronis imitatio.
»'5 Hallbauer s. 81. ^'e H. s. 45. 81. •'■'' X 1, 19 ff.
5»* H. 8. 68 f. Q. X 2, 12.
^'ä H. s. 62. diese stelle, wie manche andere, erwecken übrigens
beim lesen den eiudrucU, als nehme Sturm in diesen erörterungen über
die imitatio bezug auf den Ciceronianus.
A. Messer: Quintilian als didaktiker. 421
Erasmus hatte das so hingeworfen, weil er es gerade für seine
beweisführung so brauchte, wie tritt uns der gedanke bei Sturm
entgegen? er bringt ihn in ein lehrmäsziges System, er teilt
sofort ein und dociert die einzelnen arten und mittel der occultatio :
occultandi vero modus in tribus consistit, additione, ablatione, muta-
tione: in qua sunt coniunctio , figuratio, commutatio, transformatio,
tum verborum, tum sententiarum , tum membrorum atque circum-
ductionum usw. man sieht, wir haben schon eine hübsche anzahl
von teilen und unterteilen ; sie werden dann im einzelnen ausgeführt
und die unvermeidlichen griechischen termini noch beigebracht: so
entsteht sein berüchtigtes system der 'dohlenstreiche'.
Für Sturm war im gründe der Ciceronianus doch vergeblich
geschrieben, wenn wir ihn uns an der arbeit denken — ihr resultat
liegt ja noch in seinen rhetorischen Schriften vor — so zeigt er doch
eine gewisse familienähnlichkeit mit dem Nosobulos, in dessen figur
Erasmus für alle zeit die dem gelächter preisgegeben hat, über die
das wort gesprochen ist: o imitatores, servum pecus.
Also auch in den didaktischen Schriften zeigt sich, dasz eine
wirkliche beeinflussung Sturms durch Quintilian nicht
stattgefunden hat. sie waren geistig zu verschieden.
An zwei punkten mag dies zum Schlüsse nochmals gezeigt
werden, auch Quintilian hatte über den oratorischen numerus
gehandelt, er hatte aber dabei erinnert: totus vero hie locus non
ideo ti'actatur a nobis , ut oratio , quae ferri debet ac fluere , d i m e -
tiendis pedibus ac perpendendis sy llabis conseneseat;
nam id cum miseri tum in minirais occupati est, neque enim, qui se
totum in hac cura consumpserit, potior ibus vacabit"'"; er betont,
dasz sich manches hier gar nicht lehren und nicht begründen lasse,
dasz die obren, das gefühl allein urteilten: rationem fortasse non
reddam, sentiam esse melius.^-' ein wirklich geistesverwandter
Schüler Quintilians, Melanchthon, zieht aus diesem Sachverhalt
den richtigen schlusz : stultum est, nunc de numeris praecipere, cum
sonus linguae latinae hoc tempore non sit nativus.^" Sturm da-
gegen quält sich ab, die versfüsze in der rede zu beobachten, nach
ihrer häufigkeit zu scheiden , gesetze für ihre anwendung aufzu-
stellen, er thut also gerade das, wovor Quintilian gewarnt hatte:
dimetiendis pedibus ac perpendendis syllabis consenescit und noch
mehr: er mutet das auch seinen schülern zu.^-^
Und wie verhält sich schlieszlich Sturms bildungsideal zu
dem Quintilians? wir haben hier ein seltsames widerspiel: Quin-
tilian, dem redelehrer, der wohl sein lebtag nie politisch thätig
war, ist die redekunst nicht Selbstzweck, als bildungsideal
schwebt ihm vor der vir vere civilis; Sturm dagegen, der an den
politischen und religiösen wirren seiner zeit mehr sich beteiligte als
=20 Quint. IX 4, 112 ff. »^i jx 4, 119. 022 Laas a. a. 0. s. 104.
=" die belege bei Laas a. a. o. s. 100 ff.
422 A. Messer: Quintiliau als didaktiker.
seinem amte zuträglich war, sieht doch in der redekunst das
höchste; er, der Strasz b urg er rector schreibt mit unverkenn-
barer beziehung auf Erwins wunderbau: nescio quanto magis Christi
doctrinam orationis amplitudo deceat, quam templorum im-
manes c on struc ti ones; und das ziel seiner unermüdlichen
bildungsarbeit? Laas dtirfte es treffend gekennzeichnet haben, wenn
er sagt: 'das ideal seiner pädagogik war, so zu .sagen —
er selbst, war ein Hermogenes des sechzehnten Jahr-
hunderts, ein einseitig rhetorisches princip, die ausschlieszliche
rücksicht auf die einprägung lateinischen stils und rhetorischer dar-
stellungsformen erdrückte fast gänzlich jeden gedanken an diezweck-
mäfzigkeit und gesunde bildungskraft der lesestoffe.'^^^ —
Ein eigenartiges beispiel der benutzung Quintilians bietet das
kleine schriftchen: institutio scholae christianae, autore
Gerardo Geldenhaurio Noviomagi 1534.'^'' es bietet ledig-
lich eine anzahl sätze aus Quintilian, die näher erläutert und auf die
damaligen Verhältnisse angewendet werden, sie gruppieren sich
unter folgende gesichtspunkte: de nutricibus: Quint. 1 1, 1. 3. 4;
de parentibus I 1, 6. 7; de docendi tempore I 1, 16. 19, 20;
de collusoribusl 1, 7; de paedagogisl 1, 8; de sermone
Graeco I 1, 12 (G. bemerkt dazu u. a.: mutatis rebus, praecipue
in Germania, a sermone latino incipere consultius est); de exer-
citatione I 1, 12; pro. I 26. 27; de moribus I 2, 3 (potior ratio
vivendi honesta quam vel optinie dicendi); de praecep toribus
I 2, 5. II 2, 4. 1 1, 35. II 2, 5. I 3, 14. II 3, 1; quae docenda
I 8, 4 — 8. oft sind aus den erwähnten paragraphen nur einzelne
Sätze herausgenommen, die Überschriften bezeichnen ^o ziemlich
alle die punkte, bei denen man gewöhnlich Quintilian heranzog, be-
sonders charakteristisch ist bei unserem autor, dasz er die stelle, wo
Quintilian mit rücksicht auf das sittlich anstöszige eine vorsichtige
auswahl der lectüre empfiehlt (I 8, 639), benutzt, um die lectüre
christlicher dichter, für den anfang wenigstens, anzuraten, er
fürchtet dabei allerdings starken Widerspruch, aber — bemerkt
er — : libere dicemus, quamquam sciamus non defuturos semi-
paganos literatores et veteratores, qui haec aut in Universum
aspernabuntur aut novum monachismum redolere conclamabunt.
Aspernetur qui volent. —
Ferner sei bemerkt, dasz auch in der schrift des Joachim
Fortius Ringelberg (f 1536) de ratione studii manche an-
52» a. a. o. s. 80.
52' es ist gedruckt: Frankofurti, apud CLristianum Aegenolphuin
(16 bl. in 8*J. icli verdanke seine keiintiiis dem freundlichen Hinweis
des hrn. dr. Heidenlieimer, secretärs der Mainzer stadtliibliothek. —
Der Verfasser, ein schüler des Hegius, war ursprünglich möncli, trat
dann der neuen lehre bei und wirkte später als lehrer der poesie am
St. Anna-gymnasium zw Augsburg, dann als professor der theologie und
historie zu Marburg, er starb 1542.
A. Messer: Quintilian als didaktiker. 423
lebnung an Quintilian sich zeigt""; ebenso in der catechesis pue-
rorum in fide, in litteris et in moribus des OttoBrunfels (Coloniae
1532).'"
Nicht ist dies der fall in den praeceptiones pauculae, quo
pacto ingenui adolescentes formandi sint des Huldrich
Zwingli (152.3)."- sie sind vorwiegend religiös-sittlichen inhalts.
Auch die schrift des Conrad us Clauserus Tigurinus, de
educatione puerorum ■'^^, läszt eine benutzung Quintilians nicht
hervortreten, es ist dies leicht erklärlich, die schrift ist 1554 er-
schienen, damals mochte es bereits näher liegen an die jetzt reich-
lich vorhandene didaktisch-pädagogische litteratur des humanismus
und an die praxis des unter seinem einflusz neugestalteten Schul-
wesens sich anzuschlieszen.
^^^ sie ist abgedruckt bei Crenius consilia et raethodi studiorum,
Rotterdami 1692. — Auch Comenius hat ihre lectüre empfohlen; er that
dies wohl wegen des begeisterten studieneifers, der aus ihr spricht.
^2' über Brunfels vgl. Roth in der Zeitschrift für gesch. d. ob. Rheins,
n. f. bd. 9 (1894).
*28 H. Zwinglii opera von M. Schuler und J. Schulthes. vol. IV,
s. 148—158.
=2^ Ba.'sileae, per Joannem Oporinum 1554 (142 s. in 8°). in dem
mir vorliegenden exemplar sind zwei andere Schriften derselben Ver-
fasser damit zusammengedruckt: ein methodus compouendi epistolas
(1554) und ein declamandi methodus (1554). beide enthalten nach ganz
kurzer angäbe der nötigsten regeln eine umfangreiche Sammlung von
musterstücken mit darauf folgender analyse. die vorrede der letzt-
genannten Schrift verspricht den studierenden eine leichte erwerbung
der rerum und verborum copia.
(schlusz folgt.)
GiESZEN. August Messer.
27.
ÜBER WECHSELBEZIEHUNGEN ZWISCHEN DEM LATEI-
NISCHEN UND DEM DEUTSCHEN IN DER SEXTA UND
QUINTA DES GYMNASIUMS.
Es ist mit genugthuung zu begrüszen, dasz die pr auszischen
lehrpläne von 1892 das übersetzen aus dem lateinischen ins
deutsche auch für die untern classen des gymnasiums mit gröszerem
nachdruck betonen , als dies früher geschehen ist. ' damit fällt eine
klage weg, die Perthes* ausgesprochen hat, dasz die lehrpläne
'nirgends eine Verdeutschung forderten', und trotz jener anregung
' wir verweisen im allgemeinen auf den abschnitt 'lateinisch', lehr-
pläne und lehraufgaben für die höheren schulen s. 18 ff.
* Perthes, die notwendigkeit einer durchgreifenden reform unseres
höheren Schulwesens s. 17.
424 E. Cornelius: lateinisch und deutsch in der sexta und quinta.
konnte im jähre 1895 Baumeister^ darauf hinweisen, dasz be-
züglich des übertragens fremdsprachlicher geisteswerke in unsere
mutterspraehe 'noch ein brachfeld fast neu zu bestellen' sei. dasz
aber unsere gjranasiasten infolge des lateinischen Unterrichts viel-
fach geneigt sind, in ihre deutschen Übersetzungen, ja sogar in ihre
aufsätze latinismen einflieszen zu lassen, weisz jeder lehrer, und wir
glauben, dasz man dieser neigung so früh wie möglich entgegen-
treten musz. hat doch nicht etwa ein deutscher pädagog, sondern
der römische rhetorenerzieher Quintilian^ die beobachtung nieder-
geschrieben , dasz knaben, die sich allzu einseitig mit einer fremden
spräche beschäftigten, dadurch im stil ihrer eignen geschädigt wür-
den, und was dort in bezug auf das lateinische dem griechischen
gegenüber gesagt ist, das dürfen wir doch nach dem vorgange von
A. Waldeck^ wohl hier auch für unser geliebtes deutsch in an-
spruch nehmen.
Natürlich hiesze es dem dilettantismus und der bequemlichkeit
Vorschub leisten, wenn man die schüler lediglich zur Übertragung
lateinischer stücke ins deutsche anleiten wollte, denn jeder, der eine
fremde spräche lernen und wirklich beberschen will, musz auch be-
strebt sein, in die ungewohnte denk- und ausdrucksweise der letzteren
' Baumeister, bandbuch der erziehnncrs- und uuterrichtslehre für
höhere schulen, 1895, I s. XLVI: 'ein rationeller und künstlerischer be-
trieb des heriibersetzens gehört also zu den liauptleistungeii des fremd-
sprachlichen Unterrichts; eine Sprachvergleichung iu höherem sinne wird
hier zur geistigen gymnastik und bildet die vorbereitende stufe zum
selbständigen gedankenausdruck. hier ist noch ein brachfeld fast neu
zu bestellen; und unsere übersetzungslitteratur mag einer Verjüngung
entgegensehen.'
' Quint. inst. orat. 1, 1: 'a Graeco sermone puerum incipere male,
quia Latinus, qiii pluribus in usu est, vel nobis nolentibus se praebet;
simul quia disciplinis quoque Graecis prius institueudus est, unde et
nostrae fluxernnt. non tamen hoc adeo superstitiose velim tieri, ut diu
tantum loquatur Graece aut discat, sicut plerisque mos est. hinc enim
accidunt et oris plurima vitia in peregrinum sonum cornipti et ser-
monis; cui cum Graecae figurae assidua consuetudine haeserint, in
diversa quoque loquendi ratione pertinacissime durant. non longe
itaque Latina subsequi debent et cito pariter ire. ita fiet, ut,
cum aequali cura linguäm utramque tueri coeperimus, neutra alteri
officiet.'
^ A. Waldeck, zeitschr. f. gymn.-wesen 1896 (september) s. 555: Mann
(wenn man den liauptwert aufs übersetzen ins deutsche legt) wird auch
die bisher nur allzu begründete klage verstummen, dasz das fremd-
sprachliche übersetzen den deutschen ausdruck verderbe, dies geschieht
allerdings einmal durch das mangelhafte, oflFenbar nach dem lateinischen
gebildete deutsch, das den Schülern besonders in den oberclassen meist
zum übersetzen vorgelegt wird und das niclit selten nach form und in-
halt sich wie ein übersetzter lateinischer aufsatz ausnimmt, am aller-
meisten aber durch das schlechte, halb wörtliche, halb freie
übersetzen, wie es meist üblich ist und auch in den bekannten
Freundschen Übersetzungen sich findet, aber zu behaupten, dasz das
übertragen in wirkliches echtes deutsch den gebrauch der mutterspraehe
verderbe und nicht vielmehr eine vortreffliche förderung derselben sei,
wäre doch ein unsinn.'
E. Cornelius: lateinisch und deutsch in der sexta und quinta, 425
einzudringen, auch hierauf nehmen bekanntlich die neuen lebr-
pläne bedacht", indem sie von der untersten bis zur höchsten classe
Übersetzungen aus dem deutschen ins lateinische fordern, wenn da-
her Oskar Jäger^ dieser art des übersetzens mit nachdruck das
wort redet, 'eben weil es das unbequemere ist', so können wir
seinen auseinandersetzungen nur zustimmen , sind aber gleichzeitig
der ansieht, die Perthes"^ ausspricht, dasz man sich auch beim ver-
deutschen lateinischer vorlagen nicht mit dem halbrichtigen be-
gnügen dürfe.
Es liegt in der natur der sache, dasz beim übersetzen ins latei-
nische mehr die sprachliche form geübt wird, während der schüler
beim umgekehrten denkprocess sein augenmerk mehr auf den inhalt
des dargebotenen stotfes richtet, beide aber müssen beim übertragen
immer zusammenwirken: dort musz dem lernenden auch stets der
inhalt vorschweben, hier darf er nicht allzu weit von der form ab-
gehen, denn wenn die Vernachlässigung der sprachlichen form und
des grammatischen aufbaues den knaben verleitet, oberflächlich ins
blaue hinein zu übersetzen, so birgt doch auch die gleichgültigkeit
gegen den Inhalt grosze gefahren in sich, einerseits verfällt er näm-
lich in formfehler, die von einem völligen mangel an Verständnis und
von auszerordentlieher gedankenlosigkeit zeugen^, anderseits wird
sein gefühl für guten deutschen stil und zusammenhängende sätze
und lesestücke allmählich abgestumpft.
Darüber herscht wohl kein zweifei, dasz das humanistische
gyranasium mit erfolg stets bestrebt war und ist, seine zöglinge in
die Schönheiten der lateinischen spräche einzuführen und stilistisch
darin auszubilden, ob aber auch der deutsche stil ebenso nachdrück-
lich beim übersetzen und in deutschen aufsätzen betont wird, scheint
uns wenigstens nach gemachten erfahrungen, die uns durch die
lectüre von lehrbüchern und pädagogischen Schriften'"
^ vgl. lehrpläne a. a. o.
"^ O, Jäger, das humanistische gymnasium s. 33: 'warum dies? ich
könnte einfach sagen, weil es das unbequemere ist, will aber aus rück-
sicht auf unser nervenschwaches auditorium lieber sagen: weil diese
Übung, einen deutscheu satz lateinisch wiederzugeben, den schüler
zwingt, das schlechthin richtige, das möglichst gute zu finden, sich
nicht mit dem halbrichtigen oder zur not richtigen zu begnügen, denn
die muttersprache läszt gewissermaszen mit sich reden: sie kommt dem,
welcher aus der fremden spräche in sie überträgt, gleichsam auf halbem
(beim französischen und englisclien auf ganzem) wege entgegen: das
lateinische aber richtet sich nicht nach uns, woraus folgt, dasz wir
uns nach ihm richten müssen, uns in dasselbe, seine logik, seine auf-
fassungsweise, den seinen ausdrücken zu gründe liegenden gedauken
hineindenken müssen.
* Perthes a. a. o. s. 13.
ä man vergleiche unter anderm die bekannte Verwechslung zwischen
•der Übersetzung des deutschen futurums und des passivs, wovon unten
noch die rede sein wird.
"> beachtenswert ist — um nur ein beispiel zu geben — H.v.Treitschke,
■die Zukunft des deutschen gymnasiums s. 21: 'gewis bleibt doch, dasz
N. Jahrb. f. phil. u. päd. II. abt. 1897 hfl. 9. 28
426 E Cornelius: lateinisch und deutsch in der sexta und quinta.
bestätigt werden, nicht so ganz klar, wenn aber sogar Oskar
Jäger" 'die beibehaltung des lateinischen aufsatzes durchaus nicht
für eine cabinetsfrage hält', und die neuen lehrpläne diese geistige
Übung nicht nur fallen lassen , sondern auch an ihrer stelle vielfach
schriftliche Übersetzungen ins deutsche verlangen '-, dann möchten
wir — unserm vorgesteckten ziele gemäsz — für die beiden
unteren gymnasialclassen sexta und quinta auszer dem
latein auch etwas mehr deutsch wünschen.
Die lehrpläne aber stellen als 'allgemeines lehrziel' für das
lateinische hin: 'Verständnis der bedeutenderen classischen Schrift-
steller der Römer und sprachlich-logische Schulung.' man beachte,
dasz diese reihenfolge mit recht in den 'lehraufgaben' der beiden
unteren classen insofern vertauscht wird, als nunmehr die formen-
lehre der behandlung zusammenhängender stücke vorausgeht; denn
hier ist zunächst einmal die grammatische ausbildung hauptsache.
auch wir setzen daher für unsern zweck die sprachlich-logische
Schulung an den anfang und hoffen zugleich im verlauf unserer
erörterung den beweis liefern zu können, dasz nur dann form und
inhalt fruchtbringend zusammenwirken, wenn diese sprachliche zucht
nicht blosz deutsch-lateinisch, sondern auch lateinisch-
deutsch ausgeübt wird, indem wir aber das übersetzen ins
deutsehe besonders hervorheben, hoffen wir die notwendigkeifc
darzuthun, die Schüler der genannten stufe schon von frühe an auf
die lectüre der schriftsteiler vorzubereiten.
Wer aber die ansieht teilt, dasz form und inhalt einander be-
dingen'^, der wird gleichsam unwillkürlich zu dem wünsche geführt,
I
der durchschnitt unserer anpjehenden sttulenten von dem Inhalt der
classischen litteratur eine sehr dürftige kenntnis besitzt,
die zu der aufgewendeten langjährigen arbeit nicht im rechten Ver-
hältnis steht.'
" O. Jäger, das humanistische gymnasium s. 30: 'der eine dieser
begriffe ist eine Übertreibung aus dem gymnasialen lager, welche nur
dem gegner nützt: nämlich dasz das gymnasiiim mit dem lateinischen
auf Satz stehe und falle, dem gegenüber wollen wir, gestützt auf die
durcharbeitung von ca. 5000 solcher aufsätze, unsern stamipunkt daliin
nehmen, dasz wir die beiliehaltung des lateinischen aufsatzes durchaus
nicht für eine cabinetsfrage halten, er kann sehr fruchtbar behandelt
werden, und dem lehrer, der sich das zutrauen darf, sollte man nicht
wehren; dasz er mit notwendigkeit zum phrasenmachen verführe, ist
nicht wahr, richtig ist nur, dasz die gefahr eines solchen abwegs vor-
handen ist.
»2 s. lehrpläne s. 19 f.
13 vvir glauben uns in dieser und in der folgenden anmerknng auf
das vortreffliche buch von R. Hildebrand berufen zu dürfen, vgl.
E. Hildebrand, vom deutschen Sprachunterricht in der schule s. 82:
'das gedächtnis ist nur da in seiner naturgemäszen arbeit, wo es wie
drauszen im leben das äuszerliche eben als äuszerliches erfaszt, die
formen also im dienste eines lebensvollen Inhalts sich aneignet, der
sich mit der form zugleich darbietet, kurz, wo das gedächtnis im dienste
des lebendigen inneren menschen arbeitet.'
E. Cornelius: lateinisch und deutsch in der sexta und quinta. 427
dasz latein und deutsch '^ schon auf der untersten stufe möglichst
zusammenwirken, jeder lehrer wird ja auch mehr oder weniger in
seinem Unterricht eine Verbindung beider gegenstände anstreben,
und besondei-s mit der bekannten Vereinigung von latein und deutsch
in einer hand geschieht dieser forderung genüge, natürlich sind in
der sexta die fraglichen berübrungspunkte inniger als in der quinta,
doch kann das verfahren, das wir einschlagen, auch in der letzt-
genannten classe im jetzigen gymnasium um so leichter ausgebildet
werden, als durch den wegfall des französischen für die Wechsel-
beziehungen zwischen der alten und neuen cultursprache mehr zeit
als früher übrig bleibt.
Wie weit nun eine Verschmelzung von latein und deutsch auf
der Unterstufe vor sich zu gehen habe, das mag die folgende ab-
handlung im einzelnen zeigen, jedenfalls sind hierüber, so weit wir
mit der litteratur vertraut sind, die ansichten durchaus nicht ge-
klärt. Lattmann'^ z. b. macht den Vorschlag, dem lateinischen
unterrichte einige wochen lang eine belehrung in der deutschen
grammatik vorauszuschicken, der verdiente pädagog vertritt also
die an und für sich richtige ansieht, dasz man bei der ersten Unter-
weisung des Sextaners im lateinischen vom deutschen ausgehen
und ihm eine brücke aus der Volksschule ins gymnasium schlagen
müsse, ist es aber deshalb notwendig, das lateinische erst nach
Vollendung des ersten abschnittes der deutschen grammatik zu
beginnen oder mit Perthes'^ dem mangelhaften deutschen decli-
nieren und conjugieren 'vor allem in den deutschen stunden ab-
zuhelfen'? viel mehr neigen wir der ansieht Lehmanns'^ zu,
" Hildebrand a. a. o. s. 189: 'sie lernen da zugleich im kleinen
latein am deutschen und deutsch am latein, der einzig rechte weg auch
fürs gymnasium.'
'^ Lattmann, verirrungen des deutschen und lateinischen elementar-
unterrichts s. 42: 'man wird nicht in abrede stellen, dasz der lateinische
Unterricht, wenn ihm der deutsch-grammatische eingelegt sein soll,
damit verzögert werde, warum sollte man nicht diese Verzögerung aus
ihm herausnehmen und die dazu aufgewendete zeit vorab dem vor-
bereitenden deutschen Unterricht zulegen; also das lateinische erst
nach absolvierung des ersten abschnittes der deutschen grammatik be-
ginnen, hat man dazu sämtliche lateinische stunden zur Verfügung, so
wird dies in wenigen wochen geschehen können.'
'* Perthes, zur reform des lateinischen Unterrichts s. 30: 'wo sich
aber beim lateinischen Unterricht herausstellt, dasz die Schüler noch
nicht deutsch declinieren oder conjugieren können, ist offenbar vor
allem in den deutschen stunden diesem mangel abzuhelfen; in den
lateinischen aber ist zu dem dabei nötig bleibenden vorläufigen not-
behelf nicht das gedruckte buch, sondern ausschlieszlich die mündliche
Unterweisung zu benutzen.'
1' Lehmann, der deutsche Unterricht s. 107: 'der deutsche Unter-
richt also tritt hier ganz in die reihe der fremdsprachlichen gramraatik-
stunden, die ja auch neben dem praktischen zwecke die formale aus-
bildung des Sprachgefühls anstreben, allein so wenig man sich auch
vor dem vorwürfe des formalismus grundsätzlich zu scheuen braucht,
28*
428 E. Cornelius: lateinisch und deutsch in der sexta und quinta.
der davor warnt, *die knapp bemessenen deutschen stunden mit der
erörterung grammatischer begriffe zu belasten', ja, wir möchten
sogar noch weiter gehen als Lehmann'^, indem wir wenigstens
in den unteren classen in beschränktem masze auch die deutsche
flexionsweise 'am gegen- oder vorbild einer fremden spräche zum be-
wustsein bringen'.
Da es also unsei'e aufgäbe ist, Wechselbeziehungen zwi-
schen latein und deutsch in der sexta und quinta des
gymnasiuras aufzusuchen, bleibt uns nur noch übrig, unser ge-
biet hiermit genauer abzugrenzen, es liegt auf der band, dasz alles,
was die neuen lehrpläne'^ über den lateinischen Unterricht der
betreffenden classen vorbringen, in den rahmen unserer betrachtung
fällt, für das deutsche^" aber werden wir eine Scheidung machen:
die deutsche grammatik und was damit Zusammenhang hat, die
dictate und aufsätze, werden wir in den kreis unserer erörterungen
ziehen, wohingegen wir die erklärung deutscher prosastücke und
gedichte ganz aus dem spiele lassen, weil sie weder zum lateinischen
noch auch zur deutschen grammatik in irgend welcher beziehung
stehen.*'
so kann es doch unmöglich angebracht sein, die knapp bemessenen
deutseben stunden mit der erörterung dessen zu belasten, was allen
spraclien gemeinsam ist, sie zur Wiederholung oder vorhergehenden ein-
übung derjenigen grammatischen begriffe zu benutzen, welche für den
fremdsprachlichen Unterricht, dem die zeit ja viel reichlicher zugemessen
ist, erforderlich sind.'
'8 Lehmann a. a. o. s. 102: 'die besonderheiten der deutschen flexion,
die Unterscheidung starker und schwacher abwandlungsweise, die ab-
lautreihen können dem schüler nur unmittelbar, nicht etwa am gegen-
bild oder vorbild einer fremden spräche, zum bewustsein gebracht
werden. und da nun gerade in diesen abschnitten erfahrungsmäszig
eine anzahl von Schwierigkeiten für den schüler und Schwankungen im
allgemeinen Sprachgebrauch liegen, so wird es die erste und wesent-
lichste aufgäbe des grammatischen elementarunterrichts sein, hier klar-
heit und Sicherheit zu verschafifen.'
'9 lehrplane s. 18 f.
20 lehrpläne s. 13 f.
21 denn wir weisen ganz entschieden die ansieht zurück,
die sich noch neuerdings ausgesprochen findet bei A. Hildebrand, lehr-
proben und lehrgäuge aus der praxis der gymnasien und realschulen,
1894, heft 39 s. 40: 'eine selbständige grammatik, gelegentlich in die
deutsehe lectüre eingeschoben und an geeignete stofl'e derselben an»
geschlossen, wird genügen,' — Der genannte Verfasser will wenigstens
keine gedichte zu solchen zwecken misbrauchen, wie aus s. 42 a. a. o.
hervorgeht, dagegen ist auch dieses fast unglaubliche verfahren schon
vorgeschlagen worden, wie Lattmann, verirrungen des deutschen und
lateinischen elementarunterrichts s. 4 mit recht tadelt.
E. Cornelius : lateinisch und deutsch in der sexta und quinta. 429
Der lateinische Unterricht in sexta und quinta.
A. Die formenlehre.
1. Die declinatiou.
Wir haben oben betont, dasz gleichgültigkeit gegen den
deutschen stil auch gleichgültigkeit gegen den Inhalt bedingt, und
dasz daher form und Inhalt immer zusammenwirken müssen, in-
dem wir nun auf den ersten teil unserer betrachtungen , auf die
declination und conjugation, eingehen, wollen wir zunächst
zwei allgemeine bemerkungen vorausschicken, wer mit zehn-
bis zwölfjährigen gymnasiasten im verkehr steht, weisz , dasz das
formengedächtnis solcher knaben sehr ausgibig ist, ja, dasz es ihnen
leicht fällt, die formen selbst dann mechanisch auswendig zu lernen,
wenn ihnen das genauere Verständnis dafür mangelt, mit diesem
rasch auffassenden gedächtnisse kann und darf der lehrer rechnen,
nur möchten wir hier ausdrücklich hervorheben, dasz es seine sache
nun ist, dem empfänglichen gemüte der kinder auch den weg zum
Verständnisse der erworbenen sprachformen anzubahnen,
das zweite betrifft den umstand , dasz bei der declination und con-
jugation gewisse formein angewandt werden (z. b. amicus, i, m., der
freund; amo, avi, atuin, are lieben; amem ich möge lieben u. ä.),
und es wird durch unsere darstellung wohl gerechtfertigt erscheinen,
dasz wir vor einem erstarren solcher formein hiermit
entschieden gewarnt haben.
Beginnen wir gleich mit der declination der substantiva
und zwar zunächst mit einer ausführlicheren darlegung über die
erste declination, die ja dem sextaner schon im anfang ent-
gegentritt, mit freudigem eifer lernen die kleinen , die soeben in
die unterste classe des gjmnasiums aufgenommen sind, die abwand-
lung von mensa ausvv'endig, und es wird unseres dafürhaltens nütz-
lich sein, beim declinieren jedesmal das deutsche hinzufügen zu
lassen, weil dadurch zugleich die mutter.sprache geübt wird." denn
zehnjährige knaben besitzen — so scheint es uns — trotz ihrer Vor-
bildung auf der Volksschule noch keine solche gewalt über ihre
deutsche spräche, dasz sie ganz fehlerlos declinieren könnten, ja,
wir behaupten sogar, im gegensatze zu Perthes", dasz eben diese
Wechselwirkung zwischen latein und deutsch, in den lateini-
schen lehr stunden geübt, unwillkürlich die deutsche mutter-
sprache fördert, aber man verzeihe: wir haben etwas vorgegriffen.
denn die frage liegt nahe : wie wird nun das Verständnis für den
neuen geistigen erwerb der schüler angebahnt? zur beantwortung
darf der Verfasser vielleicht hier einflechten, wie er selber seine
** Perthes, zur reform des lateinischen Unterrichts V 26 hält es
dagegen für unwesentlich, ot; man das deutsche beim declinieren hinzu-
fügt oder wegläszt.
" Perthes, zur reform usw. s. 30.
430 E. Cornelius : lateinisch uud deutsch in der sexta und quinta.
Sextaner in die erste declination eingeführt bat. er schrieb nämlich
vier Sätze an die tafel, in denen die casus von aquila vorkamen:
aquila habet alas.
alae aquilae sunt magnae.
Silva placet aquilae.
puella videt aquilam,
diese wurden nun übersetzt, inhaltlich zum besitztum der schüler
gemacht und von ihnen aufgeschrieben, dasselbe liesz sich dann
auf den plural von aquila anvrenden. absichtlich vermied der Ver-
fasser den vocativ und den für die ersten anfänger noch wenig ver-
ständlichen ablativ. an einem zweiten beispiel, etwa an columba,
nun genau denselben versuch anzustellen, wäre allerdings vom übel
gewesen, weil es nur dazu geführt hätte, die obigen sätzchen stereo-
typ zu machen, vielmehr liesz der Verfasser nunmehr aquila, aquilae
usw. mit hinzusetzung des deutschen auswendig hersagen und stellte
alsdann fragen wie: 'mir ist gestern ein adlor entgegengeflogen',
antwort: aquila; 'ich habe den adler geschossen': aquilam; 'Jäger
streifen oft umher, um den adlern aufzulauern': aquilis usw. in
derselben weise lassen sich im lauf der zeit andere Substantive der
verschiedensten declinationen behandeln, z. b. 'ich schwinge das
Schwert': gladium; 'ich steche mit dem seh arfen seh wer t' :
gladio acri ; 'ich gehe mit dem kühnen schiffer': cum nauta
audaci. der schüler wird, wie uns scheint, dadurch gewöhnt, die formen
aus dem Zusammenhang leicht verständlicher sätzchen aufzufassen,
und gleichzeitig tritt ihm, wie die obigen formen aquilam und aquilis
zeigen, plastisch vor äugen, ob bei den im deutschen ähnlich klingen-
den formen 'den adler' und 'den adlern' ein adler oder viele adler
genannt sind, was beim nennen der bloszen formen nicht immer der
fall ist. wir gehen weiter und geben den Schülern in einer schrift-
lichen classenarbeit in folgender Umrahmung die lateinischen formen
herauszufinden: in proeliis acri bus^' haben sich die Soldaten aus-
gezeichnet, einer der Soldaten hat cum viro forti gekämpft, er
hat virum fortem besiegt und v iro forti die waffen abgenommen
usw. man sieht leicht, worauf wir hinauswollen: ein zusammen-
hängendes Stückchen hat sich unwillkürlich gebildet, und die formen
sind in inhaltliche beziehung nicht blosz zu einem einzigen satz ge-
rückt, sondern zu einer kleinen erzählung.
Indem unsere darstellung schon weit in das erste halbjahr der
sextanerarbeit vorgerückt ist, harren noch zwei casus einer beson-
deren besprechung: der ablativ und der vocativ. beim decli-
nieren des erstgenannten falles möge der schüler folgende zwei
formein anwenden: l) (bei Sachen) Corona von, mit dem kränze,
durch den kränz, 2) (bei personen) ab amico von dem freunde,
cum amico m i t dem freunde, zugleich sage man ihm, dasz von und
^' der lehrer sagt das ganze auf deutsch uud die schüler schreiben
nur das im text lateinisch angegebene nieder.
E. Cornelius: lateinisch und deutsch in der Bexta und quinta. 431
mit (insofern er in einem gerade vorliegenden heispiel nicht anders
belehrt wird) bei Sachen durch den bloszen ablaliv, bei personen
durch die präpositionen a und cum übersetzt werden, schon früh
erfährt also der scbüler der sexta, dasz man den ablativ mit dem
namen präposi tion scasus bezeichnen kann, bei der nächstbesten
gelegenheit aber musz er durch eignes nachdenken dazu gebracht
werden, dasz die landläufigen und formelhaften Übersetzungen Won',
^mit' und 'durch' nur Verlegenheitsübersetzungen sind, denn wenn
er etwa die worte vor sieh hat: elephanti magni tu dine multas
alias bestias superant, wird er zunächst den ablativ wörtlich wieder-
geben und sagen: 'durch grösze', nachdem er magnitudine als ad-
verbiale bestimmung der art und weise oder nach schärferem
nachdenken als eine solche der eigenschaft erklärt hat. fordert
man ihn nun auf, statt 'durch' eine andere präposition einzusetzen,
dann wird er leicht auf das vvörtchen 'an' verfallen, der in dieser
weise geübte schüler wird aber später noch andere präpositionen
richtig einsetzen, z. b. hieme im winter, omnibus temporibus zu
allen zeiten, multis proeliis in vielen schlachten, ea condicione unter
dieser bedingung, parentes modestia filii laetabantur über seine be-
scheidenheit, milites fortitudine victores fuerunt infolge ihrer
tapferkeit. um so mehr ist es zu bedauern, dasz die lehi'bücher
häufig im lateinischen text die entsprechende präposition ein-
klammern und so dem vorgeschritteneren sextaner und gereifteren
quintaner die gelegenheit zu eignem nachdenken entziehen. '^^ schon
deswegen aber glaul)en wir, dasz man die schüler unterer classen
jene präposilionen selbst finden lassen möge, weil die schüler der
mittleren und höheren stufe noch oft die präposition 'durch' ge-
brauchen, wo sie gar nicht hingehört. '^^
Dasz man bei der Übersetzung des vocativs nicht immer 'o'
schreien solle, obgleich dieses wörtchen beim formelhaften decli-
nieren angewandt wird , läszt sich dem sextaner zu dessen eignem
vergnügen leicht beibringen, und es ist erfreulich, dasz auch neuere
lehrbücher dieses verfahren einschlagen, so heiszt amice nicht blosz
'mein freund' oder 'lieber freund', sondern auch 'mein lieber freund',
was dem lehrer vielleicht veranlassung gibt, auf den unterschied
zwischen der deutschen gemüts- und der lateinischen verstandes-
sprache hinzuweisen, wir hätten über den voeativ gar nicht so
lange gesprochen, wenn nicht Cauer" aus seiner erfahrung im
griechischen mitteilte, dasz jenes 'o' noch bei tertianern üblich ist.
^^ vgl. Kothfuchs, beitrage zur methodik des altsprachlichen Unter-
richts, insbesondere des lateinischen (Marburg 1893j s. 39, der vor einem
solchen verfahren mit recht warnt.
■^^ siehe unten im abschnitt iüier die aufsatzbesprechung, wo wir auf
diesen umstand noch einmal zurückkommen wollen.
" P. Cauer, die kunst des Übersetzens s. 11: Phalinos antwortet
einem der Strategen am tage nach der schlacht bei Kunaxa (anab. II
1, 13): äWä qpiXocöqpLu |u^v eoiKOC, tu veaviCKC, koI X^t^ic ouk äxcipiCT«.
432 E. Cornelius : lateinisch und deutsch in der sexta und quinta.
Wenden wir uns wieder den ersten anfangsstunden der kleinen
sextanerschar zu, um von da weiterschreitend an einigen bei-
spielen zu zeigen, wie lateinische und deutsche declination
neben einander geübt nicht blosz das lateinische fördern,
sondern auch grammatik und stil der muttersprache sichern und
weiterbilden.
Einer der ersten unterschiede, die dem knaben zwischen den
beiden cultursprachen entgegentreten, ist der, dasz man etwa das
bekannte mensa im deutschen mit zwei Wörtern wiedergibt: 'der
tisch.' es genügt aber, wie uns scheint, nicht, dasz man auf diesen
deutschen artikel im gegensatze zum artikellosen latein*'* nur ge-
legentlich hinweist, sondern wir möchten empfehlen, dasz man die
Schüler neben mensa 'der tisch' auch mensa 'ein tisch' declinieren
läszt und dieses verfahren beliebig mit haupt- und später auch
diesen beigefügten eigenschaftswörtern aus den verschiedensten
declinationen fortsetzt, dadurch würde nicht immer in gleicher
weise decliniert und etwas manigfaltigkeit in die Übungen gebracht.
Da es nun im ferneren verlaufe des Unterrichts für das latei-
nische notwendig erscheint, Wörter aus verschiedenen declinationen
neben einander abwandeln zu lassen, so kann man etwa zusammen-
stellen rivus et pratum der bach und die wiese oder ein bach und
eine wiese und darauf aufmerksam machen, dasz bei gleichem
artikel dieser im deutschen nur einmal gesetzt wird: rivi et prata
die bäche und wiesen, eine kleine Vorbereitung auf die adjective
scheint uns aber in der abwandlung von gladius, hasta, scutum zu
liegen, wobei zugleich die hinzufügung des bindewortes 'und' zwi-
schen den zwei letzten gliedern der aufzählung hervortritt: das
Schwert, die lanze und der schild. im verfolg derartiger Übungen
dürfte die declination von agricola et filius der bauer und sein
söhn auch den vorteil bringen, dasz deutlich hervortritt, wie das
man kann 10 gegen 1 wetten, dasz der tertiauer sag^en wird:
'o Jüngling'; wenn er sehr verständig ist, läszt er das 'o' weg: erst
wenn er sich besinnen soll, wie wohl heute jemand in ähnlicher läge
sprechen würde, kommt er auf die anrede 'junger mann'. so ist
ÖJ ^eipÜKiov in den worten des Perikles an Alkibiades (memor. I 2,42)
nicht 'o knabe', sondern 'mein junge'.
^* trotz der bemerkungen, die Kern in seiner Satzlehre s. 107 ff.
entwickelt, hält der Verfasser am ausdruck 'artikel' fest, denn wenn
'der, die, das' und 'ein, eine, ein' auch ursprünglich fürwörter oder
Zahlwörter sind, so erhalten sie doch durch den häufigen gebrauch ge-
wissermaszen das recht, eine eigne wortclasse, den sogenannten 'artikel',
zu bilden. — Vgl. zu dem im text gesagten auch R. Iliidebrand, vom
deutschen Sprachunterricht s. 187 anm. , wo es unter anderem heiszt:
'da lernt der sextaner mensa der tisch usw. die junge seele, die doch
schon so scharf empfindet, stutzt bei dem fehlen des Jirtikels: wo hat
denn mensa sein der (oder die)? . . . das müste nun in der realschule,
nein, auch im gymnasium gleich zuerst mit gesagt und klar gemacht
werden: die lateinische spräche hat einen artikel gar nicht entwickelt
(wohl aber die griechische, aber nur einen, nicht zwei, wie die neueren
sprachen)' usw.
E. Cornelius: lateinisch und deutsch in der sexta und quiata. 433
fürwort 'sein' im deutschen hinzugefügt, im lateinischen dagegen
weggelassen wird.^*
Ein weiterer schritt, mit den schülern Stilistik im kleinen zu
treiben, möge der sein, sie zunächst herausfinden zu lassen, dasz
z. b. gloria belli im deutschen mit 'kriegsruhm' und bellum civile
mit 'bürgerkrieg' übersetzt wird, der knabe wird wiederum auf
eine Verschiedenheit zwischen der antiken und modernen spräche
aufmerksam: er sieht, wie die zusammengesetzten hauptwörter
seiner mutterspraehe'" im lateinischen in der weise auseinander-
fallen, dasz zu einem Substantiv im einen fall ein genetivisches, im
andern ein adjectivattribut hinzutritt, nun fordern wir ihn auf, gloria
belli und bellum civile durchzudeclinieren, und er macht die Wahr-
nehmung, dasz die genetivische beifügung immer unverändert bleibt,
während sich das adjectiv auch bei der declination genau nach dem
zugehörigen Substantiv richtet.^' dasz aber die apposition in einem
ähnlichen abhängigkeitsverhältnis zu ihrem hauptwort steht, wie das
adjectivattribut, und sich dadurch wesentlich vom genetivattribut
unterscheidet, mögen weiter vorgeschrittene sextaner oder quintaner
erkennen, wenn man ihnen die flexionsübung vorlegt: Hannibal,
Imperator Carthaginiensium, zu deutsch: 'der karthagische feldherr
Hannibal."^
2. Die conjugation.
Den ersten Vorgeschmack zur conjugation der verba er-
hält der sextaner bei der abwandlung des Zeitwortes sum. mit
jugendlicher freude macht er sich daran, die verbalformen, die von
der bisher gelernten declination so sehr abweichen, seinem empfäng-
lichen gedächtnisse einzuprägen, wir hüten uns, dieses feuer zu
dämpfen, nein, wir wollen es vielmehr dadurch noch weiter an-
fachen, dasz wir dem knaben einige winke geben, die ihm auch den
sinn der neuen kenntnisse näher bringen, über diesen punkt können
wir uns jedoch hier um so kürzer fassen , als wir auf den nächsten
abschnitt" verweisen, wo die behandlung der ersten conjugation in
frage kommt, soll doch der schüler, wie eingangs bemerkt ist, an
den formen von sum nur einen Vorgeschmack der tempora und modi
bekommen, könnte man ihn nicht, um den abstracten formen sum,
eram usw. etwas lebendigen inhalt einzuhauchen, daran erinnern,
dasz er jetzt ein knabe ist , früher ein kleines kind war und später
2* vgl. Rothfuchs a. a. o., s. oben anm. 25.
^° vgl. hierzu, was im abschnitt über das deutsche dictat gesagt ist.
^' natürlich wäre es sehr vom übel, vveiin solche beispiele
den schillern durchdecliniert zum auswendiglernen vorlägen, denn gerade
darin liegt der nutzen obiger Übungen, dasz sie aus dem unterrichte
herauswachsen und dasz die schüler gezwungen sind, diesen dingen
durch eignes nachdenken auf die spur zu kommen.
^^ vgl. unten, wo wir uns wegen dieser deutschen Übersetzung
rechtfertiojen, die vielleiclit manchem für schüler der unteren gymnaslal-
classen zu frei erscheinen mag.
33 s. unten s. 4.34 ff.
434 E. Cornelius: lateinisch und deutsch in der sexta und quinta.
ein Jüngling sein wird? er wird dann, ohne vorläu6g die kunst-
ausdrücke für die tempora zu kennen, die Wahrnehmung machen,
dasz beim conjugieren von puer sum, infans eram und adulescens ero
die drei genannten hauptwörter nicht etwa decliniert werden , wohl
aber nach dem numerus des verburas sich richtend zuerst im singular
und dann im plural auftreten, der gleiche Wechsel, den das adjectiv
diligens durchzumachen hat, fällt ihm auf, wenn er conjugiert : dili-
gens sim oder diligens essem , doch wird ihm, auch wenn er noch
keinen begritf vom conjunctiv hat, an diesen beispielen klar, dasz
das 'fleiszigsein' hierbei nur in der Vorstellung beruht, während
einer, der von sich sagen kann: diligens sum, in Wirklichkeit fleiszig
ist, will man noch ein übriges thun, dann mag man dem schüler an
der Wortverbindung in horto sum, eram usw. ein rätselchen aufgeben,
damit er merkt, dasz ich mich in einem garten ebenso gut allein
befinden kann, wie in gesellschaft, denn in horto bleibt auch bei den
personen der mehrzahl unverändert.
Wenn wir festhalten, dasz das verbuni sum nur die ersten an-
fange zum conjugieren anbahnt, dann ist es auffallend, dasz die
meisten lehrbücher die composita von esse in die lehraufgabe
der sexta aufnehmen, noch bevor also der anfänger die erste con-
jugation hat kennen lernen, soll er schon abstractionen machen, wie
prosum 'ich nütze', adsum 'ich stehe bei' und intersum 'ich wohne
bei'! dasz adsum heiszt 'ich bin zugegen' und absum 'ich bin ab-
wesend', kann schon der sextaner verstehen, doch erwäge man, wie
fruchtbringend es für den gereifteren verstand des quintaners ist,
wenn er sich beispielsweise von prosum 'ich bin nützlich' eine
brücke schlägt zu 'ich nütze' und dies dann auf die übrigen tem-
pora anwendet, ja, wir behaupten ferner, dasz er dadurch die
formen leichter bilden und sich vor manchem thörichten fehler
hüten wird, denn wenn ihm der lehrer nun sagt, dasz vor vocalen
das regelmäszige prod, vor consonanten das verkürzte pro steht,
dann wird er herausfinden, dasz 'ich nützte' = 'ich war nützlich'
mit prod er am und nicht etwa nach analogie der regelmäszigen con-
jugation mit der unform prodebam zu übersetzen ist.'* dasselbe
Verhältnis zeigt sich bei possum 'ich bin im stände, ich kann', was
uns zu dem Vorschlag führt, die composita von sum in das lehrbuch
für quinta hinüberzunehmen und dort mit dem unregelmäszigen Zeit-
wort possum in Verbindung zu bringen.
Auf die besprechung des hilfszeitwortes esse folgt bald die be-
handlung der regelmäszigen ersten conjugation. der kleine
^* vgl. Richard Hildebrand, Jahrbuch des pädaofogiums zum kloster
unserer lieben frauen in Magdeburg 1892 s. 13: 'was das lernen der
einfachen composita von sum betriflft, so sind sie nicht ganz leicht zu
lernen.' — Der Verfasser hätte hinzufügen sollen 'für sextaner', denn
für quintaner sind sie nach unseru obigen angaben nicht nur leicht zu
lernen, sondern regen auch zum nachdenken an. vgl. auch die eigen-
tümlichen schülerfehler, die a. a. o. s. 11 angegeben sind.
E. Cornelius: lateinisch und deutsch in der s^exta und c[uinta. 435
Schüler, der an der verbalflexion bereits ein wenig genascht hat,
weisz, dasz zu ihr ein gröszeres rüstzeug gehört, als zur abwand-
lung der noraina. die erste lateinische conjugation aber in steter
Verbindung mit dem deutschen mag ihm ein licht über das wesen
der conjugation überhaupt aufstecken, mit der gewohnten leichtig-
keit hat der knabe schon verschiedene tempusformen von laude aus-
wendig gelernt, und der lehrer wird es sich nun angelegen sein
lassen, die vielen neuen begriffe, die auf den jungen geist ein-
stürmen , allmählich zu klären und zu sichten.
Die erste und faszlichste belehrung ist die über die drei per-
sonen, und wir sagen wohl nichts neues, wenn wir sie zunächst
durch die fingersprache übermitteln lassen, indem ein beliebiger
Schüler bei 'ich' auf sich selbst, bei 'du' auf seinen nebenmann, bei
*er' auf einen dritten mitschüler deutet usw.
Schwieriger sind schon die tempora auseinanderzuhalten, und
es dürfte vielleicht nicht unangemessen sein, bei erklärung der
sogenannten präsenstempora, präsens, imperfectum und futurum I,
an den berühmten spruch des Konfuzius zu erinnern, der sich in
Schillers gedieh ten vorfindet:
zögernd kommt die zukunft hergezogen,
pfeilschnell ist das jetzt entflogen,
ewig still steht die Vergangenheit.
eine gröszere fassungsgabe gehört dazu , das perfectum von den
beiden andern perfectzeiten, dem plusquamperfectum und dem
futurum exaetum, zu unterscheiden, der versuch wird ausgeführt,
indem der lehrer etwa folgende zwei erwägungen anstellt: 1) er
nimmt vor den äugen der schüler ein buch in die band und liest
darin, dann legt er es wieder weg mit den werten: 'ich hatte (zu-
erst) das buch genommen und habe (nachher) darin gelesen'; 2) er
sagt: 'um drei uhr nachmittags werde ich das buch lesen, hierzu
brauche ich eine stunde zeit, also werde ich es um vier uhr ge-
lesen haben.'
Selbst die erklärung der m o d i bietet für den sextaner keine
unüberwindliche Schwierigkeit, wenn man ihn daran erinnert, dasz
z. b. laudem 'ich möge loben' einen wünsch ausdrückt, und dasz lau-
darem 'ich würde loben', wenn ich nur könnte, die nicbtwirk-
lichkeit meines lobes bezeichnet, während ich bei landabe 'ich werde
loben' mir als unumstöszlich fest vorgenommen habe, in der zukunft
mein lob auszusprechen.
Bleiben die beiden gen er a des verbums übrig: mit hilfe des
geberdenspiels trete am plastischen unterschied zwischen 'schlagen'
und 'geschlagenwerden' deutlich hervor, wer hammer und wer
ambosz ist.
Zwischen dem auswendiglernen von formen, wofür schematische
ausdrücke feststehen, und dem Verständnis derselben, das insbesondere
aus dem zusammenhange des satzes erkannt wird, waltet der früher^''
3' s. oben s. 430.
436 E. Cornelius: lateinisch und deutsch in der sexta und quinta.
schon gekennzeichnete unterschied ob, den wir hier nochmals aus-
drücklich betonen, so prägt der schüler in Verbindung mit ent-
sprechenden übungäsätzen das beispiel laudo allmählich in formel-
hafter weise^* seinem gedächtnisse ein, und es wird ihm mit hilfe
des lehrers bald klar, dasz zur formenbildung die bekannte Zu-
sammenstellung laudo, laudavi, laudatus sum^^, laudare notwendig
ist. wir sind zu den sogenannten Stammformen gelangt, die dem
sextaner und quintaner nunmehr auf schritt und tritt begegnen, es
ist üblich, diese aufzählung mit der kurzen Übersetzung 'loben' zu
beschlieszen, wir aber möchten für den anfänger wenigstens die
gleichzeitige angäbe der deutschen Stammformen empfehlen: 'ich
lobe, ich lobte, ich habe gelobt.' dieses verfahren hat, wie uns
dünkt, den vorteil, dasz der knabe bei jedem lateinischen verbum
unwillkürlich gezwungen wird, darüber nachzudenken, ob es im
deutschen etwa heiszt: 'ich dachte' oder — 'ich denkte', 'ich rief
oder — 'ich rufte', 'ich fragte' oder — 'ich frug', 'ich habe ge-
bracht' oder — 'ich habe gebrungen'^*, ferner wird er sich selber
darauf aufmerksam machen , ob man sagen musz : 'ich bin gelaufen*
oder — 'ich habe gelaufen', er wird also das richtige hilfszeitwort
einzusetzen haben.
Verweilen wir zunächst bei den lateinischen Stamm-
formen, diese gewähren dem schüler die handhabe, selbständig
verbalformen zu bilden, zu diesem zwecke gewöhne er sich, neben
dem conjugieren nach der reihenfolge der personen, was man längs-
conjugation nennen könnte, auch an folgendes schema, das wir mit
dem namen querconjugation bezeichnen möchten:
activ passiv
laudajs laudejs laudajris laude|ris
lauda|bas laudajres laudalbaris lauda|reris
]auda|bis laudajberis
laudav|isti laudav|eris laudat|us es laudal|us sis
laudav eras laudav|isses laudatjus eras laudatjus esses
laudav|eris laudatjus eris.
Der sextaner, der auch hierbei immer das deutsche hinzufügt,
wird sich freuen, die stamme von den endungen 'abzutrennen', wobei
=^ da sich bekanntlich im deutschen die formen des indicativs und
conjunctivs häufig decken, möchten wir als formen zum auswendig-
lernen übersetzt wissen: laudem ich möge loben, laudarem ich würde
loben, laudaverim ich möge gelobt haben, laudavissem ich hätte
gelobt.
^^ aus später noch erhellenden gründen ziehen wir diese form
laudatus sum dem sogenannten supinum iaudatum vor, das ja nur eine
unform ist. hat das betreffende verbum kein passiv, z. b. migraie, dana
behelfe man sich mit dem part. fut. act. migraturus.
^' und wie die verschiedenen dialektfehler alle heiszen mögen, die
jeder lehrer naeh belieben beobachten kann, man vergleiche hierzu
auch unsere bemerkungen unten über das deutsche dictat.
E. Cornelius: lateinisch und deutsch in der texta und quinta. 437
der präsensstamm im conjunctivus praesentis eine kleine Verletzung'
(Verwandlung des a in e) erlitten hat, und wird zu dem resultat
kommen, dasz zur verbalflexion drei stamme gehören: 1) der
präsensstamm, 2) der p erfe ct-activstam ra , 3) der per-
fect-passivstamm.'^ alles verläuft nun vorerst ganz glatt, denn
sogenannte unregelmäszigkeiten, wie do, dedi, datus sum, dare, sind
ausgeschlossen, und das beispiel der zweiten conjugation: deleo,
delevi, deletus sum, delere wird mit ausnähme des conjunctivus prae-
sentis genau nach analogie von laudo abgewandelt, nun folgen die
Zeitwörter der zweiten conjugation, die man die regelmäszigen verba
zu nennen pflegt; bei ihnen sind die beiden perfectstämme schon
abweichend: an die stelle von delev- tritt: monu-, an die von
delet-: monit-. stellt der schüler die querconjugation an, so wird
er sich auch hier leicht zurechtfinden, weshalb sich aber die lehr-
bücher nun vielfach scheuen, auch häufig vorkommende Wörter, wie
iubeo, video u. ä., vorzuführen, sehen wir nicht recht ein. denn gar
nicht des umstandes zu gedenken, dasz es leicht ist, statt monu-:
iuss- oder vid- und statt monit-: iuss- oder vis- einzusetzen,
so wäre mit der querconjugation solcher verba, die natürlich auch
an der Wandtafel vor sich geht, schon ein kleiner weg nach der
dritten conjugation gebahnt, denn wer einmal so weit gelangt
ist, kann die sogenannten unregelmäszigen Stammformen schon gar
nicht mehr vermeiden, während die vierte conjugation wieder
ähnlich wie die erste verläuft und deshalb neuerdings in den lehr-
büchern mit recht meistens vor der dritten behandelt wird, hält
man jedoch daran fest, dasz wirklich unregelmäszige verben nur
solche sind, deren stamm sich zeitweise ändert, wie velle u. ä., dann
wird der schüler, der sich gewöhnt hat, beim querconjugieren in die
richtigen gefächer zu greifen, auch die Schwierigkeiten der dritten
und fünften '"' conjugation leichter lösen können, ja er wird im
verlauf der Übungen bemerken, dasz die conjugationen nur in den
präsenstempoi'a des activs und passivs von einander verschieden
sind, dasz dagegen die perfecttempora beider genera verbi, nach den
endungen zu urteilen, einer einzigen conjugation angehören.
Dasz es auch deutsche Stammformen gibt, die sich aber
nach den lateinischen in keiner weise richten, ist dem schüler aus
seinen lateinstunden schon bekannt, und baldigst mag sich der
eigentlich deutsche Unterricht dieses Stoffes bemächtigen.
indem die deutschen dictate in der art, wie es ein späterer abschnitt
darlegen soll, in die mündlichen belehrungen miteingreifen, kommt
der unterschied zwischen starker, schwacher und gemischter
3ä letzteren nennt man sonst supinstamm. doch haben wir oben
anm. 37 schon angedeutet, dasz wir das supinum in der üblichen weise
verwerfen.
''*' so nennen wir die verba der dritten (misch)conjugation auf -io,
für die wir in manchen lehrbüchern ein vollständig abgedrucktes bei-
spiel, etwa capio , vermissen.
438 E. Cornelius : lateinisch und deutsch in der sexta und quinta.
conjugation zur spräche: die starke conjugation — so möge man
es dem knaben in seiner art faszlich machen — bringt im Präteri-
tum und participium infolge von umlaut und consonantenverände-
rung einen starken wandel hervor, die schwache braucht als stütze
die buchstaben -te oder -t, und die gemischte setzt sich aus den
beiden andern flexionsarten zusammen.
Die dritte deutsche Stammform enthält die beiden hilfszeit-
wörter^' haben und sein, und dem deutschen Unterricht bleibe es
vorbehalten, auf den in der spräche nicht immer durchgeführten ge-
brauch (vgl. 'ich habe gestanden' neben 'ich bin gestanden) hin-
zuweisen, dasz die transitiven verba in der regel mit 'haben', die in-
transitiven dagegen mit 'sein' construiert werden, gelegentliche
Übungen in der vom lateinischen losgelösten deutschen conjuga-
tion zeigen dem schüler, dasz unsere muttersprache nur zwei tem-
pora ausgebildet hat: das präsens und das präteritum, und dasz sie
sich im übrigen in umschreibenden Wendungen ergeht, die durch
die hilfszeitwörter haben, sein, werden, mögen, können u. ä. ge-
bildet werden.
Aber auch der spräche der alten Römer mangelt das hilfszeit-
wort nicht ganz, da ja die perfecttempora des passivs aus den ent-
sprechenden formen von sum und dem participium laudatus zu-
sammengesetzt sind, wir legen wert darauf, dasz dieser umstand
den Schülern stets klar vor äugen schwebt, und dasz auch den
Stammformen dieses 'laudatus sum' anstatt des landesüblichen supi-
nums laudatum einverleibt werde.
Da wir aber gerade von dem hilfszeitwort 'sein' t^prechen, so
erinnern wir daran, dasz dieses im deutschen die doppelte rolle
spielt, bei der bildung des passivs immer, bei der des activs zu-
weilen verwendet zu werden, so heiszt 'ich bin gelobt worden':
laudatus sum, 'ich b i n verbannt' : expulsus sum, 'ich b i n gekommen'
dagegen: veni. weshalb aber gibt es schüler, die statt dessen etwa
ventus sum sagen? unsere antwort hierauf ist eine dreifache:
1) solche knaben sind nicht gewöhnt, activ und passiv, d. h. 'thun'
und 'leiden' plastisch von einander zu unterscheiden, 2) sie kümmern
sich nicht um die deutschen Stammformen, und 3) sie conjugieren
das lateinische ohne binzufügung des deutschen, aus diesen gründen
halten wir es für gut, schon bei gelegenheit der ersten conjugation
die schüler herausfinden zu lassen, dasz, wenn ich sage: 'der rabe ist
in sein nest geflogen', ich damit ausdrücken will, dasz dieser vogel
selbst seine flügel in bewegung gesetzt hat — daher die Über-
setzung volavit — , oder dasz ein wandersmann, der die äuszerung
■•' wenn Kern in seiner satzleiire s. 110 ff. die hilfszeitwörter über-
haupt verwirft, so möchten wir dem entgegenhalten, dasz sie thatsäch-
lieh zur conjugation verhelfen und dasz sie gerade in ihrer stetigen
Verbindung mit andern verben das gepräge einer besondern classe von
Zeitwörtern tragen, vgl. auch, was wir oben s. 432 anm. 28 über den
artikel gesagt haben.
E, Cornelius: lateinisch und deutsch in der sexta und quinta. 43'J
thut: 'ich bin gewandert' oder 'ich bin spazieren gegangen' des-
halb die raüdigkeit in seinen knochen spürt, weil er sich selbst
körperlich angestrengt hat — daher die Übersetzungen: migravi und
ambulavi. mit hilfe der querconjugation aber erkennen die knaben,
dasz solche verba, die gar kein passiv entwickeln konnten, auch in
den übrigen perfectzeiten im deutschen mit 'sein' construiert werden.
Die Unterscheidung der beiden genera des verbums suchten wir
oben"*^ den schülern am 'schlagen' und 'geschlagenwerden' handgreif-
lich vorzuführen, sobald aber alle formen der ersten conjugation
gelernt sind, empfiehlt sich vielleicht unter anderm auch folgendes
verfahren: bevor man die schüler etwa die längsconjugation von
confirmare 'ermutigen' anstellen läszt, erzählt man ihnen, wie Caesar
seine Soldaten ermutigte , als sie vor dem anblick der Germanen zu-
rückschraken, und die zuhörer werden beim abwandeln der einzelnen
tempora, die man möglichst durcheinanderwürfelt, bemerken, dasz
das subject je nach dem verbalen genus wechselt, indem zugleich im
activ der feldherr mit dem hammer, und im passiv die Soldaten mit
dem ambosz sich vergleichen lassen, wer aber an solche und ähn-
liche beobachtungen gewöhnt ist, der gerät nicht so leicht in den
bekannten fehler, laudabo 'ich werde loben', laudor 'ich werde ge-
lobt' und laudabor 'ich werde gelobt werden' unter einander zu ver-
wechseln, und nicht nur dieses : der kleine Sprachforscher musz auch
stets berücksichtigen, ob ich in der Zukunft mein lob erteilen werde,
oder ob ich das lob von anderer seite im augenblick oder erst später
zu 'erleiden' habe, der gedankenlose und ungeübte schüler dagegen
überträgt den satz 'der knabe wird gelobt' mit puer laudabit , denn
er macht sich ja den Inhalt des satzes nicht klar, der besagt, dasz
der knabe im gegenwärtigen augenblick das lob von auszen
her zu 'erdulden' hat, er gibt also den klang der worte durch
blosze worte wieder und hat nur die form, und diese noch unvoll-
kommen, erkannt und übersetzt, sein ganzes bemühen war weiter
nichts als eine Zeitvergeudung.
Wenn das activische erste futurum bezüglich des übersetzens
ins lateinische mit zweierlei passivformen in conflict geraten kann,
so fordert das zweite futurum den schüler zum nachdenken über
den deutschen ausdruck heraus, denn es gibt wohl kaum ein tempus,
das in seiner formelhaften gestalt: laudavero 'ich werde gelobt haben'
so sehr der deutschen spräche ins gesiebt schlägt, wie gerade dieses.
von vorn herein musz also der sextaner erfahren, dasz jene formel,
die für die Zusammenstellung mit den übrigen perfectzeiten not-
wendig erscheint, beim übertragen lateinischer Sätze je nach um-
ständen in das präsens, Präteritum oder, wenn man bezüglich des
deutschen diesen ausdruck gebrauchen darf, in das erste futurum
verwandelt werden musz. soll der schüler also den satz verdeutschen :
dux militibus praemia donabit, si fortes fuerint, dann mag man
•1* s. oben s. 435.
440 E. Cornelius : lateinisch und deutsch in der sexta und quiuta.
es seinem eignen nachdenken überlassen, ob er fu er int mit dem
ersten futurum oder dem präsens wiedergeben will; liegen ihm aber
die Worte vor: si ui-bem expugnavero, vos omnes in servitutem
abducam, dann hat er die wähl, den nebensatz entweder so zu über-
setzen: 'wenn ich die stadt erobere', oder so: 'sobald ich die Stadt
erobert habe.' wir glauben aber, dasz man die knaben nicht früh
genug auf solche Übertragungen aufmerksam machen könne , wenn
wir wahrnehmen, wie Cauer in seinem buch: die kunst des über-
setzens s. 13" darüber klagt, dasz tertianer und secundaner nur
'mühsam' zum Verständnis des zweiten futurums gebracht werden.
.'Formeln sind vorhanden, damit man sie auswendig lernt, dann
aber bei gelegenheit sich davon frei macht', dies sei die losung des
kleinen Übersetzers, so hiesz in der grammatischen reihenfolge der
verbalformen der conjunctiv des präsens: laudem 'ich möge loben'
und der des imperfects laudarem 'ich würde loben'", und doch wie
anders gestaltet sich häufig die Übersetzung dieses modus! schon
die Vorführung der starken, schwachen und gemischten conjugation,
die dem deutschen Unterricht zugewiesen wurde, belehrte den schüler,
dasz der conjunctiv im deutschen nicht immer umschrieben wird,
denn die querconjugation zeigt, dasz unsere spräche auszer den Um-
schreibungen mit hilfszeitwörtern auch besondere formen für den
conjunctiv entwickelt hat:
ich lobe, ich lobe'^; ich lobte, ich lobte. '^
ich schlage, ich schlage ^^; ich schlug, ich schlüge,
ich nenne, ich nenne ''^; ich nannte, ich nennte.
ein aufmerksamer knabe wird auch leicht merken, weshalb die Zeit-
wörter der schwachen conjugation den conjunctiv lieber mit Um-
schreibungen bilden, als die der starken, und weshalb auch bei
'•' Cauer, die kunst des Übersetzens s. 1.3: mühsam lernen die
Schüler den lateinischen tempusgebrancli in Sätzen wie ut sementom
feceris, ita metes, und könnten eigentlich schon aus den häufig'en fehlem,
die sie dabei anfangs gemacht haben, wissen, dasz hier die deutsche
redevveise von der lateinischen abweicht; trotzdem übersetzen sie Catos
werte (Cat. mai. 6, 18): de Carthagine vereri non ante desinam, quam
illam excisam esse cognovero undeutsch ^als ich erfahren haben werde',
es ist dasselbe beharrungsvermögen, das sie verleitet, in Übertra-
gungen aus dem lateinischen und dann auch in deutschen auf-
s ätzen 'demselben' statt 'ihm' und 'desselben' statt 'sein' zu sagen,
weil sie sich den sorglosen gebrauch von sibi und suus haben abge-
wöhnen müssen. — Zur letzten bemerkung Cauers vgl. unten.
*^ so möchten wir die formelu für den conjunctiv zum auswendig-
lernen gefaszt wissen, und nicht, wie manche lehrbücher vorschreiben:
laudem ich lobe (du lobest), laudarem ich lobte (du lobtest) und lauda-
verim ich habe gelobt (statt: ich möge gelobt haben), was alles unserer
ansieht nach die schüler zur Verwechselung des conjunctivs mit dem
indicativ verleiten musz.
"•^ natürlich wird der schüler auch darüber belehrt, dasz diese con-
junctivformen nur in der dritten person singularis allgemein gebräuch-
lich sind.
E. Cornelius: lateinisch und deutsch in der sexta und quinta. 441
letzterer der einfache conjunctiv des Präteritums, dem kein hilfs-
zeitvvort hinzugefügt ist, häufiger angewandt wird, als der des
präsens.
Nun zur übex-setzung des conjunctivs aus der alten in die moderne
Sprache! wenn manche lehrbücher hinter laudemus einklammern:
'laszt uns loben', so würden wir diese wendung lieber dem eignen
nachdenken des schülers überlassen, der sich das formelhafte 'wir
mögen loben' bereits angeeignet hat. etwas manigfaltiger gestaltet
sich die Übertragung des conjunctivus imperfecti; denn peteret kann
man entweder einfach mit 'bäte' oder in phraseologischer Umschrei-
bung mit 'bitten würde — sollte — könnte — möchte' usw. in
unserer spräche wiedergeben, wir sehen keinen grund, weshalb man
nicht den sextaner oder wenigstens den quintaner dazu anleiten
kann , aus dem zusammenhange des jedesmaligen satzes das be-
treffende hilfszeitwort herauszufinden; er braucht eben nur aus dem
unermeszlichen born seiner muttersprache zu schöpfen, dieser denk-
process wird dem jungen forscher abgeschnitten, wenn die lehrbücher,
wie dies zuweilen geschieht, dem lateinischen text die betreffenden
bilfszeitwörter in klammern beifügen, so wenig mutet man den
Schülern beim übertragen fremdsprachlicher sätze in deutsche zu,
und doch wird es einem quintaner sicher nicht schwer fallen, etwa
die werte: 'Croesus oraculum Apollinis Delphici interrogavit, quid
faceret' richtig wiederzugeben mit: 'Krösus fragte das orakel des
delphischen Apollo, was er thun solle,'
Indem wir zum schlusz dieses abschnittes nun auf die übrigen
modi des verbums übergehen, wollen wir zunächst den imperativ
mit ein paar werten streifen, jedenfalls musz mit hilfe des geberden-
spiels für den schüler gleich von vorn herein klar werden, dasz man
sich in der regel nicht selbst etwas befiehlt, oder dasz, wenn dies
geschieht, der betreffende zu sich in der zweiten person i'edet; daher
kommt es auch — merkt der knabe — , weshalb dieser modus gleich
mit der zweiten person beginnt, auch wird der Süd- und Mittel-
deutsche bald die Wahrnehmung machen, dasz sein dialekt fehlgreift,
wenn er statt 'nimm', 'isz', 'gib' u.a. die formen bildet: 'nehme',
'esse', 'gebe' u. ä., denn — so wird ihm jetzt klar — die drei ge-
nannten Imperativformen leiten sich von der zweiten person des
indicativs ab , von 'du nimmst', 'du issest' und 'du gibst'.
Wir übergehen ganz die misgestalt des supinums, das manche
neuere lehrbücher mit recht weglassen, und gelangen zu dem schwie-
rigen capitel über die Infinitive und participien, das der
sextaner zu begreifen versucht, der quintaner zu verstehen sich an-
schickt, erst der Zusammenhang kleiner sätze klärt den schüler dar-
über auf, dasz die genannten modi keine eigentlichen verbalformen
sind, denn in dem satze: 'errare humanum est' ist errare nicht prä-
dicat, sondern subject, und bildet gerade das gegen teil des verbum
finitum: daher der name infinitivus, und das participium in der
Wortverbindung hirundines migrantes ist als adjectiv behandelt,
N Jahrb. f. phil. u. päd. II. abt. 1897 hft. 9. 29
442 E. Cornelius : lateinisch und deutscli in der sexta und quinta.
nimmt aber seiner form und seiner Verwendung im satze nach am
verbum teil, daher der name participium.
Wenn wir den infinitiv für sich allein betrachten, so be-
merken wir, dasz neuere lehrbücher eine doppelte Übersetzung dafür
bieten: esse sein, zu sein; fuisse gewesen sein, gewesen zu sein, und
trotzdem stellt man an die sextaner fürs tibersetzen ins deutsche
allzu geringe ansprüche, wenn man bei gelegenheit der Übungssätze
mittels klammern vorschreibt: esse (zu sein) und fuisse (gewesen
zu sein).
Ferner ist es zu verwundern, dasz die neuesten auflagen der
lehrbücher zuweilen nicht nur das g e r u n d i u m laudandi weglassen,
sondern dasz man auch neben laudans und laudatus das partici-
pium futuri laudaturus und das gerundivum laudandus ver-
miszt, Schwierigkeiten zum auswendiglernen bieten die genannten
sprachformen ja nicht, wohl aber wird man zu ihrer erklärung bei
gelegenheit nicht etwa einmal , sondern öfter , und zwar immer
wieder andere plastische beispiele heranziehen, hier eins davon:
Soldaten, die nach längerer belagerung in eine stadt einziehen, sind
expugnantes, liegen sie noch davor, dann sind sie expugnaturi,
zu gleicher zeit ist die stadt eine expugnanda, und wenn die
Soldaten mit ihrem einzug zu ende sind, ist die stadt eine ex-
pugnata. man bemerkt zugleich die trennung zwischen den acti-
vischen und passivischen participien. wie schon gesagt: man stelle
solche versuche auch an andern Zeitwörtern an, z. b. an legere, so
dasz deutlich die einzelnen verbalstämme hervortreten: legens
= präsensstaram, lecturus = perfect-passivstaram, legendus =
präsensstamm und endlich lectus = perfect-passivstamm. indem
sich aber der schüler in der vorhin angedeuteten weise klar macht,
dasz das participium ein mittelding zwischen adjectiv und verbum,
und das gerundium eigentlich ein Substantiv ist, läszt man ihn etwa
folgende Wortverbindungen declinieren: ursus saltans der tanzende
bär, templum aedificatum ein erbauter tempel, ars saltandi die
tanzkunst u. ä. dies wirkt, wie uns scheint, zugleich auf den
deutschen stil ein."® so weit kann man unseres bedünkens schon
in der sexta gehen, um so leichter wird es dem quintaner fallen,
den weg zur sogenannten conjugatio periphrastica einzuschlagen,
denn wenn er den satz vor sich hat: *puer librum lecturus est', wird
er sich sagen, dasz der knabe ein solcher ist, der im nächsten augen-
blicke das buch zur lectüre ergreifen wird , dasz er 'im begriffe ist,
das buch zu lesen', und wenn man ihm die lateinischen worte vor-
sagt: 'liber legendus est (oder erat)', wird er wissen, dasz das buch
in der nächstbevorstehenden zukunft 'erleidet', dasz es gelesen wird,
dasz €S gelesen werden soll (oder sollte).
46 s. oben s. 433.
(Fortsetzung folgt.)
Saarbrücken. Emmerich Cornelius.
J. Sievers: einricbtung eines hilfsbucbs für arithmetik und algebra, 443
28.
EINIGE GEDANKEN ÜBER DIE EINRICHTUNG EINES HILFS-
BUCHS FÜR DEN UNTERRICHT IN DER ARITHMETIK UND
ALGEBRA AN DEN SECHSCLASSIGEN HÖHEREN LEHR-
ANSTALTEN, NAMENTLICH AN DEN SÄCHSISCHEN REAL-
SCHULEN.
Im herbst 1895 legte ich der mathematischen abteilungssitzung-
der vierten hauptversammlung des Vereins sächsischer realschul-
lehrer den plan zu einem hilfsbuch der arithmetik und algebra vor,
wie es sich für diese anstalten am besten eignen würde, die sache
fand wenig anklang, vielmehr wurde beschlossen, das lehrbuch von
dr. E. Bardey besonders für die zwecke der realschulen umzuarbeiten
und hiermit wurde dr. Hartenstein, Oberlehrer an der realschule zu
Dresden- Johannstadt, betraut, dieses werk liegt nun schon seit
geraumer zeit vor. es ist ein fortschritt gegen das ursprüngliche;
doch leistet es keineswegs, was man von ihm erwarten durfte, und
was es, selbst auf Bardeyscher grundlage, leisten konnte; nament-
lich la&sen die textgleichungen immer noch viel zu wünschen übrig,
indessen, nicht um eine besprechung dieses buches handelt es sich
hier, sondern vielmehr um eine Wiederholung der von mir in jener
Versammlung entwickelten hauptgedanken. vielleicht fallen sie
andern orts auf fruchtbarem boden und tragen doch in irgend einer
weise zur gedeihlichen entwicklung dieses unterrichtszweiges bei.
Die algebra ist auf der schule nicht Selbstzweck, sondern aus-
scblieszlich mittel zum zweck; sie soll den schüler befähigen, geeig-
nete Probleme, soweit sie innerhalb bestimmter grenzen liegen, zu
bewältigen, mögen sie im übrigen einer Wissenschaft entstammen,
welcher sie wollen, den Zusammenhang zwischen den lösungen ver-
wandter aufgaben und die bedingungen für die lösbarkeit anderer
nachzuweisen, die zahl der vorhandenen, wie der brauchbaren
lösungen festzustellen u. a. m. , kurz sie soll jedem einschlägigen
praktischen bedürfnis genügen, soweit es innerhalb des lehrziels
möglich ist; mit der reinen theorie aber toll sie sich möglichst wenig
beschäftigen, ganz läszt diese sich freilich nicht umgehen; denn die
nun einmal doch notwendig zu lehrende und einzuübende arithmetik
wird wohl immer einen theoretischen anstrich behalten und deshalb
wohl weder für lehrer noch für schüler zum lieblingscapitel werden,
ausnahmen bestätigen natürlich hier, wie allenthalben, die regel;
auch räume ich gern ein, dasz die allgemeine arithmetik der interes-
santen Partien für die liebe jugend keineswegs ganz entbehrt, es
sind und bleiben aber oasen in der wüste, also auch ausnahmen.
So vergeht ein halbes jähr und wohl auch noch etwas länger,
da erklärt der lehrer: 'so nun gehen wir zu den anwendungen über,
29*
444 J. Sievers : einrichtung eines hilfsbuchs für arithmetik und algebra. ''
den gleichungen.' tapfer bat der tertianer stand gehalten und in
heiszem bemühen versucht, die Sätze und formein der arithmetik zu
begreifen, zu behalten des lieben fortkommens halber, ein Interesse
kann er der sache nicht abgewinnen; ja seine mathematischen kame-
raden thut er im geheimen gewis in eine andere classe von menschen,
nun soll er die fruchte seines fleiszes ernten, seine erworbenen kennt-
nisse anwenden und dadurch immer mehr erweitern, das freut ihn;
denn fleiszig war er wirklich, viel lieisziger als die kameraden, die
mit neigung und Verständnis gearbeitet haben, nnd kenntnisse hat er
sich auch erworben, aber unfruchtbare, unerfreuliche kenntnisse, die
bisher keinen andern wert hatten, als dasz ihr fehlen ihm die Ver-
setzung in die nächste classe nicht versperrte, nun freut er sich,
dasz sie noch einen andern zweck haben sollen , und mit den besten
Vorsätzen , die je eines tertianers brüst erfüllt haben , wirft er sich
von neuem in die arbeit, gilt es doch nun, mit hilfe des geheimnis-
vollen schlüsseis, den man mathematik nennt, unerraeszliche und
ungeahnte schätze zu heben, allein gemach, junger freund , so wohl
wird es dir nicht; das duldet die deutsche gründlichkeit nicht, du
hast zwar gelernt, mit allgemeinen gröszen umzugehen, du hast auch
so nebenher schon etliche gleichungen gelöst, aber systematisch hast
du das doch noch nicht betiüeben. damit es nun später keinen
aufenthalt gibt, — den gibt es schon so durch die ausätze leider oft
genug — lerne nun erst alle möglichen gleichungen lösen, die dir
fertig gegeben werden, dann, ja dann kannst du es auch versuchen,
wirkliche aufgaben zu lösen, so verlangt's das System, und dem
must du dich beugen.
In der that möchte man eine solche beweisführung annehmen,
wenn man sieht, wie in allen dingen die textgleichungen den reinen
gleichungen nachgestellt werden, wie sie, denen nach der Schwierig-
keit ihres ansatzes und nach dem nutzen, den sie für das praktische
leben, wie für die ausbildung des geistes gewähren, das allergröste
gewicht beigelegt, der allerbreiteste räum im lehrbuch eingeräumt
werden sollte, gleichsam als fünftes rad am wagen behandelt werden,
dr. Hartenstein z. b. bringt 554 reine gleichungen des ersten grades
mit einer unbekannten gegen 262 textgleichungen derselben art.
da nun jede textgleichuug notwendig die lösung einer reinen glei-
chung erfordert, so wächst die zahl dieser auf 554 -|- 262 = 816,
während die zahl jener unverändert bleibt, da das ansetzen von text-
gleichungen nicht im mindesten durch das lösen reiner gleichungen
gefördert wird, hier sind also dreimal so viel reine gleichungen als
textgleichungen vorhanden, und ähnlich ist es in andern bücheru.
ich meine, der reinen gleichungen könnte man füglich ganz ent-
raten, wenn dafür die zahl der textgleichungen entsprechend ver-
stärkt würde, es gibt auch so eingerichtete buchen so z. b. finde
ich in Leonhard Eulers vollständiger anleitung zur niederen und
höheren algebra, die ich allerdings nur aus der bei Nauck in Berlin
1796 erschienenen Grüsonschen Übersetzung der Lagrangeschen be-
J. Sievers: einrichtung eines hilf»baelis für arithmetik und algebra, 445
arbeitung kenne, nicht eine einzige reine gleichung; ebenso enthält
Schlotterbecks Sammlung algebraischer aufgaben für das kopf-
rechnen nur textaufgaben, ganz besonders aber gehören hierher die
arithmetischen aufgaben von Fenkner — Salle, Braunschweig — ,
denen ich nur eine etwas reichhaltigere auswahl, d. h. aufgaben ver-
schiedeneren gepräges oder Ursprungs, wünschen möchte, und —
last, not least — die ganz vortreffliche buchstabenrechnung und
algebra von J. B. Sass — Schlüter, Altona — , die in den 60er jähren
die vorgeschritteneren Schüler meines heimatlichen dorfes mächtig
anzuregen verstand, wer sich übrigens durchaus nicht von den
reinen gleichungen trennen kann, der gebe noch eine anzahl solcher,
nachdem die textgleichungen genügend behandelt worden sind; es
können ja solche vorgezogen werden, für die sich eine textgleichung
nicht zwanglos bilden läszt, also schwierigere und verwickeitere
gleichungen. nunmehr wird der schüler auch eher verstehen, warum
man ihm die lösung einer solchen aufgäbe zumutet; er wird nicht,
■wenn er eine gleichung gelöst hat, fragen, was nützt mir das, son-
dern sagen: 'diese gleichung ist der mathematische ausdruck für
eine bestimmte aufgäbe, die ich allerdings nicht kenne, die aber
heute oder moi'gen an mich herantreten kann; hab' ich aus ihr die
gleichung gewonnen, so kann ich sie nunmehr lösen, weil ich die
gleichung lösen kann.' ich habe also keineswegs etwas dagegen ein-
zuwenden, dasz auch reine gleichungen gelöst werden, doch wünsche
ich, dasz die textgleichungen den reinen vorangestellt und mehr be-
tont werden als bisher. — Und was spricht denn nun eigentlich
gegen eine solche einrichtung? dasz es unmöglich sei, textglei-
chungen vor den reinen zu lösen, kann niemand behaupten, höch-
stens kann man sagen, dasz der schüler bei dieser anordnung weniger
Übung im lösen von gleichungen erhalte, das mag wahr sein, jeden-
falls aber wird dieser schaden glänzend wett gemacht durch die
gröszere gewandtheit und Sicherheit, die er dafür im ansetzen von
gleichungen eintauscht; denn die lösung bietet nur selten Schwierig-
keiten, um so mehr aber der ansatz, auf den noch dazu alles an-
kommt, weitere nachteile meines Vorschlags kann ich mir nicht
wohl denken; sollten deren dennoch vorhanden sein, so ist es ja
wohl auch dann noch zeit, vorteile und nachteile der einen gegen
die andei'e anordnung abzuwägen.
Hiermit verlasse ich diesen gegenständ, um mich einem zweiten
punkte zuzuwenden.
Nicht allein betonen und voranstellen möchte ich die text-
gleichungen, sondern auch, und vielleicht mehr noch, umgestalten.
oft klagen die lehrer, dasz die ziele zu hoch gesteckt, den fächern
die stunden zu knapp bemessen seien, und ich glaube, dasz die
überbürdung der schüler, soweit sie vorhanden ist, gerade darin
ihren grund hat, dasz man das ziel erreichen soll und musz, selbst
wenn der durchschnitt der classe unbefähigt und das Schuljahr kurz
ist. da ist es wohl lohnend, darauf hinzuweisen, dasz man in einem
446 J. Sievers: einrichtung eines hilfsbuchs für arithmetik und algebra.
punkte wenigstens zeit und kraft des scbülers ohne schaden für
seine entwicklung sparen kann, die algebra ist , wie gesagt, nicht
Selbstzweck, sondern nur ein hilfsmittel für die andern Wissen-
schaften, sie hat deswegen das recht und die pflicht, wenn sie anders
ihren platz richtig ausfüllen will, sich die aufgaben, wie sie sich
dort ergeben, zusammenzustellen, die fallgesetze abzuleiten und
experimentell zu beweisen , ist z. b. sache des physikers, die manig-
fachen aufgaben aus diesem gebiete aber gehören, soweit ich sehen
kann, ausnahmslos nicht der physik, sondern der algebra an. ebenso
steht es in der geometrie, wenn nicht noch schlimmer; so gehört
z. b. die ableitung der formein , die den inhalt des dreiecks und des
Sehnenvierecks durch die Seiten ausdrücken, nicht in die geometrie,
und die sämtlichen algebraisch -geometrischen aufgaben kann man
auch mit fug und recht für die algebra in anspruch nehmen, wenig-
stens ihrer lösung nach, mag ihre deutung sie auch zu geometrischen
stempeln. — Nun soll ja keineswegs gesagt sein, dasz wir uns zunft-
gemäsz von einander absondern und das übergreifen von einem ge-
biet ins andere untersagen oder auch nur erschweren wollten, der
lehrer der algebra nimmt lediglich solche aufgaben als zu seinem
gebiete gehörig in anspruch, behandelt sie, wenn der schüler die
nötige Vorbildung erhalten hat, und überläszt es seinen collegen,
ob sie dieselben aufgaben nun auch noch in ihren stunden behan-
deln wollen, gewis werden die grundlegenden aufgaben dann eine
doppelte behandlung erfahren, im übrigen aber werden einige fächer
wohl recht bald durch die algebra von einem bestandteil befreit
werden, den der lehrer wenigstens schon lange als etwas lästiges,
nicht in das gebiet hineingehöriges empfunden hat, und können nun
mit weit mehr ruhe betrieben werden, und was das auch für den
gesamten andern Unterricht bedeutet, bedarf wohl keiner weiteren
Husführung.
Nun kann freilich die algebra nicht neue lasten zu den alten
übernehmen, sie rausz sich, in der hauptsache wenigstens, der bis-
herigen aufgaben entledigen und dafür wirkliche anwendungen aus
andern Wissenschaftsgebieten bearbeiten, freilich darf sie auch dann
dem schüler nicht lauter knackmandeln oder, wie man früher wohl
gesagt haben würde, mathematisches sinnenconfect auftischen, allein
diese befürchtung dürfte wohl nicht so nahe liegen als die andere,
dasz sich eine genügende anzahl in diesem sinne passender aufgaben
überhaupt gar nicht oder wenigstens nur sehr schwer beschaffen
lassen wird, nun lä.-zt sich allerdings nicht leugnen, dasz solche
aufgaben viel schwerer zu stellen sind als die bisherigen; trotzdem
aber dürfte die obige befürchtung doch kaum zutreffen, ja, ich meine,
nötigenfalls wäre das rechnen, die planimetrie, die Stereometrie und
die physik wohl allein im stände, den bedarf zu decken, namentlich
wenn man die zahl der aufgaben etwas einschränkt und dafür von
den sich dazu eignenden mehr als eine lösung geben liesze. es ist
das überhaupt pädagogisch gewis gerechtfertigt, namentlich aber
J. Sievers: einrichtung eines hilfsbuchs für arithmetik und algebra. 447
dann, wenn es sich um aufgaben handelt, deren lösungen schon
sachlich nicht ganz bedeutungslos sind, so z. b. läszt sich bekannt-
lich ein groszer teil der textgleichungen mit mehreren unbekannten
auch mit einer unbekannten lösen. — Aufgaben, die dem gebiet
der algebra selbst entnommen sind, habe ich noch nirgends gefunden,
ich schliesze daraus, dasz man sie aus irgend einem gründe für un-
geeignet hält, das ist auch meine ansieht; denn es mag ja für den
aufgabensteller z. b. ganz interessant sein, die frage zu untersuchen,
für welche speciellen werte für a, &, c, d, e, f, g und Ji die gleichung:
j/aa; + & + ^cx -\- d == /ex + /"+ Vffx -j- h
auf eine gleichung des ersten grades, des zweiten grades u. s. f. führt;
für ihn mag diese Untersuchung sehr nützlich und wohl auch not-
wendig sein; der schüler ist eben kein aufgabensteiler, ihn mag
man deshalb auch getrost mit solchen sachen verschonen und sich
darauf beschränken, besonders selbständige köpfe, die gelegent-
lich auf solche probleme stoszen , persönlich liebevoll zu unter-
stützen.
Über die aufgaben aus der chemie kann ich nicht recht zu einem
abschlieszenden urteil gelangen, gerechnet wird ja auch in der
stöchiometrie; die aufgaben sind aber doch alle so über einen leisten
geschlagen und so wenig algebraischer natur, dasz sie mehr in ein
rechenbuch als in ein lehrbuch der algebra zu gehören scheinen;
doch würde mich die aufnähme einiger solcher aufgaben , wie man
sie z. b. bei Heis findet, keineswegs stören. — Ganz wegfallen aber
möchten alle aufgaben, die keine realen Verhältnisse irgend welcher
art widerspiegeln, aufgaben, die nicht irgend welchem theoretischen
oder praktischen bedürfnis entsprechen, es hat wenig sinn, an-
gaben zu berechnen, die jeder vernünftige mensch gewissen jeder-
mann zugänglichen tafeln zu entnehmen pflegt, so z. b. würde ich es
nicht empfehlen, die stromlängen der Donau, des Rheins und der
Elbe zum gegenständ einer gleichung mit drei unbekannten zu
machen; die sind zu geben, wie die vocabeln der fremdsp rächen,
ihre berechnung hat, wie gesagt, wenig sinn, dasz ich gegen die
berechnung von einwohnerzahlen, die ja ihrer natur nach veränder-
lich sind, erst recht eingenommen bin, und zwar auch dann noch,
wenn das jähr der Zählung mit angegeben ist, versteht sich wohl
von selbst.
Es würde zu weit führen, alle die Verkehrtheiten — sit venia
verbo — auf diesem gebiete zu beleuchten, finden meine ausstel-
lungen und vorschlage anklang, so wird es noch zeit genug sein zu
überlegen , welche aufgabenkategorien auszumerzen und welche bei-
zubehalten sind, für jetzt erscheint mir die frage wichtiger, wie
denn eigentlich die aufgaben zusammengestellt werden sollen, es
ist ja zunächst klar, dasz jede aufgäbe sowohl innerhalb des Systems,
als auch in der sonstigen ausbildung des schülers an den richtigen
platz gestellt werden musz; so z. b. dürfen aufgaben über die fall-
448 J. Sievers: einrichtung eines hilfsbuchs für arithmetik und algebra.
gesetze nicht gelöst werden, bevor der fachlehrer für physik die fall-
gesetze behandelt hat, und der matbematiker selbst darf natürlich
auch nicht alle Sorten der gleichungen durch einander wirbeln, dann
aber kommt man auf eine Schwierigkeit, bei der bisherigen anord-
nung wird es nämlicb schwer halten, die nötige anzahl passender
aufgaben für III* zu beschaffen, bekanntlich werden nämlich jetzt
die sämtlichen gleichungen des In grades vor denen des 2n behan-
delt, wenn nun der physiker die fallgesetze durchgenommen hat
und in der planimetrie der pythagoreische lehrsatz bewiesen worden
ist, so wäre material genug für die gleichungen des 2n grades vor-
handen; statt dessen aber musz der lehrer der algebra die glei-
chungen des In grades mit mehreren unbekannten behandeln, die
den Schülern nach meiner erfahrung noch dazu schwerer fallen als
die gleichungen des 2n grades mit einer unbekannten, und für die
gleichungen des In grades mit mehreren unbekannten fehlt es aller-
dings auf dieser stufe an stoff, das bekenne ich gern; aber ich sehe
nicht ein, warum man diesem Übelstande nicht gründlich dadurch
abhelfen sollte, dasz man diese beiden capitel mit einander ver-
tauscht, sachliche bedenken dürften dagegen kaum geltend gemacht
werden können, und dasz das lehrgebäude dadurch geschädigt wer-
den sollte, kann ich mir nicht gut vorstellen, wenn es aber auch
der fall wäre, so würde ich dem umstände auch nur wenig gewicht
beilegen; denn das lehrgebäude ist doch des Unterrichts wegen da,
und nicht etwa umgekehrt.
Über die zulässigkeit der logarithmen an den sechsclassigen
anstalten läszt sich vielleicht streiten; wo sie aber behandelt werden
— und ich möchte das allerdings befürworten — da kann man auch
den Schülern getrost einige exponentialgleichungen zumuten, sonst
schwärme ich keineswegs für die logarithmen und möchte nament-
lich vor dem mit ihren resultaten getriebenen misbrauch nachdrück-
lich warnen, ihre Verwendung z. b. ist in der zinseszins- und renten-
rechnung gewis am platz; wenn sie aber benutzt werden, um zu
berechnen , zu welcher summe ein bei Christi geburt auf zinseszins
gelegter pfennig anwächst, und wenn man für dieses resultat dann
noch eine besondere genauigkeit erstrebt, wie das z. b. in Schurigs
(Brandstetter, Leipzig) in seiner art sonst sehr gutem lehrbuch ge-
schieht, so erscheint mir das als ein misbrauch vielleicht der ganzen
aufgäbe, zu allererst aber des resultats. man überlege sich doch
einmal: der pfennig ist überhaupt kein zinsfähiges capital, man kann
ihn also gar nicht auf zinsen legen und, wenn man's thäte, so würde
er in alle ewigkeit ein pfennig bleiben, somit gehört die aufgäbe
gar nicht in die Zinsrechnung, sie soll vielmehr nur das anwachsen
der zahlen in der steigenden geometrischen reihe zeigen, das aber
leistet das resultat doch auch , wenn es nur innerhalb sehr weiter
grenzen richtig ist, das leistet das mit Tstelligen logarithmen be-
rechnete resultat z. b. vollständig, abgesehen übrigens von dieser
übertriebenen genauigkeit möchte ich derartige ausgeführte rech-
J. Sievers: einrichtung eines hilisbuchs für arithmetik und algebra. 449
nungen, wie man sie bei Lübsen und Schurig findet, jedem lehrbuch
wünschen; auch möchte ich die von Spieker und Wittstein gegebene
logarithmenberechnung durch wiederholte quadratwurzelausziehung
namentlich als Übungsaufgabe nicht tadeln, wenn ich sie auch keines-
wegs für notwendig erachte.
Nun bringe ich einen punkt zur spräche, der zwar nicht direct
hierher gehört und auch nicht von groszem belang ist ; er ist aber
dadurch von interesse, dasz die fachleute über ihn geteilter meinung
zu sein scheinen, es ist wohl allgemeine sitte, dasz man beim an-
satz einer gleichung die werte mit den richtigen zeichen in rechnung
stellt , obwohl das für die lösung keineswegs immer notwendig ist.
wenn man z. b. die tiefe eines brunnens aus der zeit (t) berechnen
will, die vergeht, bis man einen stein aufschlagen hört, den man
hat hineinfallen lassen, so wird man die gleichung aufstellen
daraus
bestimmen und dann nachweisen, dasz nur die wurzel
X = - -\- et — 7/ -, -\- 2 —
g ^ r g^ ^ g
der aufgäbe genügt, die gleichung
c r g
hat genau dieselben wurzeln, würde aber doch wohl bei dieser auf-
gäbe nicht als zulässig, sondern als zu einer andern, auch leicht an-
gebbaren aufgäbe gehörig erachtet werden, ich meine, daraus geht
hervor, dasz man beim ansatz von gleichungen wurzelwerte stets
positiv nimmt, wenn es beim ansatze aber geschieht, so sollte es
bei den gegebenen reinen gleichungen auch so gehalten werden, was
aber keineswegs immer der fall ist; die gleichung
7— ^x — 5 = 9; a; = 9z. b.
würde ich also vorschlagen in
74-j/a; — 5 = 9; x=^
umzuwandeln.
Nachdem nun hiermit die hauptsache erledigt ist, mögen noch
einige minder wichtige punkte aus der arithmetik kurz berührt
werden: grundsätze sind sätze, sagt dr. Hartenstein, die man ohne
weiteres einsieht, die also keines beweises bedürfen, diese definition
halte ich für bedenklich; denn ich glaube, der eine sieht mehr ohne
450 J. Sievers: eiDrichtung eines hilfsbucbs für arithmetik und algebra.
weiteres ein als der andere, zum begriff des grundsatzes gehört des-
halb für mich auch die unbeweisbarkeit, d. h. neben der ein-
leuchtenden richtigkeit. dann ist das hauptgesetz der addition für
zwei Summanden ein grundsatz, während die erweiterung auf drei
und mehr Summanden sich beweisen läszt und deshalb als lehrsatz
angesehen werden musz. ein gleiches gilt für das hauptgesetz der
multiplicatlon, wenn auch die sache hier viel weniger klar ist. wenn
jemand spricht :
3 pfd. kaffee -j- 7 pfd. zucker = 7 pfd. zucker -j- 3 pfd. kaffee;
denn wenn ich beide waren neben einander auf den tisch stelle und
sie einmal von dieser, einmal von jener seite betrachte, so erhalte
ich zuerst die eine, dann die andere seite der obigen gleichung;
wenn jemand so spricht, so läszt sich dagegen wohl nicht viel ein-
wenden, und hier sind wirklich die Summanden vertauscht worden,
bei der multiplicatlon aber verfährt man ganz anders, zunächst er-
klärt man, benannte gröszen können nicht mit einander multipliciert
werden, oder wenigstens gibt es nur wenig werke, wie z. b. das von
Bussler (Ehlermann, Dresden), worin m mit kg multipliciert mkg
ergeben (m = meter, kg = kilogramm, mkg = meterkilogramm
oder kilogrammometer). sodann erklärt man weiter, wenn der
multiplicand benannt sei, so erstrecke sich die vertauschbarkeit der
factoren nur auf die coefficienten , nicht auf die benennung, und
identificiert dadurch völlig die multiplication mit der wiederholten
addition. wie man complexe factoren rechtfertigen will, wenn be-
nannte beanstandet werden, wie man es sich erklären will, dasz in
der potenz die basis sich nicht mit dem exponenten vertauschen
läszt, wo sich doch in der summe die Summanden und im product
die factoren vertauschen lieszen, das und wohl auch noch anderes
bleibt unklar, es gäbe wohl einen weg, klarheit zu schaffen; doch
scheint er vorläufig noch wenig bekannt oder wenig beliebt zu sein,
so liest man bei Stern (Winter, Leipzig u. Heidelberg) : das product
entsteht aus dem multiplicand, wie der multiplicator aus der ein-
heit, und bei Wittstein (Hahn, Hannover u. Leipzig): das product
besteht aus multiplicator und multiplicand , wie das rechteck aus
seinen beiden selten, beide definitionen , namentlich aber die
Sternsche, wären geeignet, die multiplication oder besser gesagt die
productbildung von der wiederholten addition zu trennen und da-
durch alle Ungereimtheiten zu beseitigen, es gäbe dann eben nur
noch zwei rechnungsstufen: die summenbildung (addition) und die
productbildung (multiplication), jede mit vertauschbaren gröszen
und mit einer umkehrung, deren gröszen nicht vertausch bar wären
u. s. f. dasz dieses neue System das bisherige aus dem Unterricht
zu verdrängen im stände wäre, darf man wohl bezweifeln; eins aber
könnte man ihm doch entnehmen, nämlich die eigentümlichkeit, dasz
man, wie schon bisher zwischen den Summanden, in zukunft auch
zwischen den factoren keinen unterschied mehr machte, wie man
J. Sievers: einricbtung eines hilfsbuchs für aritlimetik und algebra. 451
das jetzt schon z. b. bei Frischauf, bei Hengel (Herder, Freiburg i. B.)
und Boymann (Schwann, Düsseldorf) findet, so lange man sich aber
dazu nicht entschlieszen kann, rausz man wohl oder übel auch Stel-
lung zu der frage nehmen, ob man im product den multiplicator
oder den multiplicanden voranstellen will, man stellt es als eine
forderung der logik dar, dasz der multiplicand voranstehen müsse,
weil er eher gedacht werde, und behauptet, dasz nur der tyrann
usus viele mathematiker vom rechten wege ablenke und sie verleite,
den multiplicator voranzustellen, das ist sommerlogik von anfang
bis zu ende, ob man genau genommen überhaupt etwas denken
kann ohne ein bestimmtes: wie oft? mag einmal unerörtert bleiben,
dann aber kann man doch ebenso gut denken: ich habe etwas 3 mal,
und zwar Tpferde, als: ich habe 7 pferde, und zwar 3 mal; aber
wenn auch letzteres allein möglich wäre, so würde doch aus der zeit-
lichen folge im denken nicht das geringste für die räumliche folge
in der schrift geschlossen werden dürfen; ja, die mathematik stellt
sogar durchweg im allgemeinen das später vor das früher gedachte;
so z. b. ist in ^log cos 293 der -^93 gegeben, er soll zuerst ver-
doppelt werden, hiervon ist dann der cos, davon der log zu nehmen
und aus diesem endlich die quadratwurzel zu ziehen und in der
schrift ist das gerade umgekehrt, unsere spräche aber scheint die
hintenanstellung des multiplicators direct verbieten zu wollen, wenn
ich z. b. sage, ich habe hundertmal ein pferd gekauft, so ist daran
nichts auffälliges; wenn ich aber sage, ich habe ein pferd hundert-
mal gekauft, so werden sich wohl viele leute wundern, dasz ich einen
so lebhaften handel mit dem einen tier getrieben habe, diese aus-
führung ist aber von geringer bedeutung; die hauptsache ist, dasz
der Sprachgebrauch die voranstellung des multiplicators verlangt,
und dasz die sonstige mathematische Schreibweise dieses verlangen
ganz entschieden billigt und unterstützt, deshalb bin ich der an-
sieht, dasz, wenn man die factoren überhaupt unterscheiden will,
der letzte als multiplicand angesehen werden musz.
Was nun endlich die zulässigkeit des resultatheftes anbelangt,
so scheint die meinung, dasz der schüler gänzlich von der kenntnis
der resultate ausgeschlossen werden müsse, mehr und mehr zu einem
widerspruchslosen dogma zu erstarren, ich verstehe das nicht, nach
meiner ansieht sollte man die resultathefte den Schülern in die bände
geben ; denn erstens werden sie bei richtigem gebrauch weit mehr
nützen, als ihr fehlen und ihr misbrauch je schaden können, und
zweitens kann sich der lehrer dadurch, dasz sie vorhanden sind, am
besten gegen die gefahr schützen, betrogen zu werden, z. b. durch
alte Schülerlösungen, die sich ja bekanntlich auch an manchen an-
stalten wie eine ewige krankheit von einer Schülergeneration auf die
andere vererben, übrigens braucht das resultatheft nicht vollständig
zu sein, es genügt, wenn es die lösungen der schwierigeren aufgaben,
also vielleicht der textgleichungen und der aufgaben, die nicht nach
der Schablone gerechnet werden können, enthält, will man dann
452 J. Sievers : einricMung eines bilfsbuchs für arithmetik und algebra.
einmal eine besondere kraftprobe machen, wie das ja bei jedem
extemporale geschieht, so sind passende aufgaben dazu leicht auf-
zutreiben. — Sich gegen den misbrauch des resultatheftes zu schützen,
dürfte keinem lehrer schwer fallen; denn er wird wohl bald erkennen,
was er von seinen schülern in bezug auf ihre leistungsfähigkeit und
Zuverlässigkeit zu halten hat, und danach seine proben einrichten,
manche schüler lieben es und sind auch wohl vielleicht schon auf
der Volksschule so gewöhnt worden, die einzelnen ausrechnungen
nicht ins arbeitsheft, sondern auf besondere zettel zu schreiben, die
dann weggeworfen werden; diesem unfug, der jede controUe illuso-
risch macht, ist natürlich zu steuern, das arbeitsheft kann auch
dann noch einen ordentlichen eindruck machen, namentlich wenn
der schüler es nicht gar so übertrieben genau mit den pfennigen
seines vaters nimmt, dasz er glaubt, 15 aufgaben auf eine fläche
schreiben zu müssen , wo mit anstand nur 5 hingehen, — Ich bilde
mir nicht ein , hiermit die frage erledigt zu haben ; der hauptgrund
vielmehr, weswegen ich dem schüler das resultatheft gern anver-
trauen würde, liegt vielmehr in der obigen behauptung, dasz das
antwortheft dem schüler bei richtigem gebrauch weit mehr nützen,
als sein misbrauch und sein fehlen ihm je schaden können, diese
behauptung läszt sich nicht allgemein beweisen, sie ist auch je nach
der persönlichkeit des lehrers nur mehr oder minder wahr, wer sich
z. b. zutraut, jeden schüler zum selbständigen mathematiker heran-
zubilden, der mit unfehlbarer Sicherheit zu jeder aufgäbe den ansatz
und zu jeder gleichung die lösung findet, ja, wer sich nur annähernd
das zutraut, der wird seinen Schülern die benutzung des resultat-
heftes allerdings nicht gestatten dürfen ; wer sich aber an be-
scheidenere ziele gewöhnt hat und deshalb seinen schülern gern
noch eine kleine Unterstützung angedeihen lassen möchte, in der
meinung, dasz er die trägen vor einem etwaigen schaden schützen
könne, die strebsamen aber dadurch gefördert werden, dasz ihnen
so noch manche lösung gelingt, die ihnen sonst nicht gelungen wäre,
der wird ihnen gern die resultate der schwierigeren aufgaben zu-
gänglich machen, ich weisz es wohl, ich empfehle damit scheinbar
das sogenannte rechnen nach dem resultat. wenn das nun auch meine
absieht keineswegs ist, so wird es doch thatsächlich oft genug vor-
kommen, dasz der schüler nach dem resultat rechnet, das ist aber
doch auch noch lange nicht so schlimm, als wenn er sich mit der
stereotypen redensart entschuldigt: ich habe die aufgäbe nicht machen
können ; denn etwas lernt er doch auch bei diesem rechnen und , da
er ja mittlerweile auch geistig reifer wird, so wird er wohl auch
nicht immer unselbständig bleiben, zumal da ihm ja auch hier und
da selbständige leistungen zugemutet werden und er, Strebsamkeit
vorausgesetzt, die anlehnung an das resultatheft auf die notfälle be-
schränken wird.
Dem buche würde ich also etwa folgende einrichtung geben :
J. Sievers: einrichtung eines hilfsbuchs für arithmetik nnd algebra. 453
IIP.
Nach der üblichen allgemeinen einleitung:
1) die 4 species mit monomen.
2) „ 4 „ „ aggregaten.
3) textgleichungen des In grades mit einer unbekannten.
Ul\
4) das wichtigste aus den capiteln von den potenzen, wurzeln und
logarithmen.
5) reine gleichungen des In grades mit einer unbekannten.
6) text- „ „ In „ „ „ „
7) „ „ „ 2n „ „ „
ll\
8) reine gleichungen des 2n grades mit einer unbekannten.
9) text- „ „ In „ „ mehreren unbekannten.
10) reine „ „ In „ „ „ „
11) text- „ „ 2n „
12) reine „ „ 2n „ „ „ „
Anhang.
13) vermischte aufgaben.
Der lle und 12e abschnitt enthält nur gleichungen, die sich
ohne besondere kunstgriffe auf gleichungen des In und 2n grades
mit einer unbekannten zurückführen lassen , und der 13e abschnitt
endlich mag einfache aufgaben über maxima und minima, unbe-
stimmte gleichungen des In grades mit 2 unbekannten, reciproke
gleichungen und andere aufgaben enthalten, die zwar auszerbalb des
lehrziels liegen, für befähigte Jahrgänge aber doch erreichbar sind,
die Proportionen lassen sich an den 2n abschnitt anhängen, die
wurzelausziehung und die rationalmachung surdischer nenner in den
4n abschnitt einfügen usw.; doch gehört das mehr zur speciellen aus-
führung. von allgemeinem Interesse dürfte aber noch die frage sein,
wie weit die geschichte der mathematik zu berücksichtigen ist. ich
freue mich allemal, wenn ich eingehende geschichtliche anmerkungen,
wie z. b. bei Heilermann und Diekmann (Baedecker, Essen) finde;
aber ein wirkliches bedürfnis dafür vermag ich gerade in der algebra
nicht zu erkennen, dazu ist der gegenständ zu spröde, in der plani-
metrie fordern die sätze von Pythagoras, Archimedes u. a. förmlich
dazu auf, geschichtliche angaben zu machen; auch hält es oft nicht
schwer, den gemachten fortschritt nachzuweisen, in der algebra aber
treten uns zwar auch namen entgegen, wie z. b. B6zout und Diophant ;
sie bedeuten aber nur wenig für die Wissenschaft, die groszen er-
finder sind oft nicht einmal dem namen nach bekannt, ich erinnere
nur an die null und die decimalbrüche, und den bekannten bringt
der Schüler meistens nur wenig Interesse entgegen, weil er kein ver-
454 P.Vogel: anz. v. Tropsch Flemings Verhältnis zur röm. dichtung.
ständnis für die grösze des gemachten fortschritts hat. dasz z. b.
Vieta die buchstaben als allgemeine Zahlzeichen eingeführt hat,
mag ihm allenfalls noch bedeutungsvoll erscheinen ; der Engländer
Eecorde aber als erfinder unseres gleichheitszeichens läszt ihn jeden-
falls kalt, die geschichtlichen anmerkungen ausmerzen oder auch
nur beschränken zu wollen, liegt mir trotzdem fern; ich lege ihnen
aber für die ausbildung des scbülers einen geringern wert bei,
als gewöhnlich geschieht, und möchte deshalb keinem lehrer eine
eigentliche pflege des geschichtlichen elements im algebra-unterricbt
zumuten.
Frankenberg in Sachsen. Jürgen Sievers.
29.
Flemings Verhältnis zur römischen Dichtung untersucht von
DR. Stephan Tropsch (Grazer studien 1895).
Dasz sich Paul Fleming, durch Opitzens lehre und beispiel beein-
fluszt, in seinen dichtungen vielfach an antike poeten angeschlossen
hat, ist allgemein bekannt und in jeder litteraturgeschichte zu
finden.* es war aber noch nicht eingehend untersucht, was und
wie er entlehnt; alle monographien über Fleming behandeln diese
fragen nur nebenhin und unvollständig, ihre beantwortung ist
aber grundlegend für eine maszgebende beurteilung des dichters,
seiner Originalität und seiner dichterischen beanlagung. es ist daher
höchst dankenswert, dasz sich Tropsch dieser mühevollen arbeit
unterzogen und sie mit rühmlicher genauigkeit und ohne Vorein-
genommenheit erledigt hat. verf. weist selbst daraufhin, dasz ein
abschlieszendes urteil über Fleming erst möglich sein wird,
wenn die Untersuchung auch auf eine eventuelle abhängigkeit von
deutschen, französischen, holländischen, italienischen dichtem aus-
gedehnt ist: die wichtigste grundlage aber hat zweifelsohne Tropsch
geboten.
Er hat Flemings gedichte mit den dichtungen der Römer ver-
glichen, welche von Fleming selbst erwähnt werden, so mit allen
werken des Horaz, Catull, Tibull, mit Ovids Tristien, ex Ponto I,
ars amatoria, araorum I, metamorphosen I. II, Vergils bucolica und
georgicon I, mit Martials epigr. liber und den vier ersten büchern
der epigramme, mit Plautus Captivi und Asinaria; auszerdem ist
* es sei bei dieser gelegenheit empfehlend hingewiesen auf das in
gelehrtenkreisen vielleicht noch nicht genügend bekannte büchlein von
Frietlrich Straumer, Paul Flemings leben und orientalische reise,
sächsicher volksschriftenverlag I 6, 1892: dasselbe fuszt bei aller an-
spruchslosen Volkstümlichkeit auf gründlichen Studien und bietet in
engem rahmen eine fülle von stoff.
P.Vogel: anz. v. Tropsch Flemings Verhältnis zur röm. dichtimg. 455
hinzugezogen der von Fleming nicht erwähnte Ausonius, weil dieser
in Opitzens zeit sehr beliebt war.
Das resultat der vergleichung sind über 500 belege für die an-
lebnung Flemings an die antike, die hälfte davon bezeichnet verf.
selbst als die wichtigeren, insofern sie inhaltlich und formal so nahe
zu Flemings worten stehen, dasz man mit gröster Wahrscheinlichkeit
annehmen musz, er habe sie gekannt und bewuszt verwertet; bei
der andern hälfte ist nach Tropschs ansieht zwar Übereinstimmung
vorhanden, die möglichkeit aber nicht ausgeschlossen, dasz Fleming
auch völlig unabhängig sich so ausgesprochen hat. zeigt sich hier-
nach, dasz Tropsch sehr maszvoll urteilt und nicht voreilig
Schlüsse zieht (vgl. s. 59. 84. 97), so würde ich um so mehr wünschen,
dasz manche stellen ganz unerwähnt blieben, bei denen die annähme
einer entlehnung für den unparteiischen leser gar zu fern liegt: es
sind solche beispiele nicht zugkräftig, können aber gerade den an-
schein erwecken, als suche verf. seinem thema zu liebe etwas, wo
gar nichts zu finden ist; unzweifelhafte belege gibt es ja doch in
groszer menge.
So erscheint mir recht bedenklich die herleitung (s. 49) von
Fleming, poetische wälder III 2 (der winter ist fürbei usw.) aus
Horaz carm. I 4 (solvitur acris hiems). zunächst kann ich durchaus
nicht finden, dasz Fleming das gerippe seines gedichtes von da ge-
nommen habe (s. 52), und die einzelheiten beweisen nichts: Fl. v. 1
auen = Hör. v. 4 prata, Fl. v. 5 der angenehme lenz = Hör. v. 1
grata vice veris, Fl. v. 13 grüne == Hör. v. 9 viridi, Fl. v. 14 erden
= Her. V. 10 terrae, Fl. v. 15 jetzt regt sich die natur = Hör.
V. 10 terrae solutae, Fl. v. 17 reifen = Hör. v. 4 pruinis, Fl. v. 20
westenwind = Hör. v. 1 favoni. alle ausdrücke liegen bei einem
frühlingsgedicht so nahe, dasz kein anlasz ist anzunehmen, Fleming
habe sie aus der Horazode sozusagen zusammengestoppelt; dazu
kommt, dasz gerade die stellen, welche offenbar antike anklänge
enthalten (v. 2 was Juno kann beschauen, v. 18 die fromme Cynthia),
bei Horaz sich nicht finden, ebenso gezwungen erscheint es mir
(s. 83), Fl. od. II 1, 22 ff. der du deiner liebe spur | vor das traute
Vaterland | machtest durch die faust bekannt? | ja, du namest
dir auch für | vor die deinen gar zu sterben, zurückzuführen
auf Her. carm. IV 9, 51 non ille pro caris amicis aut patria
timidus perire; — oder Fl. od. IV 21, 74 ff. ihr seid unbesorgt,
das leben | in fast nahen tod zu geben für das heiige Christen-
reich auf Her. carm. III 19 Codrus pro patria non timidus mori.
und wenn s. 128 für Fl. od. 24, 11 wie des monden voller schein |
unter tausend sternelein herangezogen wird Hör. carm. I 12, 46
micat inter omnis ] Julium sidus, velut inter ignis | luna
minores, so beweist schon das Nibelungenlied (sam der liebte
mäne vor den sternen stät, Lachm. 282), dasz diesen naheliegenden
vergleich der Deutsche sich nicht aus Rom zu holen brauchte. —
Ähnliche zweifei sind mir noch aufgestiegen s. 55 Fl. pw. IV 20, 49 ff.
456 P.Vogel: anz, v. Tropscli Flemings Verhältnis zur röm. dichtung.
= Hör. epod. 2; s. 91, wo verschiedene stellen aus Fleming mit
Auson. Parent. 4, 17 in berührung gebracht werden; s. 92, Fl. od.
II 4, 81 ff. = Hör. carm. I 21, 13 ff.; s. 95, Fl. epigr. XII 11, 7
= Martial IV 60, 5 ; s. 106, Catull 21, 2-3 = Fl. epigr. VIII 31, 1 ff.
son. IV 18, 8. pw. I 17, 1 ff.
Mit den ergebnissea der Untersuchungen des verf. kann ich
mich durchaus einverstanden erklären, es stellt sich heraus, dasz
der Jüngling Fleming, sich vor Opitzens autorität beugend , dessen
empfehlung die alten auszuschreiben folge gab: Horaz, Ovid, Tibull,
Catull haben am stärksten auf seine dichtungen gewirkt, auf die
lateinischen natürlich zeitiger und stärker als auf die deutschen, die
entlehnungen früherer zeit schlieszen sich viel strenger an den
Wortlaut der Vorbilder an als die jüngeren, sind zum groszen teil
äuszerlich, oft gespreizt und ungelenk, während die letzteren sich ge-
wöhnlich durch gröszere Selbständigkeit und tiefere auffassung aus-
zeichnen, in einzelnen wenigen fällen verdankt er seinen mustern
wohl die anregung zum ganzen gedieht, öfter noch einzelne motive,
die er dann frei ausgestaltet und selbständig durchführt, weitaus
die meisten entlehnungen sind aber ganz kurz, äuszerlicher , for-
maler natur, und es handelt sich um entbehrlichen aufputz oder um
allgemein geläufige Vorstellungen und erfahrungssätze. stellt man
dazu in rechnung , dasz in zahlreichen liebes- und freundschafts-
liedern, patriotischen und andern gedichten berührungen mit latei-
nischen dichtem gar nicht zu finden sind, so ergibt sich aus allem,
dasz Fleming 'eine selbständige dichternatur war, fein und stark
genug begabt, poetisch zu empfinden und zu schaffen, wenn er
ti-otzdem viel einzelnes von den Lateinern borgte, so geschah es,
weil meister Opitz dies den kunstdichtern vorschrieb, sicher meinte
Fleming ebenso wie er, auf diese weise die deutsche dichtung der
classischen ebenbürtig zu machen . . . nach damaligem geschmacke
hätte er ohne solche zuthaten dies ziel nicht erreichen können'.
Flemings technik hat sicher durch das nachahmen der Römer ge-
wonnen; die natürliche entfaltung des poetischen genius ist aber
ebenso sicher aufgehalten, das individuelle zurückgedrängt worden,
jedoch war 'Flemings genius und eigenart bedeutend genug, dabei
nicht erdrückt zu werden', es wird also zugleich durch Tropschs
buch die für feinfühlige leser längst unzweifelhafte thatsache wirk-
lich bewiesen, dasz Fleming den 'schlesischen Virgil' an dich-
terischer begabung und bedeutung gewaltig überragt.
Schneeberg in Sachsen. Paul Vogel.
ZWEITE ABTEILUNG
FÜK GYMNASIALPÄDAGOGIK UND DIE ÜBRIGEN
LEHRFÄCHER
MIT AUSSCHLÜSZ DER CLASSISCHEN PHILOLOGIE
HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. RiCHARD RiCHTER.
(16).
QÜINTILIAN ALS DIDAKTIKER UND SEIN EINFLUSZ
AUF DIE DIDAKTISCH- PÄDAGOGISCHE THEORIE DES
HUMANISMUS.
(schlusz.)
V. ViTes.
Ludovicus Vives läszt sich in seiner Stellung auf didaktisch-
pädagogischem gebiet durch das bekannte wort der dunkelmänner-
briefe über Erasmus charakterisieren: er ist ein mann für sich.
er allein überblickt unser gebiet von dem hohen gesichtspunkt
einer philosophisch durchgebildeten, streng zusammen-
hängenden Weltanschauung aus, er allein erörtert sie 'im Zu-
sammenhang mit einer encyclopädisch-kritischen rundschau über
die Wissenschaften' überhaupt. Vives, Erasmus und Budaeus hat
man damals als die triumvirn in der gelehrtenrepublik bezeichnet,
man fand in Erasmus die beredsamkeit, in Budaeus das talent ver-
körpert, in Vives aber das urteil, iudicium.^^" erinnern
wir uns an dieser stelle, wie auch Quintilian ein philosophischer
grundzug kennzeichnet, wie auch er die Urteilskraft so hoch
wertet und selbst trefflich bethätigt.
Vives ist dabei — und das unterscheidet und scheidet ihn von
Erasmus — eine durchaus aufs ethische und religiöse gerichtete
natur. 'er ist erhabener, positiver im glauben, idealer, ascetischer
als Erasmus'; er hat mit diesem ja zeitweise in lebhaftem brief-
wechsel gestanden, aber 'dieser hat für die ethische richtung, die
Vives mehr und mehr einschlägt, kein Verständnis'.^^' in solchen
ethisch gestimmten naturen macht sich vielfach ein starker päda-
^^° A. Lange in Schmids encyclopädie des gesamten erziehunga-
und Unterrichtswesens, 2e aufl., IX s. 786,
^^' Lange a. a. o. s. 784 und 800.
N. Jahrb. f. phil. u. päd. II. abt. 1897 hfl. 10 u. 11, 30
458 A. Messer: Quintilian als didaktiker.
gogischer drang bemerkbar, ein inniges sehnen, die menschen zu
bessern und zu bekehren, so wiegt auch in Vives das pädago-
gische interesse vor, auch in seinen didaktischen erörterungen
läszt er die pädagogischen momente der bildungsarbeit hervor-
treten, das bildungsziel ist vom ethischen und religiösen gesichts-
punkt aus bestimmt, es ist, kurz gesagt, das ziel der erziehung und
bildung, das durch das katholische Christentum überhaupt notwendig
gegeben ist und das nur in den verschiedenen zeiten in verschiedener
beleuchtung sich darstellt, auch in Quintilians natur sahen wir
tief begründet die richtung auf das sittliche, auch er wertet
es höher als das intellectuelle, auch er beachtet die ethischen be-
ziehungen in bildungsarbeit und bildungsziel.
Eng damit hieng zusammen, dasz er auch in der praktischen
thätigkeit den eigentlichen beruf des redners erblickte, dasz er
in der rhetorischen ausbildung nur eine Schulung sah zu politi-
scher Wirksamkeit, dasz er gegen das weltentfremdete treiben der
rhetorenschule polemisiert, genau dasselbe sehen wir bei Vives.
wie er selbst in seinen Schriften auch praktische zwecke ver-
folgte, so will er auch, dasz die rhetorik praktisch, zumal politisch
verwendbar sei. er hat in den jähren 1519 — 21 auf wünsch des
Thomas Morus declamationen herausgegeben, für deren form ihm
die sogenannten Quintilianischen vorbildlich waren, in dem Vor-
wort dazu stellt er dem künstlichen und gesuchten der schulrhetorik
die wahre beredsamkeit gegenüber, die auf Sachkenntnis, zumal im
civil- und Staatsrecht, sich gründe, er erkennt dabei freilich,
hierin klarer blickend als Quintilian, dasz die beredsamkeit mit
dem untergange der republik ihren boden verloren habe, er will
aber mit seinen declamationes wenigstens politisch belehrend
wirken."*
Diese kurze vergleichende betrachtung dürfte uns beweisen,
dasz auch Vives — vielleicht noch in höherem grade als Erasmus
— mit Quintilian in innerer, geistiger Verwandtschaft
steht, inwieweit sich diese in seinen didaktisch-päda-
gogischen Schriften zur geltung bringt, soll nunmehr ge-
prüft werden, wir müssen dabei zunächst einiger kleinerer arbeiten
in kürze gedenken.
Die Schrift de institutione feminaeChristianae (1523)
ist hauptsächlich ethischen und religiösen Inhalts, bietet also zu an-
lehitung an Quintilian kaum gelegenheit. wenn darin verlangt wird,
dasz auch in den höheren gesellschaftskreisen die mutter ihr kind
selbst stille, so ist das eine forderung, der wir bei Plutarch und dann
öfter bei den huraanisten begegnet sind, an Quintilian erinnert es,
wenn er bemerkt, dasz ungebildete ammen nachteilig auf die spräche
des kindes wirkten, und wenn er rät, den kindern früh ethisch wert-
volle Sprüche einzuprägen, dasz er mehr die strenge in der zucht
5?2 a. a. 0. s. 782.
A.Messer: Quintilian als didaktiker. 459
hervorhebt, auch schlage zuläszt, ist darin begründet, dasz er al.s
Christ in dem glauben an die Wirksamkeit der erbsünde von der
menschennatur vFeoiger optimistisch denkt als Quintilian.^" —
Auch die Schriften satellitium animi und introductio ad
sapientiam (beide 1524) sind ganz moralisch-religiösen Inhalts,
die Schrift de ratione dicendi (1533) bestimmt er für solche,
die nicht 'rhetorik', sondern reden lernen wollen; neben der an-
eignung weniger allgemeiner regeln komme es hauptsächlich auf
die einübung an; durch eine fülle von beispielen sucht er die
regeln zu beleben — alles ganz im einklang mit Quintilian; in
seinem geiste ist es auch geschrieben, wenn wir in der schrift de
conscribendis epistolis (1536) lesen: initio illud praefandum
est , inventionem omnem non solum epistolae , verum cuiuscunque
alterius genei'is sermonis orationisve, ut etiam in bis quae loquimur,
haud penitus artis esse, sed prudentiae: quae paritur ex
ingenio, memoria, iudicio atque usu rerum : a nobis vero tradendis
artibus adiuvatur, non perficitur: admonetur, non omnino
instruitur: ne quis se vel hoc loco, vel in aliis, aut a me ipso, aut
ab alio quopiam scriptore aut magistro plenam cognitionem com-
ponendarum epistolarum , alteriusque omnino generis orationis ac-
cepturum speret.^^'
Die beiden epistolae de ratione studiipuerilis (1523)"'
zeigen Vives noch nicht in seiner philosophischen eigenart. es
sind rasch hingeworfene gelegenheitsschriftchen, die sich nicht wesent-
lich über die zahlreichen anleitungen zum Studium, die damals ent-
standen, erheben. Vives hat sie wohl geschrieben wie andere briefe
auch, ohne litteratur dabei zu benutzen, die Übereinstimmungen mit
Quintilian will ich in kürze hervorheben, der ausbildung des gedächt-
nisses in früher jugend wird besonderer wert beigelegt ^^^, ethisch
wertvoller Übungsstoff für das auswendiglernen und das schreiben
empfohlen.^" der stilus ist natürlich optimus magister atque effector
=32 die belege bei Lange a. a. o, s. 839. für Quint. vgl. I 1, 5. 36.
3, 13 ff.; für Plutarcb TT. TTaiöuuv dYUJYfjc c. 5.
^3'* ich eitlere nach der ausgäbe Coloniae 1537. die .stelle findet
sicli dort 8. 6 f. im anfang des eapitels de inventione epistolae; man
vergleiche damit etwa Quint. II 13 (quis modus in arte?).
*^^ ich citiere nach dem abdruck bei Tb. Crenius. consilia et
methodi studiorum, Rotterdami 1692. die Seitenzahl in eckiger klammer
bezieht sich in den Schriften des Vives auf die Übersetzung von Fr.
Kayser in der bibliothek der kathol. pädagogik bd. VIII. — Die beiden
briefe ergänzen sich gewissermaszen gegenseitig, der erste an die
königin von England, Katharina, als anleitang für den Unterricht der
kleinen prinzessin Maria gerichtet, behandelt hauptsächlich den ele-
mentarunterricht; der andere, für den söhn des durch den briefvvechsel
mit Erasmus bekannten lord Montjoie bestimmt, behandelt auch das
Verhältnis zwischen lehrer und schüIer und setzt in den studienanlei-
tungen schon einen vorgerückteren sehüler voraus.
536 s. 108. 122 [s. 415. 418]. Q. I 1, 19.
^" s. 108 [s. 415]. Q. I 1, .30.
30*
460 A. Messer: Quintilian als didaktiker.
dicendi^^^ aemulatio und contentio unter den schülern wird als
förderlich für die studien betrachtet, dabei wird aber erinnert: cum
melioribus aut sapientioribus te ne certes invidia aut malevolentia,
sed virtute, probitate, studio, iiuperitiores te ne despice usw."* das
Verhältnis des lehrers zum schüler ist als ein väterliches zu fassen,
der schüler soll fragen, neque enim hoc est turpe, sed ignoratio
turpis est ; von dem , was bei andern getadelt oder verbessert wird,
soll er auch nutzen ziehen. ^^° über das Verhältnis von grammatischen
regeln und Sprachgebrauch wird im sinne Quintilians bemerkt, bei
der schriftstellerlectüre solle der Sprachgebrauch beobachtet werden,
besonders ob er mit den grammatischen regeln übereinstimme oder
nicht; nam in multis varius usus in normas et praecepta concludi
non potuit: sequendus tarnen potius quam ars, quae est usu
constituta, non e contrario, neque vero despicienda est id-
circo ars, modo ne sit superstitiose anxia. formulis est hoc
tempore opus, quum populum non habemus et eruenda sunt ex
scriptoribus omnia . . . quid? quod ne tunc quidem canonibus
caruerunt, quum esset in Latio et Graecia eadem populi totius
quae eruditorum lingua. ^^' Quintilian selbst wird nur einmal citiert
in dem satze: Graecas litteras Q. simul disci cum Latinis posse
putat.^^^ die anordnung der lectüre zeigt keine anlehnung an ihn.
Weit wichtiger ist für unsere Untersuchung das werk de tra-
dendis disciplinis.*^^ das erste buch zwar bietet für eine be-
nutzung Quintilians keine gelegenheit. es gibt die philosophische
grundlegung: in einem überblick über die entwicklung desmenschen-
geistes und der cultur wird die ars (kunst und Wissenschaft) als
product des geistes erfaszt, zweck, Ursprung, art der aneignung,
Wirkung der ars wird erörtert, alsdann ein System der für den
Christen passenden artes entworfen; eine eingehende erörterung
über die Stellung des Christen zur heidnischen litteratur schlieszt
das buch, das zweite handelt von der Organisation des erziehungs-
und Unterrichtswesens, von den dabei beteiligten personen; es er-
örtert in diesem Zusammenhang auch die frage, ob schule oder haus
als ort des Unterrichts und der erziehung den vorzug verdiene, und
das Verhältnis von lehrer und schüler; es streift die ersten Stadien
der sittlichen bijdung und die hierbei zu benutzenden motive und
bespricht sehr eingehend die Verschiedenheit der individualiläten
nach der ethischen und der intellectuellen seite bin und die kenn-
538 s. 125 [s. 421]. Q. X 3, 1.
639 s. 123 [s. 419]. Q. I 2, 22.
5^» s. 122. 125 [s. 419. 421]. Q. II 2, 4—6. I 2, 21.
5" s. 135 f. [s. 423 f.]. Q. I 6, 43 ff. III 2.
s^2 s. 142 [s. 425]. Q. I 1, 12. Quintilian empfiehlt hier auch be-
kanntlich den beginn mit dem griechischen, darin folgt ihm also
Vives nicht.
5^3 (Jen lateinischen text citiere ich nach der ausgäbe: lo. Lud. Vives
Valentini, de disciplinis libri XX. Coloniae. apud loannem Gymni-
cum ]536. über die auf die Übersetzung bezüglichen citate s. o. 535.
A.Messer: Quintilian als diclaktiker. 461
zeichen der beanlagung — alles materien, denen auch Quintilian
seine aufmerksamkeit widmet, sehen wir zu, in welchem Verhältnis
Vives dabei zu ihm steht.
Das bild der idealen akademie ist von Vives ganz selbständig
entworfen, existierte sie in Wirklichkeit, so wäre es zweifellosz, dasz
hier und nicht zu hause Unterricht und erziehung etiam extemplo
a lacte stattzufinden hätte.'" also im princip ist er wie Quintilian
unbedingt für die schule, den thatsächlich bestehenden Verhält-
nissen gegenüber will er die frage nicht allgemein entscheiden, ist
der vater vermögend genug, so nehme er einen paedagogus, der den
knaben unteri'ichte , aber mit mehreren altersgenossen zusammen,
sonst macht er, wie Quintilian zeigt, geringere fortschritte. *'^ will
er ihn in eine der bestehenden schulen schicken, so prüfe ihn der
vater, ob er tauglich ist zum Studium und ob seine ethische be-
anlagung annehmen läszt, an eruditione probe (sit) usurus. nam
nihil est peius quam abusus bonarum rerum et eruditio , instrumen-
tum rerum maximarum , converteretur ad scelera ingentia in animo
pravo posita. merito Quintilianus potiorem sibi causam videri ait
vivendi honeste, quam vel optime discendi.^^^ hier ist ein punkt, in
dem sie sich in ihren grundanschauungen berühren, in diesem Zu-
sammenhang betont er auch wie Quintilian die Wichtigkeit einer
recht frühzeitigen sittlichen gewöhnung, er läszt durchblicken, dasz
die kinder oft schon im eiternhaus verdorben werden, zumal da sie
alles nachahmen (sunt pueri naturaliter simii).^" als motive , die
bei erziehung und Unterricht wirken sollen, wünscht er nicht zwang
und furcht, sondern liebe zu eitern und lehrern^^^; er unterscheidet
sich von Quintilian darin, dasz er die möglichkeit zugibt, dasz diese
motive nicht ausreichen und die furcht hinzutreten musz, ferner dasz
er über dem ehrtrieb noch ein weit höheres motiv kennt, nämlich
um der Schönheit der tugend selbst willen zu handeln. ^^'
Von dem paedagogus verlangt er wie Quintilian neben der
nötigen bildung vor allem sittliche tüchtigkeit.°^" derselben forde-
rung musz natürlich auch der lehr er entsprechen, das bild, das er
von diesem entwirft, ist reicher ausgeführt als bei Quintilian, be-
sonders hebt er, was wir bei Quintilian vermissen, neben dem wissen
das lehrenkönnen scharf hervor: magistri non modo sint ea
doctrina, ut possint bene instituere, sed habeant tradendi facul-
tatem ac dexteritatem.'^^' einen recht wichtigen zug fügt er
auszerdem noch hinzu, den wir auch bei Quintilian vermissen, der
aber ganz im sinne Quintilians dem bilde eingefügt wird: den päda-
*" s. 266. Q. I 2.
5^= s. 267. er meint wohl Q. I 2, 21. 26.
5^6 s. 268. Q. I 2, 3. vgl. XII 1, 32: facultas dicemli, si in malos
incidit, et ipsa iadicanda est malum; peiores enim illos faeit, qui-
bus contigit.
=47 s. 266 f. Q. I 2, 6—8. ^48 s_ 269. 271.
s« s. 269. vgl. Q. I 2, 22. 3, 7. 13 ff.
550 s. 267. Q. I 1, 8. 551 3. 260 f.
462 A. Messer: Quintilian als didaktiker.
gogischen takt.^*- — Wie Quintilian vom lehrer gefordert hatte:
sumat ante omnia parentis erga discipulos suos animum, so heiszt
es auch hier — aber ebenfalls mit einem bemerkenswerten zusatz :
in discipulos affectu erit patris, ut illi sint ei filiorum loco, nee
quantum ab illis aut a profe ssione redeat, spectabit.^^^
das Verhältnis von lehrer und schiiler wird übrigens nochmals in
anderem Zusammenhang erörtert, auch hier ist Vives viel reich-
haltiger als Quintilian, von dem er sich auch durch die religiöse
weihe, die er dem Verhältnisse gibt, unterscheidet. ^'^^
Ein capitel, das er mit ausdrücklicher bezugnahme auf Quin-
tilian, dabei aber wiederum weit ausführlicher und gründlicher be-
handelt, ist das von der erkenntnis und der berücksichtigung der
Individualitäten. Quintilian begnügt sich hier mit kurzen an-
deutungen, Vives gibt eine bis ins einzelne ausgeführte Charakterisie-
rung der vorkommenden ethischen und intellectuellen beanlagungen,
wobei er auch die körperliche beschaffenheit in betracht zieht.*"
das was er über die praecocia ingenia sagt, ist Quintilian gegenüber
ganz selbständig^''', auf ihn beruft er sich aber da, wo er den nach-
ahmungstrieb, falls er sich auf das gute richte, als zeichen günstiger
beanlagung nennt, und ebenso bei der bemerkung über das ge-
dächtnis als signum ingenii (quae duabus constat partibus, facile
percipere et fideliter continere) ^^'^ ; mit ihm stimmt er überein,
wenn er meint, dasz sich beim spiel die charakteranlage leicht
offenbare. '"^^
Am Schlüsse des buches gibt er gewisse grundzüge für das
didaktische verfahren, dabei heiszt es u. a.: artes omnes . . .
optime ex illorum actionibus atque operibus colliguntur, qui natura,
studio, usu fuerint instructissimi: ebenso hatte Quintilian es aus-
gesprochen, dasz die kunstwerke früher da waren als die kunst-
regeln und dasz sie uns auch zur erlernung der kunst wertvoller
sind.^'"' Quintilian hatte gefordert, dasz der knabe von anfang an
optimis imbui, ferner dasz der lehrer sich der fassungskraft des
^^* s. 261. prudentia, vitae totius rectrix, maximas validissi-
masque habet vires et ad recte artes tradendas et ad vitia emendanda
et ad repreliensionem et castigationem, quum est opus et quatenus:
multum eiiim efticiunt liaec suo tempore, suo loco, suo modo adhibita:
intempestiva autem omnia odiosa atque inefficacia suut.
^^3 Q. I 2, 4. Vives s. 261. letztere bemerkung ist natürlich in Zu-
sammenhang zu bringen mit seiner forderung: omnis quaestionis occasio
(also auch privatstunden verpönt!) repellatur ab scholis. accipiant
doctores salarium de publico, quäle cupiat vir bonus, fastidiat malus
. . . nihil a scholasticis accipiant. s. 262,
^5< s. 281 f.
555 g. 272—81. Q. I 3, 1—7. 556 g 275. Q. I 3, 3 f.
557 s. 276. 278. Q. I 3, 1 f. 5ö9 g. 278. Q. I 3, 11 f.
559 s. 282 f. Q. III 2. X 1, 15. — Übrigens macht hier Vives nur
eine anwendung seines vorher aufgestellten grundsatzes: in praeceptione
artium multa experimenta coUigemus, multorum usum observabimus, ut
ex illis universales fiant regulae (s. 282).
A.Messer: Quintiliaa als didaktiker. 463
Schülers anpassen müsse; er hatte diese beiden Forderungen be-
ziehungslos neben einander gestellt; Vives combiniert sie in origi-
neller weise und läszt sie sich gegenseitig modificieren: sed quam-
Tis in tradenda arte perfectissima seraper atque absolutissima sint
proponenda, in docendo tarnen ea sunt ex arte praebenda auditoribus,
quae illorum ingeniis competant; artifex enim summa contemplari
debet, et ea in canones deducere, coutendat unusquisque assequi ;
praeceptor vero in schola auditorium suum debet spectare, non
ut ab arte deflectat, aut falsa tradat pro veris, sed ut congruentis-
sima captui suorum ; utrumque divinum illum artificem ac magistrum
praestitisse sacra evangelü historia declarat. ■'^'^ er scheidet also von
dem betreiben der Wissenschaft und der kunst viel schärfer als Quin-
tilian das lehren derselben, noch eine andere stelle mag das
illustrieren. Quintilian hatte bemerkt, gute lehrer gäben sich zum
Privatunterricht nicht her, nara optimus quisque frequentia gaudet
und praeceptores ipsos non idem mentis ac Spiritus in dicendo posse
concipere singulis tantum praesentibus quod illa celebritate audien-
tium instinctos. maxima enim pars eloquentiae constat animo.
Yives gelaugte bei seiner 'prüfung der köpfe' zu dem schlusz, dasz
es am besten sei, wenige, aber beanlagte schüler zu haben, er fügt
hinzu, mit unverkennbarer beziehung auf Quintilian: non nego quin
ad diccndum frequentia incitetur animus, sed aliud est dicere
quam docere: et in dicendo nescio quibus nos a gloria video
stimulis pungi. in der that hatte Quintilian in seiner erörterung,
die sich übrigens nicht nur auf den rhetor, sondern auch auf den
grammaticus bezieht, nicht sowohl an den lehrer wie an den
seine kunst übenden rhetor gedacht, die correctur, die ihm Vives
zu teil werden läszt, ist ebenso bezeichnend für seinen Scharfblick
wie für sein ethisches feingefühl. ''^'
Das dritte buch behandelt die sprachliche ausbildung,
nicht mehr in dem rahmen der idealen akademie, sondern im an-
schlusz an die wirklichen Verhältnisse, wie Quintilian beginnt er
mit einer erörterung des ersten Sprechenlernens der kinder. was
bei jenem über den einflusz der eitern und ammen gesagt ist, wendet
Vives ausdrücklich auf die muttersprache an.^®^ über den rat
Quintilians mit dem griechischen zu beginnen hat er sich hier am
treffendsten von allen bisher betrachteten didaktikern ausgesprochen:
Studium Graecitatis Q. iubet Latinis literis praeponi: sed in pueris,
quorum sermo naturalis esset Latinus. at quando is iam nobis
paratur doctrina, e contrario est agendum , ut cum Graecitatis rudi-
mentis exactior Latinae linguae disciplina procedat: ut si quis
attentius insiDiciat, similes prorsum comperiat esse
meam et Quintiliani instituendi rationes, nam pueris
olim, quum primum ad scholam venirent, multa erant iam in ser-
=«0 s. 283 f. Q. II 3. 2. 7. »ßi s. 279. Q. I 2, 9. 29 f.
5« s. 285 [s. 232]. Q. I 1, 4.
464 A.Messer: Quintilian als didaktiker.
mone Latino domi cognita.^*^ für den betrieb des sprachlichen und
speciell des grammatischen Unterrichts stellt er unter hinweis auf
Quintilian den leitenden grundsatz auf, gründlich, aber ohne frucht-
lose und pedantische kleinigkeitskrämerei zu verfahren.^" in beiden
spricht hier ihr auf das solide gerichteter sinn, dem es aber durch
seinen philosophischen blick gegeben ist, zwischen dem wesentlichen
und unwesentlichen zu unterscheiden, in diesem Zusammenhang
kommt er auch nochmals auf den lehrer und sein verhalten gegen
die Schüler (vorzugsweise im Unterricht) zu sprechen, dem rate, wie
ein vater gegen die schüler zu sein, fügt er hier bei: aber nicht
wie ein kamerad — fast mit denselben werten hatte Quintilian
bemerkt : non dissoluta sit comitas. '^^ mit Quintilian ist er einig,
dasz es in vielen dingen (z. b. wer die amme des Anchises war?
u. ä.) für den lehrer gut sei aliqua nescire. ^^^ bei erörterung der
behandlung der schüler scheidet er, was bei Quintilian nicht ge-
schieht, Unterricht und zucht. beim unterrichten und bei
der beurteilung der leistungen der schüler fordert er wie jener
grosze milde und nachsieht, lieber anfeuern und loben, als spotten
und schelten, in der zucht dagegen ist strenge durchaus am
platz; gegen sittliche Verfehlungen musz eingeschritten werden
reprehendendo, castigando verbis et, quum opus est, verberibus;
ut beluarum more revocet eum dolor, cui ratio non est satis; tametsi
liberalem hanc castigationem, quantum fieri possit, esse malim, non
asperam, aut servilem, nisi eiusmodi sit Ingenium, ut officii sui
plagis sit tamquam mancipium admonendum.^" bei der mahnung,
dasz sich der lehrer dem fassungsvermögen des schülers anpasse,
erinnert er an den von Quintilian gebrauchten vergleich des kind-
lichen geistes mit einem gefäsz mit engem hals.^*" die andeutung
Quintilians, dasz die schüler leichter vorgeschrittenere mitschüler
als den lehrer selbst nachahmen, führt er weiter aus, indem er an-
weisungen gibt, wie die vorgerückteren zum Unterricht der anderen
herbeizuziehen sind*^' — wofür ihm bekanntlich auch die damalige
563 8. 290 [s. 237]. Q. I 1, 12 f.
56^ s. 290. 291 [s. 237. 238]. Q. I 8, 18 f.; vgl. I 7, .33—35.
5<-'S s. 292 [s. 239]. Q. II 2, 5. ^«ß s. 293 [s. 240]. Q. I 8, 21.
5" 8. 303 [s. 249 f.]. Quintilian spricht über das verfahren bei der
correctur II 4, 10 flf., über körperliche Züchtigung I 3, 13. dasz in der
behandlung der sittlichen seite des schülers strenge, der intellectuellen
milde angebracht sei, scheint übrigens auch die meinung Quintilians
gewesen zu sein, wenn er dies auch nicht so klar ausspricht wie Vives.
man vergleiche auszer den oben genannten stellen noch I 2, 5, wo er
eine disciplina severa empfiehlt. — In Vives erörterung über die körper-
liche Züchtigung ist übrigens doch der einflusz Quintilians (und Plutarchs)
— deren ansieht hierüber von allen damaligen theoretikern mehr oder
minder geteilt wird — merkbar.
5fi8 s. 295 [s. 242]. Q. I 2, 28.
ßß" s. 298 [s. 244 f.]. Q. I 2, 26 f. Cicero war derselben ansieht. —
Den vergleich mit den Schlingpflanzen, die erst den unteren teil des
baumes ergreifen, entlehnt Vives auch Quint. (a. a. o.).
A. Messer: Quintilian als didaktiker. 465
praxis anhaltspunkte bot. über die benutzung des ehrtriebs spricht
er sich mit ähnlicher einschränkung aus^^" wie an der früher er-
wähnten stelle.
Auf die ausbildung des gedächtnisses legt er auch hier
groszes gewicht; er widmet ihr eine nähere erörterung, in der die
benutzung Quintilians unverkennbar ist."' dasselbe ist der fall in
seinen ausführungen über erholung und spiel, auch er faszt die
ausbildung des körpers nicht als etwas neben der geistigen bildung
selbständig und gewissermaszen gleichwertig zu betreibendes, viel-
mehr ist das körperliche durchaus dem geistigen unter-
geordnet und wird nur so weit berücksichtigt, als dies nötig ist,
um die gesundheit und leistungsfähigkeit des geistes zu sichern,
so ist die principielle auffassung die gleiche. ^'"^ aber Vives mit
seiner scharfen beobachtung für die empirische Wirklichkeit erkennt
den einflusz des körperlichen factors viel umfassender als jener,
und so geht er praktisch in der berücksichtigung desselben viel
weiter, von körperlichen Übungen als solchen ist bei Quintilian
nirgends die rede. Vives erklärt: exercitamenta corporum crebra
sint in pueris, nam aetas illa incrementis indiget ac confirmatione
roboris; wie sehr er ferner beachtung hygienischer gesichtspunkte
bei der anläge der schulgebäude wünscht "^ ist bekannt.
In der auswahl und anordnung der lectüre in beiden sprachen^^^
^'° s. 301 f. [s. 248]. wenn Vives hier bis zu dem satze gelangt:
coiisultius est adolescentes nihil scire quam ambitionis et superbiae man-
cipia fieri, so zeigt sich darin eben der bevvuste gegensatz seiner christ-
lichen auffassung zu der durch Quint. (I 2, 22) vertretenen antiken
beurteilung der ambitio, die in ihr hauptsächlich die guten Wirkungen
in betracht zog.
571 s. 297 [s. 244]. Q. I 3, 1. XI 2. über diesen stofif ist übrigens
Quintilian viel reichhaltiger. — Als belege für die benutzung mögen
dienen: memoria duabus constat partibus, celeriter comprehendere et
fideliter continere V. s. 297. Q. I 3, 1. (auch die vorausgehende bemer-
kung über das frühe knabenalter: illa aetas laborem non sentit, erinnert
an Quintilians äuszerung: abest illis adhuc etiara laboris indicium
I 12, 11.) sehr wichtig ist bei dem zu lernenden die Ordnung:
V. s. 297. Q. XI 2, 36 ff. das laut lernen wird von beiden mit der-
selben psychologischen begründung (ut daplici motu iuvetur memoria
dicendi et audiendi) empfohlen: V. s. 297. Q. XI 2, 33; beide machen darauf
aufmerksam, quantum nox interposita afferat firmitatis: V. s. 297.
Q. XI 2, 43.
5^2 V. s. 305 f. [s. 251 f.]. Q. I 3, 8—13. gemeinsam ist beiden die
doppelte begründung der erholung. 1) V. (s. 305) ut diutius labori
sufficiant Q. I 3, 8. 2) V. ne studia odisse incipiat, priusquam amare . . .
mirae libertatis est humanuni ingenium , exerceri se patitur, cogi non
patitur: multa ab eo facile impetres, pauca et infeliciter extorqueas.
Q. I 1, 20: nam id inprimis cavere oportebit, ne studia, qui amare non-
dum potest, oderit; und I 3, 8: Studium discendi voluntate, quae cogi
non potest, constat. beiden gemeinsam ist auch die mahnung, dasz das
spiel ehrbar sei und dasz man darin ja masz halte. — Von den körper-
lichen Übungen der erwachseneren spricht Vives im 4n buch s. 340
[s. 284].
"3 s. 259 [s. 208]. s. 306 [s. 252]. ^"^ s. 306 ff. [s 252 ff.].
466 A. Messer: Quintilian als didaktiker.
ist Vives ganz selbständig: insbesondere weist er der poetischen
lectüre eine nur untergeordnete Stellung zu"% er läszt auch mit
prosa den anfang machen."® bei der beurteilung einzelner Schrift-
steller verweist er übrigens mehrfach auf die von Quintilian im
lOn buch abgegebenen urteile."^ die stilübungen werden wieder
mit dem bekannten worte Ciceros und Quintilians empfohlen, im
einzelnen ist auch hier Vives unabhängig von Quintilian, das ab-
zielen auf das rhetorische tritt bei ihm nicht hervor.^"
Das vierte und fünfte buch behandeln die an die sprach-
liche ausbildung sich anschlieszenden wissenschaftlichen Studien.
nur die erörterungen über die rhetorik, die moralphilosophie
und die geschichte zeigen bezugnahme auf Quintilian.
Es entspricht Vives klarem einblick in die gesamtheit der
Wissenschaften und ihr Verhältnis zu einander, dasz er die rhetorik
parallel mit grammatik und dialektik lediglich als formale und
demnach als hilf s Wissenschaft (organum) faszt, nicht wie Quintilian
als universal Wissenschaft. ■'* hatte Quintilian bei aller Wertschätzung
des sittlichen im redner doch der antiken anschauung gewisse con-
cessionen gemacht und die anwendung unsittlicher mittel zu gutem
zwecke erlaubt, so erklärt sich Vives mit aller entschiedenheit gegen
alle diese dinge, quae gentilitati fuerunt recepta: maledicere, con-
viciari, pravissimas suspiciones inicere, recta invertere, ex bona causa
malam facere, ex mala bonam: satius est causae detrimen-
tum pati quam virtutis. während bei Quintilian das iudiciale
genus durchaus im Vordergrund steht, erklärt er: iudiciali genere
nihil omnino indigemus. litigare non satis decet Christianum, quanto
minus ex versutia, imposturis, insidiis, fraude, quae in illis actionibus
imprudentibus atque etiam invitis surrepunt!^**
Bei der erörterung der rhetorik kommt er auch auf die imitatio
zu sprechen, und er nimmt in dem kämpf über die wahre nacbahmung
Ciceros Stellung, es ist bei Vives eigentlich selbstverständlich, dasz
er auf seite des Erasmus tritt: habet quidem optima Cicero, sed nee
omnia ncc solus, und an einer andern stelle: quo plura exempla
ostensa sunt, hoc plus eloquentia proficitur. eadem est Quintilian!
sententia, qui non qui maxime imitandum eum solum imitandum
censet.^^'
Wie er schon für die sprachliche bildung empfohlen hat,
zu der mustergültigen latinität der Ciceronianischen zeit die spräche
*" 8. 315 fs. 261 f.]. 570 s. 290 [s. 237].
5" s. 3-20 [s. 2G5]. s. 328 [s. 273 f.]. "« s. 300 f. [s. 247 f.].
"ä 8. 353 [s. 296]. übrigens ist Quintilians anffassung sehr leicht
zu verstehen, wenn man bedenkt, dasz er ja nicht die rhetorik als
Wissenschaft, sondern den redner, den er bilden will, ins äuge
faszt. freilich tritt diese Unterscheidung bei ihm nirgends klar hervor,
ähnlich verhält es sich bei Cicero (besonders in de oratore).
^'5" s. 345 f. [s. 289 f.]. im folgenden nimmt er übrigens ausdruck-
lich bezug auf Quint. "N'Il 1, 60,
681 8. 348 [s. 292 j.
A. Messer: Quintilian als didaktiker. 467
eines Seneca, Quintilian, Plinius, Tacitus u. a. zur bereicherung
heranzuziehen^'*^, so stellt er auch für die rhetorische ausbildung
nebenCiceroandererauster, wobei er die für die verschiedenen
gegenstände passenden stilgattungen berücksichtigt, so empfiehlt er
z. b. ad praecepta artium in rebus, in ordine ac cuncta methodo den
Aristoteles, in verbis et dictione den Quintilian und Agricola. ^"^
er betont, dasz man verschiedene stufen der iraitatio unterscheiden
müsse, im anfange sei es ja wohl gestattet, auch wörtlich zu ent-
lehnen, nur müsse man sich dabei bewust bleiben, dasz das 'ent-
lehnen' (suppilare) nicht 'nachahmen' (imitari) sei, paulatim autem
vere imitabitur, id est, ad exemplar effinget, quae volet, non de
exemplari centones surripiet, quos in opere suo consuat.^-* aber
man musz endlich auch einmal über das Studium der imitatio hinaus-
kommen: puerum imitari liberale est ac laudabile, senem imitari
servile ac turpe."^ man sieht, ein System der occultatio, eine theorie
der 'dohlenstreiche' wird hier nicht entwickelt, sondern der echte
begriff der imitatio, wie ihn Quintilian formuliert, ist bei Vives —
wie Erasmus — congenial erfaszt und entwickelt. ^'^ — Quintilians
autorität führt Vives auch an bei dem rat, zu den redeübungen
Stoffe zu wählen, die praktisch verwertbar sind, und ebenso,
wenn er empfiehlt, die schriftstellerischen arbeiten einige zeit
liegen zu lassen, ehe man sie nochmals durcharbeite und publiciere. ^^^
wenn er endlich in seinen auseinandersetzungen über das wünschens-
werte verhalten der gelehrten unter sich (gegen schiusz des
5n buches) Quintilians wort citiert: mutos enim nasci et egere omni
ratione satius fuisset, quam providentiae munera in mutuam per-
niciem convertere^*^, so beweist das, dasz er nicht nur den didakti-
schen und rhetorischen, sondern auch den ethischen gehalt der
institutio zu schätzen weisz.
Bei erörterung der moralphilosophie, bei der er wie Quin-
tilian die Wichtigkeit der bei spiele hervorhebt ^®^, erweist er seine
geistige Selbständigkeit jenem wie vielen humanistischen Vorgängern
gegenüber dadurch, dasz er sie in die engste Verbindung mit der
religion setzt. ^^°
Für die behandlung der geschichte, die übrigens hauptsäch-
lich mit den res togatae sich beschäftigen soll, gibt er als leiten-
den grundsatz den rat, den Quintilian dem grammaticus für die
5^2 s. 311 f. [s. 257 f.]. ^^•■' s. 349 [s. 293j.
58* s. 351 [s. 294]. SS5 s. 352 [s. 296].
5^^ wir brauchen auf die weitere aust'ührun» nicht einzugehen; nach
den verschiedenen auseinandersetzungen bei Quintilian und Erasmus
lieszen sich ja auch wesentlich neue gesichtspunkte wohl nicht mehr
beibringen. — Hier sei auch noch erwähnt, dasz Vives die institutio
als rhetorisches lehrbuch empfiehlt, z. b. s. 344 [s. 287 f.].
587 s. 346 [s. 290]. s. 417 [s. 357]. Q. X 4, 2.
55« s. 412 [s. 352]. Q. XII 1, 2.
589 s. 389 f. [s. 329 f.]. Q. XII 2, 29 ff.
580 s. 387 [s. 327].
468 A. Messer: Quintilian als didaktiker.
enarratio historiarura bei der lectüre gegeben: enthaltung von allem
sichverlieren ins detail (und in speciallitteratur — modern aus-
gedrückt).^^' bezeichnend sind die worte, mit denen Vives dieses
citat einleitet: audiendus est prudens magister (!) M. Fabius,
qui in institutionibus sie inquit de futuro utique oratore, sed
nos ad prudentem virum accommodabimus. er scheidet also
von demQuintilianischen bildungsziel mit klarem bewust-
sein sein eignes, indem er das rhetorische element in den
hintergrund treten läszt. es ist hier nicht der ort, Vives' bildungs-
ziel des näheren zu erörtern, am kürzesten hat er es vielleicht im
ersten buche bezeichnet, wo er sagt: sciat pater quem tandem existi-
raare debet fructum laboris studiosi, videlicet non honorem aut
pecuniam , sed animi culturam, rem eximii atque incomparabilis
pretii: ut doctior fiat iuvenis et per sanam doctrinam
melior.^^- —
Vives benutzt also Quintilians werk mit durchaus
selbständigem kritischen urteil, er zieht ihn heran, nicht
um gedanken von ihm zu entlehnen — er hat selbst viel weitere
und ergibigere gesichtspunkte; nicht um seine ansichten durch ihn
zu decken — er ruht selbst auf einer so breiten basis selbstgewisser
philosophischer reflexion, dasz er der stützen nicht bedarf; aber er
zieht ihn heran, weil er das bedürfnis empfindet, bei sich bietender
gelegenheit mit einer solchen autorität sich auseinanderzusetzen, es
ist sicher ein starker beweis für die Schätzung Quintilians nicht nur
bei Vives, sondern in der damaligen gelehrtenwelt überhaupt, dasz
Quintilian der einzige ist, dem Vi vis diese Stellung einräumt,
die vorausliegende didaktisch-pädagogische litteratur ist nirgends
citiert und nirgends springt eine benutzung derselben in die äugen;
dasz Vives davon kenntnis gehabt hat, ist natürlich nicht zu be-
zweifeln. Vives bleibt aber Quintilian gegenüber stets auf seinem
eignen Standpunkt, wo seine eigne Weltanschauung, wo sein bildungs-
ideal, wo die veränderten Zeitverhältnisse abweichungen nötig machen,
weicht er von ihm ab; er ist sich dabei bewust, dasz er bisweilen
besser mit dem geiste Quintilians im einklang steht, wo er von seinen
ratschlagen abweicht, als wo er ihnen folgt, dasz Vives in seiner um-
fassenden art seinen stoff zu betrachten und darzustellen weit über
Quintilian hinausgeht, braucht kaum erst hervorgehoben zu werden.
Ist nun also Vives von Quintilian beeinfluszt? der ausdruck
dürfte ihr Verhältnis nicht recht kennzeichnen, wie in einem mäch-
tigen unterirdischen Sammelbecken, so rinnen die niederschlage weit
ausgebreiteter beobachtung und ungemeiner belesenheit in Vives zu-
sammen, und geklärt durch philosophisches durchdenken, geläutert
durch sein christliches bewustsein, werden sie wieder emporgetrieben
durch den mächtigen pädagogischen drang seiner ethisch angelegten
59« s. 376 [8. 317 f.].
59« 8. 272 [s. 220 f.].
A. Messer: Quintiliau als didaktiker. 469
persönlichkeit , und sie treten hervor , sogleich ein mächtiger ström,
der majestätisch seine bahn zieht — Zuflüsse vermögen weder seinen
lauf zu ändern, noch ihn merklich zu vergröszern. —
Der Vollständigkeit halber seien hier noch zwei autoren er-
wähnt, die passend im Zusammenhang mit Vives genannt werden:
S ad ölet und Budaeus. Sadolets bekannte schrift de liberis
recte instituendi s (1533) handelt hauptsächlich von der religiös-
sittlichen und der körperlichen ausbildung; für die geistige aus-
bildung wird nur ein überblick über die bildungsstoffe gegeben.
Budaeus' abhandlang de studio literarum recte et com-
mode instituendo (Baslleae 1533) enthält mehr principielle
erörterungen über ziele und stoffe der bildung, speciell auch über
die Vereinigung des antiken und christlichen elements. bei beiden
tritt eine benutzung Quintilians nicht hervor; ihr inhalt bot auch
wenig gelegenheit zu einer solchen.
Seliluszbetrachtung.
Ist nun die didaktisch-i^ädagogische theorie des humanismus
von Quintilian in ihren grundzügen, in dem, was ihre tiefste
eigenart ausmacht, beeinfluszt worden? sehen wir zu!
Es stand mit der wirtschaftlichen und socialen ent-
wicklung in Wechselwirkung, dasz im verlauf unserer periode das
laienelement im höheren geistesleben und zwar auch nach seiner
wissenschaftlichen seite hin hervortrat, anregung, stofif und Vor-
bild für diese bethätigung bot die antike litte ratur. Petrarca
hatte sie zum ersten mal wieder in anderem sinne angeschaut und
genossen als das ganze mittelalter; in ihm war die begeisterung
für sie zum ersten mal wieder in flammen aufgeschlagen und 'zündend
hatte die kraft der genialität' gewirkt, dieses laienhafte element
— und dünkt uns nicht selbst der priester Petrarca weit mehr
ein laie als ein cleriker — und die antike litteratur, die sich
gegenseitig anzogen und in ihrer Wirkung verstärkten, haben auch
den geist der erziehung und bildung manig fach beein-
fluszt. zu einer offnen abwendung vom Christentum kommt es
zwar in der theorie derselben nirgends, aber der neue geist und der
mittelalterliche, antike und Christentum, stehen jetzt neben ein-
ander, wenn sie auch hier, wie sonst ebenfalls, die verschieden-
artigsten Verschmelzungen eingehen, derartige geistige bewegungen
nun wurzeln zu tief, als dasz hier Quintilian einen merkbaren
einflusz hätte üben können.
Diese Wandlung im geiste der erziehung und bildung tritt
am greifbarsten zunächst darin zu tage, dasz an stelle des theo-
logischen bildungsideals des mittelalters ein mehr weltlich
gerichtetes tritt — natürlich auch dies in einer groszen reihe
von modificationen, die endpunkte derselben stellen etwa dar:
das naturalistische, völlig vom jenseits absehende des Vergerio
470 A. Messer: Quintüian als didaktiker.
und das durchaus aufs ewige gerichtete eines Wimpheling
und Vives. nirgends ist das bildungsideal des Quinti-
lian, der orator perfectus, einfach herübergenommen
worden, nirgends ist auch die rhetorik als die universalwissen-
schaft gefaszt, viel eher tritt die philosophie als solche auf; für das
humanistische bildungsideal (wie es sich in der theorie wenigstens
darstellt) passt besser die bezeichnung philosophusals orator.
bei Quin tili an ist die schriftstellerische thätigkeit nur ein
minderwertiger ersatz der rednerischen für den, der durch
mängel seiner natur an der ergreifung des rednerberufs gehindert
ist; bei den humanisten tritt die schrift stellerei, allerdings
eine rhetorisierende schriftstellerei, zum mindesten ebenbürtig
neben die rednerische bethätigung, ja die Vorschriften über die aus-
bildung der actio treten in der theorie durchaus zurück.
Ein vpeiteres charakteristisches merkmal der humanistischen
Pädagogik ist, dasz der körperlichen entwicklung eine gröszere
beachtung geschenkt wird, allerdings zeigt sich dies bei den deutschen
humanisten in geringerem grade, dafür bietet Quintüian fast nichts,
gerade Vergerio aber, der hier besonders auf Plutarchs vita des
Lycurg zurückgreift, darf in diesem punkte als bahnbrechend
angesehen werden.
Schwerlich wird man im mittelalter auf die sittliche bildung
einen geringeren wert gelegt haben als im humanistischen Zeitalter,
neu mag sein, dasz man mehr die philosophie zu ihrer förderung
und Vollendung herbeizog als die religion. auch dieser zug be-
gegnet uns schon bei Vergerio (der uns ja, als von Quintilian
wahrscheinlich nicht beeinfluszt, für diese betrachtung von be-
sonderer bedeutung ist). Quintilian mag nach der gleichen rich-
tung hin gewirkt haben.
Eine encyclopädische bildung strebte schon das mittel-
alterliche trivium und quadrivium an. diese richtung verstärkt sich.
Quintilian konnte sie nur begünstigen und sie zugleich an die not-
wendigkeit eines centrums erinnern, auch die geschichte fanh
man bei ihm empfohlen, aber reichhaltiger als schon bei Vergerio
ist das Verzeichnis der bildungsstoffe kaum jemals nachher auf-
gestellt worden, freilich kommt bei ihm das Studium der griechi-
schen spräche noch nicht zur geltung; aber dasz dasselbe später in
der theorie warm empfohlen wird und eine, wenn auch bescheidene,
Stellung im Schulwesen sich eroberte, das hatte bekanntlich all-
gemeinere und tiefere gründe in den Zeitverhältnissen, als dasz die
empfehlung eines einzelnen Schriftstellers hierfür von entscheiden-
der bedeutung hätte sein können; zudem wies ja nicht nur Quintilian,
sondern die ganze römische litteratur auf die griechische hin.
Am schärfsten charakterisiert sich die neue richtung durch
die abwendung von der scholastischen methode, von dem
dialektisch-logischen betrieb, durch Verdrängung des doctrinale
und besonders seiner unendlichen commentare wird räum geschafft
A. Messer: Quintilian als didaktiker. 471
für die 1 e c t ü r e. da vereinigt sich denn das utilitarische streben
nach Fertigkeit in der lateinischen spräche mit der begeisterung
für die antike litteratur. schon bei Vergerio und Lionardi
Bruni steht die lectüre durchaus im mittelpunkt.
Man kann aber nicht sagen, dasz man die ansichten Quintilians
über zweckmäszige auswahl, anordnung und behandlung der lectüre
einfach herübergenommen habe, man hat sie in erwägung gezogen,
aber man ist unter dem einüusz der anders gestalteten Verhältnisse
— vor allem vrar ja latein nicht mehr muttersprache — fast öfter
von ihnen abgewichen, als man ihnen folgte, in höherem grade
wirksam, aber auch nicht unbedingt maszgebend waren
seine ratschlage über den betrieb der mündlichen und schriftlichen
Übungen, aber hiervon abgesehen, ist gerade auf diesem ge-
biete, dem des unterri eh tsver fahrens, der ein flusz Quin-
tilians am ausgedehntesten und sichtbarsten, manche
allgemeine didaktische grundsätze werden ihm entlehnt;
für das verfahren beim Unterricht wird die psychologie als masz-
gebend herangezogen; eng hängt damit zusammen, dasz das Ver-
hältnis zwischen lehrer und schüler und die erforder-
nisse, denen der lehrer entsprechenmusz, einer genaueren
betrachtung unterzogen werden, die freilich irgendwelche praktisch
verwertbare vorschlage, über lehrerbildung etwa, nicht hervor-
gebracht hat. ferner macht sich wie bei Quintilian in den an-
weisungen über die behandlung der schüler ein philanthro-
pischer zug stark bemerkbar, seine erkennbarste Wirkung ist die
Verwerfung oder starke beschränkung der körperlichen Züchtigung,
auch die ratschlage, die Quintilian über die mehr selbständige
arbeit an der eignen rednerischen ausbildung im lOn buche gibt,
hat man gebührend gewürdigt; man hat sie freilich hauptsäch-
lich auf die Vorbereitung zur schriftstellerischen thätigkeit
bezogen.
Wie stark aber auch auf diesem weiten gebiet des Verfahrens
bei der bildungsarbeit der einüusz Quintilians hervortritt, so wird
man doch auch hier nicht behaupten können, dasz die züge, welche
den humanismus hier recht eigentlich charakterisieren: das sti'eben
nach einem rationelleren und abgekürzten betrieb, die psychologische
betracbtungsweise, die hauptsächlich auch der Verschiedenheit der
individualitäten gerecht zu werden sucht, der philanthropische zug
in der behandlung der schüler — durch Quintilian überhaupt erst
hervorgerufen worden seien, er mag sie sehr gefördert haben, aber
ihr Ursprung liegt tiefer.
Da in der humanistischen bewegung im gründe doch eine ver-
änderte lebensauffassung sich zur geltung bringt, so war es ganz
natürlich, dasz seine jünger, in dem bestreben für die neue lebens-
weisheit Propaganda zu machen, hauptsächlich einen lehrhaften
ton anschlugen, so wird denn seit Petrarca der moralphilosophische
tractat besonders gepflegt, hiermit konnte man sich nur an er-
472 A. Messer: Quintilian als didaktiker.
wachsene wenden; als noch wichtiger mochte es erscheinen, er-
ziehung und bildung der jugend in dem neuen geiste zu regene-
rieren — zumal da der schulbetrieb allmählich eine gestaltung
angenommen hatte, deren Unfähigkeit den bedürfnissen des lebens
und der zeit zu genügen selbst denen sich aufdrängte, die vom
geiste des humanismus nur wenig in sich aufgenommen hatten, so
bildete denn das problem der erziehung und bildung einen der be-
liebtesten und am meisten behandelten stoffe. nicht allzu viele
mögen durch die erwägung, dasz Quintilian hierüber schon so treff-
lich gehandelt habe, vom eignen schreiben abgeschreckt worden
sein, im gegenteil: das grosze muster weckte nacheiferung. auch
konnte man ja bei den veränderten Zeitverhältnissen die institutio
oratoria nicht einfach als handbuch der didaktik und pädagogik be-
nutzen, ihre didaktischen bestandteile musten erst herausgelöst und
zusammengestellt, vieles muste modificiert werden, sobald sich aber
einmal die reflexion diesen gebieten, zumal einer rationelleren ge-
staltung des Unterrichtsverfahrens zugewandt hatte, musten sich
fast mit notwendigkeit teils gewisse allgemeine didaktische
grundsätze, teils manche praktische forderungen im einzelnen
ergeben, die man zwar jetzt bei Quintilian vorfand und der einfach-
heit und der gröszeren autorität halber vielfach in seinen worten
zum ausdruck brachte, auf die man aber auch ohne ihn wohl ge-
kommen wäre.
Was ferner die heranziehung der psychologie und in Ver-
bindung damit die berücksichtigung der Individualitäten be-
ti-ifft, so findet sich beides ja schon bei V e r g e r i o im ausgedehntesten
maszstab — entsprechend dem grundzug der zeit nach indivi-
dueller gestaltung der Persönlichkeit und der lebensführung.
Auch der philanthropische Charakter der humanistischen
Pädagogik ist wohl unmittelbar aus ihrem geiste entsprungen,
zunächst liesz die allgemeine Verfeinerung der lebensführung und
der Sitten und die unter dem einflusz der antiken ansichten stehende
ethische reflexion die sittlich bildende Wirksamkeit der strafen, zu-
mal der körperlichen, als zweifelhaft erscheinen: ehrliebe, nicht
furcht solle die jugend anspornen und lenken; körperliche Züchti-
gung passe für 'sklaven', nicht für edelgeborene knaben —
und diese berücksichtigte ja die humanistische pädagogik, beson-
ders die der Italiener , hauptsächlich, je mehr ferner eine weltauf-
fassung lediglich auf das diesseitige sich aufbaut, um so mehr
musz das bestreben sich geltend machen, die leiden, die das leben
ohnehin in so reichem masze mit sich führt, unter allen umständen
nach kräften zu verringern; man wird es also der jugend mög-
lichst leicht machen wollen, verlebt sie ja doch nach allgemeiner
auffassung die schönste zeit des lebens.
Eine weltauffassung dagegen, die in dem diesseits nur eine
kurze vorbereitungszeit sieht für ein unendlich wertvolleres
jenseits, schlägt nicht nur die freuden, sondern auch die leiden
A.Messer: Quintilian als didaktiker. 473
hienieden weit geringer an; sie siebt ferner in diesen nicht nur
etwas betrübendes und peinigendes, sondern vor allem die erziehende
und vom irdischen ablösende Wirksamkeit, warum sollte sie also
principiell darauf verzichten, auch den körperlichen schmerz aus
höheren gründen zum besten des Zöglings zu nutzen?
Durch diese erwägung soll natürlich nicht im mindesten in
Zweifel gezogen werden, dasz dieses philanthropische grundstreben
des humanismus, das ja gerade an Quintilian den beredtesten anwalt
fand, in der praxis jedenfalls sehr heilsam wirken muste. denn
allzu sehr war ja in ihr im schwänge das gedankenlose prügeln,
bei dem der stock als ein stets helfendes Wundermittel zur Verbesse-
rung des Verstandes und witzes wie zur förderung der Sittlichkeit
erscheint, ein mittel, das schon darum allezeit in der praxis seine
stelle behauptet hat, weil bei seiner anwendung zugleich alle ver-
drieszlichkeit und aller ärger, den bei der notorischen 'dummheit'
der Schüler das lehrgeschäft nun einmal mit sich bringt, gemüts-
befreiend und herzerquickend sich entlädt, und dann: der lehrer ist
ja auch herscher, und 'alles weltregiment, musz er wissen, von
dem stock hat ausgehen müssen', allmählich hat man auch gelernt,
mit sanfteren mittein zu regieren, für diese Verwendung und
geltung des prügelns in der praxis kann allerdings aus keiner
Weltauffassung eine rechtfertigung hergeholt werden, man sucht sie
auch nicht in einer solchen.
Man wird nach alledem nicht sagen können, dasz ohne den ein-
fiusz Quintilians der didaktisch-pädagogischen theorie des humanis-
mus wesentliche züge gefehlt haben würden, anderseits wird
man zugeben müssen, dasz manche ihrer grundgedanken bei
ihm eine fördernde bestätigung fanden und dasz er im einzelnen
namentlich für die rationellere und psychologisch richtigere gestal-
tung des lehrverfahrens und des Verhältnisses zwischen lehrer und
Schüler viele, gern benutzte ratschlage bot.
Durch ihren didaktischen gehalt in der antiken litteratur einzig
dastehend, war die institutio oratoria das buch, das doch wohl jeder,
der damals über die theorie der bildung und erziehung schreiben
wollte, mehr oder minder sorgfältig studierte, wir werden daraus
schlieszen dürfen, dasz auch die, die über dieses gebiet nicht
geschrieben, sondern nur praktisch auf ihm gewirkt haben, die
institutio vielfach zu rate gezogen haben und dasz so neben dem
einflusz derselben, der in der litteratur offen zu tage tritt, ein
anderer einhergeht, unseren blicken zwar entzogen, aber breiter
vielleicht und tiefer als jener und mehr unmittelbar die praxis
wohlthätig befruchtend.
GiEszEN. August Messer.
N. Jahrb. f. phil. u. päd. 11. abt. 1897 hlt. 10 u 11. 31
474 E. Cornelius: lateiniscb und deutsch in der sexta und quinta.
(27.)
ÜBER WECHSELBEZIEHUNGEN ZWISCHEN DEM LATEI-
NISCHEN UND DEM DEUTSCHEN IN DER SEXTA UND
QUINTA DES GYMNASIUMS.
(fortsetzung und schlusz.)
3. Die comparation dei- adjective und adverbien.
Neben den beiden flexionsarten, die wir bisher erörtert haben,
tritt dem kleinen schüler auch die comparation entgegen, und er
lernt, dasz die adjective nicht nur decliniert, sondern auch ge-
steigert werden, während bei den adverbien nur die Steigerung
vorkommt, diese zwei wortgruppen sind so nahe mit einander ver-
wandt, dasz wir ihre besprechung im folgenden verbinden wollen,
um so auffallender erscheint es, dasz sieh die lehrbücher diesen vor-
teil in der regel entgehen lassen, indem sie die eigenschaftswörter
und ihre Steigerung der sexta, die adverbien und ihre comparation
dagegen erst der quinta zuweisen, uns will es gut dünken und wir
möchten vorschlagen, die comparation beider Wortarten im lehr-
buch für sexta in der weise zusammenzufassen, dasz sie etwa
hinter demactiv der ersten conjugation eingefügt würde"*':
rectus, rectior, -ius, rectissimus,
recte, rectius, rectissime;
pulcher, pulchrior, -ius, pulcherrimus,
pulchre, pulchrius, pulcherrime;
fortis, fortior, -ius, fortissimus,
fortiter, fortius, fortissime;
bonus, melior, -ius, optimus,
bene, melius, optime;
usw. usw.
Diejenigen unserer leser, die der obigen erörterung zustimmen,
werden uns vielleicht auch im folgenden ihr geneigtes ohr schenken,
wir lassen, um die sextanerschar in den unterschied zwi-
schen adjectiv und adverb einzuführen, zuerst den kleinsten
schüler der classe mit möglichst groszen und gleich darauf den
grösten schüler mit kleinen buchstaben irgend etwas an die tafel
schreiben, damit zeigen wir handgreiflich, dasz ein kleiner knabe
grosz, ein groszer klein schreiben kann, und die jugendlichen Zu-
schauer merken alsbald, ob *grosz' und 'klein' zum Substantiv oder
zum verbum gehören, und gewöhnen sich an diesem wie weiterhin
an andern beispielen, die fraglichen wortclassen von einander zu
*' nebenbei bemerken wir, dasz es auszerdem wünschenswert er-
scheint, noch vor der comparation die zwei pronomina hie und ille zu
behandeln, die zum vergleich wie geschaffen sind. vgl. übrigens
unten.
E. Cornelius: lateinisch und deutsch in der sexta und quinta. 475
trennen, es ist klar, dasz sich dieser process vom deutschen aufs
lateinische übertragen läszt, nachdem die schüler darüber belehrt
sind, dasz die von adjectiven der ersten und zweiten declination ab-
geleiteten adverbien auf -e, die von solchen der dritten declination
auf -ter gebildet werden, die comparative und Superlative folgen
natürlich denselben gesetzen.
Aus zwei gründen aber erscheint es uns notwendig, dasz bereits
in der untersten classe des gymnasiums dieser unterschied gelehrt
wird, denn zunächst macht man das construieren, das ja gerade auf
der sexta geübt werden soll, manigfaltiger, und auszerdera kann
man die deutsche grammatik in nähere beziehung zum lateinischen
Unterricht bringen, wir verweisen hierfür auf den abschnitt über
das construieren, wo wir beide umstände näher beleuchten.
4. Die pronomin a.
Aus der zahl der pronomina wollen wir nur drei hervor-
heben, weil eben diese den schülern für das übersetzen ins deutsche
Schwierigkeiten machen , und weil ihre unrichtige anwendung ganz
besonders geeignet ist, den stil der muttersprache zu verderben,
wir meinen is, idem und ille. auch hier unterscheiden wir zwi-
schen dem formelhaften ausdruck und der sinnmäszigen Über-
tragung, und indem wir mit den beiden erstgenannten fürwörtern
beginnen, halten wir uns an die formein is = 'derselbe' und idem
= 'der nämliche', schlieszen wir bei is die zweite grundbedeutung
'derjenige' als für unsern zweck unwesentlich ganz aus, dann bleiben
als häufig vorkommende nebenbedeutungen zu 'derselbe' die wört-
chen 'er' und 'dieser', während idem auszer 'der nämliche' auch
heiszen kann: 'derselbe', 'der gleiche', 'einer und derselbe'.
Wenn die schüler gerade statt 'er' häufig 'derselbe' sagen,
so erklärt sich dies leicht aus dem lateinischen, denn der nominativ
'er' fehlt in dieser spräche, und wenn nun einmal ausdrucksvoll ein
anknüpfender satz mit 'is vero' u. ä. anfängt, dann beachten die
knaben nicht, dasz sie hier sagen können: 'der aber', 'dieser aber'
oder 'er aber', sondern übersetzen undeutsch 'derselbe aber', ähn-
lich verhält sich die sache mit dem genetiv eins, der dazu verleitet,
z. b. puer modestus est, modestia eins magna est wiederzugeben
mit: 'der knabe ist bescheiden, die bescheidenheit desselben ist
grosz' , anstatt dasz diese Übersetzung nur die brücke dazu schlüge,
dasz die schüler nun durch eigne geisteskraft weitergehen und
sagen: 'seine bescheidenheit ist grosz'. wir wollen ja einräumen,
dasz sogar bedeutende Schriftsteller der neueren litteratur — des
beispiels halber sei Konrad Ferdinand Meyer erwähnt — diesen ge-
brauch von 'derselbe* in ihren werken haben, doch glauben wir
nicht, dasz dies gerade förderung verdient, sei dem aber, wie
ihm wolle, die Umgangssprache verhält sich jedenfalls ablehnend
dagegen, und schon aus diesem gründe sollte man die schüler davor
31*
476 E. Cornelius: lateinisch und deutsch in der sexta und quinta.
warnen, darum ist auch Cauer''® im recht, wenn er gegen die
allzu häufige anwendung dieses Sprachgebrauchs bei den schillern
mittlerer classen redet, den er aus dem ^sorglosen gebrauch von
suus und sibi' herleitet, wir aber möchten auch dem pronomen is
einen teil dieser schuld beimessen und glauben im übrigen, dasz
man schon sextaner, nötigenfalls mittels des 'baues von brücken',
wie oben angedeutet, zu einer richtigen Übersetzung anleiten kann.
Mit wenigen werten schlieszen wir das aus is verstärkte fiir-
wort idem an. als formelhafte Übersetzung schlugen wir vorhin
'der nämliche' vor; grammatiken und lehrbücher, so weit wir sie
kennen, sagen dafür 'ebenderselbe', dem neuerdings auch noch die
bedeutung 'der nämliche' hinzugefügt wird, es herscht also hier
schon das gefühl vor, dasz 'ebenderselbe' eigentlich gar kein
deutsches wort ist, und dasz es die grammatiker erfunden haben,
um ein gegenbild zu is 'derselbe' zu erhalten, wir haben diesem
wort in der deutschen litteratur zwar nicht nachgespürt, aber es ist
uns doch einmal zufällig begegnet, und zwar bei Herder, ideen
zur Philosophie der geschichte der menschheit 1, 6: 'aus einem und
ebendemselben principium', und man beachte, dasz auch hier 'einem'
vorausgeht, und dasz wir nach unserem heutigen Sprachgebrauch
sagen würden: 'aus einem und demselben principium'. ^^ und bei
Lessing, Emilia Galotti, erster aufzug, sechster auftritt, wo man
das fragliche pronomen erwarten könnte, heiszt es nicht 'eben-
dieselbe', sondern viermal hintereinander läszt der dichter den
gleisznerischen Marinelli das schwerwiegende 'eben die' wieder-
holen, streichen wir also dieses Wortungetüm ganz aus den lehr-
büchern und lassen wir die schüler der unteren classen bereits
übersetzen: eadem via auf dem nämlichen wege, eodem anno in
demselben oder in einem und demselben'jabre und eodem tempore
zu gleicher zeit.
Nun noch einige worte über das hinweisende fürwort ille. mit
der formelhaften grundbedeutung 'jener' wird der schüler sparsam
umgehen, denn sie bezieht sich im deutschen doch entweder auf
ferner liegende Wörter, oder 'jener' steht parallel mit dem voran-
gegangenen 'dieser', einen hübschen gebrauch von der ursprüng-
lichen bedeutung aber wird der quintaner vielleicht in einem zu-
sammenhängenden lesestück machen können, in dem von den
berühmten Senatoren die rede ist, die bei der eroberung Roms durch
die Gallier auf offener strasze sitzen blieben und sich niedermetzeln
lieszen, um den Untergang ihrer Vaterstadt nicht zu überleben,
denn wenn es darin etwa heiszt: senes in urbe remanserunt, und im
weiteren verlauf der erzählung folgt: illi senes in foro sedebant,
so bezieht sich illi senes nachdrucksvoll auf die kurz vorher ge-
48 s. beft 9 s. 440.
4ä bemerkenswert ist aucb, dasz im deutschen Wörterbuch
der gebrüder Grimm 'ebenderselbe' gar nicht vorkommt, wohl
aber, jedoch ohne belegsteilen: 'ebender' und 'ebendieser'.
E. Cornelius: lateiuisch und deutsch in der sexta und quinta. 477
nannten greise und läszt sich also im deutschen am besten mit
'jene greise' wiedergeben, doch schon bei ausdrücken wie 11 lo
tempore oder homo illescelestus werden sich die schüler aus
dem zusammenhange entnehmen müssen, ob sie ille mit 'jener' oder
mit 'dieser' zu übersetzen Laben, und vollends die worte: Brutus
filios suoö lictoribus tradidit, ut illos securi percuterent, atque illi
proditores necaverunt, werden sie nicht umhin können, folgender-
maszen zu verdeutschen: 'Brutus übergab seine söhne den liktoren,
um sie mit dem bell hinzurichten, und diese töteten die Verräter.'
schlieszlich sei noch darauf hingewiesen, dasz die schüler die worte :
modo hi, modo illi victores fuerunt nicht blosz zu übersetzen
brauchen: 'bald diese, bald jene waren sieger', sondern auch so:
'bald die einen, bald die anderen waren sieger.' und warum
sollte man nicht schon den kleinen anfängern die freiheit gewähren,
fremd gedachtes in ihrer muttersprache auf verschiedene weise
wiederzugeben ; denn dadurch wird doch wohl frühzeitig das selb-
ständige denken angeregt, dasz man die knaben davor hütet, den
geist in spanische stiefel einzuspannen, dies würde aber geschehen,
wenn man sie zwänge, Übersetzungen, die in einer lehrstunde fest-
gelegt sind, in der folgenden wörtlich zu wiederholen, und davor
möchten wir nicht blosz die vorgerückteren, sondern schon die an-
fänger bewahren.
Wir beendigen diesen abschnitt mit dem hinweis darauf, dasz
wir der Verwendung des pronomens ille in Verbindung mit der
apposition im folgenden noch einmal gedenken wollen.
5. Die conjunctionen.
Es sei uns gestattet, noch einen kurzen blick auf die conjunc-
tionen zu werfen, wir beginnen mit dem wörtchen et. durch
grammatiken und lehrbücher zieht sich die angäbe, et — et heisze
auf deutsch: 'sowohl — als auch', und in der regel lernt der Sex-
taner sehr bald diese schleppende construction kennen, damit sie
ihm ja nicht vorenthalten werde, natürlich wird er seine neu er-
worbene kenntnis gleich anwenden und den satz: dux laudat forti-
tudinem et peditum et equitum folgendermaszen wiedergeben : 'der
feldherr lobt die tapferkeit sowohl der fusztruppen als auch der
reifer', anstatt einfach zu übersetzen: 'der feldherr lobt die tapfer-
keit der fusztruppen und der reiter.' wäre es da nicht besser, dem
schüler zu sagen, wenn zweimal et vorkäme, solle er das eine davon
ganz unübersetzt lassen? und wenn es ein andermal heiszt scutum,
hasta, gladius oder scutum et hasta et gladius, musz er sich ja doch
die Übersetzungsregel abnehmen, dasz man im lateinischen entweder
alle glieder der aufzählung mit et verbindet oder et ganz wegläszt,
während man im deutschen nur zwischen die beiden letzten glieder
das wörtchen 'und' einschiebt, wenn man aber durchaus dem
schüler die constrwction mit 'sowohl — als auch' vorführen will, so
mag man ihm erklären, dasz diese conjunctionen gewöhnlich nur
478 E. Cornelius: lateinisch und deutsch in der sexta und qainta.
Sätze verbinden oder, zwischen einzelne Wörter gesetzt, einen beson-
deren nachdruck hervorrufen wollen.
Das gegenteil von et ist neque, und es ist bekannt, dasz man
neque ebenso, wie nisi und ne, im deutschen in zwei Wörter aus-
einanderlegt, die dann durch Zwischenglieder von einander getrennt
bleiben, wir sind überzeugt davon, dasz man schon die sextaner
daran gewöhnen kann, z. b. in dem satze: 'frumentum frustra
exspectatur, nisi agri arantur gleich richtig deutsch zu übersetzen :
'das getreide wird vergebens erwartet, wenn die äcker nicht ge-
pflügt werden.' es kommt eben nur darauf an, dasz die schüler
beim übersetzen jedesmal auf diesen umstand achten, und die klage,
die Cauer^" gegen tertianer und secundaner erhebt, dasz sie oube
und neque nur 'mit mühe' richtig übersetzten, wird, wie uns scheint,
dann allmählich aufhören.
6, Bedeutung der Wörter.
Bevor wir zum folgenden abschnitt übergehen, der die behand-
lung der sätze bringt, wollen wir die formenlehre mit einer erörte-
rung über die bedeutung der Wörter beschlieszen. drei leit-
sätze, die wir dem eindringen in die einzelheiten vorausschicken,
mögen dem leser unsere absieht kundgeben, erstlich kläre man den
sextaner schon frühzeitig darüber auf, dasz jedes lateinische und
jedes deutsche wort nicht blosz die eine oder zwei bedeutungen hat,
die ihm sein lehrbuch gerade vorschreibt, vielmehr belehre man ihn,
dasz es ein dickes Wörterbuch, auch lexikon genannt, gibt, worin
manchmal über ein einziges wort vier bis fünf druckseiten ge-
schrieben stehen, die auswendig gelernten vocabeln^' selbst aber,
wie wir zweitens bemerken wollen, frage man zunächst einmal ab,
überlege sich aber gleichzeitig, ob es nicht im gegebenen fall die
umstände erheischen, entweder sachlich oder formell noch eine er-
klärung daran anzuknüpfen, um aber drittens eine natürliche
deutsche Übersetzung^^ zu erzielen, lasse man den knaben in zweifel-
^" Cauer a. a. o., s. 87: ebenso wenig sollen wir die negation, die
in neqne und o\)b^ steckt, gewaltsam an der spitze des satzes fest-
halten, die Schüler haben gerade hierfür, so weit meine orfahrung
reicht, eine wahre leidenschaft und übersetzen i 64 (o06' dpa |lioi
TTpoT^puj ktX.) 'doch nicht fuhren mir die doppelt geschweiften schiffe
weiter', oder Sallust, Catil. 26, 2 (neque illi tarnen ad cavendum dolus
aut astutiae deerant): 'auch nicht jenem jedoch fehlten . . .' ofifenbar
meinen sie, weil ovbi in der regel und neque immer ein wort bildet,
so müßten 'und nicht' oder 'aber nicht' auch im deutschen %'ereinigt
bleiben, mit mühe macht man ihnen klar, dasz die negation nur
formell von der satzverbindenden partikel bi oder que angezogen wor-
den ist, also durch die Stellung am anfange gar nicht hervorgehoben
werden soll.
*' diese lernt der schüler, wie auch die lehrpläne s. 18 betonen,
am besten nicht als solche, sondern aus dem zusammenhange des
Satzes auswendig.
52 die betonnng gerade dieses umstandes halten wir nicht für über-
flüssig, wenn wir bemerken, wie Cauer, die kunst des Übersetzens,
E. Cornelius: lateinisch und deutsch in der sesta und quinta. 479
haften fällen jedesmal darüber nachdenken, ob er, nachdem zuerst
die wörtliche Übertragung geschehen ist, bei der Wortbedeutung
stehen bleiben darf, die ihm sein lehrbuch vorschreibt, oder ob er
aus seinem eignen verstand heraus nach einer andern, freieren
wiedergäbe des ausdrucks suchen musz.
Es kann uns nicht darauf ankommen, den vorliegenden gegen-
ständ zu erschöpfen, und wir wollen nur, so weit es der räum ge-
stattet, einzelne beispiele, wie sie uns gerade aufgefallen sind, vor-
führen, wobei wir zuerst von Substantiven und adjectiven
und dann von Zeitwörtern reden.
Schon bei gelegenheit der ersten declination wird es den
kleinen sextanern freude bereiten, beim wort agricola einmal von
der vorgedruckten bedeutung 'landmann' abzugehen und dafür das
ihnen geläufigere 'bauer' einzusetzen, so dasz sie alsdann etwa den
satz: Agricola cum filio in urbe erat in der fassung wiedergeben:
der bauer war mit seinem söhne in der stadt." auch der hin weis
darauf, dasz die zwei Wörter fabula und historia im deutschen mit
demselben ausdruck 'geschichte' übersetzt werden können, ist ge-
eignet, schon auf anfänger geistig anregend zu wirken, denn sie
machen leicht die Wahrnehmung, dasz zwischen der 'geschichte',
d. h. dem märchen vom Dornröschen, und der 'geschichte', die von
den thaten unserer vorfahren redet, ein groszer unterschied obwaltet.
Auf die dritte declination verschieben sich sodann aller-
hand betrachtungen, von denen wir hauptsächlich solche hervorheben
wollen, die uns in den lehrbüchern aufgefallen sind, greifen wir die
beispiele auf, wie sie uns gerade in den wurf kommen! so heiszt
mulier nicht blosz Veib' und uxor nicht ausschlieszlich 'gattin',
sondern unser wort 'frau' hat eine bedeutung, die beide begriffe zu-
gleich umfaszt, je nachdem ich auf meinem wege einer mir sonst un-
bekannten 'frau' begegnete oder mit 'meiner frau' spazieren gieng.
nach dieser auseinandersetzung können die knaben z. b. den satz:
agricola cum uxore sua ambulat übersetzen: 'der landmann geht
mit seiner frau spazieren', und uxor agricolae est mulier magna
figura: 'die gattin des landmanns ist eine frau von groszer gestalt.'
s. 11 in dieser heft 9 s. 431 anm. 27 bereits vorgeführten stelle weiter
fortfährt: die schüler sträuben sich erst etwas, wenn ihnen
zwischen den ernsten wänilen der classe solche Wendungen zugemutet
werden; aber bald merken sie doch mit vergnügen, wie ihnen dadurch
der Stoff, mit dem sie sich beschäftigen, näher kommt und faszbarer
wird. Herodot VI 38 erzählt: Käi CriicaYÖpea KaxeXaße ÖTToGaveTv
änaiba, T:\r\jivxa ty\v KecpaXnv ireXeKei ev xuj irpuTavriiuj irpöc dvbpöc
av)TO|Liö\ou kt\. mein obersecundaner übersetzte: 'indem ihm einer
mit dem beil den köpf spaltete'; aufgefordert, wörtlich zu übersetzen,
sagte er treu grammatikalisch: ^geschlagen in bezug auf den köpf.'
das natürliche 'auf den köpf geschlagen', das nun statt dessen ein-
gesetzt wurde, machte ihn verlegen lächeln: er scheute sich,
einen ausdruck zu gebrauchen, der im täglichen leben vorkommen
könnte.
" s. auch heft 9 s. 432.
480 E. Cornelius: lateinisch und deutsch in der sexta und quinta.
für das wort 'frau' weisen nun die lebrbücher oft schon gleich im
anfang auch noch die bedeutung femina auf. wenn man aber davon
ausgeht, in die Übungsbücher nur solche lateinische Wörter auf-
zunehmen, die in der classischen Überlieferung häufig vorkommen,
dann möchte man dieses wort am liebsten vermissen, denn während
es Caesar in seinem Gallischen krieg fast ganz vermeidet^* und
mulier'^* dafür einsetzt, gebraucht Cicero in seinen reden, worin
mulier sich bedeutend häufiger findet"^, femina gewissermaszen in
dem verklärten sinne 'weibliches wesen'." warum führt man also
den Sextanern gleich von vorn herein diese unlateinische Wortbedeu-
tung vor, nur um, wie uns scheinen will, bei gelegenheit der ersten
declination ein wort für 'frau' zu haben?
Noch andere unlateinische ausdrücke bieten die lehrbücher
zuweilen den schülern dar, denn wenn man z. b. den satz liest:
modestia pueros et iuvenes ornat, dann können doch hier unmög-
lich iuvenes, d. h. männer von 30 bis 45 jähren, gemeint sein, son-
dern man erwartet den ausdruck adulescentes, also Jünglinge
von 18 bis zu 30 jähren, bei derartigen Wörtern aber ist der lehrer
versucht, seinen sextanern die verschiedenen lebensalter der menschen
vorzuführen, und wenn er dies thut, dann müssen Verwechselungen
wie die obigen nur Verwirrung anrichten, auch der häufige gebrauch
von oppidum statt urbs erscheint uns stilverderbend, wiederum
geschieht dies, wie uns scheint, nur der zweiten declination zu liebe ;
denn da der Verfasser des lehrbuchs das wort urbs nicht gebrauchen
kann, führt er den anfängern, damit sich der verkehrte Sprach-
gebrauch von vorn herein festsetzt, den ganz unlateinischen satz
vor: Roma est oppidum. warum wartet er nicht bis zur dritten
declination , um die knaben alsdann zu belehren , dasz Roma eine
urbs, aber keineswegs ein oppidum ist? auszerdem halten manche
Übungsbücher die begriffe imperator und dux insofern nicht
völlig auseinander, als sie für das erstere wort 'feldherr' und für
^* an den zwei einzigen stellen, wo femina l)ei Caes. bell. Gall.
vorkommt, bedeutet es das weihliche (femina) im gegensatz zum männ-
lichen (mas): 6, 21 intra annum vero vicesimum feminae notitiam
habuisse in tuipissimis hahent rebus, und 6, 26: eadem est feminae
marisque natuia, eadem forma magnitudoque cornuum.
5^ Caes. bell. Gall. I 29. 51; II 13. 16. 28; IV 14; VII 28. 47.
^^ vgl. Merguets lexikon der reden Ciceros.
" so steht, um nur einzelne beispiele hervorzuheben, femina iu
gutem sinne Cic. Phil. II 99: probri insimulasti pudicissimam feminam;
Mil. 72: cuius nefandum adulterium in pulvinaribus sanctissiniis nobi-
lissimae feminae comprehenderunt; Catil. IV 13 cum sororis suae,
feminae lectissimae, virum praesentem et audientem vita privandum
dixit, und in schlechtem sinne Verr. IV 102 (eine stelle, die zugleich
für den unterschied zwischen mulier und femina bezeichnend ist): at
ex bono viro, credo, audieras et bono auctore. qui id potes, qui ne
ex viro quidem audire potueris? audisti igitur ex ra ulier e, quoniam
id viri nee vidisse neque nosse poterant. qualem porro illam feminam
fuisse putatis, iudices? quam pudicam, quae cum Verre loqueretur usw.
E. Cornelius: lateinisch und deutsch in der sexta und quinta, 481
das letztere 'anführet' vorschreiben, nun ist bekanntlich imperator
der 'Oberbefehlshaber*, der das imperium über seine Soldaten aus-
übt'^ unser 'feldherr' aber wird mit dem lateinischen ausdruck
dux bezeichnet.'^ der schüler also, der als sextaner imperator in
der grundbedeutung 'feldherr' gelernt hat, wird sich so daran ge-
wöhnen, dasz er in den mittleren classen dieses wort unlateinisch
auch dann mit imperator wiedergibt, wenn, modern ausgedrückt,
nicht vom general, sondern etwa vom hauptmann die rede ist.
In kürze seien noch ein paar substantivische und adjectivische
ausdrücke aus den lehrbüchern erwähnt, die den kleinen schüler zu
unnatürlichem oder misverstandenem deutsch verleiten könnten,
so liest man: justitia est laus magna iudicum, was der sextaner
nach der angegebenen grundbedeutung 'lob' übersetzen wird : 'die
gerechtigkeit ist ein groszes lob der richter', während man hier
doch besser sagen würde : 'ein groszer rühm der richter.' wir ge-
brauchen eben in unserer muttersprache das wort 'rühm' in zwei-
facher bedeutung, entweder in dem abgeschwächten sinne des latei-
nischen laus, oder dem stärkeren ausdrucke gloria entsprechend,
dadurch kommt aber das wort laus zu der doppelten bedeutung, die
schon einem zehnjährigen knaben klar gemacht werden kann, etwas
gesucht scheint es uns zu sein, wenn es z. b. heiszt: 'die treffen
der Römer und Karthager sind oft heftig gewesen', und wir
glauben, dasz es der kindlichen vorstellungsweise und vielleicht
auch der deutschen spräche angemessener wäre, wenn statt dessen
gesetzt würde: 'die gefechte der Römer und Karthager sind oft
hitzig gewesen, ferner: homines probi heiszt doch nicht etwa
'rechtschaffene menschen', sondern 'brave leute'. noch
eins: der bekannte unterschied zwischen homo und vir läszt sich
leicht schon dem sextaner zeigen, und er wird alsdann vir fortis
im deutschen wiedergeben mit: 'der tapfere held' oder auch ein-
fach mit: 'der held '.
Schlieszlich seien noch die zwei Substantive animus und res
hier erwähnt, beide haben, wie jedermann weisz, eine unzahl von
deutschen bedeutungen, und mit dem hinweis auf das dickleibige
lexikon mag den kleinen schon ein licht darüber aufgehen, dasz
man, um in kindlichem sinne zu reden, die genannten Substantive
mit dem namen 'allerweltsvvörter' bezeichnen kann, dasz also
animus nicht allein 'das gemüt', 'die seele' heiszt, sondern je nach
5"^ vgl. u. fi. auszer Cic, Mur. § 30, wo der bekannte vergleich zwi-
schen einem guten imperator (= 'Feldherr' in der bedeutung von ''Ober-
befehlshaber') und einem guten orator gezogen wird, noch Cic. Pis. 44:
ecce, duo duces in provinciis populi Komani habere exercitus, appel-
lari imperatores, und Caes. bell. Gall. 6,8: praestate eandem nobis
ducibus virtutem, quam saepenumero imperatori praestitistis.
^3 unter anderm kann man z. b. Cic. Phil. 2, 37: tu hodie egeres,
nos liberi essemus; res publica non tot duces et exercitus amisisset,
das wort duces gar nicht anders als mit ''feldherrcn' (und nicht etwa
mit 'anfuhrer') übersetzen.
482 E. Cornelius: lateinisch und deutsch in der sexta und quinta.
dem zusammenhange des satzes auch: 'geist', 'mut', 'herz'®" u. ä.,
ja, dasz es etwa in dem satze: dux animos militum confirmavit ganz
unübersetzt bleibt, dies alles können doch auch anfänger schon
herausfinden, ähnlich verhält es sich mit dem worte res, das neben
den vorgedruckten bedeutungen 'die sache', 'das ding' noch auf
manigfaltige weise verdeutscht wird, z. b.: 'die angelegenheit', *das
Verhältnis' u. ä. besonders lehrreich aber wird es für die knaben
sein zu erkennen, dasz res publica eigentlich heiszt: 'die öffentliche
Sache', was dann auf die bedeutung 'der staat'^' übergeht, oder sich
von res secundae (adversae) 'günstige (ungünstige) Verhältnisse'
einen weg zu bahnen zu den ausdrücken 'glück' und 'unglück'. der
vorgeschrittenere quintaner aber sieht unschwer ein, dasz man res
zuweilen gar nicht mit einem hauptworte übersetzt; er wird von
qua re 'durch diese sache' übergehen zu 'deshalb', 'deswegen',
'darum', und von nuntius huius rei 'die künde dieser sache' zu : 'die
künde hiervon', das betonen solcher Übertragungen, insbesondere
die Zusammensetzung des deutschen 'hier' und 'da' mit suffixen, er-
scheint uns aber aus später zu erörternden gründen doppelt notwendig.
Indem wir zur bedeutung der verba übergehen, wollen wir
zunächst zwei Zeitwörter der ersten conjugation zur spräche
bringen, nämlich bellare und necare. auch diese werden in den
lehrbüchern nur angewandt, um ein wort für die erste conjugation
zu haben, ähnlich wie wir dies für die substantivische flexion bezüg-
lich femina und oppidum^- festzustellen suchten, so wird bellare
in den Wörterverzeichnissen als: 'krieg führen, beki'iegen' aufgeführt,
und es ist auch nicht zu leugnen, dasz dieses wort in den besten
reden Ciceros" vorkommt, doch ist der gebräuchlichere ausdruck
für 'krieg führen' bekanntlich bellum ge*-ei-e, und wir sehen nicht
ein, weshalb man den schülern zuerst eine seltene wortform vor-
führt, zumal da gerade der erste eindruck im gedächtnis der lernen-
den besonders fest haftet, etwas anders liegt der fall bei necare.
dieses verbum wird, so viel uns bekannt ist, bei Cicero'" und
Caesar*'' meistens in dem sinne von 'kalt machen' oder 'qualvoll
^o auch z. b. den unterschied zwischen cor 'herz', d. h. dem leben-
bedingeuden organ in des menschen brüst, und animus 'herz', s, V. a.
'mut', begreifen zehnjährige knaben leicht.
•■1 der Schüler wird auch die Wahrnehmung machen, dasz bei res
publica 'der staat' mehr die sache, bei civitas 'der Staat' mehr die
personen (die bürger) gemeint sind.
*>* s. oben s. 480.
«3 nach Merguets lexikon der reden Ciceros findet sich bellare dort
nur an sechs stellen.
** man vergleiche unter anderm stellen wie Cic. pro Cluent. 52:
hominis in uxoribus necandis exercitati. pro Deiot. 15 necare hospitem.
Verr. 5,61 veneno necare. pro Pisone 43. Regulus, quem Carthagi-
nienses necaverunt. de imp. Pomp. 11 legatum populi Komani omni
supplicio excruciatum necavit.
6* bei Caesar, der interficere und occidere häufig gebraucht, kommt
necare nur selten vor, und zwar in der obigen bedeutung, so bell.
E. Cornelius: lateinisch und deutsch in der sexta und quinta. 483
töten' gebraucht, während für das töten im kämpf der ausdruck
occidere gebraucht wird, die lehrbücher aber bieten neben der rich-
tigen Verwendung dieses verbums den schillern auch sätze dar, wie:
in his proeliis maximus numerus Persarum necatus vel vulneratus
est, oder: Critias contra Thrasjbulum pugnans in proelio necatus
est. wenn es also auch für den Verfasser eines lehrbuchs schwierig
sein mag, die der römischen kriegssprache angepaszten ausdrücke
'bekriegen' und 'im kämpfe töten' bis zur dritten conjugation zurück-
zuhalten, dann wird er sich doch wohl um des guten stiles willen
diesen zwang anthun müssen, in anknüpfung hieran sei noch er-
wähnt, dasz manche lehrbücher — wiederum bei gelegenheit der
ersten conjugation — für 'tadeln' das weniger gebräuchliche, in
engerem sinne auf einen besonders scharfen tadel hinweisende
vituperare statt des gewöhnlichen und allgemeineren repre-
hendere vorschreiben, das letztgenannte zeitwort aber bezeichnet
noch insbesondere einen gelinderen tadel ®^; trotzdem scheuen
sich die lehrbücher nicht, auch hierfür vituperare einzusetzen, diese
verfrühte anwendung von vituperare veranlaszt, wie uns scheint,
die Schüler später dazu, diesem verbum in vielen fällen, wo dies un-
thunlich ist, den vorzug vor dem richtigeren reprehendere zu geben.
Wir streifen , um auf einen andern punkt überzugehen , hier
den umstand, dasz man den schülern das verbum facere ganz ähn-
lich als 'allerweltswort' vorführen kann, wie wir dies oben" für die
Substantive res und animus angedeutet haben, nur darauf wollen
wir bei dieser gelegenheit hinweisen, dasz die composita von facere
ebenso, wie die vieler anderer verba, z. b. ferre, dare, capere usw.
geeignet sind, die quintaner zu der zeit, da sie die vielen Stamm-
formen lernen, in die bedeutung der verba einzuführen, es ist doch
sicherlich eine gute geistige Übung, die wohl jeder lehi'er gelegent-
lich anstellt, wenn die schüler etwa bei den composita von facere
nicht blosz auf die grundbedeutung der betreffenden verba, sondern
G<all. 1, 53 utruQi igni statim necaretur an in aliud tempus reserva-
retur. 7, 4 nam maiore commisso delicto igne atque omnibus tor-
mentis necat. 3, 16 itaque omni senatu necato reiiquos sub Corona
vendidit. 5, 6 id esse consilium Caesaris, ut, quos in conspectu Galliae
interfieere vereretur, hos omnes in Britanniam traductos necaret.
ß^ dasz reprehendere das wort von aligemeinerer bedeutung ist,
eeht doch schon aus seinem häufigeren gebrauch hervor (vgl. Merguets
lexicou der reden Ciceros); für den unterschied zwischen dem schärferen
und gelinderen tadel aber vergleiche man unter anderm: Cic. Phil. II 11:
haec tu homo sapiens, nou solum eloquens, apud eos, quorum consiiio
sapientiaque gesta sunt, ausus es vituperare? quis autem meum
consulatum praeter P. Clodium, qui vituperaret, inventus est?
Cic. Flacc. 31 : quod si Flacco praetore nemo in mari praedo fuisset,
tarnen huius diligentia re prehendenda non est. Caes. bell. Gall.
VII 52: postero die Caesar contione advocata temeritatem cupidi-
tatemque militum reprehendit, quod sibi ipsi iudicavissent, quo
procedendum aut quid agendum videretur, neque signo recipiendi dato
constitissent neque ab tribunis militum legatisque retineri potuissent.
" s. oben s. 482.
484 E. Cornelius: lateinisch und deutsch in der sexta und quinta.
auch auf die Zusammensetzung zurtickgehen. sie machen sich dann
im verlaufe des Unterrichts durch eignes nachdenken klar, dasz z. b.
deficere = wegmachen je nach dem Inhalt des satzes heiszen
kann: 'mangeln' oder : 'abfallen', und dasz conficere 'zusammen-
machen' so viel ist als 'vollenden', 'verfertigen', ferner scheint es
uns nicht überflüssig, die schüler betrachtungen darüber anstellen
zu lassen, wie conferre 'zusammen tragen' zur bedeutung 'ver-
gleichen' kommt, was eigentlich bellum inferre heiszt, obgleich
man es im deutschen ganz anders wiedergibt, und wie sich bei
efferre 'hinaustragen' diese grundbedeutung zu den unter sich
so verschiedenen ausdrücken: 'zu grabe tragen', 'veröflPentlichen'
und 'erheben' (in bildlichem sinne) entwickelt, wir könnten in
dieser weise noch viele beispiele anführen, wollen uns aber, weil
jeder lehrer sie nach willkür vermehren kann , nur auf folgende be-
schränken, offendere und defendere stammen bekanntlich von
dem ungebräuchlichen simplex fendere 'stoszen': 'entgegen -
stoszen', oder 'von sich weg stoszen'. hierbei ist gelegenheit,
die knaben an den unterschied zwischen der gewaltsamen kriegs-
sprache der Eömer, die nur das 'stoszen' in betracht zieht, und der
friedliebenden deutschen spräche zu erinnern, die bei 'beleidigen*
nur an das leid denkt, das uns zugefügt wird, und bei 'ver-
teidigen' an den an w alt, der vor gericht für uns spricht,*^ so
wird man die schüler häufig auf die Verschiedenheiten der antiken
und modernen cultursprache aufmerksam machen, und wir wollen
hier nur noch kurz die beiden composita von sedeo, nämlich pos-
sideo und obsideo erwähnen, während der Deutsche nur bei
possideo 'mächtig auf etwas sitzen', d. h. es 'besitzen' mit dem
Lateiner übereinstimmt, macht er das obsideo 'gegen etwas sitzen*
nicht nach, sondern sagt, indem er ein anderes bild gebraucht: 'be-
lagern.'
Obgleich sich der vorliegende abschnitt noch viel weiter aus-
dehnen liesze, müssen wir doch endlich einen schlusz machen und
weisen nur noch auf einen punkt hin , der uns später noch zweimal
beschäftigen wird, es ist dies der umstand, dasz die deutsche spräche
die construction des passivs seltener anwendet als die lateinische.
in den lehrbüchern für quinta wird ja häufig auf den unterschied
zwischen veho 'ich fahre' (transitiv) und vebor 'ich fahre' (intran-
sitiv) aufmerksam gemacht, dasz aber ein ähnliches Verhältnis zwi-
schen perterreo 'ich erschrecke' (erschreckte, erschreckt) und per-
terreor 'ich erschrecke' (erschrak, erschrocken) obwaltet, wird, so
viel wir sehen, weniger hervorgehoben, und doch liegt für die
schüler die gefahr nahe, etwa den satz: 'milites adspectu hostium
valde perterrili sunt' undeutsch zu übersetzen: 'die Soldaten wur-
den durch den anblick der feinde sehr erschreckt', statt der
68 vgl Weifrand, deutsches Wörterbuch, wo 'verteidigen' von
^Theiding' = tagedinc, besprechung, gericht, abgeleitet wird.
E. Cornelius: lateinisch und deutsch in der sexta und quinta, 485
richtigen fassung: 'die Soldaten erschraken sehr über den au-
blick der feinde.' wir haben hier in den beiden gleichlautenden
deutschen verben einerseits die bewegung, anderseits die ruhe aus-
gedrückt, und so ähnlich verhält es sich, wie die schüler vielleicht
herausfinden, mit: 'setzen — sitzen' (sedere — sidere), 'fallen —
fällen' (cadere — caedere), 'ertränken — ertrinken' und wie sie
alle heiszen mögen.
B. Die Satzlehre.
1. Die satzconstructionen.
Wir verlassen nunmehr die formenlehre, um das gebiet der
Syntax zu betreten, so weit diese dem quintaner bereits er-
schlossen wird, für unsere aufgäbe handelt es sich hierbei um
einige satzconstructionen, in deren gebrauch die beiden cultur-
sprachen latein und deutsch wesentlich von einander abweichen,
die bekanntesten lateinischen rede Wendungen mögen den an-
fang machen, den schlusz aber vornehmlich die besprechung des
deutschen activs.
Schon oben®^ lieszen wir die kleinen schüler declinieren: Hanni-
bal, imperator Carthaginiensium , 'der karthagische feldherr Hanni-
bal'. dadurch glaubten wir die jungen gymnasiasten von vorn herein
daran gewöhnen zu können, die lateinisch gedachte apposition
mit einem der deutschen denk weise angepassten substantiv-
attribut wiederzugeben, die angedeutete belehrung scheint uns
aber für die schüler der unteren classen um so notwendiger, als jene
undeutsche redeweise noch bei Schülern der obertertia immerwährend
bekämpft werden musz. will nun der lehrer der quinta seine Zög-
linge die fragliche Verwandlung vornehmen lassen , dann arbeiten
selbst die neuesten Übungsbücher dieser bemühung entgegen, denn
nachdem der knabe im lateinischen stück Aeneas , vir pius mit
'der tapfere held Aeneas' und Pausanias, dux Lacedaemoniorum mit
'der lacedämonische feldherr Pausanias' übersetzt hat, werden ihm
im entsprechenden deutschen stück Wendungen zugemutet wie
'Mardonius, ein königlicher Satrap , ist von Pausanias, dem führer
der Lacedämonier, besiegt worden', statt dasz es hiesze: 'der könig-
liche Satrap Mardonius ist vom lacedämonischen feldherrn Pausanias
besiegt worden.' und doch handelt es sich häufig, wie bei Aeneas,
vir pius, nur um die Wortstellung, von da ist aber nur ein kleiner
schritt zu Pausanias, dux Lacedaemoniorum. denn schüler, die nach
unseren früheren erörterungen'^" bellum civilemit'bürgerkrieg' über-
setzt haben, können auch leicht verstehen, dasz im letztgenannten
beispiel das lateinische Substantiv im deutschen zu einem adjectiv
wird, und ebenso umgekehrt, wenn sie deutsche sätze zum über-
tragen in die fremdsprache vor sich haben.
Wer aber auf der so vorgezeichneten bahn weiter vorwärts
s. heft 9 s. 433. '" s. heft 9 s. 433.
486 E. Cornelius : lateinisch und deutsch in der sexta und quinta.
schreiten will, der mag seine schüler den satz: Q. Lutatius, vir
fortissimus, cum filio circumvento subveniret, ab hostibus inter-
fectus est wiedergeben lassen mit: 'als der tapfere Q. Lutatius
seinem umzingelten söhn zu hilfe kam, wurde er von den feinden
getötet.' darum möchten wir auch umgekehrt wünschen, dasz die
in den lehrbüchern beliebte wendung: 'Leonidas, ein sehr tapferer
könig, hat für das Vaterland gekämpft' folgendermaszen geändert
würde: 'der tapfere (könig) Leonidas', wobei man ja dem schüler
durch breiten druck des Wortes 'tapfer' eine handhabe zum über-
setzen bieten könnte, wenn wir uns aber erinnern, was oben^' über
das fürwort ille gesagt ist, dann werden die knaben den satz:
Alexander Magnus, fortissimus ille Macedonum rex usw. so
verdeutschen: 'der tapfere (oder heldenmütige) Macedonierkönig
Alexander der grosze' usw. bei derartigen Übersetzungen wird sich
der lehrer vielleicht nicht die gelegenheit entschlüpfen lassen, dasz
er darauf hinweist, wie der Römer, ganz ähnlich wie der heutige
Italiener, gern in Superlativen redet", die von gesten begleitet wer-
den, während es der Deutsche liebt, frei von jeder Übertreibung den
positiv zu gebrauchen, und doch dabei empfindet, was er ausdrücken
möchte.
Vier satzconstructionen sind geeignet, den vorgeschritteneren
quintanern im letzten Vierteljahr von ihrem lehrbuch zu besonderer
Übung vorgeführt zu werden: der accusativ mit dem Infinitiv , die
participialconstructionen, die conjugatio periphrastica und der abla-
tivus absolutus.
Zunächst ein wort über den accusativ mit dem Infinitiv,
man wird sich auf dieser classenstufe damit begnügen können, dasz
die schüler aus dem lateinischen diese construction erkennen und
nachher beim umgekehrten übersetzen auch richtig anwenden,
schwierig ist dies ja für die gereifteren quintaner nicht, zumal
da ihnen ja auch ihre muttersprache ähnliche beispiele darbietet,
wie: 'er hiesz die Soldaten in die stadt einrücken.' wenn sie also
zunächst hieran erinnert werden, wird es ihnen um so leichter
fallen, etwa den satz: Caesar milites pontem facere iussit auf
doppelte weise wiederzugeben: 1) 'Caesar hiesz die Soldaten eine
brücke schlagen' und 2) 'Caesar befahl, dasz die Soldaten eine
brücke schlügen', beim übersetzen ins lateinische aber werden sie
sich, wie schon früher oft betont, den unterschied zwischen activ und
passiv, masculinum und femininum, singular und plural plastisch
vor äugen führen, dh. sie werden z. b. bei dem satze: 'es ist be-
kannt, dasz Hannibal von den Römern bei Zama besiegt worden
ist' daran denken, dasz Hannibal ein mann war, und dasz man
demnach sagen musz: 'notum est, Hannibalem a Romanis apud
'1 s. oben s. 476.
■^2 vgl. ital. 'felicissima notte' und die feinsinnigen bemerkungen,
die Goethe über diesen ausdruck in seiner italienischen reise s. 77
macht.
E. Cornelius: lateinisch und deutsch in der sexta und quinta. 487
Zamam victum esse', dasz dagegen im satze: 'es ist bekannt, dasz
die Römer von Hannibal bei Cannae besiegt worden sind' das um-
zusetzende subjeet mehrere personen bezeichnet, weshalb der satz
lateinisch lautet: 'notum est, Romanos ab Kannibale apud Cannas
victos esse.'
Die feinen unterschiede zwischen ut und dem accusativus cum
infinitivo braucht, wie oben angedeutet, der quintaner noch nicht
zu erkennen, wenn er nur im allgemeinen weisz, dasz diese con-
struction den verbis sentiendi und dicendi hinzugefügt wird; auch
ist eine aufzählung dieser Zeitwörter, wie sie die lehrbücher vielfach
bieten, als gedächtnismäsziger anhaltspunkt für die lateinbeflissenen
sehr erwünscht, im übrigen möchten wir davor warnen , den ein-
schlägigen Übungsstücken allzu viele regeln vorzudrucken, damit
den knaben der weg zu eignem forschen nicht versperrt wird.
Wenn der lehrer aber seinen Zöglingen zumuten darf, deutsche
dasz-sätze im lateinischen mit einer infinitivischen Wendung wieder-
zugeben, dann kann er auch umgekehrt von ihnen verlangen, neben-
sätze, die durch das lateinische ut eingeleitet werden, im deutschen
in einen Infinitiv zu verwandeln, wir meinen den infinitiv mit
vorausgehendem 'um zu', welche construction bekanntlich
einen zweck ausdrückt, so wenig aber traut man den schülern zu,
dasz sie ihre eigne muttersprache mit verstand brauchen, dasz ihnen
die lehrbücher, so viel wir zu erkennen vermögen, die construction
mit 'um zu' manchmal ganz vorenthalten, indem sie hinter jedes
finale ut die Übersetzung 'damit' einklammern, wenn aber, um ein
beliebiges beispiel zu bilden, den lernenden folgender satz vorgelegt
wird: Caesar Rubiconem transgressus est, ut cum Pompeio de prin-
cipatu dimicaret, dann werden sie, wenn hinter ut 'damit' ein-
geklammert ist, unbedenklich übersetzen: 'Caesar überschritt den
Rubico, damit er mit Pompejus um die oberherschaft kämpfte', ist
aber der klammerausdruck weggelassen , dann werden sie zunächst
selber herausfinden, dasz ut auszer 'dasz' auch 'damit' heiszen kann,
sich dann aber nicht eher beruhigen, als bis die gut deutsche über-
setzungsform zu tage getreten ist: 'Caesar überschritt den Rubico,
um mit Pompejus um die oberherschaft zu kämpfen.'
Schon bei einer früheren gelegenheif^^ nannten wir die lehre
von den participien ein schwieriges capitel. aber dem sextaner
wurde bereits klar, dasz er in diesen verbalformen ein mittelding
zwischen verbum und adjectiv vor sich habe, er machte sich klar,
dasz man hierbei nicht conjugiert, sondern decliniert, und wandelte
daher ursus saltans und templum aedificatum^* in den fünf nomi-
nalen casus ab, der schüler der nächstfolgenden classe aber wird
durch gelegentliche Übungssätze belehrt werden, dasz er das latei-
nische participium nicht immer wörtlich wiedergeben kann, ist er
nun bis zu dem punkte gelangt, dasz ihm die lateinische par-
" s. heft 9 s. 442. ^4 g j^eft 9 s. 442.
488 E. Cornelius: lateiniscli und deutsch in der sexta und quinta.
ticipialconstiuction systematisch vor äugen steht, dann geht
ihm ein licht darüber auf, dasz auch hierin die beiden cultursprachen,
deren er sich befleiszigt, tiefgreifende unterschiede unter einander
aufweisen: mit hilfe des lehrers wird er bemerken, wie die latei-
nische spräche in ihrer logischen strenge das kurzgefaszte parti-
cipium bevorzugt, während sich das deutsche in seiner gemütlichen
breite lieber in nebensätzen bewegt, einem knaben aber, der sich
hierüber klar ist, wird es freude bereiten, mit eigner geisteskraft
herauszufinden, ob das betreffende participium in einen temporal-
satz, causalsatz usw. aufzulösen ist, und etwa vorgedruckte regeln
bilden unserer meinung nach nur einen bemmschuh für diese geistige
regsamkcit.
Eine specifisch lateinische participialconstruction ist bekannt-
lich die sogenannte conjugatio periphrastica. wir haben schon
oben gesagt, dasz wir die participien laudaturus und laudandus dem
sextanerlehrbuch einverleibt sehen möchten ''% und dort bereits aus-
einandergesetzt, wie wir uns die behandlung der fraglichen con-
struction in sexta und quinta vorstellen; es bleibt uns also nur noch
der wünsch übrig, dasz auch der teil für quinta die conjugatio peri-
phrastica in einem besondern abschnitt vorführt, zumal da der erste
Schriftsteller, der dem quartaner in die band gegeben wird, nämlich
Cornelius Nepos, diese redewendung häufig genug anwendet.
Mit dem ablativus absolutus aber werden sich die schüler
leicht abfinden, die von vorn herein daran gewöhnt sind, den ablativ
als den präpositionscasus'* je nach umständen mit den verschieden-
sten Präpositionen zu übersetzen, wenn sie sich nämlich gleich-
zeitig an die vorher geübten auflösungen der participien erinnern,
brauchen sie jetzt nur noch zu unterscheiden zwischen 'Tiberio
raoriente', 'bei dem sterbenden Tiberius', d. h. 'als Tiberius starb',
und 'Tiberio mortuo', 'nach dem gestorbenen Tiberius', d. h. 'nach-
dem Tiberius gestorben war', so vorgebildete schüler verwandeln
nun den unvollständigen ablativus absolutus 'Cicerone consule' aus
'unter dem consui Cicero' ohne weiteres in den ausdruck: 'unter
dem consulate des Cicero.' die Übertragung ins lateinische geht
aber gerade umgekehrt vor sich, indem die knaben dem nebensatz:
'nachdem Troja zerstört worden war' die fassung geben: 'nach
dem zerstörten Troja' und dann lateinisch sagen: 'Troia capta.'
natürlich wird ihnen auch hier, auf dieser classenstufe vielleicht un-
willkürlich, der unterschied zwischen dem passivischen Troia capta
und etwa dem activischen sole Oriente plastisch vor ihrem geistigen
äuge schweben, dasz wir aber auch hier in den lehrbüchern regeln
lieber vermissen als vorgedruckt sehen möchten, versteht sich nach
unsern bisherigen erörterungen wohl von selbst.
Schlieszlich sei noch mit ein paar worten die bekannte that-
sacbe gestreift, dasz der Deutsche das activ häufig gebraucht, wo
" 8. heft 9 s. 441. '^^ s. heft 9 s. 430.
E. Cornelius: lateinisch und deutsch in der sexta und quinta. 48 J
der Lateiner das passiv anwendet, in einem spätem abschnitt wer-
den wir noch einmal auf diesen umstand zurückkommen, nachdem
wir auch früher bereits darauf hingewiesen haben. ^^ die schüler der
untersten gymnasialclasse übertragen das lateinische passiv immer
noch als solches ins deutsche, denn ihnen soll klar werden, dasz
dieses genus ein leiden ausdrückt, und zugleich führt es ihnen die
conjugation gewissermaszen formelhaft vor, die quintaner aber kann
man schon darauf aufmerksam machen , dasz sich z. b. der satz :
Romani ab Kannibale multis proeliis victi sunt im deutschen sowohl
passivisch als auch activisch wiedergeben läszt. daraus mögen sie
erkennen, dasz man je nach umständen und Zusammenhang diese
Verwandlung vornehmen kann oder auch nicht, in einem andern
satz aber, der etwa lautet: T. Manlius consul imperavit, ut filius
suus securi necaretur, quod contra edictum cum duce hostium pugna-
visset, werden die knaben auf anregung des lehrers gezwungen, das
passiv in die deutsche construction mit dem unpersönlichen fürwort
*man' umzuwandeln, und werden in gegebenen fällen, wo sie es
selber für gut halten, denselben Übersetzungsversuch anstellen.
2. Art des construierens.
Die flexionslehre ist nur das mittel zu dem höheren zweck,
Sätze im Zusammenhang ihrer teile und lesestücke im aufbau
ihrer einzelsätze in die deutsche oder in die fremdsprache zu über-
tragen, die kunst des Übersetzens aber wird dem kleinen schüler
erst dann allmählich geläufig, wenn er sich nicht nur im sogenannten
construieren beständig übt, sondern auch den Inhalt eines jeden
Satzes, der ihm vorgelegt wird, deutlich vor äugen hat. indem wir
unsere ansieht über einzelsätze und zusammenhängende stücke einst-
weilen aufsparen, wenden wir uns zur art des construierens,
immer den blick gerichtet auf das oft betonte zusammenwirken
zwischen form und Inhalt.
Naturgemäsz werden die knaben in ihrem kindlichen eifer vor
allen dingen wissen wollen, was die lateinischen sätze eigentlich auf
deutsch besagen, was denn wohl faszbares darin enthalten ist, und
sicherlich wird ihr feuer noch mehr angefacht, wenn die einzelnen
Sätze unter einander einen gewissen inhaltlichen Zusammenhang
haben, versetzen wir uns im geiste in die unterste gymnasialclasse,
wo wir den neu eingetretenen Schülern in unserer eigenschaft als
lehrer die erste lateinstunde zu erteilen haben, gleich mit con-
struieren anzufangen, wäre doch zu abstract, gleich das beispiel
mensa auswendig lernen zu lassen, würde auch noch keinen nach-
haltigen nutzen gewähren, aber wie wäre es, wenn man die drei
oder vier ersten sätze aus dem lehrbuch für sexta ^* aufs gerate wohl
■*' s. oben s. 484.
^8 sie mögen etwa lauten: Europa est terra. Asia est terra. Europa
et Asia sunt terrae. Italia est terra. Graecia est terra. Italia et Graecia
sunt terrae.
N. Jahrb. f.phil.u. päd. II. abl. 1897 hft.lO u. 11. 32
490 E. Cornelius : lateiniscli und deutsch in der sexta und quinta,
übersetzen iiesze und sich überzeugte, ob die kleinen auch wissen,
dasz Europa und Asien zwei erdteile, Italien und Griechenland zwei
länder in Südeuropa sind, indem man beiläufig erwähnt, dasz die
alten Römer, deren spräche die schüler jetzt lernen, in dem wie ein
Stiefel gestalteten land Italien zu hause gewesen sind, es schadet ja
nichts , wenn eine ganze stunde auf diese besprechung verwendet
wird , und einen kleineu Wortschatz nehmen die knaben auch schon
mit nach hause: Europa, Asia, Italia, Graecia, terra, est und sunt.
Es liegt auf der band , dasz man dieses verfahren nicht in der-
selben ausführlichkeit fortsetzen kann, doch überzeuge sich derlehrer
immerwährend, ob seine Zöglinge auch jeden satz inhaltlich ver-
stehen, und komme selbst in quinta noch da, wo es ihm notwendig
erscheint , durch fragen oder erklärungen der dahin zielenden auf-
fassung zu hilfe. ebenso wenig ist es, wie unten gezeigt werden
wird''®, immer möglich, die sätze eines Übungsstückes jedesmal so
zu wählen , dasz sie einen gewissen Zusammenhang unter einander
haben; für schüler, die an richtiges Verständnis des Inhalts gewöhnt
sind, wird es jedoch keine Schwierigkeit bieten, hierbei ihr haupt-
augenmerk auf die sprachliche form zu richten, ferner weist das
obige beispiel daraufhin, dasz die schüler — fügen wir gleich hinzu :
nicht nur der sexta , sondern auch der quinta — ihre Wörter ledig-
lich aus dem betreffenden s-atze heraus erkennen und auswendig
lernen mögen.'''' dies scheint uns den doppelten vorteil zu bringen,
dasz die knaben sich dabei immer an den inhalt des fraglichen satzes
erinnern und dasz sie das selbst erarbeitete wort sich leichter ein-
prägen und schneller auswendig lernen, und später, wenn sie einen
Schriftsteller lesen, müssen sie ja mit hilfe des lexikons auf dieselbe
weise vorgehen.
Beim übersetzen aus dem deutsehen ins lateinische wirft sich
die denkkraft der schüler selbstverständlich mehr auf die sprach-
form als auf den stofflichen Inhalt.^' um seine sextaner aber zu
veranlassen, auch den letzteren nicht ganz zu vernachlässigen, hat
der Verfasser ihnen unter anderm bei gelegenheit der vierten decli-
nation eine classenarbeit gegeben, deren Wortlaut er sich vorzuführen
" s. unten s. 495 und 499. ^° s. oben s. 479.
*' vgl. Waldeck, zeitschr. f. gymn.-wesen sept. 1894 s. 540: 'nun ent-
steht die weitere frage nach dem werte beider thätigkeiten für die
sprachlich -logische Schulung, worin besteht die geistige arbeit des
Schülers beim hiuübersetzen? doch wesentlich darin, dasz er vocabeln,
formen, phrasen und constructionen ziemlich mechanisch aus dem ge-
dächtnis hervorholt, um sie zu lateinischen sätzen zusammenzusetzen,
von denen er dann selbst nicht einmal beurteilen kann, ob sie wirklich
latein entlialten. eine genaue und scharfe Untersuchung des inhalts ist
dabei sehr selten erforderlich, denn die sätze in den Übungsbüchern
sind fast sämtlich so zurecht gemacht, dasz die Übersetzung recht wohl
ohne das möglich ist, und wo sie einmal nötig wird, da werden regel-
mäszig die fehler gemacht, wie in der Verwechslung von dum und cum
während, sie ist aber auch kaum möglich, weil die ganze aufmerksam-
keit des Schülers durch die form in ansprach genommen ist.'
E. Cornelius: lateinisch und deutsch in der sexta und quinta. 491
erlaubt: fortitudo exercituum Romanorum magna erat, impetu vehe-
menti cornu dextrum exercitus Romani hostibus interitum paravit.
fortitudo exercitui Romano saepe victoriam et gloriam parabat.
milites cantu suo animum imperatoris delectabant. nautis motus
lunae et aliorum siderum noti sunt, in bonis portibus Graeciae
multae naves sunt, folgende bemerkungen mögen uns im anschlusz
hieran gestattet sein, man beachte zunächst, dasz die ersten sätze
sich immer auf das römische beer beziehen, also dadurch schon Zu-
sammenhang mit einander haben, und dasz dann vom landheere auf
die Seeleute und von Rom auf Griechenland übergegangen ist. auch
hat sich der Verfasser nicht gescheut, seine schüler vor der nieder-
schrift auf diesen Inhalt der sätze aufmerksam zu machen, ja, er hielt
es sogar für zweckmäszig ihnen zu sagen, sie sollten sich das vor-
gesprochene in ihres geistes aug' einmal vorstellen, darauf wurde
im einzelnen jeder satz zuerst im ganzen und dann in seinen teilen
noch einmal gesagt und von den Schülern schriftlich ins lateinische
übertragen.
Wir haben in der obigen auseinandersetzung statt vieler je ein
beispiel gegeben, um zu zeigen, wie man etwa sowohl beim über-
setzen ins lateinische wie beim übertragen ins deutsche den sinn
der kleinen schüler für den Inhalt des dargebotenen lesestoffes rege
erhalten kann, ein lehrer aber, der sein augenmerk einzig und allein
dem stofflichen übersetzen zuwendete, würde seine schüler zum
dilettantismus und zur bequemlichkeit erziehen, die leichte mühe,
womit der sextaner seine allerersten sätze ins deutsche über-
tragen durfte, hört baldigst auf, und es wird dem kleinen Sprach-
forscher klar gemacht, dasz er sich jeden satz selbständig heraus-
zuarbeiten, dasz er ihn zu construieren hat, dasz er jedesmal ein
gebäude errichten musz, dessen grundstein das prädicat bildet, wäh-
rend das subject etwa das erdgeschosz, die objecte den ersten und
zweiten stock, die bindewörter den mörtel zwischen den einzelnen
bausteinen u. ä. darstellen, für dieses beständige 'bauen' bieten ja
die lehrbücher häufig eine recht gute handhabe, doch sei es uns er-
laubt, betreffs der art und weise des construierens noch ein wört-
chen hinzuzufügen, vielleicht empfiehlt es sich nämlich, die Satz-
teile nicht blosz aus der lateinischen form . sondern auch einmal
etwa beim satz 'aquila est bestia' zuerst aus der deutschen Über-
setzung 'der adler ist ein tier' heraus zu erklären, dies würde
man dann wiederum auf die Römersprache übertragen, während
man gelegentlich im deutschen Unterricht ähnliche beispiele vor-
führte oder auffinden liesze.
Wann, wie oft und wie lange man Übungen im construieren
anstellen läszt, dies hängt natürlich vom Standpunkt der classe ab
und ist dem jedesmaligen ermessen des lehrers anheimgegeben, und
bekanntlich empfiehlt sich auch hier, wie so oft beim verkehr mit
der knabenschar, die manigfaltige abwechslung. nur darauf möchten
wir hinweisen, dasz es während des bestanerjahres zwei Zeitpunkte
32*
492 E. Cornelius: lateinisch und deutsch in der sexta und quinta.
gibt, in denen, wie uns scheint, das construieren mit besonderem
nachdruck zu betreiben ist, zuerst natürlich im anfangshalbjahr und
dann mit erneuter kraft beim beginn der ersten conjugation, d. h.
der Verbalflexion. ®^
Jedenfalls sind wir der ansieht, dasz man nicht, wie z. b.
Lattmann ®^, die kenntnis der Satzteile als bekannt voraussetzt,
sondern dasz man sie mit dem lateinischen zusammen noch einmal
durch- und ins latein hineinverarbeiten müsse, nur darf das con-
struieren nicht in pedanterie ausarten , und zu diesem zwecke ist es
gut, dasz die lehrbücher das subject nicht immer an den anfang des
Satzes stellen, hat man also etwa in dem satz: 'in Italia et Graecia
sunt templa deorum' construieren lassen: sunt = prädicat, templa
= subject, deorum = genetiv-attribut zu templa, in Italia et Graecia
= zwei adverbiale bestimmungen des ortes, dann braucht der schüler
doch nicht ängstlich zu übersetzen : 'tempel der götter sind in Italien
und Griechenland', sondern kann sinn- und stilgemäsz mit mög-
lichster beibehaltung der lateinischen Wortstellung
sagen: 'in Italien und Griechenland sind tempel der götter (oder:
göttertempel).' uns will es scheinen, als ob auf diese weise das ge-
fühl für richtige Wortstellung und guten stil im deutschen ebenso
wie in der fremdsprache bei den schülern unwillkürlich geweckt und
zugleich schon frühzeitig dem umstände entgegengewirkt wird, über
den Gau er®* in seinem schon mehrfach erwähnten buche klagt.
Bevor wir dazu übergehen, auch das übersetzen ins lateinische
einer betrachtung zu unterziehen, wollen wir, um unser oben s. 475
gegebenes versprechen einzulösen, einen blick auf den teil des eigent-
lich deutschen Unterrichts werfen, der der grammatischen Unter-
weisung gewidmet ist. um aber auch hierbei die fühlung mit dem
latein nicht ganz zu verlieren, beginnen wir mit dem lateinischen
tibungssatz: milites magna fortitudine urbem expugnaverunt. der
schüler, dem wir diese worte zum construieren vorlegen, darf sich
nicht damit begnügen, etwa aus der lateinischen form heraus zu
sagen, magna fortitudine bilde eine 'adverbiale bestimmun g',
nur weil der ablativ angewandt ist, sondern er musz der sache tiefer
auf den grund gehen, stockt er nun vielleicht bei der form forti-
tudine, so lasse man ihn zunächst einmal das bisher gefundene prä-
dicat, subject und object übersetzen", dann wird er mit hilfe des
** s. unten s. 494, wo der letztere umstand näher begründet werden soll.
^^ Lattmann, Übungsbuch für sexta.
®* Cauer, die kunst des Übersetzens, s. 88: ein satz wie pro Mur.
6, 16 zeigt uns beim beginn und am ende die absieht des Stilisten:
tempestivi convivii, amoeni loci, multarum deliciarum comes est extreraa
saltatio. wer noch mit subject und prädicat zu schaffen hat,
übersetzt bedächtig: 'der tanz ist der letzte begleiter eines früh be-
ginnenden gelages.' Cicero meint etwas ganz anderes: 'zu einem früh
beginnenden gelage, einem anmutigen platz, einer fülle von genüssen
gesellt sich zuletzt der tanz.'
^^ s. oben s. 491.
E. Cornelius: lateinisch und deutsch in der sexta und quinta. 493
deutschen herausfinden, dasz er eine adverbiale bestimm ung
der art und weise vor sich hat.
Erst dann, wenn sich der schüler auf ähnlichem wege schon
Öfters klar gemacht hat, dasz in mit dem ablativ oder accusativ eine
Ortsbestimmung und der blosze ablativ je nach den gegebenen Ver-
hältnissen umstände der zeit, des mittels, derart und weise usw.
bilden, führt ihm der grammatische deutsche Unterricht
eine Zusammenstellung der adverbialen bestimmungen
vor. man thut etwa die fragen: wo, woher, wohin, wann fliegt der
vogel, läszt sie nach willkür beantworten und stellt fest, dasz die
betrefiFenden bestimmungen formell entweder aus einem a d v e r b i u m
oder einer präposition mit ihrem casus bestehen, ferner: 'wie
erwartet der soldat den kämpf?' antwort: 'mit ruhe'; 'wie singt der
vogel?' antwort: 'der vogel singt schön.' der leser merkt, dasz wir
mit dem letzten fragespiel auf den oben s. 474 erwähnten unter-
schied zwischen adjectiv und adverbium hinauswollen, denn 'schön'
kann zugleich adjectiv und adverbium sein, und den sextaner wird
die fragestellung bald darüber aufklären, dasz 'schön' im satz ent-
weder eine adverbiale bestimmung oder ein adjectiv- attribut oder
ein prädicatsnomen bildet, denn er sagt sich: 1) 'wie singt der
vogel?' 'der vogel singt schön', 2) was für ein vogel singt?'
'ein schöner vogel singt* und 3) 'der vogel ist was für ein
vogel?' 'der vogel ist ein schöner vogel', d. h. 'der vogel ist
schön', wenn aber der lehrer, der in der untersten classe deutsch
und latein in seiner band vereinigt, geneigt ist, die obigen Übungen
in der muttersprache anzustellen, dann wird es ihm auch nicht un-
willkommen sein, im lateinischen lehrbuch sätze zu finden, die ihm
für seinen fremdsprachlichen Unterricht eine dahin zielende hand-
habe gewähren, dies ist jedoch vielfach nicht möglich, weil gerade
in den neuen ausgaben unserer lebrbücher manchmal die adverbien
der lehraufgabe für sexta gar nicht einverleibt sind, darum sei es
uns gestattet, an dieser stelle noch einmal auf unsere oben s. 474 be-
züglich der adjective und adverbien gemachten auseinandersetzungen
hinzuweisen.
Während beim übersetzen aus dem lateinischen der anfänger
die Satzteile blosz angibt, wird er sich bei der Übertragung ins
lateinische einer ausführlichen fragestellung nach den
einzelnen teilen des satzes befleiszigen, wobei die frage nach dem
grundlegenden prädicat jedesmal die erste, die nach dem subject die
zweite ist, bis dann die übrigen Satzteile folgen, z. b. 'der vogel
fliegt auf den bäum', was sagen wir vom vogel aus? wer fliegt?
wohin fliegt der vogel? wer jedoch die ansieht teilt, die Kern^®
über das prädicat äuszert, der wird überhaupt die ganze frage-
stellung , wie wir sie vorschlagen, verwerfen müssen, der erwähnte
Verfasser sagt in seiner Satzlehre s. 71: 'durch den satz: «Themisto-
*^ Kern, Satzlehre s. 71.
494 E. Cornelius: lateinisch und deutsch in der sexta und quinta.
kies bat im jähre 480 bei Salamis die Perser besiegt» sollte ich in
der tbat nur etwas von Themistokles aussagen, nichts von den be-
siegten Persern, nichts von der insel, in deren nähe der sieg er-
fochten wurde, nichts von dem jähre, in welchem es geschah? wo-
her weisz ich denn durch diesen satz, dasz die Perser damals bei
Salamis besiegt wurden, wenn es in ihm nicht von ihnen ausgesagt
würde? es wäre ja überaus wunderbar, wenn der satz auch nur eine
einzige Vorstellung enthielte, von der gar nichts durch denselben
ausgesagt würde, man begreift nicht, was diese eigentlich in dem
satze soll.' wenden wir jedoch auf den von Kern angeführten satz
die ausführliche fragestellung an, so erkennen wir, dasz trotz seiner
auseinandersetzung eben nur vom subject 'Themistokles' etwas aus-
gesagt wird: 'was sagen wir von Themistokles aus?' antwort: 'dasz
er gesiegt hat.' nun fragen wir weiter: was sagen wir vom jähre
480 aus? etwa, dasz es gesiegt habe? von Salamis? etwa, dasz
die insel gesiegt habe? von den Persern? etwa, dasz sie gesiegt
haben? sie sind vielmehr besiegt worden! wir müssen doch wohl
die fragen anders stellen: wann hat Themistokles die Perser be-
siegt? wo hat er die Perser besiegt? wen hat er besiegt? dagegen:
was wird von Themistokles ausgesagt?
Wer aber die soeben ausgesprochene ansieht teilt, der wird
wohl auch einräumen, dasz dem schüler infolge der fragestellung
klar wird, ob ein satzteil vom prädicat oder von einem
Substantiv abhängig ist. denn wenn er z. b. fragt: 'wann
hat Themistokles die Perser besiegt?' dann wird er bei der frage-
stellung das verbum zu hilfe nehmen und sehen, dasz Mm jähre 480'
als adverbiale bestimmung zum verbum gehört; geben wir dagegen
dem griechischen Staatsmann ein bei wort, z. b. der kluge Themi-
stokles, dann fragt der schüler: 'was für ein Themistokles hat
die Perser besiegt?' und sieht, dasz 'klug' auf das Substantiv 'The-
mistokles' zu beziehen ist. wir brauchen nur noch einen schritt
weiter zu gehen und den satz zu bilden: 'klug hat Themistokles die
Perser besiegt', und unsere leser erheben gegen uns den Vorwurf,
dasz wir oben®^ schon gesagtes wieder aufwärmen.
Es bleibt noch eine kurze beraerkung übrig, um uns dafür zu
rechtfertigen, dasz wir früher-® die erneuerung des construierens
bei beginn der ersten conjugation eingeschärft haben, den sextanern
treten vorläufig verbalformen nur in der dritten person ent-
gegen, sobald aber das verbum an die reihe kommt, lernt er, dasz
dieses in seinen endungen -m, -s, -t usw. schon das subject in sich
enthält, und er macht die bemerkung, dasz die erste und zweite, zu-
weilen auch die dritte person ein eigentliches subjectswort, wie es
ihm seine rauttersprache in den persönlichen fürwörtern zeigt®^ gar
*^ 8. oben s. 474.
^^ s. oben s. 491.
89 der schüler möge hiermit unsern imperativ 'lobe, lobet' ver-
gleichen, um zu sehen, dasz auch im deutschen das persönliche fürwort
E. Cornelius: lateinisch und deutsch in der sexta und quinta. 495
nicht besitzt, so wird er etwa in dem batze: laudamus probos horaines,
non improbes neu herauszufinden haben, dasz laudamus zugleich prä-
dicat und subject ist, und dasz der letztere satzteil in der silbe -mus
enthalten ist. liegt dem schüler nun in einer der nächsten wochen-
stunden der satz vor: 'einen guten könig nennen wir den vater des
Vaterlandes', dann wird er vielleicht zuerst 'könig' als das subject
ansehen, stellt er aber die ihm anfangs sonderbar klingenden fragen ;
'was sagen wir von uns aus' und 'wer nennt den könig einen vater
des Vaterlandes?' mit der antwort: 'wir thun es', dann hat er sich
den richtigen und für seine vorstellungsgabe neu entdeckten weg
gebahnt, und eine art der construction zeigt sich seinen blicken, die
er bisher nicht gekannt und geübt hatte.
3. Einzelsätze im lehrbuch.
Wir schreiten nunmehr, unserer obigen andeutung folgend"',
zur besprechung der einzelsätze und der zusammenhängen-
den lesestücke, die wichtigste aufgäbe für den Verfasser eines
lebrbuches aber scheint uns darin zu liegen, dasz er zwischen diesen
beiden arten der lectüre einen gesunden Wechsel eintreten läszt.
darunter verstehen wir, dasz bei der auswahl der lesestücke und
ihrer einschaltung zwischen die Übungsstücke stetig auf das allmäh-
liche grammatische fortschreiten der lernenden rücksicht genommen
werde, ein lehrbuch aber, das nur einzelsätze vorführte, würde
ebenso wenig dem vorgesteckten ziele entsprechen, wie ein anderes,
das von vorn herein nur zusammenhängenden Inhalt darböte, denn
das erstere verstiesze gegen die auffassung, dasz das Übungsbuch
der unteren classen eine Vorstufe für den Schriftsteller bilden soll,
und das letztere wäre der formalen bildung wenig förderlich.
Schon oben^' bemerkten wir, dasz es nicht immer möglich sei,
den Schülern zusammenhängende stücke vorzulegen; dies gilt aber
besonders dann, wenn neue grammatische begrifife eingeführt wer-
den, weil in diesem falle die form die hauptsache bildet, wir haben
uns aber bereits in der einleitung^* dahin erklärt, dasz in den beiden
unteren gymnasialclassen die grammatische ausbildung in den Vorder-
grund zu treten habe, und dies bezieht sich wiederum in höherem
masze auf die sexta als auf die nächstfolgende classe. darum musz
auch auf der untersten stufe der grammatische lehrstoif einen
gröszeren räum einnehmen als die lesestücke; damit aber letztere
auch zu ihrem rechte kommen, wird man auf die auswahl und haus-
hälterische Zusammenstellung der grammatischen stücke eine be-
sondere Sorgfalt verwenden.
Es sei uns erlaubt, eine solche, wie sie unserer subjectiven an-
sieht etwa entsprechen würde, hier folgen zu lassen:
eutbehrlich ist. vgl. übrigens Kerns Satzlehre s. 42 ff., der hierüber
aus der deutschen dichtersprache auch noch andere beispiele darbietet.
»0 s. oben s. 489. «i s. oben s, 490. "^ g heft 9 s. 425.
496 E. Cornelius : lateinisch und deutsch in der sesta und quinta.
1) Substantive der ersten und zweiten declination.
2) adjective der ersten und zweiten declination.
3) Substantive der dritten declination.
4) adjective der dritten declination.
5) hie, ille, ipse; unus, duo, tres.
6) Substantive der vierten und fünften declination.
7) Zahlwörter.
8) veibum sura.
9) activ der ersten conjugation.
10) persönliche fürwörter.
11) is, idem, qui.
12) comparation der adjective und adverbien.
13) passiv der ersten conjugation.
14) infinitive, participien und gerundium der ersten conjugation.
15) die zweite conjugation.
16) die vierte conjugation.
17) die dritte conjugation.
18) die verba der dritten conjugation auf -io (= fünfte conjugation).
Diese aufzählung bedaif, da sie in manchen punkten von den
Übungsbüchern abweicht, einer näheren begründung. im allgemeinen
wird man wahrnehmen, dasz wir in den ersten abschnitten 1 bis 7
die declination der Substantive und der ihnen verwandten Wortarten
zusammenfassen, dasz wir in den abschnitten 8 bis 14, die mitten
im Schuljahr erledigt werden, verschiedene flexions- und Wortarten
entwickeln und dasz sich schlieszlich von 15 bis 18 die lernenden wie-
derum auf einen einzigen gegenständ, die conjugation, beschränken,
im besondern seien noch folgende erörterungen hinzugefügt, nach-
dem die Schüler in den vier ersten abschnitten die haupt- und eigen-
Schaftswörter der drei ersten declinationen zur genüge geübt haben,
erfahren sie, dasz fürwörter und Zahlwörter die stelle von adjectiven
vertreten, lernen die neuen formen auswendig und üben sie haupt-
sächlich dadurch, dasz sie sie mit Substantiven zusammen abwandeln,
dieser 5e abschnitt kann im lehrbuch verhältnismäszig kurz gefaszt
sein, wenn man im 6n abschnitt über die vierte und fünfte declina-
tion die formen von hie usw. gelegentlich einflieszen läszt. die Zahl-
wörter aber fügen sich, wie uns dünkt, der declination als vorläufiger
abschlusz passend an. nach dem verbum sum (8) ist die erste conjuga-
tion in drei teile (9, 13 und 14) auseinandergelegt, damit der knabe
gelegenheit hat, hieran das wesen der conjugation überhaupt kennen
zu lernen, zwischen das activ (9) und das passiv (13) haben wir drei
abschnitte eingeschoben (10, 11 und 12), die sich mit dem verbum
leicht in bezug setzen lassen, denn das persönliche fürwort (10) ist
wichtig für die demnächstige Verwandlung des activs ins passiv
(vgl. laude te: a me laudaris u. ä.), die pronomina is, idem und
qui (11) treten im gegensatz zu hie, ille und ipse (5), die dem
Substantiv näher stehen, mit verbalformen in innigere beziehung,
und die adverbien, deren Verbindung mit den adjectiven wir
E, Cornelius: lateinisch und deutsch in der sexta und quinta. 497
oben'* schon an gedeutet haben, sind ja ganz nahe mit dem verbum
verwandt, ist aber das vresen der ersten conjugation erkannt,
dann fällt es den schillern nicht schwer, die übrigen conjugationen
(15 bis 18) zu verstehen, und es erscheint gleichzeitig geboten, sie
nicht durch sonstige Wortarten zu unterbrechen.
Man gestatte uns noch einige beraerkungen über die haushälte-
rische einteilung der sextanerlehraufgabe. betrachten wir zunächst
die abwandlung der substantiva! da nthmen wir wahr, dasz
in den Übungsbüchern mit vollem rechte die vierte und fünfte decli-
nation meistens kürzer behandelt sind als vorher die drei ersten,
doch möchten wir wünschen, dasz diese beiden flexionsarten, die wir
in unserer obigen tabelle in den einzigen abschnitt 6 verwiesen
haben, noch etwas rascher abgemacht würden, denn nachdem die
Schüler einmal das wesen der declination überhaupt verstanden
haben, würden sich unter weglassung solcher sätze, die bereits ge-
lernte Wörter dieser declinationen enthalten, die stücke vielleicht
noch etwas mehr zusammenziehen lassen, dazu kommt nun noch
ein anderer umstand, die kleinen schüler, die nach Vollendung der
dritten declination von dem immerwährenden abwandeln der sub-
stantiva und adjectiva ermüdet sind, würden es als eine anregende
abwechslung empfinden, wenn nach unserer obigen andeutung®* der
6e abschnitt durch die hinweisenden fürwörter und die zahlen 1,
2 und 3 unterbrochen wäre (5r abschnitt), wenn man diese begriffe,
die gerade wegen ihrer unregelmäszigen bildung den schülern einen
neuen reiz darbieten , der vierten und fünften declination gelegent-
lich einpasste, dann wäre diesem abschnitt eine neue zugäbe ein-
gefügt, die vielleicht für die Übung in den betreffenden Wortarten
von nutzen ist und den grammatischen stoff vereinfacht.
Nun noch ein paar worte über die verb alf lexionl mit
groszem geschick sind in den lehrbüchern häufig die abschnitte über
die erste conjugation gewählt, denn indem activ und passiv rein-
lich auseinandergehalten werden, sind auch innerhalb der beiden
genera des verbums die tempora und modi faszlich und angemessen
gruppiert, so werden hier die schüler in schön systematischer weise
in das wesen der conjugation überhaupt eingeführt. ^^ dasz aber die
Übungsbücher bei sämtlichen übrigen conjugationen genau dieselben
grundsätze bei der einteilung befolgen, scheint uns der sache weniger
angemessen zu sein, denn wenn man, wie oben"® schon angedeutet,
die zweite conjugation bereits zur ersten Versuchsstation für die
Verbalstämme macht, dann darf man wohl auch von einer Ver-
schiebung der gesichtspunkte sprechen, d.h. der Verfasser
eines lehrbuches möge bei der zweiten conjugation nicht blosz die
vorherige reihenfolge der genera, tempora und modi, sondern auch
die entwicklung der verbalstämme berücksichtigen, zum schlusz
9' 8. oben s. 474. " s. oben s. 496.
" s. auch heft 9 s. 434. »^ s. heft 9 s. 436.
498 E. Cornelius: lateinisch und deutsch in der sexta und quinta.
des betreffenden abschnittes würde den schülern ein vergleich zwi-
schen den beiden ersten conjugationen zeigen, dasz die perfectformen
im activ und passiv ganz gleich sind, und ein kurzer hinweis des
lehrers darauf, dasz dies auch in den andern conjugationen der fall
ist, würde den schülern zeigen, dasz es für diese formen nur eine
einzige conjugation gibt.^* indem aber bei der regelrechten vierten
conjugation für die knaben eine art ruhepause einträte, würde man
hier vielleicht anfangen können, die genera, temporaund modi mehr
durcheinanderzuwürfeln, um den schülern gelegenheit zu schwie-
rigeren Übungen zu bieten, die dritte conjugation könnte dann
wieder anfangs eine Scheidung zwischen activ und passiv vornehmen,
würde aber später damit etwas freier schalten, namentlich aber
müste hier der zweite gesichtspunkt maszgebend sein, dasz die
Verbalstämme wiederholt geübt würden, schlieszlich wäre die misch-
conjugation der verba auf -io nur anhangsweise zu behandeln.
4. Zusammenhängende lesestücke im lehrbuch.
Nachdem wir versucht haben, den grammatischen stoff haus-
hälterisch einzuteilen , treten wir an die frage heran , wo man den
einzelsätzen etwa zusammenhängende lesestücke einfügen
und wie man diese im unterrichte behandeln möge, mit recht be-
tonen die neuen lehrpläne'- den umstand, dasz die lesestücke
eine Vorstufe für die lectüre der Schriftsteller bilden sollen, und
wünschen dementsprechend, dasz ihr Inhalt der alten sage und ge-
schichte entnommen werde, ob es aber zweckmäszig ist, den sex-
tanern bereits 'möglichst viel zusammenhängenden Inhalt' zu bieten,
dies erscheint uns einer näheren erörterung würdig zu sein.
In früheren lehrbüchern waren den einzelsätzen, die oft inhaltlich
sehr wenige beziehungen unter einander hatten, für den schlusz des
sextanerjahres einige fabeln und anekdoten angegliedert, neuerdings
läszt man die lesestücke, die den stoff so darbieten, wie ihn die lehr-
pläne verlangen, schon ziemlich früh beginnen, so bringen neuere
lehrbücher zuweilen schon hinter den adjectiven der ersten und
zweiten declination ihren ersten zusammenhängenden lesestoflF. es
sei uns gestattet, solche vorlagen nach unseren beobachtungen einer
kleinen betrachtung zu unterziehen, man könnte sie, so viel wir
sehen, in zwei classen einteilen, bei der ersten abteilung überrascht
oft die fülle der eigennamen; da wird dem unfähigen köpf, der von
diesen dingen noch keine klare Vorstellung haben kann, manchmal
in einem einzigen stücke die griechische sage und geschichte in
kurzem abrisz enthüllt, zuerst kommen städte, dann die götter, die
dichter, die gelehrten männer, die kriegshelden, endlich die Perser-
kriege und die kunst. es ist uns zweifelhaft, ob kinder in so jugend-
lichem alter von diesem langen namenregister inhaltlich einen
nachhaltigen nutzen mit nach hause tragen, an der zweiten classe
«' s. heft 9 s. 437. "^ neue lehrpläne s. 18.
E. Cornelius: lateinisch und deutsch in der sextu und quinta. 499
dieser Übungsstücke nehmen wir wahr, wie der lateinische text mehr-
fach durch beigefügte deutsche Übersetzungen unterbrochen wird,
und erinnern uns unwillkürlich an die Warnung, die Roth fuchs
in der oben^'' angeführten stelle diesem verfahren entgegenhält;
im übrigen aber bemerken wir, dasz die schüler aus einem der-
artigen lesestück sprachlich wohl kaum einen vorteil ziehen
werden.
ünserm bekannten grundsatze, dasz inhalt und form in
lebendiger Wechselwirkung zu einander stehen müssen, entsprechen
solche Übungsstücke keineswegs, worin liegt nun die Schwierig-
keit, dasz man den kleinen noch nicht so viel Zusammenhang dar-
bieten kann? zunächst doch wohl darin, dasz die unreifen köpfe
den in fremder spräche dargereichten inhalt noch nicht überblicken
können, denn die bewältigung der form legt ihnen allzu viele
hindernisse in den weg. auch scheint es unserer subjectiven an-
sieht nach für den Verfasser von lehrbüchern bei Zusammenstellung
solcher lesestücke wichtig zu sein, dasz sie mit möglichst vielen
verbalformen arbeiten können, erst dann also, wenn die con-
jugationen bereits begonnen haben, wird es vielleicht zeit sein, die
ersten längeren lesestücke dem grammatischen stofif beizufügen, und
man verwende alsdann womöglich inhaltlich nur das, was auch nach
dem augenblicklichen stand der kenntnisse zugleich gramma-
tisch verstanden werden kann, um aber den knaben den
tiberblick zu erleichtern und sie allmählich auf gröszere lesestücke
vorzubereiten, wäre es vielleicht nicht unangemessen, ihnen anfangs
in kleineren gruppen Zusammenhang zu bieten, wie dies auch in
neueren lehrbüchern zuweilen geschieht, und es wäre nur zu wün-
schen, dasz namentlich den anfängern öfter kleine, ihrem gramma-
tischen Verständnis angepasste erzählungen vorgeführt würden, auch
sei es uns gestattet, an dieser stelle auf unsere oben dargebotene
Zusammenstellung inhaltlich verwandter sätzchen ""' und auf das ver-
fahren hinzuweisen, das wir bei gelegenheit der declination"" ein-
zuschlagen wünschten.
Je weiter die schüler vorschreiten, desto leichter wird es ihnen
fallen, gröszere zusammenhänge zu verstehen und inhaltlich aufzu-
fassen, darum mögen die lesestücke, die in quinta mit einzel-
sätzen abwechseln, an zahl und ausdehnung immer mehr zunehmen,
aber auch hier wird das lehrbuch darauf bedacht nehmen, dasz form
und inhalt möglichst ineinandergreifen, dies gilt besonders für den
anfang, weil später die schüler schon so viel sprachlich-grammatische
kenntnisse besitzen, dasz die auswahl der stücke sich schon freier
gestalten kann, für das erste halbjahr dieser stufe besteht aber eine
hauptaufgabe im lernen und einüben der vielen verba aus sämtlichen
conjugationen, und soweit wir bemerken konnten, sind neuere lehr-
99 s. heft 9 s. 431 anm. 25. ""' s. oben s. 491.
'0' s. heft 9 s. 430.
500 E, Cornelius : lateinisch und deutsch in der sexta und quinta.
bücber zuweilen mit erfolg bemüht, zwischen den einzelsätzen lese-
stücke einzuschalten, in denen kurz vorher gelernte vcrba zu einer
gröszeren oder kleineren geschichte verarbeitet sind, wenn andere
stücke eines und desselben lehrbuches in dieser beziehung vielleicht
weniger günstig gestellt sind, so liegt dies wohl hauptsächlich daran,
dasz manchmal Zeitwörter verwendet sind, die den lateinbeflissenen
vorher noch nicht in sprachlicher Übersicht bekanntgeworden sind;
darum dürfte es sich empfehlen, solche an und für sich gute stücke
auf eine spätere stelle des betreffenden lehrbuches zu versparen.
Indem wir nunmehr zur behandlung der zusammen-
hängenden stücke in der classe übergehen, werden sich
unsere leser erinnern , was wir oben '"^ über die art des con-
struierens gesagt haben; knaben aber, denen beim übertragen eines
einzelsatzes dessen inhalt jedesmal plastisch vor äugen schwebt,
haben dadurch schon einen anfang zur richtigen auffassung inhalt-
lich verwandter sätze und gröszerer lesestücke gemacht, wenn aber
einzelsätze zur einübung der grammatischen begriffe vorhanden sind,
dann ergibt es sich von selbst, dasz lesestücke auf das Verständnis
des inhalts lossteuern, so sagt schon Oskar Jäger in seinem buche
über *das humanistische gymnasium' s. 31 mit recht: 'zur lectüre
kann man zwar nicht so früh wie der Perthesianismus will, wohl
aber ziemlich früh schreiten — sobald nämlich der scbüler, zwar an
der band des lehrers, aber in eigner kraftbethätigung ein zusammen-
hängendes lateinisches stück ins deutsche übersetzen — übersetzen,
nicht sich vorübersetzen lassen • — kann; es sollte dann bei dieser
nunmehr möglich gewordenen lectüre schlechterdings nichts gram-
matisches abgefragt werden, auszer was ganz unmittelbar zum Ver-
ständnis des textes und dadurch zum richtigen übersetzen führt.*
diesen vortrefflichen werten können wir nur hinzufügen, wie wir
uns etwa die entwicklung dieses inhaltlichen Verständnisses bei den
Schülern der zwei unterclassen vorstellen, da wir wünschen '"^ dasz
man anfängern inhaltlich zusammenhängendes zunächst nur in
kleinen dosen reiche, können wir uns bei ihnen um so mehr damit
begnügen , dasz sie diese Stückchen in gutes deutsch verwandeln,
dem quin tan er aber, dem im lauf der zeit immer mehr und
gröszerer Zusammenhang geboten wird, kann man schon zumuten,
mit solchen lesestücken ganz ähnlich zu verfahren, wie er dies bei
der lectüre seines deutschen lesebuchs von sexta an gewöhnt ist: der
lehrer wird etwa, nachdem das ganze übersetzt ist, fragen nach dem
inhalt stellen, ein andermal werden die scbüler das gelesene nach-
erzählen, bei einer dritten gelegenheit werden sie selber eine Inhalts-
angabe machen, namentlich aber scheinen uns solche Übungen am
platze zu sein, wenn gegen ende des letzten Vierteljahres in quinta
der grammatische stoff einigermaszen erschöpft ist. dies ist, wia
oben s. 489.
oben s. 499.
E. Cornelias: lateinisch und deutsch in der sexta und quinta, 501
uns dünkt, eine angemessene Vorbereitung auf die classikerlectüre,
denn der künftige quartaner, mag ihm nun Cornelius Nepos selbst
oder eine bearbeitung dieses Schriftstellers vorgelegt werden, wird
doch wohl auf ähnliche weise die Schwierigkeiten dieser lectüre zu
überwinden suchen.
Der deutsche Unterricht in sexta und quinta, so weit er
für den vorliegenden zweck in betracht kommt.
1. Die deutschen dictate.
Es bleibt uns noch übrig, dem eigentlich deutschen Unter-
richt in den beiden unteren gymnasialclassen, so weit er nach
unsern einleitenden bemerkungen'"' in den rahmen unserer aufgäbe
fällt, einen zweiten und letzten abschnitt zu widmen, und
so kehren wir denn nach der obigen abschweifung in das lehrgebiet
der quarta zu den jüngsten schülern des gjmnasiums zurück, um
uns zuvörderst die frage vorzulegen: wie mögen die deutschen
dictate in sexta und quinta gestaltet werden, damit sie in losem
verband mit dem lateinischen Unterricht die übung in der re cht-
schreibung und interpunction befördern?
Der soeben aus der volks- oder Vorschule in die sexta auf-
genommene knabe tritt plötzlich in eine neue geistige weit ein: bisher
hatte er es nur mit seiner muttersprache zu thun, mit der er sich in
täglichen deutschen stunden immer mehr vertraut machte, jetzt aber
beschränkt sich der 'deutsche' Unterricht auf vier wochenstunden,
von denen eine den geschichtserzählungen zugewiesen ist, während
er nunmehr seine geistige Spannkraft in hervorragendem masze auf
das latein werfen musz, das acht wochenstunden in anspruch nimmt.
hierbei liegt natürlich die gefahr nahe, dasz der uni-eife köpf über
der Vervollkommnung in der fremdsprache rückschritte in der
deutschen rechtschreibung macht, wenn ihm in letzterer von vorn
herein allzu schwierige aufgaben gestellt werden, darum erscheint
es uns als ein gebot der billigkeit, dem kleinsten unter den gjmna-
siasten im deutsehen dictat die sache zunächst zu erleichtern, selbst
wenn dadurch die anforderungen der Volksschule anfangs etwas
heruntergeschraubt werden sollten, wenn man aber von dem ge-
danken ausgeht, dasz die dictate der grammatischen lehraufgabe
' einigermaszen anzupassen sind, dann würde unser obiger Vorschlag
auch den neuen lehrplänen "'^ entsprechen, denn diese weisen die
redeteile und den einfachen satz der sexta zu, der quinta dagegen
die interpunction und den zusammengesetzten satz.
Hildebrand sagt in seinem vortrefflichen buch über den
deutschen Sprachunterricht'"®, dasz man mit der Orthographie bei
10^ 8. heft 9 s. 428. '«^ s. neue lehrpläne s. 13 f.
^"^ R. Hildebrand, der deutsche Sprachunterricht s. 62: 'man müste
mit der Orthographie, die ja immer nur das kleid des wertes ist, die
äuszerste muttergeduld haben, mit dem Schreibunterricht beginnt ja
502 E. Cornelius: lateinisch und deutsch in der sexta und quinta.
den Schülern die 'äuszerste muttergeduld' haben müsse, aber bei
all unserer Verehrung für diesen meister der deutschen spräche
möchten wir doch, dasz die knaben auch hierin schon frühzeitig in
feste zucht genommen werden, und datz sie sich, wenn nötig, immer
rechenschaft darüber geben, warum das vorliegende wort gerade
so und nicht anders zu schreiben ist. doch wir wollen auf unsere
ursprüngliche frage zurückgreifen und uns überlegen, wie die losen
bände zwischen dem deutschen dictat und dem lateinischen unter-
richtsgang angeknüpft werden können, da stoszen wir zunächst auf
das Substantiv, dessen declinationen sich die kleinen gerade ein-
prägen, und wir lassen in den ersten wochen dictate schreiben, die
lediglich aus hauptwörtern bestehen, doch wozu immer dictieren?
zeitweise möge die schar lebendig werden und selbst beispiele finden,
sich selbst das dictat dictieren! da gibt es ja genug einteilungs-
arten, z. b. die ganze Verwandtschaft, wie vater, mutter usw., ver-
schiedene berufsarten, wie arzt, kaufmann usw., körperteile und
bekleidungsstücke, wie haupt, rümpf, rock, hose usw.; von den
einfachen kommt man zu den zusammengesetzten Substantiven:
1) mit ihren vor- und nachsilben, z. b. fortsetzung, Vorhang, rück-
kehr, entdeckung, Wahrhaftigkeit, möglichkeit usw., 2) zu solchen,
die aus zwei hauptwörtern bestehen, wie hausthüre, stadtthor, ketten-
hund, kriegsruhm, bürgerkrieg ''^ usw. und wie soll die besprechung
der dictate vor sich gehen? am besten merkt sich der lehrer, wie
uns scheint, die Wörter, die falsch geschrieben wurden, führt sie den
Schülern in der folgenden stunde an der Wandtafel vor äugen und
mutet alsdann dem jungen gedächtnis zu, dasz die schüler zu hause
nach ihrer erinnerung die arbeit verbessern.
Besonderen wert aber legen wir darauf, dasz die schüler ge-
zwungen werden, bei der Orthographie immer über die Zusammen-
setzung der Wörter nachzudenken, denn wer einmal verstanden
hat, warum 'entdeckung' mit td, 'rückkehr' mit zwei k, 'stalllaterne'
mit drei 1 geschrieben wird'"'', von dem kann man auch, selbst wenn
er die betreffenden wörter noch nicht gedruckt vor sich gesehen hat,
verlangen , 'Norddeutschland' und 'sanddüne' richtig zu schreiben,
oder später bei den verben 'vortragen' und 'forttragen' oder 'er-
raten', 'verraten' und 'beraten' auseinanderzuhalten, man sieht, wir
sind im fortgang unserer Übungen bereits in den ersten wochen
des sextanerjabres mitten in die deutsche wortbildungslehre
hineingeraten und dürfen uns daher vielleicht den verschlag er-
lauben, diesen gegenständ, den die neuen lehrpläne der quarta zu-
früh die grewöhnung an die einmal gültige form, und nur die allmäh-
liche gewölinung ist die macht, die hier helfen kann, dasz äuge und
ohr sich endlich verständigen.
'"7 s. het't 9 s. 4;)3, woraus hervorgeht, dasz man gleichzeitig im latei-
nischen solche Substantive vorbringen kann.
'"8 man vergleiche auch Wortbildungen wie 'Rhein- und Moseldampf-
schiffahrt' u. ä.
E.Cornelius: lateinisch und deutsch in der sexta und quinta. 503
weisen '°^, in Verbindung mit den dictaten dem programm der sexta
einzuverleiben, denn wenn die lehrpläne schon den wünsch Leh-
manns"" erfüllen, dasz man der wortbildungslehre behufs syste-
matischer behandlung irgendwo einen platz einräumen möge, so
gehen wir einen schritt weiter und glauben, dasz gerade die sextaner
mit ihrem guten formengedächtnis geeignet sind, wenigstens vor-
bereitungsweise diesen wichtigen lehrgegenstand zu bearbeiten.
Über das weitere , was der sextaner in der rechtschreibung zu
leisten hat, können wir uns nach dem gesagten um so kürzer fassen,
als die belehrung darüber sich in der gleichen art vollzieht, zum
Substantiv gesellt sich im lateinischen Unterricht bald als attribut
ein adjectiv, was veranlassung gibt, in der nächsten zeit nur
eigenschaftswörter zu dictieren oder von den schülern selbst auf-
finden zu lassen, wir wollen hierüber ein paar andeutungen geben,
gelegentlich mag es für die knaben eine gute Übung sein, einfache
adjective und deren gegenteil niederzuschreiben, was bekanntlich
auf zweierlei weise geschehen kann, denn entweder tritt ein ganz
neues wort ein, wie 'gut : schlecht', oder die spräche hilft sich mit
Vorsilben, wie 'artig : unartig', 'vergnügt : mis vergnügt', indem
man alsdann zu andern Vorsilben, z. b. uralt, vollzählig, und zu
den nachsilben, insbesondere ig, isch und lieh, übergeht, deren
Schreibweise den schülern manche Schwierigkeiten darbietet, läszt
man sie dann Wortverbindungen, wie 'der prächtige palast' oder 'ein
herliches gebäude', zusammensetzen, deren gibt es ja in hülle und
fülle, und wenn man auch noch die declinationsübungen mit hinein-
ziehen will, mag man zur einübung der schwierigen buchstaben f, s,
SS, sz, z, tz die schriftliche flexion folgender Wortverbindungen voll-
ziehen lassen : 'ein nasser fusz', 'ein groszer flusz', 'eine schwarze
katze', 'ein weiszes ki'euz' u. ä.
Auch die Steigerung der adjective und adverbien kommt
'"ä neue lehrpläne s. 14. quarta: grammatik. der zusammengesetzte
Satz, das wichtigste aus der wortbildungslehre, an typische beispiele
angeschlossen.
*'° Lehmann, der deutsche Unterricht s. 103: 'von einer systema-
tischen und umfassenden behandlung der wortbildungslehre kann frei-
lich nicht die rede sein, und es würde an und für sich nichts dagegen
sprechen, die einzelnen abkitungssilben, die verschiedenen suffixe, prä-
fixe usw. ganz gelegentlich auf den verschierlenen stufen des Unter-
richts zur spräche zu bringen, allein es ist eine bekannte erfahrung,
dasz aus solchen gelegentlichen erörterungen nicht viel zu werden
pflec;t, und dasz alles, was wirksam betrieben und ernsthaft behandelt
werden soll, einen festen platz im unterrichtsgang haben musz.' —
Vgl. auch s. 149: 'endlich kann es auch für die Orthographie und inter-
punction nur von nutzen sein, wenn diese Übungen (Lehmann meint
aufsätzchen) mit den dictaten wechseln, die sonst einförmig und
ausschlieszl i ch diesen zwecken gewidmet sind' usw. — Zu diesen
ausführungen Lehmanns möchten wir bemerken, dasz neben den auf-
sätzchen auch durch einfülirung der wortbildungslehre in die dictate
der zweck derselben nicht mehr so ganz einseitig auf die ortliographie
und interpunclion gerichtet wäre.
504 E. Cornelius: lateiuisch und deutsch in der sexta und quinta.
dem deutschen dictat zu gute, wenn die kleinen niederschreiben:
'bekannt, bekannter, am bekanntesten', 'gewandt, gewandter, am
gewandtesten', 'bedeutend, bedeutender, am bedeutendsten', und
wenn sie sich bei 'viel, mehr, am meisten' oder 'gut, besser, am
besten' daran erinnern, dasz auch die deutsche spräche eine unregel-
mäszige comparation hat.
Die knaben wissen ferner, dasz die Zahlwörter uneigentliche
adjective sind und in bestimmte und unbestimmte eingeteilt werden;
sie schreiben in ihr deutsches heft: 'sechzig, achtzig, achtzigjährig,
einige , etliche , ein paar stiefel , ein paar regentropfen' und denken
vielleicht gleichzeitig über den unterschied zwischen 'jährig' und
'jährlich' (vgl. auch Hhätigkeit' und 'thätlichkeit') nach.
Zwischendurch sind auch adverbiale bestimmungen be-
kannt geworden, und der lateinische und deutsche Unterricht haben
gemeinsam in der oben'" angegebenen weise den formellen unter-
schied zwischen 'dort' und 'an jenem orte' aus den schillern heraus-
gearbeitet, somit zeigt sich eine passende gelegenheit, adverbien
und präpositionelle ausdrücke zu dictieren, wie 'hüben, drüben,
droben, drunten, vorwärts, rückwärts, tags, nachts, jetzt, bereits,
am morgigen tage, auf dem teppich, auf dem aussichtsturm' u. ä.
beiläufig mag man auch die monatsnamen , Jahreszeiten u. ä. vor-
bringen.
Später sind vielleicht p r o n o m i n a und a d v e r b i a , wie 'jeder-
mann, überall, nirgends' am platze, denen sich interjectionen,
wie 'weh, ach, juchhe, hurra' anschlieszen mögen.
Indem wir nun zur abwechslung auch manchmal ähnlich klingende
Wörter, z. b. 'pflüg, fluch, flug' oder 'regen, rechen' usw. usw. in
kleinen Übungssätzen vorgeführt haben und auch schon zu leichteren
aufsätzchen übergegangen sind"*, ist im Winterhalbjahr das latei-
nische verbum zur spräche gekommen, das nach unsern aus-
führungen"' die Übung des deutschen Zeitworts miteinschlieszt.
schon beim dictieren bloszer infiniti ve, die wiederum einfach sein
können, wie 'raten, schlieszen', oder zusammengesetzt, z. b. 'be raten,
erraten, beschlieszen, ent schlieszen', tritt die wortbildungslehre
mit ihren vor- und nachsilben in ihre rechte ein, und man scheue
sich nicht, den schülern etwa folgende schwierige Wortbildungen an-
zugeben: 'benachrichtigen, ermöglichen, vervielfältigen, v er-
leid igen, beleidig en, ächzen, krächzen, jauchzen, seufzen u.a."*
da wir aber neben den lateinischen auch jedesmal die deutschen
Stammformen aufzählen lieszen"*, so geben wir im dictat den
Bchülei'n Infinitive an, wie 'leuchten, kriechen, bekriegen, nennen,
"• s. oben s. 493.
"2 vgl. den folgenden abschnitt über aufsatzbesprechung.
1" vgl. heft 9 s. 436 und 438.
*'* man kann die schüler ja vor der niederschrift über diese Wörter
nachdenken lassen.
H5 s. heft 9 s. 436.
E. Cornelius: lateinisch und deutsch in der sexta und quiuta. 505
kennen', wodurch sie sich unwillkürlich den unterschied zwischen
starker, schwacher und gemischter conjugation ver-
gegenwärtigen, bevor sie die vollständigen Stammformen dieser Zeit-
wörter ihrer niederschrift einverleiben, dasz aber auch ein dictat,
das nur aus deutschen hilfszeitwörtern besteht, der Ortho-
graphie förderlich sein kann , zeigt der vergleich von formen wie :
mag, möge, mochte, möchte, du muszt, wir müssen, wir
muszten usw.
Um auch noch ein wörtchen von einigen modi zureden, so
läszt sich der imperativ in ähnlicher weise schriftlich verwenden,
wie wir ihn oben'"' zur mündlichen Übung vorgeschlagen haben, und
bezüglich des Infinitivs waltet ein unterschied in der Schreibweise
und bedeutung von 'geben, zu geben, zugeben und zuzugeben', end-
lich ist der sextaner im verlaufe des Schuljahres darüber aufgeklärt
worden, dasz auch die part icipien zu den uneigentlichen adjectiven
gehören, und er mag im Zusammenhang mit dieser erkenntnis in
seine rechtschreibübungen einflechten: 'der blühende bäum' oder
'das abgebrannte haus' u. ä.
Indem wir schlieszlich noch auf bildungen aufmerksam machen,
in denen die Wortarten unter einander wechseln, z. b. 'mögen, mög-
lich, möglicbkeit, ermöglichen', werfen wir nun noch einen blick auf
die lehraufgabe der quinta.
Für diese classe schreiben die lehrpläne "^ als grammatischen
stoff den einfachen und den erweiterten sowie das notwendigste vom
zusammengesetzten satze vor, und als schriftliche aufgaben dictate
zur einübung der rechtschreibung und interpunction. schon das
häufige construieren von deutschen und lateinischen Sätzen gab den
kleinsten gymnasiasten einen begriff vom einfachen und vom er-
weiterten Satz, und den nunmehr vorgerückten wird es um so leichter
fallen, in der deutschen stunde an beispielen aus der eignen spräche
diese kenntnisse zu erweitern und zu vertiefen, die dictate aber, die
nach unsern obigen angaben in sexta meistens aus einzelnen Wörtern
oder Wortverbindungen und nur gelegentlich aus kleineren Sätzen
bestanden, können jetzt in anlehnung an die grammatik kleine un^l
allmählich gröszere sätze enthalten, denen der lehrer ja nach be-
lieben schwierig zu schreibende Wörter einfügen mag. dazu treten
noch interpunctionsübungen, und wir glauben, dasz der lehrer gut
daran thut, solche dictate zeitweise mit mündlichen belebrungen
einzuleiten, die alsdann in entsprechend geformten Sätzen unmittel-
bar darauf schriftlich geübt werden, die lehre vom zusammen-
gesetzten satz ist aber so nahe mit der über das komma ver-
wandt, dasz man einer Verschmelzung beider gegenstände wohl kaum
aus dem wege gehen wird.
Wir müssen es uns versagen , dem deutschen unterrichte , der
sieh von seinen beziehungen zum latein nun immer mehr loslöst, auf
"6 8. heft 9 s. 441. "' neue lehipliine s. 14.
N.jahrb. f. phil. u. päd. II, abt. 1897 hft. 10 n. 11. 33
506 E. Cornelius: lateinisch und deutsch in der sexta und quinta.
seinen selbständigen wegen zu folgen, die er nun weiterwandert,
nur den zuletzt hervorgehobenen umstand dürfen wir noch einmal
aufgreifen, um unserer aufgäbe, Wechselbeziehungen zwischen der
alten und neuen cultursprache nachzuspüren, völlig gerecht zu
werden, die lehre vom komma, so weit dieses Satzzeichen nicht
als Stellvertreter des wörtchens 'und' oder zur abtrennung des
vocativs und ähnlichen geschäften gebraucht wird, ist sozusagen
mit der vom zusammengesetzten satz identisch, der letztere
bildet bekanntlich entweder eine Satzverbindung oder ein Satz-
gefüge, und in beiden fällen trennt das komma die einzelnen sätze
der periode von einander ab. das empfängliche gedächtnis des
quintaners wird natürlich leicht behalten, dasz einerseits vor 'denn'
oder 'aber', anderseits vor 'weil' oder 'als' das strichlein stehen
musz, nur fragt es sich, ob er auch für seinen geistigen besitz etwas
gewonnen hat, wenn er nun mechanisch das zeichen an die betreffende
stelle einfügt, anders steht die sache, wenn er sich klargemacht
hat, dasz z. b. in der Satzverbindung, 'der herr befiehlt, und der
knecht gehorcht""*, der zweite satz einfach auf den ersten folgt,
während bei: 'der herr befiehlt, aber der knecht gehorcht nicht'
ein böser knecht gemeint ist, der das gegenteil von dem thut, was
ihm sein herr befohlen hat. er weisz dann, warum im einen falle
das bindewort 'und', im andern dagegen 'aber' angewandt ist, und
merkt sich gleichzeitig, dasz die Viertelpause zwischen den zwei
Sätzen durch ein komma angedeutet wird, wenn dann der anfänger
in derselben lehrstunde ein entsprechendes dictat niederschreibt,
wobei ihm die Satzzeichen nicht vorgesagt werden , dann wird der
vorgeschrittenere sich mit leichterer mühe und gröszerer Selb-
ständigkeit weiter helfen können.
Den Schlüssel zum Verständnis des Satzgefüges aber gibt
der lehrer seinen Zöglingen dadurch in die band, dasz er ihnen die
entstehung der nebensätze erklärt, schreibt man den einfach er-
weiterten satz an die tafel: 'das grosze haus steht in flammen',
und fordert die schüler auf, das attribut 'grosz' in einen ganzen
satz zu verwandeln, dann werden sie sich erinnern, dasz nur dann
ein wirklicher satz entsteht, wenn ein prädicat vorhanden ist, sie
werden also , vielleicht nach einigem nachdenken oder auch ver-
fehlten versuchen, zuletzt sagen: 'das haus, das grosz ist, steht
in flammen', mit hilfe der Wandtafel wird nun den schülern vor
äugen geführt, dasz eine Verwandlung vor sich gegangen ist, indem
aus einem satz zwei entstanden sind, zugleich merken die Zu-
schauer, dasz das, was in der ersten fassung nur einen Satzteil,
das attribut, bildete, in der zweiten einen vollständigen satz aus-
macht; nach gründlicherem überlegen finden sie heraus, warum
'*- es sei beiläufig bemerkt, dasz die kinder häufig aus der Volks-
schule die ganz falsche regel mitbringen, dasz •'^or «und» niemals
ein komma stehe.'
E. Cornelius: lateinisch und deutsch in der sexta und quinta. 507
dieser nebensatz als bloszer Stellvertreter eines Satzteiles einen un-
selbständigen Charakter trägt, und werden ihm, zu noch genauerer
forschung angeregt, den namen attributivsatz erteilen, die Ursache
aber, weshalb die adjectivi.'^che beifügung sich ohne interpunctions-
zeichen dem hauptworte anfügt, während der relativsatz, eben weil
er ein satz ist, in zwei kommata eingeschlossen wird, kommt den
knaben nun auch zum vollen bewustsein. auch hier möge sich un-
mittelbar ein passendes dictat anschlieszen. auf gleiche weise wer-
den die Schüler temporal-, causal- und sonstige nebensätze ent-
wickeln.
Natürlich bietet das lateinische Übungsbuch den quintanern auf
schritt und tritt erweiterte und zusammengesetzte sätze, so dasz sie
fortwährend willkürlich oder unwillkürlich gelegenheit haben, die
im deutschen Unterricht erworbenen kenntnisse zu verwerten; auch
mag der lehrer zuweilen vor dem übertragen in die andere spräche
feststellen lassen, wie viele und welcherlei sätze die betreffende
periode enthält, insbesondere aber wird es den so vorgebildeten
Schülern der zweituntersten classe leicht werden, in der oben"' an-
gegebenen weise participien aufzulösen oder nebensätze in participien
zu verwandeln.
2. Der deutsche grammatische Unterricht.
Über den Unterricht in der deutschen grammatik glauben
wir uns um so kürzer fassen zu dürfen , als aus unseren bisherigen
erörterungen hervorgeht, dasz wir die eigentlich deutschen stunden
nur ergänzungsweise benutzen, um die in Wechselwirkung mit
dem latein erworbenen kenntnisse zu vertiefen und zu erweitern,
auch reden wir in diesem abschnitte nur von der untersten gym-
nasialclasse, weisen aber bezüglich der quinta auf die grammatischen
auseinandersetzungen zurück, die wir soeben ''■" im anschlusz an das
dictat gegeben haben ; denn da sich im übrigen in dieser classe die
deutsch-grammatische lehraufgabe vom latein loslöst, liegt es auszer-
halb unseres zieles, ihr weiter nachzuspüren.
Gerade das gegenbild der fremden spräche schien uns geeignet
zu sein, den sextaner einblicke in den grammatischen bau seiner
muttersprache thun zu lassen, den er zu kennen glaubt, in Wirklich-
keit aber doch nicht völlig beherscht. wenn ihm also infolge der
deutsch-lateinischen Wechselbeziehungen mancherlei eigentümlich-
keiten seiner eignen spräche zum bewustsein gekommen sind, wer-
den ihm ähnliche beispiele, die er, fernab vom lateinischen, aus
dem deutschen auffindet , um so verständlicher und anziehender
werden, dies schlieszt natürlich nicht aus, sondern drängt, wie uns
scheint, dem lehrer geradezu das bedürfnis auf, den parallelismus
mit der fremdsprache aufrecht zu erhalten, zugleich bemerken wir,
dasz wir die grammatische belehrung vielfach ans deutsche dictat
oben s. 488. ™ s. oben s. 505 f.
33^
508 E. Cornelius: lateinisch und deutsch in der sexta und quiuta.
angeknüpft sehen möchten, wie dies ja auch aus dem vorigen ab-
schnitt ersichtlich ist.
Zerlegen wir unseren stoff in zwei teile, indem wir mit der
formenlehre beginnen und dann auf die Wortarten und Satz-
teile, die wir zusammenfassen, einen blick werfen, schon früher'-^
lieszen wir die sextaner lateinische und deutsche Substantive neben
einander abwandeln und sie von vorn herein auf den unterschied
zwischen dem bestimmten und unbestimmten artikel achten, wenn
sie dieselbe arbeit nun auch an spezifisch deutschen beispielen vor-
nehmen, so wird ihnen ihre muttersprache in einem neuen und deut-
licheren lichte erscheinen, ja, sie können mit dem selbstgefundenen,
das sie nicht erst in die fremdsprache zu übersetzen brauchen, jetzt
möglichst frei schalten und walten, haben sie sich nun eine Zeit-
lang im bloszen declinieren geübt, dann wird ihnen mit hilfe des
lebrers klar, dasz der genetiv der deutschen hauptwörter entweder
auf •(e)s oder auf -(e)n ausgeht, oder dasz er gar keine endung hat.
der starke, scharfe consonant 's' — sieht der knabe — bezeichnet
die starke, das schwache ^n' oder das gänzliche fehlen der endung
die schwache declination. bald weist aber der lateinische
Unterricht auch die wechselbczügliche declination von Substantiven
und beigefügten adjectiven auf, und nachdem die deutsche gram-
matikstunde solche Wortverbindungen auch ohne rücksicht auf die
fremde spräche geübt bat, braucht der lehrer seine schüler nur noch
finden zu lassen, dasz adjective mit vorausgegangenem bestimmten
artikel schwach, wenn aber der unbestimmte artikel davorsteht,
stark decliniert werden, es sei noch erwähnt, dasz als der
deutschen spräche eigentümliche redewendungen etwa noch eigen-
namen mit hinzugesetztem substantivattribut, z. b. 'der knabe Karl',
oder aus zwei Substantiven zusammengesetzte hauptwörtei', wie 'der
haushund' zur declination verwendbar sind.
Was nun die conjugation der verba betrifft, so können wir
uns hier mit dem hinweis auf frühere auseinandersetzungen be-
gnügen, indem wir bezüglich der zeit ihrer behandlung noch einmal
den bekannten parallelismus betonen, in den vorherigen abschnitten
haben wir aber nicht nur von den Stammformen'", von der
starken und schwachen conjugation'" und von den hilfs-
zeitwörtern'^' geredet, sondern auch den conjuncti v'-'" und
imperativ' " behandelt.
Endlich bemerken wir noch, dasz auch die wortbildungs-
ieh re , die wir in dielehraufgabe der sexta aufgenommen wünschten'",
etwa im anschlusz an die dictate zu mancherlei mündlichen betrach-
tungen anlasz geben möge, denn es ist, wie uns dünkt, lehrreich
und schon für kleine knaben verständlich, wenn sie hören, dasz z. b.
die vor- und nachsilben der Wörter ihre besondere, zuweilen ab-
•21 8. heft 9 s. 432. *" s. heft 9 s. 437 und s. 504.
1" s. ebd. '" s. ebd. '«^ s. heft 9 s. 440 f.
'*6 8. heft 9 s. 441 und s. 505. "' s. oben s. 503.
E.Coruelius: lateinisch und deutsch in der sexta und quinta. 509
geblaszte, bedeutung haben, so ist 'ent-' gleichbedeutend mit
'fort-' und 'weg-', belagern drückt dasselbe aus wie umlagern (vgl.
das mhd. umbe) ; da die nachsilbe '-haft' von 'haften' und dieses
wiederum von 'haben' abgeleitet ist, deutet 'schauderhaft' dai-auf
hin, dasz etwas 'mit schauder behaftet' ist; auch eigennamen haben
bedeutungsvolle vorsilben, so 'Ed-' s. v. a. 'edel', vgl. 'Eduard,
Edmund , Edgar' u. ä. ebenso zeigt die Wandlung ganzer Wörter
den kindern, dasz die spräche ein groszes kunstwerk ist: wie ver-
schieden sind doch von einander der 'schlieszer' und der 'schlosser',
wie merkwürdig ist es doch, dasz ein und dasselbe wort gebi-aucht
wird für das 'schlosz', welches thür und thor entriegelt und das
'schlosz', das auf dem berge als palast weithin die gegend überragt,
und dennoch stammen alle diese Wörter von dem einen zeitwort
'bchlieszen' ab.
Die Wortarten und Satzteile, die wir hier gemeinsam be-
handeln, müssen die knaben immer reinlich auseinanderhalten, indem
sie sich stets daran erinnern, dasz man zwischen der wortart als
solcher und ihrer Verwendung im satz wohl zu unterscheiden
hat. dasz aber das prädikat der wichtigste Satzteil ist, da es ja
den satz im kleinen in sich enthält, dies musz den schülern auch im
deutschen Unterricht vor allem klar werden, denn hierbei fallen,
wie man nicht früh genug betonen kann, Satzteil, d. h. das
verbum, und satz als völlig identische begriffe zusammen, und
die erwägung, dasz unter jenem verbum natürlich nur das so-
genannte verbum finitum gemeint ist, bleibt gereifteren sextanern
zum überlegen vorbehalten.
Gleichlaufend mit dem lateinischen, aber trotzdem davon un-
abhängig, werden sich allmählich die verschiedenen wortclassen in
den deutschen lehrstunden entwickeln, drei Wortarten hebe man
nach den verben als besonders wichtig hervor, nämlich die Sub-
stantive, die adjective und dieadverbien, und wir bemerken
beiläufig, dasz sich diese einteilung nur dann vorteilhaft an den
lateinischen unterrichtsgang anschlieszen kann, wenn auch das
lateinische lehrbuch die adverbien in systematischer reihenfolge
berücksichtigt.'^*
Die Substantive, die wir auch im dictat an die spitze ge-
stellt haben '^^, zerfallen wiederum in mehrere Unterabteilungen,
denn einzelpersonen und einzeldinge, wie 'mann, rind,
schiff', lassen sich zusammenfassen in Sammelnamen, wie 'beer,
herde, flotte', und bezeichnungen, die an einer einzigen person oder
Sache haften, nennt man eigennamen. zu dem schwer verständ-
lichen unterschied zwischen concreten und abstracten Sub-
stantiven aber mögen die s toffnamen den Übergang vermitteln,
indem man etwa zeigt, dasz es doch etwas ganz anderes ist, ob ich
von einem 'stück tuch' rede, das ich in die band nehme, oder
1" s. oben s. 474 und s. 496 ff. 1^9 g oi^gn g. 502.
510 E. Cornelius : lateinisch und deutsch in der sexta und quinta.
behaupte, dasz mein rock 'aus tuch' verfertigt ist; ganz ähnlich
verhält es sich mit der tapferkeit des Soldaten, die als solche
nicht sichtbar ist, wohl aber in ihren Wirkungen.
Der begrifi" der adjective ist von früh auf enger und weiter
zu fassen, denn es gibt eigentliche und uneigentliche eigenschafts-
wörter; schon bald lerne der sextaner, dasz Zahlwörter und pro-
nomina, in späterer zeit, dasz auch die participien, und ge-
legentlich, dasz auch die beiden artikel, kurzum, dasz alle die
genannten Wortarten im grund genommen mit dem einzigen aus-
druck adjective bezeichnet werden können, doch ist dies nicht
ganz richtig — wie der knabe nach schärferem überlegen bemerkt
— denn die pronomina sind je nach umständen entweder Sub-
stantive oder adjective; ihr name, fürwörter, schreibt sich
daher, dasz sie für ein anderes wort eintreten, statt: 'der knabe
schreibt' sage ich: *er schreibt' und den satz: 'der schöne vogel
singt' verwandele ich in die worte: 'dieser vogel singt.'
Einer genaueren erörterung der adver bien glauben wir an
dieser stelle überhoben zu sein, weil wir in früheren abschnitten
bereits davon geredet haben; demgemäsz wird es sich auch der
deutsche grammatische Unterricht angelegen sein lassen, den inneren
Zusammenhang zwischen den adverbien und präpositionen '^°
klarzulegen und die Scheidung zwischen adjectiven und ad-
ver bien '^' vorzunehmen.
Nachdem nun noch die conjunctionen und interjec-
tionen in ihrer untergeordneten Stellung im satz besprochen sind,
mag die beantwortung etwa folgender fragen, die um die mitte des
Schuljahrs vor sich geht, dem sextaner über gros zere oder ge-
ringere bedeutung der Wortarten ein licht aufstecken:
Was wird conjugiert? die verba.
Was wird decliniert? die Substantive und adjective.
Was wird decliniert und gesteigert? die adjective und ad-
verbien.
Was wird nur gesteigert? die adverbien.
Was wird gar nicht flectiert? die conjunctionen und inter-
jectionen. es genügt aber nicht, dasz man nur die wortarten als
solche kennt, sondern man musz auch wissen, wie sie als Satzteile
zur anwendung kommen, den manigfaltigsten gebrauch aber zeigt
in dieser beziehung das Substantiv, das als subject, object, prä-
dicatsnomen, genetivattribut, Substantivattribut und als bestandteil
des präpositionellen ausdi-ucks vorkommt, das adjectiv wird als
adjectivattribut und prädicatsnomen, und das adverbium als ad-
verbiale bestimmung verwandt, um das v erb um aber, das mit
dem prädioat identisch ist, dreht sich der ganze satz, und die aus-
führliche fiagestellung'^^ bringt es dem schüler nochmals zum be-
i-'O s. oben s. 49H f. >3i g oben s. 474 und 493.
•32 8. oben s. 494 ff.
E. Cornelius: lateinisch und deutsch in der sexta und quinta. 511
wustsein, dasz alle Satzteile entweder direct oder indirect vom
verbal-prädicat abhängig sind:
I. Vom prädicat direct abhängig:
1) das subject.
2) die objecte.
3) die prädicatsnomina.
4) die adverbialen bestimmungen.
11. Indirect mittels eines Substantivs vom prädicat abhängig :
1) die adjectivischen attribute.
2) die substantivischen attribute.
3. Die aufsatzbesprechung.
Nunmehr wollen v/ir der aufsatzbesprechung noch mit
ein paar worten gedenken, die neuen lehrpläne'^^ verlangen
zwar für sexta nur 'mündliches nacherzählen von vorerzähltem',
und erst den quintaner lassen sie 'erste versuche im schriftlichen
nacherzählen' anstellen, was 'im ersten halbjahr in der classe, im
zweiten auch als hausarbeit' geschehen soll, uns will es scheinen,
als könne man schon im zweiten halbjahr der untersten gymnasial-
classe mit den bezeichneten aufsätzchen beginnen, die alsdann die
dictate ablösen würden, dieses verfahren, bei dem auf das ganze
sextanerjahr etwa 3 bis 4 arbeiten fielen , denken wir uns genau in
derselben weise auf der folgenden stufe fortgesetzt, nur mit dem
unterschied, dasz hier die zahl auf 4 bis 6 aufsätze vermehrt würde;
von häuslichen arbeiten aber, wie sie die lehrpläne auch fordern,
möchten wir in quinta noch ganz absehen.
Aber nicht blosz auf das genannte zeitmasz, sondern auch
darauf dürften diese Übungen beschränkt sein, dasz die schüler auch
in quinta noch nicht zum sogenannten disponieren angeleitet wer-
den, sondern frisch drauf los eine einfache erzählung, zb. aus der
sagen- und märchenweit oder auch in der art, wie sie Hebels schatz-
kästlein oder die deutschen Volksbücher (vgl. die schildbürger)
bieten, in ihrer eignen weise alsnacherzählung wiederzugeben, nach-
dem sie ihnen der lehrer frei vorgetragen hat. denn hier, wie
überall, soll doch wohl das beispiel der regel vorausgehen, und
wenn man den sextaner und quintaner daran gewöhnt, von der
leber weg zu reden, dann läszt sich um so leichter dem quartaner
zeigen, dasz er die gedanken, die er hat, auch ordnen und so erst
einen gediegenen aufsatz zu stände bringen kann.
Dasz sich nun die besp rechung dieser aufsätzchen
hauptsächlich um grammatische und stilistische fehler dreht, weisz
jeder, der mit dem deutschen unterrichte vertraut ist. es liegt frei-
lich auszerhalb unserer aufgäbe, von sämtlichen Unrichtigkeiten,
die hierbei vorkommen, zu reden, vielmehr kommt es uns darauf
an, die latinismen zur spräche zu bringen, die infolge der täg-
neue lehrpläne s. 14.
512 E. Cornelius: latemisch und deutsch in der sexta und quinta.
liehen lateinstunden in die schüleraufsätze einzuflieszen pflegen, und
auch da müssen wir uns mit einer blüteniese von dem begnügen,
uas sich aus unserer bisherigen darstellung unschwer ergibt, da
wir aber gelegenheit hatten, auszer den aufsätzchen der unteren
classen auch tertianeraufsätze auf diesen punkt hin zu prüfen,
möchten wir unsere leser gerade auf die fehler hinweisen, die von
Schülern mittlerer classen gemacht werden, weil man daraus am
besten ersehen kann, welchen einflusz die beschäftigung mit dem
lateinischen auf den deutschen stil auszuüben vermag, natürlich
werden wir auch die fehler der quintaner im folgenden berück-
sichtigen.
Greifen wir also zunächst einmal darauf zurück , dasz wir in
einem früheren abschnitt '^^ dem lateinischen ablativ den
namen präpositionscasus gegeben haben, an der bezeichneten
stelle warnten wir davor, diesen casus immer mit den wörtchen
'von', 'mit' und 'durch' übersetzen zu lassen, nun ist es eine auf-
fallende thatsache, datz besonders die letztgenannte präposition noch
die tertianer zu undeutschen Wendungen verführt, die beispiele, die
wir in diesem abschnitte geben, sind wörtlich den schüleraufsätzen
entnommen, so lasen wir unter anderem folgendes: 'die sirenen
fraszen jeden auf, der durch ihren gesang bezaubert ans land kam',
oder: 'die sänger hüben an zu singen, und durch ihren gesang
beugten sich aller herzen vor gott', und es ist bezeichnend , dasz in
dem letzten beispiel der betreffende schüler die rot unterstrichenen
Worte so verbesserte, dasz sie noch lateinischer anklangen : 'durch
ihren gesang bewogen usw.', während er doch einfacher ge-
schrieben hätte: 'infolge ihres gesanges usw.' daher wäre es
wünschenswert, dasz schon in den aufsätzen der kleineren schüler
der verkehrte gebrauch der präposition 'durch' und anderer
Präpositionen mit nachdruck bekämpft würde.
Einem anderen tertianer flosz gelegentlich der undeutsche aus-
druck 'hierdurch gerührt' in die feder, doch war diese Verwechs-
lung der präposition (statt: hierüber gerührt) immerhin noch ein
leichterer verstosz, wie wenn ein mitschüler schrieb: 'auf dem-
selben befand sich der landvogt.' denn jener hatte seine mutter-
sprache doch so weit in seiner gevvalt, dasz er dem wörtchen 'hier'
noch ein suffix anfügte, dieser dagegen geriet in den falschen ge-
brauch des fürworts 'derselbe'. '^^ die gut deutschen ausdrücke
'hierauf, 'darauf u. ä.'^* kommen den schülern, wohl infolge
des lateinischen Unterrichtes, schon früh auszer Übung, wenn man
nicht beim quintaner, der sich so ausdrückt: 'Reinecke antwortete
auf dieses', schon entgegenarbeitet und ihn dafür sagen läszt:
'ßeinecke antwortete darauf.' dann wird er sich vielleicht hüten,
als tertianer noch zu schreiben: 'sie wüsten, da^z sich Teil in dem-
"4 s. heft 9 s. 430. ^^■> s. oben
'3^ s. oben s. 482.
E. Cornelius: lateinisch und deutsch in der sexta und quinta. 513
selben befand', was doch wohl heiszen musz: 'sie wüsten, dasz sich
Teil darin befand'.
Wenn wir uns aber erinnern, was oben'" von den lateinischen
fürwörtern is, idem und ille gesagt ist, dann wird nicht nur der
fremdsprachliche Unterricht darauf hinwirken, dasz die dort ge-
nannten bedeutungen dieser pronomina immer richtig ins deutsche
tibersetzt werden , sondern auch die rückgabe der quintaneraufsätze
kann hier mitwirken , gegen undeutsche Wendungen anzukämpfen,
jedenfalls ist darüber klarheit zu schaffen, dasz 'dieser mann' ein
solcher ist, auf den ich gerade hindeute, dasz ich aber heute 'dem-
selben manne' begegnet bin, den ich auch gestern gesehen habe,
ähnliche erörterungen sind nötigenfalls auch über den unterschied
zwischen 'derselbe' und dem persönlichen oder besitz-
anzeigenden fürwort anzustellen, wenn etwa der quintaner
trotz der belehrungen im lateinischen unterrichte schreibt: 'um
denselben abzuholen', denn selbst der tertianer scheut sich nicht
zu sagen: 'als er in die nähe derselben gelangte.' da man aber
das hinweisende fürwort ille'"® nicht blosz mit 'jener', son-
dern auch mit 'dieser' oder 'er' übersetzen kann, so musz man
schon bei quintanern, die sich folgendermaszen ausdrücken : 'da der
fuchs jenes hörte', und: 'da erhob sich der schwanritter, um mit
ihm zu kämpfen; er besiegte jenen, und der Sachsenherzog verlor
sein leben', solche fehler mit der wurzel auszurotten suchen, denn
tertianer verfahren ganz ähnlich, indem einer z. b. schreibt: 'als
Armin nach hause zurückkehrte, kam jener (gemeint ist Plavus)
gar nicht zu ihm', und ein anderer: 'er machte seinen vater auf ihn
aufmerksam; sie näherten sich und erkannten in jenem den Teil.'
Wenn wir auch den conjunctionen ein paar worte widmen
dürfen, so bemerken wir, dasz uns einmal in dem aufsatze eines
tertianers die worte entgegentraten: 'und es wäre zum streit ge-
kommen, wenn nicht das volk gerufen hätte: der apfel ist ge-
fallen!' in erwägung dessen, was Cauer in unserem obigen citat '^®
ausgeführt hat, halten wir es daher für doppelt notwendig, dasz man
schon die schüler der untersten classe veranlaszt, die genannten
bindewörter im aufsatz ebenso wie beim übersetzen aus der fremd-
sprache in der früher angedeuteten weise auseinanderzulegen.
Bezeichnend für den stil mancher tertianer ist folgendes satz-
ungetüm: 'Phaethon war der söhn des Helios, des Sonnengottes,
und der Klymene, der gattin des äthiopischen königs Merops.'
hierin sind zugleich zwei feinde des deutschen stils enthalten, die
sich aus der beschäftigung mit dem latein herleiten: die falsch an-
gewandte apposition und die genetivhäufung. um mit der
letztgenannten zu beginnen, so weist uns ein anderer schülerfehler:
'unter begleitung der harfe des greises' auf die Verschmelzung des
einen genetivs mit dem vorhergehenden Substantiv zum zusammen-
s. oben s. 475. »3« g, oben s. 476 fif. '^^ s. oben s. 478.
514 E.Cornelius: lateinisch und deutsch in der sexta und quinta.
gesetzten hauptwort ^barfenbegleitung' hin und führt uns die oben""
betonte notwendigkeit vor äugen, die schüler der unteren classen
bereits im deutschen und lateinischen auf diese und ähnliche eigen-
tümlichkeiten der deutschen spräche hinzuweisen, die apposition
aber haben wir früher '■" in längerer auseinandersetzung bekämpft,
wenn nun manche tertiauer das einfachste gefühl für den bau ihrer
muttersprache schon so weit verloren haben, dasz sie in aufsätzen
verstösze begehen wie: 'zu Helios, seinem vater' oder: ''da trat
Rudenz, ein ritter, hervor', dann mahnt uns dies, mit desto gröszerem
nachdrucke schon auf der Unterstufe derartigen anwandlungen auch
in den nacherzählungen von vorn berein einen riegel vorzuschieben.
Unsere leser haben schon längst bemerkt, dasz wir im vor-
liegenden abschnitt eigentlich nichts neues darbieten, sondern
lediglich früher gesagtes durch andere beispiele zu erhärten suchen,
darum glauben wir uns auch über die zwei satzconstructionen,
die wir schlieszlich noch vorbringen wollen, um so kürzer fassen zu
dürfen, schon beim übersetzen suchten wir die quintaner daran zu
gewöhnen, in angemessener weise participien aufzulösen;
trotzdem geschieht es, dasz sich die kleinen vom lateinischen beein-
flussen lassen, denn einer schrieb: *Kamillus nämlich, die frevelthat
erkennend, usw.', ein anderer: 'von der treue des Oberbefehlshabers
bewogen, schickten sie gesandte.' somit wird auch die besprechung
dieser aufsätzchen dem lehrer gelegenheit geben , zunächst dieses
verkehrte in richtiges deutsch verwandeln zu lassen , ferner wieder-
holt zu erörtern, dasz das deutsche die nebensätze, das lateinische
die participien bevorzugt, und endlich, dasz man im deutschen über-
haupt participien mit längeren Zusätzen am besten ganz vermeidet,
dipse erwägungen scheinen uns nicht überflüssig zu sein, weil auch
tertianer ähnliche Verkehrtheiten machen, z. b.: 'zugleich bemerkte
er einen auf einer stange hängenden hut.' wenn wir aber, um auch
dies noch zu erwähnen, in einem tertianeraufsatze folgendes lasen:
'Odysseus hätte dem gesange nicht widerstehen können, wenn nicht
durch das schnelle rudern seiner gefährten die insel glücklich
passiert worden wäre', dann scheint es uns, wie wir auch früher
schon betont haben '^^, richtig zu sein, bei jedem sich darbietenden
anlasse, also auch bei besprechung der quintaneraufsätze, darauf
aufmerksam zu machen, dasz das deutsche die activsprache, das
latein aber die passivsprache ist.
Fassen wir das gesagte zusammen, dann ist der langen rede
kurzer sinn etwa folgender, auszer mancher anderen belehrung, die
der lehrer seinen Schülern bei der aufsatzbesprechung bieten kann,
setze er sich das ziel , schon bei den schriftlichen nacherzählungen
der jüngsten gymnasiasten von früh auf die latinismen zu bekämpfen,
denn diese sind ein feind des deutschen Stiles, der, wenn ihm nicht
mit macht zu leibe gegangen wird, in dem masze um sich greift,
'^» s. heft 9 s. 439. ^" s. oben s. 485 ff. '^^ s. oben s. 488
C. Hiimbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen. 515
wie die kenntnisse der knaben in der Römersprache sieb vermehren,
hält der lehrer aber bei seinen Zöglingen die muttersprache von
lateinischem einflusse rein, was sich, wie wir überzeugt sind, mit
der reinheit des fremdsprachlichen stiles wohl vereinigen läszt, dann
werden sich die schüler nicht nur der unteren, sondern aller classen
in aufsätzen und im mündlichen gebrauch eines guten deutsch all-
mählich immer mehr befleiszigen.
Saarbrücken. Emmerich Cornelius.
(18.)
EIN VERSUCH DIE LEHRE VOM GEBRAUCH DER ZEIT-
FORMEN, BESONDERS IM FRANZÖSISCHEN, ZU VER-
VOLLSTÄNDIGEN, ZU BERICHTIGEN UND AUF IHREN
GRUND ZURÜCKZUFÜHREN.
(fortsetzung und schlusz.)
E. Vergleichung meiner ansieht über den unter-
schied von imparfait und pass6 d6fini mit derjenigen
Plattners, über den unterschied zwischen imparfait und d6fini
gibt Plattner nur praktische regeln: 'das imparf. ist die zeitform der
beschreibung und der Schilderung, für die erzählung nur verwend-
bar, wenn diese weniger Ihatsachen berichtet als zustände anschau-
lich macht; daher ist es die zeit der Vergangenheit 1) für bleibende
zustände : les Pböniciens ötaient le peuple le plus commer^ant de l'anti-
quite. das historische perfect würde eintreten können,
wenn dieser satz eine historische thatsache^* berichten
sollte. 2) für häufig oder regelmäszig wiederholte handlungen,
welche fast zu einer bleibenden gewohnheit werden. 3) für eine
handlung von unbestimmter dauer. diese wird dann a) entweder
von einer andern (im p. d6fini) unterbrochen, b) oder sie gibt den
grund der im defini stehenden handlung an, auch nebenumstände,
die sie begleiten.' '''" 'das defini hingegen bezeichnet eine einmalige
vergangene handlung, eine thatsache.'^" es tritt ein, sobald die
'* eine historische thatsache ist es auch im imparfait.
'^ daher ständen a) die verben des denkens und des affects liäufiger
im imparfait, und gar gewöhnlich dire, raconter, re'pondre, ecrire, stipuler,
porter (besagen, des inhalts sein: un article de la Grande Charte porlait
que . . .; un autre stipulait qua . . .). dann erwähnt Plattner noch
das imperfectum conatus, das der nur begonnenen handlung, die
nicht zur Vollendung kam, und zweitens das imparf. von falloir, devoir,
pouvoir in der bedeutung unseres conjunctivi plusqpf.
^8 Plattners Unterscheidung von zustand und historischer thatsache
ist, wie schon bemerkt, nicht zulässig, der satz von den Phöniziern
drückt im imparfait ebenso gut eine historisclie thatsache aus wie
im passe' de'fini; und ebenso gut wie der von dem kämpfe des Christen-
tums gegen das heidentum.
516 C. Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen.
eigentliche handlung beginnt oder einen schritt vorwärts macht;
stellt eine erst eintretende handlung dar, die rasch verläuft oder
eine bekannte dauer hat : pendant prös de trois si^cles le christianisme
lutta avec le paganisme expirant.'
Auch nach meiner ansieht ist das imparfait vorzugsweise das
tempus der beschreibung und Schilderung 'von zuständen'^ und zu
gewobnheiten gewordenen handlungen', aber nicht weil oder in-
sofern jene an sich 'bleibend' sind, d. h. lange andauern'^, und
diese 'sich häufig ^^ wiederholen', sondern weil in den meisten fällen
jene nicht in dem augenblick aufgefaszt werden sollen, wo sie
an fi engen, noch in ihrer ganzen dauer, vom anfangs- bis zum
endpunkt, sondern nur in einem Zeitraum oder -punkt der
mittleren dauer, und diese, die zur gewohnheit gewordene hand-
lung, nicht in dem Stadium, wo man sie zum ersten mal ausführte,
wo die gewohnheit erst anfieng, denn da war sie eben noch keine
gewohnheit, sondern wo auch sie durch häufige Wiederholung
erst zu einer solchen geworden, als gewohnheit schon und noch
in ihrer mittleren dauer begriffen war, so dasz man sich um den
anfangs- und endpunkt nicht kümmert/"
Und ebenso jede einzelne handlung, nicht wegen etwa 'un-
bestimmter dauer', nicht weil etwa eine andere sie unterbrach,
steht sie im imparfait, sondern insofern sie gleichfalls nur in dem
augenblick der mittleren dauer vorgeführt werden soll, wo
jene Unterbrechung eintrat, nicht in ihrem anfang, noch in ihrer
ganzen dauer. auch nebenumstände und gründe endlich stehen
nicht als solche an sich im imparfait, sondern nur insofern auch sie
in der mittleren dauer begriffen waren, als die haupthandlung
und w^irkung anfieng und vollendet ward und wir sie vom Stand-
punkte der haupthandlung betrachten, z. b. der kranke starb, weil
die heilmittel nichts taugten.*'
Dasselbe gilt ferner von den verben des denkens, des affects
und des sagens. stehen sie im imparfait, so wird das sagen, fühlen
und denken als schon und noch in seiner mittleren dauer vor-
" man kann noch 'gegenständen' hinzufügen (zu denen auch ört-
lichkeiten gehören) und Zeitangaben: an welchem ort, in welcher zeit
etwas geschah.
'* vgl. eile e'tait triste en disant cela, puis eile fut (redevint)
aussi gaie qu'auparavant, wo das e'tait nur einen augenblick zu
umfassen braucht, während fut nicht blosz die ganze folgezeit umfassen
kann, sondern zugleich auf die vorhergehende als eine zeit des froh-
sinns hinweist.
''^ vgl. cette semaine nous allämes six fois k la chasse.
f" in dem satze 'j'e'crivais depuis une heure, lorsqu'il m'interrompit'
ist sogar die Zeitdauer genau bestimmt und in 'j'e'crivis une lettre'
gar nicht.
*' der grund, die Ursache kann aber auch wie gesagt eine zuerst
angefangene und vollendete handlung sein, so der versuch zu töten
in dem satze: on voulut le tuer, il s'enfuit. der wille fieng an sich
Uuszerlieh kund zu geben und führte dies aus.
C. Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen. 517
geführt, nicht sein anfang oder seine ganze dauer. ebenso stellen
das imperfectum conatus und die imparfaits von falloir usw. die
versuchte thätigkeit, das müssen usw. schon und noch in ihrer
mittleren dauer dar.
Das d6fini hingegen steht wohl vorzugsweise von einmaligen
bandlungen, von thaten^^ aber nicht weil sie einmalig, weil es
thaten sind, sondern nur insofern besonders ihr anfang oder zu-
gleich ihr anfangs- und endijunkt, der im d6fini liegende fort-
schritt vom anfangs- zum endpunkt, ausgedrückt werden soll;
nicht weil sie in der Wirklichkeit rasch verlief oder ihre dauer be-
kannt war, sondern insofern diese bekannte oder auch unbekannte
dauer, mit an sich beliebig raschem oder langsamem verlauf, vom
anfangs- bis zum endpunkt in einen punkt zusammengezogen
wird, so dasz die dazwischen liegende mittlere dauer den blicken
entschwindet.®^
Der beste beweis, dasz überall blosz diese rücksicht entscheidet,
ist, dasz auch thaten, einmalige, rasch®' verlaufende bandlungen von
bestimmter, bekannter®^ dauer, im imparfait stehen, wenn nur ein
Zeitraum oder -punkt aus der mitte ihrer dauer vorgeführt
werden soll, und dasz umgekehrt nicht blosz einmalige, sondern
auch zu gewohnheiten gewordene bandlungen, gründe einer viel-
leicht gar selber im imparfait stehenden handlung, bleibende
zustände, verben des denkens, des affects und des sagens, solche, die
ein conari bezeichnen, wie essayer, tächer u. a., und ebenso falloir,
^* dasz der ausdruek ^thatsachen' nicht passt, zeigte schon
Plattners satz von den Phöniziern, der auch im imparfait eine that-
sache ausdrückt.
^^ dies hat eben Plattner irre geführt, man denke noch an die
Sätze: Dieu fut, und: Annibal e'tait (zu seinen le bzeiten) un grand
ge'neral, s'il en fut (wenn es jemals einen gab).
*^ man vergleiche nur 'je n'e'crivais que depuis deux secondes
lorsqu'il m'interrompit' mit 'j'ecrivis cent lettres'. wenn dieselbe thätig-
keit das eine mal im imparfait, das andere mal im de'fini steht, drückt
an sich offenbar das de'fini die längere dauer aus; denn es gibt sie
in ihrem ganzen umfang an, das imparf. aber nur einen Zeitraum oder
-punkt der mittleren dauer. weil jedoch das de'fini letztere den äugen
entzieht und das ganze zu einem punkte zusammendrückt, als etwas,
das in demselben angenblicke anfieng und vollendet ward, läszt es
selbst die ewigkeit als rasch verlaufend erscheinen, während das
imparfait bei dem einen vorgeführten augenblick der mittleren dauer
stehen bleibt und sich aufhält, es ist dasselbe Verhältnis wie zwischen
einem mathematischen punkt und einer mathematischen linie. nur wenn
zwei verschiedene verba im imparfait und passe de'fini zusammentreten,
wird in einer hinsieht das Verhältnis ein anderes, in j'e'crivais lorsqu'il
entra z. b. wird entra wohl in seiner ganzen dauer vorgeführt und das
ecrire nur in einem augenblick der mittleren dauer, dieser augenblick
aber erscheint zugleich als ein solcher, dem schon ein mehr oder weniger
langes schreiben vorangegangen ist, und in diesem sinne freilich kann
von einer längeren dauer des imparfait die rede sein, wenn es auch
selbst nur einen Zeitraum oder -punkt aus der mitte der handlung
darstellt.
518 C. Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen.
devoir, pouvoir, wenn nicht blosz die mittlere dauer, sondern an-
fangs- und endpunkt ausgedrückt werden sollen, und, ich füge hinzu,
in demselben fall verben des fühlens und denkens, um zu zeigen,
dasz das umsetzen des vorher nur gedachten oder gefühlten in that
anfieng und ausgeführt ward, wie in 'Charlemagne honora la bravoure
de Vitikind , en lui donnant le duch6 de Saxe comme fief des reis
francs', im defini stehen.
Nun noch ein wort über die von Plattner angeführten verben
dessagens, des d enkens und der affecte. sollen sie, zu der
zeit des eintretens irgend einer Wirkung, als schon vorhandene und
noch in ihrer mittleren dauer begriffene Ursachen er-
scheinen, so stehen sie im imparfait; im passö d6fini hingegen, als
selber erst eintretende und ausgeführte Wirkung einer Ursache,
aber selbst eine Ursache , und dies gilt natürlich von jenen verben
so gut wie von allen andern, steht im defini, wenn sie nicht mehr
in ihrer mittleren dauer begriffen war zur zeit als das ereignis , mit
dem sie in Verbindung gebracht wird, eintrat, wenn sie in eine
frühere zeit fällt und man ausdrücken will , dasz sie damals anfieng
und ausgeführt wurde; z. b. Alexandre le Grand vengea les Grecs des
Orientaux qui vouluren t un jour d6truire leur civilisation, so dasz
eine jede für sich augefangen und abgeschlossen erscheint, ohne dasz
sie sich zeitlich berühren, endlich kann auch die Ursache von etwas
zeitlich folgendem , zugleich und vorwiegend vom Standpunkt eines
vorhergehenden ereignisses, als zugleich anfangende und vollendete
■Wirkung vorgeführt werden, was bei verschiedenen der schon an-
geführten beispiele, besonders mit vouloir, der fall war; und dann
steht selbstverständlich auch diese Ursache im d6fini. und kommt
sonst ein verbum des Schreibens und sagens im imparfait vor, so soll
auch da dieses sagen und schreiben in seinem zeitverbältnis zu etwas
anderem als schon und noch in der mittleren dauer begriffen
hingestellt werden, oder es war schon im defini von einer Unter-
haltung, einem briefwechsel usw. im allgemeinen die rede; dann
aber denkt man sich schon mitten in diese hinein, führt sie im gegen-
satz zu der dem d6fini eignen bewegung in behaglicher ruhe vor und
behandelt ihre einzelnen teile, wie die schon besprochenen einer sitte
oder gewohnheit, vom Standpunkte des sie umfassenden ganzen ^^:
Turenne ecrivit au roi pour lui demander la libertö d'agir. 'je
connais', disait-il, 'la force des troupes imperiales . . . ; je prends
tout sur moi et je me charge (übernehme die Verantwortung für)
des ev6nements (Duruy, histoire de France),
Auch in dem von Plattner angeführten satz über die Magna Charta
steht das imparfait einfach aus dem gründe , weil man sich in die
zeit versetzt, wo sie, also ihr Inhalt, schon da war.
'üne femme de chambre me remit une lettre, par laquelle la
veuve m'apprenait que sa chere Constance ne pouvait se faire (sich
^- es gesclneht übrigens seltener als Platlner annimmt.
C. Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen. 519
gewöhnen) ä ma tiguro' (Cherbuliez in der Revue d. d. m. 15/12 92
s. 723).
Recevoir und remettre stehen im defini , weil wir in die zeit
versetzt werden sollen, wo das empfangen und übergeben anfieng
und zugleich zu ende geführt wurde; das aber, was der brief und die
nachrichten enthielten, im imparfait; denn dieser inhalt, der dem
empfänger freilich jetzt erst bekannt wurde, stand vorher schon in
den briefen, und der Schreiber machte den anfang des benach-
richtigens schon in dem augenblick, wo er zu schreiben anfieng.
als jener las, war es schon und noch in seiner mittleren dauer. man
vergleiche folgende sätze aus der 19n lection von Plötz : 'am vierten
november 1794 bemächtigte sich (p.d.) Suwarow der stadt Warschau
nach einem sehr blutigen kämpfe, man sagt, dasz er hierauf einen
brief an die kaiserin Catharina II schrieb (p.d.), welcher nur diese
Worte enthielt (imp.): «hurrah, Warschau! Suwarow.» die kaiserin
verstand (p. d. von savoir), seinen lakonischen stil nachzuahmen, in-
dem sie ihm schrieb: «bravo, feldmarschall ! Catharina», ein brief,
der ihm seine ernennung zum feldmarschall ankündigte (imp.).'
erst fiengen beide das schreiben an und führten es aus; dann aber
waren die briefe als geschrieben anzusehen und hatten schon an-
gefangen zu enthalten und anzukündigen, so kommt es auch da nur
darauf an, ob man sich in die zeit versetzt, wo das sagen usw. erst
anfieng und ausgeführt ward, oder wo es schon in seiner mittleren
dauer begrifi"en war.
Man vergleiche noch folgende beispiele: le mar6chal Ney pro-
non^a ä la chambre des pairs, le 22 juin, un discoars oü il pro-
clamait que tout etait perdu et qu'il fallait nögocier sans delai avec
les alli6s (Revue d. d. m. 15/3 93 s. 455). ähnlich: eile rougit
legörement; eile semblait me dire (Cherbuliez, Rev. 15/12 92 s. 733).
beides ist gleichzeitig, denn der sinn ist: 'ihr erröten schien mir zu
sagen.' trotzdem steht semblait im imparfait, weil rougit vorher-
geht, in dem augenblick, wo semblait erscheint, ist rougit schon
gesagt, das erröten schon zu einer angefangenen und zugleich
vollendeten thatsache geworden; das scheinen fängt also da nicht
mehr an, sondern ist schon in seiner mittleren dauer begriffen, und
ebenso ist es in folgenden sätzen: il re9ut des nouvelles du Var
qui lui apprenaient que Melas 6tait encore ä Nice (Thiers, cam-
pagne d'Italie).
In bezug auf die verben des sagens, Schreibens usw. erinnere
ich noch an die schon gemachte bemerkung, dasz von zwei verben,
die im gründe etwas gleichzeitiges ausdrücken, oft das erste im
döfini, das zweite im imparfait steht, wie im 12ncapitel der histoire
de la premiöre croisade, wo Michaud erst im pass6 defini vom an-
fang der groszen not spricht: quand ces derniöres ressources com-
mencörent ä manquer, la misöre devint plus afifreuse. dann aber
steht das imparf. ; denn jetzt ist die gröszere not schon da. chaque
jour, une foule avide se pressait ä la porte de ceux qui conser-
520 C. Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen.
vaient quelques vivres, et chaque jour, ceux dont on avait la veille
invoqu6 la charitfe, se trouvaient reduits ä implorer celle des autres.
3. Plusqueparfait. unser plusquamperfectum, das fran-
zösische plusqueparfait, drückt aus, dasz etwas zu einer zeit der Ver-
gangenheit schon vollendet vsrorden war, wo etwas anderes schon und
noch in seiner mittleren dauer begriflfen war oder anfieng und aus-
geführt wurde, auch hier ist bald das imparfait oder d6fini, bald das
plusqueparfait selber der punkt, auf dem man festen fusz faszt, um
von dort die durch die andere verbalform bezeichnete thätigkeit zu
betrachten : 'er hatte schon die schule verlassen, als sein vater starb,
sein vater starb, als er schon die schule verlassen hatte.'
III. Zwei feste punkte, auf denen man fusz faszt:
eine vom Standpunkt der gegenwart noch zukünftige
handlung erscheint zugleich, vom Standpunkt einer
andern zukunft, als zukünftig oder auch als schon
vollendet, wobei aber der Standpunkt der gegenwart
wieder keines besondern ausdrucks bedarf.
1. Die zwei conditionnels. s'il venait, je le lui dirais.
das sagen erscheint als zukünftig, nicht blosz vom Standpunkt der
gegenwart, sondern auch im Verhältnis zu dem noch zukünftigen
kommen.'^ soll das conditionnel blosz eine bescheidene behauptung
des redenden vom Standpunkt der gegenwart ausdrücken , so fällt
natürlich der andere feste punkt weg : *la conversion de Clovis porta
d'abord quelque atteinte ä sa popularitö, et il paraitrait que beaucoup
de ses compagnons le quittörent.'®^ vielleicht ist aber auch hier eine
in die zukunft oder in die Vergangenheit zu legende bedingung zu
ergänzen wie: 'wenn man den und den berichten glauben wollte*,
oder 'wenn die und die leute recht berichteten'.
Ebenso verhält sichs mit dem condit. antörieur; nur wird da
die bedingung in eine frühere Vergangenheit gelegt: 'je le lui aurais
dit, s'il etait venu.' und wie etwa im obigen satze über Chlodwig:
'd'aprös la legende, une druidesse aurait predit sa fortune ä Dio-
cl6tien'% d. h. 'wenn man der legende glauben wollte, würde man
annehmen müssen, dasz eine druidin' usw. ähnlich noch von einem
angenommenen fall (deutsch: etwa): on fermera tout Etablissement
qui aurait §te ouvert en contravention ä la loi®- = 'von dem sich
herausstellen sollte, dasz . . .'
2. Futur ante rieur. hier erscheint eine zukünftige hand-
lung als schon vollendet vom Standpunkt einer andern: 'il aura
cbang6 d'avis, quand tu reviendras.'
Ich führe noch einen, zu diesem zweck umgewandelten satz
s^ hierher gehören auch Wendungen wie: je ne saurais . . ., sauriez-
vous . . .? on dirait, je voudrais, wo überall eine bedingung im imparf.
zu ergänzen ist; z, b. wenn ich mir auch noch so viel mühe gäbe; wenn
Sie die gute haben wollten usw.
8^ aus Plattner.
^^ die beispiele wieder aus Plattner.
C. Ilumburt: die lehre vom gebrauch der Zeitformen, 521
aus Voltaires Charles XII an, in dem das futur ant6rieur im neben-
satz steht: 'le muphti a conseille la guerre contra le czar, parce que
le favori la veut; et il la trouvera injuste, dös que ce jeune homrae
aura chang6 d'avis.*^^ der anfang und die ausführung beider
thätigkeiten liegen noch in der zukunft: der eine wird das ungerecht-
finden anfangen und sogleich vollenden, sobald der andere das an-
ßicht-ändern angefangen und vollendet haben wird, nicht blosz vom
schon bekannten Standpunkt des redenden ist das ungerecht-
finden zukünftig, sondern zugleich von dem noch besonders aus-
zudrückenden der Zukunft, wo die änderung der ansieht ein-
getreten sein wird, vertritt da'* futur ant§rieur die stelle eines
indöfini und stellt nur vom Standpunkt der gegenwart etwas ver-
gangenes als wahrscheinlich hin, so ist die angäbe eines andern
festen punktes überflüssig: il aura chang6 d'avis (= er hat wahr-
scheinlich . . . ; ich werde annehmen müssen , dasz er hat).
IV. Zwei feste punkte in der Vergangenheit: eine
vergangene handlung erscheint noch als zukünftig von
einem Standpunkt der vergan genheit, während sie von
dem andern selber auch als vergangen erscheint, wobei
beide Standpunkte des besondern ausdrucks bedürfen.
Passe ant6rieur. das pass6 ant6rieur verhält sich zu dem
defini wie das futur anterieur zu dem bloszen futur; es ist gleich-
sam das fut. anterieur der Vergangenheit, wie das original des von
mir umgewandelten Satzes aus Charles XII zeigt: Me muphti avait
conseill6 la guerre contre le czar quand le favori la voulait; et il
la trouva injuste dös que ce jeune homme eut chang6 d'avis.' wir
stehen zuerst, gleich anfangs, in einer zeit zwischen dem imparfait
und plusqueparfait einerseits und den passes defini und ant6rieur
anderseits, der muphti hatte schon zum kriege geraten, und zwar
als der günstling schon und noch den krieg wollte, dies be-
trachten wir nur von dem Standpunkt der zeit, die darauf folgte ;
daher das plusqueparf. , und das wollen im imparfait, das jedoch
auch im plusqpf. stehen könnte, dann aber, nachher erst, fieng
der günstling an, seine ansieht zu ändern; und nachdem diese
änderung zugleich angefangen und vollendet worden war, da ward
auch die änderung in den ansichten des muphti angefangen und
vollendet.
Das plusqueparfait und das passe anterieur unterscheiden sich
nur dadurch, dasz in dem einen das passe döfini, in dem andern das
imparfait desselben hilfsverbs vor dem participe steht; darum musz
der unterschied zwischen ihnen sich auf den zwischen imparf. und
p. d6f. zurückführen lassen, so weit dieser hier noch bestehen kann.
Das imparfait bezeichnete nur einen Zeitpunkt oder -räum
aus der mittleren dauer. das fiel natürlich beim plusq. weg, da
es von einer schon mehr als vergangenen handlung gebraucht wird;
^^ livre VI. beim passe aute'rieur werde ich liierauf zurückkommen.
N. jahib. 1". phil. u. päd. 11. abl. 1897 hft. 10 u. 11. 31
522 C. Humbert: die lehre vom gebrauch der zeitformeu,
doch geht es nicht vollständig verloren, in 'quand nous avions'
oder 'eümes fini notre thßme, nous sortimes' schneidet eümes
schirf hinter fini ab, während mit avions, v-ie in der maierei bei
feiner Schattierung, ein allmählicher Übergang die gegensätze ver-
wischt, das pass6 dfefini hebt auch hier, dem anfang des sortimes
gegenüber, das ende des fini kräftiger hervor, und, wie seltsam es
auch klingen mag, die Fähigkeit, zugleich den anfangspunkt
hervorzuheben, geht in der Verbindung mit dem partic. pass6
noch weniger verloren.
Versetzen wir uns in die zeit, welche einer Schlacht voran-
gieng: 'wir zogen hinaus; wir stieszen auf den feind; es entspann
sich ein kämpf.' nun stehen wir noch vor der ents-cheidung; dann
aber springen wir, ihren anfangs- und endpunkt in eins zu-
sammenfassend, in die zeit hinüber, wo sie schon gefallen war:
deux heu res aprös nous eümes vaincu l'ennemi. wir fiengen
nicht blosz das siegen an und führten es aus (d^fini), wir hatten
es zugleich angefangen und vollendet; die zeit aber wann?, der
feste punkt, von dem das siegen als schon vergangen
erscheint, ist durch deux heures aprös angegeben, wie
der jenige, wo es noch in der zukunft lag, durch die vor-
hergehenden Sätze, das erri ngen tritt doppelt scharf hervor,
zugleich mit seinem ende sein anfang, im gegensatz zu dem plusq.
(avions), das den sieg nur von dem Standpunkt des schon-errungen-
seins, der darauf folgenden zeit betrachtet, das pass6 ant6r. ist
einem Januskopfe vergleichbar, dem an der einen Seite die handlung
als erst beginnend, an der andern als vor einer andern vollendet er-
scheint, eine eigentümlichkeit, in der sich, im gegensatz zur behag-
lichen ruhe des plusqueparfait, mehr als irgendwo sonst die leb-
haftigkeit des französischen geistes offenbart, es ist Schillers
gallischer Sprung, dem, der nicht französisch zu fühlen gelernt
hat, ein fast unerklärliches geheimnis.
Eine anzahl sätze, die ich mir in den letzten jähren gemerkt
habe , mögen gerade dies , wenigstens für den verstand , klarstellen.
In dem soeben angefühlten beispiel ist die zweite Zeitbestim-
mung nur ein adverb.*" ebenso in den folgenden : Fernando se lan9a
sur les traces des deux femmes. il les eut bientöt rejointes
(Tb. Pavie, P6pita eh. III). au Heu d'6pancher maladroitement
l'envie dont son coeur 6tait devore, Isaure etouffa tout murmure et
chercha le remöde qu'elle eut bientöt trouv6 (Charles de Bernard,
les ailes d'Icare V). und ebd. III: en deux tours de main eile
eut appret6 le couvert et servi sur la table les provisions dont eile
etait charg6e.
Auch hier stehen wir überall anfangs vor der thätigkeit, die
uns dann ganz allein, auf einmal als zugleich angefangen und
s" sie kann natürlich auch noch anders angegeben werden, durch
ein verbum und eine andere Zeitbestimmung, darüber später.
C. Hnmbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen. 523
vollendet entgegentritt, an die stelle des 'deux teures aprös' treten
nur *en deux tours de main' und 'bientöt*.
Von dem festen punkte der schon vorher vollendeten thätig-
keit kann aber der blick auch wieder auf eine andere thätigkeit
hingelenkt v?erden, die später erst anfieng und ausgeführt ward,
oder auch später schon und noch in der mittleren dauer begriffen
war. dann erhalten wir einen zusammengesetzten satz; und zu dem
pass6 antferieur tritt noch ein imparfait oder pass6 döfini mit einer
conjunction.
Ein imparfait im hauptsatz mit quand vor dem ant§rieur im
nebensatz haben wir in folgendem beispiel: les archeologues ne
pouvaient se refuser ä admettre l'importance de la d6couverte (de
Schliemann), surtout quand Schliemann fut venu en Europe
montrer aux acad6mies et autres societ6s savantes les plans et les
coupes de ces tombes . . . quand enfin il eut publie son livre, qui
en donnait des reproductions assez fidöles (Revue d. d. m. 1/2 93
s. 634). zuerst stehen wir in der zeit vor Schliemanns rückkehr
nach Europa, schon damals war das 'ne pouvoir se refuser' in seiner
mittleren dauer begriflen, das venir aber und publier muste noch
beginnen; und als dann dies angefangen und zugleich vollendet
worden war, da war es erst recht, noch viel mehr der fall, das ne
pouvaient se refuser, was nur von der zeit vor der reise nach Europa
ausdrücklich gesagt wird, ist mit dem surtout für die zeit nach der
reise zu ergänzen.
In folgendem satze tritt zu aussiföt que mit dem passe ant6rieur
ein pass6 d6fini: Charles XII avait de l'aversion pour le latin, mais
aussitöt qu'on lui eut dit que le roi de Pologne et le roi de Dane-
mark l'entendaient, il l'apprit bien vite (Voltaire, Charles XIP').
hier steht aussitöt que mit dem anterieur im nebensatz. in folgen-
dem beispiel steht das ant6rieur mit ne-pas plus tot im hauptsatz :
on grimpa dans la montagne, pour y chercher quelque beau point
de vue. on n'eut pas plus tot fait deux cents pas . . . que Filippa
appela maitre Michel (Paul de Musset, le Bisceliais eh. VII).
Ein höchst interessantes beispiel findet sich in F. Mesnards
Moliörebiographie. wieder einmal das antörieur im nebensatz mit
'au temps que': Moliöre avait emprunt6 281 livres ä Jeanne
Lev6, lui donnant en nantissement deux rubans . . . il est probable
que son gage n'6tait pas sans valeur. comme il dut toutefois en
pr6voir l'insuffisance au temps oü ileut laiss6 passer l'echeance
de sa dette sans avoir pu y faire honneur, il s'obligea par un acte
du 31 mars 1645 ä payer la somme qui mauquerait aprös la vente
des rubans. il ne lui fut possible de la rembourser avec les int6r6ts
etc. que le 13 mai 1659."^
"' ebenso in dem schon vorher angeführten des que' mit dem
p. antdr.
®* notice bioofraphiqne sur Molifere von Mesnard in der groszen
schönen Hachettesclien Molifere-ausgabe s. 99.
34*
524 C. Humbert: die lehre vom gebrauch der zeitformeu.
Die anleihe steht im plusqueparfait. wir sind in der zeit, wo
sie schon gemacht worden ist. der zusatz 'das dafür gegebene
Unterpfand war nicht wertlos' zwingt uns nicht, uns in eine spätere
zu versetzen, dann aber kommen, im gegensatz zu dem plsqpf. und
iraparf., ein pass6 d6fini und p. ant6rieur. als die anleihe schon
gemacht worden und als das nichtwertlossein des pfandes schon in
seiner mittleren dauer begriffen war, da kam erst der Zeitpunkt,
wo Moliöre dessen Unzulänglichkeit erkennen muste (passe defini),
und wie? als folge von einem andern, gleichfalls vorher noch zu-
künftigen ereignis, vorher war das bezahlen-können noch eine
frage der Zukunft, die verfallzeit muste noch vorübergehen, dasz
Moliöre sie vorübergehen liesz, wird daher nicht als blosz vergangen
durch ein plusq., sondern zugleich als etwas zukünftiges hingestellt,
erst die anleihe und die Übergabe des pfandes. diese lagen gleich
anfangs hinter (= imparf. und plusqpf.), die Verfallszeit aber noch
vor uns; dann kam diese, und als endlich auch sie zugleich ge-
kommen und vorübergegangen war, ohne dasz Moliöre ge-
zahlt hatte (pass6 ant.), da trat, als eine folge davon (pass6 d6f.),
auch der Zeitpunkt ein, wo er erkennen muste, dasz das anfangs
vielleicht genügende pfand, weil zu der ursprünglichen schuld zinsen
und zinseszinsen hinzuträten, später nicht mehr genügen würde;
und wieder als eine folge davon (passe d6f.), übernahm er
eine neue Verpflichtung, bis er endlich 1659 die schuld abtrug.
Wegen seiner eignen Wichtigkeit und der des gegenständes
möge hier auch noch ein schon in der ersten arbeit angeführter satz
folgen aus Voltaires Charles XII: les Su6dois . . . le poursuivirent
par le bois ... les Saxons n'eurent t)avers6 le bois que cinq heures
avant la cavalerie suedoise. als die Verfolgung anfieng, waren die
Sachsen noch in dem wald; sie musten ihn noch durchschreiten,
und dies hatten sie erst vollendet, gelang ihnen erst zu vollenden
fünf stunden vor der verfolgenden reiterei. setzte man hier avaient,
so wäre schon zur zeit, wo die Verfolgung anfieng, das durchschreiten
eine vollendete thatsache gewesen; dann sähe man gleich, schon von
der zeit aus, dies blosz als eine vergangene thatsache an. statt
avant la cav. s. könnte man auch sagen : avant qu'elle füt travers6e
par la cavalerie su6doise.
Besonders lehrreich ist auch folgende stelle mit dem plusque-
parfait, in der das pass§ ant6rieur nicht stehen konnte; denn schon
vorher hat das imparfait 'dormait* uns in die zeit versetzt, wo das
durch die zwei plusqpf. ausgedrückte schon vollendet worden war.
trotz des den dritten satz beginnenden 'a peine' muste deshalb das
plusqpf. stehen. Alex. Dumas, la comtesse de Charny VI: sa reine
s'occupa (Marie Antoinette) donc de chercher un canape . . . pour
elle-möme, comptant coucher les deux enfants dans sou lit. le petit
dauphin dormait d6jä: ä peine le pauvre enfant avait-il apais6 sa
faim, que le sommeil l'avait pris (eut-il könnte es nur heiszen,
■wenn man fortführe : le pi'it et qu'il s'endormit [statt dormait d6jäj).
C. Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen. 525
Ein ebenso interessantes beispiel vom gebrauch des plusque-
parfait finde ich in der Eevue des dcux mondes vom 15 april 1893
s. 722: la r§volulion du 24 f6vrier 1848 6tait certainenient pour la
France une Strange aventure . . . les lögitimistes n'avaient süieraent
oontribn6 en rien ä la catastropbe. six mois avant, ils se resignaient
presque ä une Opposition de d6cence ou d'honneur pour le principe,
dös que lar6volution avait 6clate, ils retrouvaient leurs illusions.
ils n'afifectaient ni deuil ni regret usw. das dem dös que usw. vor-
hergehende six mois avant stellt uns vor den ausbrach, man könnte
daher dös que mit dem anlörieur erwarten, aber nur bei oberfläch-
licher betrachtung. der schriftsteiler versetzte sich und uns gleich
von vorn herein in die zeit, welche auf die revolution folgte, und
schildert gar die läge der verschiedenen parteien nach der revolu-
tion zu einer zeit, wo diese läge schon in ihrer mittleren dauer be-
grifi"en war. daher gleich ötaient und avaient, mit den besonders
charakteristischen certainement und sürement; und im einklang da-
mit dann auch nachher retrouvaient und affectaient. ständen die
Sätze 'six mois avant (la revolution du 24 fövrier 1848 müste man
dann hinzusetzen) les legitimistes' usw. und 'dös que . . .' allein, so
müste *eut 6clat6' gesetzt werden und 'ils retrouvörent', denn sechs
monate vorher lag die revolution mit ihren folgen noch in der Zu-
kunft, aber wie bei der Schilderung einer sitte und gewohnheit, tritt
auch hier die rücksicht auf das Zeitverhältnis dieser zwei sätze unter
sich, zu einander, zuiück hinter die auf den Standpunkt, von wel-
chem der Verfasser, gleich anfangs und überall, weiter die läge des
ganzen landes und aller parteien darstellt, auf den Standpunkt einer
zeit, die der februarrevolution folgt.
Man hat alle Ursache , den schüIer vor dem gebrauch des pass6
antörieur zu warnen.
Erstens kann man keinen aufsatz damit beginnen, also eine
arbeit über den zweiten punischen krieg nicht: vingt-deux ans se
furent, sondern s'ötaient öcoulöes depuis la fin de la premiöre
guerre punique, quand la deuxiöme commen9a, weil wir hier nicht
erst vor den 22 jähren stehen, sondern gleich dahinter, behandelt
man aber beide kriege zusammen und ist an dem schlusz des ersten
angekommen, so dasz die 22 jähre noch beginnen müssen, dann
kann man fortfahren: quand 22 ans se furent öcoulees usw. oder
ä peine 22 ans se furent-ils ecoulös que . . . denn dann kann man
diese jähre zuerst von der vorhergehenden, und zugleich von
der darauf folgenden zeit betrachten.*^
Zweitens musz das p. ant6rieur, selbst wo es stehen kann,
wenn in einem hauptsatz, mit einem adverbium der zeit oder einer
sonstigen Zeitbestimmung verbunden sein, die beim plusquepar-
^^ auf die im folgenden besprochenen punkte, wie auf manches
andere haben mich erst von meinen schillern gemachte fehler aufmerk-
sam gemacht.
526 C. Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen.
fait®* fehlen darf: a cinq heures oder cinq heures apr6s nous eümes
gagn6 la bataille.
Beim plusqueparfait i s t und b 1 e i b t die zeit, wo der sieg schon
gewonnen war, der Standpunkt, von dem wir diesen betrachten,
beim ant6rieur aber ist derjenige, von dem wir später den sieg be-
trachten sollen, von dem zuerst eingenommenen verschieden; und
sollen wir nicht auf diesem stehen bleiben, so müssen wir erfahren,
in welche spätere zeit wir uns versetzen sollen, das wann musz da-
her beim ant6rieur noch besonders ausgedrückt werden, hier ist
eben eine doppelte beziehung, die eine, von vorn herein gegebene,
auf das, was dem Inhalt des Satzes vorhergeht, die also keines
weiteren ausdrucks bedarf, die zweite, auf etwas zukünftiges oder
eine zukunft , für welche das zukünftige anterieur sell)st als ver-
gangen erscheint, und diese bedürfen noch des ausdrucks und be-
sonderer bezeichnung. dieselbe doppelte beziehung haben wir,
wie gesagt, auch beim futurum exactum; und so kann denn auch
dieses nie ohne Zeitbestimmung gebraucht werden: 'um sechs uhr,
nach sechs stunden, bald, werde ich die arbeit vollendet haben',
oder: 'wann ich sie vollendet haben werde, werde ich ausgeben',
während das einfache futurum einer solchen bezeichnung nicht be-
darf, weil auch dieses die handlung blosz von einem, schon be-
kannten Standpunkt, dem der gegen wart, als zukünftig hinstellt,
und ebenso verhält es sich mit dem einfachen passö döfiai, welches
blosz von dem einen bekannten Standpunkt der Vergangenheit, auf
den wii durch das vorhergehende versetzt werden, irgend etwas als
zugleich anfangend und vollendet oder verwirklicht vorführt.
Drittens: sagt man uns nicht, in welche zeit wir uns versetzen
sollen, so musz man das ant6rieur in einen nebensatz bringen: dös
que nous eümes gagn6 la bataille, nous retournämes dans nos foyers.
dann lenkt sich die aufmerksamkeit vom p. antörieur und gagn6 ab
auf retournämes, wir versetzen uns in die zeit der rückkehr, und der
nebensatz mit dem ant6rieur dient selber dazu, die zeit des haupt-
eatzes zu bestimmen.^''
Viertens: stehen mehrere deutsche plusquamperf. zusammen,
deren Inhalt zeitlich auf einander folgt, so dasz der des zweiten erst
anfieng, als der des ersten vollendet war, so steht trotzdem auch
das zweite im plusqueparfait, nicht im p. anterieur, wenn der Inhalt
beider nur von der zeit, die darauf folgt, betrachtet werden soll:
j'allai voir un homme qui avait acquis une grande fortune et s'6tait
retire dans une maisun de campagne. das maszgebende ist hier die
zeit des redenden, des subjects, des hauptsatzes, und als ich ihn be-
suchte, hatte er sich schon zurückgezogen.
In den meisten fällen, wo das anterieur gesetzt wird, ist bin-
"* nota bene, ausgenommen, wo ein plusqueparfait gesetzt wird und,
genau genommen, ein anterieur stehen sollte.
'■'^ dasselbe gilt vom futur ante'rieur.
C. Humbeit: die lehre vom gebrauch der Zeitformen. 527
gegen auch das plusqueparfait richtig oder zulässig, meistenteils
ist es eben nicht notwendig, dasz die von dem gesichtspunkte des
einen satzes oder verbums der Vergangenheit schon vergangene
handlung uns zugleich von dem des andern als noch zukünftig vor-
geführt wird, wie wir ja auch im deutschen, um unsei'e vielen hilfs-
verba zu vermeiden, das perfectura setzen statt des futurum exactum:
*wenn ich gearbeitet habe, werde ich spazieren gehen.' es gibt
aber auch fälle, wo das antörieur stehen musz; wenn nämlich, um
Zweideutigkeiten zu vermeiden, klar ausgesprochen werden musz,
dasz die betreffende handlung nicht blosz als eine schon vergangene
angesehen werden darf; so in folgenden Sätzen, die mir gerade in
diesem augenblick in einem schüleraufsatz entgegentreten , und wo
der Schüler den von mir gegebenen rat an verkehrter stelle befolgte :
le roi avait repris courage, depuis que la Pucelle lui avait promis
de le couronner ä Reims, lorsque oela avait 6t§ fait, on avait gagne
nn succös . . . hier folgen vier plusquep. auf einander, und da thut
man wohl daran, der Ordnung zu liebe und zugleich der abwechs-
lung wegen, zu unterscheiden, der erste nebensatz mit depuis que
erscheint nur als vergangen, vom Standpunkte seines hauptsatzes.
ebenso avait repris vom Standpunkt des vorhergehenden satzes, der
uns schon gesagt, dasz seine sachen jetzt besser standen, anders
aber mit der einnähme von Rheims. diese war erst von der Pucelle
versprochen worden, die ausführung lag noch in der zukunft, und
wird dies nicht durch das ant6rieur ausgedrückt, so müste man sich
in die zeit versetzt fühlen, wo auch sie schon eine thatsuche der Ver-
gangenheit geworden war. dann aber, und im gegensatz zu diesem
eut 6t6 fait, von dem gesichtspunkt der zeit, wo dies geschehen
war, kann man wieder fortfahren: on avait gagn6.
V. Platt n er über das plusqueparfait und das passe
anterieur, sowie das Verhältnis zwischen den verschie-
denen conjunctionen und Zeitformen.
Über den unterschied zwischen pass6 oder parfait anterieur
und das plusqueparfait sagt Plattner gar nichts, er gibt nur eine
praktische regel : jenes stehe hauptsächlich nach den conjunctionen
lorsque, quand , dös qne, sitöt que, aussitöt que, aprds que, ä peine
. . . que, ne . . . pas sitöt . . . que, ne . . . pas aussitöt . . . que, ne
. . . pas plus tot . . . que; jedoch stehe nach den fünf ersten auch
das plusquep., und nach ä peine . . . que sogar häufig, also nicht
nach aprös que und den drei letzten mit ne pas . . . que.
Es liegt auf der band, dasz der grund, weshalb eine conjunctiou
gerade mit der einen und nicht mit der andern zeitform verbunden
wird, nur in der Verwandtschaft dieser zeitform mit der conjunction
gesucht werden darf, hat letztere eine allgemeine unbestimmte be-
deutung, wie die copulativen, disjunctiven, adversativen u. a. , so
liegt kein grund vor, weshalb sie nicht die verschiedensten tempora
an einander reihen sollte, es kommt auch hier tiberall nur auf die
zeit und den Standpunkt an, von denen man eine handlung betrachtet,
528 C. Humbert : die lehre vom gebrauch der Zeitformen.
auch bei den rein temporalen, causalen'®, conclusiven. so stehen
pendant que und tandis que, die im allgemeinen daraufhinweisen,
dasz etwas in seiner mittleren dauer begriffen war, meist mit dem
imparfait; hingegen dds . . ., (aus)sitöt . . ., ä peine . . ., ne pas . . .
(aus)sitöt . . . , ne plus tot . . . (alle mit folgendem que), meist mit
dem d6fini oder ant6rieur, weil bei ihnen der gedanke an den an-
fangs- und endpunkt der thätigkeit schärfer hervortritt, natürlich
stehen aber auch nach ihnen imparf. und plusquep., wenn von einer
gewobnbeit, die in ihrer mittleren dauer vorgeführt werden soll,
und von ereignissen oder dingen die rede ist, die gar nicht verwirk-
licht werden, die sich die phantasie blosz vormalt, überhaupt in
allen den fällen, wo, ihrer bedeutung nach, jene conjunctionen stehen
können und die Zeitverhältnisse ein impf, oder plusqpf. verlangen.
Folgende bemerkungen über si, comment, que u. a. mögen die
Sache aufklären.
Platiner sagt richtig, nach 'si, wenn' stände gewöhnlich das
imparf., selten das dd'fini; auszer in der redensart 's'il en fut'. über
letztere habe ich schon gesprochen, sie fordert das d6fini, weil die
ganze vergangene ewigkeit in eins zusammengefaszt wird, und
in dieser ewigkeit das Vorhandensein mit seinem anfangs- und
endpunkt." soll überhaupt der Inhalt des satzes mit si als wirklich
angefangen und vollendet hingestellt werden'^, so steht auch das
tempus, welches anfang und ende hervorkehrt, erscheint aber die
Verwirklichung der bedingung als zweifelhaft, so gilt das über
die blosz gedachten, wohl in der phantasie, aber nur in ihr an-
gefangenen und so schon und noch in ihrer mittleren dauer be-
griffenen Ibätigkeiten bemerkte.
Si Menzikoff fit cette manoeuvre de lui möme, la Russie lui
dut son Salut; si le czar l'ordonna, il 6tait un digne adversaire de
Charles XII (Voltaire, Ch. XII livre 4). das manöver ward aus-
geführt, der befehl ward erteilt, ebenso wie Ruszland dem Menzi-
koff wirklich seine rettung verdankte, eine wirkliche folge jenes
manövers, die erst später eintrat, während die mit 6tait angeknüpfte
bemerkung eine blosze logische folgerung ist, die man zu der
zeit, wo das manöver angefangen und ausgeführt ward, als schon
und noch vorhanden in ihrer mittleren dauer denken musz, als den
sachlichen grund oder die Voraussetzung, die jenes manöver
erklärt, dies Verhältnis von Ursache und Wirkung haben w^ir auch
in den folgenden Sätzen.
Si eile prit sein d'attiser le feu par une innocente coquetterie.
ä^ vgl. das schon früher hierüber bemerkte.
^'^ prewöhnlich übersetzt man 'es gibt' mit il y a ; d.ns seltenere il
est läszt durch den gegensatz zwischen seiner kürze und der von ihm
nmfaszten zeit diese noch mehr hervortreten.
8*' ganz wie bei den causalsätzeu, in denen eine angefangene und
vollendete handlung (ereignis usw.) als Ursache von etwas anderem
erscheint.
C. Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen. 529
c'est qu'elle tenait ä s'assurer la conqu6te de son mari (About,
Germaine, Hachette 1890 s. 211 eh. 10).
Si son d6part (celui de la marquise) contraria Raymond, qui
regrettait les divertissements journaliors du chäteau, Gustave se
ifejouissait de se retrouver seul. (ich weisz nicht mehr, woher
entnommen.)
In beiden sätzen soll die bodingung als wirklich erfüllt hin-
gestellt werden, und als eine folge, die anfieng und ausgeführt ward,
als ihr grund, das regretter und tenir, schon und noch in der
mittleren dauer begriffen war; gleichzeitig mit dem regretter des
einen aber erscheint hier das se r6jouir des andern.
Etwas anders ist das Verhältnis in den zwei folgenden sätzen.
Si monsieur Taconet eut la vie sauve, cela prouve qu'il est
solidement bäti et de forte trempe (Revue d. d. m. 15 d6c. 79 s. 841,
Cherbulier).
Si Rosina ne chanta pas, c'est qu'elle se contraignit au
silence pour ne pas se trahir (Revue d. d. m. 1 fövr 1880 s. 517).
Auch hier haben wir Ursache und Wirkung; nur steht in
dem ersten satz die schon vorhandene, schon und noch in ihrer
mittleren dauer begriffene Ursache im pr6sent statt des imp. , weil
nicht der Schriftsteller spricht, sondern eine person , die in dem
roman selbst eine rolle spielt und für die herr Taconet nicht kräftig
gebaut war, sondern ist; der satz mit si aber wieder im p. d6fini,
weil das avoir la vie sauve wirklich anfieng und ausgeführt ward,
in dem zweiten stehen die Ursache und die scheinbare wirkung im
p. dfefini; sie sind im gründe gleichzeitig (sie sang nicht, sondern
sie schwieg) und bezeichnen zwei angefangene und vollendete that-
sachen, deren wirkliche Ursache der infinitiv ausdrückt; denn pour
ne pas se trahir ist gleichbedeutend mit parce qu'elle ne voulait
pas se trahir. weil es nicht heiszt: c'est qu'elle se tut, sondern: se
contraignit au silence, kann man freilich auch ne chanta pas als
folge davon ansehen, während contr. selbst eine folge von dem in-
finitivsatze bleibt; das hat aber für uns keine weitere bedeutung.
die hauptsache ist eben hier das si mit dem döfini, und dieses er-
klärt sich daraus, dasz ne chanta pas nicht eine schon und noch
vorhandene Ursache angibt, sondern eine wirkung, deren anfangs-
und endpunkt man in eins zusammenzieht, die anfieng und au.<-
geführt ward.
Gleichzeitigkeit haben wir ferner in ce fut a peine s'il put
bögayer un nom : wenn er dies konnte (und er konnte es wirk-
lich, es gelang ihm), so geschah es nur mit mühe.
In den meisten fällen freilich ist das Verhältnis wie in dem
schlusz einer erzählung von den bäckern, die den polizeivorsteber
von Lyon um die erlaubnis bitten, den preis des brotes zu erhöhen,
sie lassen eine börse mit 200 louisd'or auf dem tische liegen, um
ihn zu bestechen; er aber verteilt das geld unter die armen und: il
leur fallut faire bonne mine ä mauvais jeu; car ils craignaient
530 C. Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen.
que la justice n'intervint s'ils redemandaient leur argent. das
zurückfordern ward thatsächlich weder angefangen noch ausgeführt,
es war als wünsch in ihrem geiste vorhanden; gleichzeitig aber mit
diesem wünsch und ihm das gleichge wicht haltend ihre furcht; und
eben, weil diese jenen paralysierte, ward der wünsch nicht zur that,
sondern vielmehr das faire bonne mine ä mauvais jeu; und deshalb
habe ich hier das deutsche imperfectum 'musten' mit fallut wieder-
geben, während das nicht verwirklichte redemander im imparfait
steht, il fallait würde noch nicht ausdrücken, dasz sie wirklich
gute miene zum bösen spiel machten. ^^ s'ils redemandörent hiesze:
wenn es wahr ist, wirklich geschah, dasz sie zurückforderten, und
ebenso, um dies gleich hier zu berühren, ist si 'wenn' mit dem con-
ditionnel zu erklären, so: le fils est encore bien plus avare que son
p6re; car si ce dernier rendrait des points ä Harpagon, l'autre ne
rendrait rien du tout. 'wenn' oder 'so gut wie das eine wahr ist,
ist es auch das andere.' und in Moliöres avare selber III 7 : si vous
auriez de la repugnance äme voir votre belle- möre, je n'en aurais
pas moins Sans doute ä vous voir mon beau-fils'"" == 'wenn es wahr
ist, dasz Ihr . . ., so ist es auch wahr, das ich . . .'
Man vergleiche noch die i?ätze: 'je ne sais (oder savais) comment
il fit (wie er es anfieng), pourquoi il le fit' und: 'je ne saurais vous
dire ce qu'il fit' mit je vis oder voyais bien oder je ne saurais vous
dire (je ne sais oder ne savais pas) ce qu'il faisait und je savais, vis
oder voyais bien qu'il dorm a it. hier erscheinen dormir und faire
in engster zeitlicher Verbindung mit dem verbum des hauptsatzes :
ich sah usw. was er zu der zeit that, wo ich hinsah; da war dieses
thun und ebenso das dormir schon und noch in seiner mittleren
dauer begriffen; in dun vorhergebenden Verbindungen aber stehen
haupt- und nebensatz in gar keiner zeitlichen beziehung zu einander;
der von der zeit des hauptsatzes unabhängige inhalt des nebensatzes
soll hingestellt werden als etwas, das früher einmal, zu seiner zeit,
anfieng und zugleich zu ende geführt ward, man vergleiche auch
noch die früher angeführten Sätze mit dem passö anterieur und die
stelle aus dem einen über Alexander: qui voulurent uu jour d6truire
leur civilisation.
Meine erklärung des Unterschiedes zwischen plusqpf. und
p, anterieur und die bemeikung, dasz jede conjunction mit dem
tempus verbunden werden kann und wird, mit dem sie ihrer be-
deutung nach überhaupt oder in dem einzelnen falle verwandt ist,
stimmt nicht zu Plattners regel, dasz nach aprös que nur das passö
anterieur steht, auch ist dies nicht richtig, hier ein beispiel aus
der einleitung zum Misanthiope in der schönen Despois-Mesnard-
schen Moliöre-ausgabe (bei Hachette) bd. V s. 401: 'comme acteur,
99 vergleiche das früher ütjer fallut und fallait bemerkte.
"" siehe die anmerkiinjr zu dieser stelle in meiner Avare-ausgabe
(Seemann, Leipzig).
C. Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen. 531
on goütait Dancourt surtout dans le haut comique, et Ton avait
gard6, en 1725, annöe de sa raort, et huit ans aprös qu'il avait
quittö le th6ä,tre, le Souvenir de son succös dans le röle d'Aleeste.'
hier mus/. das plusqpf. stehen, eben weil sein abgang von der bühne
nur von der darauffolgenden zeit aus betrachtet wird, und nicht zu-
gleich und erst von der vorhergehenden.
Ebenso in der Mesnardschen Molidre-biographie derselben aus-
gäbe s. 252: aprös qu'elle (= la petite Menon) lui avait inspire
(= ä Moliöre) le vif et tendre interöt que Chapelle connaissait, on
ne s'expliquerait pas qu'il füt impossible de la retrouver (in der
späteren zeit, in der wir jetzt stehen, als Moliöre sieh
verheiratete) piös de lui, comme si tout a coup il l'eiit entiörement
perdue de vue. betrachteten wir aber den inhalt des nebensatzes von
dem Standpunkt der zeit, die ihm vorhergieng, so müste eut stehen,
um den anfang auszudrücken.
Auch in folgender stelle aus den memoires du chancelier
Pasquier über das Verhältnis Napoleons zu Talleyrand konnte
ä peine nicht mit dem p. antörieur stehen: 'Napoleon avait ä peine
franche les Pyren6es et fait quelques pas sur la roaie de Madrid que
döja l'aigreur et le möcontentement de M. de Talleyrand se mani-
festaient.' der Verfasser hatte nämlich vorher schon sich und uns
in eine zeit versetzt, wo die reise nach Madrid schon der Ver-
gangenheit angehörte, er redete zuerst vom 4 dec. 1808, wo 'Madrid
6tait occup6 par les troupes fran^aises, commandees par l'em-
pereur'. dann 23 jan. 1809, wo 'il se trouvait rentr6 dans son
palais des Tuileries', und unter den gründen, die ihn zu einer so
plötzlichen rückkehr genötigt hatten, führt er auch die intriguen
Talleyrands an, die schon angefangen hatten sich zu zeigen (se mani-
festaient), als Napoleon kaum die Pyi-enäen überschritten hatte. ""
Noch ein plusqpf. mit lorsque: sa tentation de 1777 (de Larive,
de jouer l'Alceste du Misanthrope) meriterait peu d'ßtre mentionnöe,
si, 13 ans plus tard, et lorsqu'il 6tait devenu une des grandes
renommees du th6ätre, il ne 1' avait renouvelöe avec plus de
bonheur (Moliöre von Despois-Mesnard V s. 404). hier hätte vom
Standpunkte des jahres 1777 die zeit, wo er eine der groszen be-
rühmtheiten war, als zukünftig angesehen und daher lorsqu'il fut
gesagt werden können; der satz mit lorsque ist aber abhängig ge-
macht von s'il ne l'avait renouvel6e, und von dem Zeitpunkt muste
das berühratwerden als schon hinter ihm liegend gedacht werden.
Und wie mit diesem lorsque und dem vorher besprochenen
a peine und apräs, so verhält es sich auch mit ne pas sitöt (aussitöt)
que, ne p. plus tot que. nur kommen diese seltener mit dem
plusqpf. vor als a peine, weil sie wohl überhaupt seltener gebraucht
werden, sie bedeuten aber im gründe dasselbe; daher auch dieselbe
behandluncr.
"»• Revue d. d. m. 15/6 93 s. 764 f.
532 C. Humbert: die lehre vom gebrauch der Zeitformen.
Glücklicherweise stosze ich noch vor thoresschlusz auf eine
bestätigung meiner behauptung in der Revue des deux mondes vom
1 mai 1893 s. 9: 'Napol6on III n'avait pas plus tot fait l'Italie,
qu'il la blessait au coeur en lui refusant Rome.' der Verfasser gibt
daselbst eine Charakteristik Napoleons und betrachtet so sein leben
vom gesichtspunkt der nachweit: 'kaum hatte er als ideologe Italien
geschaffen, da verletzte er es auch schon in einem brusque retour
ä la politique de tradition. dies erscheint hier als einer der belege
von den Widersprüchen seines wesens. als ein teil der daraus her-
vorgehenden handlungen, die als sitte, gewohnheit, eigenschaft nur
in ihrer mittleren dauer und vom Standpunkt einer späteren zeit
aufgefaszt werden, bildete obiger satz hingegen einen teil einer
biographie, die alle einzelnen ereignisse in ihrer reihenfolge unter
sich vorführt, wie sie anfiengen, ausgeführt wurden und einander
folgten, so müste es heiszen: il n'eut pas plus tot fait Tltalie
qu'il la blessa au coeur, wenigstens, wenn vorher noch nicht die
Schöpfung Italiens erwähnt worden wäre.
Zum schlusz möchte ich noch auf den, so aus dem zusammen-,
hang gerissen, von mir beanstandeten satz bei Plötz zurückkommen:
'die blicke der Römer hatten sich schon auf den Pompejus gerichtet,
als es sich darum handelte, einen anführer für den krieg gegen die
Seeräuber zu wählen.' er ist richtig, wenn andere sätze vorher-
gehen oder folgen, die uns in eine zeit versetzen, die auf jenen krieg
folgte, z. b. 'in dem und dem jähre war Pompejus der mächtigste
und angesehenste in Rom. ja vorher schon hatten die blicke . . .'
dann aber müste 'hatten sich gerichtet' durch das plusqpf. wieder-
gegeben werden, weil es nur von dem Standpunkt der folgenden und
nicht zugleich der vorhergehenden zeit angesehen wird.
Bielefeld. C. Hdmbert.
30.
Zu SCHILLERS WALLENSTEIN.
1. Buttler.
In seinen dispositionen zu deutschen aufsätzen behauptet Cho-
levius, dasz Buttler in seinem Charakter auffallende Widersprüche
babe; ebenfalls behauptete ein dichter wie Otto Ludwig, 'man werde
aus Buttlers Charakter nicht klug, denn erst dränge er sich zu dem
auftrage aus räche, dann sehe er sich als das willenlose Werkzeug
des Schicksals an'; nicht minder endlich fand ein kenner der Schiller-
schen dichtung wie Hoffmeister in den beweggründen von Buttlers
handeln einen Widerspruch, diese erklärer, meint Bellermann ', sehen
einen Widerspruch in Buttlers äuszerungen gegen Octavio ( W. T, II 6)
' Schillers dramen II 113.
U. Zernial : zu Schillers Walleustein. 533
und seinen werten zu Gordon (W.T. IV 6 u. 8) nach dem eintreEFen
der botscbaft von dem siegreichen herannahen der Schweden; hin-
gegen ist er selber der ansieht, es sei offenbar alles vollkommen
klar und übereinstimmend, 'anfangs', sagt er, 'braust sein wütendes
rachegefühl wild empor, nachher aber, als es an die ausführung geht,
ist es gerade ein gaaz vortrefflicher zug, dasz man es selbst diesem
harten und persönlich so furchtbar gereizten manne, den Gordon
einen felsen nennt, aufs deutlichste anfühlt, wie ihn das gräszliche
des feldherrnmordes packt, er würde ihn ohne zweifei lebend ge-
fangen genommen und dem kaiser überliefert haben, wie ja schon
«alles verabredt» war, wenn dies möglich gewesen wäre, da es aber
beim nahen der Schweden unmöglich ist, wie selbst der weichmütige
Gordon gestehen musz, so ist ihm eben nur «der tote gewis». dies
sieht er klar ein und schwankt keinen augenblick in seinem ent-
schlusse. aber er fühlt das furchtbare der beabsichtigten that so
sehr, dasz er die unab weisliche notwendigkeit so stark als möglich
betont, wo soll hier ein widersprach stecken?' ich bin ganz ein-
verstanden mit dem hier zur motivierung herangezogenen hinweise
auf den respect des generals vor seinem oberfeldherrn , der sich so-
gar in den werten eines mit Buttler (W. T. V 2) verhandelnden
Deveroux wiederspiegelt :
doch sieh, wir sind Soldaten, und den feldherrn
ermorden, das ist eine sünd' und frevel,
davon kein beichtmöncli absolvieren kann,
kann mich aber mit diesem beweise noch nicht begnügen, weit ent-
fernt davon glauben zu können, dasz ein so klar und scharf ge-
staltender dramatiker wie Schiller in der Charakteristik seiner her-
vorstechendsten und für die handlung wichtigsten persönlichkeit,
wie Buttler es ist, sich widersprechen sollte, denke ich vielmehr be-
weisen zu können, dasz gerade in Buttlers ehavakterzeichnung der
dichter ein meisterwerk geschaffen hat. — Wallensteins verrat am
kaiser ist das tragische ziel des dramas, und das Lager sowohl wie
die beiden ersten acte der Piccolomini lassen uns gleich erkennen,
dasz das Verhältnis zwischen dem kaiser und seinem feldherrn bereits
unhaltbar geworden ist. dasz der kaiser versuchen muste vor
diesem verrate sich zu schützen, und dasz es auch in Wallensteins
eigenster Umgebung leute geben mochte, die ihn zu schützen bereit
waren, versteht sich solch einem verbrechen (W. T. I 4, 179) gegen-
über ganz von selbst; war doch Wallensteins beginnen
die macht,
die ruhig, sicher thronende (zu) erschüttern,
die in verjährt geheiligtem besitz,
in der gewohnheit festgegriindet ruht,
die an der Völker frommem kinderglauben
mit tausend festen wurzeln sich befestigt.
so nahm denn Schiller als gegenspieler zunächst den auch geschicht-
lich gegen ihn arbeitenden generallieutenant grafen Octavio Picco-
534 U. Zernial: zu Schillers Wallenstein.
lomini. 'dieser spielt', wie Werder^ sagt, 'sein spiel mit dem ein-
satze seines lebens. indem er den gefährlichen feind in nächster
näbe bewacht und gegen ihn operiert, thut er es mit gefahr seines
kopfes, in jeder minute. der kleinste fehler, das geringste mis-
gescbick — und Illo und Terzky haben gründlich acht auf ihn —
würde ihn der räche des gewaltigen wehilos überliefern , dessen
macht unbegrenzt war. aber er hält aus auf seinem posten, auf den
er ebenso wohl gestellt ist, als er sich daraufgestellt hat; er will
es, weil er es ist, der diesen dienst leisten soll und leisten kann.'
eine solche rolle wie die des Ociavio auch nur auf der bühne zu
spielen erweckt an und für sich wenig Sympathie, und der bekannte
kritiker K. A. Böttiger hatte in einer Besprechung der ersten auf-
führung der Piccolomini den Octavio einen buben genannt, darauf
erwiderte Schiller im taschenbuche Minerva, Jena, den 1 märz 1799:
'es lag nicht in meiner absieht, noch in den worten meines textes,
dasz sich Octavio Piccolomini als einen gar so schlimmen mann, als
einen buben darstellen sollte, in meinem stücke ist er das nie, er
ist sogar ein ziemlich rechtlicher mann, nach dem weltbegriffe, und
die Schändlichkeit, welche er begeht, sehen wir auf jedem welttheater
von personen wiederholt, die so wie er von recht und pflicht strenge
begriffe haben, er wählt zwar ein schlechtes mittel, aber er verfolgt
einen guten zweck, er will den staat retten, er will seinem kaiser
dienen, den er nächst gott als den höchsten gegenständ aller pflichten
betrachtet, er verrät einen freund, der ihm vertraut, aber dieser
freund ist ein Verräter seines kaisers und in seinen äugen zugleich
ein unsinniger.' wie Schiller demnach den Octavio aufgefaszt wissen
wollte, darüber kann nach den eben angeführten worten kein zweifei
sein, und Octavio kommt denn auch zu seinem recbte bei Werder\
Bellermann ^ und in dem trefflichen aufsatze von Beckhaus '^: Octavio,
'der katholik, der kaiserliche offiiier, der österreichische edelmann,
kein fremdling und emporkömmling wie Buttler, ein mann, für den
der kaiser sein geborener oberherr ist, während Wallenstein sein
obergeneral erst geworden ist (Picc. I 4, 436) — wer will ihm zu-
muten zum Verräter zu werden, weil sein freund dazu wird?' hin-
gegen teilt er dem kaiser mit, was er gehört hat; der kaiser ver-
langt von ihm, dasz er bleibe; er schreibt ihm sein benehmen vor.
offen handeln kann der kaiser nicht, weil Wallenstein zu mächtig
ist; Octavio kann auch nicht öffentlich als kläger auftreten, wie
hätte er den beweis liefern können? nicht einmal sein söhn würde
ihm geglaubt haben, so musz Octavio niedrige mittel gebrauchen.®
schon auf eine im sinne des Wallenstein herausfordernde au.slassung
Terzkys, den berüchtigten Pilsener revers zu unterzeichnen, soll er
mit dem rufe 'o traditore' geantwortet haben, und doch unter-
* Vorlesungen über Schillers Wallenstein s. 142 f.
3 a. a, o. s. 131 ff. * a. a. o. s. 93 ff.
^ zu Schillers Wallenstein, Pr.-Oslrowo 1892.
« ebd. s. 19.
U. Zernial: zu Schillers Wallenstein. 535
zeichnete er später: er wollte 'dissimulierend', wie er sich von da
ab mit verliebe ausdrückte, ihn beim fortgange des conflictes mit
dem Kaiser in Sicherheit wiegen, einem Wallenstein gegenüber seine
per^on unvorbereitet blcszzustellen , dazu war der Italiener Octavio
Piccolomini doch zu klug.'' überraschen, sagt er zu Questenberg
(Picc. 1 3, 340),
kann er uns nicht; Sie wissen, dasz ich ihn
mit meinen horchern rings umg'eben habe;
vom kleinsten sehritt erhalt' ich Wissenschaft
sogleich — ja, mir entdeckt's sein eigner mund.
und gleich darauf:
denken Sie nicht etwa,
dasz ich durch lügenkünste, gleisnerische
gefälligkeit in seine gunst mich stahl,
durch heuchelworte sein vertrauen nähre,
befiehlt mir gleich die klugheit und die pflicht,
die ich dem reich, dem kaiser schuldig bin,
dasz ich mein wahres herz vor ihm verberge,
ein falbches hab' ich niemals ihm geheiichelt!
Es ist unzweifelhaft, dasz wegen dieser eigentümlich peinlichen
Stellung des Octavio zu Wallenstein der dichter eine eigentliche
Unterredung der beiden männer im drama vermied. Octavio spricht
zu Wallenstein niemals, nur zweim.al Wallenstein zu Octavio, aber
aus diesen beiden malen leuchtet die klarste ironie in bezug auf das
Verhältnis der beiden hervor, am Schlüsse des zweiten actes der
Piccolomini empfiehlt Wallenstein den kriegsrat Questenberg der
fürsorge des Octavio mit den worten:
Octavio, du wirst
für unsers gastes Sicherheit mir haften.
als wenn das noch nötig wäre! und am anfange des zweiten actes
von Wallenstt'ins Tod spricht Wallenstein einundzwanzig Zeilen,
während Octavio wie mit einem undurchdringlichen schuppenpanzer
versehen schweigend dasteht und den fast einem regenstrome gleichen-
den redeflusz stumm über sich ergehen läszt. und doch ist diese
stelle dramatisch von ganz auszerordentlicher bedeutung. Octavio
wartet mit dem letzten schritte, bis Wallenstein eine that gethan
hat, die unwider^prechlich den hochverrat bezeugt, und fühlt sich
dann zum Vollstrecker der nemesis und zum rächer seines kaisers
berufen, so spricht er in dem Piccolomini V 1, 2477:
mit leisen schritten schlich er seinen bösen weg;
so leis' und schlau ist ihm die räche nachgeschlichen.
schon steht sie ungesehen, finster hinter ihm,
ein schritt nur noch, und schaudernd rühret er sie an.
da nun aber Octavio von Wallenstein selbst in seinen entscblusz und
seine that eingeweiht ist, so trifft jener sofort die nötigen masz-
"> V. Sybel, bist, ztschr. 72 s. 439: Wallensteins katastrophe von
Wittich.
536 ü. Zernial: zu Schillers Wallensteiu.
regeln: aus der art und weise, wie in der fünften und sechsten
scene des zweiten actes von Wallensteins Tod Octavio dem Isolani
und dem Buttler gegenüber auftritt, erkennen wir, was während
jener worte Wallensteins in Oetavios köpfe vorgieng. indem jener
ihm den auftrag gibt die gegner Gallas und Altringer festzunehmen,
geht Octavio eben damit um, Wallensteins anhänger, Isolani und
Buttler, im falle des Widerstandes festzunehmen, um so weniger
aber war Octavio in dieser läge geneigt den mund auf-(uthun: mag
Wallenstein reden, so lange er lust hat, ihn selbst beschäftigt in-
zwischen etwas anderes, ich stimme daher mit Werder^ überein,
wenn er diese eigentüinlichkeit der dichtung eine geniale, charakte-
ristische, nur einmal existierende, nur durch das wesen Wallen-
steins mögliche nennt. Svann hätte Friedland unsers rats bedurft?'
heiszt es von Wallenstein in den Piccolomini V 1, 2384, und oft-
mals hören wir, wie er die Schwätzer Terzky und Illo verhöhnt und
zurechtweist, er, der überlegene, der unfehlbare, aber Oetavios
Stellung und handeln in diesem wichtigen augenblicke kommt auch
mit in betracht, und meiner ansieht nach sogar noch ein drittes,
scheidend thut Octavio den mund auf, aber nur gegen seinen söhn:
'wir sprechen uns noch' — und mir ist's, als wenn Schiller nicht
blosz für hörer und leser hätte daraufhindeuten, sondern auch sein
eignes empfinden hätte oflFenbaren wollen, dasz Max hier ganz be-
sonders zu beachten ist. seit dem Schlüsse der Piccolomini ist
Octavio mit seines sohnes denken und sinnen vertraut, und wenn
auch der söhn nicht bei Wallenstein verbleibt, der ihm bisher 'wie
der feste stern des pols, ihm als die lebensregel vorgcschienen', so
hören wir doch aus seinem eignen munde (W. T. III 18, 2130),
dasz er den vater nicht verteidigen kann, die existenz des Max
forderte demnach in der Ökonomie des Stückes, dasz Octavio, dessen
wahres gesicht nach seineu eignen Unterredungen wie denen des
Wallenstein mit Max nur zu leicht geotfenbart werden konnte,
Pilsen möglichst bald verliesz, und darum hüllt er sich in ein wohl-
bedachtes schweigen. — So gieng er denn, von dem eben gewonnenen
Isolani noch besonders zur eile gemahnt (W. T. II 6, 1185 flf.), nach
Linz — geschichtlich hat er den Wallenstein, den verblendeten, um
die erlaubnis gebeten, den grafen Gallas von Frauenberg zurück-
zuholen, wozu ihm des herzogs eigner wagen zur Verfügung gestellt
wurde, und sein versprechen zurückzukehren erfüllte er an der spitze
seiner armee, um den herzog in Pilsen zu überfallen: er hat ihn also
überlistet. — Wenn nun aber, wie oben bereits bemerkt, der kaiscr
vorher von ihm verlangt hatte zu bleiben, durfte er denn jetzt von
ihm gehen? ja. erstens war es für den kaiser von ganz besonderer
Wichtigkeit, j<i näher die entdeckung des Verrates und die Vernich-
tung Wallensteins rückte, in gröszerer nähe von ihm selber und
von Wallenstein entfernt einen so zuverlässigen vermittler für
a. a. o. s. 161.
U. Zernial: zu Schillers Wallenstein. 537
seine sache in Octavio tu besitzen, sodann aber muste Oetavio fest
davon überzeugt sein, dasz der mann, den er als seinen ersatzmann
in der nähe des geächteten zurückliesz, seine rolle ebenso gut spielen
werde wie er selber: es ist kein anderer als Buttler.
*In Buttler', meint Fielitz^, 'gewinnt er eine rächende band,
die über Wallensteins haupt schweben soll, während Octavio selbst
fern von seinem opfer des kaisers geschäfte treiben will, wieder
ein feiner kunstgriff des dichters. Octavios gestalt muste frei
bleiben von dem odium der ermordung, und dafür eine andere
härtere, derbere, mehr eine Hagennatur herangezogen werden.'
Fielitz wird das 'rausto' so verstehen , dasz Octavio gewissermaszen
des kaisers band selber war, dasz Octavio äuszerlich Wallensteins
freund war, dasz Octavios söhn ebenfalls Wallensteins freund war,
und ich bin auch damit einverstanden, dasz er Buttler eine Hagen-
natur nennt, bin aber der ansieht, dasz bisher auch nicht von einem
einzigen erklärer, auch nicht von Werder'", so vorzüglich auch sonst
seine auffassung von Buttlers Charakter ist, die charakterentwicklung
des mannes mit all ihren 'kleinen zügen' von der ersten ^cene der
Piccolomini bis zur vorletzten, der elften in Wallensteins Tod in so
genügender weise behandelt ist, dasz man Buttler als den eigentlichen
gegenspieler erkennt, und Schillers gerade hierin überaus hervor-
ragendes muster meisterhafter Charakteristik seine volle anerkennung
findet.
'Die grundlage in ihm', sagt Werder, 'ist die plebejische
natur, und diese seine :?pecies ist an ihm vom dichter durch eine
fülle charakteristischer züge aufs feinste und consequenteste aus-
geprägt, aus jedem worte, das er spricht, hören wir die art seiner
carriere.' ich höre noch mehr — aus all den worten, die ihm
Schiller in den mund legt , erkennen wir nicht blosz den plebejer,
sondern auch den nach altgermanischer bezeichnung ungetreusten
mann; während Hagen doch nur ungetreu ist gegen jeden, der die
ehre und die macht des königshauses gefährden möchte , dem er als
verwandter und dien&tmann verbunden ist, entladet Buttler die
ganze finstere, feindselige, heimtückische gesinnung und gewalt
seines wesens, all seinen höhn und seine härte gegen Wallenstein
nur aus reiner Selbstsucht, nur aus gekränkter eitelkeit und infolge
persönlicher Verletzung seines ichs.
Das Lager erwähnt den Buttler im 7n auftritte; 'jetzt nennt
man', heiszt es da, 'ihn generalmajor.'
flas macht, er thät .sich basz hervor,
thät die weit mit seinem kiiegsruhm füllen.
In den Piccolomini I 1 erklingt nach seinen ersten gleich-
gültigen Worten: 'es ist schon lebhaft hier, ich sah's' — gleich der
erste miston für das ganze drama, wenn er sagt: 'auf Gallas wartet
^ Studien zu Schillers diamen, Leipzig 1876, s. 39.
'0 a. a. o. s. 162—173.
N jahrb. f. phil. u. päd. 11. abt. 1897 hfl. 10 u. 11. 35
538 U. Zeruial: zu Schillers Wallensteio.
nicht.' Illo stutzt, fragt: 'wie so? wiszt Ihr' — und wird zunächst
von Isolani durch ein gespräch über Max Piccolomini unterbrochen,
kehrt aber zu dem gegenstände des gesprächs zurück, nachdem er
'Buttler ein wenig auf die seite geführt hat', indem er fragt: 'wie
v»isztlhr, dasz graf Gallas auszen bleibt?' Buttler antwortet 'mit
bedeutung' : 'weil er auch mich gesucht zurückzuhalten.' als dann
aber Illo, ihm warm die hand drückend, spricht: 'und Ihr seid fest
geblieben? wackrer Buttler', hat er keine andere antwort als:
nach der Verbindlichkeit, die mir der fürst
noch kürzlich aufgelegt — .
ich zweifle nicht daran, dasz Schiller durch die auf Gallas bezüg-
lichen Worte auch darauf hat hinweisen wollen, dasz Buttler dem
Gallas als ein solcher mann erschienen ist, und dieser ihn für einen
solchen Charakter gehalten hat, bei dem ein versuch ihn von Pilsen
fernzuhalten von erfolg begleitet sein konnte, was bedeutet nun aber
gar die letzte aposiopese? er will eigentlich sagen: 'wegen meiner
beförderung zum generalmajor konnte ich nicht anders, sonst wäre
ich wie Gallas nicht gekommen', aber genau genommen sagt er so
schon zu viel; trotzdem nämlich lauter mutmaszliche freunde des
fürsten um ihn herum sind, ist Buttler doch von dem interesse für
seine person so erfüllt, dasz er, die vorsieht vergessend, schroff und
kalt sein innerstes, die kalte rücksichtslosigkeit und den kühlen
egoismus in wenn auch nicht geradezu klar ausgesprochenen werten,
so doch in wohl verständlicher weise offenbart, und wenn nachher
von kaiserlichen forderungen die rede ist, so hofft er, 'der herzog
werd' in keinem stücke weichen' — um seines Vorteils willen; ja
als Illo darauf sagt 'wenn nur nicht — vom platze!' — spricht er
'betroffen' : 'wiszt Ihr etwas? Ihr erschreckt mich' und gleich darauf
'den köpf bedenklich schüttelnd': 'ich fürchte, wir gehn nicht von
hier, wie wir kamen.' er erschrickt, und zwar nur um seines Vor-
teils willen; bisher hat er bei Wallenstein gute earriere gemacht,
und zum grafentitel will ihm, wie er meint. Wallenstein auch ver-
helfen, dieses letzte wort hat aber noch einen besondern klang für
den, der daran denkt, dasz W. T. III 23 Wallenstein zu Buttler sagt:
der commandant zu Eger
ist Euer freund und landämnun. schreibt ihm gleich
durch einen eilenden, er soll bereit sein,
uns morgen in die festung einzunehmen —
Ihr folgt uns selbst mit Kurem regiment.
hier ist es also Buttler selber, der seine eigne frühere Vermutung
von einer besondern art des fortganges von Pilsen zur Wahrheit
machen und selber dafür helfend eintreten musz, dasz Wallenstein
von dort nach Eger zieht: 'er that's', so sagt er, 'ihn desto sichrer
zu verderben' (W. T. V 2). so zeigt jene ganze erste scene der
Piccolomini den Buttler als einen grassen egoisten, der ganz und
gar so vom nutzen regiert wird , dasz er nur aus rücksicht auf den
eignen nutzen etwaige andere ansichten, maszregeln und plane so-
U. Zernial: zu Schillers Wallenstein. 539
fort ändern kann, in dieser ersten scene ist demnach vom dichter
der haken schon ausgeworfen, an dem die handlung des dramas
hängen bleibt, um tragisch zu enden, so klärt schon die erste scene
der Piccolomini tiber die tiefsten gedanken des dichters wie über
die feinsten fäden der gewaltigen dichtung auf, und so wenig wie
der dichter gegen Lessings gebot in dem 27n stücke der Hamburgi-
schen dramaturgie verstöszt, dasz 'man dem zuhörer wohl das ziel
zeigen dürfe, wohin man ihn führen will, dasz aber die verschiedenen
wege, auf welchen er dahin gelangen soll, ihm gänzlich verborgen
bleiben müssen', so sehr finden wir auch das von ihm beachtet und
beherzigt, was später G. Freytag in seiner technik des dramas" als
eine wichtige technische Vorschrift hervorhebt: 'jeder chavakter des
dramas soll die grundzüge seines wesens so schnell als möglich deut-
lich und anziehend zeigen ; auch wo eine kunstwirkiing in verdecktem
spiele einzelner rollen liegt, musz der zuschauer bis zu einem ge-
wissen grade vertrauter des dichters werden.'
Aber auch durch die ganze lange dramatische dichtung unter-
läszt es Schiller bei keiner gelegenheit, weder bei bedeutenden oder
weniger bedeutenden äuszerungen Buttlers selber, noch bei manchen
urteilen über ihn, weder in Worten des dramas selber noch in man-
chen scenischen, nicht nebensächlichen bemerkungen, die dem Schau-
spieler die richtige auffassung angeben sollen , in consequentester,
des scharf zeichnenden dichters würdiger weise auf Buttler als den
eigentlichen leiler des gegenspieles hinzuweisen, der nur von selbst-
süchtigen gedanken getrieben wird bei allem, was er thut: 'nur vom
nutzen wird die weit regiert', dies wort gilt auch von ihm, und
nur kalter eigennutz ist's, der sein denken und sinnen bestimmt,
mag auch zu gründe gehen, was ihm widerstrebt und ihm sich
nicht beugt.
In der zweiten scene des ersten actes kommt Octavio mit dem
kriegsrate und kammerherrn Questenberg. lUo wird nicht vor-
gestellt, aber das tapfere paar graf Isolani und oberst Buttler, 'nun
da haben wir vor äugen gleich das ganze kriegshandwerk. es ist die
stärke und Schnelligkeit', und wenn nun Questenberg, zu Octavio
gewendet, hinzusetzt: 'und zwischen beiden der erfahrene rat*, so
haben wir das kleeblatt, das später die drei ersten verratet darstellt,
als nun Octavio den Questenberg vorstellt, 'diesen würdigen gast,
in dem sie den Überbringer kaiserlicher befehle, der soldaten groszen
gönner und patron verehren', entsteht erst ein allgemeines still-
schweigen, als dann aber Illo und Isolani in ironischen bemerkungen
gegen den kriegsrat sich ergehen, beteiligt sich endlich auch Buttler
an dieser Unterhaltung, nur dasz er, nachdem er sich erst mit dem
ebenfalls schweigenden Piccolomini seitwärts gehalten und nun mit
sichtbarem anteile an dem gespräche näher getreten ist, von der
Ironie — es seien auch blutegel da, die an dem marke des landes
" 3. 270'\
35*
540 U. Zernial: zu Schillers Wallenstein.
saugten; auch landschmarotzer, die dem Soldaten, der vorm feinde
liegt, das brot vorschneiden und die rechnung streichen wroUen —
in eine lange, ernste rede übergebt, die mit den werten 'herr Prä-
sident' beginnt, auf deren ersten teil Questenberg die frage stellt:
'was ist der langen rede kurzer sinn?', in deren zweitem aber
Buttler den 'kurzen sinn' in klaren, scharfen werten dahin ent-
wickelt:
von dem kaiser nicht
erhielten wir den Wallenstein zum feldlierrn.
so ist es nicht, so nicht! vom Wallenstein
erhielten wir den kaiser erst zum herrn,
er knüpft uns, er allein, an diese tahnen.
SO spricht vor und zu dem kaiserlichen kriegsrate der generalmajor
und chef eines kaiserlichen dragonerregiments! was soll's ihm
schaden? durch Friedland hat er seine lauf bahn so glänzend ge-
führt, dasz er jetzt zum commandanten desselben regiments vor-
geschlagen ist, in welchem er vom reiter heraufgedient hat, und,
eagt der Wachtmeister im Lager (sc. 7):
wer weisz, was er noch erreicht und ermiszt,
(pfiffig) denn noch nicht aller tage abend ist.
SO ist auch Friedland der gewaltige, durch den er seine laufbahn
glänzend beschlieszen kann; nur dieser kann ihm, glaubt er, nützen,
nicht der kaiser, warum soll er dies nicht offen aussprechen? be-
zeichnend ist aber, wie ruhig Octavio Piccolomini dies anhört, da-
zwischentretend entschuldigt er dem Questenberg gegenüber, dasz
die kühnheit und die freiheit den Soldaten macht, und dasz er keck
reden dürfe, weil er auch keck zu handeln vermöge, dann aber
spricht er auf Buttler zeigend :
die kühnheit dieses würd'gen offiziers,
die jetzt in ihrem ziel sich nur vergriflF,
erhielt, wo nichts als kühnheit retten konnte,
bei einem furchtbaren aufstand der besatzuug
dem kaiser seine hauptstadt Prag —
und Buttler schweigt, als aber in der nächsten scene Questenberg
und Octavio allein sind, und ersterer erklärt:
auch dieser Buttler
kann seine böse meiuung nicht verbergen,
erwidert Octavio in aller ruhe:
empfindlichkeit — gereizter stolz — nichts weiter! —
diesen Buttler geh' ich noch nicht auf; ich weisz ,
wie dieser böse geist zu bannen ist.
Octavio kennt seine leute; er weisz, welche beweggründe die 'ehr-
geizigen' (W. T. II 6, 1108) treiben.
Buttler bekommt nachher durch Octavio die aufgäbe Wallen-
stein zu töten , oder er nimmt sie sich vielmehr selbst, so hat er
mit dem drama der Piccolomini nichts zu thun: auszer in den beiden
ersten scenen kommt er im ersten acte nicht vor, auch nicht im
dritten und fünften acte, sondern nur noch in den scenen dieses
U. Zernlal: zu Schillers Wallenstein. 541
Stückes, welche sich auf die handlang dos zweiten draraas Wallen-
steins Tod beziehen, in der audieuzscene iin zweiten und in der
bankettscene im vierten acte, folgen wir Schiller dahin.
In der siebenten scene des zweiten actes, in welcher Wallen-
stein mitsamt seinem generalstabe dem Questenberg, 'dem Über-
bringer kaiserlicher befehle', audienz erteilt, gibt der dichter Buttler
viermal das wort. Vie lang', fragt Wallenstein, 'ist der sold den
truppen ausgeblieben?' und Buttler antwortet: 'ein jähr schon fehlt
die löbnung!' auf Questenbergs äuszerung, dasz die armee ohne
aufschub Böhmen räumen solle, entgegnet Buttler mitlUo: 'es kann
nicht geschehen.' auf die frage Wallensteins , was der offizier ver-
dient, der eidvergessen seine ordre bricht? erwidert Buttler mit Illo
und Max Piccolomini 'den tod nach kriegsrecht', und als die scene
endet, ist es Buttler, dem Schiller die rolle gibt, den Questenberg
zu warnen:
wenn guter rat gehör bei Ihnen findet,
vermeiden Sie's, in diesen ersten stunden
sich öfi'entlich zu zeigen, schwerlich möchte Sie
der goldne Schlüssel vor mishandlung schützen.
Buttler ist eben davon überzeugt, dasz hier im lager kein mensch
respect hat vor einem kaiserlichen beamten, dasz die Soldaten
namentlich erbittert sein werden, wenn sie von Questenbergs auf-
tragen künde erhalten, und in dieser festen Überzeugung glaubt er
dem kriegsrate eine wohlgemeinte, aber doch ihm wie den soldaten
begreiflich und berechtigt erscheinende warnung zu erteilen. —
Im vierten acte findet das von Terzky gegebene bankett statt, die
eidesformel wird gebracht mit und ohne clausel; die erste schrift soll
ins feuer wandern, da sieht Ter/ky Buttler herankommen von der
zweiten tafel her (sc. 4), an der er mit andern Offizieren gesessen,
geheimnisvoll spricht er zu Illo:
glück zum geschäfte — und was mich betrifft,
so könnt Ihr auf mich rechnen.
mit oder ohne clausel! gilt mir gleich.
versteht Ihr mich! der fürst kann meine treu'
auf jede probe setzen, sagt ihm das.
ich bin des kaisers offizier, so lang ihm
beliebt des kaisers general zu bleiben,
und bin des Friedlands kiiecht, sobald es ihm
gefallen wird sein eigner herr zu sein.
ZU diesen grassen, an deutlichkeit nichts übrig lassenden worten,
die noch dazu von Wallensteins vertrauten diesem mitgeteilt werden
könnten und möchten, erzählt nun Buttler in ernstem tone, dasz
er sich mitsamt seinem regiment dem herzog bringe, und nicht ohne
folgen solle das beispiel bleiben, das ergebe; dasz er noch vor einem
halben jähre nicht zu bewegen gewesen wäre zu thun, wozu er sich
jetzt erbiete; dasz er jetzt deutlich wisse, wovon er scheide; 40 jähre
habe er die treue gegen den kaiser bewahrt, jetzt im sechzigsten
wolle er noch räche üben; er sei ein freund, der mit wort und that
542 ü. Zernial: zu Schillers Wallenstein.
und geld dem Wallenstein angehöre; auch Wallenstein sei der For-
tuna kind, er liebe einen weg, der dem seinen gleiche; und von allen
tapfern und groszen, die jetzt etwas erreichen wollten, reiche keiner
an den Friedland, nichts sei so hoch, wonach der starke nicht be-
fugnis habe die leiter anzusetzen, da ruft Terzky : 'das ist gesprochen
wie ein mann!' — natürlich, Terzky und Illo können günstigeres
für ihre und Wallensteins plane nicht hören, aber auch nur sie sollen
es hören, was Buttler gesagt — es kann ihm sehr nützlich sein,
namentlich wenn sie es dem herzog hinterbringen, nach dieser rede
aber kehrt Buttler voll eifers mit den worten: 'kommt zur gesell-
t-chaft! kommt!' an seine tafel zurück. — In der sechsten scene be-
wegen sich die Offiziere alle auf der bühne, und da nähert sich
Octavio Piccolomini dem Buttler. er meint, dasz 'der herr oberste
lieber, wie er wohl bemerkt, im toben einer schlacht sich gefallen
würde als eines schmauses', was Buttlcr bejaht; 'ich freue mich,
sehr würdiger oberst Buttler, dasz wir in der denkart uns
so begegnen: ein halbes dutzend guter freunde höchstens um einen
kleinen, runden tisch, ein gläschen Tokayerwein, ein offenes herz
dabei und ein vernünftiges gespräch'. 'ja, wenn man's haben kann',
erwidert Buttler kurz, 'ich halt' es mit', weiter aber machen die
freundlichen worte Octavios trotz der schmeichelhaften, feierlichen an-
reden auf ihn gar keinen eindruck, und in diesem augenblicke kommt
die eidesformel an Buttler: er unterschreibt wie vorher Octavio, und
als Terzky ruft: 'hat alles unterschrieben', Octavio: 'es haben's alle',
fordert Buttler den Terzky auf: 'zählt nach! just dreiszig namen
müssen's sein.' als nun aber sich herausstellt, dasz Max Piccolomini
nicht unterzeichnet hat, und die Offiziere den grund dafür in der
weggelassenen clausel zu finden glauben, da läszt Schiller — in der
siebenten scene — Buttler zu einem der commandeurs die warnenden
worte aussprechen:
schämt Euch, Ihr herrii! bedenkt, worauf es ankomuit!
die fra<j' ist jetzt, ob wir den general
bebalten sollen oder ziehen lassen?
man kann's so scharf nicht nehmen und genau —
damit alle weit weisz, wie hoch Buttler den Wallenstein schätzt!
wie sehr Buttlers und Wallensteins Interessen verbunden sind für
ewige Zeiten! wie selbstlos Buttler handelt, weil — er nur nutzen
und vorteil sich verspricht von dem 'Friedländer, dem hauptmann
und hochgebietenden herrn , der jetzt alles vei'mag und kann'! —
Nachdem Octavio in W. T. II 5 den ränkesüchtigen Isolani für
seine sache gewonnen , erscheint in der 6n scene auf 'seine ordre'
auch Buttler bei ihm. Octavio erinnert daran, wie er ihm tags zu-
vor bei dem bankett entgegengekommen, ohne dasz Buttler die
neigung erwidert, und wie er wohl gar als leere forme! sie empfunden ;
er fragt, ob graf Gallas, sein freund, ihm nichts anvertraut habe; er
teilt ihm mit, dasz der herzog auf verrat sinne, ja, ihn schon voll-
führt habe. Buttler erklärt, dasz Gallas verlorene worte nur ge-
ü. Zeruial : zu Schillers Wallenstein. 543
sprocben, Wallensteins handeln und gescbiek auch seines, und dies
fcein letzter entschlusz sei , denn auf 'dank vom hause Ostreich'
rechne er nicht, aber als er gehen will, begleitet ihn Octavio bis zur
thür und ruft: *wie war es mit dem grafen?' Buttler, heftig auf-
fahrend, erzählt, er besitze ehrgeiz, habe sich um den titel beworben,
aber habe es nicht verdient mit schwerem höhne zermalmend nieder-
geschlagen zu werden; es sei ein niederträcht'ger bube, ein höfling
müsse es sein, der junker irgend eines alten hauses, ein neid'scher
schurke, den seine selbstverdiente würde kränke, denn der herzog
habe sich selbst für ihn verwendet, mit edler freundeswärrae. aus
einem briefe, den Octavio ihm reicht, ersieht er nun seinen Irrtum:
Wallenstein spi'icht nur mit Verachtung von ihm und rät dem
minister den dunkel zu züchtigen; der kaiser aber bestätige die
Schenkung des regiments, die der herzog zu bösem zwecke gemacht
habe, nun kommt sowohl die plebejische wie auch die selbstsüchtige
natur Buttlers vollständig zum Vorschein : auszer jener fülle von Schelt-
wörtern, mit denen er vorher den vermeintlichen gegner bedachte,
zeigt sich jetzt, wie empfindlich die eitelkeit und der ehrgeiz getroffen
ist, und von all den empfindungen und gesinnungen, mit denen er
bisher für Wallenstein und seine plane eingetreten ist, sehen und
hören wir nun gerade das gegenteil: das eigne ich ist verletzt, weil
er den nutzen, den er gehofft und erwartet, nicht erhalten soll, und
nun vollzieht sich in seinem denken und sinnen, in seinem thun und
handeln ein Umschlag, wie man ihn eben nur von einem so gewöhn-
lichen Charakter wie Buttler erwarten kann, seine kniee zittern, er
greift nach einem stuhle; seine stimme bebt, sein gemüt arbeitet
heftig; er versucht zu reden und vermag es nicht; er nimmt seinen
degen vom gehänge und reicht ihn dem Piccolomini — alles begreif-
lich, denn ein lieblingsplan ist vereitelt, und dasz er für Wallen-
stein noch ein übriges thun soll, kann kein mensch verlangen, aber
dieser kalte, selbstsüchtige, eigennützige Charakter will sich sofort
rächen und in der räche sich nicht blosz von Wallenstein trennen —
'o, er soll nicht leben!' er will nicht dem Octavio nach Frauenberg
folgen, sondern in Pilsen bleiben bei seinem regimente. 'so laszt
mich hier — auf ehren wort! — Ihr überlasset ihn seinem guten
engel nicht! — lebt wohl!'
Octavio weisz nun, was er von Buttler zu halten hat. Buttler
bleibt bei den andern, den freunden Wallensteins; nun hat er vor
diesen den falschen zu spielen, um sich nicht als den Verräter er-
kennen zu lassen, und Schiller weisz es wunderschön zu zeigen, wie
die anhänger Wallensteins anfangs keinen zweifei an Buttlers ge-
sinnung hegen, wie aber Wallenstein selber, feinfühlig wie er ist,
ihm nicht trauen mag, weil er ihn nicht für zuverlässig hält — viel-
leicht weil er selber nicht ehrlich gegen ihn ist. obgleich Buttler
am bankettabend die eidesformel unterzeichnet hat, fragt dennoch
Wallenstein (W. T. III 4, 1441): 'der Buttler, sagst du, hat sich
nun erklärt', und als Illo antwortet: 'aus freiem trieb, unaufgefordert
544 U. Zernial: zu Schillers Wallensteiu.
kam er, sich selbst, sein regiment Dir anzubieten', spricht Wallen-
stein folgende bedeutungsvollen worte aus :
nicht jeder stimme, find' ich, ist zu glauben,
die warnend sich im heizen läszt vernehmen.
uns zu berücken, borgt der lügengeist
nachahmend oft die stimme von der Wahrheit
und streut betriigliclie orakel aus.'*
so hab' ich diesem würdig braven mann,
dem Buttler, stilles unrecht abzubitten;
denn ein gefühl, desz ich nicht meister bin,
furcht möcht' ich's nicht gern nennen, überschleicht
in seiner nähe schaudernd mir die sinne,
und hemmt der liebe freudige bewegnng.
und dieser redliche, vor dem der geist
mich warnt, reicht mir das erste pfand des glucks.
es scheint, dasz Buttler auch dann nicht den eindruck erweckt, als
handle er gern und freudig, wenn er selbst den vorteil und den
nutzen für sich deutlich vor sich sieht; er scheint immer nicht recht
zu trauen; es scheint auch, dasz Wallensteins gefühl durch hinder-
nisse gesteigert ist, die er dem Butller in den weg gelegt hat; es
klopft ihm das gewissen, und doch kann er nicht denken, dasz
Buttler von solchen hemmnissen weisz. um so gröszer ist aber die
Spannung, welche die worte auf den Zuschauer hervorrufen, nament-
lich da auch in der sechsten scene der in dieser beziehung innerlich
unruhige Wallenstein ohne irgend welche äuszere veranlassung noch
einmal fragt: 'höre! hast Du von Buttlern kundschaft?' lilo, der
seit vorher nur anderthalb scenen lang von der btihne fort gewesen
ist, hat Buttler in dieser kurzen zeit getroffen, darum kann er sagen:
'gleich ist er selber hier, der hält dir fest.' und Buttler kommt
eigentlich, um zu melden, dasz Prag verloren ist, da aber Wallen-
stein in diesem augenblicke gerade erfahren, dasz Octavio ein Ver-
räter ist, so schweigt Butller und läszt es geschehen, dasz er von
Wallenstein, der ja eben erst zweimal von lUo erfahren, dasz er fest
hält, mit herzlichkeit umfaszt wird: 'komm an mein herz, Du alter
kriegsgefährte, so wohl that nicht der sonne blick im lenz als
freundes angesicht in solcher stunde'; dasz Wallenstein, nachdem
er den treubruch des dreiszigjährigen kriegskameraden mit tiefem
absehen geschildert hat, das gesiebt an Buttlers brüst verbirgt, in
diesem augenblicke, so müssen wir annehmen, bittet er dem Buttler
stilles unrecht ab — er nennt ihn gleich darauf ein 'treues herz';
Buttler aber, der gekränkte, für seine person unversöhnlich be-
leidigte, spricht zwar: 'vergeszt den fal-chen! sagt, was wollt Ihr
thunV doch nach langem hin- und herfrugen, bei dem er scheinbar
sich zu sagen scheut, was er weisz, fügt es der dichter doch so, dasz
er 'das schlimmste den Wallenstein hören' läszt:
" vgl. Macbeth I 3. Banquo:
doch, 's ist seltsam,
oft sagen Wahrheit uns der hölle schergen,
uns zu verlocken so zum eignen leid.
U. Zernial : zu Schillers Wallensteiu. 545
Prag ist verloren, alle regimenter
zu Budweis, Tahor, Brannau, Königgrätz,
zu Brunn und Znaym haben Euch verlassen,
dem kaiser neu gehuldiget, Ihr selbst
mit Kinsky, Terzky, lUo seid geächtet,
diese worte, so gewichtig sie sind und so gehässig sie klingen, wie
Buttler sie aussprechen mag, sind doch nur der Inhalt des biiefes,
der ins lager mit dem boten gekommen und von der wache auf-
gefangen war, und Buttler bat ihn nur erzählt, sein persönlicher an-
teil steigert sich aber an dem, was über Wallenstein in der folge
heraufzieht, während zunächst der herzog mit den Pappenheimschen
kürassieren verhandelt, um dieses regiment für sich zu gewinnen,
und die Verhandlung beinahe zum guten ausgange geführt ist, stürzt
Buttler herein (t^c. 16) und ruft in eifer: '^graf Terzkys regimenter
reiszen den kaiserlichen adler von den fahnen und pflanzen Deine
zeichen auf.' sofort commandiert der gefreite 'rechts um !' Wallen-
btein aber spricht ahnungsvoll die worte : 'das stürzt uns ins ver-
derben — Buttler! Buttler! Ihr seid mein böser dämon, warum
mustet Ihr's in ihrem beisein melden! — o grausam spielt das glück
mit mir! der freunde eifer ist's, der mich zu gründe richtet, nicht
der hasz der feinde.' und Wallenstein hat recht: die scheinbar
eifrigen freunde sind gehässige feinde, die aus Schadenfreude durch
ihre reden alles zum bösen kehren, so spielt die tragische ironiü
ihre bedeutsame rolle, einmal und gleich darauf noch zweimal, eben
diesen Buttler, der, wie Wallenstein meint, aus freundeseifer handelt,
fordert er auf '^ dem commandanten von Eger zu schreiben, dasz er
bereit sein solle ihn und seine truppen in die festung aufzunehmen,
und selber mit seinem regimente zu folgen, als aber gleich
darauf Max Piccolomini abschied nimmt, richtet dieser an Buttler
die worte:
Ihr auch hier, oberst Buttler — Und Ihr wollt mir
nicht folgen? — Wohl! Bleibt Eurem neuen herru
getreuer als dem alten, kommt! versprecht mir,
die band gebt mir darauf, dasz Ihr sein leben
beschützen, unverletzlich wollt bewahren!
da aber 'verweigert Buttler seine band' — und gleich darauf geht
Max fort, 'zweideutige blicke auf 111 o und Buttler richtend*. —
Dasz die zuschauer auch lUo , den vertrauten, für einen Verräter an
Wallenstein halten sollen, will Schiller nicht; Max ist nur ein-
genommen gegen Illo , den stürmischen und leidenschaftlichen, wie
er im 4n acte der Piccolomini sich zeigte, und so wird er im zorn
und eifer mitgenannt, aber Buttler? bat etwa Max dieselbe empfin-
dung des mistrauens gegen ihn wie Wallenstein? und eben hat er
ihm seine band verweigert: er will sein leben nicht unverletzlich
bewahren — das will Buttler allerdings auch nicht, hätte er aber
dem Max die band gereicht, so würden Illo und andere darin eine
Übereinstimmung mit Maxens gesinnung und bandeln sehen, der jetzt
'3 s. oben s. 538.
546 ü. Zernial: zu Schillers Wallenstein.
von seinem freunde für immer scheidet, so läszt Buttler, der Ver-
räter, den verdacht ruhig über sich ergehen, ob er es mit Wallen-
stein so meint oder so.
Das Lager und die Piccolomini fallen auf den 22 februar 1634,
der erste und zweite act von Wallensteins Tod auf den 23n, der
dritte auf den 24n, und der vierte und fünfte auf den späten nach-
mittag des 25n bis in die nacht des 26n hinein. — 'Bis hieher,
Priedland, und nicht weiter! sagt die schicksalsgöttin. aus der
böhmischen erde erhub sich Dein bewundert meteor, weit durch
den himmel einen glanzweg ziehend, und hier an Böhmens grenze
musz er sinken! — nimm Dich in acht — Dich treibt der böse geist
der räche — dasz Dich räche nicht verderbe!' — Das ist die devise,
von Buttler gesprochen, unter der wir in Eger eingezogen sind
(IV 1). er hat Wallensteins auftrage gemäsz an seinen landsmann
Gordon geschrieben, und diesen, dem auch seinerseits ein kaiser-
licher brief befiehlt nach Buttlers ordre blindlings sich zu fügen,
der also zur Verschwiegenheit verpflichtet ist, weiht er nun in alles
ein, zunächst dasz der herzog ein Verräter an dem kaiser ist (IV 2),
dann aber auch nicht freien fuszes mehr aus diesem platze darf, so
deutet Buttler auf Wallensteins gefangennehmung hin , als aber in
den nächsten scenen die nachricht kommt, dasz in einer Schlacht bei
Neustadt die Schweden sieger geblieben sind, da stöszt Buttler die
verhängnisvollen worte aus; 'er darf nicht leben."* Gordon er-
schrickt ob dieses furchtbaren wortes, und Buttler so zu sagen auch ;
er gerät fast in Verlegenheit; denn es ist, als wenn er sich nicht
gern eingestehen möchte, dasz gerade die kränkung seiner person,
sein ehrgeiz an seinem ganzen denken und handeln schuld sei. so
nennt er als grund dafür, das Wallenstein sterben musz, bald das
Verhängnis oder das böse Schicksal, bald die feindliche Zusammen-
kunft der dinge; gern überliesze er ihn des kaisers gnade, und sein
blut wolle er nicht, doch seines wortes ehre müsse er lösen, schliesz-
lich aber, als Gordon geäuszert hat, das herz und nicht die meinung
ehre den mann, langt Buttler bei dem vergleiche zwischen Wallen-
stein und sich selbst an und entgegnet 'kalt und stolz':
ein jeder g;iht den wert sich selbst, wie hoch ich
mich selbst anschlagen will, das steht bei mir.
so hoch gestellt ist keiner auf der erde,
dasz ich mich selber neben ihm verachte,
den menschen macht sein wille grosz und klein,
und weil ich meinem treu bin, musz er sterben.
Es gibt menschen, die reden können, wovon bie wollen, und
endlich, auf einmal, es mag kommen wie es will, bei sich selber, dem
lieben ich angelangt sind, so ist es auch bei Buttler: der ehrgeiz,
die ehrsucht, die Selbstsucht, der eigennutz, sie haben sein ganzes
sinnen und thun so erfüllt, dasz er nur an sich selbst noch denken
und nur von sich selbst noch reden kann, um seinetwillen, das
'' s. oben s. 543.
U. Zernial: zu Schillere Wallenstein. 547
ist so klar wie etwas, musz Wallenstein sterben; andere, wichtige,
gar bedeutsame politische gründe sind vor ihm zusammengeschmolzen,
es gibt deren für Buttler nicht.
Im 5n acte ist Buttler mit der auswahl der mörder beschäftigt :
in scene 1 der major Gerald in für lUo und Terzky, in scene 2 zwei
'resolute hauptleute' für Wallenstein: sie sind, wie Schiller am
7 märz 1799 an Goethe schreibt, 'handelnd und redend eingeflochten;
dadurch kommt auch Buttler höher zu stehen, und die präparatorien
zu der mordscene werden furchtbarer', als nun aber die verhängnis-
volle, gi-ausige that, die ermordung Wallensteins , ausgeführt ist,
trifft Buttler in der lln scene mit dem in Eger eingetroffenen
Octavio Piccolomini zusammen, der den herzog gefangen nehmen
wollte. Octavio ist entsetzt über das geschehene und macht dem
Buttler vorwürfe;
war dns die meiiiung, als wir schieden? 'N
gott der gerechtigkeit! ich hebe meine hand auf!'
ich bin an dieser ungeheuren that
nicht schuldig.
'Eure hand ist rein. Ihr habt die meinige dazu gebraucht' : so er-
widert Buttler und fügt 'gelassen' hinzu: 'ich hab' des kaisers urteil
nur vollstreckt', fas/t dann aber sein handeln in die worte zusammen :
was scheltet Ihr mich? was ist mein verbrechen?
ich habe eine gute thvt gethan,
ich hab' das reicli von einem furchtbaren feinde
befreit und maclie anspruch auf belohnung.
— stehenden fuszes reis' ich ab nach Wien
mein blutend schwert vor meines kaisers thron
zu legen und den beifall mir zu holen,
den der geschwinde, pünktliche gehorsam
von dem gerechten richter fordern darf.
in diesen worten erhebt sich Buttler zu einer höhe des denkens, auf
welcher wir ihn sonst nicht finden: er behauptet, eine gute, politisch
segensreiche, für das reich heilsame that ausgeführt zu haben, um
derentwillen er belohnung und beifall zu ernten hofft, wie anders,
wenn ihm der grafentitel durch Wallenstein verschafft wäre! dann
war der eitelkeit geschmeichelt, der ehrgeiz befriedigt, der sehn-
lichst erhoffte gewinn eingebracht, und nie würde sich die hand des
glücklichen gegen den wohlthäter erhoben haben — wenigstens
nicht aus diesem gründe, aber das ist die ge fahr bei einem solchen
Charakter wie Buttler, den Schiller sich eben hier zum gegenspieler
gegen den haupthelden erkoren hat: unbedingt und rein treu und
zuverlässig nie, aber lauernd und lauschend auf den eignen nutzen
und vorteil von der ersten scene des dramas bis zur letzten.
«6 W. T. II 6 s. oben s. 543.
(schlusz folgt.)
Berlin. U. Zernial.
548 F. Cunze : pädagogische kleinigkeiten.
31.
PÄDAGOGISCHE KLEINIGKEITEN.
I. Die namen der Wochentage im Unterricht.
E. Hildebrand hat mit recht immer daraufgedrungen, dasz den
Schülern das abgegriffene gepräge der Wörter im ursprünglichen
glänze gezeigt und damit ein blasses, abgezogenes wortwissen in ein
auf anschauung beruhendes Sachwissen umgeiitaltet würde, knüpft
nun eine solche betrachtung die manigfaltigsten verbindungsfäden
zwischen dem wissen der scbüler, gestaltet sie sich also zu einer
wirklichen 'associierenden repetition', so ist natürlich ihr pädagogi-
scher wert um so gröszer. in seltenem masze eignen sich dazu die
namen unserer wocheniage, denn sie bringen neben sprachlicher er-
kenntnis mythologisches und culturhistorisches wissen in engen
Zusammenhang und erläutern auch die eine und die andere stelle
unserer classiker.
Aus der reihe der wochentagsnaraen treten als eigentümlich
gebildet heraus mittwoch und sonnabend. die mittwoch , wie z. b.
K. Hase noch schreibt — das masculinum ist erst durch die analogie
eingebürgert — erklärt sich von selbst, der sonnabend aber er-
scheint zunächst rätselhaft, erst die erinnerung an den Vorabend
groszer ereignisse und an den heiligen abend sowie die iingabe
mittelalterlicher daten, wie *in sunte Mattbies avende, des hilgen
Apostels, an unser leven Fruwen avende lechtmyssen' = am tage
vor Maria lichtmesse, lehren, dasz abend gleich dem kirchenlateini-
schen vigilia' auch den tag vor einem feste bedeutete, so ist denn
sonnabend , verkürzt aus sonntags abend , der tag vor sonntag. die
Süddeutschen haben statt dieser bezeichnung aus dem jüdischen
sabbat ihr samstag gebildet.
Bei den übrigen fünf wochentagsnamen, die alle mit tag zu-
sammengesetzt sind , erkennt man unschwer als ersten bestandteil
die sonne, den mond , wobei herangezogen werden die mhd. formen
man, mön ohne auslautende dentale, und den donner; aber weder
was sie hier besagen noch was in dienstag, besser dinstag, und in
freitag steckt, läszt sich ohne weiteres erraten, sobald wir aber die
englischen formen tuesday, wednesday, thursday, friday vergleichen,
erscheinen darin die vier grösten Germanengötter, denn dasz in
tuesday der einstige hinimelsgott Tiu , ahd. Ziu enthalten ist, er-
kennt man nun leicht, zumal wenn man das schwäbische Zistag ver-
gleicht, unser dinstag dagegen , niederdeutsch dingsdag^ bewahrt
* vigilia dicitur dies profestus sc. dies primvis ante festum , quia
hunc in sero vigiliae vacamns (loan. de lanna).
2 wie neben der vollen form früh die um das g verkürzte hochkam,
zeigen zwei Urkunden des klosters Ilsenburg, beide vom 27 jan. 1495,
die eine hat 'des Dyngsedaghes', die andere 'des Dinsdagbes'.
F. Cunze : pädagogische kleinigkeiten, 549
einen beinamen des Tiu. wie nämlich Zeus als dtopaioc, so war der
deutsche himmelsgott als thingsasz der schirmer der Volksversamm-
lungen, der dinge, und in dieser eigenschaft hat er das raittelalter
hindurch wenigstens bei den Norddeutschen als Roland vermummt
fortgelebt, vgl. die schönen abhandlungen von H. L. Ahrens: Tigis-
lege, Hannover 1871, und über namen und zeit des Campus Martins
der alten Franken, 1872. aber sonst war Tiu früh aus seiner er-
habenen Stellung verdrängt und zum kriegsgottei'niedrigt, dem Ares,
Mars identificiert. das bezeugen auch der bairische Ertag, der sich
zur altsäcbsischeu Ei'esburg, dem heutigen Marsberg a. d. Diemel
stellt, sowie jene lateinische Inschrift, der wir den beinamen Thingsus
verdanken: Deo Marti Thingso et duabus Alaesiagis Bede etFimmi-
lene et numini Augusti Gerraani cives Tuihanti, cunei Frisiorum,
votum solverunt.
Wodan ist natürlich das bestimmungswort in wednesdaj, hol-
ländisch woensdag, münsterisch Gudensdag. da dieser gott am aller-
längsten nach der Christianisierung im volke fortlebte, so brauchen
wir nicht zu zweifeln, dasz die kirche sich bemühte, seinen namen
aus den Wochentagen auszumerzen und durch den gleichgültigen
mittwoch zu ersetzen, meidet doch die lateinische kirchensprache
durchaus alle jene heidnischen wochentagsnamen und sagt dafür
einfach feria prima, secunda usw., und der Isländer bischof Jon
Ögmundarson hat in seiner heimat die neuen namen drottins (= tag
des herrn) annar, J)ridji usw. mit erfolg eingeführt, vgl. auch das
neugriechische.
Nun ergeben sich die gottheiten Donar und Fria als die ersten
bestandteile in donnerstag und freitag.
Was bedeutet aber diese wunderliche gesellschaft von göttern
und sonne und mond? wir wenden uns um auskunft an die latei-
nischen wochentagsnamen. diese kommen freilich in den schul-.
Schriftstellern nicht vor, erst die spätere römische kaiserzeit bietet
sie. dem Solis, Lunae usw. dies stellen wir der Sprachvergleichung
•wegen die davon abgeleiteten französischen Wörter zur seite , wobei
dimanche aus dominica an das isländische drottins erinnert, ebenso
wie samedi an samstag. nur die Westgermanen (Engländer und
Niederländer) haben in ihrem saturday, saturdag, saterdag einen
ihnen völlig unbekannten gott wie eine gangbare fremde münze
übernommen.
Vergleichen wir nun die lateinischen mit unsern wochentags-
namen , so fällt uns auf, wie äuszerlich und unpassend geradezu die
Römergötter durch germanische übersetzt sind, aber aus Caesar und
Tacitus haben die schüler meist schon gelernt, wie wenig die alten
im stände gewesen sind, die religion eines fremden volkes zu ver-
stehen, und wie sie deshalb oft auf einen nebensächlichen zug hin
die fremden götter den ihrigen gleichstellten, so trat denn, wie
schon bemerkt, Tiu Thingsasz für Mars, Wodan für Mercur, Donar
für Jupiter, Fria für Venus ein; für Saturn aber fand sich durchaus
550 F. Cunze : pädagogische kleinigkeiten.
nichts ähnliches in der germanischen Walhalla, er ward deshalb
entweder ungeändert beibehalten oder durch sabbat oder Sonnabend
ersetzt.
Bei der betrachtung dieser römischen namenreihe verfällt nun
wohl ein gescheiter schüler darauf, in ihr die sonne, den mond und
die fünf dem unbewaffneten äuge sichtbaren planeten zu erkennen,
die erde wird nicht dazu gerechnet, es ist ja die Ptolemäische, geo-
centrische Weltauffassung, in die wir hier geraten, danach galten
auch sonne und mond als planeten, es ist also eine einheitliche
gruppe, und diese sieben himmelskörper waren den alten die
stellae potentissimae, quae ad arbitrium suum vagantur et motu
suo hominum fata moderantur, wie Ampelius 3, 3 schreibt, jedem
planeten ist ein Wochentag geweiht, an ihm beherscht er die weit
und so auch das menschenleben. das setzt Ausonius hübsch aus-
einander (7, 9):
nomina, quae Septem verteutibus apta diebus
annus habet, totidem errantes fecere planetae . . .
primum supremumque diem radiatus habet Sol.
proxima fraternae succedit Luna coronae.
tertius assequitur Titania lumina Mavors.
Mercurius quarti sibi vindicat attra diei.
illustrant quintam lovis aurea sidera zonam,
sexta salutigerum sequitur Venus alma parentem.
cuncta supergrediens Saturni septima lux est.
Woher stammt aber dieser planetencult, dieser sabäismus? die
Hellenen und die Römer hatten ihn in ihrer classischen zeit ebenso
wenig wie die Germanen, zwar wird von Homer an durch die gauze
antike litteratur immer wieder der bekannten fixsterne und Stern-
bilder gedacht, sie wurden fleiszig beobachtet aus ästhetischen wie
aus praktischen gründen ; man denke an den bauernkalender Hesiods;
und Sokrates ist der typus eines Durchschnittsgriecben, wenn er
Mem. 4, 7, 5 die kenntnis der wichtigsten oestirne nach ihrem früh-
aufgange usw. fürs leben fordert, TÖ be M^'XPi TOUTOu dcTpovo)aiav
HavGdveiv , M^XPi toO Kai xd fix] ev irj aOxr] irepicpopa övia Kai
Touc nXavriTac le Kai dcxaejuriTOuc dcrepac YvOuvai . . . icxupwc
dTTetpeTTev. die planeten kümmerten die classischen Völker nicht,
daher geben sie ihnen erst recht spät bestimmte einzelnamen. erst
in der pseudo- Aristotelischen schritt Tiepi köc|liou (2, 2) weiden sie
genannt, aber merkwürdiger weise treten da neben die götternamen
noch andere, adjectivische, die ihren glänz bezeichnen: Kpövoc
= <t>aivuuv, Zeuc = <t)ae9wv, "Apric = TTupöeic, 'Epjufic = CxiX-
ßuüV, ('Acppobiiri = Ouucqpöpoc). auch herscht hier noch ein
schwanken in den götternamen (z. b. CiiXßuJV, öv lepöv '€p|ioO
KaXoOciv evioi, Tivec b"AiTÖXXujvoc), das sich bis auf Plinius zeiten
verfolgen läszt (n. h. 2, 8). alles das beweist, wie spät den Hellenen
die planeten bekannt oder wenigstens beobachtenswert geworden
sind, ihrem klaren, heitern sinne lag es fern, jenen sternen einen
F. Cunze: pädagogische kleinigkeiten. 551
besondern einflusz auf das menschenleben zuzuschreiben, daraus folgt
übrigens auch die späte abfassung des Homerischen h^mnus an Ares;
denn wenn es da (8, 6 flf.) beiszt: TTupauYea kukXov eXiccuJV aiGepoc
iTTTttTTÖpoic evi leipeciv (= 7 planeten), evGa ce ttujXoi ZiaqpXeYeec
TpiTttiric UTTcp avTUYOC aiev e'xouci, so verrät diese auffassung des
Ares als eines planetengottes den hellenit'tischen dichter, unsere
vorfahren aber hatten vollends kein arg aus diesen Sternen, sie haben
deshalb sich überhaupt keine bezeichnungen für sie geschaffen, die
wi.-senschaft behielt die lateinischen namen bei, indes die wochen-
tagsnamen früh übersetzt wurden.'^
Die planetenverehrung (astrolatrie) ist also kein europäisches
gewächs, sondern verhältnismäszig spät ebenso wie die auf ihr be-
ruhende siebentägige woche aus dem morgenlande eingeführt, nun
sagt freilich Cassius Dio in der berühmten stelle über die woche
(37, 18) TÖ ec ToOc dciepac touc eTTid TiXavriTac d)vo|uacnevouc
idc fiiuepac dvaKeicöai KaiecTri ^kv vn Aiyutttiujv, TidpecTi be kqi
enl TTdvTac dvGpuuirouc oü iraXai Trote, wc Xöyuj eirreTv, dpEdnevov.
aber A. v. Humboldt hat mit recht im kosmos 3, 471 bemerkt, dasz
es damals sitte war, alles alt scheinende ägyptisch zu nennen, und
dasz die Semiten zuerst eine siebentägige woche gehabt haben, in-
zwischen ist durch die entzifferung der keilinschriften festgestellt,
dasz die Chaldäer neben andern elementen unserer cultur (masze,
gewichte, die grundlagen der astronomie mit dem 24 stundentage,
den 60 minuten und 360 graden des kreises) auch die woche uns
geschenkt haben, die wieder aus der weit zu schaffen selbst der
groszen französischen revolution nicht gelungen ist. wir kennen
heute auch die babylonischen planetengötter, die regenten der ein-
zelnen Wochentage :
Samas, aramäisch Schemesch = Sol
Sin , ,, Sin = Luna
Nergal, „ Nerig = Mars
Nebo, ,, Nebu = Mercurius
Merodach , ,, Bil == Jupiter
Istar, „ Astro = Venus
Adar, ,, Kaivan = Saturnus.
Die Juden entlehnten wohl von ihren östlichen nachbarn die
woche — das erste capitel der Genesis hat sie ja als chronologische
grundlage — , aber sie verwarfen natürlich als anhänger des mono-
theismus mit dem planetenculte auch die benennung der tage nach
göttern, sie zählten einfach, doch die Chaldäer verehrten nicht nur
jene planetengötter, sondern glaubten auch durch sorgfältige be-
obachtung ihren willen zu erkennen: sie trieben astrologie und sie
' die Übersetzungen Konrads v. Meg^enberg waren doch nur die ver-
einzelte grille eines mittelalterlichen gelehrten, die nicht ins volk drang;
er gibt Saturn durch gutjahr, Jupiter — helfvater, Mars — streitgott,
Venus — tierstern, Mercur — kaufherr — wenig glücklich.
552 F, Cunze: pädagogische kleinigkeiten.
wurden darin die lehrer des abendlandes. mit dem beginn des römi-
schen kaisertumes* erscheinen die Sterndeuter, zwar meist befehdet
und verspottet, in der litteratur, noch mehr im leben, und nachdem
sie das mittelalter überlebt hatten, kamen sie in der renaissance zu
höchsten ehren, wir können und wollen nun in unsern schulen diese
afterwissenschaft nicht lehren, aber bei ihrer geschichtlichen bedeu-
tung dürfen wir sie nicht vornehm übergehen, sondern haben wenig-
stens die grundlagen aufzudecken, auf denen sie errichtet ist; und
da genügt es zu bemerken , dasz es bei der horoskopie ankomme
auf den stand der sieben wochenplaneten zu einander und im tier-
kreise.^ damit ist das Verständnis für Fischarts ausgelassene grosz-
mutter aller praktik, für das horoskop, das Goethe im anfang
von Wahrheit und dichtung über seine geburtsstunde angibt, und
namentlich für die astrologischen stellen in Schillers Wallenstein
gegeben, jetzt erst wird z. b. der planetenturm (Picc. 3, 4) den
Schülern interessant.
So lassen sich bei einer besprechung der wochentagsnamen
die manigfaltigsten Wissensgebiete in einen Innern Zusammenhang
bringen, und zwar unter regster beteiligung der schüler, wie ich er-
probt habe, ich habe den stoff hier nicht pädagogisch zugeschnitten,
wie es jetzt üblich ist, sondern ihn gleichsam roh, noch mit den be-
weissteilen und in gröszerer fülle gegeben, als es für den Unterricht
statthaft ist. man kann übrigens zu dieser lohnenden abscbweifung
von einer Wallensteinstelle ebenso gut ausgehen wie bei der ge-
schichte des Orients; ich habe dazu gern eine hora subseciva, eine
Vertretungsstunde in einer fremden classe benutzt, und ich hatte
dann wohl das frohe bewustsein; die stunde war gelungen.
* Horaz c. 1, 11
tu ne quaesieris, sine nefas, quem mihi quem tibi
finem di dederint, Leuconoe, nee babylonios
tentaris numeros.
^ scheine (aspecte) und häuser.
Braunschweig. Friedrich Cünze.
ZWEITE ABTEILUNG
FUß GYMNASIALPÄDAGOGIK UND DIE ÜBßiaEN
LEHEFÄCHEß
MIT ÄÜSSCHLÜSZ DER CLASSISCHEN PHILOLOGIE
HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. RiCHARD RiCHTER.
(30.)
ZU SCHILLERS WALLENSTEIN.
(schlusz.)
2. Schillers Wallenstein und Shakespeare.
In dem brief Wechsel mit Goethe sagt Schiller (7 april 1797),
Shakespeare habe in seinem Julius Caesar das gemeine volk mit
einer ungemeinen groszheit behandelt; der stoff habe ihn bei der
darstellung des volkscharakters gezwungen, mehr ein poetiscbes
abstract n vor äugen zu haben; mit einem kühnen griffe nehme
Shakespeare aus der bedeutungsvollen menge und masse ein paar
figuren oder vielmehr ein paar stimmen heraus und lasse sie für das
ganze volk gelten, und das gälten sie wirklich, so glücklich habe er
sie gewählt, man kann mit vollem rechte dasselbe von den figuren
in Wallensteins Lager behaupten, ja der dichter ist offenbar in der
-wähl und Zeichnung seiner personen, bewust oder unbe wüst, von
dieser bemerkung über den englischen dramatiker ausgegangen.
Weitere ähnlichkeiten des Caesar und anderer Shakespearescher
dramen mit dem Wallenstein betreffen zunächst die form des aus-
drucks. wie Cassius dem Brutus mut zuspricht mit den worten
(J. C. I 2): 'nicht durch die schuld der sterne, durch eigne schuld
nur sind wir Schwächlinge', so warnt lUo den Wallenstein auf die
Sternenstunde zu warten, bis die irdische entflieht; glaub mir, 'in
deiner brüst sind deines Schicksals sterne'. — Als Antonius nach
seiner rede an das römische volk inne wird, dasz es ihm geglückt
ist, die bürger in die gröste erregung zu versetzen, ruft er aus (J. C.
III 2): 'nun wirk' es fort, unheil, du bist im zuge: nimm, welchen
lauf du willst'; als Wallenstein (W, T. V 5) den Gordon ob seiner
kühnen rede mit befremdung und erstaunen betrachtet und eine
zeit lang geschwiegen hat, indem er eine starke innere bewegung
N. Jahrb. f. phil. u. päd. 11. abt. 1S97 hlt. 12. 36
554 U. Zernial: zu Schillers Wallenstein.
zeigt, faszt er alles, was geschehen ist und nun weiter noch geschehen
soll, in die worte zusammen: 'zu ernsthaft hat's angefangen , um
in nichts zu enden, hab' es denn seinen lauf.' — Als Caesar
(11 2) mit seiner gattin Calpurnia überlegt, ob er auf das Capitol
solle oder nicht, und sie auf die jüngsten wunderzeichen hinweist:
'o Caesar, unerhört sind diese dinge: ich fürchte sie', da ent-
gegnet er kühn und grosz: 'von allen wundern, die ich je gehört,
scheint mir das gröste, dasz sich menschen fürchten, da sie doch
sehn, der tod, das Schicksal aller, kommt, wann er kommen soll.'
als Wallenstein (W. T. V 5, 3464) die letzte Unterredung mit der
gräfin Terzky hat, spricht sie ihre grosze besorgnis aus in den
Worten: 'o, mir wird heut so schwer von dir zu gehn, und bange
furcht bewegt mich', er aber antwortet kurz und mutig: 'furcht?
wovor? — einbildungen!" — Als der streit zwischen Brutus und
Cassius (J. C. IV 3) entbrennt, weil ersterer sagt: 'laszt mich euch
sagen, Cassius, dasz ihr selbst verschrie'n seid, weil ihr hohle bände
macht, weil ihr an unverdiente eure ämter verkauft und feilschet',
da entgegnet Cassius: 'mach' ich hohle bände? ihr wiszt wohl, ihr
seid Brutus, der dieses sagt, sonst, bei den göttern! war' dies wort
eu'r letztes.' dies moment benutzt Schiller zweimal: Isolani ant-
wortet dem Octavio (W. T. II 5, 1000), als dieser fragt, ob er ein
freund wolle heiszen oder feind des kaisers (trotzig) : 'darüber werd'
ich dem erklärung geben, dem's zukommt, diese frag' an mich zu
thun', und Buttler antwortet eben dem Octavio (W. T. II 6, 1103),
als dieser ihn fragt: 'wie war es mit dem grafen? ihr suchtet darum
nach, man wies euch ab', (heftig auffahrend): 'tod und teufel!
nicht ungestraft sollt ihr mich höhnen, zieht!'
Coriolan erfährt durch die tribunen, dasz er als consul be-
stätigt ist. der höhepunkt des dramas ist hiermit erreicht, aber die
tribunen, ärgerlich über Coriolans stolze und höhnische bewerbung,
suchen das volk aufzureizen und die übereilte wähl zu widerrufen,
die fallende handlung besteht in dem streite der tribunen mit dem
Coriolan: einen Verräter nennen sie ihn, als Verräter soll er
rede stehen; ein ädil soll ihn festnehmen, als hochverräter.
darauf wiederholt Coriolan fragend das vvort 'v erräter? wie?
Verräter ich?' und ohne auf die freunde zu hören, häuft er die
ärgsten beleidigungen auf volk und tribunen, und während ihm
die tribunen zurufen: 'er ist verbannt', antwortet er mit dem
kecken worte: 'gemeines hundepack, das mir die luft verdirbt: ich
kenne euch!' — aber das wort 'verräter' kehrt noch wieder — mit
recht, denn als Coriolan im 5n act (sc. 6) als sieger heimkehrt nach
Antium mit dem worte : 'heil euch ! als e u e r krieger kehr' ich
wieder, so frei von liebe für mein Vaterland, wie da ich auszog,
stets gewärtig eures erhabenen befehls', braust der eifersüchtige
Aufidius, der unwillig ist über Coriolans friedensschlusz mit Eom,
vgl, W. T. IV 9, 2989 "'wer spricht von unglück?'
U. Zernial : zu Schillers Wallensteiu. 555
auf und nennt ihn dreimal Verräter', so dasz er wieder empört
fragt: 'wie nun? Verräter?' dieses wort aber führt, wie es vorher
zu anfang der fallenden handlung stand, hier die katastrophe herbei,
denn die verschworenen von der partei des Aufidius stürzen sich auf
den 'Verräter', der in Wirklichkeit als hoch Verräter gegen sein
Vaterland gekämpft und aus liebe gegen mutter und Vaterland nach
der ansieht der Antiaten Rom allzu sehr geschont hat, um ihn des
Verrates zu zeihen und ihn zu ermorden.
In Schillers Wallenstein ist es das tragische ziel zu zeigen,
wie der held, um seine Unabhängigkeit zu erreichen, zum Ver-
räter wird, dasz also von verrat auch hier öfter die rede ist,
versteht sich von selbst, aber es will doch scheinen, als habe
Schiller an einigen stellen gerade des an und für sich so häsz-
lich klingenden wertes sich mit absieht gern wiederholt bedient,
um auch ähnliche gegensätze dadurch hervorzurufen wie Shake-
speare an den oben genannten stellen des Coriolan. als in 'Wallen-
steins Tod' — nur in diesem stücke hat das wort eine so wichtige
bedeutung — in der 5n scene des 2n actes Octavio mit dem
Isolani verhandelt, um ihn von dem herzöge abwendig zu machen,
fragt er ihn, ob er seinen herrn, den kaiser, verraten wolle,
und Isolani antwortet: 'verrat — mein gott — wer spricht
denn von verrat?' und als dann Octavio erklärt, der fürst sei ein
Verräter, entgegnet Isolani wieder: 'spinnt er verrat — ver-
rat trennt alle bände.' — So knattert hier gewissermaszen das un-
heimliche wort hin und her, und ähnlich ist es an andern stellen,
die 2e scene im 3n acte beginnt Illo mit den worten verrat
und meuterei und in der 9n spricht er die worte aus : 'graf Picco-
lomini ist ein Verräter.' als aber in der lOn scene noch Buttler
erscheint — Buttler, der längst dem Octavio versprochen den
Wallenstein zu töten — , da wendet sich dieser selbst an Buttler,
sich auf dessen schultern lehnend, und spricht zu diesem, man
möchte sagen, erzverräter: 'weiszt du's schon? der alte hat dem
kaiser mich verraten.' was aber hier Wallenstein und die seinen
dem Octavio Piccolomini schuld geben, wiederholt im 4n acte Gordon
zweimal über ihn selber: 'der herzog ein Verräter!' 'ein Ver-
räter an dem kaiser — solch ein herr!' und so kehrt hier das wort
wieder, auf ihn selbst bezogen, sowie es einst Max Piccolomini
warnend gegen ihn aussprach (W. T. II 2, 773): nur — - zum Ver-
räter werde nicht! das wort ist ausgesprochen, zum Verräter
nicht! — Aber wo Illo und genossen ihr wesen treiben, wo der fluch-
würdige argwöhn, der unglückselige zweifei herschen, wo alles
wanket, weil der glaube fehlt, wo alles schwarz ist, schwarz wie die
hölle, da musz der edle Max es erleben, dasz auch er als Verräter
angesehen wird; als er (W. T. III 23, 2409) abschied nimmt und,
zweideutige blicke auf Illo und Buttler richtend , besorgt die äusze-
rung thut: 'und die ich scheidend um ihn seh' — *, da entgegnet
Illo mit gröster schärfe: 'sucht die Verräterin eures vaters , in
556 U. Zernial: zu Schülers Wallenstein.
des Gallas lager. hier ist nur einer noch' — ein vvort, das der Zu-
schauer allerdings nur auf Buttler bezieht, das also nur eine um so
gröszere tragische ironie enthält, ^
Als (W. T. II 6, 1169) Octavio dem Buttler rät es wieder gut zu
machen, dasz er die treue solchem gnädigen kaiser gebrochen habe,
und daher sich von dem herzöge zu trennen, ruft Buttler furchtbar
ausbrechend: 'nur von ihm trennen? o er soll nicht leben!'
dieser gewaltige, jähe ausruf findet sich auch in Shakespeares König
Johann (III 3). der könig ist mit seinem kämmerer Hubert zusammen
und wagt nicht recht zu sagen, was er will und möchte: 'mein guter
Hubert, Hubert! wirf den blick auf jenen jungen knaben — Arthur,
söhn von Johanns älterem bruder — ; hör, mein freund, er ist 'ne
rechte schlang' in meinem weg, und wo mein fusz nur irgend nieder-
tritt, da liegt er vor mir: du verstehst mich doch? du bist sein
hüter.' und als nun der könig beruhigt noch die kurzen worte ge-
wissermaszen vor sich hinspricht: 'tod — ein grab' — da ent-
fahren dem Hubert die furchtbaren worte , in denen der höhepunkt
des ganzen dramas liegt: 'er soll nicht leben.' — Als im 4n acte
(sc. 2) dem könige von allen Seiten erzählt wird, prinz Arthur sei
von ihm getötet, erscheint auch Hubert wieder und meldet: 'mein
fürst, es heiszt, man sah die nacht fünfmonde, vier stehend, und
der fünfte kreiste um jene vier in wunderbarer Schwingung.* der
könig fragt noch einmal: 'fünfmonde?' und Hubert, ihm furcht
einzujagen, deutet diese erscheinung, von der alte frauen und männer
in den straszen bedenklich prophezeien , auf Arthurs tod. Wallen-
stein aber ist es selber, der den ihn begleitenden bürgermeister von
Eger fragt (W. T. IV 3, 2611): 'ihr saht doch jüngst am himmel
die drei monde?' und als dieser erwidert: 'mit entsetzen', ent-
gegnet er: 'davon sich zwei in blut'ge dolchggstalt verzogen und
verwandelten; unreiner, der mittlere, blieb stehen in seiner klar-
heit. zwei reiche werden untergehen, im osten und im westen,
sag' ich euch, und nur der Lutherische glaub' wird bleiben.'
Neben diese vergleiche stellen sich solche, in denen die ähn-
lichkeit des inhalts bei beiden dichtem in betracht kommt, das
schwanken Wallensteins vor der entscheidenden that ist eine be-
sondere eigentümlichkeit des beiden, eigentlich handelt er ein-
mal: die verhängnisvolle that Wallensteins ist die Unterredung mit
dem schwedischen obersten Wrangel über ein bündnis (W. T.
I 5), und zwar ist diese handluug die einzige innerhalb von
zehn acten; im sechsten acte steht sie. ähnlich ist es in Shake-
speares Julius Caesar, der held stirbt im anfange des 3n actes; es
folgen die reden des Brutus und des Antonius, die letztere als die
gewaltige peripetie, und im 4n und 5n acte zeigt es sich, dasz wie
der tod Caesars aus dem bürgerkriege, so auch der bürgerkrieg der
verschworenen aus seinem tode sich entwickelt; dasz die Ate die
2 vgl. W. T. V 9, 3762, gräfiu: ^verräterei! verräterei!'
U. Zernial: zu Schillers Wallenstein. 557
freundschaft von männern wie Gassius und Brutus zerreiszt; dasz
endlich des groszen Caesars geist umgeht, und dasz er es ist, der die
Schwerter der verschworenen in ihr eignes eingeweide kehrt, in
den drei ersten acten erscheint Caesar dreimal, und wenn man es
genau nimmt, so handelt er eigentlich auch nur einmal, indem er
aufs Capitol geht. Shakespeare schildert aber die wichtigsten eigen-
schaften Caesars: seine neiguug schmeichelworte und freundliche
redensarten zu hören, seinen Scharfblick und seine menschenkenntnis,
seine wirkliche grösze und erhabenheit, vor allem aber seinen stolz,
sein selbstbewustsein und seine Unfehlbarkeit, und in gleicher weise
verfährt Schiller: Wallensteins hauptzüge sind eben schwanken und
unschlüssigkeit zum handeln, seine allen andern menschen überlegene
Unfehlbarkeit und ebenfalls sein unerschütterliches selbstbewustsein.
beide dichter haben demnach beide beiden mehr menschlich als
staatsmännisch handelnd dargestellt.
Noch eine ganz besondere ähnlichkeit haben bekanntlich die
beiden dramen Shakespeares Caesar und Macbeth mit Schillers
Wallenstein, die römische weit, aus der Shakespeare seinen Caesar
entlehnt hat, liesz ihn auguren und alle priester finden, welche in dem
opfertiere die eingeweide prüften und daraus die Wahrheit zu ver-
künden glaubten. Macbeth lebte in einer zeit, wo der hexenglaube
besonders lebendig war, und namentlich in der dunkeln schottischen
nebelwelt zeigten sich das hexenwesen und die höllischen Zauber-
künste in vollster blute, nicht blosz bei dem niederen volke, son-
dern auch bei den groszen und besonders bei dem i-egierenden könige
Jacob I war der glaube an diese dämonische weit weit verbreitet.
in der zeit des di-eiszigjährigen krieges endlich blühte aberglaube
aller art, und namentlich der sternenglaube zog die aufmerksamkeit
vieler bedeutender männer auf sich ; auch Wallenstein gestattete der
sternenkunst viel einflusz auf sich, und im prologe sagt Schiller aus-
drücklich , dasz die kunst 'die gröszre hälfte seiner schuld den un-
glückseligen gestirnen zuwälzt', jeder der drei dramatischen beiden
schreibt nun dem äuszeren motive viel einflusz zu, ist in gewisser
weise von diesem äuszeren momente abhängig und läszt sich in
seinem handeln von ihm bestimmen. Calpurnia hat im schlafe drei-
mal gerufen: 'o helft! sie morden Caesar', und sofort befiehlt Caesar
einem diener: 'geh, heisz die priester gleich zum opfer schreiten und
bring mir ihre meinung vom erfolg.' dem Macbeth rufen die hexen
zu: 'heil dir! heil dem Than von Glamis, von Cawdor, dem einst'gen
könig!', und getrieben von den lockungen der hexen bahnt er durch
den mord des königs Duncan sich den weg zum königsthrone. Wallen-
stein hat den astrologischen türm zur Verfügung und benutzt ihn,
wenn er es für angemessen hält; als Illo (Picc. II 6, 1929 ff.) ihm
zuredet zu handeln, denn 'so selten kommt der augenblick im leben,
der wahrhaft wichtig ist und grosz', entgegnet er: 'die zeit ist noch
nicht da', aber als er mit dem astrologen Seni (W. T. 1, 9 ff.) in
der frühe des morgens den Sternenhimmel eifrig studiert, ruft er
558 U. Zernial: zu Schillers Wallenstein,
plötzlich: 'glückseliger aspect! jetzt musz gehandelt werden, eh'
die glücksgestalt mir wieder wegfliegt überm haupt, denn stets in
Wandlung ist der himmelsbogen.'
Aber — und hier ist die wichtigste ähnlichkeit unter den drei
stücken — für alle drei beiden kommt der augenblick, in dem jeder
die lang gehegte und gepflegte abhängigkeit von der äuszeren ein-
wirkung abstreifen und so die Selbstbestimmung des Charakters und
die freiheit des handelns sich erkämpfen möchte, der diener kommt
zu Caesar zurück : 'die auguren raten euch für heut nicht auszugehn;
da sie dem opfertiere das eingeweide ausnahmen, fanden sie kein
herz darin.' der stolze Caesar entgegnet, er werde doch ausgehen,
aber Calpurnia weisz ihn umzustimmen, ihretwegen, sein grund, so
erklärt er dem inzwischen erschienenen Decius, sei nur sein wille;
er wolle nicht kommen ; als aber dieser äuszert, er fürchte verlacht
zu werden, wenn er sage, Caesar wolle nicht, und nun den wirk-
lichen grund, Calpurnias träum, erfährt, da teilt er mit, dasz der
Senat heute dem groszen Caesar eine kröne geben wolle, und sofort
ruft Caesar, der unfehlbare: 'ich schäme mich, dasz ich ihr nach-
gegeben, reicht mein gewand mir her, denn ich will gehn' — in
den tod; die frommen auguren hatten dem gläubigen Römer einen
richtigen rat gegeben , der ehrgeizige hört sie nicht. — Macbeth ist
könig. Banquo ist getötet, aber die erscheinung seines geistes beim
bankett hat Macbeth bis ins mark erschüttert; Fleance ist geflohen,
und Macduff hat sich geweigert zum feste zu erscheinen, schon ist
er seiner ansieht nach im blute so weit gewatet (III 4), dasz um
seines wohles willen alles andere nachstehen musz, und dasz 'es auf
dem schlimmsten wege das schlimmste ihn zu hören drängt': er will
noch einmal die zauberschwestern besuchen — er sieht acht könige
erscheinen und hinter einander vorüber ziehen, den letzten mit einem
Spiegel in der band; Banquos geist folgt und lächelt blutbefleckt
dem Macbeth zu, auf die könige als seine nachkommen deutend.
Macbeth ruft aus: 'dasz diese unheilstunde für ewig steh verflucht
im buch der zeit!' da beschlieszt er Macduffs familie zu vernichten,
geht also seinen eignen weg, und setzt, den aberglauben von sich
werfend, die worte hinzu (IV 2): 'doch nichts von geistern mehr!*
als aber später (V 8) Macduflf ihm erklärt, er sei aus dem mutter-
schosze geschnitten vor der zeit, da verstärkt er jene worte noch,
indem er sagt: 'kein glauben mehr den hinterlistigen teufein, die
uns mit doppelzüng'gem sinn belügen, die unserm obre ihr ver-
sprechen halten, doch unserm hoffen nicht!' — Noch eben (W. T.
V 4, 3550) hat Wallenstein dem Gordon entgegnet:
ei, deine Weisheit hat sich schlecht bewährt,
sie hat dich früh zum abgelebten manne
gemacht und würde dich, wenn ich mit meinen
groszmUt'g ern Sternen nicht dazwischen träte,
im schlechten winkel still verlöschen lassen —
da kommt schon in der nächsten scene (W. T. V 5, 3600 fi".) der
astrolog Seni in groszer erregung und spricht die warnenden worte:
U. Zernial : zu Schillers Wallenstein. 559
flieh, hoheit, eh' der tag anbricht!
komm, lies es selbst iu dem planetenstand,
dasz Unglück Dir von falschen freunden droht.
Wallenstein aber erwidert:
von falschen freunden stammt mein gfanzes Unglück;
die Weisung hätte früher kommen sollen,
jetzt brauch' ich keine sterne mehr dazu —
er brauchte sie wohl, diesmal, um dem tode zu entgehen, aber der
unfehlbare, selbstbewuste mann glaubt diesmal klüger als die
sterne zu sein, wenn aber Caesar, Macbeth und Wallenstein im
allerwichtigsten augenblicke von der äuszeren gewalt der seher oder
der hexen oder der sterne sich losmachen oder sie insgesamt in die
ecke werfen, alle drei um selbständiger und freier zu handeln, so
ist Wallenstein ebenso wenig wie die beiden andern dramen eine
schicksalstragödie in modernem sinne, die dichtung ist nach
der einen Seite eine antikisierende schicksalstragödie: darum spricht
der prolog von der gröszeren hälfte der schuld, die den unglück-
seligen gestirnen zuzuwälzen sei; darum kehrt unter den personen
des Stückes mehrmals die Unterhaltung über wert und unwert des
schicksalsglaubens wieder; darum holt sich Wallenstein 'aus dem
buche der sterne^ bald bange ahnung und zögerndes schwanken
(s. 0. s. 556), bald mut und feste entschlossenheit, und aus dem
buche der sterne holt er sich auch sein unseliges vertrauen zu
Octavio, der sein verderben wird', neben diesem schicksalsmotive
steht anderseits zugleich die kunstvollste Verkettung der äuszeren
umstände und ereignisse. 'die macht der thatsachen umstellt den
beiden mit einer ähnlichen unentrinnbarkeit wie den beiden der
alten tragödie das Schicksal'* — aber im letzten, bedeutsamsten
augenblicke wirft er die fesseln des Schicksals von sich und erliegt
der gewalt der thatsachen, der Verknüpfung der begebenheiten :
Schiller sagte selbst, es werde den tragischen eindruck sehr erhöhen,
dasz lediglich die umstände alles zur krisis thäten,
3. Der bau des Wallenstein.
Am 12 october 1798 wurde die Weimarer bühne von neuem
eröffnet: der herliehe 'prolog' wurde gesprochen, und durch ihn die
Wallensteinschen stücke, insbesondere das Lager eingeführt, die
neue eigentümliche dichtung und der neue schöne 'heitere tempel*
vereinigten sich, um die einbildungskraft der zuhörer in eine höhere
Stimmung zu versetzen; sie sahen und fühlten sich an der schwelle
einer neuen ära der kunst Thalias und der dramatischen dichtung.
Das Lager ist ein verspiel unter den drei stücken, welche
Schiller mit dem gesamttitel 'Wallenstein, ein dramatisches gedieht'
bezeichnet, und musz durchaus als ein selbständiges scenisches bild
3 Hettner, geschichte der deutschen litteratur im 18n Jahrhundert
III 3, 2e abt. 248. 250.
* ebenda.
560 U. Zernial: zu Schillers Wallenstein.
angesehen werden, es ist von den beiden stücken der tragischen
handlung in spräche und versmasz gänzlich verschieden, erfreut sich
eines eigentümlichen inneren lebens und bedarf der folgenden stücke
nicht, um vollständig zu genügen, es hat nur einen act; die per-
sonen der haupthandlung treten gar nicht auf, und doch soll es uns
einen klaren eindruck von den zuständen im Wallensteinschen beere
geben und gibt ihn auch in vortrefflicher weise, man darf nicht von
einer trilogie^ Wallenstein reden, sondern eben nur von einem vor-
spiele als einem abgeschlossenen bilde und einer selbständigen dich-
tung, von einem lust- und lärmspiele, wie Goethe sagt®, in dem wir
in niedriger gesellschaft uns bewegen und festgehalten werden, aber
in dem bunten treiben des lagerlebens ist man auch nicht müszig;
man handelt, man beschlieszt eine bittschrift zur Unterzeichnung in
Umlauf zu setzen, des inhalts, dasz die regimenter, wie sie jetzt um
den groszen heerführer vereinigt sind, nicht getrennt werden, so ist
eine handlung, eine that da, welche nicht für sich selber allein be-
deutung hat, sondern welche als ein stück der exposition dient und
zwar als exposition der handlung der Wallensteinschen Soldaten.
Im gegensatze zum Lager stehen die Piccolomini und
Wallensteins Tod, erstens zwei stücke in iamben geschrieben,
deren Wirkung, wie Goethe sich ausdrückt, durch das ungebildetere
silbenmasz des Vorspiels vorbereitet und erhöht wird ; sodann hält
Franz ^ die Piccolomini für eine exposition der handlung der führer
im gegensatze zu jener der truppen, und Hettner® sieht 'in denselben
eine über alle gewohnten und zulässigen tragödiengrenzen hinaus-
quellende breite der exposition, die eine Ungeheuerlichkeit der ärg-
sten art ist. der aufbau der handlung leidet an den ärgsten unwahr-
scheinlichkeiten und gewaltsamkeiten; die composition ist nicht
blosz weitschichtig, es mangelt ihr auch die zwingende folgerichtig-
keit und klarheit'. selbst Goethe, der an der Schöpfung des Wallen-
stein so warmen anteil nahm und immer ihr begeisterter lobredner
geblieben ist, kann sich nicht enthalten in einem briefe vom 9 märz
1799 gegen Schiller selbst anzudeuten, dasz 'das gewebe der Picco-
lomini verwirrend künstlich und willkürlich sei', aber dennoch,
trotz all dieser ausstellungen — wir wissen, dasz Schiller die ein-
teilung in zwei dramen eigentlich nicht beabsichtigt hat und nur
durch äuszere gründe, die aufführbarkeit an einem abende, zu der-
selben bestimmt worden ist; wir wissen, dasz die zwei ersten acte von
Wallensteins Tod, die ursprünglich zu den Piccolomini gehört haben,
später von diesen abgetrennt sind ; wir wissen , dasz die ursprüng-
liche anläge der Piccolomini mit dem abfalle Isolanis und Buttlers
schlosz ; trotz alle dem , sage ich , musz man bei einem manne wie
'" Goelhe hat in einem g'espräche mit Schlegel des pathetischen
nachdrucks wegen von der 'groszen Wallensteinischen trilogie' ge-
sprochen, s. Werder a. a. o. s. 1.
* Goethe, Schriften und aufsätze zur kunst. Hempel 28, 627.
' Goethe a. a. o. s. 629. » a. a. o. s. 394. " a. a. o. s. 252.
ü. Zeruial: zu Schillers Wallenstein. 561
Schiller, der schon von den Räubern an eine so geniale meisterschaft
im dramatischen organisieren zeigte, vollständig überzeugt sein,
dasz, wenn er zwei stücke schuf, welche zwei abende ausfüllten, er
jedes derselben möglichst auch so ausstattete, dasz es den an-
sprüchen und anforderungen der kritik genügte, und die dramati-
schen regeln darin nach möglichkeit erfüllt wurden, so ist es von
interesse zu sehen, dasz innerhalb der beiden fünfactigen stücke die
handlung bis zu einem höhepunkte sich bewegt, der in den Picco-
lomini in der liebesscene zwischen Max und Thekla (III 5), in
Wallensteins Tod in der kürassierscene (III 15) liegt; sodann dasz
die Piccolomini in der lösung des Max von seinem vater einen
wirkungsvollen abschlusz finden, es steht ferner fest , dasz der an-
fang des zweiten Stückes mit dem Schlüsse des ersten zeitlich und
inhaltlich ganz eng zusammenfällt: als vater und söhn sich trennen,
ist es morgen (vgl. V 1, 3 'gleich ist's morgen' und V 2, 2 'so früh
am tag!'), und als Wallenstein und Seni 'nicht mehr gut operieren'
können, heiszt es: 'der tag bricht an, und Mars regiert die stunde'
(W. T. I 1, 2 ; am 23 februar etwa um 6V2— 7 uhr). da die rückkehr
vom bankett und die besprechung zwischen vater und söhn, ebenso
wie die beendigung der astrologischen Studien am frühen morgen
stattfinden, die ersteren beiden aber von Schiller an das ende eines
actes gestellt sind, so ist es einerseits wohl nicht gewöhnlich, aber
doch auch nicht unmöglich und undenkbar, dasz dieser act nun auch
der letzte einer tragödie ist, um so mehr wenn man sich denkt, dasz
diese düstere trennung des sohnes vom vater ein werk der düstern
nacht ist; und anderseits ist es auch nicht widersinnig, dasz wie sonst
der folgende act derselben tragödie, so auch hier der folgende act
einer andern, aber doch dem Inhalte nach ähnlichen tragödie genau
an die zeit des vorhergehenden dramas anschlieszt. es soll auch zu-
gegeben werden, dasz erstens einiges von dem inhalte von Wallen-
steins Tod wenig verständlich bleibt ohne die in den voraufgehen-
den fünf acten der Piccolomini gegebenen Voraussetzungen: ich
denke mir, dasz Schiller das auf die zweite tragödie bezügliche in
den Piccolomini mehr in den hintergrund treten lassen wollte gegen-
über dem, was sich zunächst nur auf die Piccolomini, vater und söhn
allein, bezog; zweitens dasz auch das wesentliche in dem geschicke
der beiden Piccolomini, ihr Verhältnis zu Wallenstein und den seinen,
in dem ersten drama so weit erledigt wird, wie es unumgänglich
nötig erscheint, namentlich in bezug auf das Verhältnis von vater
zu söhn und umgekehrt und beider zu Wallenstein; dasz Schiller
also gewissermaszen teilt, indem er erst und vorwiegend die beiden
Piccolomini allein behandelt neben einander und neben Wallen-
stein, nachher sie beide mit Wallenstein. Goethe sagt '": 'das stück
unter dem titel Piccolomini enthält vorzüglich die Wirkungen der
Piccolomini, vater und söhn, für und gegen Wallenstein, indessen
10 a. a. 0. s. 628 u.
562 U. Zernial: zu Schillers Wallenstein.
dieser noch ungewis ist, was er thun könne und solle.' wie der
vater sich zu Wallenstein stellt, wie er, scheinbar ein freund, sein
Verräter wird, das ist oben" berührt worden, neben diesem zwei-
deutigen Charakter steht die reine, edle natur seines sohnes '^ Max,
der aber nie gelebt hat. ihn schuf das bedürfnis einer hellen gestalt
in den düsteren gruppen jener tage sowie der wünsch, den söhn als
jugendlichen freund Wallensteins darzustellen und dadurch das s'er-
hältnis zwischen diesem und dem vater bedeutsamer zu machen.
Max liebt die einzige tochter Wallensteins, Thekla, und von G. Frey-
tag, Hettner, Hoffmeister wird für die scenen, welche Max und
Thekla betreffen, der ausdruck episode gebraucht, der ebenso un-
genau und deshalb ebenso falsch ist wie vorher trilogie. Max, zwi-
schen Wallenstein und Octavio gestellt, trat als zweiter erster held
in das drama ein, und die liebesscenen wie der kämpf zwischen vater
und söhn, zwischen dem jungen beiden und Wallenstein erweiterten
sich zu einer besondern handlung. die dramatische einheit'^ bleibt
ungestört, aber sie schlieszt manigfaltigkeit'* nicht aus; im gegen-
teil, wo sich die manigfaltigkeit zur einheit zusammenschlieszt, tritt
diese nur um so schöner hervor, das thun und leiden des Max
Piccolomini ist wohl an sich eine ergreifende dramatische hand-
lung, aber sie ist durch und durch eine Wirkung von Wallensteins
entschlüssen , eine Wirkung, welche für diesen wieder Ursache tiefer
Seelenerregungen wird, so sehen wir denn in den Piccolomini den
vater zwiefach handeln, sowohl mit dem söhne wie mit Wallenstein,
der söhn aber steht im Vordergründe , und dreifach ist das wirken
seines handelns mit Thekla, dem vater und dem Wallenstein,
die liebe aber zu Friedlands tochter bildet den höhepunkt — und
da hat man von 'episode der liebenden' gesprochen! — und die
lösung des sohnes vom vater bildet die katastrophe, beides so be-
deutsame, wichtige punkte in dem ersten drama von 'Wallenstein,
ein dramatisches gedieht', kein zweifei, dasz die Piccolomini so
auch als ein abgerundetes ganzes vor uns stehen , aber in bezug auf
Wallensteins Tod hat man die empfindung, als steige der junge
Piccolomini allmählich auf zu dem höchsten, was es für ihn gibt,
zu einem beiden, der nach dem wirklichen abschiede von seinem vater
(W. T. II 71) nun auch den ewigen abschied nehmen kann von
seinem 'ewig teuren und verehrten' freunde und von dessen innig
geliebten tochter. treffend und schön bemerkt in dieser beziehung
Goethe in seinem briefe vom 18 märz 1799: 'das letzte stück hat
den groszen vorzug, dasz alles aufhört politisch zu sein und blosz
menschlich wird; ja das historische ist nur ein leichter schleier, wo-
durch das rein menschliche durchblickt, die Wirkung aufs gemüt
wird nicht gehindert noch gestört.' Schiller aber schreibt an Goethe
am 17 märz 1799: 'wenn Sie davon urteilen, dasz es nun wirklich
" s. abhaudlung 1 s. 534 fif. '« Goethe a. a. o. s. 653.
" s. oben s. 560 f. '^ Kern a. a. o. s. 165.
Ü. Zernial: zu Schillers Wallenstein. 563
eine tragödie ist, dasz die hauptforderungen der empfindung erfüllt,
die hauptfragen des Verstandes und der neugierde befriedigt, die
Schicksale aufgelöst und die einheit der hauptempfindung erhalten
sei, so will ich höchlich zufrieden sein, für den theatralisch-tragi-
schen zweck scheint mir das werk ausgeführt genug.'
So übersandte der dichter dem freunde das gesamte werk, den
gesamten Wallenstein, immerhin müssen wir aber davon überzeugt
sein, dasz der dichter, nachdem er sich entschlossen hatte, den stoff
des gedichtes zu teilen, mit raschem, aber sicherem blicke auch für
das erste drama, die Piccolomini, das alles an die richtige stelle ge-
bracht hat, was er brauchte, um die gesetze des dramatischen baues
zu erfüllen und die Wirkungen desselben seine zuschauer genieszen
zu lassen, wir besitzen in Schillers * Wallenstein, ein dramatisches
gedieht' ein doppeldrama, bestehend aus zehn acten und einem vor-
sijiele, aber auch zwei dramen, die Piccolomini und Wallensteins
Tod, in denen zwei handlangen mit je fünf acten sich abspielen,
gleichwie nun niemand mehr daran zweifelt, dasz nicht nur Goethes
Tasso nach unserem sprachgebrauche eine tragödie zu nennen ist,
sondern auch seine Iphigenie und Schillers Teil, so musz man auch
die Piccolomini als eine tragödie bezeichnen. Goethe sagt in 'kunst
und altertum' : 'das grundmotiv aller tragischen Situationen ist das
abscheiden, und da braucht's weder gift noch dolch, weder spiesz
noch Schwert; das scheiden aus einem gewohnten, geliebten, recht-
lichen zustande, veranlaszt durch mehr oder minderen notzwang,
durch mehr oder minder verhaszte gewalt, ist auch eine Variation
desselben themas.' zu solchem abscheiden, zu solcher trennung führt
die handlung in Schillers Piccolomini: Max Piccolomini trennt sich
von seinem vater dem Wallenstein zu liebe und scheidet aus dem
gewohnten, geliebten verkehre mit ihm ab.
So ist es mir nicht anders möglich, als an G. Freytags '^ auf-
stellung des baues für den Wallenstein im allgemeinen festzuhalten :
'in der seele des dichters formte sich die grosze handlung nicht
ebenso , wie wir uns dieselbe ihm nachsinnend aus dem fertigen
stücke bilden, er empfand mit überlegener Sicherheit den verlauf
und die poetische Wirkung des ganzen, die einzelnen teile des kunst-
vollen baues ordneten sich ihm in der hauptsache mit einer gewissen
naturuotwendigkeit ; das gesetzmäszige der gliederung machte er
sich keineswegs überall durch verständige Überlegung so deutlich,
wie wir vor dem fertigen kunstwerke nachschaflfend zu thun genötigt
sind, demungeachtet haben wir ein gutes recht , dies gesetzmäszige
nachzuweisen, auch da, wo er es nicht nachdenkend wie wir in einer
formel erfaszt hat. denn das gesamte drama Wallenstein ist in
der einteilung, welche der dichter zum teil als selbstverständlich bei
dem ersten entwürfe und wieder für einzelne stücke erst spät, viel-
*^ technik des dramas s. 180*.
564 U. Zernial: zu Schillers WallensteiD.
und regelinäsziges kunstwerk.' mir scheint sich diese geschlossen-
heit und regelmäszigkeit für den bau der dramen am einfachsten
und ungezwungensten in folgender gestalt zu ergeben :
Wallenstein, ein dramatisches gedieht.
(erster teil.) '*
"Wallensteins lager.
prolog. lager.
1. Die einzelnen dramen.
a) Die Piccolomini, eine tragödie in fünf aufzügen.
I 2 erregendes moment: so ist doch auch mein söhn Max zurück.
I 5 erste stufe der Steigerung; zu ihr.
II 6 zweite stufe der Steigerung: wenn du der Piccolomini gewis
bist. — wie meiner selbst, die lassen nie von mir.
III 2 dritte stufe der Steigerung: sorg nur, dasz er sich nicht lange
bedenke bei der unterschritt.
III 5 höhepunkt: trau ihnen nicht!
III 7 Peripetie: du heilige, rufe dein kind zurück! vgl. III 9.
III 8 erste stufe der fallenden handlung: was niemand wagt, kann
seine tochter wagen.
IV 7 zweite stufe der fallenden handlung: laszt's ruhn bis morgen!
V 2 dritte stufe der fallenden handlung: wir haben ihn (den Sesin,
den Unterhändler) !
V 3 katastrophe: und eh der tag sich neigt, musz sich's erklären,
ob ich den freund , ob ich den vater soll entbehren.
(zweiter teil.)'®
b) Wallensteins Tod, eine tragödie in fünf aufzügen.
I 2 erregendes moment: er (Sesin) ist gefangen!
I 7 erste stufe der steigenden handlung: ruft mir den Wrangel!
II 6 zweite stufe der steigenden handlung: o, er soll nicht leben!
III 9 dritte stufe der steigenden handlung: graf Piccolomini ist
ein Verräter.
III 15 höhepunkt: du willst den kaiser nicht verraten?
III 16 Peripetie: rechts um!
IV 6 erste stufe der fallenden handlung: er darf nicht leben!
V 2 z weite stufe der fallenden handlung: er soll als feldberr enden.
V 10 katastrophe: drin liegt der fürst ermordet.
2, Das doppeldrama Wallenstein, eine tragödie in zehn
aufzügen.
Picc. 12 erregendes moment: heute soll ich Böhmen befreien
von seinen freunden und beschützern.
'ß nach der ai;sgabe von 1800. Tübingen, Cotta.
U. Zernial: zu Schillers Wallenstein. 565
Picc. II 2 erste stufe der steigenden handlung: man spricht von
einer zweiten — schimpflichem absetzung.
Picc. II 6 zweite stufe der steigenden handlung: gibt uns nicht
graf Terzky ein bankett heut' abend?
Picc. II 7 dritte stufe der steigenden handlung: ich soll ihm den
gefallen thun (zu gehen).
Picc. III 9 vierte stufe der steigenden handlung: es geht ein
finsterer geist durch unser haus.
Picc. IV 7 fünfte stufe der steigenden handlung: vor tisch war
ein gewisser vorbehält und eine clausel drin von kaisers dienst.
Picc. V 2 höhepunkt 1: wir haben ihn (den Unterhändler, den
Sesin) !
W. T. I 7 höhepunkt 2: ruft mir den Wrangel!
W. T. I 7 Peripetie: schickt nach dem Octavio!
W. T. II 2 erste stufe der fallenden handlung: wir werden mit den
Schweden uns verbinden.
W. T. II 6 zweite stufe der fallenden handlung: o, er soll nicht
leben!
W. T. IV 23 dritte stufe der fallenden handlung: (Buttler ver-
weigert seine band).
W. T. IV 4 und 5 vierte stufe der fallenden handlung: die Schweden
blieben sieger — auch der Max, der sie geführt, ist auf dem
platz geblieben.
W. T. IV 6 fünfte stufe der fallenden handlung: war' die armee
des kaisers nicht geschlagen, möcht' ich lebendig ihn erhalten
haben.
W. T. IV 14 katastrophe 1 : gut' nacht, geliebte mutter!
W. T. V12 katastrophe 2: dies haus des glanzes und der her-
lichkeit steht nun verödet.
4. Schillers Wallenstein musz in der prima gelesen werden.
Die besprechung des Wallenstein schlieszt Hettner in seiner
litteraturgeschichte '^ mit den worten : 'Schillers Wallenstein ist trotz
der erwähnten mängel die gröste deutsche tragödie.' sagen wir
mit Werder'^: der Deutschen, denn Wallenstein 'ist kein held des
vaterländischen geistes, und aus der ganzen politischen action
ist nichts nationalerhebendes zu machen: national, deutsch, vater-
ländisch ist der stoff des dramas nicht', aber die hinreiszende ge-
walt dieser grösten tragödie liegt einmal in der macht des gegen-
ständes, der prolog, der beste commentar der dichtung, spricht
es aus:
und jetzt an des Jahrhunderts ernstem ende,
wo selbst die Wirklichkeit zur diclitung wird,
wo wir den kämpf gewaltiger naturen
um ein bedeutend ziel vor äugen sehn,
und um der menschheit grosze gegenstände,
" a. a. 0. s. 261. i« a. a. o. s. 211.
566 U. Zernial: zu Schillers Wallenstein.
um herschaft und um freiheit wird gerungen,
jetzt darf die kunst auf ihrer Schattenbühne
auch höhern flug versuchen; ja sie musz,
soll nicht des lebens bühne sie beschämen.
SO ist es naive poesie der geschichte, was den mächtigen gegenständ
der dichtung ausmacht, von gleicher grösze und Schönheit ist aber
die kunst der ausführung. sie liegt darin, sagt Hettner mit ganz
bestimmtem hinblick auf das vorbild Sophokleischer tragik, dasz die-
selben mittel, welche der held zu seiner erhöhung verwertet, sich immer
vernichtend gegen ihn selbst wenden : schlieszlich fällt er, der Verräter,
durch verrat." Schiller beachtete ferner, dasz Shakespeare*" auch
seinerseits die einzelnen volksfiguren, z. b. in den volksscenen des
Julius Caesar ganz im sinne der griechischen typik behandelte, indem
er die Charaktere als feste und in sich notwendige typen bestimmter
stände und Verhältnisse wie die griechischen tragiker ansah, so
arbeitete sich Schiller an Sophokles und Shakespeare empor, und er
betrachtete es als die erfreulichste erweiterung seiner natur, dasz die
zunehmenden jähre und der anhaltende Umgang mit Goethe neben
eben jenem Studium der alten und Shakespeares allmählich einen
realistischen sinn in ihm erzeugten , der ihm früher ganz fern lag.
daneben aber blieb ihm die forderung zwingender naturwahrheit und
lebensfrische nach wie vor unverrückbares ziel , und dieses ziel war
das erste ideal, das dem dichter beim Wallenstein und fortan bei
allen seinen dramen anspornend vor äugen stand.
Als Schiller den Wallenstein beendigt hatte, 'hatte er die
technische meisterschaft erreicht und trat in die periode erleichterter
und beschleunigter production ein', er stellte dabei die grösten an-
forderungen an sich und seine dichtungen und bemühte sich seinen
dramen ein besonderes ideales dement zuzuführen und sie so in ihrer
gesamten kunstform zu veredeln, immer tragen daher seine nächsten
dramatischen Schöpfungen eine künstlerische besonderheit an sich.
Maria Stuart ist weniger ein historisches drama als der Wallen-
stein, denn die tragische fabel ist frei gebildet, wie sie hätte sein
können (Arist. poet. c. 9), das mittel aber die tragödie zu ideali-
sieren ist die begeisterte erhebung der katholischen kirche in den
scenen zwischen Maria und Mortimer sowie zwischen Maria und
Melvil. die Jungfrau von Orleans ist eine 'romantische' tra-
gödie, nicht blosz weil Schiller uns auf den boden der Romanen und
in die geschichtliche weit des mittelalters versetzt, sondern weil er
die tragödie dadurch idealisiert, dasz er die erscheinung der Jungfrau
als eine wunderbare handlung auffaszt, auf dieser weit der wunder
auch die ganze dramatische handlung aufbaut und aus ihr auch den
ganzen tragischen conflict, die verabsäumung der von der Jung-
frau Maria streng geforderten pflicht der entsagung auf irdische
liebe, entstehen läszt. die Braut von Messina endlich sollte die
vollendetste, idealste kunstform erhalten. Schiller wollte das
19 s. oben s. 555. 20 g, oben s. 553.
U. Zernial: zu Schillers Wallenstein. 567
Schicksal verwerten in antiker weise, aber in Wirklichkeit hat die
Braut von Messina nur äuszerliche ähnlichkeit mit dem König
Ödipus: die that Don Cesai's scheint von dem alten orakel abzu-
hängen, hängt aber genau genommen von dem Charakter des beiden
ab, sie ist seine schuld, immerhin aber sind es die chorlieder,
welche dem drama einen idealen Charakter verleihen, und von denen
es in Berlin am 14 und 16 juni 1803 hiesz: 'sie senkten sich wie
ein wetter über das land.'
So wollte Schiller die denkbar edelsten fruchte ernten, die sich
auf den gefilden der edelsten kunst pflücken lieszen , und doch , so
vortrefflich die tragödien alle drei für alle zeiten gelten werden,
Schiller selbst war doch nicht völlig zufrieden mit dem, was er vom
künstlerischen Standpunkte aus erreicht hatte, und es behagten ihm
die bahnen, die er eingeschlagen, nicht ganz, er bearbeitete nun die
Teilsage, und die Vollendung des Demetrius hinderte der tod, beiden
Stoffen aber fügte er keine besonderheiten irgend welcher art zu, um
so eine besondere idealisierung zu erzielen, sondern er hatte die
Überzeugung gewonnen, dasz der stoff für den dramatiker der beste
und der geeignetste ist, der in ruhiger entwicklung allgemeine und
rein menschliche Verhältnisse vorführt, aus denen in klar verständ-
licher weise der weilenschlag der dramatischen Verwicklung sich
kräuselt und der tragische conflict entsteht.
So urteilte rückwärts schauend Schiller selber, gewis schätzte
er seine werke hoch, wie er sie arbeitend hoch emporgehoben, aber
doch erschien ihm der Wallenstein künstlerisch erhabener gefaszt
als die folgenden dichtungen alle, und den höchsten und idealsten
stil des dramas fand er in ihm. und mehr noch als er selber neigen
dieser ansieht zu die freunde des dichters , nicht am wenigsten die-
jenigen, welche durch lesen seiner dichtungen ihm freunde und Ver-
ehrer gewinnen wollen, diejenigen, welche der ansieht sind, dasz das
beste gerade gut genug ist für die lernende Jugend, für die schule.
man vergegenwärtigt sich gern , wie sehr die Sophokleische tragik
Schiller bei seiner arbeit beeinfluszt hat, dasz also der moderne
dichter seine arbeit vollendet hat, nicht ohne die fertige, voll-
kommene dichtung des antiken zu berücksichtigen, man stellt sich
ebenso gern vor äugen, wie der moderne dichter von der antike
weiter gewandert ist zu dem grösten dramatiker aller christlichen
Zeiten, zu Shakespeare, um die von ihm in dessen eignem innern ge-
fundenen und erschaffenen unvergänglichen gesetze und bedingungen
des dramas an seinen werken zu erlernen, namentlich widmete er
sich zu der Vorarbeit für den Wallenstein den beiden Römerstücken
Julius Caesar und Coriolan, aber den bedeutendsten einflusz von
allen übte die tragödie Macbeth^' aus. Schiller schrieb an Goethe
(28 nov. 1796): 'das eigentliche Schicksal thut noch zu wenig, und
der eigne fehler des beiden (Wallenstein) noch zu viel zu seinem
** Beckhaus, progr. von Ostrowo 1889 und 1892 (a, e ).
568 U. Zernial: zu Schillers "Wallenstein.
Unglück, mich tröstet aber einigermaszen das beispiel des Macbeth,
wo das Schicksal ebenfalls weit weniger schuld hat als der mensch,
dasz er zu gründe geht', und es ist bekannt, dasz er bald nach be-
endigung des Wallenstein an die bearbeitung des Macbeth sich be-
gab, auszer Caesar und Cox'iolan eignet sich nun aber kein stück
Shakespeares so für die lectüre der oberen classen der gymnasien
wie das drama Macbeth , das doch mit recht allgemein für eine der
gewaltigsten, wenn nicht für die gewaltigste tragödie von allen an-
gesehen wird , und das auch darum der schule näher liegt , weil es
so vielfach gerade mit Schillers Wallenstein sich berührt, und weil
Schiller eben eine bearbeitung davon verfaszt hat.
Der Wallenstein war eine neue epocbe Schillers , und er war
auch eine neue epocbe des deutschen dramas. erst Schillers Wallen-
stein hat Goethes Iphigenie und Tasso den weg auf die bühne ge-
bahnt, und wie die lectüre dieser beiden dichtungen nur für die
oberste classe geeignet ist, so ist auch Schillers Wallenstein nur in
der prima zu lesen, auf die beziehungen des Stückes zum classischen
altertume sowie zu hervorragenden dramen Shakespeares ist hin-
gewiesen worden; gerade zum Wallenstein ist die Vorarbeit aus
beiden gebieten sehr sorgfältig und gründlich gewesen, und nun
kommt noch ein anderer punkt bei diesem drama mehr als bei
allen dramen Schillers in betracht, welcher die dichtung gerade für
die prima bestimmt. Wallenstein ist, sagt Hettner, die gröste
deutsche tragödie. sie ist es wegen ihres besonders deutschen ge-
mütvollen Charakters: das nationale liegt nicht im stoffe, sondern
im ton der Charaktere, in den empfindungen, gesinnungen, ge-
danken der personen, und weil diese alle grunddeutsch sind, darum
musz diese auch in dieser beziehung durchaus reifste deutsche tra-
gödie Schillers nur den reifsten unserer schüler geboten werden,
durch die sorgfältige besprechung dieser dichtung wird sie den pri-
manern bald sehr nahe treten, sie werden sich schnell und gern in
ihr zu hause fühlen, und sowohl der Inhalt im ganzen wie die ge-
danken in einzelnen worten und Sprüchen werden ihnen leicht in
fleisch und blut übergehen, um so mehr als sie alle erklingen in der
vornehmsten , herlichsten deutschen spräche. Schillers Wallenstein
ist die deutsche tragödie, welche unsern ersten und reifsten schülern
als ihr ureigentum gehört, indem sie in ihr bekannt und bewandert
sein müssen von scene zu scene, von act zu act wie in keinem andern
werke unserer poetischen litteratur. man denke auch an unsere pri-
maner, wenn man Tiecks worte in den dramaturgischen blättern
liest: 'als ein denkmal ist dieses tiefsinnige, reiche werk für alle
Zeiten hingestellt, auf welches Deutschland stolz sein darf, und
nationalgefühl, einheimische gesinnung und groszer sinn strahlt uns
aus diesem reinen Spiegel entgegen.*
Berlin. U. Zebnial.
E. Schwabe : zur gescliichte der deutseben Horazübersetzungen. 569
(25.)
ZUR GESCHICHTE DER DEUTSCHEN HORAZ-
ÜBERSETZUNGEN. '
4, Die Moralia Horatiana des Philipp von Zesen.
Eine ganz eigenartige erscheinung auf dem gebiete der älteren
Horazlitteratur ist das schon in diesen jahrb. (jahrg. 1896 s. 318)
erwähnte werk des vielgeschäftigen Philipp von Zesen: 'Moralia
Horatiana, das ist die Horatzische Sittenlehre. Amstelodami, apud
Cornelium Danckerts 1656. aus der Ernst -sittigen Geselschaft
der alten Weise -meister gezogen und in 113 (vielmehr 103) in
Kupfer gestochenen Sinnbildern und ebenso viel erklärungen und
andern anmSrkungen vorgestellet: izund aber mit neuen reim-
bändern gezieret und in reiner hochdeutschen Sprache zu lichte ge-
bracht durch Filip von Zesen.' das eigentümliche buch verdanken
wir dem bekannten unstäten wandei-er, der auf einer seiner zahl-
reichen holländischen reisen^ auch auf den gedanken verfiel, sich
einmal an Horaz zu versuchen und seine classische bildung in einem
buchhändlerunternehmen sich nutzbar zu machen.
Auf den gedanken zu dem genannten buche scheint Philipp
V. Zesen, der überhaupt eine feine Witterung für die bedürfnisse
seiner zeit besasz, durch die beobachtung gekommen zu sein, dasz
damals das Interesse an Horaz in den Niederlanden, gepflegt von
der blühenden holländischen philologie, sich in die weiteren kreise
des Volkes auszubreiten begann, denn kein geringerer, als der ge-
feierte meister niederländischer dichtkunst Joost van Vondel (1587
— 1679) hatte kurz vorher, 1654, seine prosaübersetzung von
Horazens öden und dichtkunst herausgegeben und der Amsterdamer
kunstgenossenschaft der St. Lukasbrüder (vgl. Wurzbach, geschichte
der niederl. maierei. Leipzig 1885, s. 15) gewidmet, dasz dieses
buch so grosze Verbreitung fand^ geschah nicht blosz um des be-
rühmten Verfassers willen, sondern darum, weil solche prosaüber-
setzungen dem geschmack und dem bedürfnis ihrer zeit (vgl. auch
abschnitt 5) am meisten entsprechen mochten, einen zweiten an-
stosz erhielt Philipp v. Zesen durch ein anderes werk, die Emblemata
Horatiana des Otto Vaenius (Otto van Veen^ 1585 — 1634), dessen
erstes erscheinen noch nicht zeitlich genau nachgewiesen werden
kann, aber sicher nach dem jähre 1607 fällt, da das von dem
Antwerpener licentiaten Laurentius Beyerlingk erteilte Imprimatur
» vgl. n. jahrb. 154, s. 305 fif. 544 ff. 156 s. 377 ff.
* Goedeke, grundr. III s. 196.
^ bekannt sind die drucke von 1654, 1703, 1735, alle zu Amsterdam
erschienen.
•* lehrer von Rubens, vgl. Reber, gesch. der maierei vom 14n — 18n
Jahrhundert. 1894. s. 218.
N. jahrb. f. phil. u. päd. II. abt. 1897 h(t. 12. 37
570 E. Schwabe: zur geschichte der deutschen Horazübersetzungen.
der censur für die spanischen Niederlande vom 14 februar 1607
datiert ist. diese Emblemata oder 'Zinnebeeiden', wie sie in den
niederländischen ausgaben heiszen, sind in ihrem gesamtplan so
gefaszt, dasz aus den werken des Horaz eine reihe von kräftigen
Sinnsprüchen^ ausgewählt wurde, um gewissermaszen als Unter-
schriften für eine Sammlung allegorisierender Zeichnungen des Veen
zu dienen, die uns den lohn der tugend und die strafe der sünde ad
oculos demonstrieren sollen und in ihrer uns vorliegenden repro-
duction durchaus auf der höhe der damaligen entwicklung des
kupferstichs stehen, dabei gieng man merkwürdigerweise von der
ansieht aus, dasz Horaz ganz und gar auf stoischem boden stehe
und man seine weltweisheit so zu verstehen habe, als wenn er ein
überzeugter anhänger Zenos gewesen sei. diesen Zeichnungen gab
nun Otto (alias Octavio) Vaenius selber eine reihe poetischer er-
klärungen in seiner muttersprache bei und sprach sich in diesen
'Bygedichten' über den sinn der oftmals nicht leichtverständlichen
Stiche aus.
Diese arbeit nahm nun Philipp von Zesen vor. er nützte das
alte Vorrecht der Holländer, alles nachzudrucken, was ihnen dessen
wert erschien, nahm von den hübschen, zum teil sogar sehr schönen
Stichen des Vaenius die meisten ohne weiteres in besitz, liesz sie
von seinem Verleger Kornelis Dankerts in Amsterdam einfach nach-
stechen und ersetzte des Vaenius bygedichte durch sein eigenes
fabrikat, das er am Schlüsse des buches unter seinem namen der
'färtige' aus dem Hamburger rosenorden dem 'kunst- und gunst-
geneugten Leser' gewaltig anpreist, beigegeben ist zu den poetischen
hochdeutschen Unterschriften noch eine oft schwülstige prosaerklä-
rung, ebenfalls in deutscher spräche, die alle die bekannten eigen-
tümlichkeiten des Zesenschen stiles aufweist. Zesen erklärt selbst,
dasz er sie einer sonst unbekannten erklärung verdankt, die 'der
herr von Gombreville, Talassius Basilides®, in seiner muttersprache
darzu gemachet' und die er 'in unser hochdeutsch (wiewol an vielen
Örtern nach meinem eigenen guhtbefinden und nach erheischung
der Bildertafeln selbst in etwas verändert und vermehret) über-
getragen' habe. — Da von einer eigentlichen Übersetzung nicht die
rede ist, sondern nur von nachdichtungen , die etwa den sinn der
Horazischen Weltanschauung treffen sollten, so kann im rahmen
^ z. b. heiszt es in teil II, ni*. 21 viitus invidiae scopus, wozu
od. III 24 quatenus, heu nefas! virtutem incolumem odimus: sublatam
ex oculis quaeriraus invidi, ferner od. III 5 und ep. I 1 o cives, cives
quaerenda pecunia primum est, virtus post nummos, mit den Zesenschen
Versen: wenn tugend voll im blühen steht, dann wird sie höhnisch aus-
gelachet | sobald sie aber uns entgeht, dan wird viel werks von ihr
gemachet.
^ vielleicht identisch mit dem bei Larousse s. v. citierten buche
eines herrn von Gomberville (sie), la doctrine des moeurs tire'e de la
Philosophie des stoiques. Paris 1646 fol. 1648 in duodez. beide aus-
gaben waren mir unerreichbar.
E. Schwabe: zur geschichte der deutschen Horazübersetzungen. 571
dieser darstellung von diesem produkte des federfertigen mannes
nicht weiter die rede sein.
Der kuriosität halber, und um die schlimmen Schwindel-
geschäfte des damaligen vogelfreien verlagsbuchhandels zu kenn-
zeichnen, sei nur erwähnt, dasz dieser Zesensche nachdruck, zu-
nächst so weit er die bilder angeht, seinerseits ebenfalls ausgebeutet
ward, denn im j, 1682 liesz der buchhändler Franciscus Foppens
zu Brüssel dasselbe buch noch einmal in einer schön ausgestatteten
quartausgabe^ erscheinen, in der die ursprünglich auf Horaz be-
schränkte Sammlung der Sinnsprüche aus allerhand alten autoren
vermehrt ward (vor allem aus den S. S. Patres, woran man die
katholisierende tendenz der neuausgabe erkennt), der ungenannte
herausgeber fügte dem texte noch erläuterungen in italienischen
und französischen versen bei. über diese publication entbrannte
nun die Amsterdamer konstgenootschap 'Nil volentibus arduum' in
hellem zorn. denn sie hatte (vielleicht von den Lukasbrüdern) das
Privilegium auf die bygedichte des Vaenius seit dem jähre 1677
besessen und an den Amsterdamer buchhändler Albert Magnus
übergeben, sie wandte sich, da sie den verkauf der Brüsseler aus-
gäbe im auslande natürlich nicht hindern konnte, an den rat der
Stadt Amsterdam, um wenigstens in den generalstaaten ihr recht zu
sichern, erlangte auch das druckprivilegium auf 15 jähre und liesz
in einem kleinen bücheichen ^ von noch nicht achtzig selten die
Sammlung der lateinischen Sinnsprüche mit gegenüberstehender
niederländischer parodie abdrucken , offenbar zu dem zweck , dem
kostbar ausgestatteten Brüsseler werke den boden abzugraben, wie
auch in der vorrede mit scharfen ausfällen gegen den buchdrucker
Foppens ganz offen eingestanden wird.
In den genannten büchern nun erscheint blosz des Otto Vaenius
bildersammlung und die bygedichte ausgebeutet, aber auch Philipp
von Zesen sollte seinen lohn erhalten, denn es erschien im j. 1755
noch ein nachdruck : Le spectacle de la vie humaine ou Le9ons de
Sagesse, exprim6es avec art en 103 tableaux en taille douce dont
les sujets sont tir6s d'Horace par Tingfenieux Othon Vaenius, accom-
pagn6s non-seulement des principales maximes de la m orale en vers
Fran9ois, Hollandois, Latins et Allemands, mais encore par des ex-
plications trös helles sur chaque tableau , par feu le savant et trös
c§16bre Jean le Clerc, A la Haye, chez Jean van Düren, dieses buch,
das sich auch 'Schouwtoneel des menschelyken Levens' nennt und
sich wegen seines moralischen Inhalts heuchlerisch als besonders
geeignet anpreist, braven schülern als prämie verabfolgt zu werden,
ist eine compilation der schlimmsten sorte. denn es enthält zu-
nächst die 'zinnebilder' des Vaenius, freilich bedeutend verkleinert
^ Quinti Horatii Flacci Emblemata studio Ottonis Vaenii Batavo-
Lugudunensis editio nova correctior. Bruxellae 1682.
* bygedichten op Otto Vaenius Zinnebeeiden uit Horatius. ze
Amsterdam by Albert Magnus 1682. met privilegie. 16''.
37*
572 E. Schwabe: zur geschichte der deutseben Horazübersetzungen.
und verwischt, dazu entnimmt Jean le Clerc aus der Brüsseler aus-
gäbe die sämtlichen neuen belegstellen, die der ursprünglichen Samm-
lung der loci Horatiani beigefügt waren, und die französischen verse,
natürlich ohne quellenangabe. die deutschen verse aber sind die
Zesenschen in einer stark nach einer gewissen batavinitas des aus-
drucks schmeckenden Umarbeitung, und auch die erklärung der
'zinnebeeiden' in französischer und holländischer spräche sind eben-
falls nur leise überarbeitete und zurechtgestutzte Übersetzungen aus
desselben autors schon 1656 beigegebenen prosaischen erläuterungen
zu den Sinnsprüchen, genannt wird Philipp von Zesen nirgends, so
bleibt denn schlieszlich als arbeit des autors nur die mechanische
Zusammenstellung des ganzen übrig.
Der ganze verlauf bietet uns das getreue, aber unerquickliche
bild des damaligen nachdruckerunfugs, der das gute nahm, wo er es
fand, die prächtig ausgestatteten bücher sind bohle nüsse und
wirken um so widerwärtiger, als sie salbungsvoll auf jeder seite
eine tugend predigen , der sie selbst durch ihre existenz ins gesiebt
schlagen.
5. Die pädagogischen Übertragungen in prosa.
Gegen das ende des siebzehnten Jahrhunderts hin erfolgte das
abebben der ersten oder althumanistischen bewegung. der feuer-
eifer, mit dem man sich während der renaissance auf die classischen
Schriftsteller geworfen und ihre gedankenweit sich zu eigen gemacht
hatte, hatte bedenklich nachgelassen, immer beweglicher und lauter
ertönten die klagen über die geringen leistungen der schüler und
schulen®, und überall suchte man die gründe dafür, freilich scheute
man sich die stelle wirklich zu bezeichnen, wo sie in Wahrheit
lagen, nämlich den starren confessionalismus '" der protestantischen
kirche, der angst und furcht um sich verbreitete, das eigentlich
humanistische leben, das ohne einen bestimmten grad von gewissens-
freiheit nicht bestehen kann, erstickte und vor allem schule und
schüler von einer edeln freiheit des stils und ausdrucks zu einem
schlechten scbolastikerlatein zurückführte, die leistungen der schüler
waren , besonders seit dem ende des dreiszigjährigen krieges, so zu-
rückgegangen, dasz man allenthalben darauf aufmerksam wurde und
sich über die gründe dieses offenkundigen Verfalls klar zu werden
versuchte, zum teil erblickte man sie in der veralteten oder schlechten
methode, und so ist es denn kein wunder, dasz sich auch sofort die
entsprechenden besserungsvorschläge einstellten, damals traten die
groszen methodiker Ratke und Comenius auf und verlangten in den
fundamentalsätzen ihrer methodik, dasz die alten sprachen auf wesent-
lich einfachere und bequemere weise gelernt werden möchten, als es
bisher geschah.
» Ziegler, gesch. der pädagogik s. 142,
10 ebd. s. 132 ff.
E. Schwabe: zur geschichte der deutschen Horazübersetzungen. 573
Für die lectüre galten nun bei Ratke die beiden sätze: 'nihil
extra propositum auctorem!' und 'omnia ad praeceptorem!' die im
eifer der grösten concentration auf den bestimmten schriftsteiler
und die bestimmte lehrstunde durchgeführt wurden, sollte nun der
knabe zu einem Verständnis auch der schwierigeren autoren gelangen,
so muste ihm dazu eine hilfe werden, die, je ausgibiger sie ausfiel,
den damaligen methodikern und damit wohl auch der bequemlich-
keit der schüler um so erwünschter erscheinen muste. es ist ganz
gewis kein bloszer zufall, wenn gerade um die wende des 17n und
18n Jahrhunderts überall eine ganze menge wortgetreuer prosa-
übersetzungen lateinischer dichter entstanden, von denen sich aus
Degen eine stattliche anzahl zusammenstellen läszt. *' besonders
muste dies bedürfnis bei einem so schwierigen autor wie Horaz
empfunden werden. Bohemus hatte , wie oben (s. 380) ausgeführt
wurde, seine schüler angeleitet, die öden poetisch zu übertragen,
um so das Verständnis derselben zu vertiefen und die lust am ge-
lesenen zu steigern, wenn er aber wirklich, wie er angibt, ein
ganzes odenbuch in vier wochen erledigen konnte, so muste er
sich in seiner erklärungsweise an die art von Ratke und Comenius
anlehnen und seine pädagogischen mittel der ianua linguarum
reserata und andern neuen evangelien entlehnen, d. h. der eignen
kraft der schüler so gut wie nichts mehr überlassen.
Was wunder, wenn nun auch der weitere schritt noch gethan
wurde und eine anzahl von büchern das licht erblickte, in denen die
genannte methode ihre schriftliche fixierung fand? entweder ist der
lateinische text gleich in der übersichtlichsten construction vor-
gedruckt oder er folgt der Übersetzung unter dem dehnbaren be-
griff phrases et loci communes. es kann nur fraglich sein, ob diese
bücher zum gebrauch der lebrer dienen sollten , oder ob sie den
Schülern (wie wir sagen würden, als eselsbrücke) in die band ge-
geben zu werden bestimmt waren.
Dabei waren sich die Verfasser solcher bücher durchaus keiner
schlimmen absiebten bewust, sondern handelten im besten glauben,
wie hätte es sonst geschehen können, dasz das älteste uns bekannte
buch dieser art vom rate der stadt Basel ausdrücklich gewünscht
*i ich füge noch einige litteraturangaben hinzu, die sich bei Degen
nicht finden, der sich auf Deutschland beschränkt, so die obengenannte
Übersetzung von J. v. Vandel, ferner Ileckelgedichten en Brieven van
Q. H. Flaccus uit Latynsch Dicht in Nederduitsch Ondicbt overgebracht
door B. Huydekoper, Amsterd. 1726 (in der vorrede ausdrücklich als
ergänzung zu v. Vondel bezeichnet). — französisch: Horaz von Algay
de Martignac, 2 bde., Paris 1678. ebenso von P. Tarteron, Amsterd.
1710, wovon sogar vier auflagen erschienen. — englisch: von Joseph
Davidson. 2 bde., London 1746. von David Watson (herausgegeben von
S. Patrick), London 1750. — blosz Satiren und episteln von S. Dunster,
London 1719. die öden, Satiren und episteln von Creech, die sechsmal
aufgelegt wurden (5e aufl. London 1730, 6e aufl. 1737). exemplare in
der Neuhaussischen Sammlung, vgl. jahrb. 1896 s. 544 n. 2.
574 E. Schwabe: zur geschicLte der deutschen Borazübersetzungen.
und demselben auch gewidmet war? es ist dies: Quintus Horatius
Flaccus Latino-Germanicus in commodiorem Studiosorum usum nunc
primum editus a lacobo Roth, Med. Doctore, Basileae, Impensis
Henrico-Petrinorum Typis lacobi Bertschii, Anno 1670. dieses
seltene'^ buch zerfällt in zwei teile von 329 und 407 octavseiten.
der zweite teil, der die epoden, das carmen saeculare, die satiren und
Sermonen enthält, hat kein besonderes titelblatt. gewidmet ist das
ganze buch 'denen hochgeachten — Häupteren dieser Stadt (Basel)
— Meynen Gnädigen, Gebietenden, Hochehrenden Herrn', aus der
vorrede geht hervor, dasz der Stadtrat von Basel selbst eine solche
arbeit für notwendig angesehen und die schulverwaltung angewiesen
hatte , eine solche Übersetzung mit eingefügten erklärungen heraus-
geben und in den schulen einfühi-en zu lassen, da hat sich denn
dieser mediciner, bierin ein Vorgänger des weit berühmt gewordenen
herzoglich sächsisch-weiszenfelsischen leibmedicus David Triller, an
diese aufgäbe einer prosaischen Horazübersetzung gemacht und diese
auch so ziemlich gelöst, über den eigentlichen zweck seiner arbeit
freilich sagt er uns nichts, obwohl dieser ziemlich deutlich zu tage
liegt, sondern er erklärt nur, dasz er sie als ein zeichen seiner er-
kenntlichkeit habe veröffentlichen wollen, 'weil ich für die Ehre, die
ich hie bevor gehabt, dasz sie im Namen meiner gnädigen Herrn
vnd Obern , eines gantzen Ehi'samen und hochweisen Rahts alhier
mich zu einem Pestartzet berufen vnd gebraucht haben, vnd für die
Gnad vnd Gunst vnd Hilffe, so ich vnd die Meinigen noch täglich
geniessen , ein zeichen meiner Dankbarkeit hab zeigen sollen , vnd
dasz sie zumahlen auch ein öffentliches Vnterpfand vnd Versicherung
hetten meiner obwohlen geringen Dienste in allen vorfallenden Ge-
legenheiten, dazu sie mich weiter würden gutachten'.
Der Verfasser dieses buches, Jacob Roth '*, wurde am 3 September
1637 als abkömmling einer altbasier familie geboren, bezog als
sechzehnjähriger die Universität seiner Vaterstadt und erwarb sich
schon 1653 das baccalaureat, 1656 die doctorwürde der philosophi-
schen facultät. hierauf sprang er aber von den artes liberales ab,
widmete sich ganz der medicin, erweiterte seine kenntnisse durch
eine reise nach Paris, kehrte 1665 wieder nach Basel heim und pro-
movierte zunächst als dr. med. hier kam er gerade zurecht, um
seinen bedrängten mitbürgern zu helfen, da 1667/68 zu Basel eine
schlimme' pest herschte. er übernahm das pesthospital allein, da die
andern ärzte schnell wegstarben, und scheint nach erlöschen der
'2 zunächst nur auf der Straszburger und der Basler Universitäts-
bibliothek nachzuweisen, das Straszburger exemplar trägt auf dem
Vorsetzeblatt die inschrift ^E libris Nicolai Gürtleri 1672' und ist 1697
in den besitz des Studenten Johannes Matthias Stock übergegangen,
dem es der professor der philosophie Gramer geschenkt hatte.
*3 die angaben sind, da Roth unsern landläufigen hilfsbüchern fremd
ist, entnommen aus Athenae Rauricae, sive Catalogus Professorum
academiae Basiliensis. Basileae [Sumptibus Gar. Aug. Serini. 1778.
teil I. s. 193 f. 221. 237.
E. Schwabe: zur geschicJite der deutsclien Horazübersetzungen. 575
krankheit wieder entlassen worden zu sein, so dasz er zur ab Fassung
des oben genannten buches die nötige zeit fand, als 1674/75 Basel
wiederum von einer solchen krankheit befallen ward, wurde er vor-
stand des kranken- und armenhauses, und diesmal liesz man ihn
nicht wieder abziehen, sondern versprach ihm die erste vaeant wer-
dende Professur, schon im gleichen jähre erhielt er auch die der
anatomie und botanik, 1685 die professio theoretica der medicin,
1687 die der praktischen medicin. er starb am 23 mai 1703. worauf
die nachricht bei Degen I s. 159 sich gründet, dasz Roth später
lehrer der dichtkunst gewesen sei , ist mir unbekannt.
Von seiner eignen kraft denkt Roth gering, er wendet sich an
den lectorem benevolum mit folgenden worten: 'Dasz ich, ein
geringer Medicus, Q. Horatium Flaccum, den Poeten, vnterstanden,
in vnser Teutsch zu bringen, ist nit, dasz ich begehre, damit zu
prangen, oder was sonderlichs dabey zu suchen, oder sonst nichts
zu schaffen gehabt: Sondern allein lieben Freunde und Verwandten
diesen Dienst vnd Gefallen aufi" jhr Begehren zu erweisen, dasz sie
in der mänge jhrer Geschäfte vmb so viel erleichtert wurden. Wenn
ich aber etwann geirret, bitte ich, die Vrsach der schwirigkeit desz
Authoris vnd der vnterschiedlichkeit der meinungen der Auszleger
beyzumessen vnd die Fehler freundlich zu corrigieren. Wo der
Trucker möchte gefählet haben, hofft er gleichfalls allen guten
Willen. Sonsten gebrauche dich desz Horatii, dazu dir diese meine
Arbeit wohl zu statten kombt, wird dich nimmermehr gerewen.'
Dasz der Verfasser über eine den gewöhnlichen Medicus weit
überragende philologische bildung gebot, geht aus dem ganzen
buche hervor, auch i«t die Übersetzung gar nicht übel und fand
auch in einem beigedruckten gedieht von J. J. Hoffmann ihren lob-
redner, der sie in einer alcäischen ode, die den gedankengang von
Maecenas, atavis variiert, anpreist und Roth in den damals üblichen
Übertreibungen von sich sagen läszt :
me versa Flacci carmina subvehunt
miscentque Divis usw.
das buch ist nicht nur vom pädagogischen Standpunkt aus inter-
essant, sondern würde auch dem sammler schweizer idiotismen, die
sich zahlreich vorfinden, eine reiche ausbeute gewähren, zur veran-
schaulichung der methode geben wir anhangsweise das gedieht I 38.
Ein zweites derartiges werk ist in Niederdeutschland und zwar
ganz und gar auf dem boden der schule entstanden, und seine
mehrfach wiederholten auflagen weisen darauf hin, dasz dieses buch
einem wirklichen bedürfnis entgegenkam, es ist dies der H o r a t i u s
enucleatus, d. i.Q.Horatius Flaccus verdeutscht etc., mit phraseo-
logie und locis communibus von J. R. (Joachim Rulffen), Leipzig
1698, hpgt. 8. in der zweiten aufläge von 1707 (911 seilen, bei Joh.
Christoph König, buchhändler in Goszlar, aber ebenfalls in Leipzig
erschienen) sind die 1698 noch weggelassenen satiren beigefügt,
auszerdem wird noch eine dritte aufläge von 1751 erwähnt, vgl.
576 E.Schwabe: zur geschichte der deutschen Horazübersetzungeu.
Degen I s. 159 — 162. auf dem titel der zweiten aufläge wird aus-
drücklich erwähnt, dasz 'auch dieser zweyten Edition die Ver-
deutschete Satyren angehenget seyn, dergestalt, dasz die Schul-
jugend diesen nützlichen Authorem für sich selbst lesen und guter
maszen auch verstehen kan'.
Als autor dieser Übersetzung nennt sich nur in der ersten auf-
läge Joachim Rulff oder Rulffen. in der zweiten aufläge ist die
namensnennung vermieden, woraus bei den späteren mancherlei irr-
tümer entstanden sind.'^ der autor war ursprünglich conrector an
der schule zu St. Martini in Halberstadt, schon 1698 aber pastor
der christlichen gemeinde zu Anderbeck, etwas näheres über ihn
ist nicht bekannt geworden , wenigstens scheint sein wirken nicht
über einen sehr eng begrenzten kreis hinausgegangen zu sein.
Charakteristisch ist es, dasz sich der autor dieser prosaüber-
setzung, die schon Degen a. a. o. als nur in weniger bänden befind-
lich'* bezeichnet, von der zweiten aufläge an nicht mehr nennt,
vielleicht genierte er sich, sich als den Verfasser eines buches zu be-
kennen, das sich ganz wörtlich an den text anscblieszt, nur in
seltenen fällen eine erläuterung oder constructionshilfe beifügt und
in den phrases für die schüler eine präparation in bester form bei-
fügt, damit ihnen nur ja alle eigne arbeit erspart bleibt, auch die
loci communes sollten offenbar dazu dienen, bequemes material und
leicht erreichbare anhaltspunkte für allerhand lateinische commen-
tationes zu liefern , die sich über gewisse allgemeine gedanken aus-
sprechen sollten.
An seiner stelle läszt Rulfi" den Verleger reden, der sich an den
'günstigen' leser mit der Versicherung wendet, 'wie hochnöthig der
studierenden Jugend die Translationes derer Scriptorum Classicorum,
insonderheit derer Poetarum Romanorum' sind, als grund hierfür
gibt er naiv an 1) dasz solche Übersetzungen 'gelehrter Scribenten
bei allen Völckern gemeyn sein*, ferner 2) 'was für eine verdriesz-
liche Mühe und lange Zeit darauf zu wenden, wenn die Jugend alles
durch die unaufhörliche Arbeit ihrer Herren Präceptorum, oder au ch
durch ihr selbsteigenes unabläsziges Nachsinnen aus sothaner ge-
lehrter Autorum Schrifften herhohlen solte'. schlieszlich 3) weil
viele nicht lange genug auf der schule bleiben, um genügenden
grund in den studia humanitatis zu legen. 'Dasz diese nun desto
eher und glücklicher zu ihrem Scopo und Endzweck mögen be-
fordert werden, so sind sehr diensahm dazu die aus der Römischen
in die Teutsche Sprache jetzt gerühmte Übersetzungen.' also auch
hier wird es als ganz gewöhnlicher gebrauch angesehen und es offen
ausgesprochen, ohne die leiseste empßndung, etwas schlimmes zu
thun, dasz die jugend ohne solche Übersetzungen nicht auskommen
kann, und dasz man ihr solche in die bände geben musz.
** vgl. Obbarius a. a. o. s. IX note 7.
•= aus leicht begreiflichen gründen, vgl. Dietsch in Schmids ency-
clopädie VII s. 471.
£. Schwabe: zur gescbichte der deutschen Horazübersetzungen. 577
Degen a. a. o., der auch ode IV 9 abdruckt, beurteilt die
Rulffensche arbeit sehr günstig, sein urteil , was die 'Liebligkeit
der Sprache' angeht, kann ich mir nicht aneignen, als probe des
eingeschlagenen Verfahrens nehme ich wiederum , der kürze wegen,
die ode I 38, die trotz der wenigen zeilen ein anschauliches bild von
der methode gibt.
Beilage.
1) Aus Jacob Roth, HoratiusLatino-Germanicus Is. 109.
Periocha
Die Summe oder Innhalt.
Vult famulum suum adhibere. Der Pofjt will sein Jung solle
gebrauchen ad apparatum externum convivii zu der eusserlichen Zu-
rüstung oder Zubereytung seiner Mahlzeit nihil aliud nichts andres,
quam myrtum als Myrten.
Ode XXXVIII: Dieolos tetrastrophos ut: lam satis terris nivis
atque dirae.
Puer Jung oder Diener odi apparatus Persicos ich hasse die
Persischen, das ist, die köstlichen, prächtigen vnd herrlichen Zu-
rüstungen : coronae die Kräntz nexae Phylira (sie) so ausz Linden-
bast oder ausz zarten Lindenen Rinden gemacht displicent seil, mihi
miszfallen mir: mitte sectari vnderlasse oder höre auff zu forschen
oder auszuspüren, quo locorum an welchem Ort, rosa sera moretur
die spaten Rosen seyen oder wachsen. Sedulus curo Ich sorge
embsig vnd fleissig nihil adlabores dasz Du vmb nichts dich hefftigg
bearbeitest myrto simplici als vmb schlechte vnd einfache Myrten:
Myrtus die Myrten neque dedecet te stehen übel an weder dir
ministrum als dem Diener neque me noch mir bibentem sub vite
arcta wenn ich unter einem dicken vnd schattechtigem Rebstock
sitze vnd trincke.
2) Dasselbe gedieht aus J. Rulffen, Horatius enucleatus
s. 147.
An seinen Diener.
Inhalt.
Er vermahnet seinen Auffwärter, dasz er bey instehende
Gasterey alles Pralen vnd Prangen vnterlasse, und nur Mürthen
dabey gebrauche.
0 Du mein Auffwarter, ich habe keine Lust an grossen Ge-
pränge, wie die Persier haben pflegen zu gebrauchen. Es belieben
mir auch nicht schöne Kräntze, deren Blumen auf zarte Linden
Rinden sind gebunden: Ja bemühe Dich nicht zu suchen, an wel-
chen Oertern du noch möchtest Rosen finden, die späte geblühet
haben. Disz eintzige verlange ich nur und bin darum besorgt, dasz
du zu Auszzierung der Gastereyen mehr nichts als Myrrthen mögest
gebrauchen. Denn der Myrthen-Strauch will beydes dir als meinen
578 F. Cunze: pädagogische kleinigkeiten.
Auff Wärter und auch mir nicht übel anstehen, wenn ich unter einer
Wain-Laube sitze und trincke.
Loci communes.
Persicus apparatus , grosser Pracht. It. hei-rlich Essen.
Nectere coronam einen Krantz winden
Rosa sera, Rosen, die späthe blühen
Areta vitis, eine dichte Weinlaube
Sub arcta vite bibere, unter der Weinlaube sitzen vnd zechen.
Loci communes:
Persicos Apparatus
consultum est bis temporibus odisse, Str. 1.
Bibere
sub arcta vite jucundum. Str. ult.
Meiszen. ' Ernst Schwabe.
(31.)
PÄDAGOGISCHE KLEINIGKEITEN.
(8. oben s. 548—552.)
II. Die reihenfolge der lateinischen declinationen.*
Hornemanns treffliche anregungen, eine parallelgrammatik zu
schaffen, haben noch längst nicht so gewirkt, wie zu hoffen gewesen
wäre, am meisten ist noch in der Satzlehre gethan, woran er ja
auch zunächst gedacht hat. doch auch in der formenlehre wäre es
gut, die Scheuklappen, die uns künstlich am vergleich der sprachen
hindern, abzustreifen, denn jedes wissenschaftliche vergleichen er-
höht das Interesse, vereinfacht und verringert den gedächtnisstoff
und setzt verständige aneignung an stelle des mechanischen aus-
wendiglernens : kurz, man musz auf jede weise danach suchen, statt
es zu meiden, die sogenannten fünf lateinischen declinationen haben
sich vom altertum bis auf unsere tage in ihrer überlieferten reihen-
folge erhalten; es blieb sogar, auch nachdem namentlich durch
G. Curtius in die griechische grammatik eine das wesen bezeichnende
terminologie eingedrungen war, hier beim zählen der declinationen
(1 — 5). und doch sollten wir alle mit J. Grimm danach trachten,
*der art der bezeichnungen, die blosz zählen will statt zu benennen,
auszuweichen' (einleitung zur deutsehen grammatik). also hinaus
mit der ersten, zweiten declination usw. und dafür die bezeichnung
nach dem stammauslaute (a, o, e und consonantische) , höchstens
dasz vorläufig die alte Zählung daneben in klammern noch bestehe!
* vgl. Jahrbücher 1896 s. 247.
rosa
res
rosam
rem
rosae
rei
rosa
re
F. Cunze: pädagogische kleinigkeiten. 579
dann aber — und das ist die hauptsache — einteilung der decli-
nation in die vocalische und die consonantische nach dem vorbilde
der griechischen und deutschen grammatik (== stark und schwach),
so dasz an die a-stämme sogleich wie im griechischen die e-stämme
sich anschlieszen, denn res : rosa = Tijari oder TroXiirjC : X'J^Pö« ^^^
fordert die Wissenschaft; ja schon dem schüler drängt sich die Zu-
sammengehörigkeit der e- und a-stämme auf bei den vielen Wörtern,
die auf a und zugleich auf es im nom. ausgehen, z. b. barbaries,
durities, luxuries usw. neben barbaria, duritia, luxuria, und die
declination stimmt doch bei beiden stammauslauten, den nom. und
den dat. abl. pl. ausgenommen , vollständig überein :
rosae re s
rosas res
rosarum rerum
rosis rebus.
die Überlieferung läszt sich nur damit verteidigen, dasz man die
seltenen e-stämme als unwesentlich bis zuletzt verspart; doch durch
einen solchen gesichtspunkt der zweckmäszigkeit darf man den
■wissenschaftlichen aufbau, der ein muster logischer anordnung sein
musz, nicht zerstören: die e-stämme gehören neben die a-stämme;
freilich kann man, wenn das gefällt, sie zunächst überschlagen, viel-
leicht auch sie klein drucken, um sie als minder bedeutsam kennt-
lich zu machen, aber im lehrbuche darf die e-declination ebenso
wenig von der a-declination getrennt werden, wie z. b. posse von
esse, wie iubeo debeo praebeo von habeo.
An die a- und die e-stämme schlieszen sich nun wie im grie-
chischen die o-stämme, darauf folgen die consonantischen stamme,
denen sich die i- und u-stämme (weichvocaliscb) hüben wie drüben
anbequemt haben, mit dem unterschiede, dasz im lat., grus und sus
ausgenommen, die. u-stämme viel besonderes haben und deshalb eine
besondere declination bilden , natürlich mit enger anlehnung an die
consonantische.
Das Schema wäre dann also, dem griechischen entsprechend:
A. B.
vocalstämme. consonantstämme (a parte potiore).
1) a-| 4) consonantische declination (mit
2) e- >declination. grus und sus).
^)°-J ^) ^-{declination.
Bern, bei den conjugationen stellt man jetzt mit recht viel-
fach die i-stärame vor die consonantischen; um so mehr musz man
aber das zählen in der bezeichnung fallen lassen, sonst schwindet
die Verständigung, wie z. b. C. Wagener die i-conjugation irre-
führend III nennt, merkwürdig ist übrigens bei der darstellung
des verbs, dasz trotz Perthes noch immer die lehrbücher, selbst
580 F. Cunze : pädagogische kleinigkeiten.
Wageners, alle 4 oder 5 paradigmen selbst im perfect- und supin-
stamm vollständig aufführen, damit also absichtlich den schillern
die erkenntnis rauben, dasz die conjugationen sich nur im präsens-
stamm unterscheiden, und so stumpfsinniges auswendiglernen statt
geistigen erfassens und freien beherschens schaffen.
III. Hie Xenophon — hie Marcus.
Chr. Härder hat in der zeitschr. f. gymn.-wesen 1896 s. 673 ff.
Torgeschlagen, Xenophons denkwürdigkeiten , die nach den preuszi-
schen lehrplänen in II* mit nachdruck gelesen werden, wenigstens
zum teil zu ersetzen durch M. Aureis Selbstbetrachtungen und
Plutarchs biographien. er meint, die ethik , die der Xenophontische
Sokrates lehre, stünde nicht auf der höbe; ja er scheint das gespräch
mit Euthydem (IV 2) geradezu für gefährlich, für irreführend zu
halten, während die erhabene weltauffassung des philosophischen
kaisers und die Plutarchischen heldenbeschreibungen eine in jeder
beziehung gesunde lectüre seien.
Richtig ist, dasz bei Xenophon von der idee des guten, schönen,
wahren noch keine rede ist, dasz diese begriffe vielfach dem nutzen
identificiert werden; aber dasz die platonische und die stoische höhe
der abstraction hier noch fehlt, dasz die moral noch, ich möchte
sagen, platt erscheint, das macht, dünkt mich, die schritt besonders
geeignet, in philosophische begriflPe einzuführen, 'das beste ist für
die Jugend eben gut genug' in ehren, aber cum grano salis! der
fassungskraft der schüler angemessen musz sein, was wir ihnen vor-
legen, und das sind die denkwürdigkeiten Xenophons in hohem
masze, sie sind in dieser hinsieht ein unübertreffliches Schulbuch, und
es schadet seiner brauchbarkeit gar nichts, wenn wir die beschränkt-
heit des Xenophontischen Standpunktes beim unterrichte aufdecken.
Lessings Laokoon wird, hoffe ich, trotz Lange in unsern primen
weiter gelesen werden, mag auch die archäologie und die ästhetik
dem groszen denker immer mehr Irrtümer nachweisen, er soll so
wenig wie die memorabilien uns ein evangelium sein, aber eine
TraXaicrpa, die jugendlichen geister zu üben, sind beide Schriften,
zunächst müssen wir allerdings den absiebten der schriftsteiler ge-
recht werden, und daran scheint es Härder in der deutung des ge-
sprächs mit Euthydem fehlen zu lassen. Sokrates will ja darin
durchaus nicht den eingebildeten Jüngling belehren, sondern zu-
nächst nur zur erkenntnis seiner dummheit kommen lassen, deshalb
springt er von einem begriffe zum andern über, ohne einen wirklich
erörtert zu haben, er versetzt den zuhörer in eine fülle von ctTTopiai
und scheut sich nicht, um sein ziel zu erreichen, mit sophistischen
trugschlüssen zu arbeiten, dies ist eine echte Sokratische ironie
und sie hatte erfolg: der gedemütigte Euthydem kam wieder, um
jetzt wirklich zu lernen, und Sokrates UJC e'YVUu auTOV OÜTCUC
e'xovia, fiKicTtt /aev bieidpaTTev, dirXoucTaTa he Kai caqpecTaia
F. Cunze: pädagogische kleinigkeiten. 581
eHriteiTO ä te evöjuiZiev eibe'vai beiv Kai eTTiiribeueiv Kpcmcxa eivai
(V 2, 40).
Deutlicher kann es doch nicht gesagt werden, dasz Sokrates
bisher den Jüngling zum besten gehabt und TiaiZiiJUV, nicht CTTOubdCuJV
jene verrückten sätze hat folgern lassen, ich habe eben dies stück
in meiner classe gelesen, die jungen freuten sich gewaltig, gleich-
sam im bunde mit Sokrates den Euthydem aufs glatteis zu locken,
und eine stilarbeit darüber bewies, dasz den meisten der sinn des
gesprächs vollkommen aufgegangen war.
Ebenso gut aber Xenophons denkwürdigkeiten für die schule
sind, ebenso schlecht würden Marcus' xd KttB' auTÖv sein, dasz das
werk sittlich unendlich über jenem steht, ist nicht zweifelhaft, es
ist eben für einen secundaner zu hoch, zu abstract, zu sehr in der
philosophischen schulsprache abgefaszt. auszerdem sind aber diese
lose aneinandergereihten sätze die denkbar ungünstigste form für
ein lesebuch in der schule, sie sind für gereifte männer , die durch
die knappe, oft rätselhafte fassung der sprüche angeregt werden,
sie durchzudenken (vgl. Feuchterslebens diätetik der seele).
Wenn wir den lesestoff unsertwegen tmd nicht der schüler
wegen auszuwählen hätten, so würde ich gern dem vorschlage,
Plutarch wieder zu lesen, zustimmen, und der stoflP, der Rousseau
und Schiller begeistert hat, würde auch auf unsere schüler wirken,
aber die form ist nicht einfach, nicht classisch, sie ist, ich möchte
sagen, romantisch, sentimental und die spräche ist zudem schwer,
endlich könnte es nur ein 'kostehäppchen' sein, und dann doch lieber
gar nichts davon ! bleiben wir also bei den groszen des fünften und
vierten Jahrhunderts!
Braunschwkig. . Friedrich Cunze.
32.
ZUR BETONUNG ZUSAMMENGESETZTER WÖRTER
IM DEUTSCHEN.
Die deutsche Verslehre liegt im argen, sagte mir einst prof. Rud.
Hildebrand und klagt Minor auf den ersten selten seiner neuhoch-
deutschen metrik (Straszburg 1893, s. 1 ff.), unsere versbetonung
ist Wortbetonung, aber diese in Zusammensetzungen nicht sicher,
und wenn sie es ist , so nicht die erkenntnis ihrer Ursache, wir be-
tonen ünterthan nach Minor (a. a. o. s. 74) aus rhythmischen
gründen, da der anapäst der deutschen spräche nicht anstehe, rich-
tiger bedeutet ünterthan wohl alte nominalbeton ung, die in
Zusammensetzungen das erste glied hervorhob, ebenso steht es mit
Unterricht im gegensatz zu unterrichten, wo also keine einzel-
ausnahme vorliegt, wie Minor annimmt (a. a. o. s. 74). vergleiche
widersprachen : Widerspruch, unterhalten : unterhalt, überschlagen :
582 H. Schuller: zur betonung zusammengesetzter Wörter im deutschen.
Überschlag (s. W. Wilmanns , deutsche grammatik , erste abteilung :
lautlehre, zweite aufläge [Straszburg 1897, Trübner] s. 408).
In abscheulich, vorzüglich sieht der eine emphatische, der andere
rhythmische Verschiebung, in jahrz6hnt, Jahrhundert ein dritter
logische. 6rzbischof , Erzherzog sind nach Minor (s. 70) ausnahmen,
da das steigernde erz- gewöhnlich unbetont sei ; hier ist es aber nicht
verstärkend, weshalb spricht man offenbar? vielleicht nach un-
mittelbar und dieses nach r6ichsunmittelbär, wo -bar wegen der ent-
fernung vom hauptton ein starker nebenton zukam, der sich ob
seines gewichtes leicht zum hauptton aufschwang, wir betonen
blutjung = sehr jung nach Wilmanns (s. 411 f.), wenn es als bei-
fOgung steht, aber blutjung am satzende, weshalb? vermutlich,
weil wir hier die stimme sinken lassen, was oft wie hauptton klingt,
die entsprechende tonstärke gesellte sich dann leicht hinzu, aller-
dings heiszt es kirchturm auch am satzschlusz; aber dieser vergleich
stört unsere erklärung nicht, da kirch- doch eben nicht blosz ver-
stärkt wie blut-. auffallend ist die betonung der Ortsnamen auf
-leben, da sie nicht das zweite glied der Zusammensetzung hervor-
heben, wie es Ortsnamen zu thun pflegen, deren zweitem stamme
eine unbetonte silbe folgt, vielleicht wirkte neben der Ursache, die
Wilmanns angibt (a, o. o. s. 415), die absieht, die zahlreichen Orts-
namen auf -leben von einander zu unterscheiden.
Nicht nur über dem woher? der betonung zusammengesetzter
Wörter liegt oft dunkel, auch über dem wie? fallthür hat nach
Wilmanns (a. a. o. s. 403) einen untergeordneten hauptton auf der
zweiten silbe, nach Minor (a. a. o. s. 79) nicht einmal einen neben-
ton, in blutarm = sehr arm hört Behaghel (Pauls grundrisz [1891]
1 s. 554) auch gleiche tonstärke der beiden glieder, Minor nur
blutarm (s. 70) , Wilmanns blutarm bei attributiver Stellung , blut-
arm am satzende (s. 412).
So haben wir schon die fälle gestreift, wo nicht einmal fest-
steht, ob überhaupt eine silbe einer Zusammensetzung der hauptton
trifft oder nicht.
Als beispiele zusammengesetzter hauptwörter, deren erster
bestandteil den zweiten nur verstärkt und die darum den haupt-
ton auf diesen rücken, führt Wilmanns an (s. 412): unmässe, un-
mfenge, unzahl, erzzanker, erzdümmkopf, höllenlarm, heideng61d,
mordspectäkel, riesenfleisz, hauptsörge, hauptkörl. in allen diesen
fällen liegt mir die betonung des ersten gliedes auf der zunge, und
auch Wilmanns setzt seine beispiele nur mit vorbehält an, wenig-
stens die mit steigerndem hauptwort.
In Oberbaiern, hanswürst hat Wilmanns satz-, in Weihnachten
wortbetonung (s. 413), eben diese Minor in Niederbaiern, Südfrank-
reich (nhd. metr. s. 72). ich höre und hörte Weihnächten, 'Ober-
baiern und Oberbaiern, Südfränkreich, hänswurst und, hanswürst.
Rhythmische rücksiebten walten nach Wilmanns (s. 413 f.)
in berghaüptmann, feldzeügmeister, vicef61dwebel, hofmvindschenk,
H. Schuller: zur betonung zusammengesetzter Wörter im deutschen. 583
pfingstsönntag, landgerichtsrat, feldmarschall, bürgermeister, kriegs-
schaiiplatz. auch hier vernehme ich nur regelrechte wortbetonung
auf der ersten silbe. eben diese beobachtet Wilmanns in Stralsund
(s. 414), Minor in Wiesbaden (s. 72). ich habe immer Stralsund,
Wiesbaden gehört.
Häufigeren Schwankungen als die hauptwörter unterliegen die
eigenschaftswörter. ursprünglichen nachdrucks halber be-
tont Minor abgefeimt, ausgesprochen, endlös, wunderlich, preis-
würdig (s. 64), Wilmanns leibeigen (s. 419), alltäglich, ursprünglich
(s. 417) aus rhythmischen rücksichten, weil der zweiten Stammsilbe
eine unbetonte folgt.
Minor sagt leibeigen, alltäglich (s. 70), Wilmanns urkundlich
(s. 417), Minor urkundlich (s. 71).
Barmh6rzig, teilhaftig, offenbar, unmittelbar (W. s. 419) höre
ich auch mit dem hauptton auf der ersten silbe, ebenso die mittel-
wörter der Vergangenheit mit der vorsilbe un- in passiver bedeu-
tung, wo Wilmanns wechselnde betonung annimmt: unbekleidet,
unbeschäftigt, ungesäuert, ungelogen, unverdient, unvergölten, un-
zerl6gt, unentw6gt (deutsche grammatik a. a. o. s. 416). Wilmanns
ist nur unerfindlich, ünlesbar, unmöglich geläufig (s. 417), mir un-
erfindlich, unmöglich und unmöglich.
'Das steigernde erz- ordnet sich in adjectiven immer unter:
erzfaul, -dumm' (Wilmanns a. a. o. s. 417). der gebildete Vogt-
länder wie der ungebildete ordnet es über, verstärkende Substantive
sind in adjectiven schwach betont am satzende (W. s. 418). also
baumstark, himmelhoch, weltbekannt, steinalt, feuerrot, grasgriin,
kohlschwärz, schneew6isz. die ersten vier beispiele betonte ich bis
jetzt fast immer auf der ersten , die letzten vier fast immer auf der
zweiten silbe, immer auf dieser aber herzinnig, also ohne wechselnde
betonung, die nach Wilmanns allen adjectiven zukommt, die mit
einem steigernden hauptwort zusammengefügt sind (s. 418).
Von fürwörtern betont Minor derjenige (s. 71), von ad-
verbien allerdings und allerdings (s. 71), auch also (s. 74), deshalb,
abhanden (s. 71).
Verhältniswörter bleiben dem abhängigen fürwort untergeordnet
(W, s. 421): auszerd6m, ehed6m, trotzd6m, vordem, hier ordnete
ich bis jetzt das fürwort unter, 'dagegen als zweite compositions-
glieder pflegen sowohl die präpositionen als andere partikeln und
adverbien den hauptton zu haben' (W. a. a. o. s. 421): demnach,
demnächst, demgemäsz, deshalb, deswegen, hierauf, nunmehr, nach-
gerade, auch diese regel stimmt nicht zu meiner bisherigen ausspräche,
mit recht setzte darum Wilmanns in seine fassung: pflegen zu
haben, welche vorsieht er auch sonst anwendet.
Die geringsten Schwankungen zeigt der hauptton zusammen-
gesetzter Zeitwörter, seiner neigung getreu, tonverschiebungen,
wo es angeht , zu meiden und am liebsten die erste Stammsilbe
in Zusammensetzungen hervorzuheben, betont der Plauener alle
584 W. Poetzsch : anz. v. Kautzmann, Pfaff u. Schmidt lat. übungsbüclier,
mit mis- zusammengefügten Zeitwörter auf der ei'sten silbe: mis-
bandeln, vgl. willfahren, das anerkannt willfähren zu lauten hat
wie mishändeln.
Das alles bestätigt, dasz es eine einheitliche deutsche aus-
spräche — auch von der mundart abgesehen — noch nicht gibt,
mit freuden ist es darum zu begrüszen, dasz der allgemeine deutsche
Sprachverein auf seiner letzten hauptversammlung am 7 und 8 juni
1897 auf antrag des prof. Erbe in Stuttgart beschlossen hat, die
pflege der ausspräche des deutschen in die band zu nehmen.
Plauen im Vogtlande. H. Schullee.
33.
lateinische lese- und übungsbücher für sexta bis tertia. von
Ph. Kautzmann, K. Ppafp und T. Schmidt, vierter
teil: für TERTIA. Leipzig, B. G. Teubner. 1897. 214 s.
Der vierte, für die beiden tertien bestimmte teil der lat. Übungs-
bücher von Kautzmann, Pfaflfund Schmidt (vgl. n. jahrb. 1892 hft. 3
und 12, 1894 hft. 6) enthält auf 159 Seiten 204 Übungsstücke, von
denen 92 auf untertertia (s. 1—69) und 112 auf obertertia(s. 73—159)
entfallen, den schlusz des buches bilden das vocabularium mit etwa
4000 Wörtern und redensarten (s. 160 — 209) und ein Verzeichnis
von 264 eigennamen (s. 210 — 214). der untertertiateil behandelt
in sechs abschnitten folgendes grammatische pensum: § 1 die nomi-
nalen verbalformen (inf. , acc. c. inf. , nom. c. inf. , partic. , gerund.,
gerundiv., sup,). § 2 final- und consecutivsätze nebst der hauptregel
über die consecutio temporum. § 3 temporalsätze und insbesondere
Sätze mit cum. § 4 raodi in hauptsätzen. § 5 u. 6 Wiederholung der
casuslehre, der räum- und Zeitbestimmungen, vorstehendes gramma-
tische pensum wird zunächst an einzelsätzen eingeübt, welchen dann
zusammenhängende stücke folgen, deren stoff zum grösten teile
Caesars bell. G. (lib. I — IV) entnommen ist. eingeschlossen in diese
Caesarscripta sind besonders abschnitte über römisches kriegswesen
(das Verpflegungswesen im römischen beere nr. 37 — 38, der festungs-
krieg der Römer nr. 39 — 42 , die märsche des römischen heeres
nr. 53 — 55); dazu kommt die geschichte Massilias (nr. 6 — 10), des
groszen und kleinen St. Bernhard (nr. 59 — 66) und Britanniens
unter den römischen kaisern (nr. 88 — 92).
In dem teile für obertertia v^rerden nachstehende grammatische
regeln eingeübt: § 7 die tempora des indicativs in nebensätzen.
§ 8 die tempora des conjunctivs in nebensätzen. § 9 die frage-
sätze. § 10 die causalsätze (final- und consecutivsätze). § 11 die
condicionalsätze. § 12 bedingte Wunschsätze, comparativ- und con-
cessivsätze. § 13 die relativsätze. § 14 oratio obliqua. dazu: § 15
zur Wiederholung der gesamtsyntax.
W. Poetzsch: anz. v. Kautzmann, Pfaflf u. Schmidt lat. Übungsbücher. 585
Alle diese regeln werden in gleicher weise wie in Untertertia
zunächst durch einzelsätze, sodann durch zusammenhängende stücke
mit anlehnung an Caesars bell. G. eingeübt (bes. üb. I. IV. VI — VII).
als dankenswerte zugaben sind zu begrüszen die ergänzung von
Caesars bericht über die culturzustände bei Kelten und Germanen
auf grund anderer quellen (nr. 137 — 156) sowie die dem ganzen
beigefügte Charakteristik Caesars als feldherrn und Staatsmannes auf
grundlage der commentarien (nr. 197 — 204).
Hiernach bieten die herren Verfasser in dem vierten teile ihrer
Übungsbücher einen reichen grammatischen und Übersetzungsstoff,
doch glaubt referent, dasz dieser innerhalb zweier jähre ohne grosze
Schwierigkeiten und Überanstrengung der schüler wird bewältigt
werden können : freilich wird auch hier erst die erfahrung das aus-
schlaggebende urteil bieten, die unter- und Obertertianer haben nach
Stegmanns lat. schulgr. , wenn diese an erster stelle wegen ihrer
weiten Verbreitung genannt werden darf, je ungefähr 30 Seiten neues
zu dem früheren zu lernen, wozu dann noch für untertertia Wieder-
holung der casuslehre und für obertertia gesamtwiederholung der
Syntax zu rechnen sind.
Besser wäre es freilich nach des referenten unmaszgeblicher
ansieht, wenn die systematische behandlung der casuslehre wegen
ihrer Schwierigkeiten erst in untertertia vorgenommen würde, so
dasz dadurch allerdings einige für die tertien bis jetzt bestimmte
grammatische regeln für untersecunda aufgespart werden müsten
(oratio obliqua), was aber sicher nichts schaden würde, so verfährt
man auch bei uns in Sachsen nach der lehr- und Prüfungsordnung
für gymnasien vom 28 Januar 1893, anders in Preuszen , vgl. lehr-
pläne u. lehraufgaben f. d. h. schulen, W. Hertz, Berlin 1893,
s. 24 — 27, wonach sich die herren Badener insbesondere gerichtet
zu haben scheinen, wenn nun nach erledigung des einen oder andern
abschnittes des grammatischen pensums eine pause eintritt und in-
zwischen früher durchgearbeitetes wiederholt wird, in der weise,
dasz auch hierin eine planmäszige Verteilung vorgenommen und diese
streng durchgeführt wird, so läszt sich wohl der von den badischen
herren verarbeitete grammatische stoff bequem bewältigen, das-
selbe gilt auch von den 92 Übungsstücken für untertertia und den
112 abschnitten für obertertia, wonach auf beide classen etwa je
drei Übungsstücke wöchentlich entfallen, welche der lehrer überdies
in manigfacher weise zur erreichung der nötigen grammatischen
Sicherheit ausbeuten kann, namentlich was die 'zumeist geschicht-
lichen quellen entnommenen' einzelsätze in nr. 1 — 5. 24. 34. 55.
93. 100. 107. 112. 121. 130. 134 betrifft, mit recht haben die
herren amtsgenossen dieses hilfsmittel nicht verschmäht wie im
dritten teile ihrer Übungsbücher, ein mangel, auf den wir in den
n. Jahrb. 1894 6s heft s. 286 hingewiesen haben, ja, man könnte ein
mehr solcher einzelsätze wünschen , so vor allem in den ersten ab-
schnitten, welche sich mit der einübung der nominalen verbalformen
N .Jahrb. f. phil u. päd. II. abt. 1897 hft. 12. 38
586 W. Poetzsch: anz. v. Kautzmaan, Pfaff u. Schmidt lat. Übungsbücher.
beschäftigen, ob überhaupt gerade dieses doch nicht leichte capitel
als anfangspensum einer untertertia wird vollständig erledigt wer-
den können, erscheint wohl mindestens zweifelhaft, ja bedenklich
angesichts der manigfachen hier sich bietenden Schwierigkeiten,
unter allen umständen musz demnach gerade dieser abschnitt der
Syntax am ende des obertertianerpensums nochmals gründlich wieder-
holt und ergänzt werden, so kann vor allem bei behandlung des
participiums die wiedergäbe der sätze mit 'ohne dasz, ohne zu, da-
durch dasz' (die beiden letzten Wendungen nur einmal in nr. 4,
Ir und lOr satz) u. a. m. eingehend erörtert und fleiszig geübt wer-
den (s. Stegmann, schulgr. § 193c — e). hierbei mag auch hin-
gewiesen werden auf die zahlreichen in die Übungsstücke auf-
genommenen verbalsubstantiva auf ung, die namentlich oft zu
Überschriften verwendet worden sind, ob diese die schüler ohne
weiteres und ohne anleitung immer richtig übersetzen werden , ist
doch mindestens zweifelhaft, als beispiele hierfür mögen dienen:
handelsbeziehung (nr. 6), forschungsreise (nr. 7), gründung (nr. 8),
erschlieszung (nr. 59), anschauung (nr. 74), landungsversuch (nr. 80),
Vereitelung (nr. 171), ausbreitung (nr. 186) usw. man wird daher
die schüler im voraus darauf aufmerksam machen müssen, dasz der-
artige hauptwörter sowie noch manche andere zu titeln der ein-
zelnen abschnitte benutzten ausdrücke meist durch verbale Wen-
dungen wiederzugeben sind, man kann vielleicht hierbei ausgehen
von dem Substantiv 'Vorbereitung' und verweist dabei auf das voca-
bularium s. 204, wo zu lesen ist: die zum auszug nötigen Vorberei-
tungen treffen quae ad proficiscendum pertinent, comparare; sich
mit den Vorbereitungen aufhalten in rebus administrandis morari.
hierzu läszt man nun noch ähnliche beispiele bilden und leitet auf
diese weise die zöglinge zur Übersetzung scheinbar schwerer aus-
drücke an, wie solche in den Übungsstücken und den dazu ge-
hörigen aufschriften vorkommen (vgl. auch Stegmann, schulgr.
§ 195—197).
Die Übungsaufgaben selbst sind trotz unmittelbaren anschlusses
an Caesars b. G. nicht so bequem vorbereitet und bieten kein
lateinisch-deutsch, das der schüler mühelos in die fremde
Sprache übertragen kann; vielmehr müssen manche Schwierigkeiten
überwunden werden , was den schülern nach längerem gebrauche
des buches und unter geschickter leitung des lehrers sicherlich ge-
lingen wird, lectüre und grammatik sind somit vorteilhaft ver-
bunden und ergänzen einander, wir haben es also mit keiner den
Zögling ermüdenden paraphrase des Schriftstellers (keiner paraphra-
sierenden wiederkäuung, wie Dettweiler sich ausdrückt in seinem
buche 'didaktik und methodik des lateinischen Unterrichts' s. 181,
Sonderabdruck aus A. Baumeisters 'handbuch der erziehungs-
und Unterrichtslehre für höhere schulen', München 1895) zu thun,
um so weniger, da die Verfasser auch andere litterarische und
monumentale quellen zur ergänzung von Caesars darstellung heran-
W. Poetzsch: anz. v. Kautzmanu, Pfaff u. Schmidt lat. Übungsbücher. 587
gezogen und einige mittelbar mit dem inhalte der denk Würdigkeiten
über den gallischen krieg im Zusammenhang stehende geschichtliche
Stoffe eingefügt haben, es sei in dieser beziehung nur hingewiesen
auf die geschichte Massilias (nr. 6 — 10), des groszen und kleinen
St. Bernhard (nr. 59 — 66) und Britanniens unter den römischen
kaisern (nr. 88 — 92). die arbeiten sind sonach inhaltlich eine Zu-
sammenfassung und ergänzung des gelesenen, doch möchte viel-
leicht dem einen oder andern fachgenossen die ausschlieszliche
beschäftigung mit dem gegenstände 'Caesars gallischer krieg
und verwandtes' während mehrerer jähre weniger sympathisch sein,
da diese dem eifer des schülers eintrag thun könnte, dies zugegeben,
dürfte es auch nicht schwer sein, hier abhilfe zu schaffen, wenn am
ende der beiden tertiaabschnitte sich Übungsstücke anschlössen,
welche allgemeine erörterungen der politischen läge, betrachtungen
über die Verhältnisse in Rom u. a. m. in form von briefen, reden
usw. enthielten, der an letzter stelle unseres buches gebotene ab-
schnitt (Charakteristik Caesars nr. 192 — 204) ist ja von solch all-
gemeiner art, darum mit freuden zu begrüszen, aber nicht aus-
reichend, vielleicht entschlieszen sich die herren Verfasser, bei
bearbeitung einer neuen aufläge ihres buches diesem ausgesprochenen
wünsche rechnung zu tragen, im übrigen aber erfüllen die 204
Übungsstücke die unumstöszliche forderung, dasz sie sich im Sprach-
schatz an den lateinischen lehrstoff in rechter weise anschlieszen,
den die schüler zugleich mit der befestigung der syntaktischen regeln
gleichzeitig wiederholen und so sich fester aneignen.
Im nachstehenden mögen einige wünsche bezüglich mehrerer
textesänderungen geäuszert werden, welche in einer später sich
nötig machenden neuauflage unseres buches berücksichtigt werden
könnten.
In nr. 1 satz 13 wirkt störend das doppelte 'wider — wieder',
dafür kann es heiszen: nach dem abzuge der P. begann man gegen
den willen der Sp. die stadtmauer wieder aufzubauen, ebenso
kann der gleichklang vermieden werden in dem satze: er befaszte
sich mit der abfassung von büchern (nr. 199), wenn man sagt:
'er beschäftigte sich . . ,' unter berücksichtigung der in das Wörter-
buch aufgenommenen Wendungen studere (operam nävare) alicui
rei s. 167. in nr. 2 s. 2 heiszt es besser: 'bekanntlich (vgl. Steg-
mann, schulgr. § 189, 3: der Inhalt dieses paragr. musz doch den
Schülern bereits bekannt sein) sandte Marcellus nach der erobe-
rung vonSyrakus die kunstschätze dieser stadt nach Rom' an-
statt: es ist bekannt, dasz M., nachdem er S. e. h., d. k. . . ,
sandte, um im 3n satze derselben nr. die Wiederholung der form
'seien' unmittelbar hinter 'seien' zu vermeiden, setzen wir lieber
einmal 'wären' und bilden den satz so : Perikles erklärte, diejenigen,
welche für das Vaterland gefallen wären, seien unsterblich wie die
götter. mehr anklang fände vielleicht folgende fassung des satzes:
P. e., dasz die für d. v. gefallenen unsterblich wären wie die götter,
38*
588 W. Poetzsch : auz. v. Kaatzmann, Pfaff u. Schmidt lat. Übungsbücher.
so dasz dieser satz in nr. 4 eingefügt und so in Übereinstimmung
mit Stegmann, scbulgr. § 193 anm. Ic gebracht werden könnte,
übrigens wenden die herren Verfasser oft den conj. präs. an, wo
doch der conj. impf, vorzuziehen ist. man vergleiche hiernach in
demselben abschnitte die Sätze 5. 7. 9. 11 und auch andere Übungs-
stücke, in nr. 2 satz 11 musz es heiszen: er griff die Punier
an — anstatt *er machte einen angriff auf d. P,', und dem ent-
sprechend ist zu ändern in den nrn. 111 und 164 unseres buches.
im 7n satze der 3n nr. lesen wir: . . . den Athenern wurde befohlen,
räche an ihnen zu nehmen, referent ist bezüglich der letzten
ausdrucksweise der ansieht, dasz die lateinische wendung hier-
für dem tertianer aus der casuslehre bekannt sein musz, sie also
in das vocabularium aufzunehmen nicht nötig war (s. s. 191). so
ist beispielsweise auch 'übertreffen' nicht in das Wörterbuch auf-
genommen, sicherlich mit beziehung auf Stegmanns schulgr. § 122
anm., die ja die badischen herren an erster stelle im äuge haben (vgl.
daselbst § 119).
In den sätzen 'Alcibiades weigerte sich nicht, das beer zu ver-
lassen, aber anstatt nach Athen zurückzukehren, begab er
sich . . . (nr. 24, 16) — weit entfernt, . . . sich einzulassen,
flohen ihre häuptlinge (nr. 36) — anstatt zu gestehen, was
die Ursache ihrer furcht sei (besser: anstatt die Ursache ihrer
f. ZU g.), erklärten sie vielmehr (nr. 103) — die adeligen,
weit entfernt, s. plan zu billigen, vertrieben ihn . . .
(nr. 160) — aber weit entfernt, sich über ihr los zu beklagen,
"baten die Soldaten Caesar vielmehr (nr. 166)' u. ä. haben die
Verfasser doch zweifelsohne die wendung tantum abest ut — ut im
sinne, die aber Stegmann mit recht gar nicht in seine grammatik
aufgenommen hat (vgl. § 232 u. 233), ebenso wenig H. J. Müller,
wenn man dessen praktische grammatik zu Ostermanns Übungs-
büchern, Leipzig 1896, B. G. Teubner, vergleichsweise heranziehen
darf (s. § 211 — 218). da diese wendung weder bei Caesar noch
bei Sallust noch bei Nepos , bei Cicero zwar öfter, bei Livius un-
gefähr siebenmal sich findet, so liegt auch kein grund vor, sie ferner-
hin noch in die schulgrammatiken (doch vgl. E.-S. § 236 anm. 1)
aufzunehmen und mit der einübung derselben die schüler zu quälen
und damit kostbare zeit zu opfern, wegen mangelnder stütze im
lehrstoffe der mittleren classen werden die eben besprochene wie
noch so manche andern Wendungen nicht behandelt oder doch nicht
zum hinübersetzen eingeübt, sondern meist nur gelegentlicher, 'be-
obachtender' oder späterer behandlung bei der lectüre überlassen.
es mag hierbei auszer anderem erinnert sein an besonderheiten wie:
in eo est, ut; sequitur, proximum est, restat ut; adeo non, ita non,
ut (so wenig, dasz), nisi quod, nisi vero und nisi forte, sin aliter, si
minus u. a. m. ne quid nimis! gerade für unsere zeit ist eine be-
schränkung in grammaticis von vorteil und eine Vertiefung der
schi-iftstellerlectüre durchaus notwendig (vgl. Dettweilers did.
W. Poetzsch: anz. v. Kautzmann,Pfaff u. Schmidt lat. Übungsbücher. 589
s. 149). darum können alle die sätze unseres Übungsbuches, welche
auf anwendung von tantum abest ut — ut zugeschnitten sind, auf
der tertianerstufe ruhig wegbleiben , oder sie müssen umgeändert
werden.
Der anfang des 17n satzes in nr. 24 lautet: obgleich Alcibiades
durch seine ratschlage den Spartanern von groszem nutzen
war; dafür 'nicht geringen nutzen bereitete' oder 'sehr nützte' oder
'zu groszem nutzen diente*, wonach auch im vocabularium s. 189
die beigefügte Übersetzung von magno usui esse zu ändern ist.
ebenso wenig darf es im ISn satie derselben nummer heiszen :
Cimon war von so groszer freigebisrkeit, sondern: C. be-
sasz s. gr. fr, ebenda nicht 'um die fruchte zu bewachen' sondern
'um das obst zu hüten', ist nicht kürzer zu sagen : aufgegebenes
zeichen bemühten sich die Soldaten den graben auszufüllen, an-*
statt: sobald das zeichen gegeben worden war (nr. 39)?
danach ist wohl auch zu ändern: wenn das erste signal . . . gegeben
worden war (nr. 54) und: als Eom v. d. G. verbrannt worden
war . . . (nr. 55, 12). nicht besonders gefallen dürfte der I5e satz
in nr. 43: Hannibal kehrte 36 jähre, nachdem er seine heimat ver-
lassen hatte, dahin zurück, in nr. 47 möchte referent lieber lesen:
dichte hecken versjDerrten den freien überblick, anstatt: d. h. be-
nahmen die aussieht, mit berücksichtigung der feststehenden Wen-
dung prospectum impedire, die übrigens auf s. 203 des vocabula-
riums bei 'versperren' nachzutragen sein wird, in nr. 57 musz es
einfach heiszen: gewaltthaten von euren nachbarn fürchtet nicht
für: g. von selten eurer n. f. n. ; denn dieses wort musz man als
eine geschmacklose neuerung betrachten, die nicht nachahmenswert
ist (vgl. hierüber Th. Matthias, sprachleben und Sprachschäden,
2e aufl., Leipzig 1897, Fr. Brandstetter s. 156, sowie dessen kleinen
Wegweiser durch die Schwankungen und Schwierigkeiten des deut-
schen Sprachgebrauchs, Leipzig L. Richter 1896, § 33, 13). am
ende des 99n Übungsstückes würde referent geschrieben haben: er
wird erfahren, was unbesiegte Germanen zu leisten im stände
(fähig) sind, anstatt: was sie vermögen, die zweimal un-
mittelbar hintereinander folgende conjunction 'als' im 9n satze des
107n abschnittes wirkt störend, ebendaselbst möchte folgender
satz geändert werden: als die freunde fragten, was die Ursache
hiervon sei, antwortete er . . ; dafür: als d, fr. nach der Ur-
sache hiervon fragten, in nr. 120 — schluszsatz — ist zu
streichen 'unsterblichem', wofür auch 'groszem' genügt, im 122a
abschnitte unseres übung.sbuches findet sich der satz: so wurden
z. b. die üsipeter und Tenkterer von den Sueben, nachdem sie
lange deren ansturm widerstanden hatten, . . . vertrieben, statt
dieser fassung wird vorgeschlagen: so wurden . . . Sueben, deren
ansturm sie 1. w. h., v. — Das dem deutschen sympathischere
activum an stelle des passivums ist z. b. im folgenden satze vor-
zuziehen: als er daher hörte, dasz von den Sueben, die . . ., den
590 W. Poetzsch : anz. v. Eautzmann, Pfaff u. Schmidt lat. Übungsbücher,
Treverern hilfstruppen geschickt worden seien, beschlosz
er, ... wir sagen in diesem falle: als er daher hörte, dasz die
Sueben . . . den Treverern h. geschickt hätten, . . ; der passi-
visch gegebene satz (nr. 133) läszt zu sehr das lateinische erraten:
ab Suebis auxilia missa esse nach b. G. VI e. 9.
Nicht selten wenden die badischen amtsgenossen in ihrem
Übungsbuche den artikel vor eigennamen im gen., dat. und accus.
an , wo er nicht nötig ist. es mag hier zur erhärtung des gesagten
nur hingewiesen werden auf folgende beispiele: dem Orgetorix
(nr. 12), dem Cassivellaunus (nr. 86), dem Labienus e. legion
geben, den Acco hinrichten (nr. 158), dem Convictolitavis (nr. 173),
d en Vercingetorix zu täuschen (nr. 174), d em Vercingetorix (nr.l77),
unter führung des Ariovist (nr. 25) für 'unter Ariovists führung'
in Übereinstimmung mit 'Ariovists antwort' (nr. 99), 'die forderung
Ariovists' (nr. 108), 'Ariovists' reiter (nr. 111) usw. hiernach
könnte man auch in einklang bringen 'unter Tib. Claudius' regie-
rung' für 'unter d. r, des T. Cl.' (nr. 88) mit 'Crassus' feldzug'
nach Aquitanien (s. 52), wo der apostroph zur bezeichnung des gen.
mit recht angewendet ist.
Endlich erlaubt sich referent auf den 3n satz der 199n Übung
hinzuweisen, in welchem doch zu viel behauptet sein dürfte, wenn
es dort heiszt: von demselben (Caesar) wissen wir, dasz er, wäh-
rend er die schwersten kriege führte, mit dem grösten eifer
erforschte, welche einrichtungen und sitten die einzelnen stamme
Galliens, Britanniens und Germaniens hätten, bei weitem dank-
barer würden wir sicherlich dem lömischen feldherrn sein, wenn er
in seine comraentare ausführlichere und zuverlässigere berichte über
Staatseinrichtungen, sitten, gebrauche usw. der von ihm betretenen
länder, so vor allem Deutschlands, eingeflochten hätte.
Was die einrichtung des Wörterbuches betrifft, so sind den Sub-
stantiven der genetiv, den verben die Stammformen hinzugefügt,
wo die Schüler irgendwie im zweifei sein können; z. b. holus, eris,
n. d. gemüse (s. 178), supellex, ectilis hausgerät (s. 180), petäsus, i
hut (s. 182) rotula, ae rolle (s. 192), culctta, ae matratze (s. 186),
übrigens Wörter, die in Caesars Schriften nicht vorkommen, ferner:
attexere anwehen (attexui, attextum s. 262), subluere bespülen
(subluo, sublui s. 167), ex^erere entblöszen (-serui, sertum s. 172)-
u. a. m. vermiszt hat unterzeichneter die Stammformen bei detegere
und pandere (s. 163), conserere (s. 167 u. 171). die dem bell. Afr.
c. 89 entlehnte redensart obvium fieri (s. 165) kann neben occurrere
wegbleiben, 'lebewohl sagen jmdm.' ultimum persalQtare aliquem ist
wohl besser wiederzugeben mit 'salutem dicere alicui oder valere
aliquem iubere'. der technische ausdruck 'den Überzug entfernen*
heiszt nach bell. G. II 21 tegimentum detrüdere (-si, sum) anstatt
t. deträhere (s. 199), indem jenes zur veranschaulichung der eile an
der angeführten stelle besonders geeignet erscheint, bei aufführung
der einzelnen redewendungen sind die herren Verfasser nicht immer
W. Poetzsch: anz. v. Kautzmann, PfafF u. Schmidt lat. Übungsbücher. 591
gleichmäszig verfahren ; denn bald findet man den zur Übersetzung
nötigen ausdruck beim verbum, bald, besser meist beim sub-
stantivum. zum beweise des gesagten mag angeführt werden:
'd. glieder öffnen, e. graben ziehen' liest man richtig bei den be-
treffenden Zeitwörtern, aber wie oft musz der schüler zweimal
nach dem gerade notwendigen ausdrucke suchen! fragt er sein
Wörterbuch doch dort um rat, wo er das ihm unbekannte wort zu
finden hofft, so liest er in seinen Übungsstücken: d. hasz schüren,
Sorgfalt zuwenden, einer gefahr aussetzen, frevel verüben, d. marsch
zurücklegen, d. kriegszucht lockern, e. gesetz einbringen, Streitig-
keiten schlichten, Untersuchung anstellen, felder bestellen u. a. m.
in allen den erwähnten fällen wird der schüler sicher die Zeitwörter
aufsuchen, nicht die hauptwöi'ter, deren lateinische bedeutung er
als tertianer kennt, aber hier läszt ihn das Wörterbuch im stiebe:
er musz das betreffende substantivum nachsehen, bei dem er aller-
dings die gewünschte auskunft findet, sonach legen die badischen
amtsgenossen in ihrem Vokabular das hauptgewicht auf die substan-
tiva, worauf der lehrer vor dem gebrauche desselben seine zöglinge
aufmerksam machen musz , damit ihnen das aufsuchen der un-
bekannten redensarten nicht zu viel zeit kostet, sind hierbei die
herren Verfasser' wohl praktisch verfahren? vermiszt hat bericht-
erstatter die Wörter 'aufbauen, ablehnen (e. entscheidungsschlacht
nr. 116), abwehr, cultstätte, gegenmaszregel, festnähme, gewerbe,
sippe, kunstfertigkeit, Staatsmann, ausführlich' (beschreiben nr. 189).
In dem Verzeichnisse der eigennamen ist s. 211 zu schreiben:
Elaver, eris , n., nicht m. man vergleiche hierzu folgende stellen
aus Caesars b. G. und zwar 1. VII 34: secundum flumen Elaver;
ibid. c. 53: ad flumen Elaver. zu Trinobantes (s. 213) musz die
genetivendung -um beigefügt werden, wie man auf derselben seite
richtig findet Sontiates, -um oder auch sonst bei weniger bekannten
eigennamen.
Druck und ausstattung unseres Übungsbuches sind wie die in
2r aufläge erschienenen sexta- und quintateile (vgl. hierüber
C. Reth wisch, jahresb. ü, d. b. Schulwesen, XI. Jahrgang, Berlin
1897, Gaertners verlag s. 63) sauber und gefällig, wenn sich die
herren Verfasser eutschlieszen können , in einer zweiten aufläge die
vom referenten geäuszerten wünsche zu berücksichtigen, so wird auch
der letzte teil ihrer Übungsbücher ein recht brauchbares Unterrichts-
mittel zur befestigung des lexikalischen und grammatischen sprach-
stoffes in den mittelclassen unserer gymnasialanstalten werden.
So wünschen wir zum Schlüsse unserer besprechung, dasz sich
auch der vierte teil der Kautzmann-Pfaff- und Schmidtschen Übungs-
bücher, wie seine Vorgänger, viele freunde unter lehrern und schülern
erwerben möge.
Döbeln. Wilhelm Poetzsch.
592 Fauth: anz. v. W. Hahn gesch. der poet. litteratur der Deutschen,
34.
Werner Hahn, Geschichte der poetischen litteratur der
deutschen. dreizehnte auflage, herausgegeben von go tt -
HOLD Kreyenberg. Berlin, verlag von Wilhelm Gertz. 1897.
358 s. gr. 8.
Das bekannte buch von Werner Hahn bedarf eigentlich der an-
zeige nicht mehr, aber es läszt sich heute bei der I3n aufläge des
weit verbreiteten buches um so sicherer feststellen, dasz sich anläge
und methode des buches bewährt haben. Hahn hatte als doppelte
aufgäbe des buches hingestellt: klarheit in der anordnung des wich-
tigsten und wärme der darstellung. und das sind in der that die her-
vorragendsten eigenschaften des buches, die es besonders dem Schul-
mann wertvoll machen, die glückliche band zeigt sich vor allem darin,
dasz Hahn und der neue herausgeber, der als bewährter schulmann
weithin bekannte Gotthold Kreyenberg, die beiden aufgaben, knappe
klarheit und warme anschauliche darstellung, fein gegen einander
abgewogen und zu einem harmonischen ganzen vereinigt haben, und
gerade diese Vereinigung ist für ein Schulbuch besonders nötig und
doch nicht leicht ausführbar, eine knappe darstellung allein würde
dem Schüler wohl Übersichtlichkeit, aber kein ausreichendes material
zur Wiederholung und zu dem durch die lehrpläne geforderten zu-
sammenhängenden vortragen geben; dem schüler es zu überlassen,
sich dieses material zu suchen, hat mancherlei bedenken, auf der
andern seite ist es nicht möglich, dem schüler im buche all den stoff,
den das buch charakterisiert, originaliter in die band zu geben, dem
lehrer musz ja dieser stofiF zugänglich sein, er musz ihn aus eigner
anschauung kennen und ihn unter umständen auch vorführen, so
bleibt also für ein gutes Schulbuch der deutschen litteratur die auf-
gäbe, zwischen den beiden genannten aufgaben die richtige mitte
zu halten, das ist in diesem buche meiner meinung nach geschehen.
und Kreyenberg hat die lösung der aufgäbe noch in glücklicher
weise gefördert, indem er der überbichtlichkeit und des straffen ge-
dankenganges halber manche kürzungen vorgenommen und so das
buch auch neuern pädagogischen forderungen noch genähert bat,
indem er anderseits wertvolle, die anschaulichkeit fördernde er-
gänzungen, die im text die Übersichtlichkeit gestört hätten, in an-
merkungen hinter dem text darbietet, dadurch ist das buch in er-
höhtem masze auch zu einem haus- und nachschlagebuch geworden,
dasz es sich frei von den noch ungeklärten tagesströmungen hält,
ist ein weiterer vorzug, während es dadurch, dasz es in der neuen
aufläge auch neuere anerkannte dichter berücksichtigt, nicht nur
dem bedürfnisse des hauses, sondern auch den forderungen der schule
entgegen kommt.
Höxter. Fauth.
P. Vogel: anz. v. P. Merkes vom gebrauch des infinitivus im nhd. 593
35.
P. Merkes, beitrage zur lehre vom gebrauch des infinitivus
IM NEUHOCHDEUTSCHEN AUF HISTORISCHER GRUNDLAGE. ERSTER
TEIL. Leipzig, J. H. Robolsky. 1896.
Der verf. bezeichnet sein buch als eine erste Vorarbeit für eine
'ausführlichere grammatik der deutschen spräche auf historischer
grundlage'. er behandelt eingehend (168 s.) den infinitiv als teil
einer umschriebenen zeitform: ein in aussieht gestellter
zweiter teil würde dann dem infinitiv als selbständigem satzteil
gewidmet sein.
Nachdem verf. die einrechnung des infinitivs unter die modi
(s. 6 — 9) und seine bezeichnung ak supinura (s. 12 — 13) (Becker,
Kehrein, Wetzel u. a.) als unrichtig zurückgewiesen, ferner die so-
genannten infinitivi futuri (lesen werden, werden gelesen werden,
werden gelesen haben, werden gelesen worden sein) (s. 9 — 11) als
undeutsche formen hingestellt hat, die nur als äquivalente der classi-
schen infinitivi futuri gebildet, demnach aus den deutschen gramma-
tiken endgültig zu streichen seien, — spricht er A. (s. 14 — 30) von
der Verwendung des infinitivs zur Umschreibung der dem Germani-
schen von jeher fehlenden form des einfachen futurums: ich
werde schreiben (geschrieben haben), verf. wendet sich hier be-
sonders gegen die verbreitete ansieht, dasz diese merkwürdige Zu-
sammenstellung aus: ich werde schreibend hervorgegangen sei,
und betrachtet seinerseits 'schreiben' als ursprünglichen infinitiv
(s. 15 — 20). indem verf. ferner bedauert, dasz ein imperfectum
futuri (ich ward schreiben), zu welchem ansätze (s. 22) wirklich
vorhanden sind oder gewesen sind, nicht gebildet worden ist, ver-
tritt er für gewisse fälle (bes. im gegensatz zu Wustmann) die be-
rechtigung der Umschreibung des conjunctivs durch würde (s. 23
— 29), die durchaus nicht so jungen datums sei, wie angenommen
zu werden pflege, sondern aus dem 16n Jahrhundert stamme. — In
B (s. 30 — 168) wird der infinitiv behandelt als Stellvertreter
des sonst üblichen participii perfecti zur bildung der um-
schriebenen perfectformen , wenn bei diesen noch irgend ein reiner
infinitiv steht als eine art abhängigen objectes (ich habe schreiben
können), zunächst wird m. e. mit erfolg polemisiert gegen die
annähme Grimms, Lachmanns u. a., dasz diese scheinbaren infinitive
wirkliche alte participia seien (s. 31 — 41): verf. ist der ansieht,
dasz erst im 14n und 15n Jahrhundert sich zunächst die schwachen
participia perfecti zu den modalen hilfszeitwörtern gebildet hätten;
dann sei die neigung entstanden, durch syntaktische aus-
gleichung dem abhängigen objectsinfinitiv entsprechend die par-
ticipia in infinitive zu verwandeln; allmählich sei die ursprüng-
lich fehlerhafte form immer beliebter, im 17n Jahrhundert und von
da an bis heute das allein gewöhnliche und damit das allein richtige
geworden, es werden hierauf eingehend die näheren bestim-
594 P. Vogel: anz. v. P. Merkes vom gebrauch des infinitivus im nlid.
mungen über diese sprachform, für die vei'f. den namen parti-
cipersatz einführt, erörtert und zwar durchaus auf historischer
grundlage; so wird besonders gesprochen von der Wortstellung
(s. 53 — 72) desgleichen von fällen, wo der participersatz nicht ein-
tritt (z. b. s. 55 — 56); weiter wird ausführlich behandelt die aus-
lassung der hilfsverba haben und sein in nebensätzen
(s. 72 ff.)» die jetzt bei participersatz unmöglich ist, während
feie vom 16. Jahrhundert an und besonders im 18n auch in diesem
falle völlig gäng und gäbe war (der sogenannte 'Lessingsatz': wenn
er diesen brief selbst schreiben können, will ich ihn anstellen): im
anschlusz hieran weist Verf. (s, 73) Wustmanns behauptung zurück,
diese weglassung sei ziemlich jungen Ursprungs und werde häufiger,
von s. 79 — 89 wird angesichts etwaiger Schwierigkeiten und zur
Vermeidung allerdings ziemlich eingebürgerter fehlformen (wie: er
braucht es nicht haben thun zu [!] wollen) der grundsatz gewonnen,
dasz in solchen fällen der participersatz oder der fehler zu umgehen
ist durch anwendung eines casussatzes oder durch einsetzung einer
gleichbedeutenden redensart für das modale hilfsverbum. — Aus-
führlich wird nun untersucht (s. 90—145) welche verba den
participersatz zulassen: als historische quellen hierzu sind
116 deutsche Schriften von den verschiedensten Verfassern von 1519
— 1894 herangezogen worden (sie werden aufgezählt s. 93 — 105).
es ist unmöglich, an dieser stelle dem verf. in die einzelheiten seiner
eingehenden prüfung zu folgen; sein resultat für die schul-
grammatik ist: den participersatz haben 1) die modalen hilfszeit-
wörter, 2) sehen, hören, helfen, heiszen, brauchen; bei allen andern
ist der ausschlieszliche gebrauch des particips zu empfehlen. —
Zum schlusz (s. 145 — 168 nebst Übersichtstafel) stellt verf. zu-
sammen, was die grammatik seither über den participersatz
gelehrt hat, und nennt da ca. 25 gelehrte von Adelung bis Wilmanns
und Wustmann: bei aller anerkennung von Merkes' leistungen will
es ref. bedünken , als verfiele er hierbei öfters in einen gar zu weg-
werfenden ton.
Es ist unausbleiblich, dasz der verf. in manchen einzelergeb-
nissen bei dem einen fachgenossen liier, bei dem andern da auf
Widerspruch stoszen wird : niemand aber wird den hohen wert des
fleiszigen und gediegenen buches in zweifei ziehen; nicht nur dasz
zahlreiche fragen zur sicheren lösung gebracht werden, auch wo
man Merkes nicht durchaus folgen kann, hat er durch seine von
den schriftstellerischen thatsachen ausgehende arbeit zur klärung
wesentlich beigetragen, und auch ihm entgegenstehende grammatiker
dürften sich durch des verf. Untersuchungen wenigstens zu man-
cherlei modificationen ihrer bisherigen ansichten veranlaszt
fühlen.
Was den unterzeichneten betrifft, so kann er sich mit der wich-
tigsten behauptung des teiles A, dasz nämlich 'ich werde schreiben'
nicht entstanden sei aus 'ich werde schreibend' nicht einverstanden
G, Diestel : anz.v.W. Scheffler wähl- u. waffensprüche dtscb. studenten. 595
erklären, wenn nämlich zunächst verf. den Schwund des auslauten-
den d für unwahrscheinlich hält, so führt er doch selbst einen beleg
hierfür an: zahn aus zant, nur dasz hier das t vielleicht schon früher
verloren gegangen ist; auch die abwerfung des t in der dritten
person plur. ind. praes. läszt sich heranziehen: denn auch bei dena
fraglichen participium kann die beseitigung des d ausgleichs-
weise (in anlehnung an den infinitiv) erfolgt sein, und wie soll
man sich nun nach Merkes die bildung entstanden denken ? zur
Umschreibung des fehlenden futurums habe man vier ausdrucks-
weisen gehabt: er soll glänzen, er musz glänzen, er will glänzen,
er wird glänzend; aber bei allen habe man zu deutlich den unter-
schied zwischen dem zu bezeichnenden und dem bezeichneten begriff
empfunden, 'man suchte also nach einem andern deutlicheren (?)
hilfsmittel zur bezeichnung der zukunft und fand es in der Zu-
sammenstellung von werden mit dem infinitiv usw.' ist wirklich
anzunehmen, dasz sprachliche erscheinungen so gewissermaszen
zielbewust und geflissentlich zu tage gefördert worden sind?
und wenn, sollte man dann eine thatsächlich unrichtige, ja un-
sinnige Verbindung wie werden -f- infinitiv gewählt haben? — Da-
gegen kann sich ref. durch die auseinandersetzungen des verf. in
teil B , wenigstens in allen hauptpunkten , für überzeugt erklären.
Schneeberg in Sachsen. Paul Vogel.
36.
Wilhelm Scheffler, dr. phil. und a. o. prop. an der poly-
technischen HOCHSCHULE ZU DRESDEN. WAHL- UND WAFFEN-
SPRÜCHE DEUTSCHER STUDENTEN. EIN BEITRAG ZUR GEISTIGEN
EIGENART DEUTSCHEN STUDENTENTUMES. Leipzig, B. Elischer
nachf. 1896.
Man mag über den wert der akademischen genossenschaften
für das eigentliche Studium der Wissenschaften denken wie man will;
man mag lächeln über den eifer, mit welchem unsere söhne, obwohl
glückselig, den fesseln der schule entronnen zu sein, sich freiwillig
in die viel engeren der kameradschaft schlagen lassen; man mag
verstimmt sein über den zopfigen, phrasenhaften, steifleinenen stil,
dessen sich die akademischen bürger eines so freien und aufgeklärten
Jahrhunderts in ihren Zeitungsanzeigen bedienen; man mag zürnen,
dasz die narben im antlitz nicht mehr zeugnis ablegen von einem
das leben bedrohenden kämpfe für das vaterland, sondern allein von
der vermeintlichen Verteidigung einer in der hauptsache doch erst
später zu erwerbenden ehre; man mag aufrichtig bezweifeln, ob
wirklich die mehrzahl von unseren corpsbrüdern die oft gerühmte
reife des Charakters mit in das leben nehme ; man mag ernstlich
596 G. Diestel: anz.v.W.Scheffler wähl- u. Waffensprüche dtsch. Studenten.
besorgt sein , dasz der heute übliche trinkzwang in den meisten
Studentenverbindungen nicht nur die körperlichen sondern auch die
seelischen kräfte des gesündesten Jünglings untergraben müsse;
man darf endlich gar mit tiefstem herzenskummer die bemerkung
gemacht haben, dasz aus manchem schönen hoffnungsreichen jüng-
lingsantlitz die zartesten linien, die von edelstem geist und Charakter
zeugten, nach wenigen Semestern der sogenannten Studienzeit ver-
schwinden und aufgedunsenen, öden, steppenhaften flächen platz
machen — eines aber wird niemand leugnen: dasz die wähl- und
Waffensprüche unserer deutschen Studentenverbindungen die ganze
tonleiter aller edelsten und würdigsten empfindungen und ge-
sinnungen uns zu gehör bringen.
Auf grundlage der fleiszigsten und ausgiebigsten litteratur-
benutzung, der vielseitigsten erkundigungen durch vvort und schrift
componiert Seh. in dem zierlichen büchlein, das er seinen söhnen
und ihren commilitonen gewidmet hat, mit allen wünschenswerten
geschichtlichen und sprachlichen erklärungen versehen, eine ganze
Symphonie von deutschen und lateinischen (auch einigen anders-
sprachlichen) kennworten, aus denen uns der menschheit ganze
würde entgegentönt: freiheitssinn und frömmigkeit, ehrgefühl und
freundestreue, kampfesmut und Vaterlandsliebe, überraschend aber
dürfte dem nachdenkenden leser allein erscheinen, dasz dem höchsten
ziele alles wissenschaftlichen strebens, dem unsere hochschulen doch
einmal gewidmet sind, dem unentwegten streben nach erforschung
der Wahrheit, mag sie alt oder neu, erfreulich oder unerfreulich
sein, unter den nahezu zweihundert nur ein einziger Wahlspruch
ausdruck gibt, nur die katholische Bavaria in Bonn hat das edle
losungswort ' Wahrheit im erkennen und leben' bewahrt, das sich
einst die jetzt aufgelöste union aller katholischen Verbindungen ge-
wählt hatte, um so lebhafter möchte man einstimmen in das her-
liche mahnvvort des unlängst verstorbenen freiherrn von 0er, der
den Studenten der polytechnischen hochschule in Dresden , die ihn
beim glänze der fackeln als rector begrüszten , dringend empfahl :
pflege des geistes, der form und des herzens.
Das anmutige büchlein verdient weiteste Verbreitung nicht nur
im kreise der Studenten, sondern aller studierten.
Dresden. G. Diestel.
J. Draheim : Goethii Arminius et Dorothea Graece. 597
37.
GOETHII ARMINIUS ET DOROTHEA GRAECE.*
ceutesimo aono transtulit
lo. Draheim.
Oöttot' ÖTTuuira Kevriv outuuc dToprjV Kai dYUidc
f\ TTÖXic eKKEKopriTai epri|ur| • oü TreviriKOvia
TrdvTUJV eYKöTaiueTvai 6io|uai, occoi eveiciv.
ujc TToXuTrpaYlnoveoucr xpex^i <^£ ö^^i te eKacioc
T(Lv beiXOuv qpuTdbuuv cxöXov oipöiaevoi uapiovia.
fi b' 6böc, fjv KttTiac', direx^i ujpav y€ (jaXicra*
elra Ge'ouci |uecr||ußpivfiv köviv ouk dX^TOvrec.
^f] Ydp e'YULiYe Kivüj|aai, öttuuc Karibaiiui TTOvouvtac
ecBXouc cpeuYOVtac, toi hx] id KTrunar' e'xovTec
ouTi KaXuuc 'Privou xd Tiepaia XmövTec euppou 10
fiiueiepriv dqpkovTo, KOjuiZiovTai be yö^^voO
YOUvoO ToObe vdirric le kot' üykcu TTOuXußoteipric.
€0 Ye, fvvax, Tioiricac, öti rrpöcppacc' dTTeTT6|uvj;ac
TTttib' öGövriv (popeovTtt ttotöv citöv t€ Tievrici
boCivar Ktti Ydp eoiKev ötlu ke Geöc iröpri öXßov.
u)C YÖvoc d)uöc eXd, iLc bdjuvnc' dpcevac mnouc.
KttXXicTri veÖ7Tr|KToc a.7iY]vr\ • Texiapac evbov
eu X^JuP^i; ireiLiTTTOC be Kai fivioxoc k' eTTißaiTi.
vOv laev inoOvoc eXauvev dKpov Tiepi pi|ucpa ipoxdZiiJUV.
u)c irpoceem' dY0pfi9i KoGriiuevoc ev irpoGiipoici 20
XpucoXeovTOKdTTtiXoc eucppoveujv öapa fiv.
TÖv be Yuvf) becTToiva TTeTTVu)uevri dvxiov riuba"
uj irdtep, ou ti eKoOca bibuujLi' öGövriv irepiTpmTov
ecTi Ydp euxpncTOC ttoXXujv t' dvidEioc dXXujv
f|v XpeiY] )uoi er), fibicia b' d)nei|uova iroXXd
criiLiepov eEarreTreiavpa TanriTOJV r\be xituuvuuv '
YU|uvr|Tac Ydp dKOuca veouc ijuev iibe Yepovrac.
dXX' fi Ydp cvj fe |uoi cuYYVuuceai; eKKeKevuuxai
9ujpia|uöc" cr|v t' diairexövriv Triv dvGejuöeccav
ßOccou XeTTTOTdtric epetu uTtevepGe paqpeTcav 30
büJK', dXX' ecTi tepeiva, Tpißuuviov dpxaiov ujc.
Tfjv b' emiaeibricac -rrpocecpri ttöcic ecGXöc euc re*
Kai TToGeuu fe xpißuuv' e|uöv 'IvbiKÖv, ou KißbqXov,
ßuccivov, oÜK dv Toiov e'G' üciepov auQic e'xoijui.
dXX' Oll Ydp qpöpeov • ßouXovrai vuv ye töv dvbpa
aiei x^aTvav e'xovra xixüuvd le XajuTrpd ßabiZleiv
evbpo^iciv • juiipri cpuYabeueTai iibe irebiXa,
* wir müssen uns wegen mangelnden raumes damit begnügen , nur
vorstehende probe aus der uns zur Verfügung stehenden Übersetzung
mehrerer gesänge zu bieten. die red.
598 J. Draheim: Goetliii Arminius et Dorothea Graece.
TÖv b' njueißei' eireiTa Yuvr|- 'IboO, oi be veovrai
vöv örincdjuevoi, ctöXoc oixriBfivai eoiKCV.
TrdvTuuv bf] KeKÖvic0' UTTobrnaaia, Gepjud npöcuuTTa, 40
KavpibpiLii' 6|uopTVU)Lievoi vuu)aujci CKacTOc.
ouK dv e'TujYe 6eXoi)Lii BedjuaTOc eiveKa xoObe
iieXiLjj Teipecöar dXic fe |uoi ecriv dKoOcai.
rfiv be TTttirip dYoBöc tiukvöv ettoc eiia rrpocTiuba'
ouK euri|nepir|C Oaind Toir|c tutxov' d|uriTOC
Ktti KapTTouc KO)LiioujueO', ÖTTuuc xöptov KOlUlCaVTO ,
icx'^oüc- aiörip ydp ctiXßei vecpeXai t' direaciv,
iluJGev b' dveiaoc Ttveiei vjjüxuuv epateivöc.
ujpri f\be ße'ßaioc unepTreTTOvec t' ev d^poici
KttpTTOi" d|ir|TOu b' ecTtti dcpeibeoc aupiov dpxr|. 50
iLc qpdto, TuJv b' dTopf] tiXiit' dvbpüuv r\bk YuvaiKuuv,
o'i bx] cTTepxü)aevoi eßav övbe bö)aovbe eKacioc.
Ktti CUV GuYaiepecciv eaic raxeujc eqpopeiio
dvTiKpuc dYopfic YeiTUJV dcpveiöc dveXBüuv
Kaivuuöev irpöc baijua TTÖXeuuc TTpuuTe'iuTTopoc auiöc
ireTTTaiLie'voiciv öxecciv, d Aavbauoi Kdjaov dvbpec.
TtXfieov hx] Xaupar ttöXic eu TreTTÖXicto exoG^ci
TToXXobandc xexvac r\b' epYaciripia iroXXd.
U)C dpa eiaxo tuuy' öapiCovx' ev TTpoGOpoici
xepnoiaevuu xe Xöyoic nepi XaoO epxojuevoio, 60
|uiu9ujv b' ripHax' eneixa Yuvf) beciroiva Km rjuba"
ev0', ibe , ipoXÖYOC cxeixei Kai qpap)aaKOTTuuXr|c
YeiTuuv xüj y' ölpa TrdvG' fiiaiv Kaxa)au6ricdc9ujv,
öcc' e'KxocBe i'bov Kai öcc' ou xeprrvd ibövxi.
OaibpiJü xÜLi y' eXöövx' r\c'nal4.cQr\v xe yöMH^ouc
Gpdvouc x' ec EuXivouc e^e'cGiiv ev TTpoGupoici
CK xe TTobujv ceiovxo köviv ijjOxöv xe TTpöcuuTTa.
xüuv b' eTTajueiipajuevuuv dcTTac)LioOc cpapiuaKoniuXTic
miGcuv dpEdiaevoc jliövov ou bucdpecxoc eeme '
fj larjv xoioi eac' dvGpuuTTOi irdvxec 6|uoioi, 70
CKeqjd|uevoi 0' fjbovxai, öx' dXXouc TTfJina Kix»;ici.
Gel Ydp eKacxoc ibeiv qpXoYÖc ouXo)Lievr|C Guov irup
beiXaiöv xe kokoupyov, öxav Gavaxövb' andYnTai.
Gei be eKacxoc ibeiv (peuYÖvxouv dGXiöxrixa,
oube xic evvoeei, öxi ttöxiliov öjaoTov ex' auxöc
f| evxaOGa buvaix' dv eTTiCTreiv f| Kai eireixa.
ou cuYYVuuxöv KOuqpovoeTv, dvGpuuTreiov be.
xöv be )aex' iiubncev Troi)nriv neTTVUjuevoc ecGXöc,
öc TTÖXeoic KÖciuoc TTperrev dvepöxnxi Kai fißr).
6c p' e'Yvuj ßiov r\b' dKpoa2o|uevujv ttöGov e'YVUi 80
Kai lueYttXoqppoveuuv dYiujv ßißXiuuv cttoc iibei
qpaivövxuuv fi)uTv dvbpuJv luöpov ribe vörnLia*
oüxuj bx] »Jbei Kai Ypd|U|uax' dpicxa ßeßrjXuuv.
oiixi (piXOu lae'^qpecGai, 6911, qpucic öcca bebuuKev
E. Oehley: 34e Versammlung des Vereins rheinischer schulmänner. 599
)nri ßXaßep' dvGpuurroic )arlTl^p opiarnuata 9u)ao0 •
öcc' dv }XY\Te vöoc ^i'-iie (ppevec icxuuiciv,
7TÖXX' öpjufi dÜKaipüc djuiixavoc i^vuce 6u|ao0.
ei ydp )ar) TToXuTrpaYUOcuvri beXea^' dvGpuuTTOuc,
Yvuicdv Kcv, (pdre )aoi, ibc ev cq)ici Tiavt' eÜKOC)Lia
ev KÖciuuj; npujTov 2r|To0civ d Kaivd boKrj cqpiv, 90
eixa Ttt XuciieXfi CTtoubrj Zürirouci TTOvouviec*
Km xeXoc ecGXd biuuKei dvrip Kai YiTvexai ecGXöc.
KOuqpovoeTv fißüuvTi eucppocuvr) dKoXouBei
Kivbuvouc KpuTTTOv, cujTnpiov, dX-feoc i'xvri
aÜTiK' drrocßevvuciv, eirnv ye Tdxicxa TrapeXGr).
Kai xoi erraivou dvrip ecx' dEioc, iL Ttpoiövxi
eK xfjc eüqppocuviic ciroubaToc vouc dvaßXdcxr],
ujcxe bi' eüxuxiac CTioubdZieiv bucxuxiac xe
ecGX' epTaZ;o|u£VUJ Kai dKeiojuevuj xd X^PH«-
aii|;a xapaxxojuevri becTioiva /aexeirre Trpocrivnc. lOO
vOv 9dG' öc' dbeT\ i-^ih ydp eeXbofiai f\hr] dKoOcai.
38.
BERICHT ÜBER DIE VIERUNDDREISZIGSTE VERSAMM-
LUNG DES VEREINS RHEINISCHER SCHULMÄNNER (1897).
Die 34e Versammlung rheinischer schulmänner fand zu Köln am
dienstag dem 20 april 1897 im Isabellensaale des Gürzenich statt;
110 teilnehmer zeichneten sich in die liste ein. die tagesordnung wies
folgende punkte auf:
1) nachruf auf geheimrat Johannes Stauder (director Matthias-
Düsseldorf),
2) das Problem des tragischen und seine behandlung in der schule
(professor Alfred Biese-Koblenz).
3) aus dem gebiete jenseits der Unterrichtsmethodik (professor
P. Meyer-M. Gladbach).
4) thesen über den Unterricht in deutscher grammatik (oberlehrer
dr. Cramer-Düsseldorf).
Der Vorsitzende, director dr. Matthias-Düsseldorf widmete zu-
nächst dem wirkl. geh. oberregierungsrat dr. Stauder einen nachruf.
mit diesem nachruf erfüllten wir nicht nur eine pflicht conventioneller
pietät, sondern folgten einem herzensbedürfnis. die letzten 21 jähre
habe St. zwar in Berlin gelebt, 46 jähre aber seines lebens gehörten
dem Rheinlande an; geboren in Rheinhessen, sei er 1857 nach Bonn,
1859 an das Marzellengymnasium in Köln gekommen, 1864 director iu
Emmerich, 1871 in Aachen am Kaiser-Karls-Gymnasium, 1874 provinzial-
schulrat in Koblenz geworden, dazwischen mitglied des abgeordneten-
hauses für einen rheinischen Wahlkreis gewesen, nur ein jähr sei er
in Koblenz gewesen; zunächst als hilfsarbeiter in das Unterrichts-
ministerium berufen, sei er 1875 zum geheimen- und vortragenden rat
ernannt worden und habe seit 1888 besonders die allgemeinen angelegen-
heiten nach dem abgang von Bonitz unter sich gehabt, seine kräfte habe
er der herstellung der neuen lehrpläne und Prüfungsordnung gewidmet;
600 E. Oehley: bericht über die 34e Versammlung
das alles sei genugsam bekannt, als lohn sei ihm die würde eines
wirklichen geheimen oberregierungsrates mit dem ränge eines rates
Ir classe zu teil geworden, am 1 januar d.j. sei ihm die directorstelle
in diesem ministerium übertragen worden, schon am 19n aber hätte
ihn der tod ereilt, eine gedächtnisrede im panegyrischen stil würde
unserer Versammlung und ihm, dem redner, schleclit anstehen, was
Stauder geschaffen in nie versagender, frischer, durchgreifender Willens-
kraft und glücklichem Organisationstalent, das wüsten wir alle, aber
eins habe man doch nicht immer genug anerkannt, dasz Stauder in
einer zeit gewirkt habe, in der jedes schaffen eher auf tadeln und
nörgeln als auf anerkennen habe rechnen müssen, habe er doch gerade
in einer zeit an einer stelle gestanden, wo von vielen seilen viele
wünsche in bezug auf die lehrpläne geäuszert worden seien, und er sei
in erster linie berufen gewesen, diese wünsche zusammenzufassen, wie er
das in der decemberconferenz 1890 gethan habe, und wiederum sei er
es gewesen, der die vielfachen wünsche in eine bestimmte form ein-
zukleiden hatte, mit einer Schnelligkeit, die geradezu unter hochdruck
gestanden habe. dasz nichtberufene männer nicht zu viel liinein-
gerufen hätten in die arbeit berufener männer, dasz das auch ein ver-
dienst von Stauder sei, das habe jede)' erfahren. — Und was nun die
Stellung zu seinen berufsgenossen beträfe, wem habe er es recht ge-
macht? anerkennung aus diesen kreisen sei ihm nicht viel zu teil
geworden, weder von humanistischer noch von realistischer seite; dasz
er das von luimanisten, zu denen er doch in erster linie gehörte, er-
fahren habe, sei ihm schwer gewesen; er habe diesem schmerze noch
in einem briefe aus Sasznitz ausdruck gegeben, er glaube Standers
verdienst am besten so einzuschätzen: verloren habe die alte schule
manches, gewonnen habe die neue schule vieles; dasz sie aber nicht
zu viel gewonnen, jene nicht zu viel verloren habe, sei Stauder zu
danken. und dann noch eins: Stauder habe sich allezeit unter uns
im Rheinland ganz besonders heimisch gefühlt, nicht nur weil hier
seine persönlichen beziehungen zahlieicher gewesen seien als anderswo,
sondern weil sein ganzes wesen den Rheinlanden gehörte, weil er west-
liche Ungezwungenheit liebte; ein offenes und ungezwungenes wort sei
ihm stets wert gewesen; nicht zu reglementieren, anzuordnen, sondern
zu überzeugen habe er sich bestrebt, besonders deshalb, weil er offenes
wesen anerkannte und schätzte, gerade bei uns habe er freudig und
frisch in die Verhandlungen eingegriffen, wenn er der Berliner Luft
einmal entronnen sei. treue um treue, liebe um liebe! — zu ehren des
verstorbenen erhebt sich die Versammlung von ihren sitzen.
Professor A. Biese- Koblenz: 'das problem des tragischen und
seine behandlung in der schule': die behaglichste aller Weltanschauungen
sei der humor. wir ständen heutigen tnges, wenn überhaupt unter
dem zeichen des humors, mehr unter dem zeichen des tiagischen, als
des naiven humors, von unruhe und hast getriei)en. und doch sei der
Schulmeister verloren, dem nicht humor beigegeben sei; die freudigkeit
eei die mutter aller pädagogischen fügend, wir sollten weltfreudigkeit
unter die Jugend säen, wir sollten das gefühl wecken und pflegen, die
hauptquellader der phantasie, den sinn für Schönheit in der gottesnatur
in das herz des schülers senken, wenn er für Goethesche Mailieder,
für Sophokleische tragödien Verständnis gewinnen solle, er frage nun:
was sei schön?' was erhaben? was tragisch? dieser begriff liesze
sich in Wahrheit schwer auf eine allgemein gültige formel bringen; es
sei ein mischbegriff; auch der grundsatz ex contrario sei hier an-
zuwenden, um den begriff zu erkennen, im tragischen begegneten wir
dem contrast zwischen der grösze des menschen und seinem geschick;
uns packe ein grauen inmitten des erhabenen Widerstreits des lebens
und der hoffnung; so grosz und doch so klein gegenüber den walten-
den mächten; das erhabenste menschliche wollen scheitere an dem
des Vereins rheinischer schulmänner. 601
unerforschlichen walten einer höheren macht, das sei das tragische
im menschlichen leben, dabei lasse es die frage nach dem warum?
sehr oft offen, warum stets das unendliche sieger sei? warum unter-
gang das Schicksal auf erden? am nächsten sei das tragische mit
dem erhabenen verwandt, aus niederdrückendem und erhebendem be-
stehend, die lust am erhabenen liege darin, dasz wir aufgiengen in
kraft- und machtgefühlen. alles tragische sei erhaben und das er-
habene werde tragisch durch den kämpf zwischen menschengrösze und
menschenohnraacht. noch näher als dem erhabenen scheine das tragische
dem rührenden verwandt, es sei ungemein traurig, wenn der söhn,
der ernührer, dahingerafft werde, wie könne nun aber das traurige
und schreckliche zum tragischen erhoben werden? — Durch den selbst-
thätigen kämpf. der kämpf sei das zweite wichtige moment im
tragischen, es sei tragisch, wenn der mensch am ende des kampfes,
auf dem punkte stehend die palme zu erhalten, erliege, wir könnten
uns nicht verhehlen, dasz das tragische auf dem gefühle des unmesz-
baren, des incommensurablen beruhe, man habe sich das Verständnis
der tragödie dadurch verschlossen, dasz man immer nach schuld suche ;
das sei kriminalpolizeilich, aber nicht ästhetisch, gewis empfänden
wir es als eine naturgemäsze Verkettung der dinge, wenn die schuld
gesühnt werde; aber der held in der tragödie büsze weit mehr die
schuld des allgemeinen, der menschheit als die schuld seines eignen
freventlichen wollens. wie komme es nun aber, dasz das tragische,
obwohl es irns niederschmettere, obwohl es uns klar Untergang und
tod vor äugen führe, doch noch genusz gewähre? das liege nicht nur
darin, dasz wir die grösze, den wagemut, die Charakterstärke des
beiden bewundern, auch nicht blosz in dem mitleid, sondern in etwas,
was die ästhetiker nicht genug würdigten: es sei die einfüguug, die
neigung, unser wesen zum masze der dinge zu machen, uns mit
ihm zu vertauschen, wir sprächen vom fusz des berges, vom rasenden
toben des feuers; ja der fühlende mensch vermöge das schauen vom
denken nicht zu unterscheiden, um wie viel mehr sollten wir uns
nicht bei menschen mit dem menschen verschmelzen! sei es nicht ein
gennsz zu spüren, wie das beste, was in uns schlummere, mit dem
beiden in uns erwache? aber wir litten auch mit ihm. wie könne das
aber ein genusz sein? es sei uns, wenn der held ende, als sei uns
selbst der dolch ins herz gestoszen. gewis auch das sei ein genusz,
der ^X€OC des Aristoteles, aber auszer ^\eoc und qpößoc wirke die
tragödie noch etwas anderes: die KdBapclc. indem wir mit dem beiden
litten, passten wir uns mit unserem innern ihm an; was wir erlitten
und in unserem innern aufgehäuft hätten, das bräche in uns hervor
und errege unser mitleid. so werde beim tragischen unser leiden frei
und ströme heraus und selbst die, die selbst viel erlitten hätten,
fühlten sich erleichtert, so sei KCtGapcic die lösung von affektspan-
nungen, die sich in der seele angesammelt hätten, bekanntlich erziehe
und stähle das leiden, und wir würden emporgehoben, so sehr wir
selbst gelitten hätten, erhaben wirke die reinigende kraft des todes,
insofern sie dem beiden erlösung bringe, seine grösze weise aufwärts,
es erhebe sich nun die frage, wie wir die Jugend zur empfänglichkeit
erziehen, das problem allmählich vorbereiten könnten, wir sollten
heranbilden zur demut, aber auch zur empfänglichkeit des schönen,
die auch wiederum zur andacht auffordere; pädagogisch sei das von
tiefgehender bedeutung. Herbart sage: nachfühlen müsse die kleine
sextanerseele, warm und herzlich nachempfinden, was sage, märchen,
geschichte darböten, die sonne der menschenleben müsse diese durch-
wärmen, auf dasz das menschliche in seinen edlen erscheinungen der
seele nicht fremd bleibe, tiefe trauer bilde nun einmal im leben den
Untergrund, und das sei nicht das letzte, was das tragische uns lehre,
wer in VI und V das deutsche (geschichte) unterrichte, der sehe, wie
N. jahi b. f. phil. u. päd. II. abt. 1897 hft. 12. 39
602 E. Oehley : bericht über die 34e Versammlung
das knabenherz mit erregt werde, aufatme tisw. bei den erzählungen
von Herkules, Jason, Hektor und Patroklos, Krösus, Polykrates. diese
zeigten bald die sühne der ü'ßpic, bald sei es eine Schicksals-, bald
eine Charaktertragödie, von alle dem werde auch in der geschichts-
stnnde der schüler durchschauert werden z. b. bei Columbus, Friedrich III
usw. die groszen gescliichtschreiber zeigten uns einzelne Schicksale
oder ganze epochen unter dem bilde der tragödie: so Caesars Ver-
nichtungskrieg gegen die Gallier, der peloponnesische krieg, der unter-
gang der athenischen flotte in Sicilien. in der dichtung vermöchten
epos und lyrik dieses gefiihl zu wecken: lib. IV der Äneis, das Nibe-
lungenlied, bei Rüdiger trete das tragische in der form des sitt-
lichsten conflicts am deutlichsten hervor: er müsse fallen; Kriemhilde
falle durch ihre liebe, auch die lyrik biete wichtige momente , so für
den sextaner 'blauveilchen' v. Forster, für den quartauer 'das glöck-
lein des glucks', 'das glück von Edenhall', 'Belsazar', 'der taucher'
zeigten , wie zu hohes streben den Untergang herbeiführe, durch die
besprechung dieser und ähnlicher gedichte werde die behandlung der
dramen in II und I vorbereitet, z. b. die der 'Jungfrau von Orleans',
des 'Götz von Berlichingen', des Max Piccolomini, der Iphigenie. wer
den Kreon der Antigone als gleichberechtigt gegenüberstelle, der ver-
kenne die ganze tragödie; und hätten wir den Ödipus unbewust freveln,
unbewust leiden gesehen, so erführe man das, was der chor am ende
sage. Ödipus Rex sei die tragische ironie, Ödipus auf Kolonos die er-
lösung. im Ajas beruhe das tragische auf dem contrast zwischen
menschengrösze und menschenohnmaclit. dasz es aber auch tragödien
ohne tod, dasz es tragische genies gebe, trete in Tasso entgegen. Tasso
leide, weil er ein zu reiches und zu weiches herz habe, und wer ein
herz habe, der leide mit ihm; am ende des Tasso glaubten wir an eine
errettung, auch in den echten tragödien, die mit dem tode schlössen,
richte uns der gedanke auf, dasz das echte, was in dem beiden sei,
nicht untergehe; es sei andacht vor dem ewigen, unerforschlichen; sie
lasse von dunklem gründe desto lichtvoller sich abheben die liebe; sie
führe zur Versöhnung der gegensätze, wie der Sonnenschein aus dunklen
wölken hervorbreche.
Director J äger-Köln: unsere discussion werde sich auf den zweiten
teil, die behandlung des problems in der schule, beschränken müssen,
denn auf den ersten teil einzugehen, werde wohl nur denen möglich
sein, die den gegenständ schon irgendwie selbst bearbeitet hätten,
wenn das thema laute: das problem des tragischen und seine behand-
lung in der schule, so hätte ihn das etwas betroffen gemacht, solle
das heiszen: will man allmählich oder soll man allmählich den begriff
des tragischen, über den die gelehrten noch nicht völlig einig seien,
herausarbeiten bei den schülern? das könne die aufgäbe nicht sein;
und der vortragende habe sehr schön ausgeführt, wie schon die er-
zählungen in VI und V auf die schüler unmittelbar tragisch wirken
könnten, er seinerseits habe, wie er zum ersten male in III sup. ver-
tretungsweise deutsch zu geben und 'herzog Ernst von Schwaben' zu
behandeln gehabt hätte, nachdem das stück gelesen worden, den
Schülern gesagt: hier tritt euch zum ersten mal ein wort entgegen,
wovon ihr später noch mehr hören werdet, das wort ^tragödie' 'tragisch',
dann habe er nach einfacher erklärung gesucht: tragisch sei, was zu-
gleich traurig und erhebend sei. weiter habe er die frage vorgelegt:
was ist in dem Schicksal des Ernst, des Werner, der kaiserin Gisela
usw. traurig, was erhebend? weiterhin habe er nur ganz gelegentlich
noch deutsch in den oberen classen unterrichtet und in seinen späteren
Jahren nie das vergnügen gehabt, mit den schülern z. b. Wallenstein
oder die fragmente des Demetrius lesen zu können, eins habe der
vortragende erwähnt, worauf wir die aufmerksamkeit richten müsten,
nämlich, dasz das problem des tragischen ganz besonders im geschieht-
des Vereins rheinischer schulmänner. 603
liehen Unterricht behandelt werden könne und hier besonders fruchtbar
sei. die beispiele seien nicht schwer zu greifen; er möchte nur darauf
hinweisen, wie beim erlöschen der freiheit der griechisclien Städte die
gestalt des Demosthenes auf der einen und die des Alexander auf der
andern seite tracjisch sind in verschiedener weise: wie Demosthenes
seine ganze kraft einsetzt für eine verlorene sache, wie auf der andern
Seite Alexander der lebensfaden abgeschnitten wird in dem augenblick,
wo er in voller entfaltung der ideen einer neuen zeit begrififen sei. der
zusammenstosz des Huss mit dem reform- conzil wirke dadurch so
ergreifend, dasz dabei zwei potenzen gegen einander ständen, die beide
dasselbe wollten, eine reform der kirclie; auf der einen seite der mann,
der nicht einmal wisse, dasz er über das, was von der kirche als not-
wendige Ordnung festgesetzt sei, hinausgehe, auf der andern die macht
der kirche im moment ihrer imposantesten entfaltung.
Professor Biese: er hätte darlegen wollen, wie die verschiedenen
gefühle der lust und der Unlust sieh allmählich vorbereiteten in der
brüst des schülers. selbstverständlich erfolge eine eingehende behand-
lung erst in I.
Director Golds eh eider-Mülheim a. Rh.: er habe in dem ersten
teile etwas vermiszt; die gröste Schwierigkeit in dem problem scheine
ihm noch immer nacli der seite des erhebenden zu liegen, das sei in
die begründung hineinzubringen, was wir nur immer beim tragischen
empfunden hätten und empfänden, darüber sei klarheit, nicht aber sei
Übereinstimmung da, wo wir es definieren sollten, noch immer scheine
ihm die erklärung von Schiller die beste zu sein: 'das Schicksal, welches
den menschen erhebt, wenn es den menschen zermalmt.' der vor-
tragende lehne ausdrücklich ab, dasz das tragische immer die harmonie
hervorheben wolle, dasz das harmonische zum ausdruck komme, er
möchte so sagen: für uns in der erziehung solle immer das tragische
hervorgehoben werden, das zugleich erhebend wirke, das weltganze
zeige uns dagegen nur etwas, was niederschmetternd wirke, in den
'gespenstern' von Ibsen werde wie fast überhaupt in den neueren
tragödien nur das zermalmende hervorgehoben, in der griechischen
litteratur sei in könig Ödipus für uns nur das zermalmende vorhanden,
auch bei der braut von Messina sei das im gründe der fall, bei dem
ersteren liege die sache anders für den Griechen als für uns; für
beide wohl erhebend, aber für uns nur, wenn wir uns in griechische
ansehauungen hineinversetzten, 'in ehren bleiben die orakel'; das sei
das, was bestehen bleibe: deshalb hätte Schiller unrecht gehabt, wenn
er in der braut von Messina griechisches empfinden von uns verlange.
Director E vers-Barmen : es sei 1) ein theoretischer, 2) ein prak-
tischer teil aufgestellt worden; er glaube, man könne den zweiten teil
nicht besprechen, wenn man den ersten nicht berühre, nach seiner an-
sieht habe director Goldscheider einen factor in der mensehengrösze
hervorheben wollen, gerade Schiller habe in seiner abhandlung über
das vergnügen an tragischen gegenständen das hervorgehoben, dasz wir,
wenn wir auch zermalmt würden, doch ein gefühl der freude empfänden,
und zwar über des menschen, des geistes tapfere gegenwelir. es gebe
eine grosze richtung, die das tragische nur in der zerraalmung finde,
die nur traurig, trübe wirke; dieser anschauung zu folgen sei unpäda-
gogisch ; er glaube wie der vortragende, dasz die drei punkte, contrast,
kämpf und ein gewisses sichbeugen unter das Schicksal in der that das
tragische gefühl hervorrufe, nun komme er auf einen punkt, in dem
er etwas abweiche, mit recht sei von dem vortragenden und director
Goldscheider gesagt worden, dasz wir uns auf die blosze Schablone von
schuld und sühne nicht einlassen könnten, wir hätten aber viele, die
die schuld überhaupt aus dem tragischen entfernen wollten; eine kleine
andeutung davon glaube er auch in dem vortrage bemerkt zu haben,
wir männer könnten uns völlig damit einverstanden erklären, aber ob
39*
604 E. Oehley: bericht über die 34e Versammlung
wir bei Schülern, junglingen, die so gern jede schuld von sich abwälzten
und sich gern in eine gewisse schultragik hineindächten und sich als
die unschuldigen fühlten, den punkt der individuellen schuld in ethi-
schem sinne bei seite lassen dürften, das frage sich doch sehr, er meine
gerade, das gehöre zum gefühl der harmonie. es müsse zum Pessimis-
mus führen, dasz ein menschenschicksal zertrümmert werde, ohne dasz
der mensch irgend welche schuld auf sich geladen habe, es bleibe
zwar immer noch der factor der menschengrösze, aber wo bleibe in
diesem falle der factor der sittlichen weltordnung? von einer bloszen
allgemeinen gattungsschuld im sinne Schopenhauers zu sprechen, halte
er für unpädagogisch.
Hierauf erwidert prof. Biese: der gang seines Vortrags sei folgen-
der gewesen: er habe 1) vom contrast zwischen menschengrösze und
menschenohnmacht gesprochen; 2) vom kämpf des menschen gegen
gewalt im leben, gegen das Schicksal; 3) von schuld und sühne, die
schuld sei durchaus nicht zu verneinen; es würden vielmehr überall
schlacken gefunden, die den menschen immer wieder hinabzögen und
in schuld verstrickten, nur dagegen habe er sich gewandt, dasz die
schuld so sehr hervorgehoben werde, was das von director Gold-
scheider gesagte betrefife , so habe er an verschiedenen stellen das er-
hebende nach seiner ansieht genug hervorgehoben.
Prof. Feller-Duisburg: er habe sich sehr gefreut, dasz Biese die
Aristotelischen principien so hervorgehoben habe; er habe sich jedoch
in den letzten jähren mit Shakespeare beschäftigt und da seien ihm
manche zweifei gekommen z. b. bei der frage, wie sich Hamlet zu den
von Biese aufgestellten principien verhalte; anders sei es schon bei
König Lear. Tenbrinks hübsches büchlein und Kuno Fischers aus-
führungen könnten ihn auch nicht ganz befriedigen, der erste sage,
wenn der mensch am ende sei, dann stiegen die himmlischen sterne auf,
der zweite, Hamlet sei eine hervorragende natur in der tragödie.
Provincialschulrat dr. Buschmann: wir seien nun doch wieder
auf den ersten teil der frage und zum teil auf weitere probleme ge-
kommen, er glaube, dasz wir doch nicht genauer darauf eingehen
könnten, wir dürften Biese dankbar sein, dasz er auf das Verhält-
nis von schuld und sühne eingegangen sei. bei Schülern träfen wir
oft darauf, dasz sie genau nach dem Verhältnis von schuld und sühne
suchten und meinten, diese müsten durchaus in einem gleichmäszigen
Verhältnis stehen, das sei verkehrt; beide brauchten sieh gar nicht so
genau zu entsprechen, jedenfalls werde da das gefühl des tragischen
immer fremd bleiben, wo wir uns sagten, der held habe sein Schicksal
verdient, er sei gar nicht der ansieht, dasz der schüler das gegenteil
suchen solle; es sei ihm sehr angenehm gewesen zu hören, dasz Biese,
um dem suchen der schüler nach einem gleichmäszigen Verhältnis von
schuld und sühne entgegenzutreten, schon von früh an den begriflf des
tragischen kennen lernen lasse.
Prof. Wehrmann-Kreuznach: gerade diesem einen gedanken, dasz
wir in unserm Unterricht, indem wir auf das tragische eingehen, die
schüler zur andacht, zum schönen anregen, stimme er sehr bei. auf
zwei punkte möchte er noch hinweisen, die, wie er glaube, einen Wider-
spruch enthielten, zuerst habe der vortragende gesagt, dasz die schuld
in dem drama nicht so angefaszt werden dürfe, dasz man criminal-
polizeilich nach ihr suche , nachher habe derselbe bei einer reihe von
tragödien die schuld hingestellt als das, was den beiden zum beiden
mache, das tragische finde sich bei dem ringen eines ganzen volkes:
1806 — 1813, bei dem ringen des griechischen volkes; in der französi-
schen revolution; aucli in der neusprachlichen litteratur gebe es eine
menge von tragischen problemen, bei Voltaire, im Cid, bei Shakespeare
usw., die ja zum teil berührt wären.
des Vereins rheinisclier schulmänner. 605
Prof. Biese: im ersten teil habe er sich allgemeiner ausgesprochen
und manches in dem zweiten speciellen teil vorgebracht, er habe ein-
geteilt in 1) tragödien mit schuld, 2) conflictstragödien (entweder —
oder) , 3) charaktertragödien.
Director Matthias: ihm -wäre es lieb gewesen, wenn Biese noch
einen kräftigen vorstosz gegen die schuld gemacht hätte; das würde
jetzt zu weit führen, wenn der satz 'das gute wird belohnt, das böse
wird bestraft' richtig wäre, dann gäbe es ja keine poesie mehr im leben.
Director Evers verteidigt mit einigen worten den satz 'der übel
gröstes ist die schuld'; durch keine einzige tragödie könne bewiesen
werden, dasz das böse belohnt und das gute bestraft werde.
An stelle der ausscheidenden mitglieder des ausschusses: director
Matthias, director Petry, pro f. P. Meyer werden gewählt: director
Kiesel, director Scheibe, prof. Prenzel.
Nach einer halbstündigen pause ergreift das wort prof. P. Meyer-
M. -Gladbach zu einem vortrage 'aus dem gebiete jenseits der unter-
richtsmethodik'.
Wohin wir immer bei unserer unterrichtlichen thätigkeit den schritt
lenkten, sei es bei der arbeit für den sextaner, sei es für den primaner,
immer dränge sich uns eine dame auf, methode genannt, welche die
ganze weit unter ihr unbequemes joch gebeugt habe, sie sei so rollen-
süchtig, dasz sie schlechterdings alles selber spielen wolle, berauscht
von diesem beifall, wage sich die künstlerin an alle Sachen, alles zu
ihren anhängern oder doch tributpflichtig machend, aber unbegrenzt
grosz sei das gebiet doch nicht, möge man sich dasselbe mehr äuszer-
lich oder mehr innerlich liegend denken.
Es gebe in der that gebiete jenseits der von der methode eroberten
grenzen, gebiete, zu denen sie überhaupt noch nicht vorgedrungen sei,
und gebiete, in welche sie nur schlecht oder überhaupt nicht vordringen
könne, davon möchte er einen punkt betrachten, wo wir einträten in
gewisse formalstufen.
Was die erste formalstufe betreffe, so habe auf ihr der alte Sokrates
genau gehandelt wie Herbart; es bleibe ein verdienst der Herbartianer,
eine genaue folgerung gefordert zu haben, es erhebe sich aber eine
frage: was wollen wir vorbereiten? etwas neues? etwa alles neue?
doch nein; z. b. bei eques nicht ritter. also würden wir sagen: vor-
bereitet wird alles neue, insofern es für erreichung des notwendigen
Zweckes nötig ist. allein auch gegen die so eingeschränkte forderung
erhöben sich bedenken, ihm sei es einmal vorgekommen, auf dem lande,
dasz die quinta kein schiff noch kahn gesehen habe; es komme vor,
dasz im flachlaMde viele Schüler keinen berg gesehen hätten, wie solle
man da die Alpen durchnehmen? oder in der naturgeschichte den ele-
phanten? wie wolle man im geschichtsunterricht den begriff öcxpaKiCfiöc
vorbereiten? in vielen fällen sei eine Vorbereitung unmöglich: dann
müsse einfach mit dem Stoff angefangen werden, nähmen wir deutsche
lesestücke, er schlage ein weitverbreitetes lesebuch auf, darin die
'Wichtelmännchen'; 'so giengs immer fort; was er abends zuschnitt
usw., also dasz er bald ein ehrliches auskommen hatte.' was fange
man mit dem ehrlich an? den begriff kennten die schüler aus dem
religionsunterricht. aber damit könne man nichts anfangen, solle man
den handwerker schildern als einen, der weiter komme, und den nenne
man ehrlich; davon verständen die schüler nichts, also habe er es
nur für sich erklärt; deshalb solle man den begriff streichen? aber
1) könnte man sich dann am streichen halten und 2) wann solle man
mit dem erklären beginnen? daraus folge, dasz die ganzen lehrbücher
umgeändert würden, und zwar in solche, die neue apperceptionsstützen
für jeden schüler schüfen, bei den Unterrichtsmitteln, die wir hätten,
müsten wir uns mit der thatsache befreunden, dasz wir manche dinge
unvorbereitet darböten und manches ohne Zusammenhang lieszen. Ziller
606 E. Oehley: bericM über die 34e Versammlung
habe ein märchen 'die Stern thaler' an die spitze gestellt, wo der satz
vorkäme 'und weil es so von aller weit verlassen war, gieng es auf
das feld'. in dem märchen vom Similiberg heisze es 'nun brauchte er
nicht mehr zu sorgen, lebte redlich und that jedem gutes', dieses
redlich müsse erklärt werden, wenn der Verfasser sich etwas dabei
gedacht habe, was hülfe aber solche Weisheit? also lasse man es ganz
bei seite; aber es stehe immer noch da.
Es ergebe sich die notwendigkeit, dasz wir manchmal die apper-
ceptionsstützen auszer acht lassen. Stückwerk bleibe auch des lehrers
kunst überall, nun halte er diese thatsache für gar kein Unglück, son-
dern für ein glück; er würde jedes lesebuch, wo alles von krücke zu
krücke geführt werde, sofort bei seite legen 1) weil es naturwidrig sei,
2) weil es schlecht mache, was die natur von selbst gut gemacht, 3) weil
der arbeitszwec'k damit nicht erreicht werde. 1) naturwidrig, weil die
natur abwechselung verlange; dieselbe speise stets genossen würde den
magen verstimmen, 2) schlecht mache es, was die natur gut mache, weil
man in den naturprocess eingriffe; man hemme den natürlichen process
auf der einen seite, um ihn auf der andern seite zu beschleunigen; er-
reiche man mit dem eingreifen etwas, dann gut; in vielen fällen aber
könne man das gar nicht wissen. 3) werde der arbeitszweck damit
nicht erreicht, denn alle Verknüpfungen könne man gar nicht regeln,
dazu müste man mit dem Schüler in eins verschmelzen; nun habe man
aber 20 — 60 schüler, ferner höchstens 28 stunden die woche, während
man die ganze übrige zeit nicht mit dem schüler zusammen sei; also
könne von einer Verschmelzung nicht die rede sein.
Mit dem, was H. J. Müller in dem letzten heft für gymnasial-
wesen sage, könne er sich nicht einverstanden erklären, einen kleinen
teil der Vorstellungen zu betrachten hätten die psychophysiker ver-
sucht, aber so thöricht sei keiner gewesen, Vorstellungen nach den
gesetzen der mechanik hervorrufen und leiten zu wollen; von einer
leitung könne ^ar nicht die rede sein, das ganze getriebe lenken zu
wollen, würden wir uns nicht vermessen; wir würden nur da eintreten,
wo unsere thätigkeit wesentlich gehemmt werde, wir könnten die
Physiologie der naturerzeugnisse noch so genau kennen gelernt haben,
würden wir wohl unser mittagessen danach einrichten? so würden wir
uns wohl hüten, alles und jedes nach der Zauberformel der Herbartianer
zu richten, so knüpfe sich in den obengenannten Sternthalern das
'verlassen von aller weit' sehr oft von selbst an; aus seiner kindheit
erinnere er, redner, sich einer menge von ausdrücken, die hätten ge-
stützt werden müssen, die aber niemand stützte, er sei danach der
ansieht, dasz wir uns um ^ f, der Vorstellungen weiter keine sorgen
machten und diese ohne weiteres der natur überlieszen. der vorteil
könnte gering erscheinen, aber das sei nicht wahr, wenn dem so sei,
dasz der junge köpf eine regel mehr oder weniger unverständlicher
Worte aufnehmen müsse, wenn durch das einfache zuführen von Vor-
stellungen sich ein reiches wissen entwickele, dann müsten wir geradezu
wünschen, dasz dem knaben auch auszerhalb unserer kreise Vorstellungen
zugeführt würden, von denen wir nichts wüsten, wenn wir das be-
dächten, dann würden wir viel zufriedener mit unsern lehrbüchern sein.
Bei beginn seiner lehrthätigkeit wäre er mit allen lehrbüchern unzu-
frieden gewesen; er hätte demgemäsz im coUegium herumschwadroniert,
und es wäre zu bedauern gewesen, dasz ihm keiner auf seinen grünen
oder gelben Schnabel geklopft hätte, nun werde aber sehr oft der fall
eintreten, dasz das lelirbuch klüger sei als wir selbst; deshalb möchte
er den jüngeren collegen ein wort Jägers variierend empfehlen: schimpfe
über dein lehrbuch, so viel als zur erhaltung deiner gesundheit nötig
ist, aber gebrauche es gewissenhaft.
Damit seien wir auf die zweite praktisch verwertbare seite ge-
kommen: der natürlichen apperception müsse mehr Spielraum gewährt
des Vereins rheinischer schulmäuner. 607
werden, die skelettgrammatik, möge sie noch so gut gemacht sein,
tauge nichts, er wisse, der lehrer solle das fleisch dazu liefern; aber
wir hätten nicht die zeit, alles das zu geben, was zur selbständigen
bildung der Vorstellungen nötig sei. der schüler müsse ein buch hahen,
mit welchem er sich zu hause selbständig die arbeit leisten könne,
wenn einzelne Vorstellungen und vorstellungsreihen den Schülern ge-
bracht werden müsten, ohne dasz wir sie alle stützten, wenn man über-
gehe zu begriffen, die unter einander verbunden seien, so führe ihn das
zu einem dritten punkt: zu den philosophischen oder allgemeinen auf-
gaben auf den oberclassen. wenn begriffe wie ehre, rühm, pflicht, glück
in gröszerem oder geringerem umfange vorher anticipiert seien, weshalb
solle man da nicht eine definition hineinwerfen und einmal eine ent-
sprechende aufgäbe ohne Vorbereitung stellen, eine solche arbeit koste
allerdings das vierfache von sonstigen arbeiten auszer der arbeit in der
schule, aber er halte eine solche arbeit für unbedingt nötig.
Der Vorsitzende spricht dem vortragenden seinen dank aus be-
sonders deshalb, weil er als schönste apperceptionsstütze den humor ge-
geben hätte.
Director Jäger: blosz deswegen, weil niemand sonst anfassen
wolle, füge er sich in eine rolle, die er oft habe übernehmen müssen,
zunächst überhaupt etwas zu sagen, andere möchten dann gescheidteres
sagen, er freue sich ungemein, dasz endlich jemand sich gefunden
habe, der dem überkünstlichen wesen frisch und fröhlich in den hart
greife, die gedanken, die prof. Meyer vorgetragen habe, hätten wohl
manche von uns auch gehabt; man habe nur nicht den mut gefunden,
sich das selbst oder andern zu gestehen, und deswegen sei es sehr er-
freulich, dasz das einmal ausgesprochen sei: nämlich der hauptgedanke,
dasz sehr vieles in den köpfen unserer schüler sich von selber zu
machen erlaube, pädagogisch und didaktisch sei das sehr fruchtbar;
man müsse nicht alles machen wollen auf der weit, sondern zusehen,
wie viel sich von selber mache, und dem verständig nachgehen.
Director Matthias: er möchte an die worte anknüpfen und sie
auf ein anderes gebiet übertragen, wii-, die wir so glücklich oder unglück-
lich seien, ein seminar zu besitzen, sollten nicht zu viel eignes material
hineintragen in köpfe, die doch schon zum teil für sich gebaut haben,
wir dürften nicht zu viel gleich im anfang verlangen, vor allen dingen
sei zu sehen auf den guten willen und die liebe zur sache. auch
glaube er, man könne mit einem gut eingerichteten probejahr gerade
so weit kommen wie bisher mit zwei jähren.
Der letzte punkt der tagesordnung ist, weil die zeit erschöpft war,
nicht mehr zur Verhandlung gekommen.
Ein gemeinsames mahl und am abend noch eine Vereinigung im
Reichshof ergänzte die anregende Versammlung.
Köln. E- Oehley.
INHALTSVERZEICHNIS.
Admet und Alkestis und der arme Heinrich. {Plaumann.) s. 205.
293. 337.
Arithmetik und algebra, einrichtuug eines hilfsbuches für sechsclassige
höhere lehranstalten. {Sievers.) s. 443.
Bielschowsky s. Schiller und Falentifi.
Bohemus s. Horazübersetzungen.
Brettschneider s. gesehichte.
Buschmann 8. deutscher Unterricht von Biese.
Degenhardt, Georg, praktische geometrie auf dem gymnasium. {Otto
Richter.) s. 158.
Deutscher Unterricht. J. Buschmann, Leasings Hamb. dramaturgie.
A. Bielschowsky, Goethe. M. Meyer, Goethe. {Alfried Biese.) s. 245.
Deutscher Unterricht, hilfsbücher. 1. O. Weise, unsere muttersprache.
2. F. Kaufmami, kurzgefaszte laut- und Formenlehre. 3. H. Paul,
deutsches Wörterbuch. {Paul Vogel.) s. 143.
Deutscher Unterricht im realgymnasium , entwurf eines lehrplans.
{Le Mang.) s. 44.
Deutsche zusammengesetzte Wörter, ihre betonung. {Schuller.) s. 581.
Endemann s. gesehichte.
Erdenberger, das avancement der akademisch gebildeten Justizbeamten
und lehrer im sächsischen Staatsdienste 1886 — 1896. {Richard
Richter.) s. 254.
Französisch, zur weiterführung des französischen in den mittelclassen
des gymnasiums mit Frankfurter lehrplan. {Julius Ziehen.) s. 100.
Französisch, die lehre vom gebrauch der Zeitformen, besonders im
französischen. {Humbert.) s. 222. 351. 516.
Geschichte, zum unterrichte in der neueren und neuesten gesehichte.
1. Brettschneider, zum unterrichte in der gesehichte, vorzugsweise
in den oberen classen höherer lehranstalten. — 2. Martens, lehr-
buch der gesehichte. III. teil. — 3. Moldenhauer, hilfsbuch für den
geschichtsunterricht in der untersecunda. — 4. Endemann, Staats-
lehre und Volkswirtschaft auf höheren schulen. — 5. Stutzer, die
soziale frage der neuesten zeit in oberprima. {Sorgenfrey.) s. 49.
Goethii Arminius et Dorothea graece. {Draheim.) s. 597.
Griechisches neues testament, die benutzung im unterrichte. {Theodor
Vogel.) s, 313.
luhaltsverzeichnis. 609
Hahn, AVerner, geschichte der poetischen litteratur der Deutschen.
13e aufläge, herausgegeben von Gotthold Kreyenherg. {Fauth.) s. 592.
Heinichen s. Wagener.
Hermann, Gottfried, ein gutachten Gottfried Hermanns. {Fiebiger.) s. 257.
Heitner, Alfred, Spamers groszer handatlas. (Diesiel.) s. 159.
Homerische kleinigkeiten aus der Schulpraxis. {Rosenberg.) s. 138.
Horazübersetzungen, zur geschichte der deutschen Horazübersetzungen
(vgl. Jahrg. 1896). IH. die Dresdener Übersetzung der vier oden-
bücher von Bohemus. IV. die moralia Horatiana des Philipp
V. Zesen. V. die pädagogischen Übertragungen in prosa. {Schwabe.)
s. 387. 569.
Kaufmann s. deutscher Unterricht, hilfsbücher.
Kautztnann, Pfaff und Schrnidt, lateinisches lese- und Übungsbuch für
sexta. {Becher.) s. 104.
Kautzmann, Pfaff und Schmidt, lateinisches lese- und Übungsbuch für
tertia. (Pötzuch.) s. 584.
Kohl, O., griechischer Unterricht. {Richard Richter.) s. 408. *
Kreyenherg s. Hahn.
Lateinisch, zur lateinischen formenlehre. {Fasterding.) s. 37.
Lateinisch, über einige punkte der lateinischen grammatik. {Otto
Schulze.) s. 87.
Lateinisch, über Wechselbeziehungen zwischen dem lateinischen und
dem deutschen in der sexta und quinta des gymnasiums. (Cornelius.)
s. 423. 474.
JMLartens s. geschichte.
Merkes, P., beitrage zur lehre vom gebrauch des infinitivus im neu-
hochdeutschen. {Paul Vogel.) s. 593.
Meyer s. deutscher Unterricht.
Moldenhauer s. geschichte.
Pädagogische kleinigkeiten. 1. die namen der Wochentage. 2. die
reihenfolge der declinationen. {Cunze.) s. 548. 578.
Paul s. deutscher Unterricht, hilfsbücher.
Pfaff s. Kautzmann.
(Juintilian als didaktiker und sein einflusz auf die didaktisch- päda-
gogische theorie des humanismus. {Messer.) s. 161. 273. 321. 364.
409. 457.
Scheffler, Wilhelm, wähl- und waffensprüche deutscher Studenten.
{Diestel.) s. 595.
Schiller und Valentin, deutsche Schulausgaben: 1. Ziehen, die dichtung
der befreiungskriege. — 2. Valentin, die braut von Messina. —
3. Ziehen, Homers Odyssee von Voss. — 4. Valentin, Hermann und
Dorothea. — 5. Schlee, Luthers deutsche Schriften. {Landmanri.)
s. 150.
6i0 Inhaltsverzeichnis.
Schillers Wallenstein. 1. Buttler. 2. Schillers Wallenstein und Shake-
speare. 3. der bau des Wallenstein. (Zernial) s. 532. 553.
Schlee s. Schiller und Valentin.
Schmidt s. Kautzmann,
Schnell, G., die volkstümlichen Übungen des deutschen turnens. {Vollert.)
s. 311.
Schülke , A. , vierstellige logarithmentafeln. {Otto Richter.) s. 160.
Spamer s. Hettner.
Stutzer s. geschichte.
Tropsch, Stephan, Flemings Verhältnis zur römischen dichtnng. {Paul
Vogel.) s. 454.
V(tlentin s. Schiller und Valentin.
Versammlung, bericht über die 34e Versammlung des Vereins rheinischer
Schulmänner. {Oehley.) s. 599.
Vives in seiner pädagogik. {Kuypers.) s. 1. 65. 113, 1
Wagener, lateinisch-deutsches Schulwörterbuch von Heinichen. 6e aufläge.
{Fügner.) s. 358.
Waldeck , Aug., lateinische schulgrammatik. {Primer.) s. 62.
Weise s. deutscher Unterricht, hilfsbücher.
Witte, E., das ideal des bewegungsspiels und seine Verwirklichung.
{Dunker.) s. 110.
Ziehen s. Schiller und Valentin.
VERZEICHNIS
DER AN DIESEM BANDE BETEILIGTEN MITARBEITER.
Becher, dr. , in Leipzig, s. 104.
Biese, dr. , professor am gymnasium in Coblenz. s. 245.
Cornelius, dr., Oberlehrer am gymnasium in Saarbrücken, s. 423. 474.
CuNZE , Oberlehrer am neuen gymnasium in Braunschweig, s. 548. 578.
Draheim, dr. , professor in Friedenau. s. 587.
DiESTEL, dr., professor in Dresden, s. 159. 595.
Dunker, Oberlehrer am gymnasium in Hadersleben, s. 110.
Fasterding, reallehrer in VVesterburg i. Westerwald. s. 37.
Fäuth, dr., professor am gymnasium in Höxter W. s. 592.
Fiebiger, dr., bibliothekar in Dresden, s. 257.
FüGNER, dr. , Oberlehrer am Kaiser -Wilhelmsgymnasium in Hannover.
s. 358.
Humbert, dr., professor am gymnasium in Bielefeld, s. 222. 851. 515.
KuYFERs, dr., in Kiel. s. 1. 65. 113,
Landmann, dr,, professor in Darmstadt, s, 150.
Le Mang, dr. , Oberlehrer an der Annenschule (realgymn.) in Dresden.
s. 44,
Messer, dr. , lehrer am gymnasium in Gieszen. s. 161. 273. 321. 364.
409. 457.
Oehley, dr. , in Cöln a. Rh. s. 599.
Plaumann, professor am königlichen gymnasium in Danzig. s. 205.
293. 337.
PöTzscH, dr. , professor am realgymnasium in Döbeln., s. 584,
Primeu, dr., professor am Kaiser- Friedrichsgymnasium in Frankfurt a. M.
s. 62.
(312 Verzeichnis der mitarbeiter.
Richter, Otto, dr., Oberlehrer am königlichen gymnasium in Leipzig.
s. 158. 160.
Richter, Richard, dr., rector des königlichen gymnasiums in Leipzig.
s. 254. 408.
Rosenberg, dr., prorector am gymnasium in Hirschberg i. Schi, s, 138.
ScHüLLER, dr., Oberlehrer am lehrerseminar in Plauen i. V. s. 581.
Schulze, Otto, dr. , Oberlehrer am realgymnasium in Gera. s. 87.
Schwabe, dr. ,• Oberlehrer an der fürstenschule St. Afra in Meiszen.
s. 387. 569.
Sievers, Oberlehrer an der realschule in Frankenberg i. S. s. 443.
Sorgenfret, dr. , professor am gymnasium in Neuhaldensleben. s. 49.
Vogel, Paul, dr., professor am gymnasium in Schneeberg i. S. s. 143.
454. 593.
Vogel, Theodor, dr., geheimer schulrat in Dresden, s. 313.
VoLLERT, Oberlehrer am gymnasium in Schleiz. s. 311.
Zernial, dr., professor am Humboldtsgymnasium in Berlin, s. 532. 553.
ZiRHEN, dr,, Oberlehrer am Goethegymnasium in Frankfurt a. M. s. 100.
3432 4
BINDING SECT. AUG 6 197T
PA Neue Jahrbücher für Philologie
3 und Paedagogik
N65
Bd. 156
PLEASE DO NOT REMOVE
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UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY