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Full text of "Neue Jahrbücher für Philologie und Paedagogik"

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iii 


NEUE  JAHRBÜCHER 


FÜR 


PHILOLOGIE  TOD  PAEDAGOGIK. 


GEGENWARTIG  HERAUSGEGEBEN 


ALFRED  FLECKEISEN  und  RICHARD  RICHTER 

PROFESSOR    IN    DRESDEN  RECTOR  UKD  PROFESSOR  IN  LEIPZIG 

SIEBENUNDSECHZIGSTER    JAHRGANG. 
EINHUNDERTUNDSECHSUNDFUNFZIGSTER    BAND. 


LEIPZIG 

DRUCK  UND  VERLAG  VON  B.  G.  TEUBNER. 
1897. 


JAHRBÜCHER 


FÜR 


PHILOLOGIE  um  PAEDAGOGIK, . 


ZWEITE  ABTEILUNG. 


HERAUSGEGEBEN 

VON 

RICHARD    RICHTER. 

U. 

DREIUNDVIERZIGSTER  JAHRGAN&:4&S?  4  % 

ODER  V<,    \     ?S^^-^.'*y 

DER    JAHNSCHEN    JAHRBÜCHER    FÜR    PHILOLOGIE    UND    P'i«;:'^^&OC«^ 
EINHUNDERTUNDSECHSUNDFUNFZIGSTER    BAND. 


LEIPZIG 

DRUCK  UND  VERLAG  VON  B.  G.  TEUBNER. 


o 


ZWEITE  ABTEILUNG 

FÜR  GYMNASIALPÄDAGOGIK  UND  DIE  ÜBRIGEN 

LEHEFÄCHEE 

MIT    äUSSCHLOSZ    der    CLASSISCHEN    PHILOLOGIE 

HERAUSGEGEBEN  VON  PROF.  DR.  RiCHARD  RiCHTER. 


1. 

VIVES  IN  SEINER  PÄDAGOGIK. 

eine  quellenmäszige  und  systematische  darstellung. 


Vorwort. 

Jobannes  Ludovicus  Vives,  wohl  der  bedeutendste  pädagogische 
scbriftst'eller  des  secbzehnten  jabrbunderts,  ist  doch  zunächst  nicbt 
erziebungstbeoretiker.  auch  ti'ägt  er  seine  pädagogischen  anscbau- 
ungen  nicbt  in  der  form  eines  klar  aufgebauten  Systems  vor.  sie 
sind  vielmehr  meistens  sporadisch  ausgesprochen  in  Unterordnung 
unter  einen  andern  zweck. 

Vor  allem  ist  es  die  kritik  der  scholastischen  behandlungsweise 
der  Wissenschaften  und  im  anschlusse  an  sie  die  encyclopädiscbe  neu- 
gestaltung  der  Wissenschaften,  welche  ihm  eine  fülle  von  ansichten 
specifisch  pädagogischen  Charakters  in  die  feder  dictiert;  oder  es 
veranlaszt  ihn  das  streben,  das  lateinische  zum  modernen  sprach- 
umfange zu  erweitern  und  es  so  zur  lebenden  Weltsprache  zu  machen, 
zu  pädagogischen  erörterungen;  oder  endlich  finden  sich  solche  in 
seinen  allgemeinen  regeln  für  die  rechte  lebensführung.  da  seine 
Schriften  zudem  reich  an  excursen  sind  und  die  absieht  des  Verfassers 
durchblicken  lassen,  interessant  zu  schreiben,  nicht  selten  auch  mit 
seiner  belesenheit  zu  glänzen,  so  fehlt  ihnen  oft  die  streng  methodische 
darstellung,  wie  dies  bei  einem  humanisten  erklärlich  ist. 

So  sind  die  pädagogischen  goldkörner  eingebettet  in  eine  menge 
von  kritischen,  philosophischen,  historischen,  litterarischen  und 
moralischen  betrachtungen.  dennoch  bleibt  unser  Spanier  in  seinen 
pädagogischen  anschauungen  durchgängig  consequent  während  der 
zwanzig  jähre,  welche  seine  schritten,  soweit  sie  hier  in  betracht 
kommen,  auseinander  liegen,    in  seinem  köpfe,  so  wird  man  im  all- 

N.  Jahrb.  f.  phil.  u.  päd.  II.  abt.  1897  hft.  1.  1 


2  F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik. 

gemeinen  sagen  dürfen ,  bestand  ein  geschlossenes  pädagogisches 
System ,  aus  seinen  schriften  ist  es  erst  hervorzusuchen  und  zu- 
sammenzustellen. 

Diese  aufgäbe  versucht  die  vorliegende  abhandlung  auf  grund 
des  Studiums  der  quellen  zu  lösen,  sie  soll  darum  nicht  als  ein  ein- 
faches excerpt  aus  den  schriften  Vives'  angesehen  werden. 

Da  sie  eine  grundlage  bieten  will  für  die  weiteren  Unter- 
suchungen über  Vives'  einflusz  auf  die  späteren  pädagogen  ,  welche 
frage,  wie  es  scheint,  nicht  immer  tendenzlos  beantwortet  worden 
ist,  so  leitete  den  Verfasser  die  absieht,  Vives  selbst  möglichst 
oft  zu  worte  kommen  zu  lassen,  das  ist  in  den  zahlreichen  als 
fusznoten  vermerkten  citaten  aus  seinen  schriften  geschehen, 
zur  rechten  Würdigung  unseres  pädagogen  ist  es  un- 
erläszlich,  diese  zu  berücksichtigen,  der  deutsche  text 
versucht  nur,  den  Zusammenhang  herzustellen,  manches,  was  in 
seitenlangen  erörterungen  entwickelt  ist,  kurz  zu  charakterisieren 
und  so  in  umrissen  das  system  der  Vivianischen  pädagogik  anzu- 
deuten. 

Dabei  hat  der  Verfasser  sich  soigsam  gehütet,  zu  gunsten  eines 
abgeschlosseneren  Systems  eigne  gedanken  zu  interpolieren  oder  ent- 
wickelt darzustellen,  was  nur  keimartig  und  andeutungsweise  in  den 
quellen  liegt. 

Diese  erwägungen  werden  die  knappheit  der  form  rechtfertigen, 
was  den  Inhalt  betrifft,  so  ist  eine  darstellung  von  Vives'  an  sichten 
über  frauenbildung  nicht  in  diese  arbeit  aufgenommen, 
alte  und  selbstverständliche  forderungen,  deren  es  ja  gerade  in  der 
pädagogik  so  viele  gibt,  sind  im  Interesse  der  originellen  und 
charakteristischen  kurz  abgethan ,  wobei  beachtet  worden  ist,  dasz 
zu  Vives'  Zeiten  nicht  alles  selbstverständlich  war,  was  es  heute  zu 
sein  scheint. 

Es  muste  der  kürze  wegen  abstand  genommen  werden  von 
einer  genaueren  darstellung  der  historischen  und  litterarischen  zu- 
stände jener  zeit  sowie  der  bis  dahin  fortgeschrittenen  entwicklung 
der  einzelnen  pädagogischen  disciplinen.  über  diese  fragen  orien- 
tiert die  angegebene  littei'atur. 

Erklärung    der    bei   der   quellenangabe    benutzten   ab- 
kür  Zungen. 

an.  et  v.  =  de  animn  et  vita. 

(■aus.  corr,  =  de  causis  corruptarurn  artium. 

ex.  1.  lat.  =  exercitatio  linguae  latinae. 

fem.  Christ.  =  iiistitutio  feminae  christianae. 

intr,  sap.  =  introdnctio  ad  sapientiam. 

mor.  erud.  =  de  vita  et  moribus  eruditi. 

oflF.  mar.  =  de  officio  mariti. 

psend-dial.  =  in  pseudo-dialecticos. 

rat.  die.  =  de  ratione  dicendi. 

sapiens  =  sapiens  seu  inquisitio  sapientis. 


F.  Kiiypers :  Vives  in  seiner  pädagogik.  3 

sat.  an.  =  satellitium  animi  seu  symbola. 

stufl.  puer.  =  de  ratione  stiidii  pnerilis. 

trad.  disc,  =  de  tradendis  disciplinis. 

ver.  fid.  =  de  veritate  lidei  christianae. 
Die   vor  der  klammer  stehenden  zififern  bezeichnen  buch  und  capitel, 
die    in    derselben    stehenden     band    und    seile    der    prachtausgabe    von 
Majansius.    charakteristische  oder  bedeutsame  citate  sind  mit  •  versehen. 

Quellen  und  Vorgänger. 

Dieser  arbeit  sind  zu  g^runde  gelegt:  loannis  Ludovici  Vivis 
opera  omnia  ed.  a  Gregorio  Majansio.  tom.  I— VIII  folio. 
Valentiae  1782  — 1790.'  —  Folgende  abhandlungen  über  Vives  habe  ich 
eingesehen:  Nico! ans  Antonius,  bibl.  hisp.,  tom.  I,  Romae  1672, 
s.  552 — 556  fol.,  aufzählung  und  kurze  Charakteristik  seiner  werke 
enthaltend.  —  Thomas  Pope-Blount,  ceusura  celebriorum 
authorum,  Londini  1690,  s.  365  und  ;^66  fol.  stellt  urteile  be- 
deutender männer  des  16n  und  17n  Jahrhunderts  über  Vives  zu- 
sammen. —  Nice'ron,  me'moires  pour  servir  k  l'histoire  des 
hommes  illustres  dans  la  republique  des  lettres,  tom.  XXI, 
Paris  1733,  s.  172 — 186  8°,  liefert  biographie  und  besprechung  seiner 
werke.  —  M.  Paquot,  memoires  pour  servir  k  l'histoire  litte- 
raire  des  dix-sept  provinces  des  Pays  Bas,  tom.  I,  Louvain 
1765,  s.  117 — 123  fol.  enthält  auszer  obigem  bibliograph.  notizen  über 
ausgaben  seiner  werke.  —  Greg.  Majansius,  J.  L.  Vivis  Valentini 
vita  als  einl.  zur  oben  citierten  prachtausgabe,  tom.  I,  Valentiae  1782, 
8.  2 — 219  fol.  sie  ist  neben  Vives'  briefen  die  hauptquelle  zu  den  folgen- 
den ausführlichen  biographien.  —  A.  J.  Nameche,  memoire  sur 
la  vie  et  les  e'crits  de  Jean-Louis  Vives,  in  den  me'moires 
couronne'es  par  l'acade'mie  royale  des  sciences  et  belies- lettres  de 
Bruxelles,  tom.  XV,  Bruxelles  1841,  s.  1  —  126  4",  eine  verdienstvolle 
arbeit,  lelien,  Inhaltsangabe  der  werke  und  kurze  Charakteristik  um- 
fassend. —  H.  G.Braam,  dissertatio  exhibens  J.  L.  Vivis  theo- 
logiam  Cliristianam,  Groningae  1853,  8°,  s.  1  —  30  biogr.,  s.  31 — 175 
systematische  darstellung  der  Vivianischen  theologie,  —  W.  Francken, 
J.  L.  Vives,  de  vriend  van  Erasmus,  Rotterdam  1853,  s.  1—196  8" 
berücksichtigt  vorwiegend  die  werke  religiösen  Charakters  und  streift  nur 
die  pädagogische  bedeutung. —  Biographie  universelle  ancienne 
et  moderne,  tom.  XLIII,  Paris  s.  687  ff.,  in  kürze  biogr.  und  inhalts- 
angabe  der  hauptwerke  darstellend.  —  Kerker,  art.  Vives  in  Wetzer 
und  Weite,  kirchenlexikon,  neue  ausg.  bd.  11,  Freiburg  1859,  s.  718 
— 720  8°,  ähnlich,  vom  kath.  Standpunkte  aus  verfaszt. *  —  R.  Heine, 
das  lateinische  Übungsbuch  des  humanisten  J.  L.  Vives, 
in  n.  Jahrb.  f.  phil.  u.  päd.,  bd,  122,  Jahrg.  1880,  s.  437—453  8"  macht 
in  vortrefflicher  weise  mit  den  besten  dialogen  der  exercitatio  linguae 
latinae  bekannt.  —  A.  Lange,  art.  Vives  in  K.  A.  Schmid,  encykl. 
d.  gesamten  erziehungs-  und  unterrichtswesens.  neue  ausg.  bd.  9, 
Leipzig  1887,  s.  776  —  851  8**.  es  ist  die  erste  ausführliche  deutsche 
darstellung,  mit  groszer  gelehrsamkeit  geschrieben,  sie  bringt  eine 
weitläufige  biographie  nebst  kurzer  Charakteristik  der  schriftstelleri- 
schen thätigkeit.  die  werke  pädag.  Inhaltes  erfahren  eine  ausführ- 
lichere besprechung.  die  angeschlossene  Untersuchung  über  Vives' 
einflusz  auf  die  späteren  pädagogen  besitzt  nicht  die  gleiche  gründlich- 
keit    und    kehrt    zu    stark   den    protestantischen   Standpunkt   hervor.    — 

'  auszerdem  existiert  eine  gesaratausgabe,  Basel  1555,  tom.  I — II. 
einzelausgaben  s.  namentlich  bei  Paquot  und  Kaiser. 

*  die  neueste  aufl.  enthält  den  art.  'Vives'  noch  nicht. 

1* 


4  F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik. 

Dr.  J.  Wychpram,  J.  L.  Vives  ausffew.  Schriften,  übersetzt  in 
d.  päda^.  classikern  von  G.  A.  Lindner,  bd.  XIV  (neue  serie  bd.  IV),  Wien 
und  Leipzig  1883  (aber  später  als  der  Langesche  art.  verfaszt).  die 
vortrefiflicli  geschriebene  einleitung  enthält  Vives'  leben  im  zusammen- 
hange mit  seiner  zeit,  seine  iitterarische  Wirksamkeit,  seine  psyoho- 
logie  und  pädagogik,  die  letztere  auf  etwa  20  selten  8"  charakterisiert, 
von  denen  12  Vives'  anschauungen  über  frauenbildung  gewidmet  sind, 
bei  der  trage  über  Vives'  eiuflusz  auf  die  jesuitische  pädagogik 
schlieszt  sich  Wychgram  leider  genau  Langes  einseitigen  und  nicht 
gründlichen  ausführungen  an-  die  Übersetzung  habe  ich  manchmal  mit 
nutzen  befragt,  die  einteilung  nach  abschnitten  ist  richtiger  als  in  den 
von  mir  benutzteii  quellen,  welche  übrigens  Wychgram  nicht  vorgelegen 
zu  haben  scheinen.  —  J.  J.  Altmeyer,  les  precurseurs  de  la 
reforme  aux  Pays-Bas,  tom  II,  La  Haye  1886,  chap.  IX.  Louis 
Vives,  s.  48—84  8",  biographische  darstellung  seiner  kirchlichen  richtung 
und  besprechung  seiner  betr.  werke  mit  kurzer  erwähnung  seiner 
pädag.  bedeutung  liefernd.  —  C.  Arnaud,  quid  de  pueris  iusti- 
tuendis  senser it  Ludov.  Vives.  thesis  fac.  litt.  Farisiensi  prop. 
Parisiis  1887,  s.  1—112  8",  diese  arbeit  wurde  mir  erst  kurz  vor  ab- 
schlusz  der  meinigen  bekannt,  es  ist  eine  treffliche,  in  schönem  latein 
geschriebene  abhandlung  ohne  die  streng  systematische  form  und  die 
ausführliche  quellenangabe  der  vorliegenden.  kurze  citate  sind,  oft 
nach  der  construction  umgestellt,  dem  texte  eingestreut,  auf  eine 
psycholog.  einleituug  sowie  auf  ausführliclikeit  bei  besprechung  der 
einzelnen  Unterrichtsfächer  verzichtet  der  Verfasser,  weniger  verzeih- 
lich ist  e,s.  dnsz  er  keine  darstellung  der  formalen  bildung,  des  Unter- 
richts nach  dem  25n  jabre  (auszer  einer  kurzen  bemerkung  über 
geschickte)  und  der  didaktischen  grundsätze  bringt,  dafür  sind  inter- 
essante historische  erörterungen  enigeflochten,  weniger  berechtigt  er- 
scheinen einige  abschweifiingen  (wie  s.  17  f.  22  ff.),  ich  habe  mich  zu 
keinen  änderungen  in  meiner  arbeit  veranlaszt  gesehen. —  Th.  Thibaut, 
quid  de  puellis  instituendis  senserit  Vives.  diss.  Parisiis 
1888:  ein  gegenstück  zu  der  vorigen  und  im  zusammenhange  mit  ihr 
entstanden;  den  Inhalt  habe  ich  nicht  genauer  geprüft.  —  P.  Hause, 
die  pädagogik  des  Spaniers  J.  L.  Vives  und  sein  eiuflusz 
auf  J.  A.  Comenius.  diss.  Erlangen  1890.  der  verf.  scheint  das 
hauptgewicht  auf  den  zweiten  teil  gelegt  zu  haben,  ich  bemerke  zu 
demselben  nur,  dasz  ich  seinem  negativen  resultate  nicht  beistimmen 
kann,  und  verweise  zur  vergleichung  auf  die  trefflichen  untersucliungen 
von  Nebe  (s.  u.).  zur  darstellung  der  Vivianischen  pädagogik  musz 
icli  gestehen,  dasz  sie  dem  Spanier  durchaus  nicht  gerecht  wird,  das 
thema  der  vorliegenden  abhandlung  kommt  in  etwa  20  seiten  8"  zur 
darstellung.  diese  ist  bei  weitem  nicht  erschöpfend  und  in  einigen 
punkten  verkehrt,  die  quellen  sind  nicht  gründlich  berücksichtigt;  es 
ist  sehr  zu  bedauern,  dasz  der  Verfasser  sich  von  ausgesprochener 
protestantischer,  für  Comenius  gegen  Vives  eingenommener,  teiidenz 
leiten  läszt.  auf  einzelheiten  kann  ich  hier  nicht  eingehen;  man  möge 
Arnaud  (s.  o.)  oder  diese  abhandlung  vergleichen,  die  anordnung  des 
Stoffes  ist  geschickt.  —  Dr.  A.  Nebe,  Vives,  Älsted,  Comenius  in 
ihrem  Verhältnis  zu  einander,  beilage  zum  Jahresberichte  des 
Elberfelder  gymnasiums  1890/91.  Eibcrfeld  1891.  ergänzungen:  Co- 
menius und  seine  Vorläufer  in  d.  blättern  für  die  Schulpraxis,  Nürn- 
berg 1892,  III,  s  376— 399  und  Comenius'  Studienzeit  in  Herborn 
in  d.  monatslieften  der  Comeiiiusges.  1894,  III,  s.  87  ff.  diese  vorurteils- 
freien und  gediegenen  Untersuchungen,  deren  ergebnissen  ich  beistimme, 
weisen,  ohne  Comeniu.s'  Verdienste  zu  verkennen,  den  einflusz  des 
Spaniers  unzweifelhaft  nach  (über  Alstedt  vgl.  auch  K.  A.  Schmid 
und  G.  Schmid,  geschicbte  der  erziehung  III  2  s.  100  ff.  Stuttgart 
1892).  —   P.  Schaefer,   lehrer,   J.    L.  Vives    in    d.  kath.   zeitschr.   f. 


F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik.  5 

erziehung  und  Unterricht  von  A.  J.  Cüppers,  XLI.  jahrg'. ,  Düsseldorf 
1892,  8",  s.  437— 455  (leben)  485—498,  533—548  (pädagrogrik),  eine  sehr 
brauchbare,  im  anschlusse  an  Wychg^ram ,  Heine  (s  u.),  Lange  und 
Franckeu  geschickt  verfaszte  darstellung,  welche  indes  Conienius  unter- 
schätzt, wenn  sie  meint,  'dasz  die  vielgerühniten  Verdienste  desselben 
auf  dem  gebiete  des  höheren  unterrichtsvvesens  eigentlii-h  nur  in  den 
köpfen  schwärmerischer  lobredner  existierten'.  —  Dr.  O.  Denk  schildert 
in  der  kath.  schulzeitung  (Donauwörtli  1892)  nr.  18  —  33  (mit  Unter- 
brechungen) Vives'  leben  und  litterarische  thätigkeit.  die  am  Schlüsse 
versprochene  darstcllung  der  pädagogik  des  Spaniers  ist  bis  jetzt  unter- 
blieben,—  Roman  Pade,  die  af  f  ectenl  eh  re  des  J.  L.  V  i  ves,  diss. 
Münster  1893,  s.  1 — 51  8".  an  der  ausführung  der  im  eingange  geäuszerten 
absieht,  'in  naher  folge'  eine  gesamtdarstellung  der  Vivianischen  Psy- 
chologie folgen  zu  lassen ,  ist  der  Verfasser  durch  den  tod  gehindert 
worden.  —  Dr.  F.  Kaiser,  J.L.  Vives  in  d.  histor.  jahrb.  d.  Görres- 
gesellscbaft,  bd.  XV,  jahrg.  1894,  eine  gelehrte,  vom  kath.  Standpunkte 
aus  geschriebene  gesamtdarstellung,  in  welcher  auch  die  pädag.  be- 
deutung  ganz  kurz  gewürdigt  ist;  dieselbe  dürfte  jedoch  überschätzt 
sein,  s.  §  39  dieser  abhandlung.  —  nach  abschlusz  meiner  arbeit  erschien: 
Dr.  F.  Kaiser ,  J.  L.  Vives'  päd  agogische  Schriften  in  bd.  VIII 
der  bibliothek  der  katholischen  pädagogik,  Freiburg  i.  Br.  1896.  die 
abhandlung  enthält  Vives'  Schriften  de  tradendis  disciplinis,  de  vita  et 
moribus  eruditi,  de  institutione  feminae  christianae  (erstes  buch  und 
auszug  aus  dem  zweiten),  de  ratione  sludii  puerilis  I  und  II  in  vorzüg- 
licher übersichtlich  gegliederter  Übersetzung,  gegen  die  einleitung,  in 
welcher  Vives'  leben  auf  36  Seiten  8°  dargestellt,  seine  pädagogik  auf 
14  Seiten  8°  charakterisiert  ist,  habe  ich  folgendes  einzuwenden:  Kaiser 
überschätzt  Vives'  bedeutung  für  die  muttersprache  (wie  in  der  oben 
genannten  abhandlung  desselben  Verfassers;  man  vgl.  §  39  in  meiner 
darstellung).  ebenso  dürfte  es  wohl  übertrieben  sein,  wenn  Kaiser 
'fast  die  sämtlichen  heute  noch  geltenden  und  leitenden  principien  der 
neueren  pädagogik'  auf  Vives  zurückgeführt  wissen  will;  denn  auch 
Vives  hatte  seine  Vorläufer,  und  manche  späteren  pädagogen  haben 
diese  principien  unabhängig  von  Vives  ausgesprochen,  verkehrt  ist 
endlich  die  behauptung:  'seine  ganze  pädagogik  baut  sich  auf  dem 
festen  boden  katholisch -christlicher  lehre  und  autorität  auf.'  Vives, 
ein  freisinniger  katholik ,  liefert  eine  christliche,  nicht  eine  specifisch 
katholisclie  pädagogik.  —  Unerreichbar  sind  mir  geblieben:  J.  Ch.  Gli. 
Schaumann,  diss.  de  J.  L.  Vive,  philos.  praesertim  anthropologo 
etc.  Halae  1791,  '/a  bog.  8".  dieses  bei  Grässe  (s.  anm.  108)  s.  776  und 
Lange  s.  714  cit.  schriftchen  (w^hrsch.  keine  doctoidiss. ,  da  frühere 
werke  des  verf.  existieren)  ist  weder  in  den  Universitätsbibliotheken  zu 
Kiel  und  Bonn,  noch  in  der  Berliner  Staatsbibliothek  noch  in  irgend 
einer  öffentlichen  Hallenser  bibliothek  zu  finden,  auch  gibt  das  all- 
gemeine repertorium  der  litteratur  1791  — 1795  keine  recension.  —  J.  d  e 
Bo  sch-Kemper ,  J.  L.  Vives,  geschetst  als  christelijk  phi- 
lanthrop  der  zestiende  eeuw.  Amsterdam  1851.  —  PaulSouquet, 
les  ecrivains  pedagogues  du  16.  sifecle  1886.  —  J.  Parm  entier, 
J.  L.  Vives,  de  ses  theories  de  l'education  et  de  leur  in- 
fluence  sur  les  pe'dagogues  anglais  in  revue  internat.  de  l'en- 
seignement,  XIII.  annee,  nr.  55,  bericht  von  Keller  in  monatshefte  der 
Com.-ges.  V,  s.  57.  —  Dr.  R.  Heine,  Vives'  ausg.  Schriften  mit 
einl.  in  d.  pädag.  classikern  von  R.  Richter,  Leipzig  (o.  jahr).^ 


3  Reber    {s.    anm.    131)    s.  2    cit.    fälschlich    dr.    Rudolfheir 
Rud.  Heine. 


F.  Kuypers :  Vives  in  seiner  pädagogik. 


Einleitung. 

§  1.  Nachdem  im  altertume  durch  Quintilian  die  pädagogische 
schriftstellerei  zu  später  entwicklung  gelangt  war,  folgte  die  langen 
Jahrhunderte  des  mittelalters  hindurch  eine  grosze  ebbe  in  den  litte- 
rarischen erzeugnissen  der  ei'ziehungswissenschaft.  denn  so  segens- 
reich auch  immer  der  neue,  christliche  geist  sich  in  der  gründung 
zahlreicher  schulen  bethätigte,  so  gering  war  die  zahl  derjenigen, 
die  eine  theoretische  lösung  des  problems  der  erziehung  versuchten, 
allerdings  boten  die  Schriften  der  kirchenväter  sowie  die  schulregeln 
des  hl.  Benedict  dem  pädagogen  manchen  beherzigenswerten  ge- 
danken ,  allein  eine  zielbewuste,  auf  wissenschaftlicher  grundlage 
aufgebaute  theorie ,  welche  unterrichten  und  erziehen  zu  einer 
kunst  erheben  wollte,  war  dem  frühesten  mittelalter  fremd,  ihre 
anfange  gestalten  sich  erst  unter  dem  dreigestirne  der  Karolingischen 
zeit:  Flaccus  Alkuin,  Hrabanus  Maurus,  Walafried  Strabo.  doch 
auch  bei  ihnen  war  die  ausbildung  der  didaktik  und  methodik  noch 
recht  kümmerlich ,  und  das  material ,  welches  sie  boten ,  diente  fast 
ausschlieszlich  der  heranbildung  der  klei'iker  zu  ihrem  berufe.  — 
Wiederum  vergiengen  vier  Jahrhunderte,  bis  ein  pädagogischer 
schriftsteiler  von  weiterem  gesichtskreise  erschien ,  Vincenz  von 
Beauvais  [f  1264].  aber  auch  er  verfuhr  einseitig,  indem  er  nur 
'kinder  aus  königlichen  oder  adeligen  familien'  bei  seinen  Vor- 
schriften im  äuge  hatte,  eine  allgemeine  pädagogik  boten  zuerst 
Mapheus  Vegius  und  der  erst  neuerdings  wieder  bekannt  gewordene 
Konrad  Bitschin"*,  beide  vor  der  mitte  des  fünfzehnten  Jahrhunderts 
blühend.'^  so  zeigte  im  allgemeinen  das  mittelalter  wenig  interesse 
für  pädagogische  fragen. 

Das  wurde  anders  mit  dem  auftreten  des  humanisraus.®  der 
umstand ,  dasz  die  classischen  Wissenschaften  einen  vielseitig  aus- 
zubeutenden stoflFin  die  schulen  einführten,  und  die  erkenntnis,  dasz 
bei  der  Jugend  die  fortentwicklung  der  neuen,  oppositionellen  rich- 
tung  ruhe,   schufen   eine   wahre   flut  pädagogischer  Schriften  und 


*  über  diesen  Kulmer  Stadtschreiber  vgl.  Th.  Ziegler,  geschichte 
der  pädagogik,  1  bd.  von  A.  Baumeister,  handbuch  der  erziehungs-  und 
Unterrichtslehre,  München  1895,  s.  39. 

'  vgl.  zu  diesem  abschnitte  F.  Paulsen,  geschichte  des  geleiirten 
Unterrichts  auf  den  deutschen  schulen  und  Universitäten,  Leipzig  1885, 
B.  10  f.  2e  aufl.  1896,  I  bd.  s.  13  f. 

^  die  pädagogische  thätigkeit  der  humanisten  stellen  dar:  K.v.  Raumer, 
geschichte  der  pädagogik  vom  wiederaufblühen  classischer  Studien  bis 
auf  unsere  zeit,  erster  teil.  Stuttgart  1843,  s.  28  ff.  H.  J.  Kämmel, 
geschichte  des  deutschen  Schulwesens  im  Übergang  vom  mittelalter  zur 
neuzeit,  Leipzig  1882,  s.  243  ff.  F.  Paulsen  (vgl.  anm.  5)  s.  28  ff.  2e  aufl. 
I  s.  74  f.  G.  Voigt,  die  Wiederbelebung  des  class.  altertums  II  bd.  3e  aufl., 
Berlin  1893,  s.  372  ff.  455  ff.  K.  A.  Schmid  u.  G.  Schmid  (vgl.  s.  4  unten) 
TI  2.     Th.  Ziegler  (vgl.  anm.  4)  s.  41—128. 


F.  Kuypers:  Vires  in  seiner  pädagogik,  7 

schriftchen,  sie  sind,  wie  die  humanistischen  gedichte  und  pane- 
gyriken  ,  jetzt  mit  geringer  ausnähme  der  Vergessenheit  anheim- 
gefallen. 

Bei  vielen  mag  dieses  Schicksal  nicht  zu  bedauern  sein,  dasz 
aber  auch  höchst  originelles  und  bedeutendes  in  jener  zeit  der 
humanistischen  vielschreiberei  auf  dem  gebiete  der  theoretischen 
Pädagogik  geleistet  worden  ist,  zeigen  die  erst  in  den  letzten  Jahr- 
zehnten allmählich  wieder  zu  ansehen  gekommenen  werke  des  ge- 
borenen Spaniers  Johannes  Ludovicus  Vives.  'Vives'  bedeu- 
tung  für  die  geschichte  der  pädagogik  besteht  vor  allen  dingen 
darin,  dasz  sich  in  ihm  die  gesamte  gegenwirkung  der  beginnenden 
neuzeit  gegen  die  pädagogischen  misbräuche  des  späteren  mittel- 
alters  sammelt,  und  dasz  sich  bei  ihm  in  gleicher  weise  die  keime 
der  wichtigsten  reformen  von  Sturm  bis  auf  Rousseau  herab  ver- 
einigt und  in  ein  ganzes  verschmolzen  finden.'^  er  ist  mehr  benutzt 
als  genannt  worden,  zweifellos  hat  er  vielen  hervorragenden  päda- 
gogender  nachfolgenden  Jahrhunderte  in  verschiedenen  europäischen 
ländern  anregung  geboten.® 

Dennoch  wurde  er  bis  vor  kurzem  als  pädagoge  kaum  erwähnt, 
seine  Vielseitigkeit  mag  ein  grund  davon  sein,  denn  er  hat  die  er- 
ziehungslehre  nicht  in  den  Vordergrund  seiner  schriftstellerischen 
thätigkeit  gerückt,  wenn  auch  diese  gedanken  mehr  als  alle  andern 
auf  die  nachweit  gewirkt  und  ihm  eine  bleibende  bedeutung  ge- 
sichert haben,  so  nehmen  sie  doch,  wie  schon  bemei'kt,  in  seinen 
Schriften  eine  secundäre  stelle  ein.  dazu  ist  sein  name  durch  den 
groszartigen  aufschwung,  den  die  pädagogik  bald  erfuhr,  besonders 
durch  Comenius'  glänz  verdunkelt  worden,  so  war  ihm  die  frucht 
seiner  arbeit  beschieden,  die  er  selbst  gewünscht  hat:  den  nutzen 
anderer,  nicht  den  eignen  rühm  zu  fördern.® 

§  2.  Juan  Louis  Vives  ist  1492  zu  Valentia  geboren. '"  er  lebte 
bis  1509  in  seiner  Vaterstadt,  wo  er  eine  strenge,  spanisch-katholische 
erziehung  genosz  und  in  der  Scholastik  unterwiesen  wurde,  welche 
er  mit  eifer  verteidigte,  die  drei  folgenden  jähre  studierte  er  fast 
ausschlieszlich  unter  scholastischem  einflusse  in  Paris,  die  berührung 
mit  dem  allmählich  vordringenden  humanismus  rief  einen  'gärungs- 
process'  in  ihm  hervor,  bis  zum  jähre  1523  finden  wir  ihn  in  Brügge, 
Paris  oder  Löwen,  den  neuen  ideen  neigte  er  sich  in  dieser  zeit 
immer  mehr  zu,  bis  er  1519  durch  seine  scharfe  invective  'in  pseudo- 
dialecticos'  der  Scholastik  den  definitiven  scheidebrief  gab.  in  Löwen, 
der  hochburg  der  alten  theologie ,  war  Vives  neben  Erasmus  haupt- 


''  Lange  s.  843. 

*  näheres  über  seinen  einflusz  enthalten  einige  der  im  eingauge 
charakterisierten  abhandlungen. 

^  s.  anm.  31. 

*"  ich  musz  mich  hier  auf  eine  ganz  kurze  biographische  skizze 
beschränken,  ausführliche  lebensbeschreibungen  enthalten  die  eingangs 
genannten  werke. 


8  F.  Kuypers :  Vives  in  seiner  pädagogik. 

förderer  der  humanistischen  Studien."  zugleich  war  er  dortlehrer'* 
des  neunzehnjährigen  cardinal-erzbischofs  von  Toledo,  Wilhelm  von 
Croy,  der  damals  in  Löwen  seine  studien  fortsetzte,  abgesehen  von 
einem  vorübergehenden  aufenthalte  in  Valentia  und  Brügge  lebte 
Vives  bis  1528  in  Oxford  und  London,  er  hielt  Vorlesungen  an  der 
Universität  und  war  freund  und  ratgeber  von  Heinrich  VIII  und 
dessen  gemahlin  Katharina,  sowie  vorübergehend  lehrer  von  deren 
tochter  Maria  (der  katholischen).'^  sein  Widerspruch  gegen  den 
könig  in  dessen  ehescheidungsangelegenheit  zog  ihm  eine  secbs- 
wöchentliche  haft  zu.  den  rest  seines  lebens  verbrachte  er  meistens 
in  Brügge,  seine  freunde  und  gönner  hatten  sich  von  ihm  zurück- 
gezogen,  seine  bewerbungen  um  lebensstellungen  schlugen  fehl, 
not  und  krankheit  begleiteten  ihn  bis  zu  seinem  tode  am  6  mai 
1540.'^ 

Vives  war  verheiratet  gewesen  aber  kinderlos  geblieben.  '* 
So  lebte  Vives  in  der  epoche  des  heftigen  ringens  zwischen 
Scholastik  und  humanismus.  um  die  mitte  seines  lebens  begann  sich 
der  sieg  auf  die  seite  des  letzteren  zu  neigen,  der  andern  groszen 
bewegung  jener  zeit,  der  reformation,  stand  er  fremd  oder  vielmehr 
feindlich  gegenüber,  ohne  sich  in  den  theologischen  hader  zu  mischen, 
während  er  in  jenem  erstgenannten  streite  ein  eifriger  Parteigänger 
des  humanismus  geworden  war. '® 

Bei  den  bedeutendsten  männern  dieser  geistig  so  bewegten  zeit 
galt  Vives  als  hervorragender  gelehrter.'^    mit  Erasmus,    dem  er 


•'  Löwen  war,  im  gegensatze  zu  Paris,  der  neuen  richtung  schon 
früh  zugänglich.  vgl.  über  das  wissenschaftliche  leben  daselbst  bei 
Vives'  erscheinen  Namfeche  s.  11,  12.  Francken  s.  12,  13  führt  Erasmus 
selbst  dafür  an.  F.  Nfeve,  me'moire  histor.  et  litte'raire  sur  le  College 
des  trois  langues  ä  l'universite'  de  Louvain,  Rruxelles  1856.  vgl.  Lange 
s.  779. 

'*  Vives  war  nur  sein  lehrer.  die  erziehung  desselben  lag  in  anderen 
bänden,     vgl.  Lange  s.   781. 

•3  Unterricht  und  erziehung  der  fürstenkinder  war  eine  besondere 
aufgäbe  der  humanisten.  s.  J.  ßurckhardt,  die  cultur  der  renaissance, 
Basel  1860,  s.  210. 

"  falsch  bei  Pope-Blount,  Luc.  Osiander,  eccles.  bist,  epitome 
cent.  XVI,  Tubingae  1608,  s.  350,  und  W.  G.  Tennemann,  gesch.  d. 
philos.  bd.  9,  s.  529. 

15  die  hiervon  abweichenden  uachrichten  in  biographie  universelle, 
tom.  XLIIl,  und  Paul  Souquet,  les  e'crivaius  pedagogues  du  seiziinie 
siecle  1886,  s.  98,  sind  falsch,     vgl.  Nameche   s.  29,  Arnaud  s.  18. 

'^  näheres  über  seine  humanistischen  und  religiösen  anschauungen 
s.  s.  10  f.  den  geschichtlichen  rahmen  zu  Vives  liefert  in  geistvoller 
weise  Francken  s.  179  —  196:  proeve  tot  waardering  van  Vives  in  ver- 
band met  zijnen  tijd.  die  humanistisch -pädagogischen  bestrebungen 
seiner  zeit  gibt  im  zusammenhange  Kämmel  s.  378—423.  vgl.  auch 
F.  Gramer,  geschichte  der  erziehung  und  des  Unterrichts  in  den  Nieder- 
landen während  des  mittelalters,  Stralsund  1843,  s.  158.     s.  anni.  6. 

*''  Thomas  Morus  sagt  von  den  Schriften  des  achtundzwanzigjährigen 
Vives,  dasz  ihm  'lange  nichts  eleganteres  und  gelehrteres  zu  gesiebte 
gekommen'  sei.    schon  früher  hatte  der  mit  dem  lobe  anderer  kargende 


F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik.  9 

hauptsächlich  die  anregung  zu  den  humanistischen  Studien  verdankt, 
mit  Budaeus,  Thomas  Morus,  cardinal  Wolsey  u.  a.  stand  er  in  per- 
sönlichem oder  brieflichem  verkehre,  ebenso  mit  Heinrich  VIII, 
Karl  V,  papst  Hadrian  VI.'® 

§  3.  Vives  hat  mit  den  meisten  humanisten  das  gemein,  dasz 
er  sehr  viel  geschrieben  hat.  obgleich  er  nur  achtundvierzig  jähre 
alt  geworden  ist,  füllen  seine  bis  jetzt  erhaltenen  werke  acht 
starke  foliobände. '^  seinen  für  die  pädagogik  wichtigen  Schriften 
widme  ich  eine  besondere  besprechung.  von  den  andern  sind  die 
hervorragendsten:*" 

1522:  die  ausgäbe  der  bücher  des  hl.  Augustinus  de  civitate 
dei  mit  comraentar.  der  commentar  ist  ein  werk  von  riesiger  gelehr- 
samkeit;  in  der  kirche  herschende  misstände  werden  in  ihm  rück- 
haltlos aufgedeckt,  er  wurde  auf  betreiben  der  Jesuiten  nach  Vives' 
tode  auf  den  index  gesetzt,  'donec  corrigatur'.*' 

1526:  de  subventione  pauperum,  die  erste  theorie  einer  staat- 
lichen armenpflege,  ein  buch,  das  von  zweifellosem  einflusse  auf 


Erasmus  über  ihn  geäuszert,  er  habe  ^in  den  Wissenschaften,  wie  im 
mündlichen  und  Sfhriftlichen  gedankenansdrucke  es  so  weil  gebracht, 
dasz  er  kaum  wage,  ihm  einen  aus  diesem  Jahrhunderte  an  die  seite  zu 
stellen',  derselbe  befürchtet,  dasz  Vives  seinen  namen  verdunkeln 
werde.  Budaeus  sagt:  'wenn  ich  den  geist  dieses  mannes  recht  kenne, 
wird  er  nicht  ruhen,  bis  er  alle  hinter  sich  gelassen  hat',  s.  Namfeche 
s.   20  u.  95,  Lange  s.  787,  woselbst  auch  die  quellen  citiert  sind. 

**  seine  bedeutungsvollen  briefe  an  diese  gekrönten  häupter  s.  Ma- 
jansius  opp.  (V  164  ff. ,  VII  134  ff.),  über  die  zeitgenössische  nieder- 
landische  gelehrtenwelt  s.  Ältmeyer  s.  293  ff. ,  über  seine  Löwener  col- 
legen  Nameche  s.  16  ff..  Denk  s.  155. 

'^  was  um  so  staunenswerter  erscheint,  wenn  er  seine  eigene  Vor- 
schrift befolgt  haben  sollte:  Mor.  erud.  5,  3  (VI  434);  lectio  sit  ut  quinque 
(er  meint  die  vorbereitende  lectüre),  meditatio  vit  quatuor,  scriptio  ut 
tria,  emendatio  redigat  illa  in  duo,  ex  his  duobus  uuum  perferendum 
in  apertum. 

^^  einen  überblick  über  die  Vielseitigkeit  seiner  schriftstellerischen 
thätigkeit  liefert  die  einteilung  seiner  werke  bei  Majansius  (I.  viii  f.): 
ad  sapientiam  introductio  (1).  rogativa  ad  deum  (6).  grammatica  (3). 
philologica  (4).  rhetorica  (6).  philosophica  (10).  moralia  (8).  legalia  (2). 
politica  (7).  historica  (4\  critica  (2).  christiana  (9).  epistolica  (58}. 
s.  Aug.  de  civitate  dei  cum  comment.  J.  L.  Vivis  Valentini.  kurze 
besprechung  derselben  bei  Paquot  s.  118 — 123.  daselbst  sind  noch  vier 
nicht  veröffentlichte  werke  angegeben,     vgl.  anm.  44. 

^'  die  Baseler  gesamtausgabe  von  Vives'  werken  (1555)  und  die 
Valentiner  (1792)  enthalten  den  commentar  nicht,  charakterisiert  ist 
das  werk  bei  Lange  s.  788  f.,  Kaiser  s.  321,  welche  auch  die  punkte 
des  anstoszes  anführen,  grobe  ketzereien  enthält  es  nicl.t,  nur  einige 
schiefe  auffassungen  und  heftige  angriffe  auf  verweltlichte  mönche  und 
kleriker.  proben  gibt  Nameche  s.  97  f.  Js.  Bullart  bemerkt:  quoy  que 
disent  ceux  qui  le  soupQoiinent  d'avoir  altere'  en  quelques  endroits  les 
pense'es  de  ce  grand  docteur  de  l'Eglise,  il  ne  peuvent  nier  qu'il  ne 
leur  ait  donne  en  beaucoup  d'autres  une  lumifere  qui  en  decouvre  la 
saintete'  et  la  profondeur.  Pope-Blount  s.  366.  die  Löwener  theologen 
haben  1637  den  Augustinus  des  Vives  corrigiert  herausgegeben.  Niedren 
s.    184. 


10  F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik. 

die  gestaltung  des  armenwesens  in  den  westeuropäischen  ländern 
gewesen  und  noch  heute  beherzigenswert  ist.  ^^ 

1529:  de  concordia  et  discordia,  Karl  V  gewidmet,  eine  mah- 
nung  zum  frieden  unter  den  völkei*n  und  ein  aufruf  zum  concil,  das 
die  kirchlichen  misstände  heben  soll.'^ 

1541 :  de  veritate  fidei  christianae,  eine  bedeutende  apologie  des 
Christentums,  sein  letztes  werk,  nach  seinem  tode  herausgegeben.^^ 

§  4.  Mit  encyclopädischer  Vielseitigkeit  vereinigen  sich  in  Vives 
hervorragende  eigenschaften  des  Charakters,  er  ist  eine  durchaus 
sittliche  persönlichkeit,  die  nicht,  wie  so  viele  zunftgenossen, 
blosz  moral  predigte,  sondern  sie  auch  übte."  keine  lehre  des 
Christentums  hat  ihn  so  tief  durchdrungen  wie  das  evangelium  von 
der  liebe. '^'^  seine  Schriften  kennzeichnen  ihn  als  dankbaren  söhn, 
treuen  freund,  musterhaften  gatten,  und  eine  grosze  allgemeine 
menschenliebe  spricht  aus  vielen  derselben,  die  gegensätze  jener 
kampferfüllten  zeit,  den  politischen  krieg,  den  confessionellen  hader, 
die  revolutionäre  empörung,  die  sociale  Ungleichheit  sucht  er  auf  fried- 
lichem wege  zu  versöhnen  durch  praktische  vorschlage,  inständige 
bitten,  heftige  invectiven.''^  ihm,  dem  groszen  Philanthropen, 
ist  nichts  ein  ärgerer  greuel  als  der  krieg;  er  vermag  in  ihm  nur 
eine  unchristliche,  unmenschliche  und  unsinnige  räuberei  zu  sehen.'* 


"  s.  Majansius  opp.  (IV  421  —  494).  kurzer  inhalt  bei  Namfeche 
s.  109  —  112.  Francken  s.  149—165.  Lange  s.  799.  Altmeyer  s.  57—67. 
M.  Orts,  revue  trimestrielle  tom.  II,  1854.  der  einfliisz  des  Werkes  zeigt 
sich  in  dem  erlasse  Karls  V  vom  7  oct.  1531  und  in  dem  statuta  des 
Brüggener  magistrates  von  1564,  in  einem  reglemt-nt  von  Ypeiu  ,  Gand 
u.  a.  zur  Orientierung  vgl.  H.  de  Kerchove,  legislation  et  culte  de  la 
liienfaisance  en  Belgique  (citiert  bei  Altmeyer).  Kaiser  s.  307  verspricht 
eine  ausführliche  darlegung  zu  geben. 

*'  Majansius  opp.  (\^  193—403),  kurz  charakterisiert  in  den  oben 
genannten  abhandiungen. 

^*  Majansius  opp.  (VIII  1 — 458).  kurzer  iuhalt  bei  Francken  s.  62 — 64. 
Lange  s.  804.  Altmeyer  s.  84—87  (verkehrt  paginiert).  Kaisers.  351 — 353 
Es  ist  die  hauptquelle  für  Braams  systematische  Zusammenstellung  der 
Vivianischen  theologie. 

*=  *mor.  erud.  5,  2  (VI  425):  turba  studiosorum  seculum  vocat  felix, 
in  quo  multa  sit  eruditio;  non  est  vero  i<l  felix  seculum  sed  illud,  quam 
homines  docti  re  ipsa  praestant,  quod  legerunt,  quod  profiteiitur,  quod 
aliis  praescribunt;  quum  qui  audiunt,  et  vident,  coguntur  exclamare:  hi 
sunt  qui  loquuntur,  ut  vivunt;  et  vivunt,  ut  loquuntur. 

^•^  es  ist  das  centrum  seiner  theologie.     vgl.  p.  10  u.  anm.  48. 

*'  diese  echte  humanität  ist  das  motiv  seiner  briefe  an  viele  männer 
von  leitender  Stellung:  den  kaiser  von  Deutschland,  den  könig  von  Eng- 
land, den  p;ipst,  den  groszinquisitor  von  Spanien,  Erasmus  u.  a.,  ferner 
seiner  Schriften:  de  subventione  pauperum,  de  concordia  et  discordia, 
de  pacificatioue,  de  Kuropae  dissidiis  et  hello  Turcico,  de  communione 
rerum  ad  Germanos  inferiores  u.  a. 

2^  *caus.  corr.  2,  3  (VI  106):  quid  aliud  sunt  omnia  inter  homines 
bella,  quam  civilia?  intr.  sap.  3,  57  (I  5):  hello  hoc  est  impunito  latro- 
cinio,  quo  magis  vulgi  dementiam  agnoscas?  Vives  Hadriano  pontifici 
(V  170):  tuum  est,  pater  sanctissime  .  .  docere  et  principes,  et  prin- 
cipum  consultores,    bellum  hoc  inter  fratres  et  quod  plus  est,  initiatos 


F,  Kuypers*  Vives  in  seiner  Pädagogik.  11. 

Dennoch  ist  Vives  eine  tapfere  natur.  wo  es  gilt,  tugend 
und  wabrbeit  zu  verfechten ,  da  scheut  sein  freies  wort  weder  die 
Ungnade  des  hofes  noch  den  hasz  der  schule.'^  ja,  geradezu  leiden- 
schaftlich tritt  er  in  dem  streite  der  Wissenschaften  für  seine  Über- 
zeugung ein,  mit  schonungsloser  kritik,  mit  höhn  und  härte  —  aber 
stets  ohne  überhebung  und  ohne  persönliche  gehässigkeit.  nicht 
kränkung  der  gegner  noch  rubm  oder  Stellung  ist  das  ziel  dieses 
begeisterten  und  edlen  Jüngers  der  Wissenschaft,  viel- 
mehr sieht  er,  mag  er  auch  nicht  ungern  seine  belesenheit  zeigen'", 
seine  aufgäbe  als  gelehrter  darin,  sein  wissen  ganz  in  den  dienst 
seiner  mitmenschen  zu  stellen. '' 

Darum  ist  sein  geist  stark  auf  das  praktische  gerichtet, 
was  nicht  nutzbar  gemacht  werden  kann,  ist  nicht  der  wissenschaft- 
lichen betrachtung  wert.'-  so  zeigt  er,  im  gegensatze  zu  den 
meisten  andern  humanisten,  keine  blinde  Verehrung  für  das  classische 
altertum,  wenig  sinn  für  poesie,  keine  'absolute  bocbscbätzung  der 
form',  sondern  er  ist  Verfechter  einer  gesunden  kritik  und  eines 
fortgeschrittenen  realismus. '' 


eodem  baptisraate ,  iiiiquum,  sceleratnm  esse,  contra  fas ,  contra  pium, 
non  secns,  quam  si  membra  corporis  eiusdem  inter  se  diraicent.  so  im 
hinblicke  auf  den  krieg-  zwischen  Karl  V  und  Franz  I.  vg;!.  auch  ver. 
fid.  3,  11  (VIII  387;  und  namentlich  rat.  die.  3,  3  (II  206),  sowie  anm.  276. 
die  im  commentar  zu  Aug-ustinus  de  civit.  liei  s.  22  ausgeführte  an- 
sieht, dasz  jeder  unter  Christen  geführte  krieg  an  sich  schon  ein  un- 
gerechter sei,  gehörte  mit  zu  den  anstöszig  befundenen  punkten. 

*ä  *mor.  erud.  5,  1  (VI  420):  nihil  perinde  artiuni  omnium  decus, 
cunctaeque  eruditionis,  foedavit,  et  abieeit,  ut  quorundam  sciolorum 
levitas,  qui  passim  assent.mtur  qiiibuslibet  piincipilius  potissimum,  novo 
exemplo  magis  quam  vetere  .  .  si  Studiosi  assentari  non  consuevissent 
principibus,  et  eruditionem  Uli  pluris  facerent,  et  laudari  se  ab  illis 
impensissime  gauderent.  vgl.  s.  6  und  Denk  s.  228.  wie  ganz  anders 
dachten  die  meisten  der  anderen  humanisten! 

'"  so  z.  b.  im  commentar  zu  civ.  dei,  trad.  disc.  3,  8  u.  9  (VI  338 — 344), 
wo  er  an  1.50  schriftsteiler  charakterisiert. 

3t  *  Vives  Erasmo  (VII  192} :  nee  tu  me  tantopere  proferendi  nominis 
cupidum  existimes:  malim  uni  aut  alteri  in  virtute  prodesse,  quam 
nomen  absque  aliorum  utilitate  per  orbem,  quantus  quantus  est,  difFun- 
dere   .   .  moribus  malim  prodesse  quam  iudiciis  placere.     s.  anm,   148. 

'^  *pseudo-dial.  (III  59):  disoiplina  omnis  omnisque  ars  in  aliquem 
nsnm  est  inventa  et  comparata.  vgl.  anm.  184,  275  und  die  häufigen 
ähnlichen  forderungen  für  die  einzelnen  Unterrichtsfächer. 

3'  *caus.  corr.  1,  3  (VI  42);  falsa  est  atque  inepta  illa  similitudo 
quam  multi  taniquara  acutissimain  excipiunt,  nos  ad  priores  collatos 
esse  ut  nauos  in  humeris  gigantum.  non  estita;  neque  nos  sumus  nani, 
neque  illi  homlnes  gigantes,  sed  omnes  eiusdem  natnrae,  et  quidem 
nos  altius  evecti  illorum  beneficio,  maneat  modo  in  nobis  quod 
in  illis  Studium  et  amor  veri.  die  alten  werden  häufig  kritisiert,  na- 
mentlich Aristoteles,  von  unserem  humanisten  kennen  wir  keine  verse 
und  keine  panegynken.  sein  urteil  über  die  dichter  s.  anm.  211.  *caus. 
corr,  4,  4  (VI  180):  quis  non  malit  multo  immundum  sparcumque  magnis 
de  rebus  atque  excellentibus  sermonem,  quam  de  nugis  comptissimum 
atque  ornatissimum!  intr,  sap.  15,  475(124):  ne  verbis  quod  scis  ostentes, 
sed  rebus  te  ostende  scire.    über  seinen  realismus  s.  namentlich  §  44,  45. 


12  F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik. 

Teilt  man  die  humanisten  ein  in  solcbe  mit  christlicher  und  in 
solche  mit  heidnischer  Weltanschauung  ^\  so  ist  Vives  entschieden  den 
ersteren  beizuzählen,  er  hält  die  classischen  Studien  für  notwendig 
zum  rechten  Verständnisse  der  schrift  und  strebt  nach  einer  Ver- 
söhnung des  humanismus  mit  der  christlichen  lehre. '^ 
dabei  betrachtet  er  die  letztere  mehr  ihrem  kerne  als  ihrer  schale 
nach,  übergeht  manche  Streitpunkte  untergeordneter  art,  geiszelt 
aber  mit  entschiedenheit  eingerissene  misstände,  ohne  indes  mit 
bewustsein  dem  kirchlichen  lehramte  zu  widersprechen:  Vives  war 
ein  freisinniger  katholik,  der  die  mängel  in  der  kirche  ebenso 
wenig  billigte  wie  den  abfall  von  ihr.^^ 

Seine  theologie  ist  katholisch,  aber  'mehr  Johanne isch  als 
Paulinisch',  ein  lehrgebäude,  welches  mehr  in  herleitung  prak- 
tischer ideen  als  in  deduction  von  dogmen  gipfelt.  ^^ 

Auch  in  der  philosophie  ist  ihm  das  scholastische  spintisieren 
mit  begriffen  in  der  seele  zuwider,  sein  ausgangspunkt  ist  die  an- 
schauung,  aus  welcher  man  durch  induction  zu  den  begriffen 
emporsteigen    soll.^^     diese    sind    zu    verarbeiten    mit  hilfe   einer 


^*  so  L.  Pastor,  geseliiclite  der  päpste  seit  dem  ausgang  des  mittel- 
alters,  I  bd.,  Freiburg  B.  1886,  s.  12  f. 

^*  *cans.  corr.  2,  6  (VI,  89):  cur  potius  vera  et  exacta  latina  (lingua) 
haereses  adferret,  quam  corrupta  et  neglecta?  quasi  non  omnes  paene 
haereses  e  pravo  sanctarum  lilterarum  intellectu  iiascantur,  quod  necesse 
est  iis  contingere,  qui  linguas  eas  ignorant,  quibus  scripturae  sunt 
proditae. 

^^  in  den  streit  über  Vives'  religiöse  anschauungen  mag  ich  nicht 
eintreten,  so  viel  ich  sebe,  trifift  die  obige  ausführung  das  ricbtige. 
Osiander  (vgl.  anm.  14),  Lange,  Heine  versuchen  ihm  evangelische 
tendenzen  beizulegen,  Francken  s.  3  meint:  'geen  der  twee  groote  strij- 
dende  partijen  noemde  hem,  ten  volle  bar  eigendom',  Eraam  s.  176  und 
Altmeyer  s.  82  halten  dafür,  dasz  vom  anschlusse  an  die  reformation 
ihn  (las  mangelnde  Verständnis  tür  dieselbe  und  seine  friedensliebe  ab- 
gehalten haben,  Kaiser  s.  316,  320,  336,  342,  344  weist  ausführlich  seinen 
katholicifämus  nach,  ich  eitlere  nur  folgendes:  caus.  corr.  1,  5  (VI  41): 
nunc  quaecunque  ab  scholae  placitis  dissident,  scbolastico  theologo  sunt 
haeretica.  in  seiner  Verteidigung  des  sprachsturiiums  als  ungetährlich 
für  den  glauben  fährt  er  fort  caus.  corr.  2,  3  (VI  89):  auditis  dialecti- 
corum  acnmen?  (das  sind  die  Scholastiker,  welche  zum  beweise  für  ihre 
bebanptung  Luther  angeführt  haben.)  quid?  num  non  etiam  Lutherus 
dialecticiis,  et  Eophista ,  et  theologus  scholasticus?  et  quidem  magia 
quam  Latinus  .  .  .  quae  tuenda  susceperat,  dialectica  et  argumentatiun- 
culis  tutntus  est,  non  Unguis,  sed  fac  habere  linguas:  an  quidquid  vir 
malus  habet,  protinus  maliun  est?  nee  unde  venenum  quidem  sumit. ...  etc. 
sehr  deutlich  lieiszt  es  im  eingangs  seines  letzten  und  grö.sten  werkes: 
*ver.  fid.  1,  3  (VIII  22):  ego  vero  niliilominus  iam  nunc  initio  profiteor, 
sententiam  mutaturum  me,  edoctum  meliora:  ecclesiae  vero  iudicio  et 
sto,  et  stabo  scmper,  etiam  si  mihi  pro  parte  contraria  apertissima 
videatur  facere  ratio;  ego  enim  falli  possum,  et  fallor  saepissime; 
ecclesia  in  bis  rebus,  quae  ad  summam  pietatis  pertinent,  nunquam 
fallitur.  —  sein  commentar  zum  Augustinus  wurde,  wie  gesagt,  auf  den 
index  gesetzt. 

3^  dar.stellungen  seiner  theologie  liefern  Braam  und  Francken. 

3^  s.  namentlich  anm.  301. 


F.  Kuypers:  Vives  in  seiuer  pildagogik.  13 

dialektik,  welche  sich  der  grenzen  des  denkens  wohl  bewust  ist:  es 
geht  nämlich  ein  starker  skeptischer  zug  durch  seine  Philo- 
sophie; nicht  was  wir  wissen,  nur  was  wir  thun  sollen,  ist  ihm 
gewis.^^  in  der  dialektik  schlieszt  er  sich  Aristoteles,  in  der  ethik 
Plato  im  wesentlichen  an;  er  ist  nominalist,  ohne  sich  an  dem 
streite  gegen  die  realisten  hervorragend  zu  beteiligen.'"' 

Was  Vives'  rührigen  und  umfassenden  geist  bewegte,  das  hielt 
er  der  Übermittlung  an  die  mit-  und  nachweit  würdig:  er  ist  ein 
äuszerst  fleisziger  Schriftsteller,  es  ist  erklärlich ,  dasz  seine 
zahlreichen  Schriften  nicht  alle  das  gepräge  von  lange  durchdachten, 
klar  disponierten  und  knapp  gefaszten  abhandlungen  tragen:  er 
schrieb  mehr  aus  der  fülle  seines  herzens  und  wissens  heraus,  und 
so  bieten  sie  ein  bild  frischer  ursprünglichkeit  und  reicher  manig- 
faltigkeit. 

In  allen  seinen  anschauungen  zeigt  sich  in  hohem  masze  Selb- 
ständigkeit des  Urteils.'"  er  schlieszt  sich  nicht  einer  partei 
an,  sondern  sucht  selbständig  seinen  Standpunkt,  den  er,  frei  von 
extremen,  meistens  auf  einem  mittelwege  findet:  ein  grimmer  feind 
der  Scholastiker  und  doch  ein  treuer  söhn  seiner  kirche ,  ein  be- 
geisterter Verehrer  der  classischen  Studien  und  doch  ein  höhnender 
gegner  humanistischer  hohlheit,  ein  gründlicher  reformator  der 
Wissenschaften  und  doch  durchdrungen  von  ihrer  Unzulänglichkeit, 
ein  scharfer  tadler  der  kirchlichen  misstände  und  doch  betrübt 
wegen  der  glaubensspaltung,  ein  scheltender  prediger  gegen  lüge 
und  laster  und  doch  alle  mitmenschen  umfassend  mit  gleicher  liebe, 
so  steht  Ludovicus  Vives  über  den  parteien  jener  streiterfüllten 
epoche,  ohne  mit  vielen  seiner  groszen  Zeitgenossen  grosze  Ver- 
götterung und  grosze  anfeindung  geteilt  zu  haben. 


^^  von  hoher  philosophischer  besonneiiheit  zeugen  ausspiüche  wie 
diese:  caus.  corr.  1,  3  (VI  18):  eruditio  et  artes  .  .  .  necesse  est  eadem 
facie  et  natura  prodeant,  qua  sunt  ipsa  ingenia,  scilicet  prava,  detorta, 
vitiosa;  neque  enim  aliter  eruditio  ab  ingenio  unde  manat,  vel  foimam 
accipit,  quam  caseus  a  fiscella,  vel  naturara  resipit  ac  vinum  e  dolio. 
trad.  disc.  4,  1  (VI  348j:  nam  quod  nos  verum  esse  pro  certo  possimus 
confirmare,  rarum  est;  4,  6  (VI  375  f.):  ..  haud  ignari,  scientiam  per- 
raram  esse,  aut  nullam  potius,  opinionibus  stari  .  .  .  *ex  animae  intelli- 
gentia  et  captu  de  omnihus  feie  statuimus,  non  ex  rebus  ipsis.  *mor. 
erxid.  5,  1  (VI  417):  et  profecto  si  quis  rite  expendat  et  reputet  singula, 
comperiet  niliil  certius  a  nobis  quam  pietatem  nosci  .  .  philosophia  opi- 
nionibus tota  et  coniecturis  verisimilitudinis  est  nixa.  an.  et  v.  2,  praef. 
(III  342):  die  psychologie  bietet  die  grösten  Schwierigkeiten  propterea 
quod  supra  mentem  haue  non  habemus  aliam ,  quae  inferiorem  possit 
spectare   ac  censere. 

■*"  seine  Vorläufer  in  der  dialektik  sind  Valla  und  Agricola,  auf  ihn 
stützt  sich  namentlich  Ramus.  näheres  s.  Ritter,  gesch.  d.  christl. 
philos.  V,  Hamburg  1850,  s.  438  ff. 

"•^  iudieium  eins  celebratur,  quo  inter  III  viros  illos  R.  P.  constituendae 
litterariae  eiusdem  tempestatis  excelluit,  ut  Budaeo  ingenium,  Erasmo 
dicendi  copia,  Vivi  iudieium  tribueretur.  bibl.  hisp.  cit.  Pope-Blount 
s.  365. 


14  F.  Kuypers :  Vives  in  seiner  pädagogik. 

Vives'  werke  pädagogischen  Charakters. 

§  5.  Die  für  die  pädagogik  wichtigen  Schriften  unseres  encyclo- 
pädisten  sind,  in  chronologischer  reihenfolge  genannt,  diese:  Löwen 
1523:  de  institutione  feminae  christianae.  3  bücher  (IV  65 
— 301),  der  königin  Katharina  von  England  gewidmet:  eine  um- 
fassende darstellung  der  bildung  und  des  Verhaltens  des  weibes  als 
Jungfrau,  gattin,  witwe.  für  die  pädagogik  ist  fast  nur  der  erste 
teil  von  bedeutung.  neben  manchen  treölichen  anschauungen  enthält 
dieses  vom  geiste  der  askese  getragene  werk  forderungen,  die  dem 
empfindungsieben  des  weibes  nicht  rechnung  zu  tragen  scheinen.  *' 
Oxford  1523:  de  ratione  studii  puerilis.  2  kurze  Unterrichts- 
briefe (I  256  —  280),  der  erste  für  die  prinzessin  Maria  von  England, 
der  zweite  für  Karl  Montjoie  geschrieben,  gleich.-am  die  grundzüge 
seiner  späteren  pädagogik  enthaltend.  Brügge  1524:  introductio 
ad  sapientiam  ,  592  lebensregeln  (I  1 — 48),  sehr  häufig  gedruckt, 
in  viele  sprachen  übersetzt  und  als  'goldenes  büchlein'  mit  recht 
gerühmt.  Bi ügge  1531:  de  disciplinis,  könig  Johann  III  von 
Portugal  gewidmet,  der  erste  teil  umfaszt  7  bücher  de  causis  cor- 
ruptarum  artium  (VI  8 — 242),  eine  encyclopädische  kritik  der 
Wissenschaften  mit  darstellung  der  gründe  ihres  Verfalls,  ein  epoche- 
machendes werk  von  dauernder  bedeutung.  daran  schlieszen  sich 
5  bücher  de  tradendis  disciplinis  (VI  243  —  4 16),  die  hauptquelle 
seiner  pädagogik;  sie  wollen  die  positive  ergänzung  des  ersten 
teiles  liefern,  den  schlusz  bildet  die  aus  2  capiteln  bestehende  ab- 
handlung  de  vita  et  moribus  eruditi  (VI  416 — 437),  welche  das 
Idealbild  eines  christlichen  gelehrten  entwirft.''^  Breda  1538: 
exercitatio  linguae  latinae,  eine  reihe  von  lat.  dialogen  für 
den  gebrauch  <les  schülers  (I  283 — 408),  dem  erbprinzen  Philipp 
(Philipp  II)  gewidmet;  es  hat  die  tendenz,  den  sprachumfang  des 
lateini.-chen  für  den  modernen  gebrauch  zu  erweitern,  ist  das  ver- 
breit etste  buch  des  Verfassers  und  noch  heute  brauchbar.  Brügge 
1538:  de  anima  et  vita,  3  bücher  (III  300—520),  dem  herzog 
Franz  von  Bearn  (Franz  I)  gewidmet,  die  psychologischen  anschau- 
ungen Vives'  oft  im  anschlusse  an  Aristoteles  durstellend. 

Ausserdem  finden  sich  pädagogische  gedanken  in  folgenden 
abhandlungen: 

1519:  in  pseudo-dialecticos ;  diese  für  Vives'  leben  bedeutungs- 
volle Schrift  ist  ein  kurzer  scharfer  angriS"auf  die  Scholastiker  s.  s.  6 
(III  37  —  68).  1519:  sapiens  (inquisitio  sapientis),  eine  kurze  sar- 
kastische darstellung  des  Pariser  unterrichtsbetriebs  in  dialogischer 


*2  von  diesem  vorwürfe  dürfte  Kaiser  es  vergebens  frei  zu  sprechen 
suchen. 

^^  ich  möchte  in  demselben  Vives  selbst  sehen,  ein  dritter  in  der 
Baseler  ansp:.  angeschlossener  teil,  eine  Sammlung  logisch-metaphys. 
abhanilluiigfn,  ist  in  besserer  anordnung  von  Majans  aus  diesem  zu- 
sammenbange gelöst. 


F,  Kuypers:  Vives  iu  seiner  pädagogik.  15 

form  (IV  22  —  30).  1524:  satellitium  animi  (satellitium  vel  sjra- 
bola),  213  kurze  Sprüche  mit  erklärendem  texte  für  die  prinzessin 
Maria  von  England  geschrieben  (IV  30—64).  1526:  de  subventione 
pauperum  2  bücber,  s.  s.  7  f.  (IV  420  —  494).  1526:  de  officio 
mariti,  ein  gegenstück  zu  de  inst.  fem.  Christ.  (IV  302  —  419). 
1531:  de  ratione  dicendi,  3  bücber  (II  93  —  237),  ein  wichtiges, 
neue  auffassungen  enthaltendes  werk.  vgl.  §  49  f.  1541:  de  veritate 
fidei  christianae,  5  bücber  s.  s.  8  (VIII  5-458)."* 

System  der  pädagogik. 
Das  object  der  pädagogik. 

Die  menschennatur  im  allgemeinen.''^ 
§  6.  Der  mensch  besteht  aus  leib  und  seele.  ""^ 
Die  seele  ist  ein  unsterblicher  geist",  aus  liebe  von  gott  ge- 
schaffen und  bestimmt,  durch  liebe  in  ihn  zurückzukehren/®   aus 


**  unter  den  verloren  gep^angenen  Schriften  werden  erwähnt:  de 
constituenda  (n.  a.  construenda)  schola,  de  ratione  linguarum,  usus 
linguae  latinae.  in  absieht  hatte  Vives  nach  seiner  angäbe  de  sapientia 
christiana.  vgl.  N.  Antonius  s.  555,  Paquot  s.  123,  Majans  s.  169,  180  f., 
Nam^che  s.   119. 

*^  über  die  Stellung  des  menschen  in  der  natur  führe  ich  schema- 
tisch an,  was  Vives  weitläufig  entwickelt:  an.   et  v.  1,  1 — 12  (III  300 ff.). 

rerum  natura 


torpida  viventia 


expertia  praedita 

cognitione  cognitione 

animal               animal  animal 

senliens  cogitans  rationale 

(stirpanimantia       (bruta  (homo 

s.  300)               s.  326)  s.  329) 

I                           i  I 

sensus               sensus  intelligentia        voluntas         memoria 

exteriores  interiores  sive  mens 

(cognitio  rerum  (cogn.  rer.  (cogn.  rer, 

praesentium)  alisentium)  spiritualium) 


imaginatio    phantasia     sensus  communis     'hominis    auiraa    qua    est 

hominis'  (s.  341). 
die  vollkommenere  gattung  schlieszt  die  eigenschaften  der  unvollkomme- 
neren mit  ein.  an.  et  v.  1,  12  (III  335):  nee  immerito  illud  fere  pla- 
cuit,  hominem  parvum  quendam  mundum  appellari  quod  vim  naturamque 
rerum  omnium  sit  complexus.  der  mensch  als  mikrokosmos  s.  auch  ver. 
fid.   1,  5  (VIII  30),  vigilia  in  somnium  Scipionis  (V   157). 

*'^  off.  mar.  (IV  320):  homo  ex  corpore  constat  et  animo.    ähnlich  oft. 

^^  beweise  für  die  Unsterblichkeit  der  seele  s.  an.  et  v.  2,  19  (III  404 ff.), 
ver.  fid.  1,   1-2  (VIII  109). 

^^  an.  et  v.  1,  12  (III  334):  homo  vero  supra  coelos  etiaro  ascendit 
ad  Deum  ipsum;  divina  est  ergo  illius  origo.  trad.  disc.  1,  4  (VI  256): 
amor  causa  fuit  condendi  nostri.  *ver.  fid.  1,  11  (VIII  91):  amore  ... 
impulsore  nos  condidit  Deus,  amore  revocat  ac  reducit;  amoris  janua  ab 


16  F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik. 

diesem  endaiele  entspringt  als  hauptvermögen  der  seele  der  wille, 
die  fäbigkeit,  das  gute  zu  begehren,  das  schlechte  zu  fliehen;  velle 
instar  omnium.  sat.  an.  21  (IV  35).  als  Wegweiser  dient  dem 
willen  das  erkenntnisvermögen  und  als  'Vorratskammer'  für  die 
erworbenen  erkenntnisse  das  gedächtnis.^'  der  wille  des  menschen 
ist  frei.^"  der  intellect  besitzt  die  kraft  der  auffassung,  der  Zu- 
sammenfassung und  des  Urteils.^'  letzteres  liefert  die  motive  für 
den  willen.'^''   'wie  der  erde  eine  gewisse  kraft  innewohnt  zur  her- 


illo  exivimus,  eadem  ipsa  est  revertenrlum.  trad.  disc.  1,  4  (Vi  255): 
fiuis  hominis  quem  aliuni  possumus  statuere  quam  Deum  ipsum,  aut  ubi 
potest  homo  beatius  acquieseere  quam  in  Deo  velut  absorptus  et  in 
illum  conversus.  eadem  via  redeundum  est  nobis  ad  illum,  qua  egressi 
sumus.  vgl.  das  letzte  buch  von  ver.  fid.  seine  anschauungen  über  den 
supranaturalistischen  charakter  des  menschen  systematisch  bei  Braam 
§  5-8. 

^8  an.  et  v.  2,  einl.  (III  341):  homini  quod  ad  sempiternum  illud 
bonum  sit  conditus,  facultas  est  tributa  bona  expetendi  ..  .  quae  facultas 
voluntas  nominatur;  non  expetet  autem  nisi  intellegat,  unde  altera  existit 
facultas,  quae  intelligentia  nominatur,  quoniam  vero  auimus  noster  non 
semper  eadem  in  cogitatione  insistit  .  .  .  receptaculo  fuit  illi  opus,  in 
quod  priora  cogitata,  aliis  subeuntibus,  conderet  ....  huic  muneri  me- 
moria e.st  nomen :  ita  hominis  anima,  qua  est  hominis,  ox  tribus  constat 
praecipuis  sive  functionibus.  ebenso  ver.  fid.  4,  l  (VIII  366),  hingegen 
1,  5  (VIII  30  f.)  anders.  *trad.  disc.  4,  3  (VI  356):  in  homine  ins  ac 
imperium  summum  est  penes  voluntatem,  ratio  et  iudicium  velut  con- 
sultores  sunt  illi  attributi.  die  begriffe  anima  als  seelische  kraft  über- 
haupt, lebenskraft,  und  animns  als  menschenseele  unterscheidet  Vives 
fast  consequent.  weniger  scharf  sind  die  beueichnungen  mens,  animns, 
intelligentia,  iudicium,  ratio  etc.  gegen  einander  fixiert,  intr.  sap.  5,  118  f. 
(I  10  f.)  gibt  er  folgende  einteiliing  der  menschlichen  Seelenvermögen: 
mens,  quae  intellegit,  merainit,  sapit,  ratione,  Mudicio  utitur  ac  valet  .  .  . 
qua  alteris  animantibus  praestamus  .  .  .  aninius  ex  coniunctione  cor- 
poris .  .  sitz  der  iiäQr]  .  .  qua  nihil  a  beluis  differimus  et  quam  lon- 
gissime  discedimus  a  Deo.  off.  mar.  (IV  320):  in  animo  tamquam  duae 
sunt  partes,  superior  in  qua  iudicium,  con^ilium,  ratio,  quae  mens  di- 
citur,  inferior  vero,  in  qua  motus  illi  .  .  .  quae  Graece  irdSr)  nominantur. 
vgl.  auch  ver.  fid.  3,  2  (VIII  267),  off.  mar.  3  (IV  367). 

^  ver.  fid.  4,  1  f.  (VIII  364  ff.)  belehrt  er  die  Muhammedaner  über 
die  Willensfreiheit,  ver.  firl.  1,  10  (VIII  84).  in  ordinatioiie  naturae 
voluntates  nostrae  liberae.     selir  deutlich  ver.  fid.  1,  17   (VIII  130). 

^'  trad.  disc.  2,  3  (VI  286):  ingenii  partes  sunt  acies  ad  intuendum, 
capacitas  ad  coniprehendendum,  collatio  ad  iudicium.  auch  liier  ist  er 
nicht  consequent:  trad.  disc.  1,  5  (VI  362)  unterscheidet  er  blosz:  vis 
intuendi,  quae  dicitur  mentis  obtutus  seu  acumen,  et  eorum  quae  mens 
aspexerit  vis  quaedam  iudicandi,  ac  statuemli.  an.  et  v.  2,  einl.  (III  343) 
hingegen:  ergo  liaec  in  animo  rationali  mnnera,  voluntas,  memoria, 
mens,  et  sub  mente  simplex  intelligentia,  consideratio,  recordatio,  col- 
latio, discursus,  censura  seu  iudicium,  contemplatio. 

'•''■'  trad.  disc.  1,  5  (VI  262):  während  die  seele  die  weit,  sich  selbst 
und  gott  betrachtet,  wird  dem  urteile  Stoff  zugeführt:  quae  omnia  .  .  . 
accepta  tradit  iudicio,  hoc  vero  alia  aliis  confert,  et  inter  se  et  secum 
ipsa;  tum  ostindit,  quae  utilia,  quae  noxia,  quae  neutra  sint  .  .  .  illud 
prius  (vis  intuendi)  ad  spectafionem  soluni  pertinet,  posterius  (vis  iudi- 
candi) ad  ea  quae  sunt  homini  agenda.  an.  et  v.  2,  einl.  (III  343): 
voluntas  autem  nihil  sequitur,    aut  fugit,  quod  iudiiium  non  ccnsuerit 


F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik.  17 

vorbringung  von  kräutern  aller  art,  so  sind  die  samen  aller  Wissen- 
schaften gleichsam  potentiell  in  unsere  seele  gelegt,  auszerdera  eine 
gewisse  geneigtheit  für  die  ersten  und  einfachsten  Wahrheiten,  wo- 
hin sie  von  selbst  getrieben  wird:  wie  der  wille  zu  den  offenbarsten 
gütern,  so  der  intellect  zu  den  olfenbarsten  Wahrheiten,  ähnlich  wie 
das  äuge  zum  grünen,  das  ohr  zur  harmonie.'^'  das  gedächtnis, 
die  fähigkeit  der  seele,  das,  was  sie  durch  einen  äuszeren  oder 
inneren  sinn  erkannt  hat,  festzuhalten,  hat  wie  die  band  zwei  ver- 
mögen 'fassen'  und  'behalten',  welche  nicht  immer  in  gleichem 
grade  verbunden  sind,  die  letztere  kraft  äuszert  sich  in  'schneller' 
und  'treuer'  reproduction.^* 

Der  leib  ist  einerseits  der  dankle  kerker  der  seele,  der  die 
völlige  erkenntnis  gottes  und  die  gänzliche  hingäbe  an  ihn  hindert 
und  die  einsieht  in  die  metaphysische  Wesenheit  der  dinge  ver- 
schlieszt",  anderseits  ist  er  es,  der  durch  die  sinne  erst  die  auszen- 
welt  vermittelt,  darum  ist  er  bedeutungsvoll  für  die  seele;  denn  die 
sinnliche  anschauung  ist  die  grundlage  aller  erkenntnis;  ohne 
die  betrachtung  der  natur  durch  die  sinne  ist  Wissenschaft  unmög- 
lich, die  sinne  liefern  das  einzelne,  von  welchem  aus  die  seele  sich 
zu  allgemeiner,  begrifflicher  erkenntnis  auf  dem  wege  der  induction 
erhebt.  ■  ®  die  i  n  t  e  1 1  e  c  t  u  e  1 1  e  fähigkeit  des  menschen  ist  von  seiner 
körperlichen  beschaflfenheit  wesentlich  abhängig,  welche  ihrerseits 
wieder  hauptsächlich  durch  die  ernährung  bestimmt  wird,  ins- 
besondere ist  der  zustand  des  gehirns  ausschlaggebend,    vor  allem 

priiis  bonum  esse,  aut  malura.  intr.  sap.  6,  122  (I  11):  idcirco  raenti 
indita  est  vis  intellegendi  ut  singula  expendat ,  sciatque  quid  factu 
bouum  Sit  qnid  secus.     ähnlich  intr.  sap.  6,   123  (I   11)  und  öfter. 

53  *trad.  disc.  1,  2  (VI  250):  ...  ad  prima  illa  ac  simplicissima 
pronitas  quaedam,  quo  nutu  suo  fertur,  ut  ad  manifeslissima  bona  vo- 
luntas ,  ad  mauifestissimas  veritates  mentis  acies.  vgl.  ebenda  velut 
potestate  quadam  sunt  indita  semina  mit  trad.  disc.  3,  5  (VI  324): 
nullum  est  enim  humanum  ingenium  ....  quod  non  semina  artium 
omnium  quaedam  a  natura  acceperit,  sive  re  ipsa  illinc  sint  ea,  sive 
potestate,  de  quo  non  dispute,  s.  auch  de  instrumeuto  probabilitatis 
1   (III  82),  an  et  v.  2,  4  (III  357). 

s*  an.  et  v.  2,  2  (III  345):  memoria  est  facultas  anirai,  qua  quis 
ea  quae  sensu  aliquo  externo  aut  interno  cognovit,  in  mente  continet. 
an.  et  v.  2,  2  (III  346):  memoriae  sicuti  et  manus  duae  sunt  vires,  ap- 
prehendere  et  retinere  .  .  .  quae  duae  partes,  ilico  et  bona  fide  reprae- 
sentare,  illius  sunt  quod  retinere  nominavi.  als  eigenschaften  eines 
guten  gedächtnisses  nennt  er  trad.  disc.  2,  4  (VI  291) :  facile  percipere 
et  fideliter  continere  nach  Quintilian,  dem  er  sich  überhaupt  in  der 
lehre  vom  gedächtnis  anschlieszt.     vgl.  §  14  f. 

55  *vigilia  in  somnium  Scipionis  (V  156):  est  enim  corpus  hominis, 
seu  amiculum ,  seu  vincula,  seu  carcer,  seu  quo  alio  appellari  übet 
nomine,  s.  a.  anm.  175.  über  die  angedeutete  auffassung  im  sinne  der 
Pythagoreer  und  Piatons  s.  ver.  fid.   1,    17  (VIII  127). 

58  *trad.  disc.  4,  1  (VI  348):  hi  (sensus)  sunt  enim  ad  cognitionem 
omnem  aditus.  *1,  1  (VI  250):  quidquid  nunc  est  in  artibus,  in  natura 
prius  fuit,  non  aliter  quam  uniones  in  concha,  aut  gemmae  in  arena. 
näheres  über  Vives'  inductionslehre  s.  anm.  301  f. 

N.  jahib.  f.  phil.  u.  päd.  II.  abt.  1897  lift.  1.  2 


18  F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik. 

ist  es  aber  das  gedächtnis,  dessen  gute  von  der  des  gehirns  abhängt." 
der  connex  zwischen  leib  und  seele  läszt  ferner  einen  bedeutenden 
einflusz  auf  die  affecte  der  letzteren  durch  körperliche  zustände 
zu.*®  die  quelle  des  lebens  ist  nicht  das  gehirn  sondern  das  herz.'"* 
Durch  den  misbrauch  des  freien  willens  im  sündenfalle  ist  der 
wille  zum  bösen  geneigt,  die  erkenntnis  geschwächt,  und  so  die  ur- 
sprüngliche harmonie  im  menschen  gestört,  die  dona  supernaturalia 
sind  ihm  verloren  gegangen,  die  möglichkeit  ihrer  Wiedererlangung 
ist  durch  Christus  einem  jeden  geboten  worden,  die  Prädestination 
ist  zu  verwerfen,  da  der  gebrauch  jener  möglichkeit  der  freiheit  des 
einzelnen  anheim  gestellt  ist.  die  erziehung  soll  dabei  behilflich  sein.^° 

"  *trad.  disc.  3,  4  (VI  319):  victns  ratio  et  ad  mentis  aciimen  et 
vigorem  memoriae  plnrimum  in  omnem  partem  confert;  2,  3  (VI  288): 
expedit  iis,  qui  tenuissimos  habeiit  ac  lucidissimos  Spiritus,  incrassari, 
ut  ingeniis  praeacutis,  ne  quo  non  oportet  evolent.  diese  erwägung  soll, 
nach  Vives'  Vermutung,  Piaton  bei  der  wähl  des  ortes  für  seine  Aka- 
demie bestimmt  haben.  —  an.  et  v.  1,  12  (III  340):  (instrumentiim)  ad 
videndura  enim  ocjulus^  ad  audiendum  auris  .  .  .  intelligentiae  quidem,  et 
cognitionis  omnis,  cerebrum,  et  in  eo  spiritus  quidam  tenuissimi,  ac 
pellucidi.  trad.  dise.  2,  3  (VI  288):  sin  vero  acuitur  et  augetur  prae- 
sertim  circum  cerebrum,  insaniunt.  —  an.  et  v.  2,  2  (III  346):  memoriae 
sedes  ac  velut  fabrica ,  in  occipitio  est  a  natura  coliocata,  admira- 
bili  sapientia,  quod  praeterita  cernat  .  .  .  apprehendunt  facile  qui  humido 
sunt  cerebro  .  .  .  biliosi  ad  retinendum  sunt  aptiores,  ubi  semel  appre- 
henderunt  .  .  .  iuvenes  propter  calorem,  et  humores  puriores,  plus  pol- 
lent  memoria,  quam  senes;  ähnlich  s.  347;  s.  348:  difficile  item  rccipiunt 
qui  in  occipitio  frigidos  habent  humores,  ac  proinde  duros,  quorum  est 
natura  ad  impressionem  saxea. 

^»^  trad.  disc.  2,  3  (VI  288  f.):  daselbst  werden  unter  der  Überschrift: 
ingeniorum  mira  varietas  osteuditur  die  einflüsse  äuszerer  und  körper- 
licher zustände  auf  das  Seelenleben  weitläufig  dargestellt,    vgl.  anm.  100. 

^'^  *an.  et  v.  1,  12  (III  340):  vitae  autom  fons  est  cor  .  .  .  multa 
quidem  in  animante  sunt  membra  et  intus  et  foris  .  .  .  cuiusmodi  sunt 
Caput,  cor,  hepar  .  .  .  non  tamen  ideo  fontes  sunt  vitae  illa  omuia,  sed 
cor,  quod  primum  in  corpore  animantis  vivit  .  .  ultimum  emoritur.  be- 
weise ebenda. 

""  ver.  fid.  1,  3  (VIII  15  f.):  mens  nostra  natura  expetit  vera,  vo- 
luntas  bona  ...  et  quanta  est  facta  inclinatio  a  veritate  ad  fabulas,  a 
bono  in  malum?  degeneravit  ergo  natura  nostra  a  recta  sua  condi- 
tione  ac  via.  trad.  disc.  2,  3  (VI  287) :  neque  enim  dubitandum  est, 
minus  nos  nunc  valere  ingenio,  quam  ante  primum  illud  scelus;  at  nunc 
astutiores  sumus  in  flagitiis.  off,  mar.  (IV  307):  ipse  peccato  sno  et 
virtutum  semina  corrupit,  et  lucem  illam  ingenii  obscuravit.  trad.  disc. 
5,  3  (V^I  402):  nee  dubitandum  est,  quin  ea  ordinatio  (näml.  corpus  de- 
bere  ohsequi  animo,  in  animo  vero  motus  rationis  expertes  rationi  ipsi 
dominae  ac  iraperatrici)  in  homine  fueril,  quum  ille  primum  e  manibus 
artificis  exiret  sibi  relictus  .  .  .  sed  enimvero  omnia  sunt  per  scelus  in- 
versa,  ut  superiores  partes  deposcat  sibi  inferius  .  .  .  haec  est  aeterna 
in  homine  militia.  vgl.  damit  fem.  christ.  2,  11  (IV  262):  caro  peccati 
proclivis  in  malum  a  sua  origine.  —  über  die  weitere  bedeutung  der 
erbsünde  bei  Vives  s.  Braam  s.  80  f.,  Francken  s.  82  f. ,  die  ihre  aus- 
fühningen  hauptsächlich  stützen  auf  ver.  fid.  1,  15  (VIII  113  ff.).  — 
off,  mar.  (IV  307  f.):  caligo  haec  cordis  (näml.  die  durch  die  erbsünde 
veranlaszte)  doctriua  discutitur  atque  illustratur,  et  prava  animi  procli- 
vitas  moribus  et  consuefactione  in  melius  flectitur;  sed  huic  tarn  laesae 


F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik,  19 

Die  kindesnatur  im  besonderen. 
§  7.  Der  mensch  durchlebt  von  seinem  ersten  anfange  bis  zum 
greisenalter  gleichsam  alle  drei  arten  organischen  lebens,  als  pflanze, 
tier  und  mensch,  den  Übergang  von  der  zweiten  zur  dritten  bilden 
die  hauptsächlich  der  erziehung  gewidmeten  kinderjahre.  der  ver- 
stand ist  dann  schwächer,  das  gedächtnis  stärker,  der  wille  bieg- 
samer als  bei  erwachsenen."'  daraus  entspringen  Unselbständigkeit, 
empfänglichkeit,  nachahmungstrieb  und  hang  zu  gewohnheiten.®^ 

Die  Individualität. 
§  8.  Der  mensch  hat  sowohl  dem  leiblichen  und  geistigen  zu- 
stande wie  auch  den  äuszeren  Verhältnissen  nach  individualcharakter, 
welcher   bei   erziehung  und   Unterricht   im   höchsten  grade  zu  be- 
rücksichtigen ist." 

Die  aufgäbe  der  pädagogik. 

§  9.  Den  menschen  seiner  überirdischen  bestimmung  entgegen, 
zu  führen,  das  ist  die  hauptaufgabe  der  erziehung.    allein  es  sind 


ac  vitiatae  naturae  opus  est  cura,  tempore,  labore,  assiduitate;  *  (IV  322): 
summa  haec  est:  hominem  semper  futurum  hominem,  hoc  est  animal 
imbecillum   .  .  .   proclivitate  malum,  quod  disciplina  emendatur.     exerc. 

1.  lat.  dialog  princeps  puer  (I  372)  wird  dem  juugen  Philipp  II  als  zweck 
der  Unterweisungen  vorgehalten:  non  quo  te  reddant  mancipium,  sed 
ut  vere  liberum,  et  vere  principem,  quibus  si  non  obtemperaveris  tum 
demum  servus  eris  extremae  <'onditionis, 

6*  an.  et  V.  1,  12  (III  339):  infans,  dum  corporatur  in  utero  nihil 
fere  distat  ab  stirpe,  natus  autem  a  bruto ,  et  quemadmodum  Paulus 
inquit,  vivit  prius  quod  est  animale,  hinc  quod  est  ratione  praeditum. 
exerc.  1.  lat.  dial.  prima  salutatio  (I  285)  fragt  der  vater  seinen  söhn, 
ob  er  mehr  sein  wolle,  als  der  hund  ,  mit  welchem  er  spiele,  auf  die 
bejahende  antwort  des  kleinen  erwidert  jener:  fiet,  si  eas,  quo  eunt 
beluae,  redeunt  homines  ...  in  die  schule.  —  trad.  disc.  3,  2  (VI  309) 
stimmt  Vives  Quintilian  bei,  wenn  dieser  den  geist  des  kindes  einem 
weiten  gefäsze  mit  enger  mündung  vergleiclit,  das  zwar  viel,  aber  dieses 
nur  tropfenweise  aufnehmen  kann.  *trad.  disc.  3,  3  (VI  310):  multa 
ei  (memoriae)  commendentur  cum  cura,  nam  illa  aetas  laborem  non 
sentit,  quia  non  expendit;  ita  extra  laborem  omnem  dilatatur  memoria 
et  fit  capacissima  .  .  .  quod  viris  operae  censoribus  esset  subacerbura, 
puerili  aetate  est  etiam  saepenumero  suave;  2,  4  (VI  293):  dici  non 
potest  quot  pravas  affectiones  pueri  iraprudentes  hauriant,  nihil  existi- 
mantes  inesse  flagitii;  at  eas  quum  notiores  iam  conantur  depellere, 
difficile  admodum  suscipiunt  negotium;  egerunt  enim  radices,  et  crebro 
suppullulant. 

^2  trad.  disc.  2,  2  (VI  280)  spricht  er  vom  cereum  ingenium  der 
kinder  (Horaz).  stud.  puer  1(1  258):  durantque  in  reliquam  vitam  quae 
ista  aetate  percipiuntur.  trad.  disc.  2,  2  (VI  279):  res  est  consuetudo 
dulcissima  et  opiuiones  illa  aetate  acceptae  diutissime  nos  in  reliquum 
vitae  prosequiintur  ...  ad  haec  sunt  pueri  naturaliter  simii ,  imitantur 
omnia  et  semper,  eos  praecipue  quos  propter  auetoritatem,  et  quam 
illis   habent   fidem,    dignos   imitatione    iudicant.     ähnlich  2,  3  (VI  290); 

2,  4  (VI  293);  4,  4  (VI  367);  ofif.  mar.  2  (IV  357). 

^^  der  Individualität  schenkt  Vives  ganz  hervorragende  beachtung. 
vgl.  die  besprechung  der  einzelnen  Unterrichtsfächer  und  anm.  299. 

2* 


20  F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik. 

auch  seine  irdisclien  ziele  eifrig  zu  fördern,  soweit  es  unbeschadet 
der  himmlischen  geschehen  kann,  das  ist  vorwiegend  sache  des 
Unterrichts.*'  pietas  und  utilitas  zu  fördern  ,  ist  somit  die 
aufgäbe  der  pädagogischen  thätigkeit.  ^'^ 

Dabei  bedeutet  pietas  moralität,  tugend.  utilitas  ist  nicht 
materiell  zu  verstehen,  sonst  aber  im  weitesten  sinne  zu  fassen,  geld, 
sorgenfreies  leben,  rühm  gehören  nicht,  foi-male  und  schöngeistige 
bildung,  Unterhaltung  gehören  wohl  zu  den  zwecken  des  Unterrichts.*^ 

§  10.  Das  erste  ziel  ist  dem  zweiten  übergeordnet;  dai'um 
sind  vom  unterrichte  auszuschlieszen  alle  die  Wissenschaften  und  aus 


^'  ich  wähle  diese  ausdrücke  a  parte  potiori;  natürlich  ist  auch 
der  Unterricht  erziehend,  die  erziehuno^  unterrichtend,  erziehung  ver- 
stehe ich  hier  im  engern  sinne  als  erziehung  des  willens  zur  moralität. 
(vgl.  §  12).  erziehung  im  weiteren  sinne  umfaszt  die  formale  ausbildung 
der  Seelenkräfte,  wozu  auch  die  lebenserfahrung  gehört,  im  gegensatze 
zu  deren  materialer  bereicherung,  welche  vorwiegend  durch  den  Unter- 
richt erfolgt,  es  musz  theoretisch  geschieden  werden,  was  in  praxi 
meistens  nicht  zu  scheiden  ist.  es  scheint,  dasz  auch  Vives  dieser 
unterschied  vorschwebt,  wenn  er  sagt:  *an.  et  v.  2,  8  (III  372);  dis- 
ciplina  est  duplex,  altera  est  appositio  qualitatis  in  animo  ut  cum  lingua 
nova  traditur  .  .  .  altera  est  eductio  ingenii  de  potestate  in  actum  .  .  . 
ut  nihil  videatur  aliud  docens  agere,  quam  quod  sol,  cum  vi  sua  pro- 
fert  ex  seminibus  gerniina,  proditura  alioqui  per  se,  sed  non  tarn  feli- 
citer,  nee  tarn  cito,     (ersteres  Unterricht,  letzteres  erziehung.) 

^'^  *trad.  disc.  1,  4  (VI  261):  welche  Wissenschaften  soll  der  christ 
treiben?  quaenam  aliae  nisi  quae  ad  finem  pertineant  vel  huic  vitae, 
vel  sempiternae  necessarium?  nempe  quae  vel  pietatem  excolant,  vel 
vitae  necessitatibus  succurrant,  vel  certe  utilitatibus,  quae  a  necessi- 
tate  non  multum  disct-dunt;  pietatem  porro  vel  nostram  ipsorum  dico, 
vel  alienam,  quemadmodum  etiam  nucessitates.  ferner  4,  1  (VI  347,  348) 
und  oft  bei  den  einzelnen  Unterrichtsfächern,  vgl.  anm.  32.  exerc.  1.  lat. 
dial,  scriptio  (I  320):  disce  puer,  quibus  fias  sapientior  et  proinde  melior. 

^^  die  ausdrücke  pietas,  religio,  virtus  werden  von  Vives  häufig 
identisch  gebraucht,  es  ist  das  rechte  verhalten  sich  selbst,  den  men- 
schen und  gott  gegenüber,  das  wir  gemeiniglich  ^tugend'  nennen,  intr. 
ßap.  3,  18  (I  3):  virtutem  voco  pietatem  in  deum  et  homines,  cultum 
dei ,  et  amorem  in  homines  voluntatemque  benefaciendi;  6,  134  (I  12): 
.  .  .  virtutem,  hoc  est  recte  agere.  dasz  sie  ihm  als  höchstes  ziel  vor- 
schwebt, geht  schon  aus  den  zahlreichen  lobpreisungen  der  virtus  in 
intr.  sap.  und  satell.  an.  hervor,  es  ist  vorwiegend  praktisches 
handeln,  nicht  theoretische  Weltanschauung  ziel  seiner  pä- 
dagogik. intr.  sap.  3,  35  (I  4):  porro  in  ipso  animo  eruditio  in  hoc 
paratur,  ut  cognitum  Vitium  facilius  fngiamus,  cognitam  virtutem  fa- 
cilius  persequamur,    teneamusque,    alioqui  supervacanea  est.     an.  et  v. 

1,  12  (III  332):  nee  qui  iussit,  ut  ipsi  nos  nossemus,  de  essentia  animae 
sensit,  sed  de  actionibus  ad  compositionem  morum,  ut  vitio  depulso 
virtutem  sequamur.  daher  die  wenigen  dogmensätze  im  religionsuntcr- 
richte,  die  vielen  sittlichen  Vorschriften,  der  besondere  moralunterricht. 
vgl.  §  31.  über  die  zwecke  des  Unterrichtes  vgl.  trad.  disc.  2,  2  (VI  278): 
iani  vero  quum  ad  scholam  deducetur  puer  a  patre,  ostendatur  patri  non 
litteras    debere    quaeri    velut  instrumentum,    quo  paretur  otiosus  victus. 

2,  3  (VI  285,  286):  quum  deducetur  ad  scholas  puer,  sciat  pater  quem 
tandem  existimare  debet  fructum  laboris  studiosi,  videlicet  non  honorem 
aut  pecuniam ,  sed  animi  culturam ,  rem  eximii  atque  incomparabiiis 
pretii,  ut  doctior  fiat  iuvenis  et  per  sanam  doctrinam  virtute  melior. 


F.  Kuyijers:  Vives  in  seinei-  pädagogik.  21 

allen  Wissenschaften  die  punkte,  welche  die  tilgend  gefährden."  ist 
dieses  nicht  ganz  durchführbar,  wie  z.  b.  bei  der  lectüre  der  classiker, 
so  tritt  als  gegengewicbt  für  diese  zeit  ein  besonderer  moralunter- 
richt  ein.  ®' 

Das  zweite  ziel  darf,  obgleich  es  untergeordneter  natur  ist, 
durchaus  nicht  aus  dem  äuge  gelassen  werden.®^  zu  erstreben  ist, 
dasz  die  Wissenschaft  beide  ziele  verfolgt,  um  ihrer  selbst  willen, 
ohne  rücksicht  auf  unseren  irdischen  oder  überirdischen  vorteil,  wird 
keine  Wissenschaft  betrieben.'"' 

§  11.  Dem  ganzen  menschen,  seinem  sittlichen,  geistigen  und 
leiblichen  zustande,  soll  der  erfolg  zu  gute  kommen,  auszer  den 
Interessen  des  individuums  kommen  bei  der  gestaltung  von  unter- 

"  trad,  disc.  1,  2  (VI  248):  sola  utique  pietas  via  est  perficiendi 
hominis;  quare  haec  una  est  rerum  omnium  necessaria:  sine  ceteris 
expleri  potest  homo  .  .  .  sine  hac  non  potest;  *1,  4  (VI  SGI'):  nunc  autem 
quae  artes  Cbristianis  congruant,  salva  pietatis  suae  custodia,  osten- 
damus.  nam  haec  quod  snepe  diximus,  saepe  est  enim  dicendum,  prima 
semper  debet  ante  ocnlos  obversari,  nee  ab  illa  mentis  intentione  dimo- 
vendum;  2,  4  (VI  296):  pietas  est  quo  referuntur  omiiia.  intr.  sap.  3,  17 
(I  3):  regjna  et  princeps  rerum  omnium  praestantissima  est  .  .  virtus; 
cui  reliqua  omnia,  si  suo  velint  officio  defungi,  ancillari  oportet,  vgl. 
satel!.  an.  7,  8,  9,  14,  45,  46,  47,  73,  74,  100  usw.  (IV).  *trad.  disc.  2,  1 
(VI  276)  sogar:  doctrina  enim,  cui  non  respondet  vita,  res  est  perni- 
ciosa ac  turpis.  —  *intr.  sap.  6,  124  (I  11):  igitiir  fugiendae  artes  omnes, 
quae  cum  virtute  pugnaut,  quales  sunt  divinatrices  omnes  .  .  .  ut  chiro- 
mantia,  pyromantia,  necromantia,  hydromantia,  etiam  astrologia.  trad. 
disc.  1,  4  (VI  259):  .  .  .  velut  inquisitio  rerum  naturae,  rerum  recondi- 
tarnm,  quae  vel  locis  secretis  occultantur  vel  temporibus  venturis  in- 
volvuntur,  quas  dominus  sibi  uni  reservavit  .  .  .  libri  in  quibus  contra 
veritatem  se  armat  ingenium  .  .  .  tum  multa  in  poetis,  pleraque  omnia 
in  cantiunculis  ac  libris  vulgaribus  Unguis  conscriptis.  intr.  sap.  6,  131 
u.  132  (I  12)  werden  ketzerische  und  schmutzige  auctoren  verboten, 
durch  seine  abneigung  gegen  mantiscbe  künste  unterscheidet  sich  Vives 
vorteilhaft  von  bedeutenden  gleichzeitigen  und  späteren  pädagogen. 

^5  *trad.  disc.  3,  6  (VI  330):  sed  quieunque  auctores  enarrabuntur 
(bei  der  classikerlectüre)  semel  atque  iterum  per  hebdomades  singulas 
de  moribus  andient  nonnulla,  quae  vitiis  auditorum  medeantur,  vel  ut 
pellantur,  vel  ut  ne  invadant  atque  invalescant. 

^'^  trad.  disc.  1.  4  (VI  259):  sed  quamvis  nulla  eruditio  et  peritia 
pietati  non  serviat  ex  se,  non  hoc  tarnen  est  considerandum  unum,  sed 
quid  nobis  conducit;  *1,  6  (VI  268):  reete  Galenus  artes  illas  nuncupari 
non  patitur,  quae  utilitatis  nihil  adferant  vitae  ,  quare  tametsi  nonnul- 
larum  artium  finis  est,  sicut  ostendi,  contemplatio,  ea  tarnen  sui  ipsius 
finis  esse  non  debet,  sed  ulterius  in  usum  aliquem  progredi;  quod  si 
arti   alius  non  est  propositus  scopus  certe  alium  esse  convenit  artificis. 

''°  so  sollen  z.  b.  die  naturwissensch;iften  dienen:  trad.  disc.  1,  6 
(VI  268):  vel  ad  vitae  commoda  vel  ad  suspectum  atque  admirationem 
auctoris  oder  4,  2  (VI  353):  institutor  .  .  .  omnem  de  natura  commen- 
tationem  ad  mores  excolendos  referat,  ut  animos  ad  virtutem  fingat.  im 
allgemeinen  gilt  *trad.  disc.  2,  2  (VI  278)  .  .  .  ut  sapientior  fiat  iuvenis, 
ac  inde  melior;  2,  3  (VI  286):  .  .  .  ut  doctior  fiat  iuvenis,  et  per  sanam 
doctrinam  virtute  melior.  intr.  sap.  6,  134(1  12):  reliqua  eruditio  niunda 
est  et  frugifera,  referatur  modo  ad  suuin  scopum,  virtutem.  —  *  trad.  disc. 
1,  4  (VI  259):  .  .  .  quandoquidem  artes  ac  diseiplinas  non  propter  ipsas 
discimus,  sed  propter  nos.     s.  aum.  32,  184,  275. 


22  F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik. 

rieht  und  erziehung  in  frage  die  der  familie,  der  gemeinde,  des 
Staates.  ■"  tota  reliqua  vita  ex  hac  puerili  educatione  pendet.  intr. 
sap.  1,  10  (I  2). 

Die  zweige  der  pädagogik. 

Erziehung    des    willens. 

§  12,  Das  ziel  der  erziehung  des  willens  ist  tugendhaftig- 
keit.'^  da  der  wille  des  menschen  zum  bösen  neigt,  so  ist  zu- 
nächst ein  prophylaktisches  mittel  nötig:  entfernung  der  ge- 
legenheiten  und  Überwachung."  hieran  schlieszen  sich  als  positive 
einwirkungen  gewöhnung  zum  guten ^\  belehrungen  über  das- 
selbe ^^  vor  allem  das  beispiel  des  lehrers.'*  wegen  der  schwäche 
der  menschennatur  musz  als  Unterstützung  hinzutreten  lohn"  und 


''^  trad.  disc.  1,  3  (VI  255):  exitum  disciplinae  voco  id  quod  ea  in 
discipulo  suo  exercet,  vel  in  aliis  discipulus  per  eam,  nempe  ut  animo 
fiat  melior,  peior,  prudentior,  stultior,  in  corpore  validior,  infirmior, 
pulchrior,  deformior,  aliquou  denique  ex  tribus  Ulis  commodorura  aut 
incommodorum  generibus  vel  sibi  paret,  vel  aliis.  —  *  V^ives  Henrico 
VIII  (V  170):  quamobrem  aut  ego  vehementissime  fallor,  aut  principibus 
et  magistratibus,  quo  populns  dicto  sit  cum  magna  reipublicae  quiete 
ac  Salute  audientior,  nihil  magis  expedit  quam  teneram  statim  aetatem 
curare  rectis  ac  sanis  opinionibus  imbuendam,  ut  sciant,  qui  sit  usus  . . 
uniuscuiusque  rei  .  .  quanti  aestimanda  etc.    auch  sonst  oft  angedeutet. 

'*  vgl.  anm.  64  f. 

"  der  entfernung  der  gelegenheiten  soll  schon  bei  der  wähl  des 
ortes  für  die  anstalt  rechnung  getragen  werden,  vgl.  anm.  133.  trad.  disc. 
3,  4  (VI  319):  omnia  fiant  (beim  spiele)  sub  oculis  seniorum  aliquot  qui 
illis  siiit  venerabiles  ....  adolescentes  ne  subducant  se ,  nam  vel  po- 
tabunt,  vel  magnas  sponsiones  ludent,  vel  scortabuntur,  ut  cuiusque  erit 
ingenii  proclivitas. 

''*  trad.  disc.  2,  4  (VI  293) :  quandoquidem  assueta  omuia  sunt  iucunda, 
quae  vecordia  est,  non  assnescere  optimis!  intr.  sap.  1,  8  (1  2):  et  ea 
cupiat  quae  recta  sint:  fugiat  quae  prava;  ut  assuefacto  haec  bene 
agere,  vertat  ei  prope  in  naturam:  ut  non  possit  nisi  coactus  et  re- 
liictans,  ad  male  agenduni  pertralii;  1 ,  9  (I  2):  eligenda  est  optima 
vitae  ratio:  hanc  consuetudo  iucundissimam  reddet.     vgl.  anm.  62. 

^^  trad.  disc.  3,  4  (VI  318):  oft  sind  dem  unterrichte  belehrungeu 
über  gott  und  den  tod  einzustreuen  sowie  prägnante  Sprüche  gegen  die 
einzelnen  laster  der  jugend.  dazu  kommt  der  besondere  moralunterricht. 
es  ist  dabei  zu  beachten:  quae  de  moribus  audiunt,  ne  ita  accipiant, 
ut  historiolam  quampiam  quam  satis  esse,  andivisse;  hunc  esse  ani- 
morum  pastum  saluberrimum,  concoqui  et  digeri  oportere,  et  in  animi 
substantiara  converti;  quod  ni  fiat,  ut  cibum  in  corpore,  ita  res  morales 
animo  officere. 

'«  trad.  disc.  2,  1  (VI  274):  prima  est  ea  cura  nihil  ut  dicant  aut 
faciant  unde  in  auiiitorem  malum.  weiteres  über  das  beispiel  des 
lehrers  anm.  151. 

"  als  regeln  für  die  belohnung  gelten:  disc.  3,  4  (V^I  315):  puerili 
aetati  praemiola,  laudesque,  tamquam  lusus  permittuntur,  quae  ado- 
lescentibus  nugas  esse  pueriles  demonstretur  .  .  .  ut  erubescant  ipsi 
eadem  expetere,  qui  iam  pueritiae  nomen  exuerunt.  *mor.  erud.  2  (VI  432): 
in  scholis,  et  tota  vita,  qiiantumcunque  ob  ingenium,  iudicium,  Studium, 
eruditionem  multiplicem,  cognitionem  variarum  rerum  late  patentem, 
laudetur   quis ,    de   virtute   certe  ac   piet^te   laudari  coram  non  oportet, 


F.  Kuypeis :  Vives  in  seiner  pädagogik.  23 

strafe.''-   klugheit  und  humanität  sind  bei  ihrer  anwendung  nicht 
zu  vergessen. 

Bildung  des  Verstandes. 

§  13.  Die  formale  bildung  des  Verstandes  oder  die  lebensklug- 
beit  ist  das  resultat  von  Urteilskraft  und  erfahrung. " 

Die  rechte  urteils  kraft,  d.  i.  der  gesunde  menschenverstand, 
besteht  darin,  dasz  man  den  dingen  ihren  vpahren  wert  beimiszt. ®'' 
sie  ist  nächst  der  tugend  das  höchste  gut,  indem  sie  zur  erlernung 
der  Wissenschaften  wie  zur  rechten  lebensführung  unerläszlich  ist/' 
schon  im  kindesalter  soll  sie  ausgebildet  werden.'^ 


ne  levi  illa  extollatur  aurula,  et  id  ipsum  bonum,  de  quo  laudatur,  dum 
laudatur,  amittat. 

^^  für  die  bestrafung  gilt:  trad.  disc.  3,  4  (VI  317  f.):  nullo  modo  ita 
se  gerat  (magister),  ut  assuefaciat  pueros  minas  aut  reprehensiones  suas 
contemnere  .  .  .  nee  convicia  ingeret  in  puero  .  .  castigando  verbis,  et 
cum  opus  est  verberibus,  ut  belluarum  more  revocet  eum  dolor,  cui 
ratio  non  est  satis  .  .  .  ^vapulet  sie  tarnen  ut  tenerum  adhuc  corpusculum 
acriter  in  praesens  doleat,  nihil  deinceps  sentiat  incommodi  .  .  .  libera- 
lem hanc  castigationem  esse  malim,  non  asperam,  aut  servilem,  nisi 
eiusmodi  sit  ingenium;  ....  3,  4  (VI  317,  318):  grandiusculi  coercendi 
quidem  rarius  plagis,  interdum  tarnen;  plerumque  vero  metu  ac  reve- 
rentia  praeceptoris,  et  gravium  virorum  de  academia  .  .  .  hinc  respectu 
patris  aut  propinquorum ;  *3,  4  (VI  316):  sed  in  percipienda  eruditione 
aliquid  forte  espediat  dissimulari  .  .  .  mores  certe  omni  vitio  immunes 
esse  convenit.  man  vergesse  nie:  nihil  adeo  esse  praeposterum,  ut 
fructum  iam  tum  maturum  exigere  quum  arbores  germinare  primo  vere 
incipiunt. 

''"  vgl.  namentlich  das  fünfte  buch  von  trad.  disc,  wo  es  sich  haupt- 
sächlich um  solche  handelt,  die  einem  gemeinwesen  vorstehen  sollen, 
trad.  rlisc.  5,  1  (VI  386  f.) :  duabus  autem  ex  rebus  prudentia  nascitur, 
iudicio  atque  usu  rerum  .  .  .  alterutrum  cui  desit,  prudens  esse  non 
potest  .  .  .  *nisi  aliquando  ipse  obeas  quantumcunque  exposita  habeas, 
et  pereepta,  nunquara  tarnen  recte  exequeris  ,  ..  iam  exercitatio  per 
se  ac  usus  nisi  regatur  iudicio,  proficiet  quidem  nonnihil,  sed  manca 
erit  prudentia  haec,  et  saepenumero  .  .  .  infirma  et  inutilis.  ebenso  de 
conscrib.  epist.  1  (II  265). 

*■"  *intr.  sap.  1,  1  (I  1):  vera  sapientia  est  de  rebus  incorrupte 
iudicare;  *1,  2  (I  1):  nihil  est  in  humana  vita  exitiabilius  quam  depra- 
vatio  illa  iudiciorum,  quum  rebus  non  suum  pretium  redriitur.  caus. 
corr.  1,  5  (VI  40^  spricht  Vives  ausführlich  über  die  verderblichkeit 
der  Unterdrückung  des  selbständigen  Urteils,  recipit,  assentitur,  affi- 
citur  priusquam  possit  iudicare  ist  ein  liauptfehler  bei  der  scholastischen 
methode, 

*>'  intr.  sap.  3,  73,  74  (I  7):  nicht  armut  usw.  ist  das  schlimmste 
übel,  sed  vitia  (existimo)  et  his  proxima,  inscitiam,  stuporem ,  demen- 
tiam.  magnum  bonum  credito  horum  contraria  virtutem  et  quae  huic 
sunt  finitima,  peritiam,  acumen  iLgenii,  sanitatem  mentis.  caus.  corr. 
1,  5  (VI  40):  .  .  iudicio  .  .  .  non  solum  in  tractanrtis  artibus  bono,  sed 
in  tota  vita.  off.  mar.  1  (IV  316):  rector  humanae  vitae  est  mentis 
iiidicium  quod  si  in  omni  nostra  actione  non  antecedit,  in  magna  inci- 
dimus  discrjmina. 

62  *intr.  sap.  1,  7  (I  2):  assuescat  unusquisque  iam  tum  u  puero, 
Veras   habere    de   rebus   opiniones ,   quae   simul   cum   aetate  adolescent. 


24  V.  Kuypers :  Vives  in  seiner  pädagogik. 

Mittel  dazu  sind:  zuerst  die  loslösung  von  der  meinung  der 
menge,  dann  die  richtige  beschäftigung  mit  den  Wissenschaften, 
vor  allem  mit  der  logik  (instrumentum  veri  inveniendi),  rhetorik, 
grammatik,  verständige  lectüre  und  endlich  die  erfahrung  selbst.  ^^  be- 
sonders sollen  als  lectüi-e  diejenigen  Schriftsteller  dienen,  welche  eine 
hervorragende  Urteilskraft  besaszen:  Plato,  Aristoteles,  Demosthenes, 
Cicero,  Quintilian,  Plutarch,  Origenes,  Chi^sostomus,  Hieronymus, 
Lactantius.^* 

Die  erfahrung  ist  unsere  eigne  oder  fremde,  die  eigne  'ge- 
winnen wir  durch  die  zeit  und  durch  die  praxis',  die  fremde  ver- 
mittelt uns  das  Studium  der  geschichte.  historia  si  adsit  ex  pueris 
facit  senes,  sin  absit  ex  senibus  pueros.  trad.  disc.  5,  1  (VI  388).®^ 

Ihre  anwendung  soll  diese  verstandesbildung  finden  weniger 
in  der  erstrebung  materieller  als  in  der  idealer  guter:  geistiger  und 
sittlicher  hebunff  seiner  selbst  und  anderer.^® 


Bildung  des  gedächtnisses, 

§  14.  Studium  und  erfahrung  wären  unnütz,  wenn  der  mensch 
nicht  in  dem  gedächtnisse  eine  Vorratskammer  besäsze,  aus  welcher 
er  die  erworbenen  erkenntnisse  nach  bedarf  entnehmen  kann,  wegen 

stud.  puer.  1  (I  265):  assuescat  iam  nunc  in  hac  tenera  aetate  veras 
et  incorruptas  habere  opiniones,  ut  ea  sola  bona  putet,  quae  vere  sunt 
talia,  velut  virtutes  et  eniditionem ,  ea  mala,  quae  re  vera  mala,  ut 
vitia,  et  ignorantiam,  et  stultitiam. 

^"^  intr.  sap.  1,  5  u.  6  (I  2);  nee  aliud  magis  laborandum  est  quam 
ut  sapientiae  studiosum  a  populari  sensu  abducamus  et  vindicemus. 
primum  omnium  suspecta  Uli  sint,  quaecunque  multitudo  magno  con- 
sensu  approbat.  *caus.  corr.  1,  5  (VI  41):  ah  quanto  se  fructu  discipli- 
narum  fraudant,  quod  semper  aliis  credunt,  uunquani  ad  se  ipsi  rever- 
tuntur,  nee  se  vocant  in  lonsilium  ut  exaniinent  euiusmodi  sint,  quae 
tanta  cura  addiscuut!  trad.  disc.  5,  1  (VI  388):  iudiciimi  .  ,  excoii 
potest  .  .  .  instruinento  veri  inveniendi,  quo  patetit  quid  in  quaque  re 
vel  verum  sit,  vel  eius  simile  .  .  .  dicendi  etiam  ars,  recta  percepta, 
magnum  adferre  iudicio  adiumentum  potest,  usus  etiam,  quod  est  al- 
terum  prudentiae  merabrum,  plurimum  confert  censendi  facultati,  ut 
manus  manui.  caus.  corr.  2,  1  (VI  79j :  ergo  grammatici  officium  est, 
OS  pueri ,  et  manum  formare,  hinc  intelligentiam,  ut  ad  ceteras  artes 
remittatur  maximis  adiumentis  fultus  eorum  scriptorum,  quos  sub  gram- 
matico  viderit.  *,stud.  puer.  2  (I  277):  ex  intelligentia  unius  aut  alterius 
auctoris  .  .  .  adliibito  non  segni  et  inerti  studio  multi  sunt  aiii  cogno- 
scendi  .  .  .  ut  nuUus  sit  liber,  qui  probe  intellectus  non  sit  ad  alios 
complures  intelligendos  magister,  adhibeatur  modo  iudicium,  et  audita 
praesentibus  conferantur:  nee  de  nihilo  est  quod  dicitur,  libro  librum 
aperiri. 

84  trad.  disc.  5,  l  (VI  388) :  lectione  eorum  auctorum,  qui  plurimum 
bono  illo  valuerunt  etc. 

85  trad.  disc.  5,  1  (VI  388):  experimenta  nostra  accedunt  aetate,  et 
rerum  actibus;  aliena  ex  cognitione  prioris  memoriae  discuntur,  quae 
historia  nuncupatur.  vgl.  auch  1,  5  (VI  262).  über  den  didaktischen 
zweck  des  geschiciitstudiums  siehe  des  weiteren  §  60. 

86  vgl.  trad.  disc.  5,  1  (VI  387). 


F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik.  25 

dieser  Wichtigkeit  des  gedächtni.-ses  ist  eine  besonders  sorgfältige 
pflege  desselben  notwendig.  ^^ 

Die  grundbedingung  derselben  ist  rechte  ernährung  und 
pflege  des  körpers,  von  dessen  Wohlbefinden  das  gedächtnis 
wie  keine  andere  seelenkraft  abhängig  ist.  ®^  hauptmittel  zur  aus- 
bildung  des  gedächtnisses  ist  dessen  tägliche  Übung;  die  kraft  des 
Verstandes  wird  durch  Unterbrechung  und  ruhe  nicht  vermindert, 
jedoch  wohl  die  des  gedächtnisses/® 

Die  wesentlichste  stütze  des  gedächtnisses  bietet  die  asso- 
ciation  der  ideen.  sie  ist  eine  willkürliche  oder  unwillkürliche, 
logische  anordnung  des  Vortrags ,  fassung  der  regeln  in  versform, 
benutzung  der  phantasie  erleichtern  dieselbe. '"  aber  auch  eine  ge- 
fahr  birgt  sie  in  sich:  Verwechslung  von  ähnlichem.^' 

Verständnis  erhöht  die  Schnelligkeit  der  auffassung,  aufmerk- 


"  trad.  disc.  1,  5  (VI  263):  parixm  quippe  magnarum  et  multarum 
rerum  proficeret  cogfnitio  atque  experimentum,  nisi  esset  ubi  haec  con- 
servarentur  ne  efflnerent,  ut  quum  opus  esset,  praesto  adessent.  stud. 
puer.  2  (I271):  memoriam  scito  tliesaurum  esse  totius  eruciitionis,  quae 
si  desit,  non  secus  supervacuus  est  omnis  labor,  quam  si  in  pertusum 
dolium  aquam  infiindas. 

'''*  *an.  et  V.  2,2  (III  347):  memoriae  plnrimum  confert  naturalis 
contemperatio  corporis  .  ,  .  adiuvat.ur  tota  ratione  victus,  cibis,  potio- 
nibus,  exercitamentis,  quiete,  somuo,  raoderatis,  et  ad  facultatis  illius 
instrumenta  accommodis.  stud.  puer.  2  (I  271):  continetur  etiam  me- 
moria bona  valetudine,  cavendumque  imprimis  a  repletioiie,  a  cruditate, 
a  crapula,  a  vino  immodico,  a  densa  cerevisia,  a  supino  cubito.  vgl. 
intr.  sap.  6,   180  f.  (I   15). 

^^  stud.  puer.  1  (I  271):  nemini  tam  infelix  contigit  memoria,  qui 
non  eam  felicissimam  possit  reddere  exercitatione  .  ,  .  quocirca  aliquid 
quotidie  ediscendum  est,  etiam  quum  non  est  necesse;  1  (I  258):  me- 
moriam quotidie  exerceat,  ut  nullus  sit  dies  in  quo  ipsa  [näml.  die 
princessin  Maria  von  Eng-land]  aliquid  non  ediscat.  an.  et  v.  2,  2 
(III  348) :  exercitatione  et  meditatione  crebra  magnum  memoria  sumit 
robur  .  .  .  nee  est  uUa  in  toto  animo  funetio,  quae  perinde  cultum  suum 
desideret;  ingenii  munia  non  finnt  quiete  et  cessatione  deteriora,  saepe 
etiam  renovantur  .  .  .  memoria  si  non  excerceas  hebesclt. 

äo  über  sie  spricht  er  mit  groszer  ausführlichkeit  und  feiner  be- 
obachtung  an.  et  v.  2,  2  (III  348  ff.),  das  wesen  derselben  bezeichnet 
er  kurz  2,  2  (III  350):  ut  ex  re  minore  veniat  nobis  de  maiore  in  men- 
tem  saepius,  non  e  contrario;  2,  2  (III  349):  facilia  sunt  ad  recorda- 
tionem  ordiue  notata,  et  praescripta  ...  versus  quoque  ad  memoriae 
fidelitatem  conducunt,  propter  ordinem  compositionis,  et  structuram  non 
temere  vagantem,  sparsamque ,  sed  certis  limitibus  conclusara  ..,.  vi- 
cissim  temere  effusa,  vel  dissolute  congesta,  difficile  est  et  capere ,  et 
continere  .  .  .  quae  simul  sunt  a  phautasia  comprehensa,  si  alterutrum 
occurrat,  solet  secum  alterum  repraesentare.  Vives  geht  bis  an  die 
grenze  mnemotechnischer  kunststückchen ,  die  bald  darauf  bei  Alstedt, 
Andreii  u.  a.  so  beliebt  wurden. 

^^  die  Verwechselung  ähnlicher  Vorstellungen  kann  drei  quellen 
haben:  an.  et  v.  2,  2  (III  350):  vel  in  prima  attentione  nascitur  ,  .  . 
vel  in  ip.sa  memoria  ...  vel  in  secunda  consideratione ,  quae  est  at- 
tentio,  quum  perperam  ea  quae  integra  erant  in  memoria  reposita,  de- 
promit  .  .  .  sicuti  quum  repositum  non  tale  redditur  quäle  traditur,  in 
vitio  est  aut  accipiens,  aut  custodiens,  aut  repraeseutuns. 


26  F.  Kuypers :  Vives  in  seiner  pädagogik. 

samkeit  und  Wiederholung  stärken  die  treue  im  behalten.'^  zu  em- 
pfehlen sind  auszerdem  lautes  lesen  und  schriftliche  aufzeichnungen, 
weshalb  der  schüler  schreibend  dem  unterrichte  folgen  und  sich 
collectaneenhefte  anlegen  soll  (s.  anm.  314).  hören  ist  besser  als 
lesen.  ^^  man  lerne  unmittelbar  vor  dem  Schlafengehen  solche  dinge 
auswendig,  von  denen  man  mit  nutzen  träumt;  am  andern  morgen 
fordere  man  sie  dem  gedächtnisse  ab.^* 

§  15.  Gerade  im  knabenalter  mute  man  dem  gedächtnisse 
viel  und  oft  etwas  zu;  denn  dann  behält  der  mensch  mit  gröszerer 
leichtigkeit  als  später,  weil  dann  das  gehirn  weicher,  wärmer  und 
feuchter,  der  geist  freier  von  sorgen  und  verwirrenden  eindrücken, 
der  reiz  des  neuen  gröszer,  und  die  kraft  der  naiven  reception  nicht 
gehemmt  ist  durch  verstandesmäszige  dem  einzelnen  nachgehende 
reflexion.  darum  kann  man  in  jungen  jähren  dem  gedächtnisse  Stoffe 
anvertrauen,  deren  aneignung  dem  mannesalter  schwer  und  lang- 
weilig sein  würde.  ®^ 

§  16.  Ein  völliges  entschwinden  einer  Vorstellung  aus  dem  ge- 
dächtnisse ist  möglich,  manches  wird  aber  als  vergessen  betrachtet, 
das  unbewust  noch  im  gedächtnisse  ruht.®*   je  nachdem  ist  eine  er- 


**  *an.  et  v.  1,  3  (III  343):  nee  haerebit  memoria,  nisi  prius  cogni- 
tum  atque  intellectum.  trad.  disc.  3,  3  (VI  310):  celeriter  comprehen- 
dimus,  quae  intelligimus;  continemus,  quae  attente  et  crebre  memoriae 
mandavimus. 

y^  tr;id.  disc.  3,  3  (VI  311):  non  raro  tenacius  infinj^untur,  quae  al- 
tius  legimus,  quemadmodum  audita  de  aliis  melius  retlnemus,  quam  a 
nobismet  ipsis  lecta  . . .  utilissimum  est  quae  memoria  contineri  cupi- 
mus,  ea  scribere ,  neque  enim  aliter  iufinguutur  stilo  in  pectus  quam 
in  chartam. 

'"*  *intr.  sap.  6,  194  (I  16):  cubitum  iturus  lege  vel  audi  aliquid  dig- 
num,  quod  memoriae  mandetnr,  et  de  quo  salubre  ac  iucundum  sit  per 
quietem  somniare,  ut  etiam  nocturnis  visis  discas  et  fias  melior.  stud. 
puer.  1  (I  258):  initio  de  nocte  cubitum  itura  attente  bis  aut  ttr  releget 
quae  memoriae  mandaii  volet,  et  postridie  mane  a  se  reposcet.  ganz 
ähnlich  intr.  sap.  6,  185  (I  15).  diese  eigentümliche,  pädagogisch  wohl 
kaum  empfehlenswerte  t'orderung  wird  von  Braam  unter  den  seiner 
dissertation  über  Vives'  theologie  angehängten  thesen  aufgeführt  und 
als  'sapienter'   bezeichnet. 

^'^  *tra(l.  disc.  3,  3  (VI  310):  prima  aetate  exerccatur  memoria  .  .  . 
multa  ei  commendentur  cum  cura  et  saepe.  an.  et  v.  2,  2  (TU  345): 
apprehendunt  facile  qui  humido  sunt  cerebro;  2,  2  (III  346):  iuvenes 
propter  calorem  et  humores  puriores  plus  pollent  memoria,  quam  senes; 
primum  in  quod  aetas  invadit,  inquit  Seneca,  est  memoria;  2,  2  (III  351 
u.  352):  quae  vacuo  animo  et  tranquillo  accepimus  facilius  haerent  in 
mente  .  .  .  qua  de  causa  quae  prima  aetate  vidimus  atque  audivimus,  ea 
diutius  recordamur,  et  integrius,  est  enim  tunc  soluta  curis  et  cogita- 
tionibus  mens,  tum  etiam  attendimus  diligenter,  quippe  aetate  illa  ad- 
miramur  omnia  taniquam  nova.     vgl.  anm.  61. 

*8  Vives  unterscheidet  in  gesuchter  weise  ein  vierfaches  sogenanntes 
'vergessen'  an.  et  v.  2,  2  (III  348)  .  .  .  vel  quum  imago  illa  in  memoria 
depicta  eraditur  prorsus  .  .  vel  quum  interlita  est  .  .  vel  quum  quae- 
rentem  subterfugit,  vel  quum  obruta  est,  et  quasi  velo  quodam  con- 
tecta,  ut  in  morbo   et  affectu  coucitato. 


F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädaj^ogik.  27 

neuerung  der  äuszeren  erkenntnis  oder  ein  innerliches  wiedersuchen 
der  Vorstellung  am  platze. " 

Leibliche  erziehung. 

§  17.  Zweierlei  wird  bei  der  leiblichen  erziehung  angestrebt: 
pflege  und  Übung  des  leibes,  ausbildung  der  sinne. 

Bei  der  sorge  um  den  körper  ist  die  gesundheit,  nicht  die 
Sinnlichkeit,  maszgebend.^'  erstere  wird  am  besten  unterhalten 
durch  einfache  und  regelmäszige  kost,  reinlichkeit,  abhärtung  und 
mäszigen  schlaf. ^^  bei  pathologischen  erscheinungen  richte  sich 
jedoch  die  ernährung  nach  dem  jeweiligen  körperlichen  oder  geistigen 
zustande.'"" 

^^  an.  et  v.  2,  2  (III  348):  prima  oblivio  nova  prorsus  eognitione 
indiget,  quarta  detectione,  ut  sanitate  corporis  aut  animi,  reliquae  duae 
instauratione  ut  .  .  .  quasi  gradibus  ad  id  veniatur  quod  quaerimus.  so 
im  anschlusse  an  das  vierfache  vergessen,  an  Plato  erinnert  2,  2  (III  348): 
oblivisci  etiam  dicimur  eorum  quae  a  natura  ipsa  accepimus,  quum  de 
primis  illis  et  naturalibus  intormationibus  dubitamus  (vgl.  anm.  53), 
quae  evidentissimae  et  certissimae  veritates  nuncnpantur,  perinde  est 
enim,  ac  si  eas  aliquando  didicerimus  naturae  institutione. 

^^  intr.  sap.  4,  86  (I  8):  tota  corporis  curatio  ad  sanitatem  referenda 
est  non  ad  voluptatem. 

ä'  Vives  giebt  an  verschiedenen  stellen  ins  einzelne  gehende  Vor- 
schriften, ich  führe  die  wichtigsten  an:  intr.  sap.  4,  98  f.  (I  9):  va- 
rietas  cihorum  homini  pestilens,  pestilentior  coudimentorum  . .  .  naturae 
si  des  necessaria  delectatur  .  .  sin  superflua,  debilitatur  .  .  .  potus  erit  . . 
pura  et  liquida  aqua,  vel  tenuissima  cerevisia,  vel  vinum  bene  dilutum. 
nihil  est  quod  iuvenum  corporibus  magis  otficiat,  quam  calidus  cibus 
aut  potus  ..  a  coena  ne  bibe  ..;  6,  179  (I  15):  inter  coenam  et  quie- 
tem  vita  omnino  potum;  nihil  pernieiosius  simul  corpori,  memoriae,  in- 
genio.  exerc.  1.  lat.  dial.  refectio  scholastica  (I  294  ff.):  nach  einem 
kleinen  Imbisse  am  frühen  morgen  wird  täglich  viermal  gespeist:  sila- 
tum,  prandium,  merenda  ceu  antecoenium,  coena.  die  speise  sei  para- 
bilis,  pura,  concoctu  facilis.  aniplissiraas  epulas  alibi  quaerito,  non  in 
schola.  —  an  lavamur?  quotidie  manus,  ac  faciem;  et  quidem  crebro, 
mundities  enim  corporis,  et  sanitati,  et  iiigenio  confert.  intr.  sap.  4,  89  f. 
(I  8):  ablues  subinde  manus  et  faciem  frigidä,  detergesque  mundo  lin- 
teolo.  repurgabis  crebro  eas  partes  quae  sordibus  et  recrementia  ad 
extima  corporis  meatus  praebent.  hae  sunt  caput,  aures,  oculi,  nares, 
axillae  et  pudenda  .  .  .  pedes  mundi  et  cnlidi  foveantur;  —  4,  116  f. 
(I  10):  somnus  sumendus  est  tamquam  medicina  quaedam  curando  corpori, 
tantummodo  quantus  sufficit:  immodicus  enim  reddit  corpora  redundantia 
noxiis  humoribus  ...  et  celeritatem  mentis  tardat.  nee  est  existimandum 
vitae  id  tempus ,   quod  somno  impenditur,  vita  enim  vigilia  est. 

'*"'  hier  entwickelt  Vives  fast  Feuerbachsche  ansichten.  *trad.  diso. 
3,  4  (VI  319  f.):  ut  moderata  sit  (victus  ratio),  ut  idoneis  temporibus,  ut 
con^ruens  temperandae  cuiusque  institutioni,  ne  noxius  aliquis  humor 
radices  agat  in  corpore;  exsucci  liumectantibus  utantur,  pituitosi  cali- 
dis  et  arefacientibus,  melancholici  contrariis  naturae  illi  quae  extenueut 
Spiritus  et  hiiariores  reddant,  quibus  vinum  paullo  concedatur  largius  . .  . 
biliosi  ref rigeiabuntur ,  et  tenuissimis  spiritibus  erunt  crassiuscula  tum 
ad  valetudinem  salutaria,  tum  etiam  ad  cohibendam  iudicii  vim,  ne  subito 
in  praeceps  feratur.  ähnlich  4,  6  (VI  378):  hebetarentur  sensus,  et  animi 
stupescerent,  aut  in  furores  atque  insanias  miserabiliter  incurrerent  .  . 
bei  mangelhafter   befolgung  der  regeln  der  diätetik. 


28  F.  Kuypers:  Vives  iu  seiner  pädagogik. 

Zu  diesei-  pflege  des  körpers  treten  leibes Übungen,  die  um 
so  zahlreicher  und  energischer  werden,  je  mehr  der  Organismus 
erstarkt,  und  je  subtiler  die  geistesbeschäftigung  wird.'"'  modo 
scholastice,  non  militariter!  trad.  disc.  4,  2  (VI  354).  die  pflege 
des  körpers  bleibt  aber  stets  der  ausbildung  des  geistes  unter- 
geordnet; trotzdem  darf  das  studium  nicht  so  weit  ausgedehnt  wer- 
den, dasz  die  körperliche  gesundheit  darunter  leidet.  '"^ 

§  18.  Die  sinne,  speciell  das  äuge,  sollen  besonders  bei  der 
betrachtung  der  natur  zu  scharfer  beobachtung  angehalten  werden, 
darum  sind  fleiszige  Spaziergänge  zu  jeder  Jahreszeit  und  bei  jeder 
Witterung  anzustellen,  auf  welchen  gründliche  autopsie  geübt 
wird.  '°^ 

Spiel. 

§  19.  Der  auffrischung  der  geistigen  und  körperlichen  kräfte 
dient  das  spiel.  '"*   es  ist  entweder  ein  freies  bewegungs-  oder  ein 

""  *trad.  disc.  3,  4  (VI  318):  exercitamenta  corporum  crebra  sint 
in  pueris,  nam  aetas  illa  incrementis  indiget,  ac  confirmatione  roboris; 
4,  2  (VI  354)  heiszt  es  für  die  älteren  Schüler:  * exercitationes  corporis 
aliquanto  robustiores  concedentur;  nempe,  robustioribus  iam  et  magis 
confirmatis  deambulatioiies  intentiores,  aut  longiores,  cinsus,  saltus, 
iactus,  lucta  .  .  .  ut  valetudo  sit  in  iuvenili  corpore  firmior,  et  ipsi  ala- 
criores,  ne  ingeninm  gravitate  valetudinis  opprimatur:  eget  etiam  disci- 
plina  haee  (die  philosopbie)  crebris  animoriim  refectionibus.  weitere 
regeln  sind:  *intr.  sap.  4,  113  f.  (I  10):  exercitationes  corporis  non  erunt 
immodicae,  ceterum  aptandae  rationi  valetudinis,  in  quo  sequenda  erunt 
medic-inae  consultorum  consilia  ....  sie  tarnen,  ne  quid  habeaiit  turpe, 
immodestum,  obscenum,  flagitiosum  .  .  .  absit  arrogantia,  contentio,  rixa, 
invidia,  cupiditas.  es  scheint,  dasz  Vives  niclit  an  schulmäsziges  turnen, 
sondern  an  freie  bewegiingsspiele  unter  aufsiebt  der  lebrer  (vgl.  §  19)  denkt. 

'"2  intr.  sap.  4,  82  (I  8):  sie  cnrandum  tarnen,  ut  se  non  dominum, 
non  socium  esse  sentiat  (corpus),  sed  mancipium:  nee  sibi  pasci ,  aut 
vivere,  sed  alteri.  satell.  an.  18  u.  19  (IV  35):  intus  quam  exterius 
formosior.  intus  quam  exterius  ornatior.  trad.  disc.  3,  4  (VI  319): 
prima  ratio  erit  ingeuii  ac  memoiiae,  quae  nimia  curatione  corporis 
opprimitur  .  .  .  'magna  cura  corporis,  magna  est  animi  incuria'.  *mor. 
erud.  5,  1  (VI  416):  ita  vero  studendum  ut  non  oHruatur  ingenium  mole 
operis;  valetudinis  habenda  inprimis  ratio,  et  eorum  qui  nostrae  sunt 
curae  commissi,  bemerkungen  der  letzteren  art  finden  sich  indes  selten, 
obgKich  Vives'  pädagogik  der  Jugend  ungeheuer  viel  geistige  arbeit 
zumutet. 

'"3  siehe  namentlich  anm.  232.  über  Schonung  der  äugen  schreibt 
Vives  meines  wissens  auszer  einer  ganz  beiläufigen  bemerkung  exerc. 
1.  lat.  dial.  scriptio  (I  3-22)  kein  wort,  so  nahe  dies  bei  der  sehr  um- 
fangreichen lectüre,  die  er  verlangt,  auch  läge,  über  leibespflege  und 
erholung  in  den  mittelalterlichen  schulen  kurz  Arnaud  s.  41:  totus  fere 
dies  a  discipulis  absumeliatur  vel  magistrum  audiendo,  vel  audita  re- 
volvendo,  vel  piis  exercitationibus  vacando,  aliquid  iocis  aut  ambula- 
tionibu.s  tantum  concedebatur  diebus  Martis  et  Jovis.  nach  Quiclicrat, 
liistoire  du  coIle^e  de  iSainte-Barba,  cit.  ebenda,  damit  stimmen  die 
mitteilungen  von  Specht  (cit.  a.  158)  s.  216  f.  überein.  vgl.  A.  Lange 
und  Klosz  art.  'leibesübungen'  in  Schmid  enc.  2  a.  IV  bd.,  s.  551  ff., 
woselbst  auch  weitere  litteratur. 

104  Vives*  anscha'.mngen  über  das  spiel  flechte  ich  hier  ein,  um  die 
fortlaufende    darstellung    der    Unterrichtsfächer    nicht    zu   unterbrechen. 


F,  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik.  29 

stilles  gesellschaftsspiel:  speerwurf,  ballspiel,  wettlauf;  karten-, 
brett-,  Schachspiel,  das  bewegungsspiel  findet  bei  regenwetter  in 
eignen  Säulenhallen  der  akaderaie  statt,  während  des  Spieles  herscbt 
beaufsichtigung. '"■'  auf  dem  gebrauche  der  muttersprache  bei  dem- 
selben steht  eine  strafe,  weshalb  der  lehrer  die  notwendigen  bezeich- 
nungen  vorher  in  gutem  latein  zu  geben  hat.  '"^ 

Als  allgemeine  Spielregeln  gelten'"^: 

I.  quando  ludendum?  nur  dann,  wann  körper  oder  geist  durch 
ernste  arbeit  ermüdet  sind. 

IL  cum  quibus  ludendum?  nicht  mit  unbekannten,  zänkern 
und  lästermäulern  oder  solchen,  die  beim  spiele  eine  andere  absieht 
verfolgen,  als  sich  zu  erholen. 

III.  quo  ludo?  das  spiel  sei  bekannt;  es  diene  der  körper- 
lichen und  geistigen  erholung;  es  sei  nicht  ein  reines  hasardspiel. 

IV.  qua  sponsione?    nicht  um  nichts,  nicht  um  zu  viel. 

V.  quemadmodum?  Verlust  und  gewinn  sind  mit  gleicher  ruhe 
zu  ertragen,  sie  dürfen  in  keiner  weise  die  gemütliche  Stimmung 
beim  spiele  stören,  fluchen  und  schwören  darf  nicht  vorkommen, 
jeder  schein  von  habsucht  oder  betrug  ist  zu  vermeiden. 

VI.  quamdiu  ludendum?  bis  der  geist  sich  erholt  hat,  und  die 
stunde  der  arbeit  schlägt.  '"- 

Erziehungsfactoren. 
§  20.  Unbewust  hat  von  jeher  als  erzieherin  des  menschen  die 
natur  gewirkt,  und  zwar  seine  eigne  natur,  indem  die  sich  ein- 
stellenden bedürfnisse  seinen  geist  veranlaszten ,  sich  umzuschauen 


exerc.  1.  lat.  dial.  leges  ludi  (I  389):  homo  propter  res  serias  est  con- 
ditus,  non  propter  nug^as  et  lusus;  lusus  autem  reperti  ad  reficiendum 
animum  lassum  a  seriis  .  .  .  simul  animum  reficiat,  et  corpus  exerceat. 
trad.  disc.  3,  4  (VI  319):  his  lusionibus  hoc  fine  dabitur  opera,  ut  corpus 
vegetetur. 

105  *trad.  disc.  3,  4  (VI  319):  lusus  sint  qui  honestatem  habeant 
cum  iucunditate  coniuncta,  quales  sunt  pila,  globus,  cursus  .  .  .  per- 
mittendus  interdum  quoque  lusus  foliorum  longiusculus ,  qui  ingenium 
et  iudicium,  et  memoriani  exerceat,  quemadmodum  etiam  latrunculorum, 
et  aeierum.  dem  ludus  chartarum  seu  foliorum  widmet  Vives  exerc.  1. 
lat.  (I  378  ff.)  einen  eigenen  dialog.  dial.  lectio  (I  293)  führt  er  uns 
würfelnde  knalien  vor.  trad.  disc.  8,  4  (VI  319):  habebunt  porticus  vel 
laxa  atria,  quibus  se  reficiant  pluvio  tempore  .  . .  omnia  fiant  sub  oculis 
seniorum  aliquot  qui  illis  sint  venerabiles.     vgl.  anm.  73. 

'"8  *trad.  disc.  3,  4  (VI  319):  latine  inter  ludendum  loquentur,  sta- 
tuta illi  poena  ex  ratione  ludi,  qui  patrio  sermone  erit  usus;  latine  facile 
loquentur,  ac  proinde  libentius,  si  omnino  quae  ludendo  sint  dicenda, 
explicata  habeant  a  praeceptore  bonis  et  propriis  verbis. 

'"'  diese  regeln  sind  in  dieser  reiheufolge  exerc.  1.  lat.  dial.  leges 
ludi   (I  389  f.)  angeführt. 

*"''  es  bestand  im  I6n  Jahrhundert  eine  nicht  geringe  litteratur  über 
spiele  sowohl  im  allgemeinen  als  im  einzelnen,  genannt  bei  Grässe, 
lehrbuch  der  allgemeinen  litterärgeschichte  III  bd.,  le  abt.,  Leipzig  1852, 
s.  714  f. 


30  F.  Kuypers :  Vives  in  seiner  pädagogik, 

zum  zwecke  der  beschaffung  des  notwendigen,  nützlichen,  an- 
genehmen, die  ihn  umgebende  natur,  indem  sie  ihn  zum  philosophi- 
schen nachdenken  und  zur  religion  führte.'"®  allein  zur  vollkommenen 
und  irrtumsfreien  religiösen  erkenntnis  bedurfte  es  der  göttlichen 
Offenbarung.""  endlich  vermag  die  lebensgemeinschaf t  den 
menschen  zur  demut,  liebe  und  klugheit  zu  erziehen.'" 

§  21.  Die  erste  mit  bewustsein  geleitete  erziehung,  sowie  die 
elementai'ste  Unterweisung  erhält  der  mensch  in  der  familie. 

Schon  bei  der  wähl  der  gattin  leite  den  mann  die  rücksicht  auf 
den  nachwuchs"^;  das  weib  befähige  sich  durch  lectüre  zu  dem  er- 
ziehungsberufe,  sonst  empfange  es  solche  belehrungen  von  dem 
gatten.  "^  vorsichtiges  verhalten  während  der  Schwangerschaft,  er- 
nährung  durch  die  muttermilch,  wenn  dieses  unmöglich  ist,  auswahl 
einer  gesunden  amme  von  reiner  sitte  und  spräche,  strenge,  zurück- 
haltende liebe,  unverwöhnte  erziehung,  bildung  eines  frommen 
herzens,  erteilung  des  ersten  Unterrichts,  der  sich  vor  allem  auf 
religion  und  muttersprache  erstreckt,  das  sind  die  hauptpflichten 
der  mutter,  in  deren  band  das  besonders  wichtige  erziehungs- 
geschäft  der  ersten  kinderjahre  liegt."*    o  matres,  quanta  occasio 

'*9  diese  gedanken  sind  weitläufig  ausgeführt  trad.  disc.  1,  1  (VI243ff.). 
auch  sonst  finden  sich  manche  derartige  andeutungen.  1,  1  (VI  246): 
nam  animus,  cura  illa  praesentis  necessitalis  solutus,  ac  Über,  coepit 
respirare,  et  otiosior  velut  theatrum  hoc  contemplari,  in  quo  esset  a 
deo  positus;  1,  3  (VI  255):  docent  etiam  nos  muta  animiintia.  vgl. 
anm.  233. 

"*  trad.  disc.  1,  2  (VI  348):  illius  extremi  finis  notitiam  humana 
mens  lucernula  sua  instructa  non  potest  assequi  .  . .  itaque  deo  fuit  opus. 

'"  trad.  disc.  1,  5  (VI  262):  verum  enimvero  homines  nati  ad  socie- 
tatera  sumus  . . .  hoc  enim  sapienter  est  curatum  a  natura,  tum  ut  arro- 
gantia  superliissimi  animalis  retnndalur  ,  .  .  tum  ad  conciliationeni  amoris 
matui  .  .     rector  (societatis)  iudicium,  in  quo  sita  est  prudentia. 

"2  off.  mar.  1  (IV  325  f.):  ad  sobolem  spectanda  sunt  duo,  corpus, 
et  animus  uxoris;  illud,  ne  nirais  sit  deforme  ...  quamqiiam  hoc  non 
tantum  est,  ut  si  reliqua  abundo  adsint,  recusanda  sit  ea  de  causa  uxor; 
.  .  .  magis  illud  providendum,  ne  quo  laboreiit  morbo  ex  iis  quos  medici 
heredilarios  vocant  ...  hinc  animus  contemplandus,  ut  natura  sit  sanus, 
ne  paientis  insania,  vel  contairio  corporum  pioli  adhaerfscat,  vei  educa- 
tione,  ac  moribus  .  .  .  adde  his,  ne  animus  sit  educatione  ac  moribus 
malus  ...  de  genere  non  perinde  oportet  esse  in  hac  de  liberis  con- 
sultatione  sollicitum,  te  enim  soboles  sequttur,  non  matrem. 

•'ä  *fem.  Christ.  2,  11  (IV  258):  non  erit  piae  matri  molestum ,  vel 
litteris  interduin  dare  operam,  vel  lectiorii  sapieiitium  et  sanctorum  li- 
brorum,  si  non  sua  certe  liberorum  gratia,  ut  erudiat,  ut  meliores  reddat. 
off.  mar.  3  (IV  367  f.):  iam  quae  feminam  existiniem  0()ortere  cognoscere, 
haec  fere  sunt:  ....  quae  sit  cura,  ratio,  modus  educandi  atque  insti- 
tuenfli  liberos  .  .  .  *)iaec  si  vel  legere  nesciat,  tardiusc^ula,  aut  parum 
nata  ad  litteras  .  .  .  docebitur  a  marito  explicate  et  familiariter,  nee 
semel  ut  non  iiitelligat  modo,  verum  etiam  memoriae  infigantur,  ut  pa- 
rata  habeat  quum  usus  posoet. 

'"  fem.  Christ.  2,  11  (IV  256  f.):  praegnantes  .  .  ne  indulgeant  cra- 
pulae,  ne  inebrientur;  multi,  quae  a  matribiis  acta  sunt  dum  gestabantur, 
vitae  totius  morihus  retulere  .  .  .  matres  dum  uterum  gestaut,  dent  operam 
ne   quam   admittant  vehementem  cogitationem  deformis  rei,   turpis,   ob- 


F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik.  31 

vel  optimos  reddendi  filios,  vel  pessimos !  matres  boc  velim  ne 
ignoretis,  maximam  partem  malorurn  hominum  vobis  esse  acceptam 
referendam!  fem.  cbrist.  2,  11  (IV  259.  262).  in  den  jähren  der 
Vernunft  bat  hauptsächlich  der  vater  die  erziehung  des  sobnes  zu 
überwachen,    auf  sie   verwende    er   viel  mehr  Sorgfalt  als  auf  die 

scoenae;  pericula  item  devitent,  in  quibus  foeda  aliqua  visu  species  possit 
occurrere  .  .  .  praecogitent  qnicquid  possit  oculis  offerri,  ne  ex  inopinata 
novitate  noceat  si  quid  subito  aspexerint,  unde  contrahat  noxam  foetus.  — 
*fem.  Christ.  1,  1  (IV  70):  ..  a  lacte  ipso,  quod  velim  fieri  si  possit, 
maternum  esse  .  .  .  deinde  fit,  nescio  quo  putto,  ut  non  amorem  modo, 
verum  et  pronitatem  ad  certos  aliquos  mores  sugamus  cum  lacte;  2,  11 
(IV  257) :  accedit  bis  quod  utilius  est  foetui  muternum  lac,  quam  nutricis, 
tum  quia  ex  quibus  constamus,  ex  eisdem  congruentissime  alimur, 
.  .  .  tum  quia  nutrix  non  raro  alumnum  suum  admovet  pectori  invita  et 
subirata;  —  1,  1  (IV  71):  Chrysippus  sapientes  optimasque  eligi  nutrices 
praecepit,  quod  nos  et  sequemur  ....  neque  vero  tantam  curam  in  quae- 
renda  puero  nutrice  ponendam  volo,  quantam  puellae;  Quintilianus  satis 
habuit  dicere:  videndum  ne  sit  vitiosus  sermo  nutricibus,  propterea  quod 
qui  in  infante  insedit  sermonis  modus,  difficile  elueretur;  de  moribus 
nou  ita  fuit  sollicitus.  *trad.  disc.  3,  1  (VI  298):  hinc,  ut  idem  nutrices, 
et  nutricü  faciant  .  .  .  ne  perplexe,  absurde,  barbare  loquantur.  —  Fem. 
Christ.  2,  11  (IV  257  f.):  ante  omnia,  mater  tbesauros  suos  universos  in 
liberis  sitos  esse  ducet  .  .  .  quocirca  in  hoc  thesauro  conservando  atque 
excolendo  nuUus  recusandus  est  labor;  2,  11  (IV  263):  doch  die  matter 
verheimliche  den  kindern  ihre  liebe!  es  ist  der  streng  erzogene  Spanier, 
der  dies  vorschreibt,  charakteristisch  ist,  was  er  a.  a.  o.  über  sein 
eigenes  Verhältnis  zu  seiner  mutter  erzählt:  *nullum  filium  mater  te- 
nerius  amavit,  quam  mea  me;  nullus  unquam  minus  se  matri  sensit 
carum:  nunquara  t'ere  mihi  arrisit,  nunquam  indulsit,  et  tarnen  cum  domo 
tribus  aut  quatuor  diebus  (!)  ea  ubi  essem  inscia,  abfuissem,  paene  in 
gravissimum  incidlt  morbum,  reversus,  desideratum  me  ab  ea  non  in- 
tellexi;  ita  neminem  magis  fugiebam ,  magis  aversabar,  quam  matrem 
puer,  nullum  mortalem  magis  in  oculis  tuli  adolescens.  —  Fem.  cbrist. 
2,  11  (IV  261  f.):  nee  franget  nervös,  et  corporis  et  ingenii,  et  virtutis 
molli  educatione  .  .  .  raro  memini  vidisse  me  magnos  et  praestantes  sive 
eruditione  et  ingenio,  sive  virtute  viros,  qui  esseut  indulgenter  a  paren- 
tibus  educati  .  .  *nec  impediat  amor  quominus  et  a  pueris  vitia  per 
verbfra,  fletus,  lacrimas  [auf  seiten  des  kindes  natürlich]  arceamus,  et 
corpus  ac  ingenium  firmiora  reddantur  severitate  victus  atque  educa- 
tionis.  —  fromme  iind  gehaltvolle  erzählungen,  Sinnsprüche  etc.  werden 
der  mutter  als  mittel  zur  sittlichen  erziehung  fem.  christ.  2,  1  (IV  258  ff.) 
ausführlich  empfohlen,  vgl.  auch  exerc.  1.  Int.  dial.  prima  salutatio 
(I  285  f.).  —  Si  litteras  mater  sciat  (wie  er  es  off.  mar.  verlangt)  ipsa 
parvulos  pueros  eas  doceat,  ut  eadem  utantur  matre,  nutrice  et  magistra. 
fem.  Christ.  2,  11  (IV  258):  det  (mater,  operam,  ne,  saltem  filiorum  causa, 
rustice  loquatur  .  .  .  nullum  sermonem  melius  aut  tenacius  discunt  pueri, 
nullum  expressius,  quam  maternum;  illum  cum  vitiis  ipsis  aut  virtu- 
tibus,  si  quid  horum  habet,  reddunt.  die  von  Vives  geforderte  mütter- 
liche Unterweisung  in  der  religion  ist  christlich-moralischer  nicht  dogma- 
tischer art;  s.  fem.  christ.  2,  11  (IV  259ff. ).  die  aufgäbe  der  mutter 
erscheint  ihm  so  schwer,  der  dank  der  kinder  so  zweifelhaft,  dasz  er 
au.sruft  fem.  christ.  2,  11  (IV  254,  255):  equidem  rationem  expedire  ne- 
queo  istius  cupiditatis  filiorum.  o  ingrata  raulier,  quae  non  ao^noscis 
quantura  a  deo  acceperis  beneficium,  quod  vel  non  peperis,  vel  filios 
ante  moerorem  amiseris!  man  bedenke,  dasz  Vives'  ehe  kinderlos  war. 
vgl.  auch  off.  mar.  11  (IV  415  f.). 


32  F.  Kuypers :  Vives  in  seiner  pädagogik. 

Sicherung  einer  reichen  erbschaft.  die  rute  darf  bei  schwei-en  ver- 
gehen nicht  gespart  werden."''  der  vater  prüfe  die  anlagen  seines 
Sohnes  und  bestimme  darnach  dessen  lebensberuf,  wobei  ihn  ein- 
sichtige fi'eunde  und  verwandte  uaterstützen  sollen."" 

Isaeh  der  anläge  richtet  sich  auch  der  beginn  der  Schulzeit,  der 
zwischen  dem  vierten  und  siebenten  jähre  liegt."' 

§  22.  Wenn  es  möglich  ist,  werde  der  knabe  —  bei  dem 
schlechten  zustande  der  bestehenden  anstalten  —  in  gemeinschaft  mit 
einem  mitschüler  von  einem  hofmeister  erzogen;  ist  dieses  nicht 
zu  erschwingen,  so  schicke  man  ihn  in  eine  öffentliche  gemelnde- 
schule.  "**  wenn  es  die  häuslichen  Verhältnisse  ohne  gefahr  für  das 
kinderherz  zulassen ,  wohne  er  während  der  Schuljahre  bei  seinen 
eitern,  sonst  in  einem  hause,  wo  er  liebevolle  und  zuverlässige  be- 
aufsichtigung  erfährt.  "* 

"^  off.  mar.  einl.  (IV  308):  ergo  patres,  bene  erga  certam  sobolem 
affecti,  suscipiunt,  alimt  pro  facultatibus,  instruunt,  arcent  a  vitiis,  co- 
hibent  et  comprimunt  affectus,  eliciunt  rationis  et  iudicii  vim  .  .  .  in- 
structos  non  deserunt  ...  quibuscunque  possunt  rebus  ornaut ,  t'ovent, 
adiiivaiit.  trad.  disc.  2,  2  (VI  280):  magnam  esse  patri  curam  de  filii 
moribus  convenit,  tanto  maiorem  quam  de  liereditate,  qunnto  pluris  sunt 
mores;  2,  2  (VI  285):  quae  si  Haut  (vergehen  gegen  die  reverentia), 
disciplinae  virga  perpetua  ante  oculos  pueri  et  circum  dorsnm  versabitur. 

>'f'  *trad.  disc.  2,  2  (VI  281):  principio  explorandum  est  in  patria 
ab  amicis,  qui  iiosse  id  queant,  ingenium,  sitne  eruditioni  satis  idoiieum; 
...  hinc  an  eruditione  probe  usurus;  *2,  2  (VI  284):  poterit  pueri  in- 
genium a  propinquis  et  necessariis  explorari  cui  sit  rei  potissimum 
idoneum  .  .  .  si  litteris  non  sit  aptus,  eludet  in  Indo  rem,  et  qnod  re 
est  pretiosius,  tempus. 

"'  fem.  Christ,  ii  (VI  73):  tempus  nullum  diffinio;  alii  enim  anno 
septinio  exordiendum  putarerunt  .  .  .  alii  quarto,  quintove  .  .  .  ego  vero 
totam  hac  de  re  deliberationem  ad  parentnm  prudentiam  reiicio,  qui  ex 
qualitate  et  habitu  int'antis  consilium  sument.  er  sagt  dieses  freilich, 
wo  er  über  mädclienerziehung  spricht;  selbstverständlich  gilt  es  aber 
auch  für  die  knaben.  allerdings  umfaszt  der  erste  teil  de.s  lections- 
planes  seiner  ücademie  die  zeit  trad.  disc.  3,  3  (VI  338):  a  septimo  ad 
quintumdecimuni  annuin,  indes  i.st  dieses  nicht  wörtlich  zu  nehmen,  ver- 
langt er  doch  trad.  disc.  2,  2  (VI  279)  die  aufnähme  in  die  akademie 
a  lacte.  man  denke  an  die  hervorragende  berücksichtigung  der  Indivi- 
dualität (s.  a.  299)  bei  Vives.  darum  ist  wohl  nicht  genau:  Arnaud  s.  22: 
cum  puer  .  .  .  septimum  annum  attigerit,  iam  tradetur  magistris. 

"^  *trad.  disc.  2,  2  (VI  280  f.):  ergo  pater  si  pote.st,  paedagoguni 
asciscat  filio  sanctum  virum  et  incorruptum,  ab  eo  doceatur,  si  is  sit, 
qui  docere  possit  (also  die  liauptaufgabe  desselben  soll  die  erziehung 
sein.  vgl.  Vives'  Stellung  bei  Croy  anm.  12)  modo  ne  solus,  minus  enim 
proficiet,  ut  Quintilianus  ostendit.  sogar  für  die  prinzessin  Maria  ver- 
langt Vives  drei  bis  vier  mitschülerinnen.  s.  stud.  puer.  1  (I  267).  si  parare 
(paedagogum)  omnino  non  valet,  aut  non  talem,  a  quo  possit  bonam 
institiitionem  accipeie,  aut  si  condiscipulos  non  habet,  mittat  ad  gym- 
nasium  civitatis  publicum. 

"'■'  ausführlich  trad.  disc.  2,  2  (VI  281  ff.),  die  darstellung  ist  nicht 
besonders  klar.  *5,  3  (VI  406):  sitque  domus  sua  unieuique  velut  portus 
quidam  molestiarum  et  curarum  .  .  .  domutn  ipsam  non  minus  quam 
patriam  diligant.  Vives  will  nicht  internatserziehung.  man  beachte  aber, 
dasz  er  nicht  principielle  gründe  gegen  dieselbe  vorbringt,  sondern  nur 


F.  Kuypers :  Vives  in  seiner  pädagogik.  33 

Als  musteranstalt  stellt  Vives  seine  ideale  akademie  hin.  er 
spricht  aber  auch  von  andern  schulen,  für  welche  mutatis  mutandis 
die  für  die  akademie  gegebenen  Vorschriften  gelten,  es  scheint  ihm 
folgende.s  bild  vorzuschweben'*": 

In  der  familie  erhält  das  kind  den  ersten  Unterricht  in  religion 
und  muttersprache.  '^' 

In  jeder  gemeinde  soll  eine  schule  errichtet  werden,  an  der  ge- 
lehrte und  rechtschaffene  männer  bei  staatlicher  besoldung  knaben 
und  Jünglinge  diejenigen  dinge  lehren,  welche  ihrem  alter  und  ihrer 
begabung  entsprechen,  die  erziehung  zu  heimischen  Bitten  und 
zum  bürgerlichen  leben  soll  ihnen  von  erfahrenen  greisen  zu  teil 
werden.  '^- 

In  jeder  politischen  provinz  bestehe  eine  akademie.'" 

Auszerdem  gebe  es  noch  anstalten ,  welche  sich  vorwiegend 
den  schönen  künsten  oder  den  classischen  und  orientalischen  sprachen 
widmen,  letzteres  mit  rücksicht  auf  die  mission.'-* 


auf  die  Schlechtigkeit  der  lehrer  und  schüler  in  den  bestehenden 
Internaten  hinweist;  ist  doch  seine  eigene  ideale  academie  ein  internat. 
ähnliches  brinjit  er  gegen  den  besuch  der  pädagogien  vor,  welche  der 
'vornehmen'  bildung  dienen. 

'2"  sich  über  diese  anschauungen  des  Vives  unzweifelhafte  klarheit 
zu  verschaffen,  ist  bei  den  vielen  Zweideutigkeiten,  Wiederholungen  und 
abschweifungen  nicht  leicht,  bestehendes  und  »ewolltes  ist  nicht  überall 
genau  geschieden;  auszer  in  trad.  disc.  schwebt  ihm  die  Vorstellung 
seiner  academie  nicht  vor,  auch  hier  verläszt  er  sie  oft.  ferner  ge- 
braucht Vives  die  gewählten  bezeichnungen  ohne  strenge  Unterscheidung: 
schola  (VI  271,  295  u.  ö.;,  gymnasium  (VI  273.  281.  296  u.  ö.),  gymna- 
sium  linguarum  (VI  300),  academia  oft,  paedagogium  (deutlich  in  ver- 
schiedenem sinne  VI  278.  281),  ludus,  ludus  Htterarius  (I  287.  VI  285, 
304  u.  ö.).  z.  b.  trarl.  disc.  2,  2  (VI  282):  grandiusculi  adolescentes  non 
cohibentur  in  academiis  a  praeceptoribus  et  magistris  ludorum;  scilicet 
non  audent  hi,  ne  mutent  gymnasium.  exerc.  1.  lat.  dial.  schola:  quam 
elegans  gymnasium  et  magnificum !  haud  esse  in  academia  hac  reor 
ullum  esse  praestantius.  trad.  disc.  2,  1  (VI  272,  273)  ist  gymnasium 
vollkommen  identisch  mit  schola  und  academia;  2,  2  (VI  281)  ist  es 
ausdrücklich  etwas  anderes  als  academia  usw. 

'-»  vgl.  §  21. 

'^  so  deutlich  trad.  disc.  2,  3  (VI  285).  Vives  bedauert  es  sehr, 
dasz  heute  nicht  mehr,  wie  einst  im  alten  Rom,  dessen  republikanische 
erziehung  ihm  in  mancher  beziehung  musterhaft  erscheint,  greise  und 
erfahrene  männer  sich  der  erziehung  fremder  söhne  annehmen,  es  fehlt 
ihnen  das  Interesse  für  das  gemeinwohl. 

'23  trad.  disc.  2,  1  (VI  273):  statuatur  in  unaquaque  provincia  aca- 
demia communis  illius;  provinciam  definio,  non  limitibus  naturae,  .... 
sed  ditione  ac  principatu.  so  mit  rücksicht  auf  das  Studium  in  kriege- 
rischen Zeiten,     vgl.  anm.  133. 

'2^  trad.  disc.  2,  1  (VI  271):  nee  amoenum  (locum  scholae)  elegerim  .  .  . 
nisi  forte  deliciosis  disciplinis  sit  danda  opera  ut  poeticae,  musicae, 
historiae.  *3,  1  (VI  300):  cuperem  ut  in  plerisque  nostris  civitatibus 
gymnasia  instituerentur  linguarum,  non  solum  illarum  trium  (latein, 
griechisch,  hebräisch)  sed  arabicae,  sed  earum  etiam.  quae  essent  Aga- 
renis  populis  vernaculae,  quas  addiscerent  ....  ut  eis  instructi  Christum 
illis    gentibus    annuntiarent.     die    bekehrung    der   Muhammedaner    (und 

N.  Jahrb.  f.  phil.  u.  päd.  U.  al)l     1897  hft.  1.  3 


34  F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik. 

An  die  akademie  schlieszt  sich  die  gesamtdarstellung  seiner 
Unterrichtslehre  an.  weitere  Charakterisierung  der  übrigen  schulen 
fehlt  oder  ist  nicht  klar.  '^* 

Verfall  der  Wissenschaften. 

§  23.  Bevor  ich  Vives'  ideale  akademie  eingehender  darstelle, 
gebe  ich  kurz  die  gründe  an,  welche  nach  ihm  den  gänzlichen  ver- 
fall der  Wissenschaften  und  die  notwendigkeit  einer  reform  derselben 
herbeigeführt  haben '^®;  und  zwar  mögen  hier  die  allgemeinen  ur- 


Juden)  liegt  Vives  sehr  am  herzen,  ihr  widmet  er  das  vierte  buch  der 
ver.  fid.  darum  gebührt  ihm  ein  platz  in  Grässe  (cit.  anm.  108)  §  207, 
VFO  er  merkwürdiger  weise  fehlt,  es  mochten  die  grausamen  Morisko- 
kämpfe  in  seiner  heimat  ihm  solche  gedanken  nahe  legen;  er  will  nicht 
ihre  bekehrung  durch  Waffengewalt;  s.  ver.  fid.  4,  4  (Vlll  373),  s.  anm.  176. 

'^^  es  scheint  fast,  dasz  Vives  bei  dem  'in  unaquaque  civitate'  zu 
errichtenden  'ludus  litterarius',  trad.  disc.  2,  3  (VI  283),  dessen  unter- 
richtsplan nicht  näher  bestimmt  ist,  an  eine  lateinlose  gemeindeschule 
gedacht  hat  (die  damals  auch  schon  bestanden,  s.  Janssen  cit.  anm.  158, 
Braunschw.  Schulordnung,  cit.  ebenda),  dann  wäre  dieser  wohl  gegen- 
über zu  stellen  das  'in  plerisque  civitatibus'  zu  errichtende  'gymnasium 
linguarum',  trad.  disc.  3,  1  (VI  300).  eine  dritte  anstalt  wäre  die  'in 
unaquaque  provincia'  zu  gründende  'academia',  trad.  disc.  2,  1  (VI  271). 
sehen  wir  nun  davon  ab,  flat^z  diese  anstalten  sich  nicht  ablösen,  —  der 
nach  trad.  disc.  2,  3  (VI  283)  'post  flexum  aetatis'  zu  vollziehende  Über- 
gang aus  der  gemeindeschule  in  die  academie  gilt  offenbar  von  bestehenden, 
nicht  von  gewollten  anstalten  —  so  zeigt  sich  uns  das  von  Comenius 
entworfene  bild  der  mutterschule,  deutschen  schule,  Stadtschule  und  aca- 
demischen  schule,     indes  ist  dieses  nirgends  klar  ausgesprochen. 

'^''  die  folgenden  ausführungen  bilden  die  liauptgedanken  seiner  sieben 
bücher  de  causis  corruptarum  artium,  auch  in  seinen  übrigen  kritischen 
werken  sind  sie  häufig  angedeutet.  Melchior  Canus  urteilt:  opp.  Parisiis 
1578,  loci  theol.  X  9,  453:  dixit  ille  in  libris  de  corruptis  disciplinis 
multa  vere,  multa  praeclare.  atqui  fidenter  pronunciavit  aliquando,  tam- 
quam  e  divorum  concilio  descendisset.  Simon  (cit.  bei  Paquot  s.  121) 
zieht  dieses  werk  allen  Schriften  des  Erasmus  vor.  Andres  (cit.  bei 
Hause  s.  5)  stellt  es  in  eine  reihe  mit  dem  organon  Bacons.  Vives 
hat  sich  durch  dasselbe  einen  platz  unter  den  bedeutendsten  encyclopä- 
disten  des  16u  Jahrhunderts  gesichert  (aufgeführt  sind  dieselben  bei 
Grässe  (cit.  a.  108)  s.  1067  f.,  s.  a.  L.  Wachler,  hdbch.  d.  gesch.  d.  litt. 
II  2,  Frankfurt  1824,  s.  3  f.).  allein  das  werk  ist  auch  nicht  frei  von 
mäijgeln,  namentlich  hat  der  Verfasser  in  st-inem  heiligen  eifer  sich  zu 
manchen  Übertreibungen  hinreiszen  lassen.  Melchior  Canus  tadelt  a.  o.: 
plus  ille  nimio  interdum  sibi  indulget,  dum  corruptas  disciplinas  per- 
sequitur.  nee  novitios  solum  errores  .  .  .  coarguere,  sed  antiquorum  re- 
cepta  placita  convellere  pertentat,  maximo  quidem  semper  verborum 
ambitu,  sed  vi  quandoque  argumentorum  minima.  Gerard  Joan.  Vossius 
(cit.  bei  Pope  Blount  s.  366):  in  re  crilica  saepissime  lapsus  est  loan. 
Lud.  Vives.  er  selbst  sagt  caus.  corr.  praef.  (VI  7):  nei-  dubito,  quin 
ipse  sim  in  bis  quae  attuli,  saepenumero  falsus.  Paulsen  (cit.  anm.  5) 
s.  15,  2e  a.  I  bd.  s.  27:  'es  ist  gewöhnlich,  von  dem  verfall  des  kirchlichen 
Schulwesens  am  ausgang  des  mittelalters  zu  reden,  so  viel  ich  sehe, 
geben  die  thatsachen  hierzu  keine  veranlassung',  vgl.  J.  Janssen 
(cit.  anm.  158)  I  s.  22  ff.  die  Braunschweigische  Schulordnung,  auf 
welche    dagegen  Th.  Ziegler   (cit.  anm.  4)   s.  38    hinweist,    scheint    mir 


F.  Kuypers :  Vives  iu  seiner  pädagogik.  35 

Sachen  des  niederganges  der  studien  platz  finden,  die  besonderen, 
welche  die  einzelnen  Wissenschaften  betreffen,  sollen  bei  der  behand- 
lung  der  jeweiligen  disciplin  zur  spräche  kommen. 

Auszer  der  natürlichen  unvollkommenheit  unseres  intellectes 
sind  es  zunächst  moralische  mängel,  welche  die  rechte  erkenntnis 
der  dinge  verschlossen  haben,  denn  den  Vertretern  der  Wissenschaft 
ist  es  nicht  um  die  Wahrheit,  sondern  um  befriedigung  des  hoch- 
mutes,  des  ehrgeizes  und  der  habsucht  zu  thun.  jeder  gelehrte  ver- 
harrt halsstarrig  bei  seiner  meinung  und  scheut  sich,  von  anderen 
sich  corrigieren  zu  lassen,  blosz  um  nicht  als  besiegt  zu  gelten,  der 
eine  beneidet  den  anderen  um  seinen  wissenschaftlichen  rühm  und 
sucht  ihn  zu  überbieten  statt  zu  übertreffen,  blosz  um  als  ^erfinder' 
zu  glänzen,  endlich  treiben  so  viele  die  Wissenschaften  lediglich 
um  geld  zu  verdienen,  wobei  ein  ernstes  streben  nicht  gedeihen  kann : 
nam  qui  propter  mercedem  operam  sumunt,  mallent,  sie  fieri  posset, 
mercedem  citra  operam  omnem  consequi.  caus.  corr.  1,  8  (VI  59). '-' 
überhaupt  sind  es  schlimme  bände,  in  welchen  der  betrieb  der 
Wissenschaften  liegt:  die  sitten  der  professoren  sind  verderbt,  die 
akademischen  grade  sind  käuflich,  die  Studenten  sind  anmaszend, 
unwissend  und  verkommen,  die  lehrer  der  jugend  sind  ungebildete 
und  schlechte  männer,  so  dasz  das  volk  mit  groszer  Verachtung  auf 
die  jünger  der  Wissenschaft  schaut.'^** 

Objective  gründe  des  Verfalles  sind  folgende :  man  scheute  sich 
über  die  alten  hinauszugehen,  huldigte  höchstens  dem  'verbalen 
realismus"-^  statt  die  tradition  zu  verlassen  und  die  natur  selbst 
zu  beobachten. 

Aber  auch  die  Schriften  der  alten,  jene  einzigen  quellen  der 
Wissenschaften,  wurden  nicht  verstanden,  sie  enthalten  an  sich  viel 
dunkles  und  vieldeutiges,  habet  nasum  cereum  Aristoteles,  caus. 
corr.  1,  10  ("VI  70).  die  endlosen  commentare  haben  die  confusion 
noch  vergröszert. 

mehr  einzelne  misstände  verhüten  als  allgemeine  rügen  zu  wollen, 
geordnete  schulzustände  zeigt  auch  Le'on  Maitre,  les  ^coles  e'piscopales. 
cit.  bei  Arnaud  s.  38.  vgl.  dazu  Heppe,  das  Schulwesen  des  mittelalters 
und  dessen  reform  im  16n  jahrh.,  Marburg  1860,  s.  43ff. ;  Th.  Muther, 
aus  dem  universitäts-  und  gelehrtenleben  im  Zeitalter  der  reformation. 
Erlangen  186ß,  s.   6  ff. 

*^'  jene  bereicherungssucht  dei  lehrer  lag  zum  teil  in  dem  ganzen 
Unterrichtsbetriebe  der  mittelalterlichen  Universität  begründet,  indem 
viele  nach  absolvierung  der  artistischen  facultät  (etwa  unseres  ober- 
gymnasiums)  unterrichteten,  um  sich  die  mittel  für  ihr  juristisches  oder 
medicinisches  fachstudium  zu  verschaffen,  vgl.  Arnaud  s,  34,  Paulsen 
8.  17,  2e  a.  I  hd.  s.  29. 

'^^  geradezu  an  Rousseau  erinnert:  *fem.  christ.  2,  11  (IV  260  f.): 
parentes,  nutrices,  nutricii,  magistri  eruditionis,  consanguinei,  necessarii, 
familiäres,  magnus  erroris  magister  populus,  hi  omnes  semina  illa  vir- 
tutum  radicitus  conantur  extirpare ,  et  emicantem  igniculum  stultitia 
suarum  opinionum  tamquam  ruiua  opprimere. 

'^^  über  diesen  ausdruck  s.  v.  Raumer  (cit.  anm.  6)  I,  5e  a.,  s.  291  f. 
zu  Vives'  realem  realismus  vgl.  namentlich  §  45. 

3' 


36  F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik. 

Die  handbchriften,  welche  diese  schät2e  vermitteln,  sind  durch 
historische  Umwälzungen  oder  durch  nachlässigkeit  vernichtet  oder 
beschädigt  worden,  was  aber  auf  die  nachweit  gekommen  ist,  wurde 
bona  fide  aufgenommen  ohne  litterarische  und  historische  kritik'^"; 
ja  in  den  gänzlich  entarteten  disputationen  ist  auch  der  gehalt  der 
vorliegenden  schritten  verkümmert  und  verdreht  worden.'^' 

Admonebimus  .  .  .  nunc  velut  in  vestibulo  .  .  .  ut  purius  tra- 
dantur  artes,  simplicius,  minus  infectae  ac  imbutae  vafritia  atque  im- 
posturis,  ut  quod  eins  fieri  valeat ,  verae  illi  ac  germanae  simplici- 
tati  Christianus  populus  reddatur  . .  .  nihil  opus  est  maiore  acrimonia, 
sed  tamquam  retusione  quadam,  non  quo  imprudentes  fiant  horaines, 
sed  ut  sinceri  magis  ac  simplices  atque  ea  de  causa  prudentiores, 
non  astutiores.    trad.  disc.  1,  6  (VI  268). 


''"  dieser  kritik  widmet  er  einen  bedeutungsvollen  abschnitt,  dessen 
reife  weit  über  jene  zeit  hinausgeht,  caus.  corr.  1,  6  (VI  44  ff.),  vgl. 
Haase  (cit.  anm.  178)  s.  15. 

131  Vives  hatte  zu  einer  solchen  darstellung  das  rüstzeug,  weil  er 
selbst  in  der  scholastischen  Wissenschaft  erzogen  war.  man  hat  an  Vives 
getadelt,  dasz  seine  positive  reform  hinter  der  negativen  kritik  der 
Wissenschaften  weit  zurückgeblieben  ist.  so  Melchior  Canus  a.  o.  s.  453: 
multo  .  .  .  viris  doctis  probaretur  magis,  si  qua  diligentia  et  dissertitu- 
dine  causas  corruptarum  artium  expressit,  eadem  collapsas  restituisset, 
sed  in  tradendis  disciplinis  elanguit,  cum  in  carpendis  erroribus  viguisset. 
nee  mirum.  nam  aliorum  errata  etiam  probabiliter  reprehendere,  facile 
est  id  quidem.  artes  vero,  quas  iam  inde  a  multis  annis  viri  quidam 
et  indocti  et  barbari  deflexerunt,  ad  rectam  lineam  revocare,  scilicet  hoc 
opus,  hie  labor  est.  I.  A.  Comenius  lanua  ling.  res.  praef.  (opp-  I, 
Amsterdami  1657,  s.  "250):  questi  sunt  iam  pridem  viri  magni,  Vives, 
Erasmus  .  .  .  alii:  quorum  satis  luciilentae  ea  de  re  prostant  querelae, 
non  item  radicitus  malum  toUentia  remedia.  derselbe  physicae  Synopsis 
praef.  s.  8  (hgg.  u.  übers,  v.  J.  Reber,  Gieszen  1896):  dolere  vehementer 
coepi  virum  tam  sa^^acis  ingenii,  postquam  tot  evidentissimas  notasset 
deviationes,  non  explanandis  istis  salebris  admovisse  manum.  Bruckerus 
(cit.  Maians  vita  s.  109):  si  saniora  dare,  quam  morbosa  et  putrida  re- 
tegere  .  .  voluisset,  inter  seculi  maximos  rut'erendus  esset,  der  vorwarf 
ist  nicht  ganz  unberechtigt;  aber  man  bedenke  Vives'  eigenes  wort:  trad. 
disc.  3,  4  (VI  316):  nihil  adeo  esse  praeposterum,  ut  fructum  iam  tum 
maturum  exigere  quum  arbores  germinare  primo  vere  incipiunt. 
(fortsetzung  folgt.) 
Kiel.  Franz  Kuypers, 


G.  Fasterding:  zur  lateinischen  foriLenlehre.  37 

2. 

ZUR  LATEINISCHEN  FORMENLEHRE. 


So  viel  auch  bereits  geschehen  ist,  um  der  lateinischen  gram- 
matik  einerseits  durch  ausscheidung  von  allerlei  überflüssigem,  ander- 
seits durch  zusammenfassen  unter  einheitliche  gesichtspunkte  eine 
für  die  schule  brauchbarere  gestalt  zu  geben,  es  bleibt  doch  immer 
noch  zu  thun  übrig,  ich  habe  in  dieser  beziehung  die  formenlehre 
mehrfach  einer  eingehenden  prüfung  unterzogen  und  dabei  eine 
reihe  von  punkten  herausgefunden ,  welche  der  bessernden  band 
noch  bedürfen. 

Die  Wörter  auf  er  nach  der  zweiten  declination  mit  stamm- 
haftem e  sind  in  den  neueren  grammatiken  freilich  auf  puer,  socer, 
gener,  vesper,  liberi,  asper,  liber,  tener,  miser,  die  Zu- 
sammensetzungen mit  fer  und  ger  und  das  schwankende  d  ext  er 
zusammengeschrumpft:  aber  ein  genri,  tenri,  misri  wird  man 
doch  so  wenig  wie  puri  bilden. 

Ich  würde  der  regel  folgende  allgemeine  fassung  geben:  die- 
jenigen masculina  und  fem  inina  sowie  wandelbaren  eigen- 
schaftswörter  (d.  h.  adjectiva  mehrerer  endungen),  deren  nomi- 
nativ  auf  ber,  per,  der,  ter,  ger,  cer  und  fer  ausgeht,  ohne 
dasz  der  mitlauter  vor  er  verdoppelt  ist  (auf  er  nach  ungedoppelter 
muta  oder  f  würde  die  wissenschaftliche  grammatik  sagen),  haben 
vor  antretender  endung  blosz  r,  z.  b,  ager,  gri;  pater,  tris; 
Afer,  fri;  pulcher,  chra,  chrum;  acer,  cris,  cre.  sonst  ist 
das  e  stammhaft,  wie  in  puer,  gener,  miser,  vomer,  celer, 
agger.  auszerdem  haben  stammhaftes  e  die  Wörter  auf  sper  (wie 
vesper,  asper)  sowie  liber,  socer  und  die  Zusammensetzungen 
mit  ger  und  fer,  häufig  auch  dexter;  nach  der  dritten  declination 
carcer  und  later,  und  von  den  Wörtern  mit  pronominaler  declina- 
tion alter. 

Die  dritte  declination  ermangelt  auch  in  den  neueren  gramma- 
tiken noch  sehr  der  Übersichtlichkeit,  in  der  sacbe  ganz  gut  ist 
Stegmanns  Scheidung  in  consonantische  und  vocalische  stamme;  nur 
ist  die  benennung  ungenau,  da  man  z.  b.  die  stamme  von  grus  und 
sus  doch  nicht  als  consonantische  bezeichnen  kann,  wie  man  das 
nach  seiner  einteilung  thun  musz.  auszerdem  dürfte  die  Scheidung 
der  vocalischen  stamme  in  rein  vo.calische  und  solche  mit  gemischter 
bildung  die  klarheit  nicht  gerade  besonders  erhöhen. 

Mir  scheint  es  praktischer,  die  stamme  in  einfache  und  er- 
weiterte zu  scheiden  und  diese  erweiterung  in  der  vocalischen  Ver- 
längerung des  nom.  sing,  zu  suchen,  die  stamme  mit  mehrconsonanti- 
schem  auslaut  würden  dann  den  einfachen  stammen  zuzuzählen  sein, 
und  es  bedürfte  nur  der  bemerkung,  dasz  die  vocalische  endung  bei 
den  neutris  teils  (z.  b.  in  mare)  aus  i  in  e  abgeschwächt,  teils  (z.  b. 
in  calcar,  animal)  ganz  abgefallen  sei.    wird  nun  gelernt,  dasz 


38 


G.  Fasterding:  zur  lateinischen  formenlehre. 


1)  die  parisyllaba  auf  is  und  es, 

2)  die  neutra  auf  e,  al  und  ar, 

3)  die  adjective  mit  dem  neutrum  auf  e  erweiterten,  die  übrigen 
Substantive  und  die  comparative  aber  einfachen  stamm  haben,  dann 
ist  die  Sache  äuszerst  klar,  es  ergibt  sich  alsdann  für  die  endungen 
des  abl.  sing.,  nom.  acc.  plur.  neutr.  und  gen.  plur.  folgende  tabelle: 


,  ,     .  nom.   acc.  , 

abl.  sing-.  !p,„r.  „e^r     g-cn,  plur. 


einfache 
Stämme 


nicht  mehrfache 
consonanz 


Stammauslaut 


mehrfache 
consonanz 


erweiterte 
Stämme 


masculina  und  femiuina 


neutra  und  adjective  ^  ^'^  ^"™ 

Eine  besondere  behandlung  hätten  dann  noch  die  unwandel- 
baren adjective  (=  adjective  einer  endung)  zu  erfahren,  die  regeln 
über  die  endungen  derselben  in  den  oben  genannten  drei  casus  sind 
in  den  neueren  grammatiken  sehr  vereinfacht,  doch  wird  man  hier 
wie  auch  bei  den  abweichungen  der  Substantive  von  der  oben  auf- 
gestellten tabelle  viel  klarer  sehen,  wenn  man  folgendes  beachtet, 
worauf,  so  viel  ich  weisz ,  noch  keiner  der  neueren  grammatiker  so 
wenig  wie  einer  der  alten  gekommen  ist. 

Letzteren  war  bereits  bekannt,  dasz  gewisse  adjective  der  dritten 
declination,  von  personen  gebraucht,  im  abl.  sing,  die  endung  e 
aufweisen ,  während  sie  als  sachattribute  auf  i  ausgiengen.  dieses 
logische  dement,  welches  sich  hier  in  der  formenlehre  zeigt,  ist 
höchst  bemerkenswert,  man  wird  nämlich  finden,  dasz  dasselbe  — 
allerdings  in  etwas  weiterer  ausdehnung  —  in  Verbindung  mit  einem 
lautlichen  der  grund  ist  von  erscheinungen,  welche  man  für  die  Sub- 
stantive der  dritten  declination  in  folgende  regel  fassen  kann:  die 
lebende  wesen  bezeichnenden  Substantive  (man  kann  sie  kurz 
animal-substantive  nennen)  der  dritten  declination,  deren  ursprüng- 
licher (also  überhaupt  nicht  oder  noch  nicht  erweiterter)  stamm  auf 
liquida  nach  kurzem  vocal  oder  nach  tenuis  auslautet,  haben 
im  gen.  plur.  die  endung  um. 

Unter  diesen  gesichtspunkt  (der  bei  der  behandlung  der  ele- 
raentargrammatik  eben  nur  für  die  anordnung,  nicht  für  die  auf- 
fassung  des  schülers  maszgebend  sein  würde)  fallen  dann  also  nicht 
nur  die  für  den  anfänger  ausreichenden  canis,  iuvenis,  senex, 
pater,  raater,  frater,  sondern  auch  z.b.  accipiter,  volucris, 
tribuuus  celerum.  auch  der  gen.  plur.  mugilum  (von  dem  der 
anfänger  natürlich  auch  nichts  zu  wissen  braucht)  gehört  hierher, 
aus  welchem  nicht,  wie  Charis.  I  15  s.  82  meint,  notwendig  auf 
den  nom.  sing,  mugil  zu  schlieszen  ist:  derselbe  kann  ebenso  gut 
mugilis  sein. 


G.  Fasterding;:  zur  lateinischen  foroienlehre. 


39 


Auf  tenuis  nach  kurzem  vocal  ist  die  regel  ausgedehnt  in 
apum  neben  dem  gewöhnlichen  apium. 

Bei  liquida  nach  media  findet  schwanken  statt :  also  I  n  s  u  b  e  r , 
Insubrum  und  Insubrium. 

Wörter  wie  parens,  sedes,  welche  man  in  der  gram matik  in- 
mitten solcher  der  eben  erwähnten  art  findet,  sind  unter  einen  andern 
gesichtspunkt  zusammenzufassen,  dies  ist  folgender:  mehrere  auf 
Zungenlaut  (wobei  zu  beachten,  dasz  im  lateinischen  auch  r  dazu 
gehört)  oder  c  nach  langem  vocal  oder  nach  liquida  auslautende 
Stämme  weichen  von  den  über  den  gen.  plur.  gegebenen  regeln  ab 
(haben  also  entweder  blosz  oder  auch  ium,  wo  man  um,  und 
um,  wo  man  ium  erwarten  sollte),  hierhergehören  fauces,  mus, 
lis,  plus,  sedes,  vates,  parens,  mensis,  civitas  usw. 

Selbstverständlich  müste  man  sich  bei  der  behandlung  in  den 
unteren  classen  auch  hier  mit  der  aufzählung  der  Wörter  begnügen. 

In  bezug  auf  die  unwandelbaren  adjective  gestaltet  sich  die 
regel  etwas  anders,  sie  lautet  bei  diesen  nämlich  so :  unwandelbare 
adjective  (=  adjective  einer  endung)  der  dritten  declination,  welche 
ausschlieszlich  oder  zunächst  lebenden  wesen  zukommen  (animal- 
adjective)  mitkurzsilbigem  stammausgang  bilden,  wenn  letzterer 
auf  muta  oder  er  auslautet,  den  abl.  sing,  auf  e,  sonst  auf  i,  den 
gen.  plur. .auf  um  und  keinen  nom.  acc.  plur.  neutr. ,  also  z.  b. 
divite,  divitum,  paupere,  pauperum,  memori,  memorum 
(poet.),  cicuri,  cicurum  (wegen  seiner  Seltenheit  aus  der  ele- 
mentargrammatik  wegzulassen). 

Im  übrigen  läszt  sich  für  die  unwandelbaren  adjective  der 
dritten  declination  folgende  tabelle  aufstellen: 


abl.  sing-. 

nom.  acc. 
plur.  neutr. 

^en.  plu,-. 

1)   mehrsilbige    animal- adje  ctive   mit 
mit  kurzsilbigem  stammausgang; 

e 

- 

um 
um 

2)   substantiv-comp  o s i t a (adjective, deren 
declinierbarer  teil  einen  substantiv-stamm 
enthält) ; 

Stammausgang  J^   ^'°[^,J^,\,  consonanz 

I 

tia ,  dia 
tia,  dia 

um 
ium 

3)  die  übrigen; 

a.)  ev    .    .    . 

e                 a 
T         i        ia 

um 

Stammausgang  ^>  ^^^^^ 

ium 

Zu  3  a  wäre  zu  bemerken,  dasz  die  angegebenen  endungen  sich 
nur  bei  vetus  finden,  über  dagegen  den  (in  classischer  prosa  nicht 
vorkommenden)  ablativ  gewöhnlich  auf  i  bildet. 

Beispiele  zu  3b  sind  u.  a.  simplex,   hebes,   teres,   par, 


40  G.  Faeterding :  zur  lateinischen  formenlehre. 

audax,  constans,  locuples,  dis,  nostras,  optimas,  pena- 
tes,Arpinas,Samnis,Veiens,  die  participien  auf  ans  und  ens. 

Zu  bemerken  ist  dabei  allerdings,  dasz  die  unwandelbaren  ad- 
jective,  deren  stamm  auf  t  nach  langem  vocal  oder  nach  liquida 
ausgebt  (also  namentlich  die  participien),  wenn  sie  als  persönliche 
Substantive  gebraucht  werden  (z.  b.  a  sapiente,  ab  Arpinate) 
oder  wenn  sie  in  attributiver  Verbindung  mit  einem  subslantiv  sich 
durch  ein  mit  einem  genitiv  verbundenes  Substantiv  übersetzen 
lassen  (also  z.  b.  praesente  amico  in  gegenwart  des  freundes, 
asole  Oriente  von  Sonnenaufgang)  —  in  dieser  fassung  dürfte 
die  regel  auch  dem  anfänger  klar  sein  — ,  die  ablativendung  e  haben, 
für  den  schulgebrauch  wird  das  genügen,  darüber  hinaus  läszt  sich 
eine  allgemeine  regel  schwerlich  aufstellen,  da  eben  der  Sprach- 
gebrauch der  Schriftsteller,  wie  das  bei  der  zwitterstellung  dieser 
Wörter  erklärlich ,  schwankend  ist. 

Die  entsetzlichen  gereimten  geschlechtsregeln  verschwinden 
gott  sei  dank  allgemach  aus  den  neueren  grammatiken.  manches 
falsche,  manches  überflüssige  ist  ausgemerzt  und  der  eine  oder 
andere  neue  gesicbtspunkt  gefunden,  ich  habe  mich  bemüht,  auch 
hier  eine  noch  gröszere  einfachheit  und  Übersichtlichkeit  zu  schaffen 
und  gebe  hier  zunächst  eine  kurze  dai*stellung  der  geschlechtsregeln 
zur  dritten  declination. 

Von  den  stammen  auf  1,  m,  r,  s  sind  masculina: 

1)  die  auf  ör;  neutrum  jedoch  os,  oris  der  mund; 

2)  die  auf  r  nach  muta  (praktisch  wird  die  elementargram- 
matik  sagen:  die  auf  r  nach  einem  andern  mitlauter;  hierherge- 
hören z.  b.  die  Wörter  imber,  uter,  venter),  feminina  jedoch 
Unter  und  febris; 

3)  diejenigen  auf  er,  welche  im  nom.  auf  is  endigen,  wie  z.  b. 
pulvis,  crinis,  vomis; 

4)  die  tiernamen  wie  vultur,  passer,  anser,  mus,  lepus, 
vermis  —  mugil; 

5)asser,agger,carcer,later,axis,mensis,as,collis, 
sol  und  sal. 

arbor  ist  femininum. 

Von  den  muta-stämmen  sind  masculina:  fons,  mens, 
pons,  dens,  grex,  lapis,  paries  und  pes,  orbis,  fascis, 
piscis,  fustis,  vectis,  sentes  (plur.)  sowie  verschiedene  mehr- 
silbige auf  ic  und  it. 

Sonst  sind,  von  den  n-stämmjen  abgesehen,  die  stamme 
mit  geschlechtsbildendem  s  feminina,  die  ohne  ge- 
schlechtsbildendes s  neutra.  vergleiche  z.  b.  stamm  pell,  nom. 
pellis,  und  feil,  nom.  fei,  stamm  aur,  nom.  auris,  und  mar, 
nom.  mare,  stamm  part,  nom.  pars,  und  lact,  nom.  lac. 

Von  den  n-stämmen  sind  feminina: 

1)  die  auf  iön,  welche  keine  greifbaren  einzeldinge 
(wie  z.  b.  pugio)  bezeichnen,  also  z.  b.  ratio,  regio,  legio; 


G.  Faslerding:  zur  lateinischen  formenlebre.  41 

2)  die  auf  din  und  gin  nach  langem  vocal  oder  n  (z.  b. 
stamm  cupidin,  aerügin,  grandin); 

3)  caro. 

Die  Stämme  auf  min  sind  neutra,  die  meisten  übrigen 
n  -  stamme  m a s c u li n a. 

Man  sieht,  dasz  hier  ein  unterschied  zwischen  einfachen  und 
erweiterten  stammen  nicht  gemacht,  sondern  durchweg  auf  den 
ursprünglichen  stamm  zurückgegangen  ist.  —  Dasz  die  Wörter 
auf  i  s  der  regel  nach  als  feminina  aufgeführt  werden,  während  jene 
regel  dann  durch  einen  ganzen  schwärm  von  ausnahmen  als  unhalt- 
bar hingestellt  wird,  hat  ja  oft  genug  zu  spott  veranlassung  gegeben, 
und  dasz  die  endung  es  keine  specifisch  dem  femininum  angehörige 
ist,  zeigt  z.  b.  vates. 

Was  die  geschlechtsregeln  für  die  andern  declinationen  angeht, 
so  sei  folgendes  bemerkt. 

Man  findet  noch  immer  angegeben,  dasz  die  baumnamen  feminina 
seien,  es  beschränkt  sich  das  aber  doch  auf  die  zweite  und  vierte 
declination;  für  die  dritte  trifft  die  regel  nicht  zu. 

Das  wort  virus  ist  aus  den  neueren  elementargrammatiken 
verschwunden,  jedenfalls  gehört  es  mit  seinem  nominativ  nicht 
zur  zweiten  declination.  wäre  es  anders,  dann  hätten  wir  ein  ge- 
schlechtsbildendes s ,  und  es  müste  sich  doch  eine  spur  von  ge- 
schlechtiger anwendung  des  wortes  finden:  das  ist  aber  nicht  der 
fall,  vergleichen  wir  das  griechische  pelagus,  so  kommen  wir  auf 
das  richtige:  virus  ist  wie  jenes  neutrum  nach  der  dritten  declina- 
tion, von  dem  aber  der  gen.,  dat.  und  abl.  ungebräuchlich  waren. 
Lucrez  bildete  diese  formen,  aber  mit  Übergang  in  die  zweite  decli- 
nation: viri,  viro  wie  pelagi,  pelago. 

Mit  vulgus  verhält  sich  die  sache  anders,  dieses  wort  kommt 
auch  als  masculinum  vor,  und  wir  haben  dieses  geschlecbt  als  das 
ursprüngliche  anzusehen,  die  neutrale  anwendung  rührt  von  der 
verächtlichen  bedeutung  her ,  wie  wir  z.  b.  sagen  das  mensch ,  oder 
wie  Scheffel  singt : 

in  dieser  schöppleinschlürfer  reih' 
sasz  auch  ein  stilles  gast, 
und  als  es  acht  uhr  war  vorbei, 
nahm's  stock  und  hut  mit  hast. 

Im  übrigen  bin  ich  der  ansieht  Eichners,  welcher  in  seiner 
Schrift  'zur  Umgestaltung  des  lateinischen  Unterrichts'  (Berlin  1888) 
s.  13  f.  sagt:  'bei  den  genusregeln,  besonders  nach  der  dritten 
declination,  bin  ich  schon  lange  zweifelhaft  geworden,  ob  es  sich 
lohnt,  das  geschlecht,  zumal  von  seltneren  Wörtern,  durch  mühsame 
abstraction  aus  einer  regel  oder  aus  der  ausnähme  von  einer  regel, 
oder  gar  aus  der  ausnähme  von  einer  ausnähme  einer  regel  abzu- 
leiten, statt  einfach  wie  im  französischen  und  griechischen  mit  und 
bei  der  vocabel  lernen  zu  lassen,    zum  wenigsten  sollte  man  sich 


42  G.  Fasterding:  zur  lateinischen  formenlehre. 

auf  die  grund-  und  hauptregeln  beschränken  und  die  anderen  zum 
leichteren  behalten  des  geschlechts  auf  später  verschieben.' 

Bei  der  declination  der  griechischen  Wörter  ist  der  Übergang 
der  geschichtlichen  personennamen  und  der  flusznamen 
auf  es  aus  der  griechischen  ersten  declination  in  die  lateinische  dritte 
zu  beachten,  z.  b.  Xerxes,  Euphrates,  während  sonst  die  mas- 
culina  auf  as  und  es  im  lateinischen  nach  derselben  declination 
gehen  wie  im  griechischen,  dahin  gehören  z.  b.  in  dem  mjthus,  in 
der  dichtung  vorkommende  personennamen  auf  es  wie  Anchises, 
D  i  0  m  e  d  e  s.  es  finden  sich  jedoch  bei  den  personen-  und  flusznamen 
auf  es  nach  der  dritten  declination  griechische  nebenformen  aus  der 
ersten,  wobei  zu  bemerken,  dasz  der  griechischen  endung  ou  latei- 
nisch i  entspricht;  also  Aristidis  und  Aristidi,  Aristidem  und 
Aristiden. 

In  der  lehre  vom  pronomen  wird  die  elementare  formen- 
lehre ja  freilich  manches  aufnehmen  müssen,  was  eigentlich  der  be- 
deutungs-  und  wortbildungslehre  angehört;  aber  diese  unvermeid- 
lichen zuthaten  sollten  doch  nicht  den  gesichtspunkt  verschieben, 
dasz  man  es  im  gründe  mit  der  formenlehre  zu  thun  hat,  dasz 
nicht  die  bedeutung,  sondern  die  form  für  die  ganze  anordnung 
maszgebend  sein  musz.  auch  bei  der  behandlung  der  nomina  stellen 
unsere  elementargrammatiken  die  bedeutung  über  die  form  und 
führen  durch  scheidung  der  declination  der  adjective  von  der  der 
Substantive  eine  ungehörige  zerreiszung  des  zusammengehörigen 
herbei,  beim  pronomen  tritt  das  unlogische  der  behandlung  aller- 
dings deshalb  nicht  besonders  scharf  hervor,  weil  die  spräche  selbst 
hier  logischer  verfahren  ist  als  die  grammatiker:  Verschiedenheit 
der  bedeutung  geht  eben  hier  mit  der  Verschiedenheit  der  form 
band  in  band,  achtet  man  aber  auf  letztere  genau,  so  findet  man, 
dasz  nach  abtrennung  des  pronomen  possessivum,  welches  der  nomi- 
nalen declination  folgt,  die  pronomina  mit  pronominaler  decli- 
nation der  form  nach  in  zwei  classen  zerfallen,  nämlich  in  pronomina 
ohne  allen  formalen  geschlechtsunterschied  —  die  personalpro- 
nomina  —  und  in  wandelbare  für  Wörter,  letztere  scheiden  sich 
dann  wieder  in  zwei  abteilungen,  in  solche  mit  pronominaler  motion 
—  nom.  acc.  sing,  neutr.  auf  d  —  und  in  solche  mit  nominaler 
motion  —  nom.  acc.  sing,  neutr.  auf  m. 

Die  pronomina  mit  pronominaler  motion  teile  ich  in  zwei 
classen,  in  bestimmende  und  nicht  bestimmende. 

Während  die  persönlichen  fürwörter  auf  dem  gegensatz  der 
beiden  verkehrenden  personen  unter  einander  (personalpronomen 
der  ersten  und  zweiten  person)  oder  einer  dritten  zu  sich  selbst 
(reflexivpronomen  der  dritten  person)  beruhen,  stehen  die  bestimmen- 
den fürwörter  im  gegensatz  zu  den  beiden  verkehrenden  personen. 
es  gehören  dazu  also  zunächst  is,  verstärkt  idem,  und  die  pro- 
nomina demonstrativa  ille,  hie  und  iste.  aber  wir  müssen  noch 
eins  hinzufügen,  den  gegensatz  von  is:  alius;  dem  pronomen  ipse 


G.  Fasterding :  zur  lateinischen  formenlehre.  43 

dagegen,  welches  in  unsern  grammatiken  an  dieser  stelle  erscheint, 
ist,  wie  wir  gleich  sehen  werden,  ein  anderer  platz  anzuweisen. 

Wegen  iste  will  ich  hier  bemerken,  dasz  die  erklärung  des- 
selben in  grammatiken  und  Wörterbüchern  nicht  genau  ist.  es  wird 
bezeichnet  als  das  demonstrativpronomen  der  zweiten  person;  es 
soll  auf  das  hinweisen,  was  dem  angeredeten  zunächst  liegt,  so 
wird  es  ja  freilich  auch  sehr  häufig  angewendet,  aber  sehr  oft  geht 
es  doch  auf  einen  dritten  oder  ein  drittes,  die  mit  dem  angeredeten 
nichts  zu  schaffen  haben,  die  Vereinigung  beider  bedeutungen  ist 
aber  sehr  einfach:  durch  iste  bezeichnet  der  mitteilende  dem  an- 
geredeten gegenüber  den  gegensatz  zu  seiner,  des  mitteilenden, 
person.  hält  man  das  fest,  so  ergeben  sich  die  verschiedenen  an- 
wendungen  von  selbst,  sowohl  die  beziehung  auf  das,  was  in  irgend 
einem  Verhältnis  zur  zweiten  person  steht,  als  seine  anwendung  auf 
den  gegner  im  process  und  seine  ironische  und  verächtliche  bedeu- 
tung.  da  übrigens  iste  dem  gespräch  und  der  rede,  nicht  der 
geschichtlichen  darstellung  angehört,  so  wird  man  gut  thun, 
seine  kenntnis  dem  Schüler  so  lange  zu  ersparen ,  bis  es  ihm  in  der 
lectüre  aufstöszt.  nicht  nur,  dasz  es  für  ihn  ein  unnötiger  ballast 
ist,  mit  dem  er  nichts  anzufangen  weisz:  die  art  seiner  anwendung, 
für  welche  sich  im  deutschen  nichts  entsprechendes  findet,  ver- 
wirrt ihn. 

Als  nicht  bestimmendes  für  wort  bezeichne  ich  das  pro- 
nomen  qui  (quis),  quae,  quod  (quid),  welches  in  dreifacher  an- 
wendung erscheint,  nämlich  als  bestimmung  heischend  vom 
redenden  (pronomen  relativum)  oder  vom  angeredeten  (pro- 
nomen  interrogativum) und  als  unbestimmtes  fürwort (pronomen 
indefinitum). 

Die  Wörter  unus,  solus  usw.  behandelt  man  ja  bereits  richtig 
bei  den  pronominibus.  dasz  aliu  s  schon  seiner  form  nach  von  ihnen 
zu  trennen  ist,  habe  ich  vorhin  bemerkt;  an  seiner  statt  haben  wir 
ipse  einzufügen,  und  nun  werden  wir  sehen,  wie  diese  der  form 
nach  zusammengehörigen  wörter  auch  in  ihrer  bedeutung  einen  ge- 
meinschaftlichen grundzug  haben,  während  nämlich  die  übrigen  für- 
wörter  bezeichnung  des  wesens  des  gegenständes  bezwecken, 
heben  jene  sie  in  ihrer  einheit,  ihrer  Individualität  hervor, 
entweder  wird  das  Individuum  einfach  von  allen,  mehreren  oder 
einem  andern  geschieden  (unus  und  das  davon  abgeleitete  ullus 
—  verneint  nullus  —  solus,  alter,  uter,  neuter)  oder  mit 
betonung  eben  dieses  gegensatzes  besonders  hervorgehoben  (ipse) 
oder  als  ganzes  seinen  teilen  entgegengesetzt  (totus). 

Was  die  behandlung  der  conjugation  anlangt,  so  möchte  ich 
auf  eins  aufmerksam  machen. 

Die  neueren  grammatiken  sind  von  der  unwissenschaftlichen 
annähme  von  vier  grundformen  (ind.  praes.  act. ,  ind.  perf.  act., 
supinum  und  inf.  praes.  act.)  abgegangen  und  legen  den  präsens-, 
perfect-  und  supinstamm  zu  gründe,    aber  man  sieht  auch  hier,  dasz 


44     R.  Le  Mang:  lehrplan  für  den  deatschen  Unterricht  im  realgymn. 

der  mensch  die  gewohnheit  seine  amme  nennt:  gelernt  wird  das 
verbum  noch  immer  in  jenen  vier  formen,  liesze  man  den  ind.  praes. 
act.  weg  und  setzte  an  dessen  stelle  als  Vertreter  des  präsensstammes 
den  inf.  praes.,  so  würde  das  sowohl  das  lernen  als  auch  das  auf- 
sagen vereinfachen  und  erleichtern,  der  ind.  praes.  brauchte  nur 
bei  den  paar  verben  auf  io  nach  der  dritten  conjugation  (capio  usw.) 
und  den  verbis  anoraalis  besonders  gelernt  zu  werden. 

Hinsichtlich  der  aufführung  des  supinums  als  grundform  ver- 
weise ich  auf  das,  was  Scheindler  in  dem  vorwort  zu  seiner  lateini- 
schen grammatik  s.  V  flF.  sagt,  das  part.  perf.  (statt  der  ersten  pars, 
ind.  perf.)  würde  ich  auch  heim  deponens  lernen  lassen. 

Ich  empfehle  also  z.  b. 
audire,    audivi,    auditus   statt    audio,   audivi,   auditum, 

audire; 
tacere,  tacui,  taciturus  statt  taceo,  ui,  itum,  ere; 
capere  (io),  cepi,  captus  statt  capio,  cepi,captum,  capere; 
hortari,  hortatus  statt  hortor,  hortatus  sum,  hortari. 

Westerburg  (Westerwai.d).  Gustav  Fasterding. 


3. 

ZUM  ENTWURF  EINES  LEHRPLANS 
FÜR  DEN  DEUTSCHEN  UNTERRICHT  IM  REALGYMNASIUM. 


Im  lOn  hefte  des  vorigen  Jahrganges  der  Zeitschrift  für  den 
deutschen  Unterricht  wird  der  entwurf  eines  lehrplans  für  den 
deutschen  Unterricht  veröffentlicht,  den  dr.  Lyon  in  Verbindung  mit 
dr.  Hentschel  und  dr.  Matthias  für  das  kgl.  sächsische  ministerium 
des  cultus  und  öffentlichen  Unterrichts  ausgearbeitet  hat.  da  diese  Ver- 
öffentlichung auf  den  wünsch  einer  maszgebenden  persönlichkeit  im 
ministerium  geschieht,  so  soll  dadurch  doch  wohl  den  fachcollegen 
die  möglichkeit  geboten  werden,  sich  zu  diesem  entwürfe  zu  äuszern. 
überzeugt  davon,  dasz  nur  eine  häufige  ausspräche  ein  klai-es  bild 
über  die  ansichten  und  wünsche  der  lehrer  des  deutschen  geben  kann, 
dasz  nur  dadurch  der  zweck  dieser  Veröffentlichung  erreicht  wird, 
komme  ich  dieser  aufforderung  um  so  lieber  nach ,  als  der  entwurf 
nach  jeder  seite  hin  einen  groszen  und  schönen  fortschritt  gegen- 
über der  lehr-  und  Prüfungsordnung  von  1884  bedeutet. 

Vor  dreiszig  jähren  fast  hat  Hildebrand  in  seinem  goldenen 
buche  über  den  deutschen  Sprachunterricht  auf  den  einzig  gangbaren 
weg  hingewiesen,  in  der  schule  deutsche  grammatik  zu  treiben;  jetzt 
im  entwürfe  seiner  schüler  kommen  des  meisters  gedanken  zur 
durcbführung.  denn  wenn  der  entwurf  verlangt:  'die  grammatische 
Unterweisung  hat  im  deutschen  stets  und  durchaus  auf  inductiv- 


R.  Le  Mang :  lehrplan  für  den  deutschen  Unterricht  im  realgjmn.     45 


heuristischem  wege  zu  erfolgen,  der  von  den  einzelnen  sprach- 
erscbeinungen  ausgehend  den  schüler  zur  auffindung  des  gesetzes  fort- 
schreiten und  aus  beispielen  die  regel  entwickeln  läszt',  was  ist  das 
anderes  als  der  Hildebrandsche  grundsatz:  'der  lehrer  des  deutschen 
soll  nichts  lehren,  was  die  schüler  selbst  aus  sich  finden  können, 
sondern  alles  das  sie  unter  seiner  leitung  finden  lassen.' 

Infolge  dessen  verhält  sich  der  grammatische  Unterricht  des 
entwurfs  zu  dem  der  lehr-  und  Prüfungsordnung  z.  b.  für  sexta  und 
und  quinta  so : 


Lehr-  und 
Prüfungsordnung. 

Wortarten  und  wörter- 
classen ;  declination  und 
conjugation ,  ausgenom- 
men die  Schwankungen; 
gebrauch  der  wichtig- 
sten conjunctionen;  lehre 
vom  einfachen  satze  im 
anschlusz  an  die  pro- 
saische lectüre. 


Entwurf. 
Sexta. 
Die  grammatische  belehrung  umfaszt  in 
rücksicht  auf  den  auf  solche  grundlagen 
angewiesenen  fremdsprachlichen  Unterricht 
den  einfachen  satz  und  seine  einfachsten 
erweiterungen  (die  vier  arten  der  haupt- 
sätze  —  einiges  über  subject,  prädicat,  ob- 
ject,  attribut,  adverbialien) ,  die  wichtig- 
sten wortclassen  und  das  wichtigste  von 
declination  und  conjugation. 

Quinta. 
Die  grammatische  Unterweisung  nimmt 
die  noch  übrigen  erweiterungen  des  ein- 
fachen Satzes  auf,  entwickelt  die  begriffe 
der  beiordnung  und  der  Unterordnung  der 
Sätze,  behandelt  die  einfachen  coordinier- 
ten  Satzverbindungen,  das  Satzgefüge,  die 
Unterscheidung  von  haupt-  und  nebensatz 
und  deren  kennzeichen,  eingehender  den 
gebrauch  und  die  bildung  der  relativsätze. 
die  gruppen  der  aus  sexta  bekannten  wort- 
classen werden  vermehrt  (einteilung  der 
verba,  pronomina,  binde  Wörter;  wichtige 
Präpositionen  nach  rection  und  bedeutung 
u.  a.).  die  flexionslehre  wird  entsprechend 
erweitert  (genaueres  über  die  declination 
der  substantiva  und  der  pronomina,  wie 
auch  über  die  conjugationen). 

Man  hat  ja  immer  gegen  die  forderung  eines  eingehenden 
grammatischen  Unterrichts  im  deutschen  den  ausspruch  Grimms  an- 
geführt, dasz  die  deutsche  grammatik  in  der  schule  nicht  getrieben 
werden  solle,  das  würde  den  kindern  ihre  muttersprache  verleiden, 
aber  diese  worte  richten  sich  eben  gegen  den  damaligen  schul- 
mäszigen  betrieb  der  grammatik,    sie  sagen  dasselbe,    was  Hilde- 


Satzverbindung  und 
die  coordinierenden  con- 
junctionen; der  relativ- 
satz;  Vervollständigung 
der  hauptregeln  der 
Orthographie  und  inter- 
punction;  die  präposi- 
tionen  im  anschlusz  an 
die  prosaische  lectüre. 


46      R.  Le  Mang:  lehrplan  für  den  deutschen  Unterricht  im  realgymn, 

brancl  in  seinem  oben  erwähnten  buche  ausspricht:  'das  hochdeutsche 
darf  nicht  als  ein  anderes  latein  in  der  schule  behandelt  werden,' 
dasz  der  entwurf  diesen  grundsatz  zur  anerkennung  bringt,  ihn  für 
die  schule  zur  regel  macht,  darin  liegt  sein  groszer  pädagogischer 
wert  und  ein  groszer  fortschritt  der  alten  lehr-  und  Prüfungsordnung 
gegenüber. 

Mit  der  gröszeren  Verbreitung  der  kenntnis  fremder  sprachen, 
mit  dem  erweiterten  geschäftsverkehre  und  der  vielschreiberei  und 
vielleserei  unserer  zeit  hat  sich  ein  gewisser  verfall  unserer  spräche 
eingestellt,  besonders  hat  sich  das  gefühl  für  die  sprachwidrig- 
keiten abgestumpft,  mehr  noch  als  im  gymnasium  tritt  dieser 
fehler  dem  lehrer  im  realgymnasium  entgegen,  das  ja  seine  schüler 
meist  aus  fabrikanten-  und  kaufmannskreisen  erhält,  deswegen  ist 
es  auch  seine  besondere  aufgäbe  und  seine  pflicht,  sprachwidrigkeiten 
und  sprachverirrungen  nachdrücklich  zu  bekämpfen,  mit  groszer 
freude  ist  es  daher  zu  begrüszen,  dasz  der  entwurf  auch  hier  dem 
bedürfnisse  so  entgegenkommt,  während  die  lehr-  und  Prüfungs- 
ordnung hieiüber  noch  gar  nichts  sagt,  fordert  er  für  quinta:  bei 
den  grammatischen  erörterungen  sind  allenthalben  die  Schwankungen 
des  Sprachgebrauchs  besonders  zu  berücksichtigen;  für  quarta:  er- 
gänzung  der  formenlehre  und  abschlusz  der  formenlehre  mit  betonung 
dessen,  was  des  richtigen  Sprachgebrauchs  wegen  beachtung  ver- 
dient, für  Untertertia  heiszt  es:  besonders  zu  berücksichtigen  sind 
Schwankungen  des  Sprachgebrauchs  und  gangbare  Sprachfehler,  für 
Obertertia:  die  grammatischen  stoffe  der  vorhergehenden  classen 
werden  wiederholt  unter  hinweis  auf  die  häufigsten  verstösze  gegen 
die  Sprachrichtigkeit,  endlich  wird  noch  im  plane  der  unter- 
secunda  betont:  das  Verständnis  für  die  Sprachrichtigkeit  ist  weiter 
zu  schärfen. 

Hiermit  tritt  die  schule  vorbeugend  der  gefahr  der  sprach- 
verschlechterung  in  den  kreisen  entgegen,  die  ihr  —  wie  schon  ge- 
sagt —  am  meisten  ausgesetzt  sind. 

Dasz  dies  nicht  ohne  kenntnis  der  sprachgescb  ichte  mög- 
lich ist,  ist  klar,  so  wird  denn  auch  folgerichtig  im  entwürfe  auf  die 
geschichtliche  entwicklung  unserer  spräche  groszes  gewicht  gelegt. 

Während  nach  der  lehr-  und  Prüfungsordnung  eigentlich  nur 
in  der  obertertia  bei  der  wortbildungslehre  anlasz  und  gelegenheit 
geboten  war,  auf  die  entstehung  unserer  spräche  etwas  einzugehen, 
sorgt  der  entwurf  im  reichsten  masze  dafür,  schon  die  Unter- 
tertia beginnt  mit  einigem  über  Wortbildung,  die  obertertia 
gibt  bei  der  Wortbildung  die  bedeutung  und  frühere  form  einiger 
bildungssilben,  sowie  sprachgeschichtliche  bemerkungen,  Wort- 
familien, und  die  unter secunda  bringt  uns  die  entwicklung  des 
hochdeutschen. 

Diese  sprachgeschichtlichen  ausblicke  sind  nicht  nur  sehr  wichtig 
und  höchst  notwendig  für  das  Verständnis  des  deutschen,  sie  sind 
auch   für  den  lehrer  eine  wohlthat,   besonders  gute  bissen  in  den 


R.  Le  Mang:  lehrplan  für  den  deutschen  Unterricht  im  realgymn.      47 

stunden,  denn  sie  gerade  werden  von  fast  allen  Schülern  —  die 
allerträgsten  nur  ausgenommen  —  mit  offenen  obren  und  herzen 
aufgenommen,  wie  man  es  füblt,  wenn  etwa  bei  der  Caesarlectüre 
auf  deutsche  sitte  und  alte  deutsche  worte  die  rede  kommt;  sie  regen 
die  jungen  auch  zu  eignem  nachdenken  und  zu  eignem  beobachten  an. 

Der  gröste  und  schönste  fortschritt  des  entwurfs  gegenüber  der 
lehr-  und  Prüfungsordnung  ist  die  einführung  des  mittelhoch- 
deutschen in  obersecunda. 

Wenn  der  nur  wahrhaft  gebildet  genannt  werden  kann,  der 
seine  muttersprache  versteht,  so  ist  es  für  unser  volk  und  für  unsere 
höheren  schulen  wirklich  beschämend,  wie  viel  ungebildete  gebildete 
herumlaufen,  rühmend  wird  uns  von  den  Griechen  erzählt,  welchen 
einflusz  dort  die  Homerischen  gesänge  ausübten,  wie  sie  im  ganzen 
volke  verbreitet  waren,  dasz  mancher  Ilias  und  Odyssee  vollständig 
auswendig  gekonnt  habe:  und  bei  uns?  die  deutsche  Ilias  und  die 
deutsche  Odyssee  lernte  ein  teil  unserer  gebildeten  Jugend  nur  in 
neuhochdeutscher  Übertragung  kennen,  gleich  als  wenn  das  mittel- 
hochdeutsch eine  fremde  spräche  wäre,  da  ist  es  doch  wohl  höchste 
zeit,  dasz  auch  das  realgymnasium  das  mittelhochdeutsche  bei  sich 
einführe,  noch  dazu,  wenn  es  in  einer  pädagogisch  geschickten  weise 
geschieht,  wie  es  im  entwürfe  vorgeschrieben  wird,  da  beiszt  es:  'in 
Verbindung  mit  der  lectüre  einführung  in  die  kenntnis  der  mittel- 
hochdeutschen spräche  auf  heuristischem  wege,  mit  betonung  der 
abweichung  des  mittelhochdeutschen,  diese  einführung  in  das  mittel- 
hochdeutsche ist  vor  allem  zugleich  dem  Verständnis  der  sprach- 
entwicklung  dienstbar  zu  machen,  auf  die  schon  von  sexta  an  in  weiser 
Sparsamkeit,  aber  ununterbrochen  bei  aufstoszenden  unterschieden 
zwischen  volks-  und  Schriftsprache,  mundartlicher  oder  altertüm- 
licher ausdrucksweise,  bedeutungswechsel  u.  dergl.  hinzuweisen  ist.' 

Mit  dieser  einführung  ins  mittelhochdeutsche  ist  aber  nicht  nur 
eine  bessere  kenntnis  der  deutschen  grammatik  verbunden,  durch 
sie  wird  erst  ein  tieferes  Verständnis  der  deutschen  litteratur, 
des  deutschen  geist  esleb  ens  möglich,  auch  hier  macht  der 
entwurf  ver^äumnisse  der  alten  lehrordnung  wieder  gut. 

Der  grosze  fortschritt  zeigt  sich  besonders  in  obersecunda, 
wo  für  die  lectüre  eine  'aus wähl  aus  der  erzählenden  dich- 
tung  wie  aus  dem  minnesang  im  urtext  zu  gründe  zulegen 
ist',  besonders  beachtenswert  ist  dabei  die  parenthese:  'vor  allem 
soll  die  lectüre  mit  dem  geiste  des  deutschen  altertums  und  den 
culturverhältnissen  unserer  vorzeit  vertraut  machen.'  dem  unter- 
richte, in  solchem  geiste  gegeben,  wird  der  schüler  nicht  nur  mit 
lust  und  liebe  folgen,  er  wird  aus  ihm  auch  manches  mit  ins  spätere 
leben  hinau^nehraen. 

Auch  das  pensum  der  unter  prima  erfährt  eine  erweiterung 
dadurch,  dasz  zur  eingehenderen  besprechung  noch  vorgeschrieben 
werden:  Hans  Sachs  und  das  Volkslied,  die  bedeutung  des 
Nürnberger  sängers  ist  ja  allmählich  mehr  und  mehr  erkannt  wer- 


48      R.  Le  Mang:  lehrplan  für  den  deutschen  Unterricht  im  realgymn. 

den,  und  wenn  die  höhere  schule  ihre  Zöglinge  auf  den  Jungbrunnen 
unseres  Volksliedes  hinweist,  so  erfüllt  sie  damit  nur  eine  heilige 
pflicht  und  eine  schöne  aufgäbe,  wollte  gott,  das  Volkslied  würde 
auch  im  gesangunterricht  mehr  gepflegt! 

Für  Oberprima  wird  eine  eingehendere  behandlung  Schillers 
und  Goethes  verlangt  —  auch  der  prosaischen  Schriften  —  wozu 
noch  Herder,  Wieland  und  die  romantiker  treten,  besonders  erfreu- 
lich ist,  dasz  auch  auf  die  hauptsächlichsten  erscheinungen  der 
neueren  litteratur  der  schüler  durch  private  lectüre  und  durch  freie 
vortrage  hingewiesen  werden  soll. 

Damit  kommen  wir  zum  letzten  wichtigen  punkt  des  entwurfs. 
im  höheren  masze  als  die  lehr-  und  Prüfungsordnung  von  1884  will 
er  den  schüler  zum  gewandten  gebrauche  des  wortes,  zur 
freien  rede,  führen. 

Wenn  man  im  leben ,  bei  ernsten  oder  bei  fröhlichen  anlassen, 
sieht,  wie  wenig  sprachgewandt  der  gröste  teil  unserer  gebildeten 
ist,  wie  wenige  im  stände  sind,  ohne  grosze  Vorbereitungen  und 
ohne  auswendiglernen  ein  paar  worte  zu  reden,  wie  ihnen  ihre 
muttersprache  mehr  zum  schreiben  als  zum  sprechen  da  ist:  so  kann 
man  der  schule  den  Vorwurf  nicht  ersparen,  dasz  sie  hier  eine  pflicht 
vernachlässigt  habe. 

Das,  was  jetzt  für  den  freien  Vortrag  geschah,  war  viel  zu  wenig, 
erst  von  obersecunda  an,  also  in  den  drei  letzten  jähren,  wurde  ihm 
aufmerksamkeit  geschenkt,  so  dasz  der  schüler  durchschnittlich  drei 
vortrage  halten  konnte,  bei  wie  vielen  mögen  es  aber  nur  zwei  ge- 
wesen sein!  der  entwurf  setzt  damit  schon  in  obertertia  ein.  aus 
eigner  erfahrung  weisz  ich,  wie  gerade  Obertertianer  ihre  freien  vor- 
trage halten,  wie  jeder  seinen  stolz  darein  setzt,  seine  zehn  oder  fünf- 
zehn minuten  ohne  stocken  und  steckenbleiben  zu  reden,  gewöhnt 
man  dabei  die  schüler  einander  selbst  zu  kritisieren,  so  beteiligt  sich 
gern  die  ganze  classe  daran,  wobei  Übertreibungen  der  kritik  von 
den  Schülern  selbst  zurückgewiesen  werden. 

Endlich  möchte  ich  noch  etwas  erwähnen,  das  allerdings  nicht 
unmittelbar  zur  deutschen  spräche  gehört,  das  ich  aber  als  sehr  glück- 
lich bezeichnen  möchte,  die  bestimmung:  'wichtige  werke  der  antik- 
classischen  wie  der  neusprachlichen  litteratur  sind  vergleichsweise 
in  den  Unterricht  zu  verweben,  und  mindestens  ist  je  eine  tragödie 
des  Sophokles  und  Äschylos  zu  lesen.' 

Neben  der  lectüre  der  Ilias  und  der  Odyssee  wird  dies  nicht 
nur  die  gegent^eitige  beeinflussung  und  befruchtung  der  völker  auch 
in  der  dichtung  erkennen  lassen,  sie  wird  den  schülern,  die  meist  in 
das  reale,  praktische  leben  hinaustreten,  durch  die  schönsten  werke 
des  griechischen  geistes  einen  ausblick  in  eine  weit  ö9"nen,  die  bis 
dahin  verschleiert  neben  ihrem  wege  lag,  und  wird  mit  dem  Ver- 
ständnisse auch  eine  Würdigung  jener  alten  völker  ihnen  ermöglichen, 
die  mithelfen  wird,  den  noch  bestehenden  gegensatz  zwischen  huma- 
nistischer und  realistischer  bildung  auszugleichen. 


ß.  Le  Mang:  lehiplan  für  eleu  deutschen  Unterricht  im  realg-ymn.      49 

Überblicken  wir  das  gesagte  noch  einmal ,  so  können  wir  mit 
freuclen  den  groszen  fortscbritt  feststellen,  der  sich,  dem 
wachsen  unseres  volksgefühls  folgend,  in  der  Wertschätzung 
der  deutschen  spräche  in  den  zwölf  jähren  zeigt,  die  zwischen 
der  lehr-  und  Prüfungsordnung  und  diesem  entwürfe  liegen,  die 
muttersprache  nimmt  mehr  und  mehr  die  ihr  gebührende  Stellung 
in  der  schule  ein. 

Freilich  zwei  punkte  sind  es,  die  bedenken  erregen  können. 

Erstens  wie  soll  das  alles  bei  den  wenigen  stunden  geleistet 
werden?  ich  halte  eine  gründliche  und  fruchtbringende  durch- 
arbeitung  des  lehrstoflFes  in  drei  stunden  für  unmöglich,  eine 
stunde  musz  noch  dazu  gegeben  werden,  vorschlage  darüber  zu 
machen ,  kommt  mir  nicht  zu;  nur  darauf  riiöchte  ich  hinweisen,  ob 
nicht  die  6e  lateinstunde  in  unter-  und  in  obertertia  besser  für  das 
deutsche  zu  verwenden  wäre. 

Ferner  aber  stellt  der  entwurf  ganz  andere  anforderungen  an 
den  lehrer.  nicht  nur  besonders  groszes  pädagogisches  geschick 
wird  verlangt,  sondern  auch  eine  gründliche  kenntnis  des  deutschen 
und  seiner  entwicklung.  der  grundsatz,  der  so  oft  noch  befolgt 
wird,  dasz  deutsch  eigentlich  jeder  geben  könne,  darf  nicht  mehr 
gelten,  der  theolog  ist  nun  nicht  mehr  an  und  für  sich  der  lehrer 
des  deutschen,  und  dafür,  dasz  ein  naturgeschichtler  etwa  deutschen 
Unterricht  erteilen  musz,  darf  nicht  mehr  als  grund  angegeben  wer- 
den, er  müsse  auch  eine  correctur  haben,  nein !  der  alte  satz  Hilde- 
brands musz  endlich  zur  geltung  gelangen:  'kein  lehrer  darf  mit 
dem  deutschen  unterrichte  betraut  werden ,  der  nicht  das  neuhoch- 
deutsche mit  geschichtlichem  blicke  ansehen  kann.' 

Hoffen  wir,  dasz  an  diesen  beiden  klippen  der  schöne  entwurf 
nicht  scheitere! 

Dresden.  Richard  Lb  Mang. 


4. 

ZUM   UNTERRICHTE   IN   DER  NEUEREN  UND  NEUESTEN 
GESCHICHTE. 

Auf  und  ab  wogt  die  flut  von  hilfsbüchei-n  und  anweisungen 
für  den  geschichtsunterricht  besonders  in  den  oberen  classen  unserer 
höheren  schulen:  nur  in  wenigen  fragen  ist  Übereinstimmung  er- 
zielt: was  hier  für  richtig,  ja  ausscblieszlich  gültig  gehalten  wird, 
kann  auf  der  andern  seite  keinen  beifall  finden,  da  ist  es  mit  genug- 
thuung  zu  begrüszen,  dasz  der  Verfasser  eines  tüchtigen  hilfsbuchs 
das  wort  zur  eingehenden  begründung  seines  Verfahrens  ergriffen 
hat.    wie  Brettschneider   sich  in    seinem   hilfsbuche'   als   ein- 

*  Harry  Brettschneider,  hilfsbuch  für  den  Unterricht  in  der  geschichte 
für  die  oberen  chissen  höherer  lehrtinstalten.  Halle  a.  S.,  buchhandlung 
des  Waisenhauses.     1892 — 94.     3  teile. 

N.  Jahrb.  f.  phil.  u.  päd.  II.  abt.  1897  hft.  1.  4 


50    Th.  Sorgenfrey:  zum  unterrichte  in  der  neueren  u.  neuesten  gescliichte. 

sichtiger  facbraann  gezeigt  hat,  so  ist  auch  sein  'nachwort  zu 
meinem  hilfsbuch'^  durchdrungen  von  einsieht  und  warmerbe- 
geisterung.  an  die  spitze  seiner  ausführungen  stellt  B.  den  satz : 
aller  Schulunterricht  hat  die  eine  und  ausschlieszliche  aufgäbe,  vor- 
zubereiten für  das  leben,  freimütig  und  nachdrücklich  macht  B. 
gegen  die  landläufige  Strömung  front ,  als  wenn  die  schule  und  ihr 
Unterricht  für  alles  unheil  unserer  tage  verantwortlich  gemacht  wer- 
den müsse  und  als  ob  insbesondere  der  geschichtsunterricht  jetzt 
aufgaben  zu  lösen  hätte,  die  ihm  früher  nicht  gestellt  waren,  mit 
ernst  und  nachdruck  weist  B.  auf  den  bildungswert  der  geschichte 
hin,  lehnt  die  lehre  Hegels  ab  und  bekennt  sich  zu  der  ansieht,  dasz 
in  der  geschichte  wie  im  leben  notwendigkeit  und  zufall,  causale 
bedingt  heit  und  Willensfreiheit  herscht.  es  gilt  die  massen  und 
persönlichkeiten  in  das  richtige  Verhältnis  zu  einander  zu  bringen, 
bei  aller  begeisterung  für  die  höchsten  ziele  tritt  B,  mit  recht  der 
überschwenglichkeit  entgegen,  in  der  sich  die  gedanken  von  Martens 
(Verhandlungen  der  13n  preuszischen  directorenversammlung  1892) 
bewegen:  mit  nachdruck  wird  gezeigt,  wie  die  einseitige  auffassung 
der  durch  die  amtliehen  lehrpläne  für  preuszische  schv;len  gestellten 
forderungen  die  allerbedenklichsten  folgen  haben  müste,  wie  von  der 
objcctiven  wahi-heit  wenig,  vielleicht  gar  nichts  übrig  bleiben  würde, 
so  verbleibt  denn  dem  geschichtsunterricbte  die  dreifache  aufgäbe: 
einprägung  eines  bestimmten  maszes  von  geschichtlichen  thatsachen, 
Stärkung  des  sittlichen  woUens  und  Verknüpfung  der  thatsachen 
nach  Ursache  und  Wirkung,  es  wird  gelten,  diesen  forderungen  im 
unterrichte  gerecht  zu  werden,  aber  vor  jeder  Überspannung  des 
Zieles  sorglich  sich  zu  hüten,  mit  vollem  rechte  weist  B.  Irrwege, 
wie  sie  Schenk  in  den  *lehrproben  und  lehrgängen'  heft  39  als 
musterlection  vorgezeichnet  hat,  nachdrücklich  zurück;  hier  ist 
wider  willen  ein  muster  geboten,  wie  geschichtsunterricht  nicht  er- 
teilt werden  darf,  auf  den  Vortrag  des  lehrers  will  B.  nicht  ver- 
zichten, denn  erwärmen  kann  nur  das  warme  wort  des  lehrers.  wie 
soll  aber  das  lehrbuch  beschaffen  sein,  das  dem  unterrichte  zu  gründe 
gelegt  wird?  es  soll  ein  lesbares  buch  sein,  indem  es  den  stoff  in 
zusammenhängender  darstellung  bietet;  es  soll  auf  die  darlegung 
des  inneren  zu^aramenhangs,  die  heraushebung  der  treibenden  kräfte, 
die  hervorhebung  des  bedeutungsvollsten  und  typischen  besonderen 
wert  legen,  mit  der  geschichte  der  handlungen  hat  sich  die  der  zu- 
stände zu  verbinden  und  ihre  Wechselbeziehungen  sind  wohl  zu  be- 
achten, aber  die  besprechung  der  zustände  —  culturgesehichte  — 
darf  die  der  handlungen  nicht  beeinträchtigen  oder  gar  verdrängen, 
culturgeschichtliche  daten  sind  zusammenzufassen;  wer  wird  grie- 
chische geschichte  lehren  wollen,  ohne  auf  die  kunst  vornehmlich 
im  Zeitalter  des  Perikles  rücksicht  zu  nehmen?    wer  wird  von  den 


2  Brettschneider,  zum  Unterricht  in  der  geschit-hte  vorzugsweise  in 
den  oberen  classen  höherer  lehranstalten.  ein  nachwort  zu  meinem 
'hilfsbuch'.   Halle  a.  S.,  buchhandlung  des  Waisenhauses.   1895.   8".  84  s. 


Th.  Sorgenfrey :  zum  unterrichte  in  der  neueren  u.  neuesten  geschichte.    5 1 

freiheitskriegen  handeln,  ohne  die  helden  des  geistes  wie  Fichte  un'l 
Schleiermacher  zu  erwähnen?  aber  kunstgeschichte  läszt  sich  ohne 
anschauung  nicht  lehren  und  zur  beschaffung  ausreichender  an- 
schauungsmittel  fehlen  die  geldmittel.  wer  hier  eine  Zusammenstel- 
lung dessen  machen  wollte,  was  zumal  in  kleineren  und  mittleren 
Städten,  wo  museen  und  Sammlungen  keine  Unterstützung  gewähren, 
geboten  wird,  der  würde  seltsame  erfahrungen  machen,  also  weise 
beschränkung,  wie  auch  bei  den  dementen  der  Staatslehre,  jetzt 
bürgerkunde  genannt,  von  systematischer  behandlung  abgesehen 
werden  musz:  das  richtige  masz  scheint  Moldenhauer  in  seinem 
unten  zu  besprechenden  buche  getroffen  zu  haben,  wenn  er  auch  für 
B.  noch  zu  weit  geht,  es  braucht  ja  Moldenhauers  anhang  nicht  ab- 
schnitt für  abschnitt  durchgesprochen  oder  gar  auswendig  gelernt 
zu  werden. 

Von  besonderer  Wichtigkeit  ist  für  die  preuszischen  anstalten 
und  die,  welche  den  lehrplan  von  1892  angenommen  haben,  die 
oberste  stufe  des  geschichtsunterrichts.  was  B.  über  die  behandlung 
der  alten  geschichte  vorbringt,  soll  demnächst  mit  andern  vor- 
schlagen in  einem  besonderen  aufsatze  besprochen  werden,  die  lehr- 
aufgabe  der  prima  oder  besser  gesagt  der  primen  —  denn  der  lehr- 
plan von  1892  fordert  durch  seine  ganze  anläge  dringend  genug, 
dasz  die  trennung  der  prima  mit  rücksicht  auf  die  Schwierigkeit  des 
Unterrichts  allerorten  auch  in  Preuszen  durchgeführt  wird,  selbst 
wenn  die  frequenz  nicht  aus  äuszeren  gründen  dazu  drängt  —  ist 
durch  die  ministerialverfügung  vom  13  october  1895  wieder  ver- 
ändert ,  da  in  unterprima  die  geschichte  vom  tode  des  Augustus  bis 
zum  ausgange  des  30jährigen  kriegs  geführt  werden  soll,  da  ist  die 
forderung  erfüllt,  dasz  die  germanischen  Wanderungen  zusammen 
mit  der  gleichzeitigen  römischen  kaisergeschichte  behandelt  werden, 
und  die  frage  nach  dem  beginn  des  mittelalters  für  die  schule  er- 
ledigt, aber  die  gliederung  des  überreichen  stoffes  ist  nur  noch 
schwieriger  geworden,  gilt  es  doch  beschränkung  des  Stoffes  in 
noch  gröszerem  masze  herbeizuführen  als  durch  die  lehrpläne  von 
1892  geschehen  war;  gilt  es  doch  den  fast  überreichen  stoff  von 
1650  Jahren  in  einzelne  gruppen  zu  zerlegen,  die  den  Schülern  über- 
sichtlich und  verständlich  sind,  je  gröszer  der  Zeitraum  ist,  desto 
sorgfältiger  musz  er  in  einzelne  teile  zerlegt  werden,  desto  mehr  her- 
vorgehoben werden,  dasz  in  jeder  periode  geschichtlicher  entwick- 
lung  die  vorhersehende  Strömung  einer  epoche  zum  ausdruck 
kommt,  auf  die  römische  kaiserzeit  folgt  die  grundlegung  der 
neueren  geschichte  in  der  germanischen  Staatenbildung ,  die  ihren 
höhepunkt  in  der  entstehung  des  fränkischen  reichs  findet,  sodann 
die  vorherschaft  des  deutschen  reichs,  weiter  das  Zeitalter  der  kämpfe 
zwischen  kaisertum  und  papsttum,  ferner  der  stürz  der  politischen 
weltherschaft  des  papsttums  und  die  ausbildung  nationaler  Staaten, 
endlich  das  Zeitalter  der  reformation  und  der  religionskriege.  diese 
von  B.  empfohlene  einteilung  des  pensums  der  unterprima  wird  all- 

4* 


52    Th.  Sorgenfrey :  zum  unterrichte  in  der  neueren  u.  neuesten  gescbichte. 

gemeine  billigung  finden,  aber  es  gilt,  mit  den  120  stunden,  die  in 
dem  einen  schuljabre  zur  Verfügung  steben,  sebr  baus  zu  balten: 
immer  und  immer  wieder  musz  die  trennung  der  unterprima  von 
der  oberprima  aucb  im  gescbicbtsunterricbte  gefordert  werden, 
scbon  um  den  unmittelbaren  anscbluss  an  das  pen*um  der  ober- 
secunda  zu  erreicben.  ganz  über  gebübr  wird  der  unterriebt  für 
lebrende  und  lernende  erscbwert,  wenn  das  pensum  der  oberprima 
in  einer  combinierten  prima  zwischen  das  der  obersecuuda  und  unter- 
prima eingeschoben  werden  musz.  nur  da  wird  das  pensum  der 
oberprima  nicbt  in  der  luft  schweben,  wo  die  neuere  geschiebte  sieb 
auf  die  entwicklung  des  mittelalters  stützt,  wie  sie  in  einer  unter- 
prima gegeben  werden  kann,  und  der  lehrer  nicbt  gezwungen  ist, 
auf  die  tertia  zurückzugreifen,  und  das  ist  nötig,  denn  in  der 
neuesten  gescbicbte  tritt  der  kämpf  um  bürgerliche  freibeit,  die  ge- 
staltung  nationaler  Staaten  und  sociale  probleme  in  den  Vordergrund, 
die  lebraufgabe  der  oberprima  will  B.  vom  europäischen  Stand- 
punkte aus  bebandelt  wissen  im  gegensatze  zu  der  behandlung  des 
Pensums  der  untersecunda.  trotz  des  Wortlautes  der  lehrpläne,  die 
von  brandenburgisch-preusziscber  gescbichte  sprechen,  indem  sie  als 
lebraufgabe  bestimmen:  'die  wicbtigsten  begebenbeiten  der  neuzeit 
vom  ende  des  dreiszigjährigen  krieges,  insbesondere  der  branden- 
burgiscb-preuszischen  gescbichte ,  bis  zur  gegenwart'  ist  dieses  ver- 
fahren gerechtfertigt,  denn  in  den  bemerkungen  (lebi-pläne  s.  43) 
wird  vorgeschrieben ,  dasz  an  der  band  der  gescbicbte  die  social- 
politiscben  maszregeln  der  europäischen  culturstaaten  in  den 
beiden  letzten  Jahrhunderten  vor  äugen  geführt  werden  sollen,  ganz 
besonders  schwierig  ist  auf  der  obersten  stufe  die  eingehende  berück- 
sichtigung  der  inneren  gescbichte,  aber  es  ist  nach  den  erfabrungen 
B.s  doch  möglich ,  auch  für  die  wirtschaftlicb-sociale  seite  zunächst 
der  französischen  revokition  Verständnis  zu  erreichen,  die  neueste 
gescbicbte  will  B.  mit  1871  als  einem  der  erhabensten  momente 
unserer  nationalen  gescbichte  schlieszen.  die  behandlung  der  socialen 
frage  möchte  B.,  soweit  die  entwicklung  in  den  letzten  Jahrzehnten 
in  frage  kommt,  unterlassen,  da  in  der  schule  doch  nicht  die  social- 
demokratisebe  gefahr  beschworen  werden  kann,  hier  wird  B.  all- 
gemeinen beifall  finden,  dasz  er  thesen  wie  die,  welche  nach  angäbe 
der  Verbandlungen  der  13n  preusziscben  directorenversammlung 
1892  wirklich  von  einem  lehrercollegium  aufgestellt  ist:  'in  prima 
sind  die  grundlebren  der  socialdemokratie  mitzuteilen  und  kritisch 
in  ihre  Irrtümer  aufzulösen'  —  unbedingt  verwirft.  B.  will  die  er- 
örterung  der  socialistischen  theorie  der  Wissenschaft  überlassen  und 
von  dem  Schulunterrichte  fern  balten.  die  schule  wird  die  Schüler 
auf  die  auszerordentliche  Schwierigkeit  dieser  dinge  hinweisen  und 
sich  im  sinne  der  durch  die  cabinetsordre  vom  1  mai  1889  veran- 
laszten  vorschlage  des  preusziscben  Staatsministeriums  bescheiden 
müssen,  die  heranwachsende  Jugend  auf  grund  ihrer  geschichtlichen 
erfabrungen  und  ihres  gesunden  denkvermögens  zu  befähigen,  die 


Th.  Sorgenfrey :  zum  unterrichte  in  der  neueren  u.  neuesten  geschiclite.    53 

Voraussetzungen  und  folgen  des  socialdemokratiscben  Staates  zu  be- 
urteilen, es  gilt  den  schüler  dahin  zu  bringen ,  dasz  er  den  wirt- 
schaftlichen individualisraus  ebenso  wie  den  socialismus  als  geschicht- 
liche erscheinungen  auffaszt  und  daraus  seine  folgerungen  zieht,  auf 
diesem  wege  hofft  B.  die  schüler  zu  der  entdeckung  zu  bringen,  dasz 
der  demokratische  socialismus  der  tod  aller  individuellen  fähigkeit 
und  alles  fortschritts  d.  h.  aller  cultur  ist.  ein  drittes  bedenken 
gegen  die  behandlung  der  neuesten  zeit  ergibt  sich  für  B,  aus  dem 
umstände,  dasz  vielleicht  nicht  jeder  lehrer  die  socialpolitischen 
maszregeln  unserer  tage  billigt  und  demgemäsz  mit  der  Wahr- 
haftigkeit in  Widerspruch  geraten  kann,  es  sind  goldene  worte,  ge- 
tragen von  sittlichem  ernste,  mit  denen  B.  sein  naohwort  abschlieszt. 
überhaupt  ist  das  buch  ein  wertvoller  beitrag  zur  methodik  des  ge- 
schichtsunterrichts  oder,  um  mit  B.  zu  reden,  des  geschieht e Unter- 
richts, auch  wer  meint,  dasz  die  grenzen  zu  eng  seien,  die  B.  dem 
geschicbtsunterrichte  gesteckt  wissen  will,  wird  vielfache  anregung 
aus  dem  nachworte  empfangen,  nicht  minder  aber  verdient  der  mut 
wissenschaftlicher  Überzeugung  volle  anerkennung ,  der  sich  nicht 
scheut,  die  dinge,  wie  sie  sind,  zum  ausdruck  zu  bringen,  aus 
äuszeren  gründen,  um  der  berechtigung  zum  einjährigen  heeres- 
dienst  willen,  ist  die  oberstufe  des  geschichtsunterrichts  durch  die 
lehrpläne  von  1892  von  4  auf  3  jähre  verkürzt  worden,  und  das  be- 
einträchtigt nicht  nur  die  alte ,  sondern  auch  die  neuere  geschichte. 
mit  recht  wendet  sich  B.  gegen  den  scharfen  einschnitt  nach  unter- 
secunda  überhaupt,  da  er  den  ganzen  gymnasialunterricht  zer- 
sprengen wird,  den  mutigen  radicalen  schritt,  um  aus  dem  dilemma 
herauszukommen,  einen  groszen  teil  der  bestehenden  gymnasien  in 
6  stufige  anstalten  umzuwandeln,  hat  die  Unterrichtsverwaltung  nicht 
thun  zu  sollen  geglaubt;  im  interesse  des  höheren  Unterrichts,  ein- 
schlieszlich  der  Universitätsstudien  —  so  folgert  B.  s.  54  —  wird 
ihr  wohl  über  kurz  oder  lang  nichts  anderes  übrig  bleiben,  möge 
sich  B.s  erwartung  im  interesse  unserer  gymnasien  erfüllen! 

Ganz  nach  den  grundsätzen  der  neueren  ist  auch  der  dritte  teil 
des  grosz  angelegten  lehrbuchs  der  geschichte  von  Martens^  be- 
arbeitet, dessen  2r  teil  in  diesen  jahrb.  1895  s.  282  f.  besprochen 
ist:  um  der  neuesten  geschichte  gerecht  zu  werden,  ist  stoff  und  zahl 
der  namen  beschränkt  worden,  mit  recht  ist  in  der  darstellung 
kriegerischer  begebenheiten  besondere  Zurückhaltung  beobachtet 
worden,  von  der  nur  bei  den  nationalen  kämpfen  von  1813 — 14  und 
1870  —  71  abgegangen  ist.  die  neuere  zeit  stellt  M.  in  drei  ab- 
schnitten dar;  vom  auftreten  Luthers  zunächst  bis  zum  West- 
fälischen frieden,  dann  bis  zum  ausbruche  der  groszen  französischen 
Staatsumwälzung  und  weiter  bis  zum  stürze  Napoleons  1,  die  neueste 
zeit  in   zwei   abschnitten,   erstens   bis   zur  begründung  des  neuen 

^  Älartens,  W. ,  lehrbucb  der  geschichte  für  die  oberen  classen 
höherer  leliranstalten.  dritter  teil;  geschichte  der  neuzeit.  Hannover, 
Menz  u.  Lange.     1895.     S».     s.  293. 


54    Th.  Sorgenfrey :  zum  unterrichte  in  der  neueren  u.  neuesten  geschichte. 

deutschen  reichs,  dann  bis  zur  gegenwart.  über  die  Stellung  M.s  zu 
kirchlichen  fragen  ist  schon  bei  besprechung  des  zweiten  teiles 
(n.  Jahrb.  1895  s.  283)  einiges  bemerkt  worden :  die  befürchtungen, 
die  dort  geäuszert  sind ,  haben  sich  erfüllt,  gleich  bei  beginn  der 
neuen  zeit  weisz  M.  von  den  innei'en  beweggründen  Luthers  nichts 
zu  sagen,  recht  überflüssig  ist  (s.  18)  die  anmerkung  über  die  un- 
gewisheit  von  Luthers  geburtsjahr  —  Köstlin  hat  doch  nicht  um- 
sonst die  unbegründeten  einwände  zurückgewiesen,  von  den  seelen- 
kämpfen  des  Augustinermönchs,  von  dem  aufjauchzen  der  armen 
seele,  als  sie  endlich  zur  rechtfertigung  allein  aus  dem  glauben  sich 
durchgerungen  hatte  —  davon  findet  sich  bei  M.  nichts,  nur  der 
misbrauch  des  ablasses  treibt  Luther  schritt  für  schritt  weiter  und 
endlich  zum  bruche  mit  Rom.  'da  sein  kurfürst,  Friedrich  der 
weise,  unverhohlen  für  ihn  partei  nahm,  brauchte  er  zunächst  nichts 
zu  befürchten'  (s.  18).  wie  ganz  anders  steht  es  mit  Loyola  —  in 
dem  geht  eine  'innere'  Wandlung  vor!  nach  M.  widmet  sich  (s.  38) 
der  Jesuitenorden  neben  der  seelsorge  ganz  besonders  der  erziehung 
der  Jugend  und  der  bekehrung  der  beiden  —  warum  fehlen  die 
ketzer?  mit  der  heidenbekehrung  hat  doch  wohl  der  erfolg  des 
Ordens,  dasz  er  in  Deutsehland  (s.  38)  'sogar  mehrere  fürstenhäuser 
zur  alten  kirche  zurückführte'  nichts  zu  thun!  oder  dient  das  col- 
legium  Germanicum  der  heranbildung  von  heidenmissionaren? 
spricht  das  vierte  gelübde  der  Jesuiten  nur  von  bekehrung  der 
beiden?  dasz  der  geistliche  vorbehält  als  zu  recht  bestehend  an- 
gesehen wird,  versteht  sich  unter  diesen  Verhältnissen  von  selbst 
(s.  39  u,  40).  vielleicht  ist  es  bei  dem  Standpunkte  M.s  nicht  un- 
absichtlich geschehen,  dasz  Josefs  II  misglückte  reformen  ausführ- 
lich ,  Maria  Theresias  thätigkeit  für  Österreich  nur  beiläufig  behan- 
delt werden,  die  darstellung  der  politischen  geschichte  ist  anregend 
und  sehr  geschickt  verfaszt,  obwohl  die  überfülle  des  stoffes  und  der 
anmerkungen  das  lehr  buch  allzu  sehr  in  den  Vordergrund  treten 
läszt  und  im  einzelnen  vieles  vorweg  nimmt,  was  der  lehrer  dar- 
bieten sollte,  die  genauigkeit  des  berichtes  geht  nicht  selten  gar  zu 
weit:  von  der  unseligen  balsbandgeschichte  (s.  175)  oder  von  der 
thatsache ,  dasz  Napoleon  III  'nach  vergeblichen  bemühungen  um 
die  band  einer  prinzessin  aus  einem  europäischen  fürstenhause  1853 
die  spanische  gräfin  Eugenie  von  Montijo  heiratete  und  sein  1856 
geborener  söhn  Ludwig  Napoleon  1879  durch  die  Zulus  fiel'  (s.  244) 
brauchte  füglich  auch  in  oberprima  nicht  gesprochen  zu  werden, 
ereignisse  wie  der  griechische  freiheitskrieg  1821  —  29,  die  katho- 
likenemancipation  1829,  der  Schweizer  sonderbundskrieg,  selbst  der 
Krimkrieg  können  in  der  von  M.  beliebten  ausführlichkeit  nicht  zur 
darstellung  kommen,  es  wird  auch  auf  der  obersten  stufe  des  ge- 
scbichtsunterrichts  in  der  schule  bei  der  behandlung  der  neuesten 
zeit  mit  der  deutschen  und  preuszischen  geschichte  sein  bewenden 
haben  müssen,  europäische  ereignisse  wie  die  oben  genannten  können 
nur  angedeutet  werden,    wir  können  doch  unmöglich  Weltgeschichte 


Th.  Sorgenfrey :  zum  unterrichte  in  der  neueren  u.  neuesten  geschicMe.    55 

in  dem  sinue  lehren  wollen,  wie  etwa  noch  vor  40  jähren  an  der 
Universität  Tübingen  in  feststehendem  turnus  Universalgeschichte 
gelesen  wurde,  wie  sie  so  schön  dem  scholastischen  schema  ent- 
sprach, dagegen  läszt  M.  das  zurücktreten,  was  unter  der  bezeich- 
nung  gemeinnütziger  kenntnisse  zusammengefaszt  wird:  wirtschaft- 
liche oder  staatswissenschaftliche  belehrungen  finden  sich  in  den 
anmerkungen  gelegentlich  da,  wo  sie  zum  Verständnisse  nicht  ganz 
unentbehrlich  sind,  demgegenüber  masz  betont  werden,  dasz  be- 
fürchtet wird,  es  möchte'  die  reichhaltigkeit.  des  gebotenen  die 
aufmerksamkeit  des  Schülers  geradezu  ablenken  und  somit  die 
Wiederholung  eher  erschweren  als  fördern,  so  anerkennenswert  die 
Sorgfalt  ist,  mit  welcher  der  reiche  stoff  bearbeitet  ist,  als  Schulbuch 
bietet  das  lehrbuch  von  M.  zuviel  einzelheiten,  die,  obwohl  trefflich 
ausgewählt ,  doch  entbehrlich  erscheinen,  einen  didactischen  fort- 
schritt  durch  gruppierung  oder  auswahl  des  Stoffes  bietet  M.  nicht, 
dem  lehrer  wird  das  lehrbuch  manche  anregung  gewähren,  es  in  die 
bände  der  schüler  zu  legen  erscheint  nicht  geboten,  ganz  abgesehen 
davon,  dasz  es  der  confessionelle  Standpunkt  des  Verfassers  von  dem 
gebrauche  an  evangelischen  anstalten  ausschlieszt.  eine  sehr  zweck- 
mäszige  zugäbe  des  lehrbuches  ist  ein  'namen-  und  Sachverzeichnis', 
welches  so  genau  gearbeitet  ist,  dasz  z.  b.  doppelnamen  wie  La  Hogue 
und  La  Hague  auch  hier  doppelt  aufgeführt  werden. 

Unmittelbar  aus  dem  unterrichte  hervorgegangen  ist  das  hilfs- 
buch  von  Moldenhauer"',  das,  nur  für  die  untersecunda  bestimmt, 
die  zeit  von  1740  bis  auf  unsere  tage  umfaszt,  also  für  nicht  wenige 
schüler  den  abschlusz  des  geschichtsunterrichts  überhaupt  bringt, 
gerade  deshalb  ist  versucht  worden,  das  Verständnis  für  die  gegen- 
wart  und  das  erkennen  von  Ursache  und  Wirkung,  soweit  als  mög- 
lich anzubahnen,  im  weiteren  anschlusse  an  die  forderungen  der 
neuen  lehrpläne  ist  die  Verfassung  Preuszcns  und  die  des  deutschen 
reiches  sowie  die  entwicklung  des  gesellsi  laftlichen  und  wirtschaft- 
lichen lebens  besonders  berücksichtigt  w  rden.  hier  zeigt  sich  die 
reiche  erfahrung  des  Verfassers,  der  mit  icherem  griffe  gerade  da 
die  erläuterungen  der  erzählung  einfügt,  wo  die  sache  zum  ersten  male 
erwähnt  wird,  so  wird  bei  der  erörterung  von  Friedrichs  d.  gr.  ein- 
fuhrverboten  die  bedeutung  des  einfuhrverbots  und  des  Schutzzolls, 
bei  der  gründung  der  bank  deren  Wirksamkeit,  bei  den  assignaten 
nicht  nur  die  bedeutung  des  wortes  sondern  der  begriff  geld  über- 
haupt erläutert,  nachdrücklich  wird  bei  der  regelung  des  abgaben- 
wesens  in  Preuszen  vom  jähre  1820  auf  den  unterschied  zwischen 
directen  und  indirecten  steuern  hingewiesen,  den  reichen  stoff  der 
150  jähre  seit  dem  regierungsantritte  Friedrichs  d.  gr.  zerlegt  M. 
in   vier  teile,  die,  wenn  er  es  auch  nicht  ausdrücklich  sagt,  doch 

^  Moldenhauer,  Franz,  hilfsbuch  für  den  geschichtsunterricht  in  der 
untersecunda.  geschichte  Deutschlands  vom  regierungsantritt  Friedrichs 
des  groszen  bis  zur  gegenwart.  Berlin,  Oswald  Seehagen.  1894.  8". 
VIII  und  181  8. 


56    Th  Soigenfrey :  zum  unterrichte  in  der  neueren  ii.  neuesten  geschichte. 

recht  wohl  die  vier  quartale  des  Schuljahrs  umfassen:  1)  das  Zeit- 
alter Friedrichs  d,  gr.,  2)  die  französische  revolution,  die  coalitions- 
kriege  und  freiheitskriege,  3)  Deutschland  bis  zur  aufrichtung  des 
deutschen  reichs,  4)  die  friedensjahre  seit  1871.  an  jede  dieser  vier 
abteilungen  schlieszen  sieh  wiederbolungstafeln  an,  eine  einrichtung, 
die  von  M.  selbst  als  eine  bewährte  stütze  des  Unterrichts  bezeichnet 
wird,  für  die  darstellung  ist  die  form  der  zusammenhängenden  erzäh- 
lung  gewählt  worden,  damit  das  buch  auch  als  lesebuch  in  die  band 
genommen  werden  und  im  späteren  leben  noch  ein  berater  sein  kann, 
es  sind  der  gründe  genug,  welche  dagegen  sprechen,  dem  schüler 
ein  lesebuch  als  hilfsbuch  in  die  band  zu  geben,  ein  ideales  ziel  ist 
es,  zu  erwarten,  dasz  ein  Schulbuch  noch  nach  der  schulzeit  als  be- 
rater benutzt  wird,  hier  dürfte  M.  wohl  eine  sehr  bedenkliche  ent- 
täuschung  erleben,  das  miisz  M.  zugegeben  werden,  dasz  seine  er- 
zählung  gefällig  und  thatsäcblicb  die  eines  guten  lesebuches  ist,  aus 
welchem  ein  strebsamer  schüler  viel  anregung  gewinnen  kann,  nicht 
selten  geht  freilich  M.  doch  wohl  etwas  zu  sehr  ins  einzelne:  ist  es 
wirklich  nötig,  dasz  der  name  des  Scharfrichters  Samson  (s.  35)  der 
nacbwelt  überliefert  und  sogar  in  der  schule  genannt  wird?  gegen 
die  Verwendung  des  buches  im  Schulunterrichte  dürfte  auch  der  um- 
stand geltend  zu  machen  sein,  dasz  M.s  arbeit  nur  für  eine  classe 
bestimmt  ist  —  es  empfiehlt  sich  doch  wohl  für  den  Unterricht,  wie 
er  an  den  anstalten,  für  welche  M.  sein  buch  geschrieben  hat,  in  den 
der  deutschen  geschichte  bestimmten  drei  jähren  erteilt  wird,  ein 
buch  zu  benutzen,  wenigstens  müsten  die  einzelnen  abteilungen  von 
demselben  Verfasser  sein,  wenn  irgendwo,  so  dürfte  für  einen  Unter- 
richt in  der  deutschen  geschichte  in  den  mittelclassen  derselbe  leit- 
faden  erforderlich  sein,  je  einheitlicher  sich  auch  in  dieser  beziehung 
der  Unterricht  gestaltet,  um  so  leichter  wird  es  den  lernenden  ge- 
macht, aus  diesem  gründe  wird  die  einführung  von  M.s  hilfsbuche 
im  Schulunterrichte  nicht  möglich  sein,  ohne  wesentliche  interessen 
7,u  beeinträchtigen.  bed(  iklich  ist  leider  auch  die  hast,  mit  welcher 
die  drucklegung  erfolgt  st:  das  dem  buche  beigegebene  Verzeichnis 
von  druckfehlern  genügt  leider  nicht,  und  doch  sollte  in  einem  schul- 
buche vor  allem  Zuverlässigkeit  der  angaben  erstrebt  werden,  an- 
gaben wie  s.  130  'Österreich  zahlte  40  millionen  thaler  kriegskosten' 
musten  vermieden  werden,  ein  anhang  bietet  die  hauptsächlichsten 
wirtschaftlichen  grandbegriffe  zusammenhängend  dargestellt.  M.  hat 
wohl  nicht  daran  gedacht,  diese  Zusammenstellung  in  der  schule 
unmittelbar  zu  verwerten,  etwa  den  Unterricht  so  einzurichten,  dasz 
diese  grundbegriffe  am  ende  des  Schuljahrs  als  ergebnis  der  Unter- 
richts gewonnen  werden,  es  kann  doch  füglich  diese  Zusammenstel- 
lung nur  den  zweck  verfolgen,  einem  gelegentlichen  nachschlagen 
zu  dienen  —  oder  ist  sie  für  den  lehrer  selbst  bestimmt?  das  Ver- 
zeichnis der  bücher,  welche  im  Vorworte  zur  belehrung  über  wirt- 
schaftliehe begriffe  empfohlen  werden,  bietet  allerdings  nur  die  land- 
läufigsten hilfsmittel,  die,  sollte  man  meinen,  dem  lehrer  auch  ohne 


/ 


Th.  Sorgenfrey :  zum  unterrichte  in  der  neueren  u.  neuesten  gescliichte.    57 

das  Vorwort  M.s  bekannt  sein  müssen,  es  wird  doch  kaum  einen 
älteren  geschichtslehrer  geben,  der  nicht  schon  vor  1892  mit  national- 
ökonomie  sich  befaszt  hat,  die  jüngere  generation  der  geschichts- 
lehrer wird  ja  durch  die  Lamprecbtsche  richtung  des  geschichts- 
studiums  ohnebin  auf  eingehende  beschäftigung  mit  diesen  fragen 
hingewiesen  sein,  unter  den  vielen  versuchen  aber,  den  geschichts- 
unterricht  mit  gemeinnützigen  kenntnissen  zu  durchsetzen,  ist  der 
M.s  in  seiner  beschränkung  wohl  der  gelungenste;  könnte  sich  M. 
dazu  verstehen ,  die  deutsche  geschichte  wenigstens  für  die  mittel- 
classen  als  ein  abgeschlossenes  ganze  zu  bearbeiten,  und  dabei  die 
Verfassung,  die  gesellschaftlichen  und  wirtschaftlichen  Verhältnisse 
in  gleicher  weise  zur  geltung  zu  bringen,  so  wäre  ein  hilfsbuch  ge- 
boten, wie  es  allen  billigen  ansprüchen  entspräche,  das  jetzt  vor- 
liegende hilfsbuch  mag  aber  den  Schülerbibliotheken  unserer  höheren 
schulen  angelegentlich  empfohlen  sein. 

Mitten  hinein  in  die  beschäftigung  mit  der  bürgerkunde  führt 
Endemann. ^  die  jugend  mit  den  wichtigsten  grundlagen  des 
staatlichen  und  wirtschaftlichen  lebens  bekannt  zu  machen,  ist  das 
ziel  Endemanns,  der  dadurch  eine  unabweisbare  forderung  der  gegen- 
wart  zu  erfüllen  hofiFt.  mit  aller  begeisterung  bekennt  sich  E.  zu 
der  ansieht,  dasz  bürgerkunde  in  den  schulen  so  viel  als  möglich  be- 
rücksichtigt werden  musz,  und  er  bedauert,  dasz  die  Volksschule  schon 
besseres  rüstzeug  für  diesen  Unterricht  aufzuweisen  hat  als  die  höhere, 
der  Schwierigkeit,  bürgerkunde  richtig  zu  lehren,  ist  sich  E,  wohl 
bewust,  denn,  den  eignen  Standpunkt  verleugnen  zu  wollen,  würde 
freilich  charakterlos  sein,  aber  ohne  zwingende  gründe,  denselben 
zur  geltung  zu  bringen ,  halte  ich  für  verfehlt  —  sagt  er  s.  2.  nach 
eingehender  besprechung  der  einschlagenden  littei-atur,  soweit  sie 
für  höhere  schulen  in  betracht  kommt,  stellt  E.  in  der  Überzeugung, 
dasz  es  sich  überhaupt  nicht  mehr  um  das  ob  sondern  um  das  wie 
handelt  (s.  7)  folgende  grundsätze  auf:  'es  soll  jeder  'gesinnungs- 
driir  vermieden ,  durch  das  eingehen  auf  wirtschaftliche  fragen  das 
wissen  der  schüler  vertieft,  durch  langsames  fortschreiten  jede 
überbürdung  vermieden,  in  den  untersten  classen  in  geeigneter  weise 
vorgebaut,  die  Verarbeitung  des  mit  genauer  auslese  zu  bietenden 
Stoffes  von  tertia  an  erstrebt  werden,  endlich  können  auszer  dem 
geschichtlichen  und  geographischen  unterrichte  die  andern  fächer 
zur  Vermittlung  politischer  und  wirtschaftlicher  kenntnisse  heran- 
gezogen werden.'  es  sind  dies  sätze,  die  in  ihrer  allgemeinheit  keinen 
grundsätzlichen  Widerspruch  finden  werden,  die  freilich  ebenso 
wenig  ein  unzulässiges  hervortreten  hindern  können,  wenn  s.  12 
dem  geographischen  unterrichte  in  untersecunda  besondere  ab- 
•schnitte   zufallen   und  was  etwa  aus  Zeitmangel  hier  fortblieb,   in 


*  Endemann,  Carl,  Staatslehre  nnd  Volkswirtschaft  auf  höheren 
schulen,  praktische  anleitung  zu  politischen  und  wirtschaftlichen  be- 
lehrungen  im  historisch -geographischen  Unterricht.  Bonn,  Friedrich 
Cohn  1895.     8».     II  u.  162  s. 


58    Th.  Sorgenfrey :  zum  unterrichte  in  der  neueren  u.  neuesten  geschichte. 

obersecunda  behandelt  werden  soll,  so  ist  bei  aller  beschränkung  der 
alten  geschichte  in  obersecunda  doch  dazu  unmöglich  zeit  zu  finden, 
zumal  da  E.  repetitionsweise  die  deutsche  bürgerkunde  in  ober- 
secunda nicht  durchgenommen  wissen  will,  sondern  mehrfach  durch- 
genommen hat  —  wie  sich  das  letztere  mit  den  beschränkungen  der 
lehrpläne  in  einklang  bringen  läszt,  will  nicht  recht  einleuchten,  es 
ist  diese  ausdehnung  um  so  weniger  zu  begreifen,  als  auch  E,  nicht 
umhin  kann,  selbst  vor  Überspannung  der  forderungen  zu  warnen, 
die  abhandlung  E.s  zerfällt  in  einen  geschichtlichen  und  einen  geo- 
graphischen teil,  in  dem  ersteren  wird  die  culturentwicklung  in  den 
einzelnen  perioden  der  Weltgeschichte  dargelegt,  nur  die  des  mittel- 
alters  wird  nicht  ausführlich  besprochen,  weil  E.  die  praktische  er- 
fahrung  fehlt,  es  ist  eine  nicht  geringe  anzahl  von  begriffen,  die  sich 
bei  diesen  betrachtungen  ergibt :  handelsstaat,  Industriestaat,  handels- 
monopol,  caiDilalismus ,  mammonismus,  materialismus,  colonial- 
politik,  landescultur,  leibeigenschaft,  aristokratie,  demokratie,  exe- 
cutivbehörde,  controllbehörde,  Staatseinnahmen,  steuern,  zolle,  was 
E.  hier  bietet,  hat  sich  in  älteren  leitfäden  wie  in  dem  von  Herbst 
bereits  gefunden,  und  die  eben  genannten  begriffe  vielleicht  mit 
einziger  ausnähme  des  mammonismus  sind  wohl  auch  den  älteren 
Schülergenerationen  nicht  unbekannt  geblieben,  neu  ist  nur  die 
stete  betonung  der  analogie  zu  unseren  Verhältnissen,  wie  sie  sich 
bei  E.  findet,  was  dann  über  das  mittelalter  vorgebracht  wird,  ist 
nicht  mehr  als  eine  dürftige  präparation  —  die  begründung,  das/ 
hier  die  praktische  erfahrung  im  unterrichte  fehlt,  klingt  eigentüm- 
lich genug,  reichlicher  flieszen  die  bemerkungen  über  die  neuere 
zeit,  aber  die  hier  und  weiterhin  beliebte  form  oder  richtiger  gesagt 
formlosigkeit  dessen,  was  E.  vorbringt,  läszt  sorgfältiges  durch- 
arbeiten vermissen,  so  steht  s.  68 ;  'frondienste,  abgaben,  misernten, 
teuerung.'  je  mehr  sich  E.  der  neuesten  zeit  nähert,  um  so  aus- 
führlicher werden  seine  darlegungen;  ja  in  dem  streben,  alles  zu  er- 
klären, verlangt  E.  doch  zuviel,  wenn  er  (s.  84)  unter  anderem 
fordert:  Mann  verdienen  auch  die  Verfassungskämpfe  in  Hannover, 
Braunschweig,  Sachsen  und  vor  allem  in  Hessen  berücksichtigung.' 
wenn  der  lehrer  seiner  erzählung  da  etwa  Treitschkes  darstellung 
zu  gründe  legt,  gibt  es  zwar  recht  farbenreiche  Streiflichter,  aber 
kaum  ein  Wissensgebiet,  das  dem  Verständnisse  auch  nur  der  obersten 
classe  nahe  genug  liegt,  diese  Verfassungskämpfe  in  den  einzelnen 
deutschen  Staaten  können  schon  in  rücksicht  auf  die  zur  Verfügung 
stehende  zeit  nicht  ausführlich  behandelt  werden,  selbst  da,  wo 
diese  kämpfe  in  das  leben  unserer  geistetshelden  eingreifen,  wie  in 
das  Uhlands  die  kämpfe  um  das  alte  gute  recht  Würtembergs,  häufen 
sich  die  Schwierigkeiten  derart,  dasz  kaum  ein  eingehen  auf  diese 
fragen  möglich  erscheint,  was  E.  in  dem  zweiten  teile,  dem  geo- 
graphischen, bietet,  wird  als  eine  besonders  dringende  forderung 
der  neuzeit  vorgebracht  —  'die  hohe  Wichtigkeit  des  geographischen 
Unterrichts    für   die   politischen  und   wirtschaftlichen   belehrungen 


Th.  Sorgenfrey :  zum  unterrichte  in  der  neueren  u.  neuesten  gesctiichte.    59 

scheint  mir,  sagt  E.  s.  91,  bis  jetzt  nur  von  wenigen  Schulmännern 
erkannt  zu  sein.'  es  dürften  auch  nicht  allzu  viele  schulmänner  E. 
auf  die:<em  wege  folgen:  dieser  weg  musz  dahin  führen,  dasz  der 
Unterricht  in  der  erdkunde  —  denn  so,  nicht  geo<^raphie  wird  dieser 
Unterrichtsgegenstand  in  den  lehrplünen  von  1892  doch  wohl  ab- 
sichtlich genannt  —  dasselbe  conglomerat  von  Wissensstoffen  wird, 
wie  es  vor  Ritter  und  Peschel  vielfach  gewesen  ist.  es  tritt  in  dem, 
was  E.  fordert,  gewissermaszen  die  reaction  gegen  die  anschauung 
entgegen,  nach  welcher  erdkunde  nur  auf  naturwissenschaftlicher 
betrachtung  sich  aufbaut,  die  Wechselwirkung  der  physischen  boden- 
beschaffenheit  eines  landes  und  seiner  erzeugnisse ,  die  beziehungen 
zu  den  einwohnern  und  der  Staatenbildung  wird  ja  stets  erwähnt 
werden,  —  aber  was  E.  in  der  einen  stunde,  welche  durch  die  lehr- 
pläne  für  die  erdkunde  von  tertia  an  bestimmt  ist,  besprochen  wissen 
will,  scheint  übertriebene  forderung.  E.  hat  bich  eine  grosze,  her- 
liche aufgäbe  gestellt,  dasz  der  schüler  durch  den  Schulunterricht  in 
der  erdkunde  die  grundbegriffe  unseres  heutigen  staatlichen  und 
wirtschaftlichen  lebens,  die  sittlichen  und  materiellen  grundlagen 
desselben  kennen  und  verstehen  lernt,  nicht  nur  lernt,  wie  die  leute 
sind,  sondern  warum  sie  so  sind,  so  werden  musten.  und  das  ist 
wahre  aufklärung,  ruft  uns  E.  s.  97  zu,  aus  der  nur  segen  ent- 
springen wird,  führt  die  begeisterung  für  seine  gedanken  E.  nicht 
zu  weit?  dasz  dem  so  ist,  dafür  genüge  es,  ein  beispiel  anzuführen, 
nachdem  Spanien  in  seinen  umrissen  dargestellt  ist,  wird  die  Ver- 
schiedenheit des  klimas  begründet,  insbesondere  von  dem  verfall 
der  Wälder  gehandelt  und  auseinandergesetzt,  warum  die  reichen 
mineralschätze  des  landes  nicht  verwertet  werden,  darauf  wird  land- 
wirtschaft  und  Industrie  besprochen,  der  Schwerpunkt  aller  betrach- 
tung liegt  in  dem  nachweise,  wie  es  kommt,- dasz  ein  an  producten 
so  reiches  land ,  das  von  einem  begabten  volke  bewohnt  wird,  that- 
sächlich  ein  armes  land  ist.  so  anziehend  dieser  nachweis  im  ein- 
zelnen ist,  so  wenig  dürfte  selbst  die  oberste  stufe  des  erdkundlichen 
Unterrichts  —  die  untersecunda  —  für  solche  auseinandersetzungen 
geeignet  sein:  wäre  in  prima  noch  Unterricht  in  der  erdkunde,  so 
könnte  der  versuch  gemacht  werden,  bei  Wiederholungen  zu  ge- 
winnen, was  E.  verlangt,  auf  der  stufe  von  untersecunda  wird  die 
geschichtlich  -  wirtschaftliche  betrachtung  fast  ausschlieszlich  vom 
lehrer  selbst  dargeboten  werden  müssen,  wie  eingehend  E.  die  Ver- 
hältnisse der  einzelnen  länder  behandelt  wissen  will,  beweist  auch 
der  abschnitt  über  Frankreich,  der  eine  genaue  darlegung  der  finanz- 
operationen  eines  Law  bietet  —  sollte  das  wirklich  mit  den  in  der 
erdkunde  zu  besprechenden  Verhältnissen  in  irgend  welchem  Zu- 
sammenhang stehen?  dasz  bei  aller  Sorgfalt  und  Unparteilichkeit 
doch  gelegentlich  ein  einseitiges  urteil  nicht  vermieden  wird,  zeigt 
E.  bei  besprechung  der  socialen  Verhältnisse  in  Nordamerika,  sollte 
wirklich  dem  schüler  verständlich  sein,  was  E.  über  riesencapitalien 
und  pauperismus  s.  159  sagt:  'wie  einst  in  Rom  die  besitzer  der 


60    Th.  Sorgenfrey :  zum  unterrichte  in  der  neueren  u.  neuesten  geRcbichte. 

latifundien  der  besitzlosen  masse  gegenüberstanden,  so  steht  in  den 
Vereinigten  Staaten  dem  riesencapital  der  pauperismus  gegenüber, 
•wohlthuend  war  es  zu  beobachten,  wie  tüchtige  tnänner  durch  eigne 
thatkraft  infolge  der  wirtschaftlichen  freiheit  sich,  wie  fast  in  keinem 
andern  lande,  emporringen  konnten  (die  Selfmademen),  allein  indem 
viele  den  einmal  beschrittenen  weg  immer  weiter  verfolgten  und  zu 
den  erworbenen  capitalien  immer  weitere  hinzufügten,  was  bei  den 
beutigen  börsen-  und  geldgeschäften  keinerlei  mühe  erfordert,  so  hat 
sich  eine  anhäufung  von  capitalien  in  wenigen  bänden  ergeben ,  die 
dem  gemeinwohl  bereits  in  hohem  grade  gefährlich  wurde.'  es  wird 
dem  lehrer  wohl  die  genauere  kenntnis  der  heutigen  börsen-  und 
geldgeschäfte  zumeist  fehlen,  aber  eben  deshalb  soll  er  nicht  ver- 
urteilen ,  sondern  bedenken ,  wie  den  jungen  gemütern  unserer 
Schüler  gegenüber  die  gröste  vorsieht  geboten  ist.  was  müste  wohl 
in  dem  herzen  eines  schülers  vorgehen ,  dessen  vater  börsenmakler 
ist,  wenn  er  aus  dem  munde  seines  lehrers  so  scharf  die  thätigkeit 
der  börse  verurteilen  hört,  so  ideal  das  ziel  E.s  ist,  durch  ver- 
gleichung  mit  den  zuständen  anderer  länder  das  deutsche  heimats- 
gefühl  zu  stärken  und  das  gefübl  für  deutsche  grösze  und  deutsche 
ehre  lebendig  zu  erhalten,  so  wenig  dürfte  dem  unterrichte  in  der 
erdkunde  diese  aufgäbe  in  erster  linie  und  vor  allem  zufallen  ;  schon 
der  äuszcre  grund,  der  mangel  an  zeit,  wird  hindernd  in  den  weg 
treten,  noch  vielmehr  aber  der  mangel  an  Verständnis  bei  den  schülern 
auf  der  mittelstufe  unserer  höheren  schulen,  es  ist  wahr,  der  Unter- 
richt, der  verstand  und  gemüt  zugleich  anregt,  wird  der  wertvollste 
sein,  aber  stets  wird  der  lehrer  sich  davor  hüten  müssen,  über- 
triebene anforderungen  an  seine  schüler  zu  stellen  —  dies  aber  wird 
die  folge  von  E.s  verfahren  sein,  deshalb  kann  bei  aller  anerkennung 
die  Sorgfalt,  mit  welcher  der  überreiche  lehrreiche  stoff  zusammen- 
gebracht und  von  E.  gesichtet  worden  ist,  doch  nur  vor  dem  ein- 
geschlagenen wege  gewarnt  werden,  maszhalten  ist  in  allen  dingen 
gut,  besonders  aber,  wenn  es  sich  dai'um  handelt,  im  unterrichte 
neue  wege  einzuschlagen,  darum  darf  auch  Staatslehre  und  Volks- 
wirtschaft in  der  schule  zwar  nicht  unberücksichtigt  gelassen  wer- 
den,  aber  der  Unterricht  in  der  geschichte  und  in  der  erdkunde  ist 
nicht  dazu  da,  vor  allem  bürgerkunde  zu  treiben,  die  zustände  zu 
lehren  und  darüber  zu  vergessen,  wie  diese  zustände  geworden  sind. 
Verständnis  anzubahnen,  ist  die  aufgäbe  der  schule;  interesse  er- 
wecken für  die  groszen  fragen  der  gegenwart,  heiszt  noch  nicht 
diese  fragen  in  allen  einzelheiten  darzulegen  suchen,  mehr  als  ein 
versuch  kann  auch  E.s  verfahren  nicht  sein,  ihm  zu  folgen  musz  ab- 
gelehnt werden. 

Dagegen  hat  Stutzer'  mit  groszem  geschick  die  schwierigste 
frage,  welche  dem  geschichtsunterrichte  in  der  obersten  classe  zu- 

*  Stutzer,  Emil,  die  sociale  frage  der  neuesten  zeit  und  ihre  be- 
handlung  in  oberprima  (sonderabdruck  aus  den  lehrproben,  heft  37). 
Halle  a.  S.,  buchhandlung  des  Waisenhauses.     1894.     8".     31  s. 


Th.  Sorgenfrey :  zum  unterrichte  in  der  neuereu  u.  neuesten  geschichte.    61 

fällt,  in  ihre  einzelnen  teile  zerlegt  und  den  weg  gewiesen,  wie  mit 
Schülern  kurz  vor  ihrem  abgange  zur  hochschule  die  sociale  frage 
der  neuesten  zeit  besprochen  werden  kann,  die  einleitung  umfaszt 
die  geschichte  der  socialen  frage  bis  auf  unsere  tage  und  zeigt  in 
kurzen,  scharfen  zügen  ihre  entwicklung  im  altertum,  mittelalter  und 
in  der  neuzeit  bis  1815,  betont  absichtlich  in  ausführlicher  darstel- 
lung  die  erste  französische  revolution,  von  deren  Ursachen,  ziel, 
förderung  durch  den  abfall  der  nordamerikanischen  colonien,  ver- 
lauf, art  und  weise  des  bruchs  mit  der  Vergangenheit,  sowie  dauern- 
den errungenschaften  eingehend  gehandelt  wird,  damit  ist  St.  auf 
die  sociale  frage  der  neuesten  zeit  gekommen,  indem  er  von  ihrem 
Charakter  (§  1)  im  allgemeinen  ausgeht,  kommt  er  zu  den  socialisti- 
schen  parteien,  ihren  zielen  und  ihren  hauptvertretern  (§  2).  St. 
nimmt  seinen  ausgang  von  den  bestrebungen  Le  Blancs  und  ver- 
breitet sich  dann  ausführlich  über  die  thätigkeit  Lasalles,  wie  genau 
St.  verfährt,  zeigt  z,  b.  die  mitteilung,  dasz  Lasalle  im  duell  eines 
unsauberen  liebeshandels  wegen  gefallen  ist  —  hat  dieser  verfall 
wirklich  mit  der  socialen  frage  etwas  zu  thun?  darauf  wird  von 
St.  Simon,  Fourier  und  Proudhon  gehandelt,  über  Marx  und  Engels 
kommt  St.  zu  Liebknecht  und  Bebel  und  damit  zur  gründung  der 
socialistischen  arbeiterpartei  Deutschlands,  deren  programm,  wie  es 
zu  Gotha  festgestellt  und  später  in  Erfurt  abgeändert  worden  ist, 
ausführlich  dargelegt  wird,  in  §  3  werden  die  mittel  und  wege  zur 
möglichsten  milderung  der  socialen  gegensätze  in  Deutschland  auf- 
geführt, wie  sie  von  staatlicher,  christlich -sittlicher  und  geistiger 
Seite  versucht  wurden,  in  §  4  aber  dargelegt,  wie  die  fortdauer  der 
socialistischen  bewegung  im  fortbestehen  von  misständen  begründet 
ist  —  Bismarcks  ausspruch :  Wie  socialdemokratie  ist  doch  immer 
ein  mene  tekel  dafür,  dasz  nicht  alles  so  ist,  wie  es  sein  sollte'  wird 
nicht  vergessen  (s.  26).  in  §  5  wird  gezeigt,  warum  die  socialisti- 
schen und  communistischen  forderungen  und  verheiszungen  nicht 
durchführbar  sind ,  doch  in  §  6  die  möglichkeit  des  friedlichen  und 
allmählichen  fortschritts  der  entwicklung  erwiesen,  endlich  wird  in 
einem  rückblick  und  ausblick  (§  7)  zusammengefaszt,  was  erstrebt 
worden  ist  und  wie  alle  staatserhaltenden,  monarchisch  gesinnten 
Parteien  in  unbedingter  hingäbe  an  das  Vaterland  und  in  bethätigung 
des  wahren  gemeinsinnes  sich  vereinen  müssen,  der  Patriotismus, 
der  sich  in  den  letzten  werten  widerspiegelt ,  gibt  St.s  darlegungen 
den  richtigen  hintergrund.  der  lehrer  wird  von  diesem  Standpunkte 
aus  mit  einer  guten  oberprima  nicht  ohne  erfolg  die  sociale  frage 
geschichtlich  behandeln  können,  es  kann  sich  nicht  darum  handeln, 
in  allen  einzelangaben  St.  zu  folgen,  aber  der  weg,  den  St.  gezeigt 
hat,  ist  der  richtige  und  die  auffassung  unserer  studierenden  Jugend 
wird  in  die  richtigen  bahnen  geleitet,  die  thatsachen,  die  St. 
sprechen  läszt,  sind  genau  und  sorgfältig  ziisammengebracht,  eher 
könnte  St.  der  Vorwurf  gemacht  werden,  dasz  er  gar  zu  sehr  auf 
einzelheiten  eingeht,  aber  die  reichhaltigen  anmerkungen  sollen  ja 


62  Primer:  anz.  v.  A.  Waldeck  lateinische  schulgrammatik. 

nur  das  bei  der  betrachtung  gewonnene  im  einzelnen  ergänzen  und 
erklären. 

Fassen  wir  unsere  betrachtungen  zusammen ,  so  ergibt  sich, 
dasz  die  Verfasser  der  neueren  hilfsbücher  für  den  gesehichtsunter- 
richt  den  forderungen  der  neueren  durchaus  entgegenkommen, 
aber  über  das  masz  der  politischen  belehrung  unserer  schüler  weit 
auseinandergehen,  darin  aber  stimmen  alle  überein ,  dasz  darnach 
zu  streben  ist,  in  der  heranwachsenden  jugend  das  pflichtgefühl 
gegen  die  gesamtheit  d.  i.  gegen  das  Vaterland  zu  wecken  und  zu 
stärken. 

Neuhäldensleben.  Th.  Sorgenfrey, 


5. 

LATEINISCHE  SCHULGRAMMATIK  NEBST  EINEM  ANHANG  ÜBER  STILISTIK 
FÜR  ALLE  ANSTALTEN  VON  AuGUST  WaLDECK,  PROFESSOR  AM 
GYMNASIUM    ZU    CORBACH.      ZWEITE    AUFLAGE.     Halle  a.  S.      Verlag 

der  buchhandlung  des  Waisenhauses.    1897.    IX  u.  197  s. 

Die  vielumstrittene  lateinische  grammatik  von  Waldeck  ist 
soeben  in  zweiter  aufläge  erschienen,  den  freunden  wird  sie  in 
dem  gewand,  in  dem  sie  jetzt  einhergeht,  noch  besser  als  früher  ge- 
fallen, die  gegner  werden  wenigstens  zugeben  müssen,  dasz  Waldeck 
alles,  was  von  freund  und  feind  gewünscht  wurde,  sorgfältig  er- 
wogen hat,  und  dasz  er  überall  da,  wo  es  sich  mit  seinem  princip 
vertrug,  den  wünschen  und  forderungen  der  fachmänner  nach- 
gekommen ist.  so  enthält  sie  jetzt  die  übliche  einleitung  über 
aiphabet  und  ausspräche,  quantität  und  betonung ,  silbenbrechung, 
redeteile  und  abkürzungen,  wie  ein  Verzeichnis  der  wichtigeren  un- 
regelmäszigen  verbalstärame.  in  einem  anhange  ist  ihr  ferner  bei- 
gegeben das  notwendigste  über  Verslehre  (für  tertia),  ein  römischer 
kalender,  eine  Zusammenstellung  der  wichtigeren  musterbeispiele 
und  ein  register.  auch  sonst  hat  sie  mancherlei  erweiterung  und 
Veränderung  erfahren,  allerdings  mehr  in  der  formenlehre  als  in  der 
Syntax,  die  i-conjugation ,  die  sonst  die  dritte  bildete,  ist  wieder 
zur  vierten  geworden,  die  paradigmen  bei  den  declinationen  sind 
vermehrt,  eine  Zusammenstellung  der  präpositionen  mit  den  haupt- 
bedeutungen  und  kurzen  beispielen  ist  hinzugefügt,  in  der  syntax 
ist  ein  capitel  über  die  participia  hinzugekommen,  das  natürlich  nur 
das  enthält,  was  nicht  in  andere  abschnitte  gehört;  die  regel  über 
quin  ist  so  geändert,  dasz  nicht  blosz  die  ursprüngliche  bedeutung, 
sondern  auch  der  thatsächliche  gebrauch  schärfer  hervortritt,  in  der 
lehre  von  der  consecutio  temporum  sind  ergänzende  zusätze  gemacht 
über  conj.  perf.  und  verbum  infinitumj  ebenso  in  §  148  über  die 
form  abhängiger  irrealer  bedingungsperioden.  endlich  sind  die  hin- 
weisungen auf  verwandte  grammatische  erscheinungen  erheblich  ver- 
mehrt sowie  die  bisher  wohl  vielfach  zu  weit  gehende  knappheit  in 


Primer:  anz.  v.  A.  Waldeck  lateinische  schulgrammatik.  63 

der  fassung  der  regeln  in  wünschenswerter  weise  gemildert,  auch 
die  gliederung  des  Stoffes  tritt  schärfer  hervor  dadurch,  das?,  früher 
lose  angehängte  bemerkungen  jetzt  ausdrücklich  als  Zusätze  oder  an- 
merkungen  bezeichnet  sind,  die  vielen  druckfehler,  die  sich  in  der 
ersten  aufläge  befanden,  sind,  wie  es  scheint,  vollständig  beseitigt. 
Allen  wünschen  wird  dies  allerdings  noch  nicht  genügen,  denn 
da,  wo  principielle  gegensätze  herschen,  ist  eine  Versöhnung  und  ein 
ausgleich  so  leicht  nicht  möglich,  aber  von  einer  schulgrammatik 
kann  man  erschöpfende  behandlung  irgend  einer  frage  auf  sicherer 
philologischer  grundlage  nicht  verlangen ,  und  die  vorliegende  soll 
eben  nach  dem  willen  des  Verfassers  lediglich  ein  Schulbuch  sein, 
der  didaktische  zweck  ist  zunächst  hier  maszgebend.  die  daraus 
sich  ergebenden  grundsätze,  wie  sie  W.  in  der  vorrede  ausspricht 
und  in  der  grammatik  consequent  befolgt,  sind  nach  ansieht  des  ref. 
durchaus  richtige. 

1)  die  grammatik  soll  nicht  alles  material  enthalten,  das  der 
philologe,  sondern  nur  das,  was  der  schüler  für  seinen  zweck  braucht. 

2)  der  lateinische  grammatikunterricht  musz  Sprachunterricht 
überhaupt  sein,  namentlich  wenn  er,  wie  dies  jetzt  verlangt  wird, 
sprachlich-logische  Schulung  erzielen  soll,  daher  sind  alle  allgemein 
sprachlichen  begriffe  und  gesetze  zunächst  an  der  muttersprache 
zu  entwickeln,  nur  das  abweichende  ist  in  form  fester  regeln  zu 
fixieren. 

3)  die  sprachlichen  erscheinungen  sollen  möglichst  aus  ihren 
gründen  erklärt,  gleichartiges  musz  übersichtlich  zusammengefaszt 
werden,  die  form  der  sätze  soll  nach  dem  inhalt  bestimmt  werden, 
nicht  nach  äuszerlichkeiten,  wie  conjunctionen  u.  ä.  m, 

4)  damit  eine  regel  verstanden  und  behalten  wird,  musz  sie 
kurz  sein ,  musz  sie  nur  das  notwendige  und  allgemein  gültige  ent- 
halten, dagegen  alles  nebensächliche  ausschlieszen.  dieses  gehört  in 
die  anmerkung  oder  musz  durch  den  Unterricht  ergänzt  werden, 

5)  die  beispiele  sind  dazu  da,  dasz  aus  ihnen  inductiv  die  regel 
erkannt  und  gewonnen  wird,  teilweise  auch,  damit  sie  als  sogenannte 
musterbeispiele  die  regel  entweder  geradezu  ersetzen  oder  ihr  wenig- 
stens als  stütze  dienen,  sie  müssen  deshalb  ebenfalls  möglichst  kurz, 
frei  von  unnötigem  beiwerk,  anschaulich  und  leicht  behaltbar  sein. 

6)  die  lateinische  grammatik  soll,  das  verlangen  die  neuen 
preuszischen  lehrpläne  ausdrücklich,  mit  der  griechischen  möglichst 
übereinstimmen,  damit  die  schüler,  wenn  sie  das  griechische  an- 
fangen ,  nicht  von  neuem  vieles  lernen  müssen ,  was  sie  aus  den 
früheren  classen  schon  kennen. 

Wer  sich  mit  diesen  grundsätzen  einverstanden  erklärt,  wird 
zugeben  müssen.,  dasz  die  vorliegende  Waldecksche  grammatik  in 
zweiter  aufläge  ein  ganz  vorzügliches  buch  ist.  ja  ref.  kann  aus 
eigner  erfahrung  bestätigen,  dasz  sie  für  schüler  überaus  brauchbar 
ist.  der  verf.  gebietet  geradezu  über  ein  zauberstäbchen ,  mit  dem 
er  licht  verbreitet  und  finsternis  verscheucht,    dies  gilt  besonders 


64  Piimer:  anz.  v.  A.  Waldeck  lateinische  schulgrammatik. 

bei  der  syntax  und  Satzlehre,  hier  finden  sich  überall  klare,  einheit- 
liche gesichtspunkte,  hier  ist  eine  den  verstand  bildende  und  das  ge- 
dächtnis  entlastende  methode.  diesen  Vorzügen  gegenüber  wollen 
kleine  mängel  nicht  viel  bedeuten,  deren  jeder  lehrer  je  nach  seiner 
ansieht  in  jeder  grammatik  mehr  oder  weniger  finden  kann. 

Bei  der  prüfung  einer  lateinischen  grammatik  behufs  einführung 
kann  es  sich  nach  ansieht  des  ref.  gar  nicht  um  einzelheiten  und 
kleinigkeiten  handeln,  die  sich  leicht  mit  einem  federstrich  ändern 
lassen,  sondern  neben  wissenschaftlicher  correctheit  im  ganzen  kommt 
es  auf  dreierlei  an:  1)  genügt  das  buch  seinem  Inhalt  nach  für  die 
bedürfnisse  des  Schülers?  2)  entspricht  es  den  gegenwärtigen  metho- 
dischen anforderungen?  und  3)  ist  das  buch  seiner  systematischen 
anläge  nach  geeignet,  später  auch  die  griechische  grammatik,  wenig- 
stens die  syntax  darauf  zu  basieren? 

Von  allen  diesen  gesichtspunkten  aus  ist  die  Waldecksche 
grammatik  nach  ansieht  des  ref.  ein  sehr  brauchbares  buch,  das 
preuszische  reglement  fordert  'Verständnis  der  bedeutenderen  classi- 
schen  Schriftsteller  und  sprachlich-logische  Schulung'.  —  'grammatik 
und  die  dazu  gehörigen  Übungen  sind  fernerhin  nur  noch  als  mittel 
zur  en-eichung  dieses  Zweckes  zu  behandeln.'  welche  grammatik 
entspricht  diesen  forderungen  besser  als  die  von  Waldeck?  man 
vergleiche,  um  dies  zu  erkennen,  z.  b.  die  lehre  vom  indicativ  und 
conjunctiv  bei  Waldeck  und  in  andern  grammatiken.  nicht  lauter 
einzelne  fälle  finden  sich  bei  Waldeck,  sondern  alles  beruht  auf  dem 
unterschied  von  thatsache  und  Vorstellung,  der  Inhalt  und  das 
wesen  der  sache  kommt  in  der  ganzen  Satzlehre  zur  geltung.  die 
Scheidung  in  Urteils-,  begehrungs-  und  fragesätze  (letztere  bilden  in 
der  zweiten  aufläge  eine  Unterabteilung  der  urteils-  und  begehrungs- 
sätze)  und  dem  entsprechend  in  abhängige  urteils-,  begehrungs-  und 
fragesätze  ist  die  denkbar  zweckmäszigste.  —  Ähnlich  ist  es  bei 
andern  regeln,  wie  klar  ist  bei  Waldeck  die  anwendung  des  accusa- 
tivus  cum  iufinitivo  im  gegensatz  zu  quod-  und  ut-sätzen  besprochen, 
wie  einfach  die  Unterscheidung  von  non  und  ne!  wie  umständlich 
wird  hierüber  in  andern  grammatiken  gehandelt !  bei  EUendt-  Sey  ffert 
z.  b.  wird  beim  conjunctiv  in  hauptsätzen  jedesmal  hinzugesetzt  'die 
negation  ist  non'  oder  'die  negation  ist  ne'.  was  soll  sich  ein  schüler 
dabei  denken!    wie  soll  er  sich  das  merken! 

Dasz  übrigens  das  grammatische  System  Waldecks  nicht  ohne 
einflusz  bleibt,  läszt  sich  z.  b.  daraus  ersehen,  da;sz  dasselbe  voll- 
ständig in  Dettvveilers  didaktik  und  methodik  des  lateinischen  Unter- 
richts zu  gründe  gelegt  ist. 

Frankfukt  am  Main.  Primer. 


ZWEITE  ABTEILUNG 

FÜR  GYMNASIALPÄDAGOGIK  UND  DIE  ÜBRIGEN 

LEHRFÄCHER 

MIT    AÜSSCHLUSZ    DER    CLASSISCHEN    PHILOLOGIE 

HERAUSGEGEBEN  VON  PROF.  DR.  RiCHARD  RiCHTER. 


(1.) 

VIVES  IN  SEINER  PÄDAGOGIK. 

eine  quellenmäszige  und  systematische  darstellung. 

(fortsetzung.) 


Die  ideale  akademie. 

Allgemeines. 

§  24.  Wesen  und  zweck  der  akademie  bezeichnet  Vives  kurz 
als  'eine  äuszere  und  innere  Vereinigung  von  gelehrten  und  guten 
männern,  welche  sich  an  einander  angeschlossen  haben,  um  die- 
jenigen zu  ebensolchen  zu  machen ,  welche  der  Unterweisung  wegen 
dorthin  gekommen  sind'.'^^ 

§  25.  Für  die  wähl  des  ortes  gilt:  die  akademie  liege  in  einer 
gesunden  doch  nicht  naturschönen  gegend ,  wo  der  verkehr  mäszig, 
die  lebensmittel  billig,  fürstlicher  hofstaat  und  weiber  ferne  sind, 
am  besten  auszerhalb  einer  stadt  mit  regsamer  bürgerschaft,  doch 
nicht  an  einem  öffentlichen  wege  oder  in  der  nähe  der  grenze.  '^' 

§  26.  Die  akademie  ist  ein  Internat,  die  schüler  beköstigen 
sich  selbst  in  folgender  weise:  wöchentlich  wählen  sie  einen  mit- 
schüler  zum  architriclinius.  dieser  hat  für  die  einzelnen  tage  die  ein- 
kaufe der  speisen  zu  besorgen  und  am  Schlüsse  der  woche  rechnung 

"2  trad.  disc.  2,  2  (VI  279):  haec  est  vera  acarlemia,  scilicet  con- 
ventus  et  consensus  hominum  doctorum,  pariter  et  bonorum,  congrega- 
torum  ad  tales  reddendos  eos,  qui  illuc  disciplinae  gratia  venerint. 

'•■'^  *trad.  disc.  2,  1  (VI  271  f.):  coelum  ...  sit  salubre  . . .  sed  nee  nimis 
vernantem  aut  amoenum  elegerim  locum  .  .  .  suppetat  alimentorum  et  copia 
et  utilitas  ...  sit  item  locus  separatus  a  frequentia  ...  nee  sit  tarnen  omnino 
infrequens,  ne  testibus  .  .  .  careant  .  .  .  procul  etiara  a  comitatu  regio, 
et  puellarum  vicinia  .  .  .  consultius  esset  extra  urbem  constitui  gymna- 
sium  .  .  .  modo  ne  locus  caperetur,  quo  ex  urbe  consuessent  otiosi  deam- 
bulare;  nee  publico  itineri  adiaceat  .  .  .  non  in  regionis  limitibus.  — 
Nemo  sit  admiratus,  ea  cura  locum  quaeri,  ubi  nascatur  et  adolescat 
sapientia,  quum  tarn  anxie  locum  provideamus,  apibus  daturis  mel.  über 
die  äuszere  und  innere  einrichtung  der  akademie  finde  ich  nichts,  auszer 
der  gelegentlichen  bemerkung,  dasz  dieselbe  Säulenhallen  hat,  in  denen 
die  knaben  zur  regenzeit  spielen  sollen,  trad.  disc.  3,  4  (VI  319). 
N.jnhrb.  f.  phil.u.  päd.  II.  abt.  1897  hfl.  2.  5 


66  F.  Kuypers :  Vives  in  seiner  pädagogik. 

abzulegen;  jeder  zahlt  seinen  beitrag  und  auszerdem  eine  kleinig- 
keit  für  die  mühewaltung  der  diener.  die  lehrer  haben  überhaupt 
keine  geldgeschäfte  mit  den  schülern  abzuschlieszen.'^'  vgl.  s.  68. 

§  27.  Über  die  allgemeine  Organisation  des  unterrichts- 
betriebes  erfahren  wir  folgendes:  der  de6nitiven  aufnähme  des 
knaben  in  die  akademie  geht  eine  zweimonatliche  prüfung  der 
anlagen  seitens  der  lehrer  voraus,  untaugliche  werden  zurück- 
geschickt und  einem  praktischen  berufe  überwiesen,  ist  aber  die 
definitive  aufnähme  erfolgt,  so  darf  man  auch  bei  mangelhaften 
resultaten  nicht  leicht  an  dem  schüler  verzweifeln. '^^  die  prüfung 
der  individuellen  begabung  wird  indes  in  der  akademie  fortgesetzt 
durch  alle  zwei  bis  drei  monate  stattfindende  lehrerconferenzen.'^® 

Der  unterrichtscursus  zerfällt  in  drei  stufen:  erstens  vom 
siebenten  bis  zum  fünfzehnten  jähre,  zweitens  vom  fünfzehnten  bis 
zum  fünfundzwanzigsten  und  drittens  die  zeit  nach  dem  fünfund- 
zwanzigsten jabre.  wie  lange  diese  letzte  periode  ausgedehnt  werden 
soll,  gibt  Vives  nicht  an.  er  will,  dasz  selbst  greise  aus  den  stürmen 
des  lebens  gerne  zur  akademie  zurückkehren. '"  im  allgemeinen  wird 
man  den  stoff  für  die  einzelnen  stufen  so  bezeichnen  können:  der 
erste  zeitraum  ist  im  wesentlichen  der  sprachlichen  Vorbildung  ge- 
widmet, das  centrum  desselben  ist  der  lateinische  Unterricht,  der 
zweite  liefert  eine  Propädeutik  in  philosophie,  naturwissenschaft  und 
mathematik.    der  dritte  erzieht  für  das  öffentliche  leben  durch  prak- 

•^^  trad.  disc.  2,  1  (VI  275):  hebdomadatim  eligatur  unus  ex  soda- 
libus  .  .  .  is  curet  diebus  singulis  emendas  epulas,  exacta  vero  hebdo- 
made,  subducta  ratione,  conferant  symbola,  addito  quod  praebeatur  mi- 
nistris  pro  opera  .  .  .  doctores  .  .  nihil  a  scholasticis  accipiant. 

*^''  eine  solche  prüfnng  ist  schon  im  eiternhause  angestellt  worden, 
*trad.  disc.  2,  3  (VI  286):  für  jede  schule  gilt;  suscipiatur  ea  lege  puer 
ut  eius  capiatur  experiinentum  ad  aliquot  nienses;  *2,  2  (VI  278):  für 
die  akademie:  maneat  puer  in  paedagogio  unum  aut  alterum  mensem, 
ut  ingeniuin  illius  exj)loretur.  man  beachte,  dasz  es  sich  um  prüfung 
der  beanlagung  nicht  der  kenntnisse  handelt,  ob  das  paedagogium  eine 
eigens  diesem  zwecke  dienende  Vorstufe  oder  von  der  akademie  nicht  ver- 
schieden ist,  wird  nicht  klar.  *trad.  disc.  2,  4  (VI  293) :  deductus  ubi  fuerit 
ad  scholam,  nullus  erit  deploratus  adeo,  ut  e  vestigio  expelli  oporteat,  quo- 
minus  conentur  illum  refingere  in  melius,  si  non  ad  litteras,  saltem  ad  mores. 

i3fi  *trad.  disc.  2,  2  (VI  278):  quater  per  annos  singulos  in  locum 
aliquem  secretum  magistri  conveniant,  ubi  inter  se  de  in'j^eniis  suorum 
sermonicentur  ac  consultent.  2,  4  (VI  292):  ebenso  alternis  mensibus 
aut  tertio  quoque  ...  et  unumquemque  eo  mittant,  ad  quod  aptus  vide- 
"bitur.  es  sind  specialconferenzen  der  einzelnen  akademien,  nicht  etwa 
allgemeine  lehrerconfcrenzen.  der  locus  secretus  ist  wohl  ein  zimmer, 
wo  sie  nicht  belauscht  werden. 

^^^  trad.  disc.  3,  8  (VI  338):  hie  est  cursus  octo  aut  novem  annorum 
a  septimo  ad  quintumdecimum  annum,  vel  etiam  sextumdecimum ;  4,  4 
(VI  373):  hoc  est  adolescentiae  curriculum  ad  quintum  et  vicesimum 
annum  aut  eo  circiter;  •2,  2  (VI  279):  ad  eiusmodi  scholam  non  solum 
deducerentur  pueri,  sed  ipsi  etiam  senes,  tamquam  ad  portum  se  reci- 
perent  fluctuanti  in  magna  ignorantiae  ac  vitiorum  tempestate;  omnes 
denique  attraherent  (magistri)  maiestate  et  auctoritate  quadam.  s.  auch 
caus.  corr.  1,  7  (VI,  56). 


F.  Kuypers :  Vives  in  seiner  pädagogik.  67 

tische  und  historische  bildung;  in  ihm  werden  die  fachstudien  der 
medicin,  der  rechte  und  der  theologie  betrieben,  sowie  die  philo- 
sophischen disciplinen  erweitert  für  diejenigen ,  welche  lehrer  der 
akademie  werden  wollen,  im  übrigen  wird  wohl  das  wort  des 
Sokrates  gelten,  welches  Vives  anführt:  tamdiu  esse  cuique  opus 
duce,  quamdiu  viam  ignoret,  eam  ubi  per  sese  possit  peragere, 
animo  indigere  magis,  quam  magistro.    mor.  erud.  5,  2  (VI  427).  '^^ 

Selbstverständlich  durchläuft  nicht  jeder  den  ganzen  cursus. 
es  soll  vielmehr  derjenige,  dem  anläge,  zeit,  lust  oder  geld  zur  fort- 
setzung  der  Studien  mangelt,  zu  einem  praktischen  berufe  über- 
geben; wann  dieses  in  jedem  einzelnen  falle  geschehen  kann,  steht 
indes  nicht  im  belieben  der  Schüler:  es  ist  die  für  jeden  beruf 
zu  fixierende  schulzeit  inne  zu  halten;  für  schwächere  ist  etwas 
zuzusetzen. '''®  ebenso  werden  nicht  alle  zu  allen  Wissenschaften,  auch 
nicht  zu  den  einzelnen  in  gleichem  grade  zugelassen,  die  indivi- 
duellen Verhältnisse  sind  überall  maszgebend. '^" 

Mit  einhaltung  der  erwähnten  termine  und  möglichster  berück- 
sichtigung  der  von  den  lehrern  erteilten  ratschlage  ist  freie  wähl 
der  fächer  wie  der  docenten  gestattet'^';  aber  sonst  herscht  keine 
akademische  freiheit,  sondern  internatsdisciplin  und  beaufsichtigung 
auszerhalb  der  anstalt'*^,  die,  wie  aus  der  ganzen  darstellung  her- 
vorgeht, für  die  zeit  nach  dem  fünfundzwanzigsten  jähre  bedeutend 
zurücktritt. 

Der  unfug  des  Verkaufes  akademischer  ehrengrade  soll  einer 
neuen  Ordnung  weichen:  die  mitglieder  der  akademie  sind  zunächst 
Studiosi;  'dann  sollen  sie,  wenn  nach  einer  bestimmten  zeit  das 
examen  bestanden  ist,  professores  werden:  diese  sollen  eine  zeit 
lang  vor  zahlreichem  auditorium  vortrage  halten  (profitebuntur),  wel- 
chen auch  diejenigen  bisweilen  beiwohnen,  die  sich  ein  urteil  über 
den  Vortrag  bilden  können,  findet  dieser  beifall,  so  hören  sie  auf 
professores  zu  sein  und  werden  doctores  oder  magistri.  von  diesen 
sollen  die  dazu  am  besten  geeigneten  die  lehrthätigkeit  ausüben,   sie 

'2^  hier  musz  ich  mich  mit  diesen  andeutungen  begnügen,  näheres 
liefert  die  darstellung  der  Unterrichtsfächer. 

'39  trad.  disc.  4,  1  (VI  350):  .  .  qui  hac  in  parte  stuHiorum  volet 
permanere  ...  qui  porro  pergit  ad  sequentia  .  .  .;  4,  5  (VI  373):  qui 
disciplinas  alias,  Minerva  aut  fortuna  aversante,  non  poterunt  consequi, 
hie  sistent.  ähnlich  oft;  *2,  1  (VI  276):  detineantur  omnes  in  quaque 
discipliua  certo  quodam  tempore  et  legitimo,  ne  leviter  quis  degustata 
eruditione  sese  pro  absolute  instituto  venditet;  addatur  aliqnid  tem- 
poris  tardiusculis;  non  enim  unum  esse  omnium  tempus  expedit:  nihil 
esset  aequalitate  illa  inaequalius. 

'*o  siehe  die  einzelnen  Unterrichtsfächer. 

"'  es  beweisen  dieses  schon  trad.  disc.  2,  2  (VI  279) :  ad  eum  transibunt 
discipuli,  quisquis  plurimum  indulserit  suis,  exerc.  1.  lat.  dial.  deductio 
ad  ludum(I287):  Philoponus  non  videtur  delectari  turba,  paucioribus  est 
contentus.    s.  namentlich  aiim.  139,  153.    im  übrigen  ist  es  oft  angedeutet. 

**2  ich  verweise  auf  anm.  73,  105.  nähere  Vorschriften  über  Stunden- 
plan, classen-  und  pensenverteilung  usw.  fehlen,  —  vielleicht  wegen  der 
möglichst  individuellen  gestaltung. 

5* 


68  F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik. 

heiszen  magi  striprofessores'.  'wer  das  magisterium  erreichen 
will,  soll  nicht  blosz  nach  der  gelehrsarakeit,  sondern  auch  nach  der 
sittlichen  tüchtigkeit  beurteilt  werden.'  von  den  magistriprofessores 
gilt:  vos  estis  sal  terrae,  vos  estis  lux  mundi.  es  seien  leute,  die 
auch  dem  volke  genehm  sind,  wer  sich  unwürdig  zeigt,  dem  wird 
der  akademische  grad  genommen,  die  zahl  der  zugelassenen  sei  klein, 
jede  beeinflussung  des  Urteils,  das  von  erfahrenen  männern  und  nicht 
von  Schülern  abgegeben  wird,  ist  ängstlich  zu  vermeiden.'^' 

Die  akademie  hat  fach-,  nicht  classenlehrer.  die  besoldung  der- 
selben ist  eine  staatliche,  der  gehalt  ist  so  hoch,  dasz  ihn  ein 
guter  wünscht,  ein  schlechter  verschmäht. '"  lehrfreiheit  findet  au 
dem  christlichen  glauben  eine  grenze. '^^ 

"^  *trad.  disc.  2,  1  (VI  275  f.):  qui  dlscunt,  nuncupabiintur  studiosi 
vel  discentes:  tum  post  certum  teiupus,  capto  experimento,  fient  pro- 
fessores:  profitebuntur  allquamdiu  apud  auditorium  frequens ,  ciii  et  illi 
nonniinquam  intererunt,  qui  iudicium  de  eo  ferre  possint,  quod  dicatur: 
quod  si  approbentur,  desinent  professores  esse,  iient  doctores,  vel  ma- 
gistri:  ex  his,  qui  commode  poterunt,  docebunt;  quos  appellabimus  ma- 
gistriprofessores. man  beachte  erstens  die  einführung  eines  wissenschaft- 
lichen examens,  zweitens,  dasz  der  durch  dasselbe  erworbene  titel  nur 
eine  wissenschaftliche  anszeichnung  ist,  die  qualification  zum  lehramte 
erst  nach  bestandener  probezeit  erteilt  wird,  drittens,  dasz  selbst  von  den 
theoretisch  berechtigten  nur  die  geschicktesten  diesen  beruf  praktisch 
ausüben,  bei  den  mittelalterlicht  n  universtitäten  war  die  grenze  zwi- 
schen lehrern  und  Schülern  gar  nicht  scharf  gezogen.  —  Qui  ad  magisteria 
evehuntur,  censeantur  non  ex  doctrina  modo,  sed  etiam  moribus  ... 
faciant  eos  professores  aut  magistros,  qui  eruditione,  iudicio,  moribus,  et 
docere  alios ,  et  in  vulgus  approbari  possint  .  .  .  quod  si  quis,  vel  im- 
peritia,  vel  flagitiosa  vita  ac  probrosa,  doctoratui  erit  dederus,  abroga- 
bitur  ei  publice  dignitas  .  .  .  deligantur  professores,  et  approbentur, 
non  turbae  imperitae  ac  inconditae  suffragiis ,  sed  a  paucis  ex  academia 
de  eruditione  ac  vita  spectatis.  wegen  der  gefahr  der  beeinflussung  sind 
sogar  gemeinsame  mahlzeiten  verwerflich;  es  sei  denn,  dasz  auch  die 
kosten  gemeinsam  bestritten  werden,  vgl.  über  akadem.  grade  K.  Schmidt 
(cit.  anm.  219)  s.  367  f. 

^**  der  lehrer  des  lateinischen  soll  auf  die  verschiedensten  Wissen- 
schaften kurz  eindrehen,  wenn  sich  bei  der  lectüre  gelegenheit  bietet; 
aber  von  recht,  philosophie,  mathematik  soll  er  nicht  reden;    trad.  disc. 

3,  6  (VI  326):    relinquet   haec,   atque  eiusmodi,  suis  quaeque  artificibus. 

4,  6  (VI  377):  .  .  magistro  huius  contemplationis.  ähnlich  3,  8  (VI  339) 
und  öfter.  *trad.  disc.  2,  1  (VI  275):  omnis  quaestus  occasio  revellatur 
ab  scholis  ;  accipiant  doctores  salarium  de  publico  quäle  cupiat  vir  bonus, 
fastidiat  malus.  *  exerc.  1.  lat.  dial.  schola  (1334):  Tiro:  quanti  docent? 
Spudaeus:  amove  te  hinc  ocyus  cum  interrogatione  ista  tam  prava  .  .  . 
nee  ipsi  qui  docent,  paciscuntur  .  .  .  nunquam  ne  Aristotelicum  illud  fände 
audivisti:  düs,  parentibus  et  magistris,  parem  gratiam  non  posse  rependi? 
vgl.  dial.  deductio  ad  ludum  (I  287):  Pater:  quanti  doces?  Philoponos: 
si  puer  bene  proficiat  vili,  sin  parum,  caro.  Vives  nennt  trad.  disc.  2,  2 
(VI  278)  die  lehrer  der  akademie  gratuiti  doctores,  was  Wychgram  s.  37 
unrichtig  mit  'billig  denkende'  männer  übersetzt;  denn  es  steht  im 
gegensatze  zu  dem  mercenarius  ApoUonius  und  heiszt  darum  'unbezahlte' 
lehrer.  vgl.  mor.  erud.  1  (VI  423):  et  vult  (deus)  nos  gratuito  distri- 
buere  quae  gratuito  a  se  accepimus.     (ev.  Matth.  10,  8.) 

'^^  das  sagt  schon  der  titel:  de  tradendis  disciplinis  sive  de  institu- 
tione  christiana.    trad.  disc.  4,  2  (VI  351):  unde  (von  der  naturletrach- 


F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik.  69 

§  28.  Der  lehre r  besitze  gelehrsamkeit,  lehrgeschick  und  rein- 
heit  der  sitten.  ungeheuer  grosz  ist  das  fachmaterial,  dessen  durch- 
arbeitung  Vives  von  jedem  fachlehrer  verlangt,  aber  auch  ein  all- 
gemeiner einblick  in  die  übrigen  Wissenschaften  ist  erforderlich  und 
in  den  dienst  der  concentration  des  Unterrichts  zu  stellen. '^^  erst 
mit  dem  tode  hört  das  Studium  auf.  stets  aber  sei  das  grosze,  nicht 
das  kleinliehe  und  alberne,  gegenständ  des  fleiszes. '" 

'Wenn  auch  jedes  Studium  an  sich  endlos  ist,  so  müssen  wir 
doch  an  einer  stelle  beginnen,  dasselbe  zu  nutz  und  frommen  anderer 
anzuwenden.' "-  darum  lasse  der  lehrer  nicht  weniger  als  seine  wissen- 
schaftliche fortbildung  seine  pädagogische  thätigkeit  sich  an- 
gelegen sein.  Wörterbücher,  compendien,  blumeniesen  aus  classikern, 
Sentenzensammlungen  usw.  stelle  er  selbs^t  für  unterrichtszwecke  zu- 
sammen, was  er  aus  den  umfangreichen  quellen  geschöpft  hat,  bringe 
er  gereinigt  von  schädlichem  und  überflüssigem  beiwerke  mund- 
gerecht an  die  schüler.  '^'   gegen  diese  hege  er  väterliche  gesinnung. 


tung)  ad  deum  usque  conscendimus  .  .  .  si  moilo  recta  insistamus  via  .  . 
grande  paratum  est  periculum  errori;  .  .  .  *non  est  natura  ad  gentiliciam 
lucernam  scrutanda  obscurae  lucis  malignaeque,  sed  ad  facem  Iianc  so- 
larem, quam  Christus  mundi  tenebris  invexit;  4,  6  (VI  376)  wird  beim 
Studium  des  Aristoteles  vorsieht  geboten,  weil  er  ein  beide  war;  5,  3 
(VI  -1:03):  in  der  moralphilosophie  ist  den  weltweisen  nur  so  viel  ein- 
zuräumen, als  mit  der  christlichen  lehre  übereinstimmt,  vgl.  die  nach- 
folgenden darstellunjren. 

'^*'  s.  die  einzelnen  Unterrichtsfächer. 

'^''  intr.  sap.  6,  195  (I  16):  studio  sapientiae  nullus  in  vita  terminus 
statuendus  est:  cum  vita  est  finiendum.  semper  illa  tria  sunt  homini, 
quamdiu  vivit,  meditanda:  quomodo  bene  sapiat,  quomodo  bene  dicat, 
quomodo  bene  agat.  *mor.  erud.  2  (VI  425):  in  rebus  magnis  et  prae- 
claris  valere  ac  pollere  sit  eis  (doctis)  satis;  ne  cupiant  in  quibus- 
libet  baberi  raagni  .  .  .  boc  ardelionum  est,  non  sapientium.  *trad. 
disc.  3,  2  (VI  306):  immo  vero,  sicut  in  civitate,  aut  domo,  bene  con- 
stituta  flagitium  admittit  magistratus  vel  pater  familias,  qui  locum  malo 
et  inutili  homini  relinquit,  quem  possit  occupare  bonus:  sie  delictum  est, 
si  in  ingenio  ineptiis  illis  locus  tribuatur,  in  quo  reponi  possent  alia 
profutura. 

14S  *mor.  erud.  5,  1  (VI  424):  infinitum  quidem  ex  se  est  Studium 
quodcunque,  sed  aliqua  tamen  eius  parte  incipere  debemus  illud  ad 
aliorum  commoditates  ac  emolumenta  deducere;  5,  1  (VI  419  f.):  neque 
enim  studendum  est  semper  ut  studeamus  solum,  nee  ut  se  animus  inani 
quadam  contemplatione  .  .  exlex  et  immunis  oblectet.  auch  die  erwer- 
bung  von  geld,  Stellung,  rühm  darf  nicht  zweck  des  Studiums  sein.  *liic 
est  ergo  studiorum  omnium  fructus,  hie  scopus,  ut  quaesitis  artibus  vitae 
profuturis,  eas  in  bonuin  publicum  exerceanius.    caus.  corr.  1,  11  (VI  76). 

'"  mor.  erud.  5,  2  (VI  427):  quare  et  ipse  sua  pro  virili  parte  con- 
feret,  et  alios,  ut  conferant,  benigne  adiuvabit.  *trad.  disc.  4,  2  (VI  356): 
magister,  velut  diligens  apicula  per  omnia  disciplinarum  viridaria  cir- 
cumvolitans,  undique  decerpet  discipulo  suo,  et  colliget  observationis 
huius  exempla;  4,  3  (VI  358):  er  mache  zu  rbetorischen  Übungen  aus- 
zöge aus  den  Schriftstellern;  4,  6  (VI  376):  er  stelle  'über  die  gründe 
der  natur'  ein  werkchen  aus  den  alten  zusammen.  5,  3  (VI  403):  er 
schaffe  ein  kurzes  compendium  der  moralphilosophie  usw.  magistrorum 
fuerit  ea  cura,   ut  ipsi  degustent  omnia,  et  suis  demonstrent  quae  edi- 


70  F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik. 

in  discipulos  afifectu  erit  patrio  . .  .  gi*avis  sine  acerbitate  et  mitis  sine 
dissolutione.    trad.  disc.  2,  1  (VI  275).'^" 

Schon  die  rücksicht  auf  die  schüler  verlangt  vom  lehrer  tadel- 
losigkeit  der  sitten.  quidquid  videri  cupis,  fac  ut  sis,  aliter  frustra 
cupis.  intr.  sap.  6,  150  (I  13).  hat  aber  sein  Charakter  schwächen, 
so  verberge  er  sie  der  jugend. '='  dunkel,  falscher  ehrgeiz  und  hab- 
sucht  sind  vor  allem  zu  fliehen;  denn  demut  ist  die  grundlage  aller 
Weisheit;  darum  ist  nie  zu  vergessen,  dasz  das,  was  man  vveisz,  ver- 
schwindend wenig  ist  gegen  das,  was  man  nicht  weisz,  und  dasz  die 
lehren  gerade  über  die  wichtigsten  dinge  nicht  beweisbare  Wahr- 
heiten, sondern  hypothesen  sind;  statt  der  disputatio,  die  einen 
Sieger  und  besiegten  kennt,  ist  eine  friedliche  collatio  studiorum 
einzuführen;  wem  in  derselben  ein  Irrtum  nachgewiesen  wird,  der 
sehe  das  nicht  als  niederlage,  sondern  als  gewinn  an:  multi  enim 
potuissent  ad  sapientiam  pervenire,  ni  iam  putassent  se  pervenisse. 
intr.  sap.  1,  197  (I  16). ''^  —  Ehrgeiz  und  habsucht  veranlassen 
eifrigeres  haschen  nach  zuhörern  als  streben  nach  der  Wahrheit, 
darum  darf  kein  lehrer  nach  der  zahl  seiner  schüler  beurteilt  wer- 
den, darum  darf  keiner  einen  heller  von  seinen  hörern  annehmen.'" 


scenda,  quae  legenda  quae  habenda  iu  bibliotheca  ad  consilium  quum  res 
ferat,  interdum  qiioque  ad  ornamentum  modo  loci  atque  explendos  forulos. 

^^°  trad.  diso.  2,  4  (VI  295):  mapfistii  erga  discipulum  affectus  erit 
patris  .  .  an  vero  plus  in  honiine  gignit,  qui  corpus  quam  qui  animum 
giffnit?  .  .  sed  erit  paternus  hie  amor  non  caecus  verum  videns.  2,  2 
(VI  279):  plnsque  apud  auditores  proficerent  firle  ac  veneratione  sui 
quam  plagis  ac  minis;  3,  2  (VI  305):  praestabit  se  .  .  discipuüs  ut  pa- 
trem,  non  .  .  ut  sodalem.  diese  forderungen  waren  damals,  wo  lehrer 
und  schüler  sehr  oft  fast  gleichalterig  waren,  durchaus  nicht  selbst- 
verständlich. 

''^'  trad.  disc.  2,  1  (VI  274):  si  quid  vitii  habent,  vel  laborent 
Camino  seponere  ac  tollere,  vel  quod  secundum  est  licet  grandi  inter- 
vallo,  praesente  auditore  diligenter  ac  strenue  abstineant,  nam  huuc 
oportet  se  ad  magistri  exemplum  comjjoncre. 

'52  *exerc.  1.  lat.  dial.  educatio  (1403):  nemini  occurras  tarn  abiecto 
contemptoque,  quem  non  tibi  anteponat  conscientia  tuae  mentis  .  .  hoc 
si  feceris,  veram  ipsam  solidamque  ingenuara  educatioiiem  atque  urbani- 
tatem  assequere;  dial.  praecepta  educatiouis  (I  405)  erzählt  der  um- 
gewandelte Grympherantes  von  seinem  trefflichen  lehrer:  prinuim  omnium 
docuit  me,  debere  unumquemque  non  magnifice  de  se  sentire,  sed  mo- 
derate seu  verius  demisse:  hoc  esse  optimae  educationis  ac  verae  co- 
mitatis  solidum  fundamentum  ac  proprium,  trad.  disc.  1,  1  (VI  243): 
quae  possidet  (liomo)  paiica  sunt  et  obscura  .  .  amplissimae  videntur 
nobis  opes  e«se,  maioruin  ignoratione,  aut  utique  inc-ogitantia.  vgl.  na- 
mentlich anm.  39.  über  den  schädlichen  einflusz  des  hochmutes  auf  die 
Wissenschaften  s.  caus.  corr.  1,  1  (VI  18  f. J.  die  Selbstgefälligkeit  der 
scholastischen  professoren  verspottet  sein  dialog  sapiens,  über  dispu- 
tationen  s.  die  einzelnen  Unterrichtsfächer.  *mor.  erud.  5,  2  (VI  427  f.): 
in  studiorum  collationibus  qui  alteri  melius  dicenti  concedit,  ne  victus 
nominetur  .  .  .  neque  enim  pngna  est  haec,  vel  qui  disserunt  adver- 
sarii  .  .  .  sapienter  Plato:  tanto  praestat  disputatione  vinci  quam  vin- 
cere,  quanto  est  melius  ma^rno  malo  liberari,  quam  liberare. 

'*ä  mor.  erud.  5,  2  (VI  426):  quis  polest  de  discipulorum  numero 
conqueri,    quum   auctor  humani   generis   duodecim  hominum  schola   ac- 


F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pudagogik.  71 

Der  lehrer  pflege  die  collegialität;  namentlich  vermeide  er  ge- 
hässigen und  heftigen  kathederstreit  gegen  seine  amtsgenossen.  '•^* 
ohne  die  darin  liegende  gefahr  zu  übersehen,  suche  er  auch  ver- 
kehr mit  der  weit,  er  befleiszige  sich  dabei  der  rechten  Umgangs- 
formen, besonders  da  die  ausübung  seines  berufes  leicht  gesell- 
schaftliche Untugenden  zur  folge  hat.  '^^ 

In  allem  ist  Christus  des  lehrers  erhabenes  vorbild.  '^* 
§  29.    Nirgends  ist  eine  andeutung,  dasz  jemand  principiell  da- 
von ausgeschlossen  wäre,  schul  er  der  akademie  zu  werden,  es  sei 
denn ,  dasz  ihm  die  anläge  dazu  fehlt. '"    allein  des  kostenpunktes 
wegen  wird  manchem  der  besuch  derselben  schwer,  darum  soll  schon 

quieverit?  .  .  frequenti  auclitorio  arabitio  mag-is  servit,  quam  severitai? 
institutiunis.  trad.  clisc.  2,  4  (VI  292):  non  oportet  oculum  ad  frequen- 
tiam  scholarum  adiicere;  quanto  praestat  param  habere  salis  sapidi, 
quam  niultum  insulsi!  quot  philosophi  content!  fuerunt  exiguo  audi- 
torio  .  .  sed  nimirum  tolle  superbiam  et  quaestum,  quantumcunque  audi- 
torium  sufficiet  doctori:  non  nego  quin  ad  dicendum  frequentia  incitetur 
animus,  sed  aliud  est  dieere  quam  docere.  exerc.  1.  lat.  dial,  deductio 
ad  ludum  erhält  Philopoiios  vor  Varro  den  vorzu^,  weil  er  nicht  auf 
zahl,  sondern  auf  beschaffenheit  seiner  schiiler  sieht. 

'■''*  trad.  disc.  2,  1  (VI  "276):  ergo  professores  et  magistri  ipsi  inter 
se,  quaestu  neglecto ,  ostentatione  semota  ..  coiicorditer  vitam  degent, 
scientes  se  dei  negotium  gerere,  ut  mutuo  opitulentur;  neque  enim  qui 
fratrem  pro  veritate  laborantem  iuvat,  hominem  iuvat  sed  veritatem. 
die  concurrentes  verurteilt  Vives. 

155  rnor.  erud.  5,  2  (VI  424):  exeat  ergo  rationibus  munitus,  quibus 
i-esistere  oppugnantis  assultui  valeat  .  .  .  raultique  eins  aemulatione 
studiis  sese  disciplinarum  dedent,  quarum  fructum  tarn  pulchrum,  atque 
admirabilem  cernuut.  ebenda  eine  grosze  reihe  beherzigenswerter  regeln 
über  den  geselligen  verkehr  der  gelehrten  mit  dem  volke.  die  mittel- 
alterlichen Professoren  waren  von  demselben  schon  dadurch  aus- 
geschlossen, dasz  sie  kleriker  waren.  *trad.  disc.  3,  2  (VI  304  f.):  ludi 
litterarii  magister  ab  iis  vitiis  erit  alienus,  quae  adferre  secum  solet 
artis  grammaticae  longum  exercitium:  alberiiheit,  zorn,  rechthaberei, 
hoffart.  intersit  colloquiis  et  congressibus  hominum  moderate  ac  com- 
mode,  et  quantum  poterit  a  paedore  illo  sese  vindicabit,  non  discessu 
corporis,  sed  morum  cultura  diligenti.  über  Unverträglichkeit  der  gram- 
matiker  s.  auch  Vigilia  in  somnium  Scipionis  praef.   (V  104  f.). 

158  mor.  erud.  5,  2  (VI  426):  quem  potius  magistrum  imitabimur 
quam  illum  ipsum  Christum,  quem  Pater  ad  erudiendum  humanum  genus 
coelitus  demisit?  s.  auch  ver.  fid.  2,  9  (VIII  182  f.).  ich  habe  bei  der 
darstellung  der  eigenschaften  des  lehrers  nur  diejenigen  hervorgehoben, 
welche  ihn  besonders  als  pädagogen  i,ieren  sollen,  das  Idealbild,  welches 
Vives  mor.  erud.  entwirft,  umfaszt  ausführlich  noch  andere  allgemein 
menschliche  forderungen,  winke  für  den  umgang  mit  gelehrten,  mit  dem 
Volke,  für  die  litterarische  thätigkeit  usw.  die  obige  einteilung  würde 
etwa  der  kurzen  Charakteristik  des  musterlelirers  Philoponos  entsprechen 
exerc.  1.  lat.  dial.  deductio  ad  ludum  (I  287):  doctissimus  quidem  Varro: 
sed  diligentissimus  et  vir  probissimus  Philoponos,  nee  eruditionis 
aspernandae. 

157  Vives,  überhaupt  eine  demokratische  natur,  haszt  einseitige  adels- 
erziehung.  dies  zeigt  sich  an  vielen  stellen,  besonders  in  manchen 
dialogen  der  einem  adeligen,  dem  späteren  Philipp  II,  gewidmeten  exerc. 
1.  lat.  s.  vor  allem  dial.  educatio  (I  396—404).  trad.  disc.  2,  4  (VI  294  f.): 
ingenia  vel  acie  nimis  delicata  ac  tenui,  sed  non  solida,   vel  captus  an- 


72  F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik. 

bei  der  wähl  des  ortes  auf  billigkeit  der  lebensmittel  gesehen  werden, 
den  armen,  die  oft  mehr  zum  Studium  neigen  als  die  reichen,  solider 
Staat  gelegenheit  zu  ihrer  ausbildung  geben,  welcher  überhaupt  die 
erziehung  seiner  unterthanen  zu  überwachen  hat.  lächerlich  ist  es^ 
solche  knaben  für  das  Studium  zu  bestimmen,  die  zu  allem  anderen 
zu  dumm  waren.  '^'   der  schüler  erste  pflicht  i?t  hochachtung  vor  der 

gusti  meliora  sunt  non  fatigata  et  obruta  litteris,  sicut  non  est  adhi- 
bendum  scalpellum  scindendo  ligno,  nee  debilis  oculus  intento  aspectu 
fatigandus. 

'^^  trad.  disc.  2,  1  (VI  2721'.):  spectatur  dehinc,  ut  suppetat  alimen- 
torum  et  copia  et  utilitas,  ne  felicia  ingenia  in  tenuitate  fortunarum 
cogantur  renuntiare  litteris  .  .  .  praesertim  cum  disciplinas  saepius  iu- 
venes  sectentiir  in  re  modica,  quam  opulenti.  exerc.  1.  lat.  dial.  scriptio 
(I  317):  quanto  magis  sapitis  vos,  quam  multitudo  ista  nobilitatis,  qui 
eo  se  habitum  iri  generosioies  sperant,  quo  imperitius  pingant  litteras. 
*trad.  disc.  3,  4  {XI  412):  non  solum  in  rei  publicae  constitutione,  sed 
legum  iussu,  cui  propter  potentiam  plurimum  hqmines  tribuunt,  curandum 
est,  ut  casta  atque  incorrupta  sit  puerilis  educatio.  s.  auch  anm.  71.  ich 
flechte  hier  Vives'  bedeutsame  Forderung  der  staatlichen  erziehung 
armer  kinder  ein,  obgleich  er  dabei  an  die  akademie  nicht  denkt.  *de 
subventione  pauperum  2,  4  u.  5  (4,  476  f.):  pueri  expositi  habeant  hospi- 
tale  ubi  nntiiantur;  quibns  sunt  certae  matres.  eos  ipsae  usque  ad  sextum 
annnm  enutriant,  postea  transferantur  ad  publicam  scholam,  in  qua  litte- 
ras et  mores  discant,  inibi  alantur.  huic  scholae  praesint  viri,  quantuni 
fieri  potuit,  urbane  ac  ingenue  educati,  (jui  mores  suos  in  rudern  scholam 
transfundant ,  nam  pauperum  filiis  a  nulla  re  est  uiaius  periculum  quam 
a  vili  et  sordida  et  incivili  educatione;  in  eiusmodi  magistris  accer- 
sendis  magistratus  ne  sumtibus  parcant;  magnam  rem  praestabunt  civi- 
tati  cui  praesunt  exigua  expensa.  sobrie  discant  vivere,  sed  munde  ac 
pure,  et  esse  contenti  parvo;  ab  omnibus  arceantur  voluptatibus  .  .  . 
nee  solum  discant  legere  et  scribere,  sed  in  primis  pietatem  christianam, 
et  rectas  opiniones  de  rehtis  .  .  .  postea  ex  pueris  aptissiiui  quique  ad 
litteras  retineantur  in  schola,  futuri  aliorum  magistri,  et  seminarium 
deinceps  sacerdotum;  reliqui  transeant  ad  opificia,  ut  cuiusque  fuerit 
animi  pronitas  .  . .  creentur  ex  senatu  per  singulos  annos  censores  biui  .  . . 
qui  in  vitam  et  mores  pauperum  inquirant,  puerorum ,  iuvenum,  senum; 
pueri  quid  agant ,  quid  proticiant,  quibus  sint  nioribus,  qua  indole,  qua 
spe,  et  si  qui  jieccent,  quorum  culpa;  omnia  corrigantur  .  .  .  vellem 
etiam,  ut  iidem  censores  de  iuventute  et  filiis  divitum  cognoscerent;  esset 
hoc  civitati  utilissimum,  si  cogerent  eos  rationem  magistratibus  taniquam 
patribus  reddere ,  quemadmodum,  quibus  artibus  atque  occupationibus, 
tempus  dispensent.  irrsinnige  sind  in  anstalten  unterzubringen,  aus- 
führliche Vorschriften  zu  heilung^sversuchen  werden  a.  o.  s.  474  f.  an- 
gegeben, auch  für  die  armen  mädchen  will  Vives  schulen,  wahrend  er 
sonst,  so  viel  ich  sehe,  nur  von  der  häuslichen  erziehung  des  weiblichen 
geschlechtes  spricht,  vgl.  aus  der  darstelhing  seiner  akademie  trad.  disc. 
3,  6  (VI  3:^1):  .  .  durus  Varro  (als  lectüre)  et  opificibus  accommodatus. 
3,  9  (VI  341):  Politianus  elaboratus ,  verba  eins  bona  et  usui  communi 
apta,  officiosis  dumtaxat,  es  ist  klar,  dasz  Vives  eine  bildung  der 
massen  wollte,  aber  an  schulzwang,  den  Luthir  forderte,  hat  er  wohl 
noch  nicht  gedacht.  Volksschulen  bestanden  schon  länger,  vgl.  Heppe, 
geschifhte  des  deutschen  volksschulwesens ,  Marburg  1858.  Jausen,  ge- 
schickte des  deutschen  volkes,  I  lul.,  7e  auf!.,  s.  'i-'  f.,  Braunschweigische 
Schulordnung  von  1478  (monumenla  Germaniae  paedagogica  I  bd.).  F.  Ä. 
Specht,  geschichte  des  Unterrichtswesens  in  Deutschland,  Münchener 
preisschrift,   Stuttgart  1885.     daselbst   s.  28  sind  die  anfange  des  schul- 


F.  Kuypers:  Vives  iu  seiner  pädagogik.  73 

akademie  und  ihren  lehrern.  die  unbedingte  auctorität  derselben  ist 
die  grundlage  jeder  wirksamen  di^ciplin  und  jedes  ersprieszlicben 
Unterrichts. ' "  ihre  mitschüler  sollen  sie  lieben  wie  brüder.  '*"  die 
älteren  sollen  in  kindlicher  form  den  Vortrag  des  lehrers  den  jüngeren 
wiederholen,  ebenso,  bevor  dem  lehrer  das  pensum  vorgetragen 
wird,  dieselben  überhören,  damit  die  scheu  schwindet.'®'  die  Wahr- 
heit stehe  allen  höher  als  der  eigne  wissensruhm,  weshalb  schüler- 
disputationen  selten  abzuhalten  sind. '^^ 

Jeder  unterrichtszweig  verlangt  von  lehrer  und  schüler  be- 
sondere geistige  und  sittliche  anlagen.'"^ 

§  30.  Die  akademie  dient  nicht  blosz  den  Zöglingen  derselben, 
sondern  sie  ist  zugleich  ein  erbauliches  muster  für  das  volk.'®^ 


Zwanges  schon  für  die  Karolingische  zeit  nachgewiesen.  *trad.  disc.  2,  4 
(VI  293) :  quidam,  quo  nihil  est  magis  ridiculum,  ineptos  mercaturae,  aut 
militiae,  aut  aliis  civilibus  muniis,  ad  stholas  mittunt  ...  et  putant  ad 
res  tantas  satis  habiturum  iudicii  ac  mentis,  qui  ad  minimas  et  levissi- 
mas  non  habet. 

i*y  *trad.  disc.  2,  4  (VI  295  f.):  in  scholas  tamquam  in  templa  ve- 
narabuiidi  iutroeant  .  .  .  contemptores  magistrorum  procacissimi  sunt, 
aptiores  aratro  quam  libris,  quem  tandem  reverebimur,  qui  magistrum 
non  veretur,  animi  velut  alterum  parentem!  2,  2  (VI  279):  plusque  apud 
auditores  proticerent  fide  ac  veneratione  sui  quam  plagis  ac  minis.  2,  4 
(VI  296):  credibile  non  est  quantopeie  affectus  hi  .  .  .  ad  recte  tum  tra- 
dendam  tum  percipiendam  eruditionem  valeant.  ähnlich  sehr  oft.  exerc. 
1.  lat.  dial.  praecepta  eruditionis  wird  vom  schüler  verlangt:  demut, 
fleisz,  gottesfurcht,  achtung  vor  eitern,  lehrern,  geistlichen  und  welt- 
lichen vorgesetzten,  anstelligkeit,  höflichkeit,  mäszigkeit,  Offenheit,  vor- 
sieht in  der  wähl  des  Umganges. 

i*»"  stud.  puer.  2  (I  271):  condiscipulos  fratrura  loco  habe;  geniti 
enim  estis  ab  eodem  magistro  velut  patre,  et  coniuncti  sacris  litterarum 
non  minore  vinculo,  quam  sanguinis, 

'6'  *trad.  disc.  3,  3  (VI  311):  doctiores  condiscipuli  eadem  quae  a 
praeceptore  sint  audita  indoctioribus  repetent,  ac  familiarius  explana- 
bunt  .  .  i'acilius  videlicet  attoUunt  se  pueri  ad  iutelligentiam  aequalium 
quam  magistri,  quippe  parva  et  tenera  citius  apprehendunt  (quo  inni- 
tantur)  proxima,  quam  excelsa  .  .  quae  pueri  de  praeceptore  audiverint, 
reddent  primum  vel  condiscipulorum  alicui  provectiori,  vel  hypodidascalo, 
postmodum  praeceptori  ipsi,  ne  magistri  verecundia  rüdes  ac  infirmos 
confundant.  ähnlich  4,  4  (VI  362).  vgl.  Trotzendorfs  helfersystem,  die 
decurionen  des  Comenius  u.  ä. 

'^2  *trad.  disc.  2,  1  (VI  275):  rarae  sint  disputationes  publicae,  in 
quibus  non  eruitur  veritas,  nam  nemo  verius  dicenti  assentitur,  quae- 
ritur  modo  laus  ingenii  vel  peritiae  .  .  ut  velit  veritatem  a  se  superari 
.  .  non  se  veritati  subraittere  .  .  ex  illis  disputationibus  cavillosiores  ac 
pervicaciores  disceduiit  multi,  doctior  utique  aut  melior  nemo,  ähnlich 
sehr  oft;  vgl.  die  folgende  darstellung.  solche  disputationen  der  magister, 
baccalaureen  und  Scholaren  bildeten  einen  integrierenden  bestandteil  der 
mittelalterlichen  Universitäten;  man  vergesse  bei  ihren  mangeln  nicht 
ihre  förderung  der  formalen  bildung  und  der  präsenz  des  wissens. 
s.  Paulsen  s.  20  f.,  2e  a.  I  36,  38  f. 

'*^  s.  die  einzelnen  Unterrichtsfächer. 

'S"*  *trad.  disc.  2,  2  (VI  278  f.):  haec  si  fiant,  non  aliter  venera- 
buntur  indocti  doctos,  quam  Divos  a  coelo  delapsos,  et  eorum  academias, 
ut   sancta   loca,   et   sacri  horroris  plena,  quae  numine  inhabitentur,   ut 


74  F.  Kuypers :  Vives  in  seiner  pädagogik. 

Die  unterrichtsfäclier. 

Erster  Zeitraum. 

Religionslehre. 

§  31.  Die  religionslehre  ist  das  wichtigste  Unterrichtsfach, 
denn  das  ziel  des  menschen  ist:  mit  gott  vereinigt  zu  werden  durch 
liebe;  was  aber  im  einzelnen  gegenständ  dieser  liebe  sein  soll,  das 
hat  der  religionsunterricht  zu  lehren,  indem  er  dem  kinde  die  ein- 
fachsten grunddogmen  des  Christentums  vermittelt.'®*  zu  diesen 
wenigen  dogmatischen  tritt  eine  reihe  moralischer  lehren,  zu 
deren  einprägung  sprüche  aus  der  introductio  ad  sapientiam,  aus  den 
Philosophen  und  den  heiligen  vätern  dienen  können.'®^  hochachtung 
vor  der  heiligen  schrift  als  vor  gottes  wort  ist  den  knaben  ein- 
zuprägen. '"   als  gegengewicht  gegen  die  schädlichen  einflüsse  der 


qnondam  Heliconas  et  Parnasses:  quam  iiidiofiium  reputanti  videatur, 
nos  propter  nostros  mores  ac  nostras  ineptias  rideri  ab  imperitis,  ac 
coiitemiii.     vgl.  auch  anm.   143  und  die  austühruno^en  in  mor.  erud. 

ißä  trad.  diso.  1,  4  (VI  255):  liomo  vero,  ut  unaquaeque  res,  ex  fine 
est  censendus,  vanus  est  enim  ac  miserrimus,  si  non  assequatur  finem; 
perfectissmus  vero,  ac  proinde  felicissimus,  si  consequatnr.  über  dieses 
ziel  und  seine  erreichuno:  durch  die  liel)e  s.  anm.  48;  1,  4  (VI  256): 
quae  autem  amanda  sint  fides  monstrabit,  traditis  unicuique  primis  et 
simplicissimis  elementis  pietatis  de  deo,  patre  omnium,  et  filio  eins  Jesu 
Christo,  qiii  ad  redemptionem  nostrae  carnis  peccati,  carnem  eandera 
nostram  induit,  sed  sine  peccato:  deinde  haec  eadem  explicatius  quo- 
modo  sint  et  cognoscenda,  et  amanda,  non  uUa  hominum  inventa,  sed 
divina  declarant  oracula,  quae  satis  sunt  litteris  per  spiritum  sanctum 
prodita;  in  quibus  litteris,  absoluta  est  intelligentia  divini  cultus,  quae 
pietas  et  eadem  religio  nuncupatur,  licet  eius  vis  magis  actione  conti- 
netur  quam  peritia:  1,  2  (VI  248).  quocirca  reliquae  artes  et  disciplinae 
omnes,  religione  excepta,  pueriles  sunt  lusus.  *1,  4  (VI  257):  hanc 
(religionem)  oportet  esse  reliquarum  institutionum  canonem,  sicut  deum 
spirituum,  et  hominem  animantium,  ut  tales  quaeque  censeantur  disci- 
plinae, quatenus  huic  materia,  fine  suo,  vel  nostro,  praeceptoribus,  dis- 
cendi  ratione,  et  exitu,  congruunt  aut  non  congruunt.  stud.  puer.  2 
(I  270):  quuni  sapientia,  et  virtus,  et  scientia  omnis  divinitus  contin- 
gant,  aequum  est  ut  primus  aditus  ad  haec  omnia  sit  per  deum. 

"^'"'  tral.  disc.  2,  4  (VI  293):  Omnibus  initio  stattm  fundamenta  sunt 
tradenda  pietatis  nostrae,  ut  noscat  se,  quam  est  infirmus,  et  pronitate 
naturae  malus,  ut  niiiil  nee  sit,  nee  potest,  nee  valet,  nisi  ope  dei,  illum 
iniplorandum  crebro  et  bona  fide,  nee  speret  se  quidquam  omnino  asse- 
cuturum  absque  eius  auxilio,  quanta  sit  caecitas  et  fraus  in  animis 
vulgi  iudicantis  de  bonis  ac  rerum  aestimatione,  integrae  opiniones  in 
vacuum  pectus  instillandae,  nos  inimicos  dei  reconciliatos  illi  esse  per 
orucem  filii  eius,  deum  ut  potentem  metuat,  ut  conscium  vereatur,  ut 
datorem  ac  beneficum  amet  .  .  .  nos  ad  haec  exponenda  libeilum  con- 
scripsimus  .  .  et  praeceptori  facile  erit  eiusmodi  flosculos  ex  philosophis 
et  sacris  auctoribus  ...  in  usum  discipuli  decerpere.  dann  führt  Vives 
die  moralischen  Vorschriften  noch  weiter  aus.     vgl.  anm.  75. 

1"  trad.  disc.  2,  4  (VI  297):  auctoritas  sanctanim  litterarum  magna 
cum  maiestate  in  auditorum  pectora  imprimatur,  ut  quum  ex  eis  aliquid 
andient,  deum  ipsum  praepotentem  audire  sese  arbitrentur. 


F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik.  75 

classikerlectüre    findet    einmal    oder  zweimal   wöchentlich   ein   be- 
sonderer moral Unterricht  statt. ""* 

Lesen  und  schreiben. 
§  32.  Die  Wichtigkeit  der  lese-  und  schreibekunst  verkennt 
Vives  nicht. '"^  seine  darstellung  des  Unterrichts  in  derselben  ist 
indes  weder  ausführlich  noch  originell,  die  anfange  werden  zu- 
sammen mit  den  dementen  des  schulgemäszen  lateinischen  sprech- 
und  Sprachunterrichts  im  wesentlichen  nach  der  alten  synthetischen 
buchstabiermethode  in  langweilender  form  betrieben. ''°  betont  wird 
rechte  haltung  des  körpers  beim  lesen  wie  schreiben ,  gehaltvoller 
übungsstoflF,  correctur  seitens  des  lehrers.  '^'  Übung  der  Orthographie 
ist  mit  dem  leseunterrichte  zu  verbinden.'"  im  übrigen  ist  beim 
schreibunterricht  weniger  auf  Schönschrift  als  auf  Schnellschrift  zu 
sehen,  damit  der  schüler  befähigt  werde,  dem  unterrichte  des  lehrers 
mit  der  feder  zu  folgen.'"    es  soll  viel  geschrieben  werden."^ 


'^i^  s.  anm.  68.  dieser  Unterricht  hat  einen  lediglich  praktischen, 
zweck;  eine  theoretische  behandhiug  der  moralpliilosopliie  folgt  erst  nach 
dem  25.  jähre,     s.  §  63. 

'69  s.  exerc.  1.  lat.  dial.  lectio  (I  291  f.);  scriptio  (I  315  f.). 

170  yg]  g  35_  .^  Q  (j  291  f.):  cape  tabellam  abecedariam  manu  si- 
nistra,  et  radium  hunc  quo  indices  singula  elementa  .  .  audi  attentissime, 
quemadmodum  ego  lias  litteras  nominabo,  specta  diligenter  quo  gestu 
oris  .  .  unaquaeque  istarum  vocatur  littera,  ex  bis  quinque  sunt  vocales. 
haec  etc.  syllabam  efficit  .  .  .  aliae  omnes  consonantes  nominantur,  quia 
per  se  nihil  .sonant  nisi  adhibita  vocali  .  .  .  B,  C,  D,  G,  quae  sine  E, 
parum  sonant.  iam  ex  syllabis  fient  voces  seu  verba  ..  edisce  quae  prae- 
scripsi.  dial.  scriptio  (I  320):  Manricus:  cedo  iam  nobis,  si  videtur, 
exeraplar  (scribendi).  magister:  iDrinium  abecedariura,  deinde  syllabatim, 
tum  verba  coniuncta.     ähnlich  stud.  puer.   1   (I  257). 

1''  exerc.  1.  lat.  dial.  lectio  (I  291):  sta  rectus;  dial.  scriptio  (I  322) : 
quautum  poteritis  recto  capite  scribite;  nam  iuflexo  atque  incumbenti, 
defluunt  humores  ad  frontem  et  oculos:  uucie  morbi  nascuntur  multi,  et 
videndi  imbecillitas.  —  (I  320  f.) :  haec  effingite,  et  relite  huc  a  prandio, 
vel  cras,  ut  scriptnram  vestram  emendem  .  .  .  effinximus  quinquies,  aut 
sexies  tuum  exemplar  in  eadem  charta,  referimus  hoc  opus  nostrum  ad 
te  emendandum.  correctur:  hae  litterae  sunt  admodum  inaequales  .  . 
animadverte  quanto  m  maius  est  quam  e  ;  et  o  quam  orbis  huius  p  .  .  . 
quod  litteras  has  transformare  tentaris  in  alias,  erasis  particulis  cuspide 
scalpelli,  magis  deturpasti  scripturam,  usw.  ziemlich  eingehend.  —  *fem. 
Christ.  1,  4  (IV  84):  quur^  docebitur  legere,  ii  libri  sumantur  in  manus, 
qui  mores  componant,  quum  scribere,  ne  sint  otiosi  versus  qui  ad  imi- 
tationem  proponuntur  .  .  sed  grave  aliquod  dictum  .  .  .  quam  saepius 
scriptam  tenacius  memoriae  affigat.  vgl.  die  exerc.  1.  lat.  s.  320  u.  322 
angefülirten  vorlagen. 

^'2  *trad.  disc.  3,  3  (VI  310):  rectae  scriptionis  iaciuntur  fundamenta, 
quum  docentur  legere;  discet  recte  scribere,  et  celeriter. 

"^  stud.  puer.  1  (I  258):  inter  haec  omnia  (während  des  übrigen 
Unterrichtes)  det  aliquid  temporis  formandis  litteris,  non  tam  eleganter 
quam  velociter  ut  si  qui  praeceptor  dictet,  ipsa  suis  scribat  digitis. 
vgl.  anm.  318. 

"^  trad.  disc.  3,  3  (VI  310):  persuadeant  sibi,  quod  revera  est,  nihil 
ad   amplissimam  eruditionem  perinde   conferre,   ut   et  multa   et  multum 


76  F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik. 


Der  Sprachunterricht. 
Allgeraeines. 

§  33.  An  zweiter  stelle,  steht  der  Sprachunterricht;  denn  ohne 
spräche  wäre  die  gemeinschaft  der  menschen  fast  unmöglich,  die 
spräche  ist  eine  natürliche  gäbe  gottes,  diese  oder  jene  spräche  ein 
kunsterzeugnis. '" 

Es  wäre  zu  wünschen,  da?z  eine  einheitliche  Weltsprache  be- 
stünde, sie  würde  der  Verbreitung  des  Christentums  und  der  Wissen- 
schaften sowie  der  allgemeineren  Verständigung  dienen,  zu  diesem 
zwecke  würde  sich  am  besten  die  lateinische  spräche  eignen,  weil 
schon  viele  nationen  sie  kennen,  fast  alle  Wissenschaften  in  ihr 
niedergelegt,  Wohlklang,  kraft  und  würde  in  hervorragendem  masze 
in  ihr  vereinigt  sind,  und  endlich  Italiener,  Spanier,  Franzosen 
nach  diesem  muster  ihre  Volkssprache  reiner  und  reicher  gestalten 
könnten. ''*  jedenfalls  musz  latein  allgemeine  gelehrten- 
sprache  bleiben.'"  diese  Universalität  würde  die  entstehung  von 
dialekten  und  somit  eine  neue  Sprachverwirrung  leicht  zur  folge 
haben,  weshalb  überall  mit  Sorgfalt  auf  reinheit  der  spräche  zu  sehen 
ist''®:  barbarissans  Hispanus  barbarus  est  barbarissanti  Germano, 


scribere ,  multum  atramenti,  et  chartae  perdere.  über  beschaflfenheit 
der  Schreibmaterialien,  federschneiden  usw.  linden  sich  ausführliche  Vor- 
schriften in  exerc.  1.  lat.  tlial.  scriptio.  interessante  mitteilungen  über 
den  lese-  imd  schreibiinterricht  in  den  mittelalterlichen  schulen  gibt 
F.  A.  Specht  [s.  anm.  158]  s.  67  fif.  s.  daselbst  auch  die  anfange  der 
geschwindschreibekunst  zu  unterrichtszwecken  durch  anwendung  tiro- 
nischer  noten. 

1''^  trad.  disc.  1,  5  (VI  263):  ad  exercitiiim  societatis  sermo  est  homi- 
nibus  tributus;  quando  enim  tecti  sunt  nostri  animi  tam  denso  corpore, 
quaenam  esset  societas?  tt". ;  *3,  1  (VI  298):  quemadmodum  meutern  munere 
habemus  dei,  sie  etiam  loqui  naturale  est  nobis,  hanc  vero  linguam  aut 
illam,  artis. 

1^6  *trad.  disc.  3,  1  (VI  299  f.):  e  re  esset  generis  humani  unam 
esse  linguam,  qua  omnes  nationes  communiter  uterentur;  si  perfici 
hoc  non  posset,  saltem  qua  gentes  ac  nationes  pliirimae,  certe  qua 
nos  Christiani  .  .  utinam  Agareni  et  nos  communem  aliquam  haberemus 
linguam;  sperarem  futurum  brevi  ut  multi  sese  illorum  ad  nos  recipe- 
rent.     vgl.  anm.   124. 

'^^  ja  auszerdem  wäre  noch  eine  besondere  geheimsprache  der  ge- 
lehrten zu  wünschen,  trad.  disc.  3,  1  (VI  299  f.):  expedit  praeterea  lin- 
guam esse  aliquam  doctorum  sacram,  qua  res  rircanae  consignentur,  quas 
a  quibusvis  non  conveuit  contrectari  ac  pollui;  et  haud  scio  an  con- 
duceret  secretiorem  esse  hanc  ab  illa  communi. 

^'*  caus.  corr.  2,  3  (VI  93):  aliam  (linguam  latinam)  ex  suo  verna- 
culo  invexit  Hispanus,  aliam  Italus,  aiiani  Gallus,  aliam  Germanus,  aliam 
Britannus,  nee  hi  mutuo  intelligebant.  ähnlich  in  heftiger  weise  pseudo- 
dial.  (III  60  f.).  genügt  der  sprachumfang  des  lateinischen  für  den  mo- 
dernen gebrauch  nicht,  80  sind  nicht  nach  der  Volkssprache,  sondern  im 
anschiusse  an  das  griechische  neubildungen  vorzunehmen,  stud.  puer. 
a  (I  280):  quum  vocabulum  latinum  ad  rem  notandatn  non  est  ad  mannm 
ex   graeco  licet  rautuari  agro  copiosissimo.     nach  dieser  regel  hat  Vives 


F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik.  77 

et  hie  vicissim  illi.  trad.  diso.  3, 1  (VI  302).  das  lateinische  ist  auch 
die  Unterrichtssprache  in  der  akademie.  anfangs  darf  die  mutter- 
sprache  zu  hilfe  genommen  und  Umschreibung  angewandt  werden, 
archaistisches  und  phrasenhaftes  ist  zu  vermeiden:  assuescant  abs- 
truses animi  cogitatus  scite  expromere.  trad.  disc.  3,  2  (VI  307). 
wer  nach  einem  jähre  sich  weigert,  latein  zu  sprechen,  wird  bestraft, 
auszerhalb  der  akademie  aber,  ausgenommen  beim  schulgemäszen 
spiele,  herscht  allein  die  muttersprache. '^® 

Wem  es  unbeschadet  des  lateinischen  möglich  ist,  der  betreibe 
auch  griechisch  und  hebräisch,  diese  drei  sprachen  sind  die  thore 
zu  allen  Wissenschaften.'^"  daneben  bleibt  für  alle  die  pflege  der 
muttersprache.  wem  die  zeit  es  erlaubt,  der  übe  auch  die  modernen 
sprachen.  '*' 

Für  die  ausspräche  gilt  als  allgemeine  regel:  gewohnheitsfehler 
müssen  gehoben,  organische  fehler  wenigstens  verbessert  werden.  '^^ 

Der  formalen  bildungskraft  der  classischen  sprachen  legt  Vives 


in  der  exerc.  1.  lat.  verfahren,  ausfälle  gegen  die  ''monstra  et  portenta' 
der  Scholastiker  waren  bei  den  humanisten  beliebt,  vgl.  z.  b.  die  briefe 
der  dunkelmänner.  man  beachte  aber  wohl  die  rechtfertigimg  der  'monstra' 
bei  Paulsen  (cit.  anm.  5)  s.  22,  2e  a.  s.  40  f.  und  Fr.  Haase,  de  medil 
aevi  studiis  philologicis,  Vratislaviae  1856  (universitätsschrift)  s.  25,  44; 
Polyc.  Leyser,  diss.  de  fieta  medii  aevi  barbarie,  cit.  Raumer  5  a.  s.  4. 
nicht  ganz  mit  unrecht  ist  sein  eigenes  latein  als  unclassisch  getadelt. 
s.   auch  Pope-Blount  s.  366.     vgl.  anm.   187. 

"^  *trad.  disc.  3,  1  (VI  .304  ff.):  sonus  ac  sermo  universus  plane 
latiiius  sit  .  .  .  iiiitio  verbis  vulgaribus,  hinc  paullatim  latinis,  distincta 
pronuntiatione,  et  gestu  intelligentiam  adiuvante,  dummodo  ue  ad  histrio- 
nicum  deveniat  .  .  .  ut  inter  primordia  mistus  sit  sermo  ex  patrio  et  la- 
tino,  foris  patrium  loquentur,  ne  omnino  consuescant  linguas  commiscere; 
3,  3  (VI  314):  qui  post  annum  quam  inceperit  institui,  latine  recusabit 
loqui,  multetur  pro  aetatis  ac  conditionis  ratione.  vgl.  über  die  Ver- 
wendung der  muttersprache  zur  'gewinnung  eines  Wortverständnisses  des 
lateinischen'  J.  Müller,  quellenschrifteu  und  geschichte  des  deutsch- 
sprachlichen Unterrichtes  bis  zur  mitte  des  16.  Jahrhunderts.  Gotha 
1882,    s.  204  ff. 

150  ganz  als  kind  seiner  zeit,  seinen  fortgeschritteneren  iuductiven 
realismus  vergessend,  zeigt  sich  Vives,  virenn  er  von  diesen  sprachen 
sagt:  trad.  disc.  3,  8  (VI  338):  unde  reliquae  deinceps  artes  omnes  ac 
disciplinae  dimanant;  4,  1  (VI  345):  quae  fores  sunt  disciplinarum 
omnium  atque  artium,  earum  certe,  quae  monumentis  magnorum  in- 
geniorum  sunt  proditae  .  .  ,  itaque  ignoratio  linguae  cuiusque  velut 
ostium  disciplinae  illiua  claudit,  quae  ea  ipsa  lingua  est  comprehensa. 
ähnlich  trad.  disc.  3,  3  (VI  309):  norit  sensum  disciplinae  esse  aditum; 
quae  animantes  eo  careant,  disciplinae  capaces  non  esse;  nihil  esse 
vel  promptius  quam  multa  audire,  vel  fructuosius;  1,  6  (VI  266):  cogno- 
scenda  sunt  ex  libris  omnia,  nam  sine  libris  quis  speret  se  magnarum 
rerum  scientiam  consecuturum! 

'''  vgl.  zu  dieser  Übersicht  die  folgenden  paragraphen. 

1^2  trad.  disc.  3,  3  (VI  313  ff.):  quae  vitia  sunt  ex  consuetudine, 
tolli  queunt;  quae  ex  natura  corrigi  possunt,  tolli  non  possunt;  sed 
certe  licet  usque  eo  caute  occultare,  ne  foede  existant.  ebenda 
einteilung  der  fehler  bei  der  ausspräche  und  regeln  über  heilung 
derselben. 


78  F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik. 

kein  gewicht  bei. '-^    für  jeden  fällt  die  spräche  aus  dem  unter- 
richte fort,  aus  der  er  keinen  nutzen  ziehen  kann.'®* 

Zum  Studium  der  sprachen  fehlt  keinem  die  anläge.'®^  der 
Vorwurf  der  Scholastiker,  dasz  dasselbe  glaubenswidrig  sei,  ist 
unberechtigt.  '-*' 

Lateinisch. 

§  34.  Die  gründe  des  Verfalls  des  lateinischen  unter  den 
bänden  der  Scholastiker  sind  hauptsächlich  die  confusion  der  Sprach- 
wissenschaft mit  theologie,  rhetorik,  poesie  usw.,  das  verurteil,  dasz 
das  Studium  des  classischen  lateins  den  glauben  gefährde,  die  Ver- 
unreinigung der  spräche  durch  dialekte,  die  sophistische  Streitsucht, 
welche  neue  begriffe  und  neue  Wörter  geschaffen  hat.  '-^ 

§  35.    Der  neugestaltete  Unterricht  umfaszt  zwei  stufen.'®' 

Erste  stufe,  den  anfang  der  lateinischen  wie  der  [schul- 
gemäszen]  sprachkenntnis  übei'haupt  bildet  die  kenntnis  der  vocale 
und  consonanten  sowie  deren  Zusammensetzung  zu  silben  und  Wörtern, 
die  elemente  der  formenlehre  und  der  syntax  werden  mehr  gelegent- 
lich als  systematisch,  nicht  nach  der  grammatik,  sondern  an  der 
band  leichter  Schriftsteller  gelehrt. 

Zweite  stufe,  dieser  allgemeinen  und  oberflächlichen  Vor- 
bildung folgt  ein  gründlicher  und  systematischer  Unterricht ,  dessen 
gang  im  einzelnen  sich  folgendermaszen  gestaltet:  1)  erlernung  der 


'-^  *trad.  disc.  4,  1  (VI  345):  sed  meminerint  homines  Studiosi  si 
nihil  adiecerint  Unguis ,  ad  fores  tantum  pervenisse  eos  artiura,  et  ante 
illas,  aut  certe  in  vestibulo  versari,  nee  plus  esse  latine  et  graece  scire, 
quam  gallice  et  hispaiie,  usu  dempto  qui  ex  Unguis  eruditis  potest 
accedere,  nee  linguas  omnes  labore  illo  propter  se  ipsas  dignas  esse. 
*mor.  erud.  1  (VI  417):  linguae  quid  aliud  sunt  quam  voces?  aut  quid 
interest  semotis  disciplinis,  latine  et  graece  noris,  an  Hispane  et 
gallice.  das  sagt  ein  humanist!  wie  ganz  anders  dachte  sein  lehrer 
Erasmus!  nur  exerc.  1.  lat.  widmung  an  Philipp  (1280):  latinae  linguae 
permagnae  sunt  et  ad  loquendum  et  ad  recte  sentiendum  utilitates. 

'8-*  *trad.  disc.  3,  1  (VI  302):  .  .  nihil  est  enim  ostentationi  dandum  . . 
sed  usui  ac  necessitati. 

'85  trad.  disc.  2,  4  (VI  295) :  nullum  (Ingenium)  certe  erit  quod  inu- 
tile  sit  saltem  Unguis  discendis. 

'■^8  *caus.  corr.  2,  8  (VI  90  f.):  est  in  studio  vocum  haeresis,  an 
studio  rerum?  utrum  est  in  voce  haeresis,  an  in  re?  stultum  est  in 
voce  dicere;  est  ergo  in  sensu  et  re:  atqui  res  et  sensa  non  sunt  lin- 
guae; dicet  aliquis,  est  in  iis  sensis  quae  Unguis  sunt  tradita:  age, 
quorum  auctorum?  gentiles  si  ansam  dant  haereseos,  peius  faciunt  qui 
Aristotelem,  quilPorphyrium,  qui  Averroem  tanto  studio  evolvunt,  quam  qui 
Ciceronem,  Livium,  QuintiUanum,  Vergilium  et  eiusmodi  etc.  vgl.  anm.  35. 

'*^  caus.  corr.  1,  9  (VI  64):  grammatica  est  (scholasticis)  quidquid 
loquatur  et  de  quacunque  re  etc.  s.  2,  3  (VI  88  ff.);  beispiele  des  Ver- 
falls Sapiens  (IV  23,  24).  vgl.  ähnlich  und  sehr  ausführlich  Du  Gange 
Glossarium    tom.  I  praef. ,    wo  auch  Vives  citiert  ist.     s.  anm.   178. 

'**^  trad.  disc.  3,  1  (VI  302)  gibt  Vives  diese  beiden  stufen  in  kurzen 
zügen  deutlich  an.  es  folgt  3,  6  (VI  324  ff.)  der  unten  im  umrisse  an- 
geführte weitläufigere  gang  des  lat.  Unterrichts,  der  sich  offenbar  auf 
die  zweite  stufe  bezieht. 


F.  Kuypei-s :  Vives  in  seiner  pädagogik.  79 

anfangsgründe  aus  regelbüchern.  2)  sprach-  und  Sprachübungen 
über  gegenstände,  die  im  anschauungskreise  des  kindes  liegen,  mit 
hilfe  eines  einstweilen  vom  lehrer  selbst  entworfenen  möglichst 
vollständigen  lexikons  und  der  mutterspracbe. '""^  3)  lectüre  eines 
leichten  Schriftstellers,  märchenhafter  erzählungen,  leichter  versa 
wie  der  des  Cato  oder  Michael  Varinus,  philosophischer  Sprüche 
4)  briefe  des  Plinius,  Caecilius  oder  Aegidius  Calentius,  des  Eras 
mus  erstes  buch  de  copia  rerum  et  verborum  sowie  de  recta  pro 
nuntiatione,  ferner  redefiguren  aus  Quintilian,  Dioraedes  Mancinellus 
Johannes  Despauterius.  hierzu  hat  Petrus  Mosellanus  eine  wand 
tafel  zum  aufhängen  verfaszt.  5)  lateinischer  aufsatz;  anfangs  darf 
der  schüler  entlehnte  phrasen  und  sätze  einschalten;  des  Erasmus 
zweites  buch  de  copia.  als  sachliche  Vorbereitung  auf  die  classiker- 
lectüre  dient  6)  Weltgeschichte  in  allgemeinen  umrissen  nach  art 
chronologischer  tafeln,  kurze  darstellung  der  geographie,  wozu  das 
handbuch  des  Pomponius  Mela  brauchbar  ist.'*"  erst  nach  dieser 
einleitung  folgt  7)  lectüre  classischer  und  nachahmungswürdiger 
Schriftsteller  in  folgender  reihenfolge:  Caesar,  Ciceros  briefe  ad  fami- 
liäres oder  ad  Atticum,  einige  bücher  des  Livius  und  des  Valerius 
Maximus,  zuletzt  einige  reden  Ciceros. 

i*ä  die  bestehenden  grammatiken  taugen  nicht  viel,  trad.  disc.  3,  6 
(VI  325):  nam  quae  nunc  quideni  extant,  ceite  vel  exempla  sunt  solum 
absque  cauonibus,  vel  canones,  a  quibus  excipiuntur  plura,  quam  ipsi 
comprehendant.  zur  lierstellung  einer  guten  grammatik,  die  gerade  für 
tote  sprachen  unerläszlich  ist,  ist  ein  gründliches  Studium  der  classiker 
nötig;  denn  nach  der  spräche  sind  die  regeln  zu  gestalten,  nicht  um- 
gekehrt, pseudo-dial.  (III  41):  nam  prius  fuit  sermo  latinus,  prius 
graecns,  deinde  in  his  formulae  grammaticae,  formulae  rhetoricae,  for- 
mulae  dialectices  observatae  sunt  .  .  .  neque  enim  loquimur  ad  hunc 
modum  latine,  quia  grammatica  latina  ita  iubet  loqui,  quin  potius  e 
contrario,  ita  iubet  grammatica  loqui,  quoniam  sie  Latin!  loquuntur. 
stud.  puer.  (I  275).  über  die  mittelalterlichen  hilfsmittel  zur  erlernung 
des  lateinischen  s.  F.  A.  Eckstein,  art.  lateinischer  Unterricht  in 
Schmid,  encycl.  2e  abt.  IV  bd.  s.  204  f.,  Müller  cit.  anm.  179.  Vives 
bedauert,  dasz  ein  vollständiges  lexikon  nicht  existiert,  trad.  disc.  3,  6 
(VI  326  f.):  interea  vero  dum  dictionarium  eins  generis  non  habemus, 
institutor  ipse  ex  sua  lectione  haec,  ut  poterit  ad  utilitatem  discipulo- 
rum  aunotabit.  stud.  puer.  2  (I  277):  magna  partis  huius  (nämlich 
dictionariorum)  laboramus  in  latinis  litteris  inopia.  ähnlich  für  das 
griechische  anm.  210.  vgl.  E.  Weller.  lateinische  lehr-  und  Wörterbücher 
der  ersten  hälfte  des  16n  Jahrhunderts  in  der  Zeitschrift  Serapeum 
no.  15,  Leipzig  1860,  s.  225 — 235.  eine  ausführliche  darstellung  des 
ersten  Unterrichtes  s.  stud.  puer.  1  (I  259—265,  266—267). 

^^°  ein  regelrechter  geschichtsunterricht  folgt  erst  nach  dem  25n  jähre ! 
es  handelt  sich  hier  nur  um  eine  kurze  skizze,  welche  enthalten  soll 
trad.  disc.  3,  6  (VI  328):  quae  bella  insignia  siut  gesta,  quae  memora- 
biles  sint  urbes  constructae,  qui  homines  clari  vixerunt.  es  ist  zu  be- 
achten, dasz  bei  dieser  dem  Verständnisse  der  classiker  dienenden  dar- 
stellung die  kriegsgeschichte  im  Vordergründe  steht,  während  sie  bei  dem 
systematischen  geschichtsunterrichte  weit  zurücktritt,  s.  §  60.  *addet 
his  etiam  brevem  descriptionem  orbis  primum  universi  et  maximarum 
partium,  tum  provinciarum,  et  quid  in  quaque  commendatur  famae.  ein 
gründlicher   geographischer  Unterricht  folgt  nicht,     doch  vgl.  anm.  232. 


80  F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik. 

Zur  abwechslung  und  zur  erlernung  der  prosodie  wird  dichter- 
lectiire  eingestreut'^':  Terenz  und  Plautus  mit  ausscheidung  der  an- 
stöszigen  stellen,  Senecas  tragödien,  Vergils  bucolica,  Horaz'  öden, 
Yon  den  christlichen  dichtem  Prudentius,  Baptist  von  Mantua,  dann 
Vergils  georgica,  der  rusticus  des  Politian.  zur  erweiterung  der 
mythologischen  kenntnisse  dienen  Ovids  metamorphosen  und  fasten; 
es  folgen  Martials  epigramme  mit  auswähl,  ebenso  Persius  und  Vergils 
Aeneis. ''- 

Soweit  wird  der  stoff  an  der  band  des  lehrers  durchgenommen; 
vieles  aus  demselben  soll  nach  auswahl  des  letzteren  auswendig  ge- 
lernt werden.  '^^ 

Privatim  lese  der  schüler:  Thomas  Linacer,  Antonius  von 
Lebrija,  Mancinellus,  Laurentius  Valla,  auf  besondere  empfehlung 
des  lehrers  Servius  Honoratus  und  ähnliche,  die  beispielsammlung 
des  cardinals  Hadrian,  zur  erweiterung  der  kenntnisse  in  geschichte 
die  übrigen  bücher  des  Livius,  Tacitus,  Sallust,  in  mythologie,  auszer 
Ovid  und  den  genannten,  Boccaccios  genealogie.  hauptsächlich  zur 
vergröszerung  des  vocabelschatzes  dienen:  Cato,  Varro,  Columella, 
Palladius,  Vitruvius  und  Grraphaldus.  endlich  sind  zu  lesen  sämt- 
liche reden  Ciceros  und  Quintilians  declamationen.  als  stilmuster 
sollen  von  den  neueren  dienen  Longolius,  Jovianus,  Pontanus, 
Angelus  Politianus,  Erasmus. 

In  der  bibliothek  des  schülers  sollen  sich  auszerdem  befinden 
Varros  drei  bücher  über  die  lateinische  spräche,  des  Festus  Pom- 
pejus  kurzer  leitfaden,  Nonius  Marcellus;  von  den  neueren:  die 
cornucopiae  des  Nicolaus  Perotus,  Nestor,  Tortellius  (besonders 
wegen  der  sorgfältigen  Orthographie),  das  lexikon  des  Ambrosius 
Calepinus.'^' 

Methodische  benierkuugen  zum  lateinischen  unterrichte. 

§  36.  Anfangs  halte  man  sich  strenge  an  regeln,  später  treten 
Sprachgefühl   und   Übung   in   den  Vordergrund'";    die  regeln  sind 


'^'  trad.  disc.  3,  6  (VI  328  ff.):  poetarum  lectio  magis  ad  vegetan- 
dum  ingenium  pertinet,  et  ad  Stellas  illinc  quasdam  et  velut  insignia 
orationis  petenda,  quam  ad  alendum  corpus  sermonis  .  .  .  illud  tarnen 
non  ignorandum  poesi  operis  succisivis  studendum,  sumendamque  eam, 
non  ut  alimeotum,  sed  ut  condimentum.  vgl.  das  urteil  über  die  dichter 
anm.  211. 

'^2  er  teilt  die  Verehrung  des  mittelalters  für  die  Aeueis:  opus  .  . 
quod  Iliadi  non  concedat. 

'33  trad.  disc.  3,  6  (VI  330):  ex  his  quae  posui,  ediscet  ea  disci- 
pulus,  quae  institutor  praescripserit;  *3,  5  (VI  320):  sunt,  qui  in  tra- 
dendis  suis  ordinem  quendam  sunt  secuti,  et  methodum  brevem  ac  dilu- 
cidam,  atque  ad  percipiendum  facilem;  hi  sunt  non  modo  relegendi,  sed 
ediscendi  quoque  ad  verbum. 

'3^  sämtliche  angeführten  Schriftsteller  sind  von  Vives  kurz  cha- 
rakterisiert,    trad.  disc.  3,  6  (VI  324  ff.). 

'3^  im  gegensatze  zu  den  mo  lernen  sprachen  trad.  disc.  3,  1  (VI  302) 
gilt  vom  lateinischen  trad.  disc.  3,  3  (VI  312  f.):  admonendi  sunt  tirones, 


F,  Knypers:  Vives  in  seiner  pädagogik.  81 

dui'ch  vergleichung  aus  den  Schriftstellern  abzuleiten.  '^^  zur  ein- 
übung  derselben  werden  kleine  stücke  aus  der  muttersprache  ins 
lateinische  und  wieder  zurück  übersetzt.'"  bei  den  Sprechübungen 
schreite  man  in  der  wähl  der  gegenstände  vom  bekannten  zum  un- 
bekannten, vom  leichten  zum  schweren."'  der  trockene  stofi"  werde 
in  interessanter  form  vorgetragen;'^^  pedanterie  ist  zu  vermeiden.*"" 
diesen  zwecken  dient  es,  dasz  der  lehrer  der  grammatik  auch  andere 
namentlich  historische  kenntnisse  besitzt.'"'  den  anfang  und  den 
schlusz  des  schulgemäszen  lateinischen  Unterrichts  hat  er  nach  der 
anläge  des  knaben  zu  bestimmen. ^"'^ 


ut  fidant  magis  canonibus,  quam  usui  vel  iudicio  suo.  für  später  gilt: 
nihil  est  .  .  quod  aeque  ad  pereipiendam  ling-uam  valet,  ut  usus  .  .  uam 
vastus  usus  non  potuit  in  regularum  alveum  cunctus  corrivari.  *  caus. 
corr.  2,  2  (VI  82):  si  populiim  liaberemus  vel  latine  loquentem,  vel 
graei-e,  mallem  cum  eo  aiinum  unum  .  .  versari  quam  sub  eruditissimis 
ludimagistris  annos  decem. 

'"s  s.  anm.  189.  dasz  auch  der  scbüler  auf  inductivem  weg'e  vom 
beispiele  zur  regel  geführt  werden  soll,  linde  ich  nicht,  wohl  heiszt  es 
trad.  disc.  3,  3  (VI  314):  accedet  exereitamentis  collatio  scriptorum 
cum  formulis,  in  quibus  congruant,  in  quibus  dissideant.  indes  ist  auch 
bei  dem  grammatischen  unterrichte  gewis  jenes  bessere  verfahren  von 
Vives  gewollt  worden,  da  er  im  allgemeinen  der  induc-tion  den  vorzug 
gibt.  *trad.  disc.  2,  4  (VI  296):  in  praeceptione  artium  multa  experi- 
menta  colligemus,  multorum  usum  observabimus,  ut  ex  illis  universales 
fiant  regulae.     so  von  den  Wissenschaften  überhaupt,     vgl.  anm.  301. 

*"^  trad.  disc.  3,  3  (VI  314):  stilus  inquit  Cicero  magister  et  effector 
dicendi  optimus:  ergo  postquam  syntaxin  didicerint,  reddent  vulgares 
orationes  in  latiuum,  et  has  vicissim  in  vulgarem  serraonem,  sed  eas 
perbreves,  quibus  addetur  aliquid  quotidie. 

'"8  *trad.  disc.  3,  6  (VI  326):  quorum  primordia  erunt  a  levibus, 
quaeque  aetas  illa  facile  sustinet,  utpote  a  lusionibus ;  sensim  ad  maiora 
procedatur,  de  domo,  et  tota  supellectili,  de  vestimentis,  de  cibis,  de 
tempore,  de  equo  et  navi,  de  templis,  de  coelis,  animantibus,  stirpibus, 
de  civitate  et  republica. 

19'J  *trad.  disc.  3,  6  (VI  326  f.):  condient  haec  iocis  salsis,  fabellis 
scitis  ac  lepidis,  exemplis  atque  historiolis  iucundis,  paroemiis,  apo- 
phthegmatibus ,  sententiis  acutis,  argutis  nonnumquam  et  gravibus,  ut 
sie  libeutius  hauriatur  et  magno  fructu  sit  non  linguae  tantum  sed 
etiam  pnulentiae  atque  usus  vitae. 

200  stud.  puer.  2  (1  276):  neque  vero  despicienda  est  idcirco  ars 
(näml.  die  grammatik  im  gegensatze  zur  Übung),  modo  ne  sit  super- 
stitiose  anxia.  trad.  disc.  3,  5  (VI  323):  cognitionem  hanc  artis  doctam 
volo  esse  magis  quam  anxiam  et  molestam.  auch  sonst  zeigt  er  sich 
als  feind  der  kleinigkeitskräraerei.     s.  anm.  312. 

20'  caus.  corr.  2,  2  (VI  84):  porro  quid  grammaticus  profitetur?  non 
solum  litterarum  et  vocum  peritiam,  quamquam  neque  hoc  omnino  parum, 
sed  intelligentiam  verborum  et  sermonis  totius,  cognitionem  antiquitatis, 
historiarum,  fabularum,  carminum,  denique  veterum  omnium  scriptorum 
interpretationem. 

*"2  *trad.  disc.  3,  1  (VI  300):  huic  linguae  (der  lateinischen)  dabit 
operam  puer,  dum  aliis  percipiendis  rerum  disciplinis  non  est  per  in- 
firmitatem  ingenii  satis  idoneus,  nempe  ab  anno  septimo  ad  quintum- 
decimum;  sed  id  praeceptor  ex  cuiusque  ingenio  et  progressibus  melius 
Btatuet.  trad.  disc.  3,  8  (VI  3381:  sentio  me  diu  esse  in  hac  .  .  .  praeceptione 
immoratum,  quod  eo  feci,  quia  multi  pravi  sunt  a  pueritia  instituti. 
N.  Jahrb.  f.  phil.  u.  päd.  II.  abt.  1S97  hft.  2.  6 


82  F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik. 

Griechisch. 

§  37.  Während  das  lateinische  für  alle  hauptfach  ist,  sind  vom 
griechischen  ungeeignete  fern  zu  halten  oder  höchstens  in  die  an- 
fangsgründe  einzuweihen.^"^  für  die  übrigen  beginnt  der  Unterricht 
in  dieser  spräche  erst,  wenn  sie  sich  mit  hilfe  des  lateinischen  einige 
Vertrautheit  mit  den  sprachkategorien  erworben  haben,  also  etwa  mit 
der  zweiten  stufe  (s.  §  35).  alsdann  gehen  beide  parallel  unter  ve  r- 
gleichung  mit  einander;  beide  finden  zugleich  ihren  abschlusz. *"* 

Der  zweck  ist  tiefere  auffassung  des  lateinischen  und  aneignung 
der  in  den  Schriftstellern  enthaltenen  realen  kenntnisse.^"^  zu  er- 
streben ist  darum  weniger  die  fähigkeit,  die  spräche  zu  sprechen, 
wie  beim  lateinischen,  als  vielmehr  die,  sie  zu  verstehen.^"® 

Der  unterrichtsgang  ist  kurz  folgender  ^"^r  1)  zur  einprägung 
der  buchstaben  und  ihrer  Verbindung  dienen  tabellen  (Aleandri  puta 
aut  eiusmodi).  2)  declination  und  conjugation  nach  dem  ersten 
buche  Theodor  Gazas,  welches  Erasmus  übersetzt  hat.  3)  Aesops 
fabeln,  das  zweite  buch  Gazas.  4)  eine  rede  eines  classischen  Schrift- 
stellers, etwa  des  Isocrates,  Lucian  oder  Chrysostomus.  5)  prosodie 
und  Orthographie  nach  dem  dritten  buche  Gazas.  6)  einige  briefe 
des  Demosthenes,  Plato,  Aristoteles,  irgend  eine  rede  des  ersteren 


203  *trad.  disc.  3,  8  (VI  338):  qui  ingenio  erunt  vel  tardo  admodum, 
absurdoque  et  inepte  coniectante,  vel  suspicaci  inique  et  in  peiorem 
partem  reiiciente  quae  audiat  bis  latinam  linguam  utcunque  didicisse 
suffecerit,  et  portiunculam  graecae  aliquam. 

204  *trad.  disc.  3,  7  (VI  332):  hie  quidem  latinitatis  cursus;  cui  ali- 
quante post  initiiim  aequari  debet  etiam  graecitatLs ,  sicut  dixi  (p.  303), 
ut  ambo  eonficiantur  pariter.  stud.  puer.  2  (I  277):  Graecas  litteras 
Quintilianus  simul  et  pariter  disci  cum  latinis  posse  putat.  damals  be- 
gann das  griechische  erst  nach  abschlusz  des  lateinischen.  Lange  s.  822. 
stud.  puer.  2  (I  279):  observare  ..  quemadmodum  idiomata  sermonum 
Graeci  et  Latini  inter  se  diflferant  ..  auch  bei  Übersetzungen:  *confere3 
graeca  cum  interpretationibus  latinis  initio  si  qua  sunt  ad  verbum 
versa.  *trad.  disc.  3,  7  (VI  333):  illud  esset  potissimum  annotandum, 
quibus  in  rebus  graeca  et  latina  inter  se  structura  dissiderent. 

*"■>  trad.  disc.  3,  1  (VI  301):  nee  ullus  absolute  fuit  Latini  sermonis 
peritus,  nisi  et  graeco  imbutus  .  .  .  quid,  quod  multa  sunt  graecis  lit- 
teris  memoriae  mandata  in  historia,  natura  reruni ,  moribus  privatis  et 
publicis,  medicina,  pietate,  quae  de  ipsis  fontibus  facilius  hauriuntur 
et  purius.  er  denkt  hier  wohl  besonders  an  Aristoteles  und  wendet  sich 
mit  der  letzten  bemerkung  gegen  die  Scholastiker,  die  diesen  fast  nur 
aus  schlechten  Übersetzungen  kannten,  über  zweck  des  griechischen 
ähnlich  stud.  puer.  2  (VI  280). 

20fi  trad.  disc.  3,  3  (VI  312).  in  sermone  graeco,  quandoquidem 
sumimus  tantum  ad  cognoscendos  auctores,  non  perinde  erimus  de  lo- 
quendo  solliciti,  ut  de  intelligendo;  si  cui  vero  tantum  vacat,  et  per 
Ingenium  licet,  assuescat  eloquendi  etiam  facultati. 

207  über  die  damalige  handhabung  und  Verbreitung  des  griechischen 
Unterrichtes  vgl.  Job.  Müller,  die  Zwickauer  Schulordnung  von  1523  in 
'neue  Jahrbücher  für  philologie  und  pädagogik'  bd.  120,  Leipzig  1879, 
s.  476  ff.  521  ff.  602  ff.  mit  reicher  quellen-  und  litteraturangabe.  ab- 
schlieszendes  resultat  s.  s.  609  f.     Paulsen  s.  41,  223. 


F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik.  83 

oder  eines  der  zehn  redner  jenes  Jahrhunderts.  7)  einige  kenntnis 
der  dialekte  durch  Philoponos  und  Corinthos.  8)  einige  gesänge 
Homers,  diese  oder  jene  komödie  des  Aristophanes,  einige  trauer- 
spiele  des  Euripides.  empfehlenswert  sind  auch  Theognis  aus  Sicilien 
und  Phokylides.  9)  alle  Homerischen  gesänge  nebst  deren  erklä- 
rung.^°^  10)  alle  uns  erhaltenen  werke  des  Aristophanes  und  Euri- 
pides. 11)  Hesiods  epT«  Kai  fmepai  und  einige  griechische  epi- 
gramme,  welche  nicht  unsittlich  sind.  12)Pindarund  bei  genügender 
zeit  und  fähigkeit  Theokrit.  13)  Herodian,  mit  Politians  lateinischer 
Übersetzung  zu  vergleichen ,  Xenophons  griechische  geschichte  und 
einige  bücher  des  Thukydides,  welche  zugleich  zur  erweiterung  der 
geschichtskenntnis  dienen. 

Es  folgt  eine  reihe  von  Schriftstellern,  die  als  privatlectüre  und 
zur  aufstellung  in  der  bibliothek  empfohlen  werden,  darunter  manche 
neueren. 

Dem  zwecke  des  griechischen  Unterrichts  entspricht  es,  dasz 
Übungsstücke  vorwiegend  aus  dem  griechischen  in  die  muttersprache, 
nicht  umgekehrt,  übertragen  werden.-"^  die  abfassung  eines  griechi- 
schen lexikons  wird  dringend  gewünscht. '^'° 

Classikerlectüre. 
§  38.  Die  classikerlectüre  bietet  zwar  eine  ungemein  reiche 
ausbeute  für  die  bildung  des  knaben,  sie  erweitert  die  sprach- 
lichen und  realen  kenntnisse,  schärft  das  urteil,  veredelt  den  ge- 
schmack,  aber  sie  schlietzt  auch  eine  grosze  gefahr  für  das  jugend- 
liche gemüt  in  sich;  denn  die  Verfasser  jener  Schriften  waren  heidnisch 
und  oft  sittenlos,  ganz  besonders  gilt  dieses  von  den  dichtem,  die 
zudem  des  gesunden  urteils  entbehren  und  in  dem  schönen  gewande 
doppelt  verführerisch  sind.^" 

208  Homer  wird  weitläufig  nach  seinen  guten  und  schlechten  eigen- 
schaften   kritisiert,     seine  beiden  werke  nennt  er  calidum  und  callidum, 

^Oä  trad.  disc.  3,  3  (VI  314);  malim  ut  ex  Graecis  ad  nos  discant 
quam  a  nobis  illuc  traducere:  ad  verteodum  probe  vim  linguae  utriusque 
necesse  est  ut  interpres  teneat;  exercitationem  tarnen  esse  in  eo  oportet, 
ad  quam  transfundit. 

*'"  trad.  disc.  3,  7  (VI  334):  lexicon  graecae  linguae  componendum, 
quäle  de  latina  diximus,  copiosum,  et  plenum.     s.  anm.  189. 

2"  Vives  war  keine  poetische  natur;  er  hatte  kein  volles  Verständnis 
für  die  hohe  Schönheit  der  alten  dichter,  vgl.  Lange  s.  780.  trad.  disc. 
1,  6  (VI  269  f.):  .  .  libros  illos  ceu  latum  quendam  esse  agrum,  in  quo 
herbae  proveniant  partim  utiles ,  partim  noxiae,  partim  ad  delicias  pa- 
ratae  .  .  es  folgt  auseinandersetzung  der  licht-  und  Schattenseiten; 
*3,  5  (VI  320):  veniat  iam  ad  lectionem  gentilium,  tamquam  in  agros 
venenis  infames  praemunitus  antidoto.  dieses  gegengift  liefert  der  moral- 
unterricht;  —  5,  3  (VI  321  f.):  exiguum  certe  a.lferuut  (poetae)  adiu- 
mentum  sive  ad  artes  sive  ad  vitam,  nee  ad  linguam  quidem  magnum; 
*3,  5  (VI  323):  ipsis  quoque  poetis  fides  elevanda,  multum  quidera  va- 
luisse  eos  natura,  ac  spiritu,  sed  homines  tamen  fuisse  mediocri  iudicio, 
doctrina  vero  et  usu  rerum  saepe  nullo,  aut  certe  perquam  exiguo,  tum 
animi  perturbationibus  obnoxios  ac  servientes,  vitiis  inquinatos.     masz- 


84  F.  Kuypers :  Vives  in  seiner  pädagogik. 

Als  grundsätze  für  die  lectüre  der  classiker  gelten:  1)  es  wer- 
den nur  solche  gewählt,  die  auch  reale  kenntnisse  vermitteln.^'^ 
2)  sie  werden  mit  gröster  aufmerksamkeit  durchgenommen  zum 
zwecke  der  fox-malen  förderung  der  geisteskräfte.''^  3)  damit  glauben 
und  sitten  nicht  leiden,  wäre  es  am  besten,  nur  christliche  dichter 
zu  berücksichtigen,  da  dieses  nicht  angeht,  ist,  wenn  möglich,  eine 
gereinigte  ausgäbe  vorzulegen,  sonst  wenigstens  die  äuszerste  vor- 
sieht bei  der  Behandlung  geboten,  dem  einzelnen  ist  der  Schrift- 
steller zu  entziehen,  welcher  seinem  individuellen  fehler  Vorschub 
leistet.  ^'^  4)  zu  bevorzugen  sind  die  Schriftsteller  der  classischen 
periode.*'^  5)  es  ist  verkehrt,  sich  mit  'blumeniesen'  aus  den 
classikern  zu  begnügen.^'® 

Muttersprache. 
§  39.   Wenn  auch  auf  pflege  und  reinhaltung  der  muttersprache 
ein  sehr  groszes  gewicht  gelegt  und  vom  lehrer  verlangt  wird  ,  dasz 


voller  ist  sein  urteil  stud.  puer.  2  (I  275,  276);  caus.  corr.  2,  4  (VI  93  ff.) 
trägt  die  Überschrift:  de  poesi,  eiusque  magna  vi;  quam  fere  omnes  in 
Universum  poetae  pessimo  malo  ea  abusi  sint.  vgl.  auch  seine  angriffe 
in  Veritas  fucata,  sive  de  licentia  poetica,  quantum  poetis  liceat  a  veri- 
tate  abscedere  (II  517  ff.). 

'^^^  *trad.  disf.  3,  1  (VI  300):  quippe  ab  iis  auctoribus  sermonem 
hauriet,  in  quibus  non  sola  erunt  verba  .  .  .  raulta  enim  inesse  ex  aliis 
disciplinis  conspersa,  est  necessum. 

*'^  trad.  disc.  3,  3  (VI  314):  intentione  ad  eam  rem  vehementer 
est  opus,  ideoque  excitatur  atque  acuitur  ingenium,  et  iudicium  fit 
vegetius. 

*•'•  trad.  disc.  1,  6  (VI  271):  itaque  nemiui  bono  viro  arbitror  in 
dubium  venturum,  quin  praestet  vel  a  Christianis  accipi  doctriuam  chri- 
stianam  Christiane  traditam,  vel  ex  monimentis  impiorum  resectis  iis 
quae  integritati  bonorum  morum  possent  officeie;  quod  perfici  si  non 
potest,  saltem  praeeat  viam  vir  aliquis  non  solum  eruditione  praeditus, 
ßed  probitate  eliam  ac  prudentia  .  .  qui  a  periculis  dimoveat,  vel  tacite 
extra  significationem  periculi,  n«  curiosorum  cupiditatem  irritet,  vel 
quibus  conveniet,  aperte  demonstret,  quod  malum  delitescat.  trad.  disc. 
3,  5  (VI  323)  kommt  er  nach  längerer  erörterung  zu  dem  resultate: 
*non  ^tolli  oportere  sed  repurgari;  —  3,  5  (VI  320):  ante  omnia  ar- 
cendus  puer  ab  auctore,  qui  vitium  potest  fovere  ac  nutrire  quo  is  la- 
boret;  ut  libidinosus  ab  Ovidio,  scurrilis  a  Martiale,  maledicus  et  sub- 
sannator  a  Luciano,  pronus  ad  impietatem  a  Lucretio  etc. 

-1'  trad.  disc.  3,  G  (VI  325):  pueritia  (linguae)  fuit  sub  Catone, 
senectus  sub  Traiano  et  Adriano ,  aetas  optima  et  vis  vigorque  iliius 
circiter  seculum  M.  Tullii.  itaque,  quantum  fieri  poterit,  dabitur  opera 
ut  iliius  sint  seculi  verba,  et  phrases;  non  tarnen  in  hac  egestate  et 
difficultatibus  latinae  linguae  repudianda  sunt,  quae  posteriores  attu- 
lerunt,  Seneca,  Quintilianus,  Plinius,  Tacitus,  et  eorum  aequales.  War- 
nung vor  zu  beschränkter  auswahl  s.  caus.  corr.  2,  1  (VI  79  f.).  trad. 
disc.  3,  7  (VI  333):  ante  Pisistratum  atque  etiam  l^ericlem,  nihil  scriptum 
est  legi  dignum,  post  Demosthenem  pluriraa  quiilem,  ceterum  integritate 
eermonis  cum  aetate  illa  minime  comparanda. 

*'^  *caus.  corr.  1,  8  (VI  61):  inventi  sunt  in  omni  studiorum  ge- 
nere,  qui  desidiae  consulerent,  collectis  ex  lectione  veterum  quibusdam 
ceu  flosculis  .  .  .    qui  possunt  auctorum  sensus  percipi,  deserti  et  desti- 


F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik.  85 

er  nicht  blosz  jeden  verstosz  gegen  dieselbe  corrigiere,  sondern  sogar 
eine  gründliche  kenntnis  der  entwicklungsgeschichte  der  mutter- 
sprachebesitze, so  ist  sie  doch  noch  nicht  selbständiges  Unter- 
richtsfach, sondern  nur  ein  hilfsmittel  zur  Verdeutlichung.  *"'  es 
wird  vorausgesetzt,  dasz  zu  hause,  wo  sorgfällig  die  muttersprache 
gepflegt  werden  soll,  sowie  auszerhalb  der  Schulzeit,  wo  sie  unter- 
haltungssprache  der  schüler  ist,  diese  genügende  fertigkeit  in  der- 
selben sich  aneignen;  in  der  schule  hat  der  lehrer  bei  jeder  ge- 
legenheit,  aber  nicht  systematisch  sie  im  gebrauche  derselben  zu 
fördern.^'« 


tuti  suis  velut  fulcimentis,  nempe  üs  quae  antecedunt,  quaeque  sub- 
sequnntur.  —  Sie  waren  im  mittelalter  allgemein  im  gebrauch. 

^"  *trari.  disc.  3,  2  (VI  306):  vernaculam  puerorum  linguam  exacte 
cognoscet,  ut  commodius  per  hanc  et  facilius  eruditas  illas  tradat;  *3,  2 
(VI  307):  teneat  (der  lehrer,  nicht  der  schüler)  memoriam  omnem  vetus- 
tatis  linguae  patriae  et  cognitionem  non  verborum  modo  recentium ,  sed 
priscorum  quoque,  et  quae  iam  exoleverunt  .  .  nam  ni  ita  fiat  quum 
unaquaeque  lingua  mutationes  crebras  recipiat  libri  ante  centum  annos 
scripti  non  intellegerentur  a  posteris.  caus.  corr.  2,  1  (VI  78):  nam  quum 
linguae  arbitrium  sit  penes  populum,  dominum  sermonis  sui,  mutatur 
subinde  sermo,  usque  adeo  ut  .centesimo  quoque  anno  prope  iam  sit 
omnino  alius  .  .  .  ergo  provisum  est  ut  essent  professores,  ad  quos  ea 
cura  spectaret  etc.  zu  vergleichen  ist  anm,  179.  Kayser,  der  ganz  kurz 
und  im  allgemeinen  richtig  die  Verdienste  Vives'  um  die  pädagogik  zu- 
sammenstellt, bemerkt  s.  339:  'von  den  sprachen  soll  zuerst  die  mutter- 
sprache gründlich  erlernt  werden,  dann  erst  die  lateinische  .  .  .  unseres 
Wissens  ist  Vives  der  erste,  der  in  dieser  weise  die  muttersprache  in 
den  Vordergrund  stellt  und  zwar  will  er  diese  so  behandelt  wissen,  dasz 
auch  die  älteren  formen  derselben  studiert  werden',  diese  fassung  läszt 
eine  ganz  verkehrte  beurteilung  der  Stellung  des  Vives  in  dieser  frage 
zu.  es  ist  festzuhalten,  dasz  die  muttersprache  in  der  schule  nicht  wie 
bei  Comenius  Unterrichtsfach  und  Unterrichtssprache,  sondern  kaum  mehr 
als  ein  notbehelf  und  dasz  die  historische  Sprachforschung,  lediglich 
einem  praktischen  zwecke  dienend,  nur  für  den  gelehrten,  nicht  für  den 
schüler  ist.  ''man  meint,  wenn  man  diese  betonung  der  muttersprache, 
diese  forderung  eines  historischen  Sprachstudiums  und  einer  historisch 
kritischen  methode  der  forschung  liest,  man  habe  eine  abhandlung,  die 
im  19n  Jahrhundert  und  nicht  im  15n  geschrieben  sei,  vor  sich.'  für 
den  letzten  punkt  sei  dieses  zugestanden,  für  die  beiden  ersten  ist  es 
eine  entschiedene  Überschätzung,  auch  die  formulierung  s.  349:  'be- 
tonung der  Wichtigkeit  des  Sprachunterrichtes,  besonders  aber  der  mutter- 
sprache' kann  leicht  als  starke  Übertreibung  gedeutet  werden.  Vives 
stand  in  seinen  forderungen  weit  hinter  Comenius  zurück  —  er  erhob 
sich  über  seine  Vorgänger  und  Zeitgenossen,  aber  ein  kind  jener  huma- 
nistischen zeit  war  er  doch,  in  den  Unterrichtsbriefen  an  Carl  von  Montjoie 
und  die  prinzessin  Maria  von  England  wird  die  muttersprache  gar  nicht 
erwähnt,  es  ist  immer  nur  von  der  lateinischen  als  spräche  des  Umgangs  und 
Unterrichtes  die  rede;  nicht  einmal  tritt  sie  als  notbehelf  auf :  *stud.  puer. 
2  (I  273):  ut  audieris  doctos  loquentes,  aut  legeris  apud  scriptores  la- 
tinos,  sie  ipse  loquere  .  .  cum  iis  qui  imperite  loquuntur  latine,  quo- 
rum  sermo  potest  tuum  corrumpere,  malis  britannice,  aut  alia  quavis 
loqui  lingua,  in  qua  non  sit  idem  periculi.  weder  caiis.  corr.  noch  eine 
andere  schrift  bedauert  mit  einem  worte  den  niedergang  der  muttersprache. 

*'8  *trad.  disc.  3,  1  (VI  298):  itaque  et  domi  a  parentibus,  et  in 
schola  a  praeceptoribus  danda  est  opera,  ut  patriam  linguam  pueri  bene 


86  F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik. 

Andere  sprachen. 

§  40.  Das  hebräische  wird  nur  der  lectüre  des  alten  testamentes 
wegen  betrieben,  ein  obligatorisches  Unterrichtsfach  ist  es  noch  viel 
weniger  als  das  griechische,  nur  der  befasse  sich  damit,  wer  es,  ohne 
schaden  für  seine  übrigen  Studien,  genau  lernen  zu  können  glaubt.  *'^ 

Zu  wünschen  ist  die  kenntnis  der  hauptsächlichsten  lebenden 
sprachen;  doch  quäle  man  sich  nicht  ab  mit  grammatik,  sondern 
suche  sie  durch  umgang  mitdem  volke  zu  erlernen. '^^^ 

Bekanntschaft  mit  dem  arabischen  würde  missionszwecken  dien- 
lich sein."' 

Andere  Unterrichtsfächer. 

§  41.  Von  anderen  Unterrichtsfächern  ist  für  diesen  Zeitraum 
kaum  die  rede,  so  weit  sie  betrieben  werden,  sind  sie  ganz  in  den 
dienst  des  Sprachunterrichts  zu  stellen,  teils  indem  sie  als  sachliche 
Vorbereitung  der  classikerlectüre  vorausgehen  (vgl.  §  35),  teils  indem 
gelegentliche  kurze  historische,  geographische,  auch  naturgeschicht- 
liche erläuterungen  bei  der  Interpretation  eingestreut  werden.  ^'^ 


sonent,  quantum  aetas  illa  patitur,  sint  facundi.  zu  vergleichen  anm. 
106,  114,  179.  über  die  mutterspraclie  im  schulgebrauche  jener  zeit: 
Müller  (cit.  anm.  179),  Weller  (cit.  anm.  189),  Wild,  der  stand  des  deutsch- 
sprachlichen Unterrichts  im  16n  Jahrhundert,  Leipzig  1875,  in  'pädagog. 
Sammelmappe',  lieft  4. 

2'"  trad.  disc.  3,  1  (VI  301):  si  quis  propter  vetus  Testamentum 
hebraeam  velit  cum  bis  coniungere,  nihil  impedio  bis  legibus:  si  satis 
putat  fore  temporis  ad  omnia,  si  se  incorrupte  eam  accepturum  con- 
fidit  .  .  certe  si  duos  Hebraeos  de  eodem  loco  consulas  raro  consentient. 
die  hebräische  spräche  hatte  nur  wenige  freunde  bis  zur  reformation. 
s.  K.  Schmidt,  gesch.  d.  päd.,  II  bd.,  Cöthen   1869,  s.  481. 

*2o  *trad.  disc.  3,  1  (VI  302):  in  sermone  qui  ore  totius  populi 
teritur,  nihil  necessum  est  artem  aut  regulas  formari;  ex  populo  ipso 
promptius  ac  melius  discetur. 

**'  s.  anm.  124.  den  humanisten  war  das  arabische  nicht  ganz 
fremd;  sie  übersetzten  namentlich  die  Schriften  der  groszen  arabischen 
ärzte.     s.   J.  Burckhardt  (cit.  anm.  13)  s.   196. 

"2  trad.  disc.  3,  2  (VI  308).  reclinen  wird  als  prüfstein  für  die  an- 
lagen trad.  disc.  2,  4  (VI  291)  empfohlen,  als  Unterrichtsfach  ist  es  für 
diesen  ersten  Zeitraum  nicht  genannt,     vgl.  §  51. 

(fortsetzung  folgt.) 
Kiel.  Fkanz  Kuypers. 


0,  Schulze:  über  einige  punkte  der  lateinischen  grammatik.       87 

6. 

ÜBER  EINIGE  PUNKTE  DER  LATEINISCHEN  GRAMMATIK. 


1.    Die  laute  des  lateinischen. 

Die  lateinischen  grammatiken  widmen  gewöhnlich  die  ersten 
Paragraphen  den  buchstaben  und  den  durch  sie  bezeichneten  lauten, 
und  je  nach  der  Wichtigkeit,  die  sie  diesen  dingen  beilegen,  fällt  die 
behandlung  mehr  oder  weniger  ausführlich  aus.  und  das  ist  ja  auch 
natürlich,  haben  wir  es  doch  mit  einer  toten  spräche  zu  thun ,  und 
hat  sich  doch  im  laufe  der  zeit  eine  gewisse  traditionelle  ausspräche 
gebildet,  die  wir  trotz  des  bewustseins  ihrer  fehlerhaftigkeit  uns 
schwer  entschlieszen  können  ganz  über  bord  zu  werfen,  daneben 
aber  hat  sich  freilich  auch  eine  andere  sitte  bei  vielen  erhalten,  deren 
fortbestehen  schwerer  zu  rechtfertigen  ist.  ich  meine  die  art  und 
weise,  wie  die  laute  eingeteilt  und  benannt  und  wie  schlieszlich  ihr 
lautwert  angegeben  wird,  vor  zwanzig  jähren  mochte  das  von  vielen 
beliebte  verfahren  noch  zu  entschuldigen  sein,  aber  heute,  wo  wir 
die  lehrbücher  der  phonetik  von  Sievers,  Trautmann,  Vietor  u.  a. 
und  für  das  lateinische  speciell  die  ausspräche  des  latein  von  Seel- 
mann besitzen,  da  dürfte  es  doch  endlich  angezeigt  sein,  auch  in 
diesen  Sachen  an  eine  durchgreifende  reform  zu  denken,  man  kann 
heute  unbedenklich  den  satz  aufstellen:  wer  über  die  laute  irgend 
einer  spräche  behauptungen  aufstellen  will,  der  kann  dies  nur  dann 
ungestraft  thun,  wenn  er  sich  mit  den  lehren  der  phonetik  vertraut 
gemacht  hat. 

Einer  der  gewöhnlichsten  fehler,  der  sich  in  älteren  büchern, 
aber  doch  auch  noch  in  guten  lateinischen  grammatiken  neueren 
datums  findet,  ist  die  Verwechslung  von  laut  und  buch- 
staben. sie  zeigt  sich  am  deutlichsten,  wenn  von  den  diphthongen 
die  rede  ist.  unter  diphthongen  versteht  man  die  Verbindung  zweier 
iaute,  aber  nicht  zweier  buchstaben.  in  allen  Wörtern  auf 
leren  schreiben  wir  jetzt  —  ob  mit  recht  oder  unrecht,  bleibe 
dahingestellt  —  ein  i  und  e  zur  bezeichnung  des  langen  i-lautes. 
ebenso  verhält  es  sich  mit  dem  worte  'liebe',  allerdings  stand  hier 
ursprünglich  ein  diphthong,  den  wir  noch  in  dialekten  bewahi't 
finden,  aber  neuhochdeutsch  ist  in  diesem  worte  nur  ein  einfacher 
i-laut  zu  hören,  und  wir  haben  deshalb  kein  recht,  von  einem 
diphthongen  zu  reden,  umgekehrt  kann  auch  ein  diphthong  durch 
einen  einzigen  buchstaben  bezeichnet  werden,  ich  erinnere  nur 
an  das  englische  no,  das  no",  und  name,  welches  ne'ra  lautet. 

Nicht  anders  ist  es  mit  den  buchstabenverbindungen  oe  und  ae. 
wo  diese  im  neuhochdeutschen  auftreten,  bezeichnen  sie  die  laute  ö 
und  ä,  z.  b.  in  Goethe,  Maedler  u.  a.  ä  und  ö  aber  sind  einfache 
vocale,  eine  thatsache,  von  der  sich  jeder  leicht  überzeugen  kann, 
wenn   er  diese  laute  lang,   übermäszig  lang  ausspricht  und  dabei 


88       0.  Schulze:  über  einige  punkte  der  lateinischen  grammatik. 

beobachtet,  dasz  die  zunge  immer  in  der  einmal  angenommenen  läge 
bleibt  und  nicht  in  eine  neue  Stellung  übergeht,  was  notwendiger 
weise  bei  der  ausspräche  eines  diphthongen,  der  Verbindung  zweier 
laute,  der  fall  ist. 

Wir  führen  nun  die  angaben  in  vier  neueren  grammatiken  an. 

1)  'Doppelvocale  (diphthonge)  sind  ae,  oe ,  au.' 

2)  'Zwei  zu  einem  laute  verbundene  vocale  nennt  man  doppel- 
lauter (diphthongus).  die  gewöhnlichen  diphthonge  sind  ae,  oe,  auf 
ei,  eu,  ui  sind  altlateinische  diphthonge,  die  sich  nur  noch  in  inter- 
jectionen  wie  hei,  heu,  hui  und  in  den  Wörtern  seu  (für  sive),  neu 
(neve),  neuter,  ceu,  cui,  huic  finden,  sollen  die  beiden  laute  eines 
diphthongen  getrennt  gesprochen  werden,  so  setzt  man  zwei  punkte 
über  den  zweiten,  z.  b.  afe'r,  pofe'ma,  doch  geschiebt  dies  nur  bei  a* 
und  oe.' 

3)  'Stets  lang  sind  die  mit  zwei  einfachen  selbstlautern 
geschriebenen,  aber  nur  einen  laut  bildenden  doppeUelbstlaute 
(diphthonge)  ae  (=  ä),  oe  (=  ö),  au. 

Zus.  1.  die  doppelselbstlaute  ei,  eu,  ui  sind  wesentlich  nur 
dichterisch;  in  der  ungebundenen  rede  trennt  man  sie  besser,  auch 
ae,  oe,  au  sind  bisweilen  getrennt  zu  lesen,  besonders  in  griechischen 
Wörtern,  wie  afe'r  luft,  pofe'ma  gedieht,  Meneläus.' 

4)  'Diphthonge  entstehen  aus  der  Verbindung  eines  harten 
(a,  0,  e)  und  eines  weichen  (u,  i)  vocals,  die  gebräuchlichsten 
sind  au,  ae  (urspr.  ai)  und  oe  (urspr.  oi).  seltener  kommen  eu  und 
ei  vor.    die  diphthonge  sind  immer  lang. 

Anm.  soll  ein  diphthong  getrennt  gesprochen  werden,  so  setzt 
man  über  den  zweiten  vocal  zwei  punkte  (trema),  pofjta.' 

Aus  der  fassung  dieser  regeln  geht  zur  evidenz  hervor,  dasz 
alle  vier  grammatiker  die  Verbindung  zweier  vocal buchstaben  für 
einen  diphthong  halten,  nr.  3  gibt  die  ausspräche  von  ae  und  oe 
ausdrücklich  =  ä,  ö  an,  während  die  andern  stillschweigend 
eine  solche  ausspräche  annehmen,  denn  wollten  sie  eine  derartige 
ausspräche  verwerfen,  so  hätten  sie  in  den  von  ihnen  angefügten  aus- 
spracberegeln  dies  ausdrücklich  bemerken  müssen,  sie  hätten  also 
angeben  müssen,  dasz  coepi  und  caecus  nicht  köpi  und  käkus  lauteten, 
sondern  ko'pi  und  ka'kus,  oder  ko'^pi  und  ka^kus,  also  denselben 
laut  wie  unser  heute  (=  ho'te,  ho^te)  und  eifer  (==  a'fer,  a^fer) 
haben. 

Wenn  Seelmann  schriebe  'diphthonge  sind  ae,  oe,  au',  so 
würden  wir  selbstverständlich  nicht  den  geringsten  anstosz  an  diesen 
Worten  nehmen,  da  er  für  ae  und  oe  wirklich  eine  diphth  ongische 
ausspräche  in  der  classischen  zeit  annimmt  und  coepi  und  caecus  in 
der  eben  angegebenen  weise  (eine  Verschmelzung  von  a,  o  mit 
trübem  i)  ausspricht. 

Sollte  man  nach  dem  angeführten  noch  zweifeln,  dasz  hier  wirk- 
lich eine  Verwechslung  von  laut  und  buchstaben  vorliegt,  so  geht 
diese  thatsache  noch  aus  andern  worten  hervor,  ich  will  kein  groszes 


0.  Schulze :  über  einige  punkte  der  lateinischen  grammatik.      89 

gewicht  legen  auf  den  satz  in  nr.  2:  'sollen  die  beiden  laute  eines 
diphtbongen  getrennt  gesprochen  werden,  so  setzt  man  zwei  punkte 
über  den  zweiten.'  bekanntlich  kann  man  über  einen  laut  keine 
punkte  setzen,  sondern  nur  über  einen  buchstaben.  in  hohem 
grade  anstöszig  aber  erscheint  mir  der  ausdruck  'die  vocale  eines 
diphthongen  trennen',  wie  es  in  aer,  pofe'ma,  Menelaus  der  fall  sei. 
denn  was  ist  ein  diphthong?  eine  Verschmelzung  zweier  vocale,  aber 
eine  solche,  dasz  dabei  die  beiden  laute  eine  silbe  bilden,  dasz  der 
eine  laut  einen  starken  ton  hat,  und  der  andere  laut  ihm  gleichsam 
nur  angehängt  wird,  die  laute  eines  diphthongen  trennen  kann  doch 
nur  die  bedeutung  haben:  die  natur  des  diphthongen  zerstören,  seine 
beiden  eng  verschmolzenen  laute  auseinanderreiszen  und  auf  zwei 
Silben  verteilen,  war  denn  aber  in  afe'r,  poöma,  Menelaus  ursprüng- 
lich eine  diphthongische  ausspräche  da?  warum  sagt  man  denn 
nicht  einfach,  dasz  das  trema  hier  ein  zeichen  ist,  um  eine  ausspräche 
wie  är,  pöta  oder  eine  diphthongische  wie  a'r,  po'ta  zu  verhindern? 
die  oben  angeführten  angaben  der  grammatiker  sind  nur  verständ- 
lich ,  wenn  man  unter  diphthong  eine  aufeinanderfolge  zweier  vocal- 
buchstaben  versteht. 

An  einer  andern  stelle  vermiszt  man  die  genauigkeit  im  aus- 
druck. wenn  es  oben  (3)  heiszt:  'die  doppelselbstlaute  ei,  eu,  ui 
sind  wesentlich  nur  dichterisch ,  in  der  ungebundenen  rede  trennt 
man  sie  besser ;  auch  ae,  oe,  au  sind  bisweilen  getrennt  zu  lesen',  so 
ist  man  wohl  zu  dem  Schlüsse  berechtigt,  dasz  wörter  wie  hei,  ceu, 
huic  zweisilbig  gelesen  werden  sollen,  denn  darauf  könnte  doch 
blosz  eine  trennung  der  diphthongvocale  hinauslaufen,  aber  eine 
bemerkung  an  einer  andern  für  den  lehrer  bestimmten  stelle,  dasz 
in  den  Wörtern  neu,  seu,  ceu  u  wahrscheinlich  'nur  ein  schwacher 
nachklang  war',  bringt  mich  auf  den  gedanken,  dasz  doch  vielleicht 
der  Verfasser  die  einsilbigkeit  gewahrt  wissen  will  und  für  eu,  ei,  ui 
eine  diphthongische  Verbindung  verlangt  von  e  -4-  u,  e  -(-  i> 
u  -{-  i,  nicht  aber  eine  ausspräche,  wie  sie  sich  in  den  deutschen 
Wörtern  beute  (o',  o^,  o°)  und  leider  (a',  a%  a^),  oder  bei  der 
früheren  österreichischen  Schreibung  uibung  (ü)  findet. ' 

Ferner  möchte  ich  den  satz  in  nr.  4  beanstanden :  'diphthonge 
entstehen   durch   die   Verbindung  eines  harten  und  eines  weichen 


*  wie  aus  dem  oben  angeführten  wohl  zur  genüge  hervorgeht, 
kommt  es  mir  hier  nur  darauf  an,  zu  untersuchen,  ob  die  angaben  in 
einzelnen  grammatiken  sich  mit  dem  vereinigen  lassen,  was  wir  über 
die  natur  der  laute  im  allgemeinen  wissen,  fern  liegen  mir  durchaus 
die  fragen,  wie  die  ausspräche  zu  einer  bestimmten  zeit  gewesen,  ob 
die  und  die  ansieht  berechtigt  oder  nicht  berechtigt  ist.  zur  Vermeidung 
von  misverständnissen  möchte  ich  aber  doch  in  betreff  des  obigen 
Punktes  hinzufügen,  dasz  mir  wohlbekannt  ist,  dasz  eine  ganze  reihe 
alter  grammatiker,  Terentianus  Maurus,  Marius  "Victorinus,  Mallius 
Theoilorus  u.  a.  eu  einfach  als  diphthong  ansehen,  dasz  Birt  bei  einigen 
spätem  dichtem  zweisilbigkeit  des  eu  nachgewiesen,  dasz  Stowasser 
auf  Consentius  fuszend  neuter  als  dreisilbig  bezeichnet  u.  dgl,  m. 


90      0.  Schulze:  über  einige  punkte  der  lateinischen  grammatik. 

vocals  (i,  u).'  abgesehen  davon,  dasz  diphthonge  auch  eine  andere 
Verbindung  aufweisen  können,  ist  auch  dieser  ausdruck  nicht  glück- 
lich gewählt,  hart  und  weich  sind,  auf  die  laute  angewandt,  bild- 
liche ausdrücke,  die  das  wesen  der  sache  gar  nicht  berühren,  bei 
den  consonanten  mag  man  sie  sich  zur  not  noch  gefallen  lassen, 
wenn  man  unter  hart  stimmlos,  unter  weich  stimmhaft  versteht, 
aber  in  hinsieht  auf  die  vocale,  die  alle  stimmhaft  sind,  dürften  diese 
auch  in  griechischen  grammatiken  auftretenden  ausdrücke  kaum  zu 
empfehlen  sein,  sollen  u  und  i  deshalb  weich  sein,  weil  sie  leicht 
in  einen  consonanten  übergehen  können?  oder  weil  sie  sich  leicht 
einem  andern  vocal  zur  bildung  eines  diphthongen  anhängen?  die 
definition  von  diphthong  musz  und  kann  so  beschafifen  sein,  dasz  sie 
für  jede  spräche  passt. 

Die  behandlung  der  consonanten  ist  in  den  einzelnen büchern 
sehr  verschieden  und  krankt  im  allgemeinen  ebenfalls  daran,  dasz 
alte  unzutreffende  ausdrücke  und  erklärungen  beibehalten  werden, 
ich  rechne  hierher  z.  b.  folgende  sätze:  'die  buchstaben  bezeichnen 
entweder  solche  laute ,  welche  für  sich  allein  hörbar  sind ,  und  diese 
■werden  dann  vocale  genannt  (vocales  selbstlauter);  oder  solche, 
welche  nur  in  Verbindung  mit  andern  hörbar  sind,  und  diese  heiszen 
consonanten  (consonae  mitlauter).' 

'Die  einfachen  consonanten  auszer  h  teilt  man  ein  nach  ihrer 
lautbarkeit  in  tönende,  d.  h.  solche,  die  auch  ohne  vocal  vernehmbar 
sind  (liquidae),  1,  m,  n,  r,  und  stumme,  d.  h.  solche,  deren  laut  ohne 
vocal  nicht  deutlich  vernehmbar  ist  (mutae).  das  sind  alle  übrigen 
consonanten.' 

Warum  soll  denn  ein  f-  oder  s-laut  nicht  ebenso  deutlich  ver- 
nehmbar sein  wie  ein  1  oder  r?  ist  es  denn  ferner  richtig,  dasz  con- 
sonanten nur  in  Verbindung  mit  andern  lauten  hörbar  werden'?  ich 
glaube,  nur  dem  ausdruck  consonant  zu  liebe  hält  man  an  einer 
solchen  ganz  und  gar  irrigen  ansieht  fest. 

Ferner  werden  die  consonanten  eingeteilt  in  'mutae  (b,  p,  g,  c, 
d,  t)  und  semi vocales  (liquidae  1,  r;  nasales  m,  n;  spirantes  f,  v, 
j,  s)'  oder  von  einem  andern  in  'stumme,  mutae,  und  halbtönende, 
semisonantes  (flüssige,  liquidae,  1,  r;  näselnde,  nasales,  m,  n; 
zischende,  sibilantes,  s;  hauchende,  spirantes,  f,  h;  mittellaute, 
semivocak'S,  v,  j)'.  ein  dritter  nennt  alle  consonanten  mit  ausnähme 
von  h,  1,  m,  n,  r,  mutae. 

Alte  lateinische  grammatiker  teilen  die  consonanten  in  mutae 
und  semivocales  ein.  von  den  ersteren  behaupten  sie,  dasz  sie 
allein  nicht  ausgesprochen  werden  könnten,  zu  den  zweiten 
rechnen  sie  f,  1,  m,  n,  r,  s,  x  und  sagen:  semivocales  quae  sunt? 
quae  quidem  habent  partem  vocalitatis,  cum  per  se  proferuntur,  sed 
per  se  syllabam  facere  non  possunt  (Marii  Victorini  ars  grammatica, 
ed.  Keil,  grammatici  latini  VI  s.  195,  11).  wenn  man  nun  beachtet, 
dasz  sie  von  den  vocalen  sagen,  sie  könnten  allein  ausgesprochen 
werden  und  hätten  die  fähigkeit,  silben  zu  bilden,  so  ist  vielleicht 


0.  Schulze :  über  einige  punkte  der  lateinischen  grammatik.       91 

der  sohlusz  nicht  unberechtigt,  dasz  f,  1,  m,  n,  r,  s,  x  nur  des- 
halb semivocales  genannt  werden,  weil  ihnen  die  eine  eigen- 
schaft  der  vocale  zugesprochen,  aber  die  andere,  das  silbenbilden, 
versagt  wird. 

Durch  die  Untersuchungen  der  phonetiker  sind  wir  in  den  stand 
gesetzt,  uns  ein  ganz  anderes  urteil  über  die  natur  der  laute  zu 
bilden,  als  dies  den  alten  grammatikern  möglich  war.  wohl  staunen 
wir  manchmal  über  einzelne  feine  bemerkungen  bei  Terentianus 
Maurus,  Velius  Longus  u.  a.,  aber  eine  gründliche  systematische  be- 
handlung  des  stofifes  konnte  zu  ihrer  zeit  kaum  gelingen,  dazu  fehlte 
es  ihnen  an  den  nötigen  kenntnissen  über  die  function  der  organe, 
die  bei  der  lautbildung  in  betracht  kommen,  und  über  schwierige 
akustische  Verhältnisse,  über  die  wir  erst  durch  neuere  Untersuchun- 
gen aufgeklärt  worden  sind,  im  folgenden  will  ich  versuchen,  die 
hauptgesichtspunkte  anzugeben,  mit  einigen  andeutungen  darüber, 
wie  ich  mir  die  behandlung  in  der  schule  denke. 

Die  laute  werden  eingeteilt  in  stimmhafte  und  stimmlose, 
d.  h.  solche,  bei  denen  die  Stimmbänder  tönen,  und  solche,  bei 
denen  sie  nicht  in  Schwingungen  versetzt  werden,  man  kann  den 
Schülern  den  unterschied  zwischen  stimmhaft  und  stimmlos  leicht 
klar  machen,  man  läszt  sie  mit  den  bänden  die  obren  zuhalten 
und  dann  einen  stimmhaften  laut  und  einen  stimmlosen  sprechen,  das 
würde  der  fall  sein,  wenn  man  einen  vocal  und  dann  ein  f  spricht, 
um  den  unterschied  recht  deutlich  zu  machen,  lasse  man  aber  den 
scbüler  laut  sprechen  —  denn  beim  flüstern  vibrieren  die  Stimm- 
bänder überhaupt  nicht  —  und  ferner  jeden  laut  mindestens  vier 
secunden  aushalten,    man  lasse  ihn  also  bei  zugehaltenen  obren 

sprechen  u f o f usw.    er  wird  finden, 

dasz  man  bei  dem  aussprechen  der  vocale  ein  eigentümliches 
summen  vernimmt,  das  vom  vibrieren  der  Stimmbänder  herrührt, 
während  beim  f  nur  die  luft  ausströmt  ohne  jenes  eigentümliche 
geräusch.  ferner  wird  er  finden,  dasz  einzelne  buchstaben,  z.  b.  s, 
stimmhaft  (gleich  dem  summen  einer  biene)  und  stimmlos  aus- 
gesprochen werden  können. 

Es  geht  aus  dem  eben  angeführten  hervor,  dasz  im  all- 
gemeinen stimmhaft  gleich  weich,  stimmlos  gleich  hart  ist,  aber 
auch,  dasz  die  beiden  ausdrücke  weich  und  hart  kaum  das  wesen 
der  Sache  bezeichnen,  ich  füge  absichtlich  im  allgemeinen  hinzu, 
denn  im  deutschen  sprechen  wir  die  sogenannten  weichen  con- 
sonanten  am  ende  hart,  das  heiszt  stimmlos  (land,  ab,  schlesisch :  tag), 
auszerdem  haben  die  meisten  Mittel-  und  Süddeutschen  die  gewohn- 
heit,  mindestens  80  procent  ihrer  d,  g,  b  nicht  stimmhaft,  sondern 
stimmlos  zu  sprechen,  allerdings  oft  mit  weniger  expirationskraft 
als  t ,  k ,  p.  sehr  häufig  jedoch  begnügen  sie  sich  auch  mit  einem 
mittleren  stimmlosen  laute  für  beide,  und  deshalb  macht  es 
auf  einen  Norddeutschen  oft  den  eindruck,  als  ob  der  Thüringer 
p  für  b  und  b  für  p  spreche,    doch  eine  nähere  betrachtung  dieses 


92      0.  Schulze :  über  einige  punkte  der  lateinischen  grammatik. 

allerdings  höchst  interessanten  punktes  würde  uns  hier  zu  weit  von 
unserm  thema  abbringen. 

Die  phonetik  teilt  die  laute  ferner  ein  in  klanglaute  (oder 
reine  stimmtonlaute)  und  in  geräuschlaute,  die  klanglaute  ent- 
sprechen den  vocalen,  die  geräuschlaute  den  consonanten.  die  beiden 
fremden  namen  kann  man  beibehalten;  es  wird  aber  gut  sein,  die 
ausdrücke  selb&tlauter  und  mitlauter  zu  meiden. 

Klanglaute  heiszen  die  vocale  deshalb,  weil  sie  aus  einem 
reinen  stimmton  bestehen,  während  der  akustische  Charakter 
der  consonanten  ein  geräusch  aufweist,  eine  mittelgattung  zwi- 
schen klang-  und  geräuschlauten  bilden  in  dieser  hinsieht  die 
stimmhaften  geräuschlaute,  wie  z.  b.  stimmhaftes  1,  m,  n,  r,  s 
usw.,  d.  h.  laute,  die  ein  geräusch  enthalten,  die  aber  doch  neben 
diesem  geräusche  noch  einen  stimmton  aufweisen,  ich  glaubte  zu- 
erst, dasz  die  alten  grammatiker  diese  laute  wegen  ihrer  vocal- 
haftigkeit  semivocales  genannt  hätten,  überzeugte  mich  jedoch  bald 
von  meinem  irrtume,  als  ich  unter  diesen  semivocales  das  stimm- 
lose f  fand  und  das  im  latein  wahrscheinlich  immer  stimmlos  aus- 
gesprochene s  und  weiter  sah,  dasz  die  stimmhaften  medien  zu  den 
mutae  gerechnet  wurden. 

Die  consonanten  werden  weiter  eingeteilt  in  verschlusz- 
laute,  engelaute  und  raittellaute. 

Verschluszlaute  sind  b  p,  d  t,  g  k.  bei  b  p  wird  der  ver- 
schlusz  durch  die  lippen,  bei  d  t  durch  zunge  und  zahne,  bei  g  k 
durch  Zungenwurzel  und  gaumensegel  hergestellt,  auszerdem  ist  der 
nasencanal  geschlossen,  man  kann  sich  leicht  von  diesem  doppelten 
verschlusse  überzeugen,  wenn  man  einen  dieser  laute  spricht,  den 
verschlusz  längere  zeit  anhält  und  nun  beobachtet,  dasz  die  luft 
nirgends  entweichen  kann ,  weder  durch  den  mund  noch  durch 
die  nase. 

Engelaute  sind  alle  jene  laute,  bei  denen  der  luftstrom  durch 
eine  enge  gehen  musz,  w  (v)  f,  s,  ch,  j.  bei  ch  haben  wir  zwei  laute 
zu  unterscheiden,  den  stimmlosen  j-laut ,  sogenannten  ich-laut,  und 
den  laut  des  ch  nach  a  (o,  u),  den  ach-laut. 

Mittellaute  endlich  heiszen  diejenigen  laute,  bei  denen  zwar 
ein  verschlusz  gebildet  wird,  bei  denen  aber  die  luft  entweichen 
kann,  es  sind  1  m  n  g  r.  bei  1  ist  ein  verschlusz  da  durch  Zungen- 
spitze und  zahne,  aber  die  luft  entweicht  an  den  zungenrändern; 
bei  m  verschlusz  durch  die  lippen,  bei  n  verschlusz  durch  Zungen- 
spitze und  Zähne,  bei  ij  (dem  laut,  den  wir  durch  ng  wiedergeben 
in  angst  oder  durch  n  in  enkel)  verschlusz  durch  zungenwurzel  und 
gaumensegel.  die  luft  entweicht  bei  den  drei  letzten  durch  die 
nase.  beim  zungen-r  endlich  momentaner  verschlusz  durch  die 
zunge  und  zahne,  beim  Zäpfchen  r  ein  solcher  durch  zäpfchen  und 
zungenwurzel. 

Nach  den  Organen,  die  bei  der  hervorbringung  der  laute  haupt- 
sächlich beteiligt  sind,  kann  man  diese  einteilen  in  lippenlaute: 


0.  Schulze:  über  einige  punkte  der  lateinischen  grammatik.      93 

b  p  m  f  v;  Zahnlaute:  d  t  n  s  seh;  Zungenlaute:  1  r;  gaumen- 
laute:  g  k  j  ch  r. 

Nach  dem  soeben  ausgeführten  ergibt  sich  folgende  fassung  für 
die  einteilung  der  laute : 

Die  laute  der  lateinischen  spräche  werden  eingeteilt  in 

I.  vocale  (klanglaute) 

a)  einfache  vocale:  i  e  a  o  u  y  ae  oe, 

b)  doppelvocale  oder  diphthonge:  au,  eu,  ui,  ei. 

II,  consonanten  (geräuschlaute). 


verschluszlaute 
explosivae 

engelaute 
fricativae 

mitellaute 
liquidae 

stimmh. 

stimml. 

stimmh. 

stimml. 

stimmh. 

stimml. 

lippenlaute 
labiales 

b 

P 

V 

f 

m 

— 

Zahnlaute 
dentales 

d 

t 

s 

s  seh 

n 

— 

Zungenlaute 
linguales 

— 

— 

— 

— 

1  r 

— 

gaumenlaute 
palatales 

S 

c  k  q 

j  (i) 

ich-ch 
ach-ch 

n  g  r 

— 

Ich  habe  ae,  oe  unter  die  vocale  gestellt,  vpeil  man  diese  buch- 
stabenverbindungen  gewöhnlich  ä ,  ö  spricht,  ich  zweifle  aber  nicht 
im  mindesten  daran,  dasz  sie  im  classischen  latein  diphthongisch 
lauteten,  wer  sie  also  jetzt  als  diphthonge  aussprechen  will ,  musz 
sie  selbstverständlich  auch  den  diphthongen  einreihen,  aber  ihren 
lautwert  als  ä,  ö  zu  bezeichnen  und  sie  trotzdem  den  diphthongen 
zuzuweisen,  ist  auf  jeden  fall  ungerechtfertigt. 

Auch  bei  den  consonanten  habe  ich  auf  die  jetzt  bei  vielen 
übliche  ausspräche  rücksicht  genommen  und  ich  habe  deshalb  nicht 
nur  ein  stimmloses,  sondern  auch  ein  stimmhaftes  s  angegeben,  des- 
gleichen ein  linguales  und  ein  palatales  (uvulares)  r.  eine  weitere 
concession  habe  ich  der  jetzigen  ausspräche  gemacht,  indem  ich  zwei 
ch,  einen  ich-laut  und  einen  ach- laut  anführe,  durch  i)  bezeichne 
ich  den  laut  des  n  in  Wörtern  wie  pingo. 

Über  h  heiszt  es  in  einzelnen  grammatiken :  *h  ist  kein  eigent- 
licher consonant,  sondern  nur  ein  hauchzeichen.'  der  sache  nach  bin 
ich  vollständig  mit  dieser  angäbe  einverstanden,  nur  glaube  ich,  dasz 
sie  den  schülern  ohne  eine  eingehende  erläuterung  vollständig  un- 
verständlich ist.  der  consonant  h  entsteht  durch  eine  reibung  der 
luft  an  den  Stimmbändern,  die  nicht  eng  genug  eingestellt  werden, 
um  tönen  zu  können,  über  das  tonlose  dieses  gutturalen  h  kommt 
man  leicht  ins  klare,  wenn  man  in  habe  dashsehrlang  spricht, 
bei  dem  lateinischen  habeo  aber  soll  das  h  gar  nicht  gesprochen 
werden,   sondern   die   Stimmbänder   sollen   gleich   tönend  zum  a 


94       0.  Schulze:  über  einige  punkte  der  lateinischen  grammatik. 

mit  einem  hauche  einsetzen,  irgend  wo  habe  ich  gelesen,  dasz 
wir  im  deutschen  eine  solche  ausspräche  nicht  hätten,  mir  ist  sie 
ganz  geläufig,  auch  habe  ich  sie  in  Mitteldeutschland  oft  genug  be- 
obachtet, es  will  mir  nun  scheinen,  als  ob  man  in  mancher  gram- 
matik im  Verhältnis  zu  andern  dingen  —  ich  erinnere  an  die  aus- 
spräche von  t  und  c  —  bei  h  ein  wenig  zu  stark  ins  zeug  gienge. 
von  dem  Standpunkte  einer  compromissaussprache  aus  würde  ich 
es  für  keinen  fehler  halten,  wenn  die  bemerkungen  über  h  weg- 
fielen und  die  ausspräche  hier  jedem  nach  seiner  gewohnheit  über- 
lassen würde,  consequenter  weise  hätte  freilich  auch  dann  der 
stimmlose  gutturale  engelaut  h  in  der  obigen  tabelle  an- 
gegeben werden  sollen  mit  einer  bemerkung  über  gehauchte  vocale. 
Für  mittellaute  habe  ich  den  alten  namen  liquidae  in  ermange- 
lung  eines  besseren  beibehalten,  freilich  habe  ich  nicht  dabei  an 
die  erklärung  der  alten  grammatiker,  z.  b.  des  Charisius,  gedacht: 
propterea  liquidae  dictae  sunt,  quod  minus  aridi  habeant  et  in  pro- 
nuntiatione  liquescant  et  syllabam  positione  longam  facere  non 
possint,  si  in  eadem  syllaba  ponuntur  cum  muta  (Keil  gr.  lat.  I  8,  G). 

2.    Über  die  einteilung  der  sätze. 

'Jeder  hauptsatz  drückt  entweder  eine  aussage  oder  ein  be- 
gehren aus'  heiszt  es  in  einer  lateinischen  grammatik. 

Manchmal  ist  es  für  das  Verständnis  einer  sprachlichen  erschei- 
nung  nicht  gerade  fördersam,  wenn  die  grammatik  sich  allzu  kui-z 
faszt  oder  verschiedene  Sachen,  die  vielleicht  ihrer  natur  nach  wenig 
mit  einander  zu  thun  haben ,  unter  gemeinsame  gesichtspunkte 
bringen  will,  das,  fürchte  ich,  ist  auch  bei  der  angegebenen  ein- 
teilung der  Sätze  der  fall,  drücken  die  sätze  entweder  eine  aussage 
oder  ein  begehren  aus,  so  kommt  man  gleich  in  Verlegenheit  bei 
einem  fragesatze.  veniesne?  wirst  du  kommen?  enthält  dies  eine 
aussage  oder  einen  wünsch?  die  angeführte  grammatik  läszt  uns 
darüber  im  unklaren,  wir  wenden  uns  deshalb  an  eine  andere ,  und 
da  es  bei  dieser  frage  nicht  auf  die  spräche  ankommt,  an  eine 
deutsche,  diese  sagt:  'die  fragesatze  gehören  unter  die  begehrungs- 
sätze,  denn  die  frage  ist  ein  begehren  nach  auskunft.' 

Ein  begehren  nach  auskunft  schlieszt  allerdings  ein  fragesatz 
ein,  denn  derjenige,  der  fragt,  will  gewöhnlich  auch  eine  auskunft 
haben,  frage  ich:  wirst  du  kommen?  so  will  ich  wissen,  ob  ein 
anderer  kommen  wird  oder  nicht,  .aber  diese  art  von  wünsch  ist 
doch  wesentlich  verschieden  von  dem,  was  wir  gewöhnlich  als 
wünsch  auffassen  in  Sätzen  wie:  mögest  du  lange  leben!  möge  das 
glück  dir  immer  hold  sein!  wäre  'wirst  du  kommen?'  ein  satz 
dieser  art,  so  müste  er  zugleich  den  wünsch  enthalten,  dasz  ein 
anderer  kommen  soll  oder  nicht,  das  liegt  natürlich  nicht  in 
solchen  fragesätzen,  denn  die  frage  enthält  blosz  ein  erkundigen, 
ob   etwas   geschehen  wird  oder  nicht,    das  begehren  hat  also  mit 


0.  Schulze :  über  einige  punkte  der  lateinischen  grammatik.       95 

dem  inhalt  des  Satzes  gar  nichts  zu  thun,  es  liegt  vollständig  auszer- 
halb,  und  deshalb  kann  man  fragesätze  schwerlich  unter  die  be- 
gehrungssätze  stellen. 

Eine  andere  lateinische  grammatik  sagt:  die  sätze  zerfallen  in 
'Urteilssätze  (wenn  diese  in  frageform  stehen,  heiszen  sie  fragesätze) 
und  begehrungssätze'. 

Auch  gegen  diese  erklärung  machen  sich  bedenken  geltend,  es 
handelt  sich  zuerst  um  das  wort  'urteil',  mag  man  nun  sagen:  'das 
urteil  ist  eine  aussage  über  die  Verbindung  oder  trennung  von  be- 
griffen' oder  'in  dem  urteil  tritt  ein  bleibendes  oder  bedingendes 
glied  oder  das  ganze  des  begriffsinhalts  als  subject  den  veränder- 
lichen oder  bedingten  gliedern  oder  der  summe  dieser  teile  als  prä- 
dicaten  gegenüber'  (Lotze)  —  auf  jeden  fall  fassen  wir  auch  im 
gewöhnlichen  leben  urteil  als  die  form  auf,  durch  welche  einem 
gegenstände  irgend  etwas  beigelegt  oder  nicht  beigelegt,  von  irgend 
einem  gegenstände  etwas  behauptet  oder  nicht  behauptet  wird, 
kann  man  dies  in  form  einer  wirklichen  frage  thun?  das  ist  ein- 
fach unmöglich,  wenn  wir  auch  hier  subject,  prädicat  und  copula 
haben,  nicht  viel  besser  würde  es  sein,  wenn  wir  statt  'urteilssatz' 
aussage-  oder  behauptungssatz  einsetzten,  auch  dann  würde  man 
den  fragesatz  nicht  unterbringen  können,  wenn  sich  aber  solche 
Schwierigkeiten  bei  der  Classification  zeigen,  warum  sollen  wir  dann 
durchaus  an  einer  einteiiung  festhalten,  die  freilich  sehr  alt  sein  mag, 
aber  auch  dafür  recht  dunkel  ist?  nichts  hindert  uns,  den  aussage- 
und  begehrungssätzen  die  fragesätze  als  gleichberechtigt  an  die  seite 
zu  stellen  und  —  noch  ein  paar  andere  arten  sätze  hinzuzufügen. 

In  einer  sehr  verbreiteten  lateinischen  grammatik  werden  die 
sätze  der  annähme,  der  einräumung  oder  des  Zugeständnisses  gleich- 
falls unter  die  begehrungssätze  gestellt,  'sit  hoc  verum  gesetzt, 
dasz  es  wahr  ist,  mag  es  immerhin  wahr  sein,  ut  desint  vires,  tarnen 
est  laudanda  voluntas.' 

Diese  einteiiung  ist  meines  erachtens  nicht  zu  rechtfertigen, 
wenn  wir  einen  satz  haben  wie  'gesetzt,  angenommen,  dasz  er  diesen 
mord  begangen  hat',  so  könnte  dieser  satz  doch  nur  unter  die  be- 
gehrungssätze kommen,  wenn  ich  irgendwie  den  wünsch  hinein- 
legte, dasz  die  betreffende  person  diesen  mord  begangen  habe,  viel- 
leicht liesze  sich  hierbei  eine  mildere  form  wählen,  wie:  ich  wünsche 
in  diesem  augenblick  einmal,  dasz  er  den  mord  begangen  hat,  er 
soll  einmal  den  mord  begangen  haben,  erklärlich  würde  diese  ein- 
teiiung nur  dann  sein,  wenn  sich  nachweisen  liesze,  dasz  im  lateini- 
schen dem  conjunctive  immer  ein  wünsch  zu  gi'unde  liege,  aber 
auch  dann  würden  nicht  alle  bedenken  geschwunden  sein,  da  doch 
nun  einmal  von  Sätzen  der  annähme,  der  einräumung  oder  des  Zu- 
geständnisses die  rede  ist,  und  nicht  der  versuch  gemacht  wird,  diese 
als  unter  die  Wunschsätze  gehörend  zu  erklären,  klarer  und  ein- 
facher würde  die  Sache  auf  jeden  fall  werden,  wenn  es  hiesze:  da 
der  conjunctiv  der  modus  der  nichtwirklichkeit  oder  des  gedachten 


96       0.  Schulze:  über  einige  punkte  der  lateinischen  gramma,tik. 

ist,  so  steht  er  in  Sätzen,  die  einen  wünsch,  eine  annähme  oder  eine 
einräumung  ausdrücken ;  und  consequenter  weise  müsten  dann  die 
Sätze  überhaupt  eingeteilt  werden  in  aussage- ,  frage- ,  begehrungs-, 
annähme-  und  einräumungssätze. 

3.    Concretum  und  abstractum. 

In  dieser  Zeitschrift  1896  s.  302—304  hat  R.  Gast  einen  artikel 
veröffentlicht  'noch  einmal  concretum  und  abstractum',  in  welchem 
er  seine  schon  früher  vorgetragenen  ansichten  über  diesen  punkt 
näher  ausführt  und  an  einige  bemerkungen  anknüpft,  die  sich  in 
meinem  artikel  'der  ausdruck  begriff  in  unseren  grammatiken'^  be- 
finden, da  die  Sache  nicht  des  interesses  für  die  lateinische  gram- 
matik  entbehrt,  so  möge  mir  der  Verfasser  freundlichst  gestatten, 
dasz  ich  kui'z  hier  seine  deduction  wiederhole  und  einige  bemer- 
kungen zur  rechtfertigung  des  Standpunktes  hinzufüge,  den  ich  in 
dieser  frage  einnehme.  Gast  sagt:  'es  ist  falsch,  Wörter  als  con- 
creta  und  abstracta  zu  bezeichnen ,  denn  concret  und  abstract  sind 
nicht  die  wörter,  sondern  die  begriffe,  deren  träger  die  Wörter  sind. 
Wörter  können  concreta  und  abfitracta  nur  bezeichnen,  können 
nur  in  concreter  oder  abstracter  bedeutung  gebraucht  werden. 

'Es  ist  falsch,  dem  concretum  das  gebiet  des  sinnlich  wahrnehm- 
baren, dem  abstractum  das  des  nicht  sinnlich  wahrnehmbaren  zuzu- 
weisen und  damit  concretum  und  abstractum  von  einander  zu  trennen, 
einander  gegenüberzustellen,  denn  da  das  abtractum  durch  unser 
denken  aus  dem  concretum  gewonnen  wird,  gehören  die  beiden  ganz 
eng,  so  zu  sagen  paarweis  zu  einander,  gehört  demnach  das  con- 
cretum dem  gebiet  des  sinnlich  wahrnehmbaren  an,  so  ist  mit  seinem 
abstractum  dasselbe  der  fall  und  umgekehrt. 

'Beweis  für  die  Zusammengehörigkeit  von  concretum  und 
abstractum  ist  der  umstand,  dasz  die  spräche  zur  bezeichnung  bei- 
der sich  eines  und  desselben  wortes  bedienen  kann.' 

Darauf  sucht  er  dies  zu  beweisen  an  den  drei  Substantiven 
Demosthenes,  claviertaste,  gas,  die  ich  als  solche  angeführt  hatte, 
die  man  wohl  stets  als  concreta  auffassen  müsse,  bezeichnet  Demo- 
sthenes ein  bestimmtes  einzelwesen,  so  wird  nach  ihm  dieser  name 
in  concretem  sinne  gebraucht,  sage  ich  dagegen :  Demosthenes 
war  ein  beliebter  name  —  oder :  Demosthenesse  (männer 
des  namens  Demosthenes)  hat  es  viele  gegeben  —  oder: 
Demosthenesse  (männer  wie  D.)  hat  es  wenige  gegeben, 
so  wird  der  name  in  abstractem  sinne  verwandt,  in  dem  letzten 
beispiele  sind  die  merkmale  von  Demosthenes,  einem  einzelwesen, 
abstrahiert,  und  man  kann  sich  daraus  einen  typus  bilden,  sich 
eine  ganze  gattung  solcher  menschen  denken,  in  concretem 
sinne  heiszt  es  ferner:  mir  ist  eine  weisze  claviertaste  zer- 


«  in  diesen  jahrb.  1895  s.  564. 


0.  Schulze:  über  einige  punkte  der  lateinischen  grammatik.       97 

hrochen  —  unser  leuchtgas  brennt  heute  schlecht;  in 
a b  s t r a c t e m  sinne :  claviertasten  haben  denselben  zweck 
wie  orgeltasten  —  gas  ist  eine  luftförmigeflüssigkeit 

Schon  vor  Gast  hat  Paul,  prineipien  der  Sprachgeschichte- s,  66, 
in  dem  capitel ,  in  welchem  er  von  der  usuellen  und  occasionellen 
bedeutung  der  Wörter  spricht,  eine  dem  wesen  nach  ähnliche  ansieht 
vorgetragen,  er  sagt:  'ich  verstehe  hier  und  im  folgenden  unter 
concretum  immer  etwas,  was  als  real  existierend  gesetzt  wird,  an 
bestimmte  schranken  des  raumes  und  der  zeit  gebunden;  unter 
einem  abstractum  einen  allgemeinen  begriff,  bloszen  vorstellungs- 
inhalt  an  sich,  losgelöst  von  räumlicher  und  zeitlicher  begrenzung. 
diese  Unterscheidung  hat  demnach  gar  nichts  zu  schaffen  mit  der  be- 
liebten einteilung  der  substantiva  in  concreta  und  abstracta.  die 
Substanzbezeichnungen,  denen  man  die  namen  concreta  beilegt,  be- 
zeichnen an  sich  gerade  so  einen  allgemeinen  begriff  wie  die  so- 
genannten abstracta,  und  umgekehrt  können  die  letzteren  bei 
occasionellem  gebrauche  in  dem  eben  angegebenen  sinne  concret 
werden,  indem  sie  eine  einzelne  räumlich  und  zeitlich  bestimmte 
eigenschaft  oder  thätigkeit  ausdrücken,  bei  weitem  die  meisten 
Wörter  können  in  occasioneller  Verwendung  sowohl  abstracto  als 
concrete  bedeutung  haben.'  wie  aus  seinen  weiteren  ausführungen 
hervorgeht,  beschränkt  Paul  diese  Unterscheidung  nicht  auf  sub- 
stantiva, sondern  dehnt  sie  auch  auf  Wörter  wie  jetzt,  heute,  gestern, 
je  u.  a.  aus. 

Wir  sehen  also ,  dasz  Gast  nicht  allein  mit  seiner  ansieht  da- 
steht, er  kann  sich  auch  noch  auf  verschiedene  logiker  zur  Unter- 
stützung seiner  behauptung  berufen,  sagt  er  doch  selbst,  er  sei  'der 
ansieht,  dasz  die  schulgrammatik,  wenn  sie  einmal  von  concretum 
und  abstractum  spreche,  sich  darin  in  einklang  mit  der  lehre 
der  logik  befinden  müsse'. 

Wenn  ich  es  nun  trotzdem  wage,  eine  abweichende  ansieht  zu 
vertreten,  und  zwar  eine  solche,  die  sich  schon  lange  in  lateinischen 
gramraatiken  befindet,  so  veranlaszt  mich  hierzu  der  umstand,  dasz 
das  wort  'abstraction'  für  einen  gewissen  Vorgang  bei  der  begriffs- 
bildung  selbst  nicht  ganz  einwandsfrei  ist,  ferner  die  thatsache,  dasz 
unter  den  logikern  durchaus  nicht  einigkeit  in  bezug  auf  unsere 
frage  herscht,  und  endlich  die  Überlegung,  dasz  das  wort  abstractum 
lange  schon  eine  bestimmte  bedeutung  hatte,  ehe  der  ausdruck 
'abstracter  begriff'  aufkam. 

Was  den  ersten  punkt  anbetrifft,  so  sagt  Dressler,  die 
grundlehren  der  psychologie  und  logik^  s.  66:  'die  hauptsache  bei 
diesem  processe  der  begriffsbildung  ist  die  combination  des 
gleichartigen,  gemeinsamen,  die  abziehung  des  bewustseins  vom 
ungleichen  ist  nur  ein  nebenvorgang  dabei,  aber  gerade  von 
diesem  hat  er  seinen  namen  «abstractionsprocess»  bekommen.' 
Lotze,  logik  s.  40  sagt:  'man  nennt  abstraction  das  verfahren, 
nach  welchem  das  allgemeine  gefunden  wird,  und  zwar,  wie  man. 

N.  Jahrb.  f.  phil.  u.  päd.  II.  abt.  1897  hft.  2,  7 


98       0.  Schulze:  über  einige  punkte  der  lateinischen  grammatik. 

angibt,  durch  weglassung  dessen,  was  in  den  verglichenen 
Sonderbeispielen  verschieden  ist,  und  durch  summierung  dessen, 
was  ihnen  gemeinsam  zukommt,  ein  blick  auf  die  wirkliche  praxis 
des  denkens  bestätigt  diese  angäbe  nicht.'  und  dann  führt  er 
aus,  dasz  als  regel  gewisse  einzelmerkmale  nicht  einfach  weg- 
gelassen, sondern  durch  ihr  allgemeines  ersetzt  werden,  Lolze 
vermeidet  deshalb  wohl  auch  geflissentlich  von  abstracten  begriffen 
in  dieser  beziehung  in  seiner  logik  zu  sprechen,  er  setzt  dafür 
allgemeine  begriffe  oder  allgemeinbegriffe,  ebenso  findet 
man  diesen  ausdruck  nicht  bei  Hoffmann,  abrisz  der  logik ^. 
Wentzke,  compendium  der  psychologie  und  logik  s.  9,  nennt  ab- 
stracte  begriffe  nur  die  Vorstellungen  von  zuständen  und  handlungen, 
Verhältnissen  und  beziehungen.  geradezu  verurteilt  aber  wird  der 
ausdruck  abstract  statt  allgemein  von  Überweg,  System  der  logik  ^ 
s.  89.  er  sagt:  'das  wort  ist  der  ausdruck  der  Vorstellung  in  der 
spräche,  die  Vorstellung  eines  selbständig  existierenden  gegen- 
ständes wird  durch  das  substantivum  concretum  ausgedrückt, 
die  Vorstellung  dessen,  was  unselbständig  existiert,  aber  unter  der 
entlehnten  form  selbständiger  existenz  angeschaut  wird,  wird  durch 
das  substantivum  abstractum  bezeichnet.'  dasz  er  mit  dem 
letzten  satze  'thätigkeiten,  attribute  und  Verhältnisse'  meint,  geht 
aus  dem  hervor,  was  er  auf  der  seite  vorher  (88)  anführt,  daselbst 
unterscheidet  er  auch  eine  substantivische  concrete  Vor- 
stellung (voi'stellung  eines  selbständigen  objectes)  und  eine  sub- 
stantivische abstracte  Vorstellung  (Vorstellung  von  thätig- 
keiten  usw.  unter  der  form  der  gegenständlichen  Selbständigkeit, 
jedoch  mit  dem  bewustsein,  dasz  dieselbe  nur  eine  fingierte,  nicht 
eine  reale  ist),  und  weiter  sagt  er  s.  97:  'die  allgemeine  Vor- 
stellung (im  gegensatz  der  einzelvorstellung)  ist  nicht  mit  der 
abstracten  (im  gegensalz  der  concreten)  zu  verwechseln,  beide 
gegensätze  kreuzen  einander,  es  gibt  concrete  und  abstracte 
einzelvorstellungen  und  concrete  und  abstracte  allge- 
meine Vorstellungen,  der  gebrauch  einiger  logiker, 
welche  abstract  und  allgemein  identifi eieren,  ist  nicht 
zu  billigen,  die  grammatik  unterscheidet  beides  mit  bestimmtheit.' 
Nicht  weniger  scharf  spricht  sich  John  Stuart  Mill  dagegen 
aus  in  seinem  System  der  deductiven  und  inductiven  logik,  übersetzt 
von  Schiel ^  s.  32  f.:  'ich  habe  die  Wörter  concret  und  abstract  in 
dem  sinne  gebraucht,  der  ihnen  von  den  Scholastikern  beigelegt 
wurde,  welche  ungeachtet  der  unvoUkommenheit  ihrer  philosopbie 
in  dem  aufbau  der  technischen  spräche  unerreicht  blieben,  und  deren 
definitionen  in  der  logik  wenigstens,  obgleich  sie  nie  tief  in  den 
gegenständ  eindrangen,  bei  ihrer  änderung  nur  verdorben  wurden, 
in  neuerer  zeit  ist  indessen  ein  gebrauch  entstanden,  der  zwar 
nicht  von  Locke  selbst  eingeführt  wurde,  der  aber  durch  dessen  bei- 
spiel  sehr  an  Verbreitung  gewann,  der  gebrauch  nämlich,  den  aus- 
druck «abstracte  namen»  auf  alle  namen  anzuwenden,  welche  das 


0.  Schulze:  über  einige  i^unkte  der  lateinischen  grammatik.      99 

resultat  der  abstraction  und  generalisation  sind,  anstatt  ihn  auf  die 
namen  von  attributen  zu  beschränken,  die  metaphysiker  aus 
der  schule  von  Condillac  —  deren  bewunderung  für  Locke  über  die 
tiefsinnigsten  speculationen  dieses  wahrhaft  originellen  geistes  hin- 
weggeht und  mit  besonderem  eifer  auf  den  schwächsten  punkten 
verweilt  —  haben  diesen  misbrauch  der  spräche  so  lange  fortgeübt, 
dasz  es  nun  einige  Schwierigkeiten  hat,  das  wort  auf  seine  ursprüng- 
liche bedeutung  zurückzubringen,  eine  mutwilligere  Verände- 
rung der  bedeutung  eines  wortes  ist  selten  vorgekommen;  denn  der 
ausdruck  gemeinsame,  dessen  genaues  äquivalent  sich  in  allen  mir 
bekannten  sprachen  wiederfindet,  konnte  schon  für  den  zweck  gelten, 
wofür  man  abstract  misbrauchte,  während  dieser  misbrauch  jene 
wichtige  classe  von  Wörtern,  die  namen  von  attributen,  ohne  eine 
bündige  unterscheidende  benennung  läszt.'  dasz  Mill  von  abstracten 
namen  spricht,  anstatt  wie  andere  von  abstracten  begriffen,  ist 
für  die  sache  selbst  gleichgültig. 

So  sehr  ich  mich  deshalb  auch  sonst  der  ansiebt  zuneige,  dasz, 
wenn  einmal  ausdrücke  der  logik  ii^  der  grammatik  gebraucht  wer- 
den, man  sie  in  Übereinstimmung  mit  dem  dort  üblichen  gebrauche 
anwende,  so  möchte  ich  doch  in  diesem  speciellen  falle  der  grammatik 
das  recht  vindicieren,  das  wort  concretum  und  abstractum  in  dem 
sinne  beizubehalten,  wie  es  seit  langer  zeit  üblich  gewesen  ist. 

Schoemann,  die  lehre  von  den  redeteilen,  nach  den  alten 
dargestellt  und  beurteilt,  s.  76  sagt:  die  'nomina  abstracta  wer- 
den so  genannt,  weil  sie  den  begriff  einer  thätigkeit,  eines  Ver- 
haltens, einer  eigenscbaft  oder  beschafi"enheit,  welche  in  der  Wirk- 
lichkeit nicht  anders  denn  als  attribute  substanzieller  dinge  vor- 
handen sind,  von  diesen  abgezogen  und  getrennt  enthalten,  und 
selbst  unter  der  form  eines  substanziellen  wesens  aussprechen.'  es 
verlohnt  sich  hier  kaum  der  mühe,  noch  näher  zu  untersuchen, 
wer  das  wort  abstractum  in  dieser  bedeutung  zuerst  angewandt 
hat  (vgl.  oben  Mills  ansieht),  thatsache  ist,  dasz  es  lange  in  ge- 
brauch war,  ehe  der  umstrittene  ausdruck  'abstracter  begriff'  auf- 
trat, bekanntlich  sind  verschiedene  bezeichnungen  bei  den  alten 
grammatikern  in  gebrauch,  so  sagt  Dositheus  (Keil,  gramm.  lat. 
VII  390,  14):  appellativa  nomina  in  duas  species  dividuntur.  alia 
enim  significant  res  corporales,  quae  videri  tangique  pos- 
sunt,  et  a  quibusdam  vocabula  appellantur,  ut  homo  arbor  pecus, 
quae  nos  corporalia  vocamus;  alia  quae  a  quibusdam  appella- 
tiones  dicuntur  et  sunt  incorporalia,  quae  intellectu  tantum- 
modo  percipiuntur,  verum  neque  videri  nee  tangi  possunt,  ut  est 
pietas  iustitia  decus  dignitas  facundia  doctrina.  ea  nos  appellativa 
dicimus. 

Dasz  dinge  (personen,  tiere,  Sachen)  mit  den  sinnen  wahr- 
genommen oder  gesehen  und  berührt  werden  können,  ist  ja  selbst- 
verständlich, und  ebenso  klar  ist,  dasz  eigenschaften  und  thätig- 
keiten  allein  nicht  wahrzunehmen  sind,    aber  eine  definition  von 

7* 


100    J.  Ziehen:  zur  ■weiterführung  des  französischen  in  den  mittelclassen 

concretum  und  abstractum,  die  von  diesem  gesichtspunkt  ausgeht, 
halte  ich  doch  nicht  für  ganz  zutreffend,  denn  sie  gibt  eine  eigen- 
schaft  der  objecte  an,  die  anzugeben  im  gründe  überflüssig  ist,  auch 
passt  die  definition  streng  genommen  nicht  für  dinge,  die  nicht  mehr 
existieren  oder  die  man  sich  blosz  vorstellt,  dagegen  kann  man  meines 
erachtens  unbedenklich  sagen:  die  substantiva  zerfallen  in 
nomina  concreta  und  nomina  abstracta.  die  nomina 
concreta  bezeichnen  dinge  (personen,  tiere,  Sachen), 
die  nomina  abstracta  eigenschaften  oder  thätigkeiten. 
Gera  (Reüsz).  0.  Schulze. 


7. 

ZUR   WEITERFÜHRUNG    DES    FRANZÖSISCHEN    IN    DEN 

MITTELCLASSEN  DES   GYMNASIUMS  MIT  FRANKFURTER 

LEHRPLAN. 


Der  grundsatz  des  'nacheinander,  nicht  nebeneinander'  im 
Frankfurter  lehrplan  bringt  es  mit  sich ,  dasz  von  untertertia  an 
dem  französischen  Unterricht  neben  dem  nun  in  den  Vordergrund 
tretenden  lateinischen  anfangsunterricht  nur  ein  verhältnismäszig 
bescheidener  räum  in  form  von  zwei  vröchentlichen  stunden  am 
gymnasium  gegönnt  werden  kann,  es  ist  wohl  zu  vei'stehen,  dasz 
diese  starke  beschränkung  des  französischen  in  den  mittelclassen 
nicht  ganz  ohne  bedenken  hingenommen,  dasz  namentlich  in  den 
kreisen  von  nichtfachleuten  die  ängstliche  frage  aufgeworfen  wird, 
ob  denn  die  französischen  kenntnisse  bei  dieser  maszregel  nicht  not 
leiden,  ob  nicht  die  grosze  mühe,  die  in  den  drei  unterclassen  auf 
das  französische  verwandt  worden  war,  ihres  besten  erfolges  beraubt, 
die  zeit  zur  ernte  des  mühsam  gesäeten  den  lehre rn  und  den  schülern 
genommen  werden  v^ird.  ich  will  in  anknüpfung  an  frühere  dar- 
legungen  über  den  französischen  Unterricht  in  den  unterclassen  nach 
Frankfurter  lehrplan  hier  die  weiterführung  des  französischen  in  den 
entsprechenden  mittelclassen  kurz  behandeln  und  damit  zugleich 
das  masz  der  französischen  kenntnisse  andeuten,  die  meines  er- 
achtens zur  zeit  der  abschluszprüfung,  also  am  ende  von  unter- 
secunda,  von  den  schülern  nach  Frankfurter  lehrplan  gefordert 
werden  können;  der  lehrstoff  soll —  ohne  dasz  damit  einem  pedanti- 
schen gleichmachen  des  Unterrichtsbetriebes  das  wort  geredet  werden 
soll  —  nach  jahrespensen  wenigstens  im  groszen  und  ganzen  ab- 
gehandelt werden;  eine  Voraussetzung  soll  als  selbstverständlich  von 
vorn  herein  hervorgehoben  werden:  der  französische  Unterricht  in 
den  mittelclassen  hat  ausschlieszlich  in  französischer  spräche  statt- 
zufinden, nur  bei  der  grammatischen  Unterweisung  soll  —  und  auch 
das  nur  aushilfsweise  und  als  notbehelf  —  der  erklärung  in  deutscher 
spräche  räum  gegeben  werden. 


des  gymnasiums  mit  Frankfurter  lehrplao.  101 

Der  Untertertia  fällt,  wie  das  ja  in  Banners  französischer 
Satzlehre  sehr  zweckmäszig  auch  äuszerlich  bezeichnet  ist  —  die  an- 
eignung  der  schwierigeren  regeln  der  syntax  zu;  empirisch  hat  sich 
der  Schüler  diese  regeln  zum  gröszern  teil  schon  angeeignet,  die  bei- 
spielsätze  in  dem  lehrbuch  von  Banner  konnten  daher  sehr  zum  vor- 
teil der  Sache  fast  alle  aus  den  drei  cursen  des  lesebuches  entnommen 
werden;  je  mehr  diese  beispielsätze  dem  gedächtnis  eingeprägt  wer- 
den, um  so  besser;  auch  soll  besonders  für  die  Satzlehre  mit  ihrer 
auf  zwei  classenpensen  schichtenweise  verteilten  paragraphenfolge 
die  memoria  localis  in  anspruch  genommen  werden,  die  französische 
Syntax  —  abgesehen  von  einzelnen  verwickeiteren  erscheinungen 
des  periodenbaues  —  hat  meines  erachtens  am  ende  von  untertertia 
als  abgeschlossen  zu  erscheinen  und  soll  von  da  an  nur  noch  ebenso 
gegenständ  beständiger,  immanenter  Wiederholung  sein,  wie  das 
die  formenlehre  ja  schon  von  quarta  an  gewesen  ist;  manches  von 
dieser  Wiederholung  fällt  ungezwungen  dem  lateinischen  parallel- 
unterricht  zu. 

Neben  dieser  erledigung  der  syntax  geht  dann  ferner  in  unter- 
tertia die  abschlieszende  durchnähme  des  von  Banner  zusammen- 
gestellten 'übersetzungsstoflfes"  einher;  sie  bringt  in  erwünschter 
weise  ein  fortwährendes  zurückgreifen  auf  die  lesebücher  und  damit 
die  Wiederholung  des  in  den  drei  unterclassen  erworbenen  vocabel- 
schatzes  mit  sich ;  die  gelegenheit  zu  elementaren  andeutungen  über 
die  französische  Synonymik  wird  sich  dabei  wohl  kein  lehrer  ent- 
gehen lassen,  ein  verhängnisvoller  irrtura  würde  es,  wie  ich  wenig- 
stens meinen  möchte,  sein,  wollte  man  von  diesen  Übersetzungs- 
übungen in  untertertia  bereits  vollkommen  abzusehen  für  richtig 
halten,  die  'leichtfertige  empirik'''  nur  kann  es  unterlassen  wollen, 
stets  die  fremdsprache  an  der  muttersprache  durch  beständige  ver- 
gleichung  in  der  einen  wie  der  andern  richtung  zu  messen ,  bis  das 
nebeneinander  der  sprachlichen  erscheinungen  dem  schüler  völlig  in 
fleisch  und  blut  übergegangen  ist. 

Bleiben  zu  be.-~prechen  der  lesestoflFund  der  stoff  zum  auswendig- 
lernen  für  das  pensum  der  untertertia.  was  die  verschiedenen  Samm- 
lungen von  Schulausgaben  französischer  litteraturwerke  für  diese 
classenstufe  bieten  —  es  wäre  noch  manches  gute  aus  der  französi- 
schen prosa  besonders  hinzuzuwünschen !  — ,  das  ist  ja  dem  leser 
dieser  zeilen  bekannt,  ein  fester  kanon  bis  ins  einzelste  hinein  wird 
sich  hier  so  wenig  empfehlen ,  wie  bei  anderm  fremdsprachlichen 
lesestoff.  wichtig  scheint  mir  nur  eines:  wir  müsten  unseren  schülern 
zu  billigem  preis,  daher  in  einfachster  ausstattung  und  ohne  über- 
flüssigen anmerkungsballast,  nur  mit  den  kleinen  vocabel-  und  sach- 
erklärungen,  die  eine  cursorische  lectüi-e  möglich  machen,  wertvollen 


'  'den  deutschen  text  des  satzes  durchlesen  und  dann  den  sinn  des- 
selben möglichst  genau  wiedergeben!'  soll  natürlich  das  losungswort 
dieses  wie  jedes  andern  Übersetzens  sein. 

*  s.  festschrift  des  Frankfurter  Goethe-gymnasiums  s.  7. 


102    J.  Ziehen :  zur  weiterführung  des  französischen  in  den  mittelclassen 

und  anregenden  lesestoff  aus  der  französischen  litteratur  in  einzelnen 
heften  zugänglich  machen,  damit  schon  in  untertertia  ohne  starke 
inanspruchnahme  der  zeit  des  schülers  eine  französische  privat- 
lectüre  ermöglicht  wäre;  und  zwar  wäre  für  die  auswahl  des  lese- 
stoflFes  dieser  privatlectüre  vor  allem  als  grundsatz  aufzustellen: 
Meicht  verständlich  und  inhaltlich  möglichst  anregend  und  fesselnd! ' 
denn  es  handelt  sich  darum,  dasz  der  schüler  freude  daran  findet, 
auf  eigne  faust  daheim  ein  französisches  buch  zu  lesen;  die  controle 
dieser  privatlectüre  darf,  so  weit  sie  überhaupt  nötig  ist,  vielleicht 
dem  deutschen  Unterricht  in  untertertia  anheimgestellt  werden. 

Wenden  wir  uns  der  obertertia  zu,  so  scheint  mir  für  sie 
neben  der  selbstverständlichen  Wiederholung  der  früheren  pensen 
der  Übergang  zum  freien  gebrauch  der  französischen  spx-ache  in  zu- 
sammenhängender rede  die  hauptaufgabe  zu  sein,  wohlverstanden : 
nur  der  Übergang  —  denn  was  einzelne  begabtere  schüler  darüber 
hinaus  schon  in  den  unterclassen  etwa  geleistet  haben  oder  nun 
leisten  werden,  kann  natürlich  für  die  begrenzung  des  pensums 
nicht  maszgebend  sein,  wie  diesen  Übergang  bewerkstelligen?  viel- 
leicht darf  ich  den  fachgenossen  ein  verfahren  vorschlagen,  das  den 
vorteil  hat,  ohne  schaden  für  die  sache  auch  noch  zwei  nebenzwecken 
ganz  ungezwungen  zu  dienen,  in  den  unterclassen  sind  anschauung 
und  praktisches  bedürfnis  die  träger  der  sprech-  oder  conversations- 
tibungen  im  französischen  Unterricht  gewesen:  machen  wir  doch  auf 
der  mittelstufe  einmal  eine  zeit  lang  die  Satzlehre  zur  trägerin  fran- 
zö.^ischer  Sprechübungen:  wenn  es  schon  für  den  ganz  nie  zu  ent- 
behrenden deutschen  grammatischen  Unterricht  in  den  unterclassen 
ein  zweckmäsziges  verfahren  ist,  durch  die  schüler  frei  erfundene, 
vielleicht  an  irgend  einen  lesestoGF  angelehnte  beispielssätze  für  syn- 
taktische erscheinungen  bilden  zu  lassen,  so  wirft  ein  ähnliches  vor- 
gehen im  französischen  Unterricht  der  mittelclassen  auszer  der  be- 
festigung  der  syntaktischen  regeln  noch  den  weiteren  vorteil  ab, 
dasz  die  schüler  auch  an  freieren  gebrauch  der  fremdsprache  zu- 
nächst in  der  form  von  längeren  einzelsätzen  gewöhnt  werden;  es 
liegt  auf  der  band,  wie  sehr  bei  dieser  methode  eine  allmähliche  und 
folgerichtige  Steigerung  der  Schwierigkeiten  sich  durchführen  läszt 
—  nach  ablauf  eines  halben  Jahres  etwa  wird  das  haupthindernis 
freien  französischsprechens,  die  gestaltung  der  satzperioden,  zum 
groszen  teil  beseitigt  sein. 

In  bezug  auf  den  lesestoff  wird  die  obertertia  die  arbeit  der 
vorhergehenden  classe  einfach  fortzusetzen  haben;  ich  glaube  nicht, 
dasz  unseren  schülern  die  freude  an  unserer  vaterländischen  litte- 
ratur irgendwie  beeinträchtigt  wird,  wenn  der  lehrer  gelegentlich 
eine  gute  französische  Übersetzung  eines  ühlandschen  oder  Schiller- 
schen  gedichtes  vorliest,  unter  dessen  frischem  eindruck  alle  von 
der  deutschen  stunde  her  stehen;  natürlich  soll  das  nur  als  die 
beschäftigung  etwaiger  am  Schlüsse  der  stunde  frei  gebliebener 
minuten  empfohlen  sein. 


des  gymuasiums  mit  Frankfurter  lehrplan.  103 

Und  nun  zur  untersecunda!  wie  die  quarta  für  die  unter- 
classen,  so  hat  sie  für  die  mittelclassen  einen  relativ  abschlieszenden 
Charakter;  in  diesem  sinne  musz  eine  systematische  Wiederholung 
des  gesamten,  bis  dahin  ei'lernten  französischen  Sprachstoffes  als 
ihi-e  erste,  übrigens  durch  das  preuszische  abschluszexamen  auch 
äuszerlich  geforderte  aufgäbe  bezeichnet  werden,  sodann  kann, 
wenn  mich  nicht  alles  täuscht,  in  der  gymnasial  untersecunda  nach 
Frankfurter  lebrplan  getrost  auch  die  in  obertertia  vorbereitete  Übung 
in  freien  compositiouen  und  vortragen  vom  französischen  Unterricht 
verlangt  werden;  enger  anschlusz  an  eine  schriftstellerische  vorläge, 
sei  es  der  classen-  oder  sei  es  der  privatlectüre,  ist  natürlich  dabei 
nicht  zu  entbehren,  bildet  übrigens ,  soweit  mir  bekannt  ist,  auch 
für  die  französischen  aufsätze  in  den  oberclassen  der  realschule ,  die 
selbstverständliche  Voraussetzung ;  für  die  classenarbeiten  mag  man 
in  untersecunda  auf  je  drei  freie  compositionen  als  vierte  arbeit 
auch  jetzt  noch  eine  Übersetzung  aus  dem  deutschen,  gelegentlich 
statt  dessen  auch  einmal  umgekehrt  eine  Übersetzung  ins  deutsche 
fordern  —  jedenfalls  können  aber  diese  letzteren  Übungen  meines 
erachtens  in  untersecunda  bereits  sehr  zurücktreten.^ 

Für  die  französische  lectüre  in  untersecunda  kann  auf  das  oben 
in  bezug  auf  tertia  gesagte  zurückverwiesen  werden;  bei  der  classen- 
lectüre  wird  ja  wohl  die  mündliche  Übersetzung  ins  deutsche  von 
vielen  lehrern  schon  in  obertertia  auf  die  schwierigeren  Sätze  be- 
schränkt worden  sein;  sie  ganz  bei  seite  zu  lassen  scheint  mir  auf 
keiner  classenstufe  ratsam,  auszerordentlich  hübsch  kann  meiner 
ansieht  nach  von  untersecunda  an  die  französische  privatlectüre  zu 
andern  Unterrichtsfächern  in  beziehung  gesetzt  werden;  die  oben 
geforderte  beschaffung  billiger  hefte  mit  gutem  lesestoff  natürlich 
immer  vorausgesetzt:  die  neuere  geschichte,  die  in  untersecunda 
behandelt  wird,  wird  jedem  leser  dieser  zeilen  von  selbst  beispiele 
geben;  für  die  lectüre  der  Odyssee,  deren  Schwerpunkt  im  Frank- 
furter lehrplan  auf  die  zweite  hälfte  der  obersecunda  fallen  dürfte, 
ist  durch  Fenelons  Telemachos-roman,  vor  allem  aber  durch  Pon- 
sards  Odysseus-drama  ein  vortrefflicher  begleitender  lesestoff  aus 
der  französischen  litteratur  gegeben;  hat  man  eine  beanlagte  classe 
vor  sich,  so  mag  man  ruhig  die  besseren  schüler  veranlassen,  neben 
dem  Ponsardschen  stück  auch  Pierre- Antoine  Lebruns  Ulysse  zu 
lesen  —  der  gewinn  daraus  ist  ähnlich  dem,  den  im  deutschen  Unter- 
richt der  obersecunda  das  lesen  von  Hebbels  und  Geibels  Nibelungen- 
dramen neben  der  classenlectüre  des  Nibelungenliedes  abwirft. 

Zu  den  leistungen,  die  von  allen  drei  mittelclassen  als  unerläsz- 
lich  zu  fordern  sind,  möchte  ich  das  auswendiglernen  neuer  gedichte 
und  das   beständige  wiederholen  der  bereits  auswendig  gelernten 

^  sollte  beim  abschluszexamen  von  Seiten  der  behörde  eine  Über- 
setzung ins  französische  ausschlieszlich  gefordert  werden,  so  müste  der 
verlauf  der  Übungen  in  der  classe  sich  natürlich  nach  dieser  forderung 
richten. 


104  "W.Becher :  anz.v.Kautzmann,  PfafFu.  Schmidt lat.  lese-  u.  Übungsbuch. 

stücke  rechnen ;  es  würde  mir  nicht  als  zuviel  erscheinen,  wenn  am 
ende  von  untersecunda  eine  zahl  von  dreiszig  auswendig  gelernten 
gedichten  und  prosastücken  als  mindestforderung  aufgestellt  würde; 
bietet  doch  dieser  memorierstofi"  die  garantie,  dasz  durch  ihn  den 
Schülern  die  geläufigkeit  der  ausspräche  des  französischen,  vor  allem 
das,  was  heutzutage  als  articulationsbasis  auf  so  verschiedenen  wegen 
in  den  unterclassen  angestrebt  wird,  trotz  der  bescbränkung  des 
faches  auf  zwei  stunden  erhalten  bleibt. 

Fkankfurt  am  Main,  Julius  Ziehen. 


8. 

LATEINISCHES  LESE-  UND  ÜBUNGSBUCH  FÜR  SEXTA  VON  Ph.KAUTZ- 

MANN,  K.  Pfaff  UND  T.  Schmidt,  zweite  aufläge.  Leipzig, 
B.  G.  Teubner.    1894. 

Kautzmann,  Pfaff  und  Schmidt  haben  auf  anregung  Uhligs  eine 
gruppe  lateinischer  Übungsbücher  von  sexta  bis  tertia  hei-ausgegeben. 
von  dem  sextanerabscbnitte  ist  1894  die  zweite  aufläge  erschienen, 
die  gesichtspunkte,  die  bei  der  abfassung  maszgebend  waren,  führen 
die  Verfasser  im  ersten  Vorworte  zum  sextanerpensum  selbst  an: 
enger  anschlusz  an  Stegmanns  grammatik,  bescbränkung  des  lehr- 
stoffes  auf  die  regelmäszige  formenlehre,  möglichste  durchführung 
des  princips,  zusammenhängende  lesestücke  zu  bieten,  die  erste  auf- 
läge ist  in  mehreren  Zeitschriften  besprochen  worden,  zugänglich 
waren  mir  eine  notiz  in  den  blättern  für  bayerisches  gymnasial- 
wesen  —  wo  kurz  darauf  hingewiesen  wird,  dasz  das  buch  mit  dem 
bayerischen  lehrplane  nicht  in  einklang  stehe  und  deshalb  für  Bayern 
nicht  verwendbar  sei  —  und  die  recensionen  Poetzschs  (in  diesen 
Jahrbüchern  1892  bft.  3  und  12).  die  besprechung  Poetzschs  fuszt 
noch  nicht  auf  Verwendung  des  buches  im  unterrichte,  so  dasz  ihm 
eine  reihe  von  mangeln  des  buches  entgangen  ist.  gebessert  wurde 
auf  seine  anregung  im  sextanerlehrbuche  die  nuramerierung  der 
lesestücke  und  die  angäbe  der  paragraphenzahlen  zum  nachschlagen 
in  der  gi-ammatik.  folgende  bedenken  möchte  ich  aber  noch  äuszern 
gegen  die  zweite  aufläge  des  teiles  für  sexta.  sie  richten  sich  gegen 
viererlei:  1)  den  anschlusz  an  die  Stegmannsche  grammatik,  2)  die 
bemessung  des  lehrstoffes,  3)  die  Übungsstücke,  4)  den  Wortschatz. 

Der  plan,  Übungsbücher  im  anschlusse  an  Stegmanns  jetzt  weit- 
verbreitete grammatik  zu  schreiben,  ist  nur  zu  loben;  das  versprechen 
ist  aber  nicht  so  vollständig  durchgeführt,  wie  die  ankündigung  der 
herren  Verfasser  erwarten  liesze. 

Warum  ist  nicht  der  geschlechtsregelwortlaut  bei  der  dritten 
declination  gewahrt,  sondern  'die  werden  weibliche  genannt'  ein- 
gesetzt statt  'die  sind  als  weiblich  nur  bekannt?'  warum  für  die 
neutra  der  dritten  declination  der  alte  regeltest,  nachdem  Stegmann 
eine  neue  form  aufgenommen  hat?  was  nützt  überhaupt  die  neutra- 


VT. Becher:  auz.v.KautzmanD, PfafFu. Schmidt lat. lese- u.  Übungsbuch.    105 

regel,  wenn  nicht  für  alle  endungen  beispiele  geboten  werden?  und 
wenn  schon  vom  Wortlaute  Stegmanns  abgewichen  wird,  warum 
dann  nicht  so  gründlich,  dasz  die  poetische  form  neutrius  ver- 
schwindet, die  dem  schüler  zunächst  ganz  unverständlich  ist  und 
bald  darauf,  wenn  die  pronomialadjectiva  eingeprägt  werden,  durch 
den  schulgerechten  genetiv  neutrius  vordrängt  wird?  einem  ge- 
übten regelreimschmiede  würde  es  wohl  bei  einiger  anstrengung 
gelingen,  einen  andern  text  herzustellen,  den  Substantiven  der 
dritten  declination  schlieszen  sich  in  drei  paragraphen  die  adjectiva 
an  nach  der  bekannten  einteilung  adjectiva  einer,  zweier,  dreier 
endungen.  diese  breitangelegte  behandlung  der  adjectiva  der  dritten 
declination  steht  in  widersprach  zu  dem  verfahren,  welches  die 
herren  Verfasser  bei  der  ersten  und  zweiten  declination  eingeschlagen 
haben:  dort  werden  die  adjectiva  als  hilfsmaterial  den  einzelnen 
Paragraphen  eingestreut,  ohne  selbständige  behandlung  zu  finden, 
einen  anschlusz  an  Stegmann  kann  ich  darin  nicht  erkennen,  in 
§  17  wird  die  genusregel  der  vierten  declination  geboten,  wiederum 
nicht  wortgetreu  nach  Stegmann,  begründet  ist  die  abweichung  in 
§  18  bei  der  genusregel  der  fünften  declination:  die  Wissenschaft 
vom  femininum  dies  soll  nicht  unnütz  in  das  sextanerpensum  auf- 
genommen werden,  am  lebhaftesten  wurde  wohl  das  bestreben  nach 
einem  Übungsbuche,  das  sich  an  Stegmanns  grammatik  anschlösse, 
empfunden  wegen  der  dort  vorgenommenen  Umstellung  der  dritten 
und  vierten  conjugation.  es  hätte  sich  aber  auch  empfohlen,  das 
von  Stegmann  gewählte  paradigma  der  vierten  conjugation  neuer 
Ordnung  —  emo,  emere,  emi,  emptum  —  nicht  vollkommen  tot  zu 
schweigen  und  die  sogenannten  starken  verba,  die  sich  an  emere 
näher  anschlieszen,  vor  den  schwachen  zu  behandeln. 

Soviel  zum  anschlusse  an  Stegmann,  nun  zur  zweiten  frage: 
was  wird  als  lehrpensum  für  sexta  geboten?  nach  den  Vorübungen, 
über  die  später  noch  zu  sprechen  sein  wird,  folgt  die  erste  declination 
mit  sieben  Übungsstücken,  die  zweite  mit  acht,  und  dann,  meines 
erachtens  sehr  zweckmäszig,  §  5  mit  zwei  Übungsstücken,  die  die 
masculina  der  ersten  und  feminina  der  zweiten  declination  behan- 
deln —  und  dazu  wie  zu  allem  folgenden  deutsche  abschnitte  im 
zweiten  teile  des  buches.  hierauf  kommt  in  sieben  paragraphen  mit 
dreiszig  abschnitten  die  dritte  declination  zur  behandlung.  auch 
hier  wird  in  §  9  das  natürliche  geschlecht  behandelt,  das  ist  nun, 
nachdem  der  unterschied  zwischen  natürlichem  und  grammatischem 
geschlechte  bei  der  ersten  und  zweiten  declination  dargestellt  worden 
ist,  unnötig  und  verliert  an  dieser  stelle  jede  berechtigung,  nachdem 
schon  in  §  6  die  feminina  soror,  uxor,  arbor  aufgeführt  worden 
sind,  es  folgen  die  adjectiva  der  dritten  declination,  die  regel- 
mäszige  comparation,  die  vierte  und  fünfte  declination,  esse  mit 
compositis,  die  erste  conjugation. 

Die  Paragraphen  der  ersten  conjugation  leiten  die  Verfasser  ein 
mit  der  bemerkung:  ^eine  grosze  zahl  der  hier  zusammengestellten 


106  W.Becherranz.v.KautzmannjPfaffu.Sclimidtlat.lese- U.Übungsbuch. 

verba  der  ersten  conjugation  sind  den  schülem  schon  aus  den  lese- 
stücken bekannt;  aus  praktischen  gründen  wurden  sie  hier  wieder- 
holt.' noch  praktischer  wäre  es  gewesen,  alle  schon  in  einzelnen 
formen  gebotenen  verba  der  ersten  conjugation  an  dieser  stelle 
wiederaufzuführen ,  damit  der  schüler  von  diesem  teile  seines  Wort- 
schatzes ein  einigermaszen  zusammenhängendes  bild  bekäme,  un- 
angenehm bemerkbar  macht  sich  eine  gepflogenheit ,  die  aus  den 
lesicis  übernommen  ist.  der  schüler  soll  da  lernen:  aedifico  bauen, 
aestimo  schätzen,  das  ist  und  bleibt  doch  eben  falsch,  wenn  die 
lexica  die  verba  in  der  form  der  In  sing.  ind.  praes.  a.  anführen 
und  daran  den  nachweis  aller  übrigen  belegten  formen  schlieszen, 
so  ist  da  immer  noch  mehr  sinn  in  der  sache.  auch  wenn  in  der 
zweiten  und  vierten  conjugation  alle  verba  mit  ihren  vier  Stamm- 
formen aufgeführt  werden  und  dazu  die  deutsche  bedeutung  im 
inf.  pr.  a.  angegeben  wird ,  darf  man  damit  einverstanden  sein, 
warum  können  aber  nicht  die  regelmäszigen  verba  einfach  im  inf. 
pr.  a.  angeführt  werden:  aedificare  bauen,  aestimare  schätzen  usw.? 
dasz  diese  methode  logischer  wäre,  scheint  den  Verfassern  nicht  ganz 
entgangen  zu  sein,  denn  in  Verbindung  mit  nominibus  oder  partikeln 
bekommen  die  verba  die  infinitivform  zugebilligt,  so  folgt  un- 
mittelbar hinter  aestimo  schätzen,  magni  aestimare  hoch  schätzen, 
hinter  curo  sich  kümmern  um  etwas,  besorgen  curare,  ut  dafür 
sorgen,  dasz,  hinter  ignoro  nicht  wissen  non  ignorare  wohl  wissen, 
zwischen  die  erste  und  zweite  conjugation  sind  eingeschoben  die 
pronomina  und  die  Zahlwörter,  der  platz  scheint  mir  günstig  ge- 
wählt, doch  erachte  ich  den  ausschlusz  der  distributiva  und  adverbia 
numeralia  für  eine  unnötige  beschränkung.  es  folgen  nach  erledigung 
der  conjugationen  als  neuerung  der  zweiten  aufläge  noch  nützliche 
Zusammenstellungen  der  präpositionen,  adverbia,  conjunctionen  und 
eigennamen,  die  in  den  einzelnen  paragraphen  des  lehrpensums  ver- 
streut sind,  dankbar  würden  lehrer  und  schüler  es  empfinden, 
folgten  nun  noch  vollständige  Zusammenstellungen  aller  nomina 
und  verba  nach  declinationen  und  conjugationen,  dasz  in  den 
vocabelreichtum,  den  das  buch  bietet,  um  die  behandlung  der  über- 
setzungsstücke  zu  ermöglichen,  einige  Ordnung  käme. 

Dies  führt  uns  zur  dritten  und  vierten  frage:  was  ist  von  den 
Übungsstücken  zu  halten  und  wie  ist  die  auswahl  und  bemessung 
des  Wortschatzes  zu  beurteilen?  schlieszen  wir  uns  in  der  kritik  der 
Übungsstücke  an  das  vorwort  der  ersten  aufläge  an !  'hinsichtlich 
der  form  vertreten  die  Verfasser  die  anschauung,  dasz  dem  schüler 
thunlichst  zusammenhängende  stücke  zu  bieten  seien,  dasz  aber  da- 
neben zu  gunsten  einer  möglichst  allseitigen  formenübung  auch 
einzelsätze  verwendet,  namentlich  jeweils  den  lesestücken  über  die 
conjugation  vorausgeschickt  wurden,  bedarf  wohl  kaum  der  recht- 
fertigung.' 

Nein,  eine  rechtfertigung  dafür  wird  wohl  kaum  der  begeistertste 
freund   geistreicher  zusammenhängender  Übungsstücke   verlangen. 


W.Becher:  anz.v.Kautzmann,  Pfaffu.  Schmidt  lat.  lese-  u.  Übungsbuch.   107 

im  gegenteile  hätten  sie  immerhin  etwas  zahlreicher  aufgenommen 
werden  können,  damit,  was  man  wohl  fordern  kann,  für  jedes  zu 
dem  lehrabschnitte  zu  lernende  wort  und  womöglich  für  jede  decli- 
nations-  und  conjugationsform  ein  belegsatz  geboten  wäre  —  wohl- 
verstanden nicht  alle  12  casus  von  jedem  einzelnen  nomen  und  alle 
conjugationsformen  von  jedem  einzelnen  verbum  belegt,  sondern 
z.  b.  ein  satz  mit  ind.  praes.  a.  von  amare,  einer  mit  conj.  pr.  a. 
von  laudare  usvv. 

'Auch  in  diesen  einzelsätzen  wurde  triviales  oder  das  fassungs- 
vermögen  eines  sextaners  überschreitendes  fernzuhalten  versucht.' 
'der  Schwerpunkt  des  buches  ruht  auf  den  lateinischen  lesestücken.' 
die  Verfasser  setzen  voraus,  dasz  dieselben  durchweg  in  der  classe 
construiert,  übersetzt  und  erläutert  werden,  und  dasz  sie  erst  nach 
dieser  besprechung  zu  häuslicher  Wiederholung  aufgegeben  werden, 
die  denselben  vorausgeschickten  'Vorübungen'  sollen  der  veranschau- 
lichung  und  der  einübung  der  congruenz  des  adjectivs  mit  dem  Sub- 
stantiv dienen  und  gelegenheit  bieten,  schon  vor  der  erlernung  der 
-declination  wichtige  grammatische  grundbegriffe,  wie  subject,  prä- 
dicat,  beziehungswort,  attribut  einzuüben,  die  hier  vorkommenden 
vocabeln  sind  zu  memorieren. 

In  den  mit  diesen  worten  angekündigten  eigenschaften  liegt 
die  schwäche  des  buches  und  für  seine  Verwendbarkeit  eine  grosze 
gefahr.  zunächst  ist  es  doch  wohl  ein  unzweckmäsziges  verfahren, 
den  lateinhungrigen  neuen  sextaner  zuerst  zu  langweilen  mit  repe- 
titionen  über  die  begriffe  subject,  prädicat,  beziehungswort,  attribut, 
die  er  aus  seiner  Vorbildung  mitbringt,  das  heiszt  denn  doch  den 
sextaner  zu  elementar  behandeln,  und  unmittelbar  daneben  stehen 
anforderungen,  die  für  den  knaben  entschieden  zu  hoch  sind,  be- 
trachten wir  die 

Vorübung  I. 
amicus  der  freund,   columba  die  taube.  argentum  das  silber. 

deus  (der)  gott.         insula  die  insel.  donum  das  geschenk. 

fluvius  der  flusz.  terra  die  erde,  das  land.  exemplum  das  beispiel. 
taurus  der  stier.        uva  die  traube  ferrum  das  eisen. 

aeternus,  aeterna,  aeternum  ewig. 

albus,  alba,  album  weisz. 
bonus,  a,  um  gut.  magnus,  a,  um  grosz. 

durus,  a,  um  hart.  maturus,  a,  um  reif, 

fidus,  a,  um  treu.  rotundus,  a,  um  rund, 

gratus,  a,  um  willkommen,  an-      timidus,  a,  um  furchtsam. 

genehm.  validus,  a,  um  stark, 

latus,  a,  um  breit.  est  ist. 

a)  amicus  fidus.  deus  aeternus.  fluvius  latus,  taurus  validus. 
columba  timida.  insula  magna,  terra  rotunda.  uva  matura.  argentum 
album.    donum  gratum.    exemplum  bonum.    ferrum  durum. 

b)  deus  est  aeternus.  taurus  est  validus.  columba  est  timida. 
terra  est  rotunda.    argentum  est  album.    ferrum  est  durum. 


108  W.Becher :  anz.v.Kautzmann,  Pfaff  u.  Schmidt  lat.  lese-  u. Übungsbuch. 

Also  substantiva  und  adjectiva,  erste  und  zweite  declination  in 
anmutigem  nebeneinander  werden  zur  eröffnung  des  lateinischen 
pensums  auf  den  armen  schüler  losgelassen,  und  die  einprägung  der- 
artig manigfaltiger  vocabeln  wird  ihm  als  erste  leistung  zugemutet, 
und  was  ist  der  zweck  der  sache?  offenbar  die  Vermeidung  tri- 
vialer Sätze  bei  beginn  der  ersten  declination.  man  kann  nun  schon 
adjectiva  verwenden  und  sätze  wie  'multae  aquilae  in  silvis  densis 
habitant'  sind,  das  sei  zugestanden,  annehmbarer  als  der  alther- 
gebrachte satz  'aquilae  sunt  alae',  den  mancher  sextaner  früherer 
jähre  verwundert  angestaunt  hat.  aber  geschmacklosigkeiten  wie 
der  angeführte  satz  alter  probe  lassen  sich  auch  vermeiden,  ohne 
dasz  man  vor  der  zeit  das  geheimnis  des  adjectivums  mit  seinen 
verschiedenen  endungen  dem  sextaner  enthüllt,  um  dann  den  ballast 
der  nominative  masc.  und  neutr.  bis  zur  zweiten  declination  un- 
genützt mitzuschleppen,  wie  gut  sich  die  sache  machen  läszt,  be- 
weist der  abschnitt  IV  der  ersten  declination ,  überschrieben  Diana 
und  Minerva,  von  dessen  sieben  Sätzen  nur  einer  adjectiva  aufweist, 
diese  vorausnähme  der  adjectiva  und  der  zur  erläuterung  der  drei- 
geschlechtigkeit  nötigen  masculina  und  neutra  schafft  auch  noch 
einen  übelstand:  die  worte  fehlen  an  der  stelle,  wo  sie  hingehören, 
nämlich  bei  den  paragraphen  der  zweiten  declination,  so  dasz  der 
schüler  kein  einheitliches  bild  des  Wortschatzes  erhält,  aber  zu- 
gegeben: plumpe  trivialitäten  haben  die  Verfasser  vermieden,  für 
alle  Sätze  bei  allen  benutzern  des  buches  begeisterung  zu  erwecken, 
haben  sie  ja  wohl  selbst  nicht  gehofft,  und  wem  diese  oder  jene 
einzelheit  nicht  behagt,  der  kann  sie  ohne  groszen  schaden  im  unter- 
richte übergehen,  die  zusammenhängenden  btücke  bieten  eine  er- 
freuliche manigfaltigkeit  des  Stoffes:  fabel ,  sage,  geschichte,  be- 
schreibung,  naturbetracbtung  ,  moralische  probleme  —  dazu  rechne 
ich  die  im  geiste  der  friedensliga  gehaltene  betrachtung  über  krieg 
und  frieden,  nr.  87.  in  der  fülle  des  stoffes  möchte  eher  eine  be- 
schränkung  vorteilhaft  sein,  dasz  dabei  auch  einmal  ein  einzelnes 
sätzchen,  nr.  125.  135,  oder  deren  zwei,  nr.  78.  84.  90.  98.  126. 
148.  149.  150.  266.  267.  272  als  zusammenhängendes  lesestück 
auftreten  können,  sei  nur  als  curiosität  erwähnt,  dasz  der  Schwer- 
punkt auf  die  lateinischen  le^estücke  gelegt  wird,  ist  berechtigt,  sie 
sollen  dem  schüler  einen  kanon  richtig  gebildeter  formen  bieten, 
den  er  jederzeit  zu  rate  ziehen  kann,  das  material  zum  übersetzen 
ins  lateinische  soll  der  lehrer  selbst  schaffen  und  jederzeit  den  be- 
dürfnissen  der  schüler  anpassen  in  Quantität  und  geistigem  gehalte. 
Nun  bleibt  noch  ein  übelstand  zu  berühren,  den  auch  Poetzsch 
angedeutet  hat  in  seiner  recension  der  ersten  aufläge,  hervorgerufen 
durch  das  streben  nach  belehrenden  und  interessanten  Übersetzungs- 
abschnitten: die  masse  des  beiwerks  der  gelegentlich  zu  lernenden 
vocabeln,  die  ohne  zum  grammatischen  lehrstofife  des  paragraphen 
zu  gehören,  im  vocabular  diesem  zugeteilt  werden,  um  die  Über- 
setzung der  Übungsstücke  zu  ermöglichen,    nun  liegt  es  ja  auf  der 


W.Becher:  anz.v.Kautzmaiiu,PfafFu.  Schmidt  lat.  lese- u.  Übungsbuch.   109 

band :  nur  aus  Substantiven  der  ersten  und  zweiten  declination 
lassen  sich  keine  Sätze  bilden,  eine  anzahl  von  verbalformen  und 
adverbien  ist  unentbehrlich,  auch  einige  feste  redewendungen  wird 
man  als  gelegentliche  bereicherung  des  wissens  mit  in  kauf  nehmen, 
aber  was  auf  diesem  gebiete  die  drei  Verfasser  leisten,  ist  des  guten 
entschieden  zu  viel,  der  verschlag  Poetzschs,  nur  die  zum  gramma- 
tischen lehrstoffe  des  abschniites  gehörigen  und  als  solche  durch 
fetten  druck  ausgezeichneten  Wörter  lernen  zu  lassen,  die  übrigen 
zu  einem  wertschätze  zweiter  classe  herabzudrücken,  dessen  bestand- 
teile  nach  erledigung  des  abschnittes  der  Vergessenheit  anheimfallen 
dürfen,  widerspricht  der  absieht  der  Verfasser,  denn  die  gelegentlich 
beigebrachten  vocabeln  finden  in  den  folgenden  abschnitten  immer 
wieder  einmal  Verwendung  und  werden  dann  als  bekannt  voraus- 
gesetzt, auszerdem  ist  es  wohl  wenig  empfehlenswert,  vor  dem  Sex- 
taner eine  Unterscheidung  von  lehrstofiF  erster  und  zweiter  classe  zu 
machen,  es  bleibt  also  nur  übrig,  dieses  vocabelbeiwerk  zu  be- 
schneiden und  die  Übungsstücke  danach  umzugestalten,  diesen  weg 
haben  die  Verfasser  bei  abfassung  der  zweiten  aufläge  bereits  be- 
treten, wie  sie  in  dem  dazugehörigen  vorworte  erklären,  sie  können 
darin  ohne  schaden  noch  weitergehen. 

Soviel  zur  beurteilung  des  Kautzmann-Pfaff-Scbmidtschen 
Übungsbuches  für  sexta  in  der  gestalt  der  zweiten  aufläge,  es  bliebe 
eine  frage  noch  zu  erörtern:  ob  das  lehrpensum  für  den  sextaner 
zweckmäszig  abgegrenzt  ist.  dies  wird  erst  die  praxis  zu  erweisen 
haben,  und  genaue  feststellung  darüber  ist  erst  möglich,  wenn 
Schüler  von  sexta  bis  tertia  nach  den  Kautzmann-Pfaff-Schmidtschen 
lehrbücbern  ihr  latein  gelernt  haben,  soviel  die  andeutungen  der 
Verfasser  im  vorworte  zur  zweiten  aufläge  des  sextanerlehrbuches 
erkennen  lassen,  sind  in  Baden  die  erfolge  günstig  gewesen,  in 
Sachsen  erprobt  man  die  bücher  jetzt  an  zwei  stellen:  am  könig- 
lichen gjmnasium  in  Dresden-Neustadt  und  am  mädchengymnasium 
in  Leipzig,  die  lateinlernenden  damen  bewältigen  den  sextaner- 
cursus  in  einem  Semester  mit  vier  wechenstunden.  ich  selbst  habe 
mit  einer  Schülerin  des  mädchengymnasiums,  die  dort  zu  Michaelis 
eingetreten  ist,  während  des  sommersemesters  das  sextanerpensum 
nach  Kautzmann-Pfaff- Schmidt  durchgenommen  in  dnäszig  lehr- 
stunden mit  erschöpfung  des  gesamten  regelnstoffes  und  Wort- 
schatzes, allerdings  nur  mit  einer  auswahl  von  Übungsstücken,  ich 
möchte  den  versuch,  der  in  diesem  falle  sehr  gut  gelungen  ist,  nicht 
mit  jeder  Schülerin  wiederholen,  doch  musz  ich  gestehen,  dasz  mir 
auf  grund  dieser  benutzung  des  buches  ein  anderer  zweifei  auf- 
gestiegen ist:  ^kann  man  eine  gymnasialsexta  mit  dem  knappen 
pensum  regulären  lehrstoflfes,  wie  ihn  das  buch  bietet,  ein  volles 
jähr  lang  beschäftigen?  treten  neben  diesem  wenig  des  officiellen 
lehrpensums  mit  seiner  gar  so  vorsichtigen  beschränkung  in  com- 
paration,  Zahlwörtern  und  conjugation  —  keine  deponentia,  2e  con- 
jugation  nur  vertreten  durch  wörter  auf  -eo,  -ere,  -evi,  -etum;  -eo, 


110       Dunker:  anz.  v.  E.  Witte  das  ideal  des  bewegungsspiels. 

-ere,  -ui,  itum;  -eo,  -ere,  -ui  o.  s.;  3e  conjugation  nur  -io,  -ire,  -ivi, 
-itum  —  treten  daneben  die  zwanglos  beigemischten  weisheits- 
bröckchen  über  fragesätze,  städtenamen  (nr.  78)  ne  c.  conj,  perf. 
(nr.  120),  imperf.  de  conatu  (nr.  102)  und  der  belehrende  inhalt 
der  zusammenhängenden  Übungsstücke  nicht  zu  sehr  in  den  Vorder- 
grund? nehmen  wir  noch  den  erschwerten  anfang  des  pensums 
hinzu  mit  seinen  betrachtungen  über  die  drei  genera  und  die  Ver- 
wendung des  adjectivs,  so  möchte  ich  abschlieszend  urteilen: 

Ausgehend  von  dem  bestreben,  das  pensum  des  sextanercurses 
zu  entlasten  und  doch  zugleich  anregende  und  lehrreiche  Übungs- 
stücke zu  bieten ,  haben  die  Verfasser  die  Schwierigkeit  nicht  ganz 
beseitigt,  doch  wird  sich  das  in  einer  neuen  aufläge  leicht  vervoll- 
kommnen lassen. 

Leipzig.  Wilhelm  Becher. 


9. 

DAS  IDEAL  DES  BEWEGUNGSSPIELS  UND  SEINE  VERWIRKLICHUNG. 
EIN  BEITRAG  ZUR  THEORIE  DES  SPIELS  VON  DR.  E.  WiTTE, 
VERFASSER  DER  VOM  CENTRALAÜSSCHUSZ  GEKRÖNTEN  PREIS- 
SCHRIFT ÜBER  DEUTSCHE  VOLKSFESTE.  St.  Petersburg,  buch- 
druckerei der  kaiserlichen  akademie  der  Wissenschaften.    1896. 

Immer  mehr  wird  in  Deutschland ,  wie  in  allen  culturländern, 
die  thatsache  anerkannt,  dasz  ein  volkstümlicher  spielbetrieb  zu  den 
vernehmlichsten  wohlfahrtseinrichtungen  eines  landes  gehört,  mit 
dieser  erkenntnis  ist  schon  viel  gewonnen,  sie  hat  denen,  welche  der 
praktischen  Verbreitung  der  spielthätigkeit  einen  teil  ihrer  zeit,  kraft 
und  mittel  opfern,  eine  immer  gröszere  zahl  von  freunden  und  gönnern 
gesichert. 

Wir  sind  aber  erst  im  anfang  der  spielbewegung,  eine  gewisse 
einsieht  in  die  theorie  des  spiels  und  den  inneren  Zusammenhang 
der  verschiedenen  spiele  ist  noch  anzuregen,  die  angeführte  schrift 
hat  nicht  nur  theoretisch  eine  hohe  bedeutung,  sondern,  wie  theorie 
und  praxis  sich  gegenseitig  bedingen,  wird  sie  auch  den  mitten  in 
der  Spielleitung  stehenden  neue  gesichtspunkte  bieten;  gerade  den- 
jenigen ,  welche  bei  der  einführung  der  spiele  an  der  spitze  sich  be- 
finden, sei  die  schrift  nicht  am  wenigsten  empfohlen,  der  aufschrift 
entsprechend  wird  sie  den  weiteren  bestrebungen  zum  hinweis  auf 
die  richtigen  wege  dienen. 

Man  hört  noch  heute  vielfach  angesichts  forscher  fuszball-  und 
schlagballpartien,  selbst  von  solchen,  welche  sich  zu  einer  der  gegen- 
wärtigen Vereinigungen  zur  förderung  der  spiellust  haben  gewinnen 
lassen,  dasz  stets,  ebenso  gut  wie  heute,  gespielt  worden  sei;  man 
ist  sich  eben  nicht  klar  über  den  begriff  des  spiels  und  der  spiel- 
gruppierungen.  da  die  schule  die  Jugend  zum  spielen  erziehen 
soll ,  und  der  Verfasser  aus  der  logischen  einteilung  in  verschiedene 


Dunker:  anz.  v.  E.  Witte  das  ideal  des  bewegungsspiels.        111 

Spielgruppen  heraus  zu  einem  beachtenswerten  resultat  kommt, 
welche  bestandteile  ein  bewegungsspiel  haben  musz,  um  auf  die 
Jugend  einen  dauernden  reiz  ausüben  zu  können,  ist  es  unser  wünsch, 
dasz  die  kleine  Schrift  gerade  auch  in  pädagogischen  kreisen 
allgemeine  beachtung  finden  möge. 

Der  erste  teil  beschäftigt  sich  mit  den  verschiedenen  arten  der 
spiele  im  allgemeinsten  sinne  und  schlieszt  mit  einer  gemeinsamen 
definition  für  das  'darstellungs-'  und  das  'kampfspiel':  ^''piel  ist 
eine  thätigkeit,  in  der  eine  vom  menschlichen  geiste  willkürlich  ge- 
setzte idee  nach  ursprünglich  ebenso  willkürlich  bestimmten  regeln, 
unabhängig  von  den  bedingungen  wie  von  den  zielen  des  realen 
lebens  durchgeführt  wird.' 

Die  kämpf-,  im  gegensatz  zu  den  darstellungsspielen,  werden 
einerseits  in  zufalls-,  Verstandes-  und  bewegungsspiele  eingeteilt, 
anderseits  in  scherz-  oder  neckspiele  und  in  ernste  kampfspiele,  die 
letzten  werden  in  einer  form  ausgeführt,  die  den  formen  des  kampfes 
des  wirklichen  lebens  wohl  nachgebildet  und  ähnlich,  aber  nicht 
gleich  sein  darf. 

Im  zweiten  teile  mit  der  Überschrift  'die  bewegungsspiele 
unter  dem  gesichtspunkt  des  ernsten  kampfes  betrachtet'  entwickelt 
der  Verfasser  ganz  vortrefflich  den  begriff  des  einzel-  und  gruppen- 
spiels  gegenüber  dem  parteispiel,  sowie  des  neckspiels  gegenüber 
dem  resultatspiel  im  allgemeinen,  wie  dem  partiespiel  im  besondern, 
wir  schlieszen  uns  dem  ausgesprochenen  urteil  vollkommen  an,  dasz, 
wenn  auf  dem  spielplatze  ein  über  blosze  Spielerei  hinausgehendes 
spielleben  erwachsen  soll,  ernste  spiele  getrieben  werden  müssen, 
spiele,  die  zugleich  partei-  und  partiespiele  sind,  die  im  gegensatze 
zu  einem  kämpfe  neben  einander  einen  'kämpf  gegen  und  durch  ein- 
ander, mit  und  für  einander'  mit  sich  führen,  und  dasz  man  die 
Schüler  wenigfe  spiele  gründlich  lehi-en  und  sie  zu  einem 
ernsten  und  feinen  spiele  anhalten  soll. 

Mit  vollem  recht  stellt  W.  barlauf  und  fuszball  nach  dem 
moment  der  vei'wicklung  des  kampfes  an  die  erste  stelle  der  be- 
wegungsspiele. nichtsdestoweniger  können  spiele,  die,  wie  W.  sagt, 
anderen  dementen  ihre  beliebtheit  verdanken,  besonders  den  in 
ihr  verwandten  körperlichen  geschicklichkeiten,  eine  gleiche  be- 
rechtigung  haben  (barlauf  und  fuszball  bilden  beide  auszer  den 
inneren  Organen  einseitig  nur  die  unteren  gliedmaszen).  so  hat 
cricket  seinen  eigenartigen  reiz  besonders  auch,  weil  das  resultat 
nicht  nur  einen  parteisieg  zum  ausdruck  bringt,  sondern  auch  einen 
vergleich  der  einzelleistungen.  • 

Das  Schlagballspiel  kann  denselben  vorteil  bieten ,  und  wir 
fordern,  dasz  dieser  zur  geltung  kommt;  das  ist  aber  nicht  der  fall, 
wenn  der  Verfasser  in  dem  dritten  und  letzten  teile,  'dem  Schlag- 
ballspiel als  partei-  und  partiespiel',  die  buchführung  bei  diesem 
spiele  in  der  weise  vereinfachen  will,  dasz  er  nur  die  läufer  auf- 
zeichnen läszt.    zwar  gleichen  sich  die  punkte  für  die  treffer  und 


112       Dunker:  anz.  v.  E.Witte  das  ideal  des  bewegungsspiels. 

fangbälle  beider  parteien  aus,  sie  geben  aber  gerade  die  tüchtigkeit 
der  einzelnen  an. 

Es  ist  keineswegs  erforderlich,  dasz  zu  gunsten  des  durch- 
brechungsversuchs  und  dessen  Zurückweisung  das  fangen  (mit 
einer  band!)  und  das  lotrechte  emporwerfen  des  balles,  das  bei 
uns  erfahrungsmäszig  viele  Zuschauer  fesselt,  fortfällt,  sollten  bei  der 
weiteren  entwicklung  des  spiels  infolge  häufigen  wechseis  der  par- 
teien nur  wenige  laufe  erzielt  werden  können,  so  erblicken  wir  darin 
von  vorn  herein  keinen  mangel,  wird  doch  der  fuszball  oft  stunden- 
lang getreten,  ohne  dasz  am  schlusz  ein  mal  zu  verzeichnen  ist. 
übrigens  ist  das  fangen  bei  kräftigen  schlagen  von  60 — 80  metern, 
für  deren  richtung  ein  groszer  Spielraum  gelassen  ist,  nicht  so  gar 
leicht,  bei  uns  wird  nicht  gefordert,  dem  gegner  durch  schlage,  die 
für  ihn  bequem  sind,  zu  einem  vorteil  zu  verhelfen;  kräftige  und 
hohe  schlage  liegen  bei  gewandten  Spielern  im  eignen  interesse. 

Indem  wir  so  dem  schlagball  nach  den  Schneiischen  regeln  vor- 
läufig das  wort  reden,  wollen  wir  dem  dritten  teile  der  schrift  keines- 
wegs etwas  von  seiner  bedeutung  nehmen,  die  besprcchung  des 
Schlagballspiels  auf  grund  der  theoretischen  ergebnisse  der  ersten 
beiden  teile  ist  sehr  fesselnd,  desgleichen  die  Zusammenstellung,  wie 
von  Altona  die  ersten  'nachhaltigen  anregungen'  ausgiengen,  dieses 
spiel  mit  einem  '^sichtbaren  und  meszbaren  resultat'  zu  betreiben, 
aus  dem  vorgelegten  neuen  entwurf  von  regeln  für  das  Schlagball- 
spiel möchten  wir  besonders  die  zweite  hervorheben,  nach  der  ein 
geschlagener  ball  nur  dann  gültigkeit  hat,  wenn  er  aus  dem  mal 
über  eine  daselbst  straff  gespannte  leine  von  2  meter  höhe  hinweg- 
gieng.  wir  stimmen  darin  mit  W.  überein,  dasz  ein  läufer  nicht 
müste  zurückkehren  dürfen,  wenn  nach  ihm  geworfen  ist.  die  be- 
grenzung  des  schlagmals  durch  die  Verlängerung  der  längsgrenzen 
könnten  wir  gelten  lassen,  wie  auch  den  Wechsel  jedesmal  erst 
nach  drei  punkten,  wenn  allgemein  ein  zu  häufiger  Wechsel  als 
für  das  spiel  störend  empfunden  werden  sollte;  auf  keinen  fall 
möchten  wir  vorläufig  auf  die  gleiche  punktzahi  für  trefi'er  und 
fangbälle  verzichten. 

Der  bearbeitung  ist  ein  Schema  angefügt  mit  der  bitte,  die 
resultate  eines  spielsommers  nach  demselben  zu  notieren ,  sowie  ein 
absatz,  der  die  Vorzüge  des  cricket-  und  des  Schlagballspiels  treffend 
kennzeichnet. 

Die  streng  logische  behandlung  des  anregenden  Stoffes  wird 
auch  jeden  theoretiker  befriedigen. 

Hadersleben.  Dünker. 


ZWEITE  ABTEILUNG 

FUß  GYMNASIALPÄDAGOGIK  UND  DIE  ÜBRIGEN 

LEHRFÄCHER 

MIT    AUSSCHLÜSZ    DER    CLASSISCHEN    PHILOLOGIE 

HERAUSGEGEBEN  VON  PROF.  DR.  RiCHARD  RiCHTER. 


(L) 

VIVES  IN  SEINER  PÄDAGOGIK. 

eine  quellenmäszige  und  systematische  darstelliing. 

(fortsetzung  und  schlusz.) 


Zweiter  Zeitraum. 
Übersicht. 
§  42.  Umfaszte  der  Zeitraum  vom  siebenten  bis  zum  fünfzehnten 
jähre  die  sprachliche  Vorbildung,  so  bietet  der  zweite,  vom  fünf- 
zehnten bis  zum  fünfundzwanzigsten  jähre,  die  einführung  in  das 
Studium  der  philosophie,  naturwissenschaft  und  mathematik.  zur 
behandlung  kommen:  1)  logik  und  erster  teil  der  dialektik."' 
2)  naturkunde  und  metaphysik."^  3)  zweiter  teil  der  dialektik  und 
die  rhetorik.    4)  mathematik. 

Logik. 
§  43.  Diese  formalen  philosophischen  Vorstudien  können  schon 
vor  abschlusz  des  ersten  Zeitraums  begonnen  werden,  da  sie  mit  dem 
Unterrichtsstoffe  desselben  eng  zusammenhängen,  indem  die  spräche 
aussagen  macht,  deren  Wahrheit  mit  hilfe  der  logik  untersucht  wird, 
als  lehrbücher  dienen  Aristoteles'  bücher  rrepi  epjuriveiac  und  dva- 
XuTiKCi  TTpÖTcpa  mit  auslassung  der  dunkeln  stellen,    gewarnt  wird 


2»3  der  vieldeutige  begriff  dialektik  umfaszt  nach  trad.  disc.  4,  2 
{VI  354)  die  lehre  vom  urteil  und  von  den  beweisen,  separavimus  tarnen 
tradendi  loco,  quoniam  sie  interest  discentium.  auseinandersetzungen 
über  die  verschiedenen  bedeutungen  dieses  wertes  bei  den  philosophen 
ausiubrlich  caus.  corr.  3,  1  (VI   110  ff.). 

22^  man  beachte,  dasz  das  alte  trivium,  gramniatik,  rhetorik,  dialektik 
(artes  sermonicales),  durchbrochen  wird  durch  eine  reale  Wissenschaft, 
und  dasz  diese  die  grundlage  für  das  eigentliche  philosophische  Studium 
bildet,  vgl.  anm.  305.  hier  sei  erwähnt,  dasz  Vives'  schrift  de  initiis, 
sectis  et  laudibus  philosophiae  1518  (Maj.  opp.  III  3—24)  eine  geschichte 
der  Philosophie  bis  auf  Aristoteles  ist. 

N.  jahrb.  f.  phil.u.  päd.  II.  abt.  1897  hft.  3.  8 


114  F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik. 

vor  den  verwirrenden  commentaren.  dazu  kommen  einige  werke 
neuerer  Schriftsteller,  auszerdem  wird  eine  ganze  reihe  zur  privat- 
lectüre  empfohlen. 

Hand  in  hand  mit  dem  theoretischen  unterrichte  in  dieser  dis- 
ciplin  gehen  disputationsübungen  über  thesen ,  welche  der  lehrer 
aufstellt,  sie  dienen  hauptsächlich  zur  erlernung  der  methodej 
namentlich  ist  die  Sokratische  (inductive)  frageweise  anzuwenden, 
man  hüte  sich  aber  vor  Streitsucht.*^^ 

Naturwissenschaft  und  metaphysik. 

§  44.  Der  hauptgrund  des  Verfalls  der  naturwissenschaft  ist, 
dasz  man  dieselbe  nur  aus  büchern  gelernt  hat.  über  Aristoteles 
und  Plinius  wagte  man  nicht  hinauszugehen,  enthalten  dieselben 
auch  sehr  viel  brauchbares,  so  leiden  sie  doch  an  vorschneller  Ver- 
allgemeinerung auf  grund  zu  weniger  einzelbeobachtungen.  es  sind 
oft  sehr  schwache  argumente,  welche  Aristoteles  für  seine  ansieht 
und  gegen  die  seiner  Vorgänger  vorbringt,  ferner  greift  er  nach 
dingen ,  die  sich  unserer  prüfung  entziehen ,  und  bietet  so  ein  den 
Scholastikern  willkommenes  feld  zu  disputationen  und  gegenstands- 
losen Zänkereien ,  über  welche  sie  die  eigne  betrachtung  der  dinge 
selbst  unterlassen  haben,  die  commentatoren,  namentlich  Averroes, 
haben  sie  noch  weiter  vom  rechten  wege  abgeführt. ''^^ 

§  45.  Der  zweck  dieser  disciplin  ist  schärfung  der  beobachtungs- 
gabe  durch  autopsie,  gewinnung  praktischer  vorteile,  förderung  weni- 
ger der  metaphysischen  erkenntnis  als  der  frömmigkeit.  ^"  eine 
Wissenschaft  in  strengem  sinne  ist  sie  nicht,  weil  vieles  unerklärt 


"*  trad.  disc.  4,  1  (VI  345  ff.)- 

*^^  caus.  corr.  5,  1  (VI  181  ff.),  gegen  Aristoteles  namentlich  5,  2 
(VI  189  f.).  einleitend  s.  185:  *equidem  in  inspectione  naturae  hand 
Video,  quem  possem  illi  (Aristoteli)  comparare,  sed  huius  placita  atque 
opiniones  de  natura  rerum  nostri  homines  eiusmodi  rentur  esse,  nihil 
ut  humanum  Ingenium  exactius  vel  certius  possit  exculpere,  communi 
hac  quidem  naturae  luce  adiutum,  et  rectum  ...  et  qua  res  magna  et 
crassa  ignorantia  videtur  mihi  claudi,  idcirco  longius  paullo  ac  subti- 
lius  de  ea  disseram,  nam  si  quid  dicerent,  omnino  intelligerent,  aibitror 
eos  facile  a  sententia  discessuros:  dedit  natura  homini  sensu s  in  cor- 
pore; in  animo  vero  acumen,  quo  cernat,  speculetur,  intelligat,  appre- 
hendat;  tum  iudicium,  quo  sparsa  et  dissipata  colligat,  ad  nanciscendum 
verum  .  .  .  contrarium  reiicit  .  .  .  hinc  adiuvatur  experimen  tis,  ac  usu 
rerum,  intentione  animi,  studio,  sedulitate,  memoria,  exercitatione,  quae 
quando  sua  cuique  non  sufficiunt,  accedunt  aliena  per  doctrinaui  homini 
ab  homine  traditam.  eine  weitere  ausführung  dieser  gedanken,  die  Vives 
zum  Vorläufer  Bacons  machen,  gehört  nicht  in  die  darstellung  seiner 
pädagogik.  ich  verweise  nur  noch  auf  anm.  56,  301.  beispiele  des  Ver- 
falls 8.  Sapiens  (IV  26). 

"^  s,  anm.  56  und  die  unten  folgenden  ausführungen.  'trad,  disc. 
1,  6  (VI  268):  contemplatio  naturae  .  .  vel  ad  vitae  commoda,  vel  ad 
suspectum  atque  admirationem  auctoris  (traducatur);  *4,  2  (VI  353): 
institutor  .  .  .  omnem  de  natura  commentationem  ad  mores  excolendos 
referat,  ut  animos  ad  virtutem  fingat,  pietatis  respectum  et  curam  in- 
stillet pectoribus.    ähnlich  oft  angedeutet,     s.  auch  die  folgende  anm. 


F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik.  115 

und  unbewiesen  bleibt. ^^®  gerade  darum  schlieszt  sie  eine  grosze 
gefabr  für  den  glauben  in  sieb ,  welhalb  sorgfältige  auswabl  der 
scbüler  und  bei  tieferem  eindringen  gleicbzeitiger  unterriebt  in  der 
metaphysik  nötig  ist.  *'^ 

Der  unterriebt  in  diesen  fächern  umfaszt  drei  stufen:  1)  im 
anfange  wird  das  leicbteste  genommen,  d.  i.  das  den  sinnen  zugäng- 
liche, die  autopsie  erweitert  sieb  zu  einer  über  siebt  über  die 
ganze  natur  'gleichsam  als  wenn  man  die  weit  on  die  tafel  malt', 
schweigende  naturbetracbtung  und  fragen  sind  wahrhaft 
bildend,  nicht  disputationen.  als  lectüre  dient  auszer  der  peri- 
patetischen  schrift  'über  die  weit'  und  einigen  werken  neuerer 
vor  allem  Pomponius  Mela  und  Plinius.  privatim  studiere  man  die 
Ptolemäischen  karten  mit  berücksicbtigung  der  letzten  entdeckungen 
(nostrorum).""  unfähige  und  solche,  die  zu  anderem  übergehen 
wollen  ,  machen  hier  halt."'  2)  für  die  anderen  folgt  eine  ausführ- 
lichere darstellung  der  ganzen  botanik,  Zoologie,  mineralogie,  hydro- 
graphie,  geographie.  bildungsmittel  sind  vor  allem  scharfe  Selbst- 
beobachtung, beschäftigung  mit  landwirtschaftlichen  dingen, 
fleiszige    Spaziergänge,    auf   welchen    allseitige    anschauung    anzu- 

22»  irad.  disc.  4,  1  (VI  347  f.):  in  naturae  contemplatione,  ac  venti- 
latione,  primum  sit  praeceptum,  ut  quandoquidem  scientiam  ex  liis  parare 
nullam  possumus,  ne  nimium  indulgeamus  nobis  iis  scrutandis  et  exqui- 
rendis,  ad  quae  non  quimus  per  venire,  sed  studia  nostra  omnia  ad  vitae 
necessitates,  ad  usum  aliquem  corporis  aut  animi,  ad  cultum  et  incre- 
menta  pietatis  conferaraus,  siquidem  intenta  et  accurata  diligentia  nihil 
assequimur  aliud  quam  .  .  .  afflictionem  .  .  in  omni  philosophia  quae 
est  de  natura,  illud  praedicetur  iuveui,  ea  illum  modo  auditurum,  quae 
imaoinem  habeant  veri  ,  .  .  nam  quod  nos  verum  esse  pro  certo  possimus 
confirraare,  larum  est.  Ainaud  s.  82  bemerkt  hierzu,  dasz  Vives  hier 
mehr  als  pädagoge  denn  als  philosoph  rede,  zweifellos  aber  ist  diese 
Skepsis  sein  eigener  philosophischer  Standpunkt  gewesen  im  gegensatze 
zu  den  Scholastikern,  die  alles  erklären  konnten,  s.  ver.  fid.  1,  4  (VIII  23); 
de  prima  philosophia  2  (III  243).     vgl.  anm.  39. 

*23  trad.  disc.  4,  1  (VI  347):  idcirco  ab  studio  hoc  summovendi  suspi- 
caces,  quique  omnia  vertunt  in  deterius;  nee  quidquara  disciplinae  huius 
tradendum  parum  tirmis  in  sancta  persuasione,  nisi  etiam  addantur  ex- 
actae  causae  primae  philosopbiae ,  quae  ad  divinitatis  cognitionem  per- 
tingunt  .  .  .  *contemplatio  rerum  naturae  nisi  artibus  vitae  serviat,  aut 
ex  notitia  operum  sustoUat  nos  in  auctoris  notitiam,  ad  admirationem, 
amorem,  superiiua  est,  ac  plerumque  noxia. 

230  *  trad.  disc.  4,  1  (VI  348  f.):  initio  exhibenda  sunt  facillima,  id  est, 
sensibus  ipsis  pervia,  hl  sunt  enim  ad  cognitionem  omnem  aditus; 
ideo  primum  inter  haec  obtinebit  locum  expositio  quaedam,  et  velut 
naturae  totius  pictura,  coeloium,  elementorum  et  earum  rerum  quae 
sunt  in  coelis,  quaeque  in  elementis,  igne,  aere,  aqua,  terra;  ut  non 
aliter  summa  quadara  sit  comprehensa  delineatio  atque  orbis  universi 
descriptio  in  tabula  .  .  nihil  est  hie  opus  disputationibus,  sed  contempla- 
tione naturae  tacita;  quaerent  Interim  et  rogabunt  verius,  quam  alter- 
cabuntur  aut  disputabunt.  daselbst  sind  auch  die  angeführten  werke 
kurz  charakterisiert. 

23'  trad.  disc.  4,  1  (VI  349):  sunt  nonnuUi  haud  satis  altiori  causa- 
rum  inquisitioni  idonei  .  .  quod  caput  .  .  vel  in  splendorem  intueri  non 
sustineat  .  .  vel  non  libeat  .  .  bis  est  hoc  sistendum  loco. 

8* 


116  F,  Kuypers :  Vives  in  seiner  pädagogik. 

stellen  ist  und  gärtner,  bauern  usw.  befragt  werden  sollen,  da- 
mit verbinde  sich  eingehendere  lectüre.  disputationen  sind  zu  ver- 
werfen. "-  3)  wer  in  diesem  Studium  noch  weiter  fortschreiten  will, 
der  musz  von  der  physischen  weltbetrachtung  zur  metaphysischen, 
zu  dem  Schöpfer  selbst  emporsteigen.  ^^^ 

Aber  hier  ist  dem  Irrtum  thür  und  thor  geöffnet.  *non  est 
natura  ad  gentiliciam  lucernam  scrutanda  obscurae  lucis  malignaeque, 
sed  ad  facem  hanc  solarem,  quam  Christus  mundi  tenebris  invexerit. 
trad.  disc.  4,  2  (VI  351)."^  als  lectüre  dienen  die  acht  bücher  der 
physik,  die  sechs  ersten  bücher  der  metaphysik  des  Aristoteles,  die 
übrigen  möge  der  schüler  privatim  lesen  und  excerpieren.  aus  den 
werken  des  Porphyrius ,  Boetius,  Speusippus  suche  der  lehrer  das 
für  den  schüler  passende  aus.^^^ 

*ä2  die  fächer  sind  der  inhalt  der  angeführten  und  charakterisierten 
schriftsteiler,  die  er  als  lectüre  empfiehlt.  *trad.  disc.  4,  1  (VI  350): 
qui  porro  pergit  ad  sequentia  .  .  contemplabitur  rerum  naturam  in  coelo 
et  nubilo  et  sereno,  in  agris,  in  montibus,  in  silvis;  tum  ex  iis  quaeret 
et  sciscitabitur  multa,  qui  in  locis  illis  sunt  frequentes,  quod  genus  sunt 
hortulani,  a^ricolae,  pastores,  venatores,  quod  Plinius,  et  alii  barum 
rerum  magni  auctores  indubie  fecerunt  .  .  .  Ipse  etiam  sive  contempletur 
quid,  sive  narrantem  audiat,  non  oculos  modo  intentos  habeat  vel  aures, 
sed  animum  quoque;  magna  enim  et  accurata  animadversione  est  opus 
in  omni  natura  contuenda.  dann  werden  die  (praktischen)  vorteile  und 
die  annehmlichkeiten  kurz  angeführt,  welche  aus  einer  solchen  Selbst- 
beobachtung entspringen.  *quo  circa  dum  contemplationi  huic  datur  opera, 
non  est  aliunde  recreatio  petenda,  nee  cibo  huic  condimentum;  deambu- 
latio  ipsa,  atque  otiosa  illa  contemplatio,  et  schola  est,  et  magister,  ut 
quae  aliquid  semper  quod  cum  admiratione  .speeuleris  ostendit,  unde 
eruditio  increscat  .  .  nihil  hie  iam  opus  est  altercationibus  et  rixis,  sed 
aspectu  quodam.  ein  teil  dieser  stelle  ist  von  Comenius  physicae  Syn- 
opsis 8.  54  citiert  (ausg.  von  Keber  1896):  die  bemerkung  des  heraus- 
gebers  s.  XXV  und  s.  8,  dasz  Vives  in  seinem  realismus  'über  all- 
gemeine anklagen  gegen  die  antike  und  scholastische  philosophie'  und 
*über  allgemeine  bemerkungen'  wenig  hinausgeht,  dürfte  Vives  doch 
unterschätzen,  wenn  er  hinter  Comenius  zurückbleibt,  so  vergesse  man 
nicht,  dasz  dieser  nach  Copernicus,  Campanella  und  Bacon  lebte,  und 
dasz  Vives  ein  aus  der  Scholastik  hervorgewachsener  humanist  war. 
wesentlich  ist,  dasz  das  princip  von  Vives  vor  Bacon  und  Comenius 
deutlich  und  wiederholt  ausgesprochen  ist.  vgl.  auch  anm.  56  u.  301 
sowie  §  57  u.  58. 

2^^  trad.  disc.  4,  2  (VI  351):  qui  pergent  ulterius  discere  ,  iis  ... 
artificium  naturae  occultum  declarabitur,  quae  est  prima  philosophia  .  . 
unde  ad  deum  usque  conscendimus,  parentem  causamque  universorum, 
si  modo  recta  insistamus  via. 

23*  von  Comenius  als  motte  der  praefatio  der  physicae  Synopsis  vor- 
gesetzt und  auszerdem  s.  52  citiert.     vgl.  anm.  67. 

2''^  trad.  disc.  4,  2  (VI  351) :  eam  ad  rem  nos  tentavimus  opus  scri- 
bere,  ne  haberemus  gentilicia  consectari  tanto  detrimento  religionis,  aut 
certe  discrimine.  es  ist  sein  werk  de  prima  philosophia  (III  184 — 297), 
in  welchem  er  eine  faszliche  darstellung  mit  übergehung  der  subtilen 
scholastischen  Streitpunkte  zu  geben  sucht;  4,  1  (VI  348):  nee  attin- 
genda  Arabica  indocta,  insulsa,  impia,  sed  nee  veterum  Graecorum  La- 
tinorumve,  quamlibet  doctorum  hominum,  rimandae  opinioues  omnes  ac 
placita  .  .  .  itaque  et  in  Aristotele  molestas  illas  disputationes,  seu  rixas 
verius,  contra  antiquos  philosophos  praetereundas  censeo. 


F.  Kuypers;  Vives  in  seiner  pädagogik.  117 

Diese  Wissenschaft  erfordert  einen  schüler,  der  zu  abstracter 
auffassung  fähig  und  nicht  streitsüchtig  ist,  einen  lehrer,  der  mit 
groszem  fleisze  das  bewustsein  seiner  Unzulänglichkeit  verbindet.*^* 
hier  besonders  gilt:  noli  contra  verum  ingeniosus  aut  doctus  existi- 
mari,  trad.  disc.  4,  2  (VI  3o3).  darum  ziehe  sich  der  lehrer  dieses 
faches  öfters  zurück,  um  still  für  sich  über  metaphysische  probleme 
nachzudenken,  getreu  dem  Chrysippus:  si  inter  plurimos  exercerem, 
nunquam  philosopharer. 

Dialektik  und  rhetorik. 

§  46.  Beide  geben  leicht  zu  Streitereien  anlasz,  weshalb  sie 
nur  in  beschränktem  masze  betrieben  werden.-"  da  sie  mehr  als 
alle  anderen  zum  bösen  misbraucht  werden  können,  sind  von  ihnen 
diejenigen  schüler  fern  zu  halten,  welche  einen  streitsüchtigen,  arg- 
wöhnischen und  käuflichen  Charakter  haben;  der  lehrer  dieser  fächor 
sei  urteilsfähig,  gelehrt  und  beredt,  dazu  ein  feiner  und  rücksichts- 
loser beobachter  von  fehlem,  sonst  werden  sie  ein  'schwort  in  der 
band  des  rasenden'. 

Die  dialektik.  §  47.  die  Scholastiker  haben  fälschlich  in 
ihre  dialektik  auch  grammatische,  rhetorische  und  metaphysische  er- 
örterungen  hineingezogen,  von  welchen  sie  strenge  zu  sondern  ist. 
denn  sie  ist  weiter  nichts  als  die  Untersuchung  über  die  formale 
richtigkeit  der  sätze  und  ihrer  Verbindungen,  mit  dieser  vermengung 
der  Wissenschaften  hängt  es  zusammen,  dasz  die  knaben  vor  gründ- 
licher Unterweisung  in  der  Sprachwissenschaft  zum  Studium  der  dia- 
lektik herangezogen  wurden,  während  doch  die  regeln  der  letzteren, 
wie  die  der  grammatik  und  rhetorik,  erst  aus  der  spräche  abzuleiten 

236  *trad.  disc.  4,  2  (VI  352):  desiderat  disciplina  haec  auditorem  in- 
genii  attollentis  se,  ac  erigens  supra  sensus  ad  causas  rerum  ac  pri- 
mordia,  ad  collectioi:em  universalis  ex  singulis,  in  quibus  generalibus 
est  doctrina,  sicut  in  singularibus  delectatio;  illud  enim  est  mentis,  hoc 
sensus;  ideoque  magis  delectat  Plinius,  Aristoteles  magis  docet:  alienum 
est  ab  Institute  hoc  ingenium  nugax,  inepte  coniectans,  item  conten- 
tiosum,  ut  rationem  ad  omnia  evidentem  atque  invincibilem  efflagitet, 
quae  non  potest  ubique  exhiberi  par;  sed  convenit  .  .  contentum  esse  .  . 
verisimilitudine  .  .  .  (desiderat  magistrum)  diligentem,  mcderatum,  mi- 
nime  arrogantem,  aut  in  statuendo  praecipitem,  nee  aliter  cunctabundum 
atqne  sustinentem  sese ,  quam  qui  se  in  tenebris  et  per  lubricum  in- 
tellegit  vadere. 

237  diese  beiden  im  trivium  oft  vermengten  artes  sermonicales  unter- 
scheidet er  kurz  pseudo-dial.  (III  41):  dialectica  in  hoc  vulgari,  et  qui 
est  omnium  in  ore  sermo,  verum,  falsum,  probabilitatem  invenit,  rhetorica 
vero  ornatum,  splendorem,  gratiam;  *(III  58):  inepte  profecto  facit,  quis- 
quis  in  eo  anxie  componendo  longum  laborem  adit,  et  non  protinus  illi 
operam  dat,  propter  quod  instrumentum  paratum  est.  quis  feret  pictorem 
in  componendo  penicillo,  in  ferendis  coloribus  etc.  .  .  .  totam  aetatem 
consumere?  trad.  disc.  4,  2  (VI  355  f.) :  affert  enim  utraque  ars  malitiae 
plurimum,  reddunt  enim  spinosos,  rixosos,  fraudulentos.  *  pseudo-dial. 
(III  58):  itaque  tanta  est  dialecticae  artis  aecipienda  cognitio  quantum 
sat  est  ad  efficiendum,  ne  illius  ignoratio  in  reliquis  artibus  nobis  offi- 
cere  queat. 


118  F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik. 

sind,  auf  kosten  der  übrigen  philosophie  wurde  sie  viel  zu  ein- 
gehend betrieben,  bis  sie  in  leere  Sophisterei  und  gehässige  Zänkerei 
ausartete.  ^^^ 

§  48.  Der  unterrichtsgang  ist  folgender*'^:  1)  der  schüler 
wiederholt  den  vorti-ag  des  lehrers  mit  denselben  oder  mit  anderen 
beispielen.  2)  es  wird  mit  dem  schüler  untersucht,  auf  welchem 
wege  grosze  Schriftsteller  ihre  beweise  gefunden,  und  wie  sie  die- 
selben angewandt  haben.  3)  diese  argumente  werden  nach  allen 
selten  hin  begrifflich  zerlegt.  4)  zwei  oder  mehr  begriffe  werden 
von  den  verschiedensten  Standpunkten  aus  mit  einander  verglichen 
(ut  si  quis  philosophum  et  uxorem  conferat  inter  se). 

Als  schul-  und  privatlectüre  dienen  besonders  die  dialektischen 
Schriften  des  Aristoteles,  Boetius,  Cicero  und  Agricola. 

Die  rhetorik.  §  49.  die  echte  redekunst  ist  mit  den  repu- 
bliken der  alten  zu  gründe  gegangen ;  nur  ein  spiel  mit  fingierten 
motiven  und  zwecken  ist  in  der  schulrhetorik  übrig  geblieben,  selbst 
diese  ist  verfallen  und  zwar  dadurch,  dasz  ihr  begriff  einerseits  zu 
eng,  anderseits  zu  weit  gefaszt  worden  ist:  zu  weit,  indem  man  sie 
verquickte  mit  grammatik  und  dialektik,  zu  eng,  indem  man  sie  in 
lauter  formale  regeln  fassen  zu  können  glaubte,  die  rhetorik  hat 
nicht  die  sprach-  oder  denkrichtigkeit,  sondern  die  Schönheit  der 
rede  zum  gegenstände,  diese  aber  ist  wesentlich  von  ihrem  Inhalte 
abhängig,  darum  musz  mit  der  kenntnis  der  regeln  notwendig  Ver- 
trautheit mit  dem  stoffe  verbunden  sein:  natur,  geschichte, 
Politik,  erfahrung  liefern  ein  frei  auszubeutendes  material  statt  des 
elenden  flickwerkes  der  musterbeispiele  und  gemeinplätze.  mög- 
lichste freiheit  für  die  inventio  und  dispositio,  welche  eigentlich  gar 
nicht  verschieden  sind,  und  für  die  elocutio  nicht,  wie  in  der 
scholastischen  rhetorik ,  künstliche  kategorien  und  schematisierende 
regeln,  sondern  individuelles  verfahren  nach  dem  einzigen  grund- 
satze,  die  rede  den  gegebenen  Verhältnissen  anzupassen,  wenig 
theorie  und  viel  Übung,  das  ist  der  weg,  auf  welchem  der  schüler 
nicht  sowohl  'rhetorik'  als  vielmehr  'reden'  lernt.  ^'"    praeceptorum 


238  ,Je,.  polemik  gegen  die  scholastische  dialektik  begegnet  man  fast 
in  allen  seinen  Schriften,  ausführlich  und  in  Verbindung  mit  einer  kritik 
des  Aristoteles,  des  Urhebers  jener  angedeuteten  vermengung,  caus.  corr. 
3,  1  f.  (VI  110  IT.),  ferner  pseudo-dial.  (III  39  f.,  58  f.);  beispiele  des  ver- 
falle Sapiens  (IV  25).  bei  keinem  anderen  fache  geiszelt  er  die  schola- 
stischen misbräuche  mit  gleicher  schärfe  und  ironie.  es  ist  die  bittere 
erinnerung  an  nutzlos  verbrachte  Studienjahre  veranlassung  seiner 
heftigkeit:  caus.  corr.  3,  7  (VI  146  f.):  huic  Lutetiae  duos  annos  im- 
pendi,  ceterae  autem  philosophiae,  et  de  natura,  et  de  moribus,  et 
primae  philosophiae  vix  annum  .  .  pseudo-dial.  (III  59):  in  hac  inutili 
et  vanissima  dialectica  vel  unam  consumptam  semihoram  esse  nimis 
(fateor).     vgl.   anm.  40  und  Ritter  (cit.  ebenda)  V  s.  440  f. 

"9  trad.  disc.  4,  2  (VI  356  f.). 

2'"  declam.  pro  Noverca,  praef.  (II  485):  republica  pop.  Rom.  iu 
unius  ius  ac  potestatem  redacta  eloqnentia  quoque  veterem  libertatem 
cum  populo  amisit  ..  coepit  ceu  vincula  induere;   nee  parva  sana  pars 


F.  Kuypers:  Vives  ia  seiner  pädagogik.  119 

et  artis  huius  mea  ratio  omnino  est  nova,  multumque  ab  illa  vetere 
ac  pervulgata  diversa.    rat.  die.  praefatio  (II  92). 

§  50.  Ziel  des  Unterrichts  ist  'eine  den  personen  und  Sachen, 
dem  orte  und  der  zeit  angemessene  rede  zu  führen  und  sich  dabei 
alles  verkehrten,  albernen  und  unnötigen  zeuges  zu  enthalten'. ^^' 

Der  lehrgang  ist  dieser''^- :  1)  belehrung  über  die  verschiedenen 
zwecke  der  rede.  2)  untervpeisung  über  die  mittel  zur  erreichung 
des  Zweckes:  objective,  Wörter  und  deren  sinn,  subjective,  vertrag, 
gesten,  eigenart  des  redners,  der  hörer,  des  ortes  usw.  als  hilfs- 
bücher  dienen  namentlich^'^  Cicero  und  Quintilian,  aus  welchen  der 
lehrer  blumeniesen  zu  sammeln  hat.  3)  historische  erörterung  über 
entstehung,  entwicklung  und  Untergang  der  sprachen,  Würdigung  der 
einzelnen  sprachen.  4)  praktische  redeübungen  mit  kritik  seitens 
des  lehrers,  welch  letztere  vom  schüler  auszuarbeiten  ist.^" 

Grundsätze  für  den  Inhalt  der  rede  sind :  die  schüler  sollen  nie- 
mals gegen  die  Wahrheit  sprechen,  weshalb  die  juristische  rede  aus- 
zuschlieszen  ist.  die  wähl  der  gegenstände  erfolgt,  abweichend  von 
den  alten,  nur  mit  rücksicht  auf  ihre  Verwendbarkeit  im  leben. 
für  den  Vortrag  gilt:  jede  künstelei  ist  zu  vermeiden. '^^^ 

in  scholas  abiit,  ut  non  iam  vera  .  .  declamarentur  .  .  sed  ficta  etc. 
ähnlich  Sapiens,  praef.  (IV  21)  u.  öfter,  rat.  die.  praef.  (II  92):  sed 
nostri  isti,  in  quos  disputamus  (d.  s.  die  humanisten  mit  ihrer  'absoluten 
hochschätzung  der  form')  eo  sunt  falsi,  quod  arbitrantur  universam  di- 
cendi  artem  ea  parte  concludi,  quae  est  de  verbis,  velut  de  schematibus, 
de  tropis,  de  periodis  et  concentu  dictionis,  quae  non  tarn  ad  dicendi 
corpus  ipsum,  et  quasi  substantiam  faciunt,  quam  ad  dicendi  decorera 
atque  ornamentum;  2,  1  (II  139):  debet  enim  sermo  omnis  habere  velut 
corpus  aliquod  gemmis  vel  floribus  distinctura.  ich  führe  diese  stellen 
an,  weil  Vives  sich  durch  diese  anschauungen  wesentlich  von  den  übrigen 
humanisten  unterscheidet,  vgl.  anm.  33.  im  übrigen  sind  die  obigen 
forderungen  ausgesprochen  declaraationes  Syllan.  praef.  (II  322  f.), 
pseudo-dial.  (III  41)  und  namentlich  rat.  die.  (II  93  ff.).  Grässe  (cit. 
anm.  108)  tadelt  diese  reformen!  daselbst  näheres  über  ähnliche  bestre- 
bungen  jener  zeit  s.  681. 

2<i  trad.  disc.  4,  3  (VI  357):  quantum  ergo  est  uti  sermone  decenti 
«t  consentaneo  personis,  rebus,  locis,  temporibus,  ne  quid  exeat  per- 
verse, pueriliter,  indecore!  neque  enim  alio  est  tota  haec  tractatio 
convertenda,  non  ad  inane  verborum  Studium  etc. 

2"  trad.  disc.  4,  3  (VI  357  ff.). 

**^  es  werden  noch  zehn  andere  zur  schulmäszigen  und  verschiedene 
zur  privaten  lectüre  empfohlen, 

**'*  trad.  disc.  4,  3  (VI  361):  singulis  hebdomadibus  declamationem 
unam  apud  cunctum  auditorium  institutor  corriget;  considerabit  primum, 
qua  de  re  dicatur,  hinc,  quis,  quo  tempore,  ad  quos  fingatur  dicere,  tum 
examinabit  verba  simplicia  etc.  ganz  ausführlich;  .  .  .  *nam  ex  cor- 
rectione  una  plus  eruditionis  et  iudicii  refert  auditor,  quam  ex  prae- 
lectionibus  .  .  permultis. 

^*^  trad.  disc.  4,  3  (VI  360):  satius  est  causae  detrimentum  pati, 
quam  virtutis  .  .  .  iudiciali  genere  nihil  omnino  indigemus  .  .  .  *decla- 
ment  iuvenes  apud  magistros  de  iis  argumentis,  quorum  aliquis  sit  dein- 
ceps  usus  in  vita;  non  quemadmodum  prisco  illo  seculo  de  iis  rebus 
dicebant  in  suhola,  quae  nunquam  in  vita  contingerent,  de  quo  merito 
<5uintilianus  conqueritur.     s.  anm.  241. 


120  F.  Kuypers :  Vives  in  seiner  pädagogik. 

Für  die  methode  ist  zu  beachten :  anfangs  entlehne  der  schüler 
ganze  Wendungen  den  Schriftstellern,  allmählich  steige  er  aber  zu 
freier  nachbildung  auf.  seine  leistungen  vergleiche  er  nicht  blosz 
mit  denen  der  alten ,  sondern  auch  mit  seinen  eignen  früheren. 

über  die  nachahmung,  das  hauptsächlichste  bildungsmittel  in 
der  redekunst,  ergeht  sich  Vives  in  umfangreichen  erörterungen.  "''^ 
ich  hebe  folgendes  als  charakteristisch  hervor:  der  schüler  versuche 
nicht  sogleich  einen  schriftsteiler  nachzuahmen,  sondern  nehme  sich 
zuvörderst  ältere  mitschüler  und  darauf  den  lehrer  zum  muster.  ^^'^ 
aus  den  Schriftstellern  wähle  er  sich  nicht  ein  einzelnes  vorbild  aus 
sondern  befolge  die  ansieht  Quintilians:  quo  plura  exempla  ostensa 
sunt,  hoc  plus  eloquentia  proficitur.  indes  hat  er  nach  anweisung  des 
lehrers  dem  vor  allem  nachzueifern ,  der  seiner  individuellen  stilisti- 
schen eigentümlichkeit  und  neigung  am  meisten  entspricht:  Cicero 
für  wortfülle,  Demosthenes  für  präcision,  Sallust  für  kürze  usw.*^* 
diese  Individualität  des  stils  darf  nicht  durch  empfehlung  eines  un- 
angemessenen musters  verdorben  werden. 

Vives  geiszelt  das  servum  pecus  der  geistlosen  nachschreiber 
aufs  schärfste,  solche  'dohlenarbeit'  ist  nur  im  anfange  als  not- 
behelf  zu  dulden,  der  schüler  bemühe  sich,  'vom  papiere  gleichsam 
in  die  geheime  gedanken Werkstatt  des  Verfassers  einzudringen'^ 
genesis  und  methode  des  werkes  zu  untersuchen,  festzustellen, 
welche  zwecke  dasselbe  verfolgt  und  wie  es  sie  erreicht."'  das 
streben,  die  alten  zu  erreichen  oder  gar  zu  übertreffen,  oder  die 
Originalität  eines  Schriftstellers  sich  anzueignen  ,  kann  zu  ubsurdi- 
täten  führen."" 

Mathematik. 
§  51.  Die  mathematik  der  alten  ist  reiner  als  die  andern  Wissen- 
schaften auf  uns  gekommen ,  hauptsächlich  weil  man  sich  weniger 


2«  besonders  trad.  disc.  4,  4  (VI  361  ff.). 

^"  dasselbe  princip  anm.   161. 

2**  auch  für  die  verschiedenen  redegattungen  wird  eine  reihe  von 
mustern  angeführt. 

^*^  caus.  corr.  4,  4  (VI  173):  quid  dicam?  imitari  semper  eos,  nee 
scire,  quid  sit  imitari,  nam  suppilare  putant  esse  imitari  .  .  perinde  ac 
si  pictor  diceretur,  qui  aut  pratum  effingens,  flores  illinc  decerptos 
tabulae  suae  annecteret  ..  aut  etiam,  si  diis  placet,  nasum,  quem  ex- 
primere  non  posset,  vellet  homini  amputatum  picturae  suae  addi,  quo 
esset  perfecta.  *trad.  disc.  4,  4  (VI  367):  puerum  imitari,  liberale  est 
ac  laudabile,  senem  imitari,  servile  ac  turpe.  von  der  rechten  nach- 
ahmung wird  verlangt  4,  4  (VI  365  f.):  consideret,  quid  auctor  in  ora- 
tionis  exordio  velit  efficere,  quid  secunda  parte,  quid  tertia,  et  sie  dein- 
ceps;  quae  primo  dicit  loco,  quae  aliis  sequentibus,  quibus  scntentiis 
in  quaque  re  utatur,  quibus  argumentis,  et  quibus  ex  locis  petitis,  quo- 
modo  coUigatis  et  connexis,  quas  similitudines  inducat,  quae  usurpet 
exempla,  quos  animi  affectus  attlngat,  ubi,  quomodo,  quibus  auctorita- 
tibus  sua  fulciat,  et  quorum;  non  quo  nos  utamur  eorundem ,  sed  ut 
eorum,  qui  nobis  loco  eodem  sunt,  quo  illi  erant  auctori  nostro. 

«0  trad.  disc.  4,  4  (VI  367). 


F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik.  121 

mit  ihr  beschäftigt  hat,  da  sie  zu  den  ebenso  beliebten  als  verderb- 
lichen disputationen  nicht  geeignet  war.  ^*'  denn  in  ihren  beweisen 
liegt  eine  zwingende  kraft,  welche  Verschiedenheit  der  meinungen 
nicht  zuläszt.^^^  nach  Vives  umfaszt  die  mathematik  auszer  den 
zweigen  des  allen  quadriviums  (arithmetik,  geometrie,  musik,  astro- 
nomie*^^)  die  architektur,  die  optik  und  die  noch  nicht  ausgebildete 
akustik.  die  astrologie  ist  keine  Wissenschaft  und  verwerflich,  die 
musik  ist  entartet  infolge  der  abstumpfung  unseres  gehörs,  welche 
sich  schon  darin  zeigt,  dasz  wir  die  quantität  der  silben  in  der 
prosa  nicht  mehr  unterscheiden,^* 

§  52.  Die  kenntnis  der  mathematik  fördert  das  Verständnis 
der  Philosophie,  allein  ihre  zu  eifrige  pflege  lenkt  den  blick  vom 
praktischen  leben  ab.  um  dieser  gefahr  zu  entgehen,  soll  der  Unter- 
richt mehr  auf  an  wen  düng  als  auf  abstracte  speculation  zielen. -^^ 

Unruhige  und  vergeszliche  köpfe  sind  zu  diesem  studium  un- 
geeignet."^ 

Der  gang  des  Unterrichts  ist  in  der  arithmetik:  belehrung 
über  namen  und  zeichen  der  zahlen,  die  vier  species,  beschaffen- 
heit  der  zahlen:  gerade,  primzahlen  usw.,  in  der  geometrie: 
begriffserklärungen ,    die  axiome,  lehrsätze  und  beweise."^    in  der 

"1  auslührlich  über  sie  caus.  corr.  5  (VI  203  ff.);  5  (VI  206):  . .  nimi- 
rum,  ab  indoctis  intactae,  ac  proinde  ineontaminatae,  has  enim  turba 
imperita  radio  contentas  et  pulvere,  quaeque  non  facerent  ad  circulos, 
ad  scenam,  ad  theatrum  disputantium,  tamquam  rem  sacrain  non  attigit. 
Sapiens  (IV  28)  klage  darüber,  dasz  man  in  Paris  math.  begriffe  zer- 
gliedert, statt  beweise  zu  führen. 

2=2  die  stringente  beweiskraft  der  mathematik  leitet  Vives  aus  dem 
abstracten  Charakter  dieser  Wissenschaft  ab.  caus.  corr.  5  (VI  204): 
abstrahunt  mathematici  formas  et  figuras  et  numeros  a  materia,  in  quas 
abstractiones  non  ineurrit  mendacium ;  nam  neque  componunt  affirmando, 
neque  negando  dividunt.  nach  ihm  sind  also  mathematische  urteile  nicht 
synthetisch. 

253  Wychgram  s.  63  führt  irrtümlich  als  trivium  grammatik,  arith- 
metik, geometrie,  statt  grammatik,  rhetorik,  dialektik  an. 

2^^  eine  ars  auditiva  wünscht  Vives  caus.  corr.  5  (VI  203),  trad.  disc. 
4,  5  (VI  371).  die  astrologie,  nata  penitus  ex  ostentatione  et  imposturis, 
wird  verurteilt  und  verspottet  caus.  corr.  5  (VI  205),  trad.  disc.  4,  5 
(VI  372),  Sapiens  (IV  27,  28).  er  setzt  sich  dadurch  in  gegeusatz  zu 
vielen  gleichzeitigen  und  späteren  gelehrten,  vgl.  anm.  67.  die  astro- 
nomie  soll  nur  praktischen  zwecken  dienen,  trad.  disc.  4,  5  (VI  371): 
in  musica  multum  degeneravimus  a  prioribus  ob  crassitiem  auris,  quae 
subtilium  sonorum  iudicium  funditus  amisit,  ut  nee  longa  iam  nee  bre- 
via  in  communi  serraone  diiudicemus,  ideoque  et  genera  aliquot  pro- 
portionum  amisimus,  et  magnas  illas  vires  atque  adrairabiles ,  quae  de 
prisca  harmonia  traduntur.     ähnlich  caus.  corr.  5  (VI  207). 

255  *trad.  disc.  4,  5  (VI  369  f.):  sollicita  horum  inquisitio  a  rebus 
vitae  abducit,  communisque  sensus  reddit  expertes  .  .  .  referenda  esse 
ad  mores  (!)  omnia  et  ad  vitae  usum,  non  ad  inanem  et  infructuosam 
quandam  speculationem  anxiam  et  molestissimam,  quam  parit  diuturna» 
in  mathematicis  attentio. 

256  trad.  disc.  4,  5  (VI  369  f.)  ausführlicher. 

2='^  man  vermiszt  an  der  recht  primitiven  methode  namentlich  die 
betonung  der  veranschaulichung  und  der  Übung,  welche  gerade  hier  am 


122  F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik. 

musik  erhalte  der  schüler  einige  theoretische  und  praktische  Unter- 
weisung. ^'^^ 

Als  lectüre  wird  eine  gröszere  zahl  von  Schriftstellern  empfohlen, 
besonders  sorgsam  ist  Euklides  zu  behandeln,  disputationen  sind 
überflüssig ,  repetitionen  sind  hier  nötiger  als  sonst. "' 

Wer  aus  mangel  an  begabung  oder  geld  dieses  Studium  nicht 
fortsetzen  kann,  bleibe  hier  stehen;  die  hauptsache  ist,  dasz  er 
die  theorie  in  die  praxis  umzusetzen  weisz"®";  wer  aber  andere  in 
dieser  Wissenschaft  unterweisen  will,  der  studiere  weitläufiger  die 
litteratur.-«' 

,  Dritter  Zeitraum. 
Übersicht. 
§  53.  Nach  dem  fünfundzwanzigsten  jähre  ist  der  jüngling 
durchaus  nicht  der  akademie  entwachsen,  sondern  es  folgt  dieser 
hauptsächlichsten  allgemeinen  bildung  das  Studium  des  praktischen 
lebens,  der  weit  des  geistes,  der  geschichte,  der  moralphilosophie. 
dazu  gesellt  sich  die  eigentliche  fachbildung  in  einer  der  drei  facul- 
täten.  Vives  spricht  noch  häufig  von  lehrern  und  schülern,  im  all- 
gemeinen tritt  in  der  darstellung  der  pädagogische  Charakter  zurück.**^ 

Betrachtung  des  praktischen  und  geistigen  lebens. 

§  54.  Eigne  beobachtung  des  lebens  in  familie,  gemeinde 
und  Staat,  besuch  der  Werkstätten  der  künstler  und  band  werker, 
Unterhaltung  mit  diesen  über  ihi-e  thätigkeit  sollen  die  theoretische 
bildung  ergänzen,  wesentliche  Unterstützung  leisten  Vitruv,  Leo 
Albertus,  Plinius,  Aelianus,  Athenaeus  und  Macrobius.  scbulgemäszc 
belehrung  ist  nicht  nötig,  eine  encyclopädische  aufzeichnung  der 
erfahrungen  der  besten  berufspraktiker  würde  von  unschätzbarem 
nutzen  sein.'*^    'sed  revertamur  ad  scholam.' 


platze  wäre,  während  Vives  bei  anderen  fächern  die  bedeutung  dieser 
mittel  nicht  verkennt,  der  Unterricht  in  den  mathematischen  disciplinen 
wurde  von  jeher  als  ein  besonders  schwieriger  betrachtet,  s.  Specht 
(clt.  anm.  158)  s.  127  f.  vgl.  auch  Sifrm.  Günther,  gescliichte  des  mathe- 
matischen Unterrichts  im  deutschen  mittelalter  bis  zum  jähre  1525. 
(monumenta  Germ,  paedagogioa  bd.  III),  1887. 

2^8  trad.  diso.  4,  5  (VI  371):  .  .  .  modo  sobriae  et  castae  (musicae), 
quae  fessos  studentium  animos  Pythagoricorum  ritu  demulceat. 

*■''*  trad.  disc.  4,  5  (VI  373);  disputationibus  nihil  est  opus,  inter- 
rogatiunculae  sufficient  et  responsiones  breves,  aut  operis  ostensio,  et 
collationes  ad  picturam;  radio  enim  sunt  et  pulvere  (!),  vel  abaco  con- 
tentae;  recolendae  sunt  subinde  .  .  .  sunt  enim  alioqui  fugacissimae. 

^i^o  *trad.  disc.  4,  5  (VI  373):  .  .  .  hie  sistent;  et  ad  vitam  ea  prae- 
stabunt  adiuraenta,  quae  modo  commemoravi,  si  speculationem  in  exer- 
citium  atque  opus  deduxerint. 

261  daselbst  sind  noch  verschiedene  werke  angegeben. 

*"*  im  folgenden  ist  die  reihenfolge  nach  den  quellen  eingehalten 
und  nur  das  pädagogische  hervorgehoben. 

«63  *trad.  disc.  4,  6  (VI  374):  nihil  est  hie  opus  schola ,  sed  avidi- 
tate    audiendi   et   cognoscendi,   ut  non   erubescat   etiam   in   tabernas   et 


F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik.  123 

§  55.  Mit  dieser  freien  beobachtung  des  realen  lebens  geht 
eine  schulgemäsze  darstellung  der  res  spirituales  band  in  band,  diese 
entbalte  nur  weniges  über  engel  und  dämonen  und  zwar:  ex  nostra 
pietate  colligentur  pauca  et  sobrie.  genaue  kenntnis  ist  'unnötig, 
schädlich  und  ungewis'.  dagegen  ist  eine  engere  Vertrautheit  mit 
der  Psychologie  für  alle  Wissenschaften  von  bedeutung,  weil  wir 
nicht  nach  dem  wesen  der  dinge  an  sich,  sondern  nach  der  beschaffen- 
heit  des  intellectes  fast  alles  bestimmen.^"  der  lehrer  stütze  sich 
dabei  vorwiegend  auf  die  heiligen  schriftsteiler,  doch  schöpfe  er 
auch  aus  Aristoteles,  Alexander  von  Aphrodisias,  Themistius,  Plato, 
Plotin.  aber:  praemoneat  gentilitatis,  et  pericula,  utvitentur,  in- 
dicet,  opponatque  venenis  illis  paria  antidota.  trad.  disc.  4,  6 
(VI  376). 

'Hier  teilt  sich  das  Studium  gleichsam  in  zwei  wege,  den  einen 
schlagen  diejenigen  ein,  welche  als  ärzte  die  körper,  den  andern  die, 
welche  die  seelen  heilen  wollen.' 

Theologisches  Vorstudium. 

§  56.  Als  Vorstudium '^^^  werde  den  angehenden  theologen 
ein  umrisz  der  naturphilosophie  ohne  subtile  Untersuchungen  ge- 
geben, zu  diesem  zwecke  hat  der  lehrer  eine  auslese  aus  den 
werken  der  alten  'über  die  gründe  der  natur'  in  form  eines  kurzen 
und  verständlichen  lehrbuches  zusammenzustellen,  das  von  den 
dementen  anhebend  die  ganze  lebende  und  tote  natur  durch- 
läuft, es  enthalte  aber  nicht  eine  endlose  aufzählung  von  einzel- 
dingen 'sondern  spüre  den  gründen  nach,  aus  welchen  jene  ent- 
stehen, wie  sie  ins  dasein  treten,  wachsen,  bleiben,  wirken,  ihren 
dienst  erfüllen,  sich  fortpflanzen  und  umgekehrt,  wie  sie  ab- 
nehmen, verfallen,  untergehen,  aufgelöst  werden',  auch  des  Dio- 
genes Laertius  lebensbeschreibungen  der  philosophen  sollen  hier 
studiert  werden,  'damit  nach  kenntnisnahme  von  so  vielen  und  ab- 
surden anschauungen  der  philosophen  über  die  natur  die  studieren- 
den einsehen,  dasz  auch  jene  menschen  waren  und  zwar  solche,  die 
oft  in  den  offenbarsten  dingen  irrten ,  und  damit  sie  sieh  so  ge- 
wöhnen, mehr  ihrer  eignen  Vernunft  zu  folgen  als  menschlicher 
auctorität'.^^^ 

Diese  Unterweisungen  erfordern  einen  scharfsichtig  und  vor- 
sichtig urteilenden  lehrer.    disputationen  der  schüler  sind  hier  ge- 


officinas  venire  etc.;  4,6  (VI  375):  quantam  prudentiae  humanae  opem 
ferrent,  qui  haec  mandarent  litteris,  ut  ab  exercitatissimis  in  quaque 
arte  (hier  'praktischer  beruf)  accepissent. 

^^*  *trad.  disc.  4,  6  (VI  375):  maxima  disciplinis  oranibus  adfert 
adiumenta,  propterea  quod  ex  anima,  intelligentia  et  captu  de  Omnibus 
fere  statuimus,  non  ex  rebus  ipsis. 

2«^  vgl.  §  66. 

2^^  *trad.  disc.  4,  6  (VI  376):  .  .  ut  rationi  potius  assuescant  con- 
.sentire,  quam  humanae  auctoritati. 


124  F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik. 

stattet,  doch  seien  sie  frei  von  Spitzfindigkeit,  tiberhebung  und  ge- 
hässigkeit."' 

Auf  das  Studium  der  theologie  geht  Vives  nicht  näher  ein, 
wohl  aber  auf  das  der  beiden  andern  facultäten. 

Einiges  über  das  medicinische  studium. 

§  57.  Kenntnis  der  naturwissenschaften  und  versuche  haben 
zur  medicin  geführt,  wo  sie  fehlten,  muste  dieselbe  verfallen,  dieser 
verfall  ist  beschleunigt  worden  durcb  das  engherzige  brotstudium 
vieler  ärzte.'^*^  nunc  vero  illos  nibilo  a  carnifice  differre  aiunt. 
Sapiens  (IV  28). 

§  58.  Es  sollte  keiner  arzt  werden,  ohne  dazu  ausgesprochene 
anläge,  selbstlose  gesinnung,  grosze  gevpissenhaftigkeit  und  tiefe 
Überzeugung  von  seiner  Verantwortlichkeit  zu  besitzen.'®^  gründ- 
liches und  allseitiges  studium  der  naturwissenschaften  soll  ihm 
die  unerläszliuhe  grundlage  sein.""  der  medicinische  Unterricht  selbst 
zerfällt  in  einen  theoretischen  und  einen  praktischen  teil,  der  theo- 
retische teil  wird  aus  Schriftstellern,  namentlich  aus  Hippokrates 
und  Galenus  geschöpft,  dann  folgt  theoretische  anatomie,  ver- 
anschaulicht durch  modelle,  physiologie,  allgemeine  und  specielle 
Pathologie,  pharmakologie."'  der  praktische  teil  schlieszt  Übungen 
dreifacher  art  in  sich:  1)  genaue  beobachtung  derjenigen  naturdinge 
aller   drei   reiche,    welche    medicamente   liefern"^;    sectionen   von 


*"  trad.  disc.  4,  6  (VI  377  f.) :  institutorem  desiderant  haec  acri 
qaidem  ingenio,  ceterum  in  definiendo  ac  statuendo  cunctabundum; 
juvenes  exercebunt  se  in  his,  crebris  disputationibus  etc. 

*89  *caus.  coir.  5  (VI  198  ff.):  prima  quidera  fuerunt  experimenta 
etc.;  *1,  2  (VI  13):  .  .  cognitionem  naturae  rerum,  sine  qua  medicina 
manca  est  prorsus,  nee  rite  aut  percipi  potest,  aut  teneri. 

*^3  an  den  arzt  stellt  Vives  die  allerböchsten  sittlichen  anforde- 
rungen,  die  er  trad.  disc.  4,  6  (VI  383  f.)  weitläufig  ausspricht. 

*'•*  *trad.  diso.  4,  6  (VI  378):  qui  ad  artera  medicinam  transiturua 
est,  vel  commigraturuB  verius,  huic  sunt  exactissime  vires  naturaque 
pernoscendae  fossilium  omnium  quae  sunt  variorura  generum ,  pigmen- 
torum,  lapidum,  gemmarum,  stirpium,  animantium ,  humani  corporis, 
im  mittelalter  'basierte  die  medicinische  fac.  auf  Avicenna,  Hippo- 
krates und  Galenus'.     K.  Schmidt  (cit.  aiim.  219)  s.  366. 

2"  hierüber  weitläufigere  auseinandersetzungen  trad.  disc.  4,  7 
(VI  380  f.). 

2''2  *trad.  disc.  4,  7  (VI  381  f.):  exercitia  huius  artis  erunt  trifaria: 
primum  in  agnitione  eorum  omnium  versabitur  quae  pro  medica- 
mentis  consueverunt  usurpari  fossitiorum  etc.  .  .  quae  vero  praecipuae 
ad  medicamenta  omnia  vires  insunt  in  stirpibus,  eas  contemplabitur 
non  semel  aut  sirapliciter,  sed  ex  varietate  temporis  ac  lucis,  vere, 
aestate,  auctunino,  hieme,  Oriente  sole,  occidente,  meridie,  coelo  nubilo, 
turbato,  sudo,  sicco,  sereno,  in  agris,  in  hortis,  in  silvis,  in  montibus, 
locis  mediterraneis,  maritimis,  aridis,  humidis  (magnas  enim  varietates 
ex  his  Omnibus  stirpes  recipiunt)  radice,  foliis,  Acribus  vel  contractis, 
vel  expansis,  vel  alio  atque  alio  colore  infectis  .  .  et  in  aliis  ad  eun- 
dem  modum  .  .  nee  solum  varietates  hae  faciem  mutant,  sed  vires 
quoque   et   ingenium;    quin   ipsam   eandera   herbam,    et   nascentem,    ac 


F.  Kuypers :  Vives  in  seiner  pädagogik,  125 

laichen"',   2)  besuch   von  kranken  in  begleitung  eines  erfahrenen 
arztes,  3)  selbständige  ausübung  der  praxis. 

Geschichte. 

§  59.  Falsche  auffassung,  religiöse  und  nationale  tendenz, 
dichterische  erfindung  und  eitle  Übertreibungssucht  haben  die  ge- 
schichtschreibung  durch  viele  fabeleien  verdorben;  nebensächliches 
wurde  betont,  wichtiges  verschwiegen;  oder  man  schrieb  in  lang- 
weilender form  und  trieb  so  den  leser  zu  interessanteren  anekdoten- 
büchem.  das  ausschlieszliche  lob  der  kriegshelden  hat  das  moralische 
urteil  gefälscht.  -'" 

§  60.  Zum  zwecke  des  Verständnisses  der  classiker  hat  der 
Schüler  schon  früher  (s.  §  35)  einen  kleinen  eiublick  in  die  geschichte 
erhalten;  jetzt,  wo  er  urteilsfähiger  geworden  ist,  werde  ihm  eine 
ausführlichere  kenntnis  derselben  zur  förderung  der  lebensklugheit 
vermittelt.*"     dieses   nützlichkeitsprincip  ist   maszgebend    für 


pullulantem  considerari  convenit,  et  grandescentem,  et  adultam ,  et 
senescentem;  nee  minus  quae  ex  his  apud  pharmacopolia  conflantur, 
spectabit. 

"3  *trad.  diso.  4,  7  (VI  382):  sectionem  humani  corporis  .  .  fre- 
c|uentes  attentique  dispicient.  dieses  für  mediciner  äuszerst  lesenswerte 
capitel  enthält  eine  fülle  von  trefflichen  gedanken,  die  hier  übergangen 
werden  müssen,  weil  sie  nicht  pädagogischer  natur  sind. 

"^  caus.  corr.  2,  5  f.  (VI  101  ff.),  rat.  die.  3,  3  (II  205  ff.),  trotz 
seiner  groszen  neigung  für  die  culturgeschichte  verlangt  Vives  rat.  die. 
3,  3  (II  206):  prima  historiae  lex  est,  ut  sit  vera,  quantum  quidem 
praestari  poterit  ab  scribente.  kein  guter  zweck  rechtfertigt  geschicht- 
schreibung  auf  kosten  der  Wahrheit,  es  ist  sehr  zu  bedauern ,  dasz 
keine  kritische  darstellung  der  kirchengeschichte  existiert:  *trad. 
disc.  5,  2  (VI  400):  nam  quae  de  iis  sunt  scripta,  praeter  pauca  quae- 
dam,  multis  sunt  commentis  foedata  .  .  fuere,  qui  magnae  pietatis 
loco  ducerent,  mendaciola  pro  religione  confiugere,  quod  et  pericu- 
losum  est  .  .  et  minime  necessaria.  caus.  corr.  2,  6  (VI  108):  quam 
indigna  est  divis  et  hominibus  christianis  illa  sanctorum  liistoria,  quae 
legenda  aurea  nominatur,  quam  nescio  cur  auream  appellent,  quum 
scripta  sit  ab  homine  ferrei  oris,  plumbei  cordis.  quid  foedius  dici 
potest  illo  libro?  etc. 

*^^  *trad,  disc.  5,  1  (VI  391):  .  .  quoniam  melius  ab  adultis  iam 
confirmatisque  post  rerum  usum  aliquem  intelligitur ,  ut  in  vitae  emo- 
lumenta  convertatur,  iudicio  adhibito.  nicht  blosz  das  praktische  leben, 
auch  die  Wissenschaften  bereichern  sich  aus  der  geschichte,  so  medicin, 
moralphilosophie,  recht,  theologie,  darum  trad.  disc.  5,  1  (VI  390): 
historia  videri  posset  praestare  omnibus  quae  una  tot  artes  vel  pariat, 
vel  enutriat.  nichtsdestoweniger  besitzt  sie  damit  nur  die  zweite,  nicht 
die  erste  bedingung  einer  Wissenschaft:  an.  et  v.  2,  8  (III  382):  est 
enim  ars  coUectio  generalium  formularum  ad  usum  aliquem  tendentium. 
*trad.  disc.  1,  3  (VI  352):  quae  vero  in  regulas  ac  praecepta  non 
coguntur,  minime  sunt  artes,  sed  generali  nuncupatione  cognitiones  et 
peritiae  quaedam,  velut  rerum  gestarum  notitia.  —  Nach  der  aufzählung 
einiger  vorteile  der  geschichtskenntnis  für  den  einzelnen  und  das  ge- 
meinwesen  macht  Vives,  wohl  in  anlehnung  an  den  bekannten  Plato- 
.nischen  ausspruch,  die  interessante  bemerkung  trad.  disc.  5,  1  (VI  389): 


126  F.  Kuypers :  Vives  in  seiner  pädagogik. 

die  wähl  des  Stoffes:  sit  historia  velut  exemplum  eorum,  quae  se- 
quaris,  quaeque  devites.    trad.  disc.  5,  1  (VI  390). 

Darum  ist  alles  zu  übergehen,  dessen  kenntnis  keinen  nutzen 
bringt,  wie  unbedeutende  details,  unnötige  namen  und  zahlen,  oder 
gar  schaden  verursacht,  wie  kriegsgeschichte,  so  weit  sie  für  das  Ver- 
ständnis nicht  unbedingt  erforderlich  ist;  denn  sie  wirkt  demorali- 
sierend, wo  sie  nicht  umgangen  werden  kann,  *sind  kriege  nicht 
anders  darzustellen  als  räubereien,  was  auch  thatsächlich  die  meisten 
sind'/'''®  —  Eine  genaue  behandlung  erfährt  hingegen  alles,  was  in 
irgend  einer  weise  nutzbar  gemacht  werden  kann,  das  sind  in  erster 
linie  die  psychologischen  factoren  in  der  politischen  geschichte."^ 
aber,  'es  ist  wahrlich  unwürdig,  blosz  die  werke  unserer  leiden- 
schaften  dem  gedächtnisse  zu  überliefern  und  nicht  ebenso  die  der 
Überlegung  und  Vernunft.*"^  darum  sind  zweitens  nicht  weniger  die 
res  togatae  ausführlich  zu  bespi'echen,  d.i.  culturgeschichte  im 
besten  sinne."'  endlich  drittens  dürfen  nicht  fehlen  aussprüche  und 
handlangen  von  männern,  die  sich  durch  rechtschaffenheit,  Weisheit 
und  gelehrsamkeit  ausgezeichnet  haben,  sowie  Untersuchungen  über 
das,  was  sie  dabei  beabsichtigten.*'" 

quid  causae  esse  credimus  cur  philosophi  nostri  regendis  civitatibus 
et  populis  iam  pridein  idonei  non  fuerint,  nisi  quod  historiae  carerent 
prudentiae  nutrice? 

2^6  *trad.  disc.  5,  1  (VI  391  f.):  in  cognitione  historiae  minime  con- 
venit  nos  circa  frivola  et  molesta  detineri,  in  quibus  laboris  est,  et 
curae  multum ,  fructus  omnino  nihil  .  .  bella  et  praelia  non  accurate 
persequenda,  quae  tantnm  instruunt  animos  ad  nocendum,  et  vias  osten- 
dunt  quibus  iuvicem  possimus  laedere  .  .  nee  aliter  dicenda  vel  legeuda 
haec,  quam  latrocinia,  cuiusmodi  revera  sunt  pleraque  horum  omnia. 
ausführlich  und  mit  schürfe  wird  dasselbe  von  dem  redner  verlangt 
rat.  die.  3,  3  (II  206).     vgl.  anm.  28. 

*"  nach  darstellung  des  wechselnden  in  der  gescliichte  fährt  er 
fort  ♦trad.  disc.  5,  1  (VI  389  f.):  sed  illa  tarnen  nunquam  rautantur 
quae  natura  continentur,  nempe  causae  aflfectuum  animi  eorumque 
actiones  et  efifecta  quod  est  longa  conducibilius  cognoscere  quam  quo- 
modo  olim  vel  aedificabant  vel  vestiebant  homines  antiqui;  quae  enini 
maior  est  prudentia  quam  scire  quibus  ex  rebus  qui  hominum  aflfectus 
vel  concitentur,  vel  sedentur,  affectus  porro  illi  quae  adferant  momcnta 
in  re  publica,  quos  motus,  quemadmodum  continendi,  sanandi,  tollendi, 
aut    contra,    exagitandi,    et  conferendi  sive  in  aliis  sive  in  nobis  ipsis? 

"*  *trad.  disc.  5,  1  (VI  392):  non  solum  quae  ab  animi  incitatis 
motibus  sint  edita  cognoscamus,  sed  quae  a  vi  mentis  et  iudicii;  in- 
dignum  profecto  est  afifectionum  nostrarum  opera  mandare  memoriae, 
non  item  consilii  ac  rationis. 

2"  trad.  disc.  5,  1  (VI  392):  latius  igitur  et  fructuosius  fuerit  dare 
operam  togatis  rebus;  quae  in  virtute  praeclare  et  sapienter  sunt  acta; 
quae  in  sceleribus  atrociter,  foede;  qui  exitus  quam  laeti  bene  factorum, 
quam  tristes  atque  infelices  malorum  facinorum.  bei  dem  letzteren 
dürfte  doch  manchmal  die  prima  lex  der  gescliichte  gefährdet  sein! 
mit  ausnähme  dieser  andeutung  finde  ich  auch  keinen  hinvveis  auf 
förderung  der  pietas  oder  admiratio  auctoris,  eines  ihm  sonst  so  nahe 
liegenden  gedankens,  durch  das  Studium  der  geschichte. 

**"  trad.  disc.  5,  1  (VI  392):  .  .  tum  dicta  et  responsa  hominum 
praeditorum  ingenio,   sapientia,  usu  rerum  .  .  consilia  etiam,  cur  quid- 


F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik.  127 

Für  die  einteilung  des  Stoffes  gilt:  zunächst  die  ganze  geschieh te 
vom  beginne  der  weit  oder  vom  Ursprünge  eines  bestimmten  Volkes 
bis  auf  die  gegenwart  im  umrisse,  dann  ausführlicher  die  ein- 
zelnen teile,  eine  sehr  zahlreiche  von  Jünglingen,  mannern  und 
greisen  zu  lesende  menge  von  gesamt-  und  einzeldarstellungen  wird 
empfohlen. 

§  61.  Die  kenntnis  der  orte,  an  welchen  die  geschichte  spielt, 
ist  mit  diesem  unterrichte  zu  verbinden,  'von  dieser  ist  jedoch  an 
anderer  stelle  das  notwendige  gesagt'.^®'  ebenso  sollen  sich  fabeln 
anschlieszen,  aus  welchen  man  lebensweisheit  lernen  kann.^*^ 

Moralphilosophie. 

§  62.  Caput  et  cardo  universae  philosophiae  existimetur  sen- 
tentia  de  finibus  bonorum  et  malorura.    ver.  fid.  1,  2  (VIII  10). 

Es  ist  verkehrt,  mit  den  Scholastikern  die  christliche  ethik  als 
Wissenschaft  nach  Aristoteles  zuzuschneiden;  denn  das  ziel  der 
ersteren  verträgt  sich  nicht  mit  der  glückseligkeitslehre  des  griechi- 
schen Philosophen,  verwandter  ist  dem  christentume  die  ethik 
Piatons  und  die  der  stoiker.  indes  ist  nicht  aus  büchern  der  beiden, 
so  viel  schätzenswertes  sie  auch  enthalten,  die  wissenschaftliche 
moral  zu  construieren,  sondern  aus  dem  sittlichen  bewustsein  des 
menschen,  dem  abglanze  des  göttlichen  willens;  dann  werden  ihre 
resultate  mit  der  andern  Offenbarung  gottes,  der  lehre  Christi,  über- 
einstimmen, —  Den  irrenden  Aristoteles  hat  man  dazu  noch  irrig 
aufgefaszt,  und  schlieszlich  ist  in  endloser  disputationswut  die  moral- 
philosophie  in  ihrem  gehalte  noch  mehr  verdorben  und  namentlich 
auch  von  ihrem  ziele,  der  sittlichen  praxis,  abgelenkt  worden, 
auch  Thomas,  der  vortrefflichste  der  Scholastiker,  ist  nicht  frei 
von  diesen  fehlem,  so  dasz  den  betreffenden  werken  Platons, 
Plutarchs,  Xenophons,  Ciceros,  Senecas  mehr  moralische  Wirkung 
zuzuschreiben  ist.^-^ 


quid  susceptum,  factum,  dictum  eorum  potissimum  qui  probitate, 
sapientia,  studiis  bonarum  artiiim  reliquis  antecelluerunt  quales  sunt 
philosophi  et  praestantissimi  omnium  Divi  nostrae  pietatis.  hinter 
'factum'  wird  wohl  nicht,  nach  den  quellen,  ein  semicolon  sondern  ein 
komma  zu  setzen  sein. 

^'*'  s.  die  kurzen  andeutungen  §  35. 

**2  trad.  diso.  5,  2  (VI  400):  historiae  accedat  fabularum  cognitio 
sed  eruditarum,  quaeque  ad  usum  vitae,  quum  res  poscit,  accoramodari 
queant.  geographische  und  historische  Studien,  namentlich  die  ersteren, 
wurden  im  allgemeinen  in  den  schulen  wenig  betrieben.  Arnaud  s.  101, 
Haase  (cit.  anm.  178)  s.  6.  über  die  einschlagende  litteratur  jener  zeit 
orientiert  Wachler  (cit.  anm.  126)  s.  103  f.,   109  f. 

*83  caus.  corr.  6,  1  (VI  214):  si  Aristotelica  beatitudo  expetenda 
hie  est,  Christi  beatitudo  non  est  hie  expetenda;  neque  enim  contraria 
possunt  eodem  loci  et  temporis  ad  idem  et  loci  et  temporis  concupisci 
.  .  si  Aristotelica  beatitudo  commentitia  est,  quid  laboramus,  quomodo 
eam  tueamur?  man  folge  dem  Sokrates  *caus.  corr.  6,  1  (VI  208  f.): 
revocavit  se  ille  a  populi  sensu  atque  opinionibus,  introrsum  ad  se 
ipsum  .  .  itaque   illo  acumine  ingenii  sui  philosophiam  hanc  inquisivit, 


128  F,  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik. 

§  63.  Die  moralphilosophie,  die  lehre  von  der  einrichtung 
unseres  öffentlichen  und  privaten  lebens,  ist  eng  mit  dem  unter- 
richte in  der  geschichte  zu  verbinden.*^'  dieselbe  soll,  im  anschlusse 
an  Aristoteles,  umfassen :  Vorschriften  für  das  handeln  des  einzelnen 

—  ethik,  für  das  familienleben  —  öconomik,  für  das  leben  im  Staate 

—  politik,  endlich  belehrungen  über  solche  pflichten,  welche  wegen 
ihrer  verschiedenen  gestaltung  bei  den  verschiedenen  Völkern  sich 
unter  diese  allgemeinen  gesiehtspunkte  nicht  fassen  lassen.*-^  in 
der  ethik  sind  diejenigen  laster,  welche  vergnügen  oder  irdischen 
vorteil  gewähren  (wollust,  habsucht),  ohne  grosze  anschaulichkeit 
und  mit  vorsichtiger  wähl  der  beispiele  zu  behandeln,  die  andern 
(zorn,  hasz,  neid)  erfahx'en  eine  gründliche  und  anschauliche  darstel- 
lung.*^®  ernste  disputationen  dürfen  angestellt  werden,  doch  mehr 
über  theoretische  als  über  praktische  fragen.  ^®^  öconomik  und 
politik  werden  nicht  systematisch  gelehrt,  sondern  der  ersteren 
dienen,  nach  dem  verfahren  des  Sokrates,  Unterhaltungen  mit  er- 
fahrenen familienvätern,  der  letzteren  schweigende  beobachtungen 
der  Sitten  und  Vorgänge  des  öffentlichen  lebens.  auch  sollen  greise 
politische  gespräche  in  gegenwart  von  Jünglingen  pflegen.''^  der 
lehrer  der  moralphilosophie  sei  ein  ernster,  sittenreiner  und  gelehrter 
mann;  sein  Vortrag  suche  die  schüler  nicht  nur  zur  auffassung,  son- 


credens  se,  non  receptae  in  vulgiim  deceptioni,  non  somniis  et  insaniis 
illarum  religionum  .  .  sed  deo  potius  magistro,  hoc  est,  lucernulae  illi 
natural!  mentis  suae;  siquidem  nemo  est  tarn  tardo  ingenio,  cui  non 
lux  aliqua  in  animo  fulgeat  ex  dei  munere.  caus.  corr.  6,3  (VI  221): 
verterunt  ad  altercationes  disciplinam  morum,  quae  ad  agendum  esset 
parata,  et  sie  tractarunt,  non  ut  meliores  vel  fierent,  vel  facerent  .  . 
sed  ut  cavillarentur.  ein  weiteres  eingehen  auf  diese  gedanken  über- 
steigt meine  aufgäbe,  ich  erwähne  nur  kurz  sein  urteil  über  Thomas 
trad.  disc.  5,  3  (VI  404):  .  .  scriptoris  de  schola  omnium  sanissimi  ac 
minime  inepti  .  .  multis  in  locis  facile  intellegas  secutum  illum  esse 
alienum  iudicium,  suum  non  adhibuisse,  quod  fuit  ei  commune  cum 
scholasticis. 

^^*  trad.  disc.  5,  3  (VI  401):  cum  historia  coniuncta  et  complicata 
erunt  vitae  publice  ac  privatim  instituendae  praecepta.  diese  disciplin 
wird  absichtlich  erst  in  späterem  alter  gelehrt:  rat.  die.  praef.  (II  91): 
nam  quemadmodum  sapienter  inquit  Aristoteles,  adolescentem  non  esse 
moralis  disciplinae  auditorem  idoneum,  quod  ignarus  sit  eorum  quae 
geruntur  in  vita,  de  quibus  est  speculatio  moralis. 

255  trad.  disc.  5,  3  (VI  403). 

2^«  trad.  disc.  5,  3  (VI  404). 

2^7  trad.  disc.  5,  3  (VI  405):  .  .  sed  de  iis  potius  quae  ad  defini- 
tionem  spectent  naturae  afifectuum,  quam,  ubi  definitum  iam  et  con- 
stitutum fuerit,  quemadmodum  sit  vivendum. 

28'5  trad.  disc.  5,  3  (VI  404):  für  die  öconomik:  nihil  est  opus  audi- 
torio  vel  praeceptore,  non  disputationibus,  sed  coUoquiis  cum  patribus 
familias  prudentibus,  quäle  est  Socratis  cum  Ischomacho  apud  Xeno- 
phontem.  für  die  politik  *triid.  disc.  5,3  (VI  407):  neque  hie  magistrum 
requirimus,  neque  disputationes ,  sed  eam  animadversionem  .  .  de 
affectionibus  animi  ac  moribus,  hinc  usum  rerum  in  foro  et  curia  .  . 
senes  nonnunquam  de  republica  inter  se  disserant  seniliter,  admissis  eo 
iuvenibus,  ut  ab  eis  et  rerum  peritiam  et  morum  gravitatem  accipisnt. 


F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik.  129 

dern  auch  zur  ausübung  der  Sittenlehren  anzuleiten. ^"^  für  unter- 
richtszwecke  ist  ein  kurzes  und  faszliches  lehrbuch  aus  der  heiligen 
Schrift  von  ihm  zusammenzustellen,  es  sind  jedoch  auch  die  an- 
sichten  der  alten  zu  berücksichtigen,  soweit  sie  der  christlichen 
lehre  nicht  widersprechen.'®" 

Einiges  über  das  j  uristische  Studium. 

§  64.  Auch  in  der  rechtswissenschaft  ist  die  abwendung  von 
der  natur,  nämlich  von  dem  in  uns  ruhenden  rechtsgefühle,  und  die 
neigung  zu  künstlicher  schematisierung  und  casuistischer  Verdrehung 
die  Ursache  des  Verfalls,  sie  ist  hervorgerufen  und  gefördert  durch 
die  fürstliche  autokratie,  welche  durch  die  gesetzgebung  gehoben  ist 
auf  kosten  des  naturrechtes,  der  moralische  zweck  hat  selbstsüch- 
tigem utilitarismus  weichen  müssen.  Sprachwissenschaft,  dialektik 
und  namentlich  moralphilosophie,  die  grundlagen  der  rechtslehi-e, 
sind  vernachlässigt,  die  einzelnen  juristischen  begriffe  sind  nicht 
scharf  fixiert,  die  gesetze  sind  corapliciert  und  unklar  formuliert 
worden,  eigennutz  der  advokateu  und  verstiegene  disputationen 
haben  das  unheil  noch  vermehrt,  grundlage  für  die  reform  soll  das 
recht  der  römischen  republik  sein.^®' 

§  65.  Eine  von  den  angedeuteten  fehlem  freie  ^Wissenschaft 
der  gerechtigkeit'  ist  erst  von  erfahrenen  männern  ins  leben  zu 
rufen,  sie  bilde  das  studium  der  angehenden  Juristen;  auch  sollen 
diese  den  periodisch  abzuhaltenden  gesprächen  jener  männer  über 
rechtsreform  beiwohnen,  die  rechtsbeflissenen  sollen  angeleitet 
werden,  die  gesetze  nicht  lediglich  auswendig  zu  lernen  und  dann 
schematisch  auf  den  einzelfall  anzuwenden,  sondern  entstehungs- 
ursachen,  zweck  und  geist  derselben  zu  erfassen  und  ihre  Überein- 
stimmung mit  dem  naturrecht,  ihre  lebensfähigkeit,  berech tigung 
oder  antiquierung  nachzuweisen,    nicht  professoren  des  römischen 

289  *trad.  disc.  5,  3  (VI  404):  tradet  sie  Lene  vivendi  praecepta,  ut 
non  sciant  solum,  sed  incitentur,  et  velint  bene  agere.  caus.  corr.  6,  1 
(VI  209):  .  ,  non  ut  doceret  solum,  sed  ut  impelleret  atque  afficeret  .  . 
haec  (das  verfahren  des  Socrates)  est  vera  via,  tum  ad  inquirendam 
rationem  componendi  animi,  tum  ad  tradendam;  a  qua  qui  abscedunt, 
longissime  in  avium  se  et  errores  coniiciunt.      > 

2^°  trad.  disc.  5,3  (VI  403):  neque  enim  plus  illis  tribuemus  quam- 
vis  maximis  et  acutissimis  ingeniis,  quam  qiiantum  illi  cum  christiani- 
tate  consentiunt,  hoc  est,  homo  cum  deo.     s.  anm.  34. 

"'  s.  caus.  corr.  7,  1  f.  (VI  222  ff.),  aedes  legum  (V  483  ff.);  in 
leges  Ciceronis  praelectio  (V  494  ff.),  von  den  Pariser  Juristen  heiszt 
es  Sapiens  (IV  28):  .  .  versutissimi  et  fraudulentissimi,  quorum  callidi- 
tate  nulla  lex  non  est  corrnpta.  caus.  corr.  7,  l  (VI  225):  quem  non 
terreat  tanta  vis  ac  licentia  in  uno  homine  posita,  et  plerumque  gladius 
datus  in  manum  furentis !  ähnliche  demokratische  gesinnungen  äuszert 
Vives  häufiger,  die  schlimmen  zustände  im  juristischen  (und  medicini- 
schen)  studium  jener  zeit  schildert  C.  Meiners,  histor.  vergleichung  der 
Sitten  usw.  des  mittelalters  III  bd.,  Hannover  1794,  s.  53  ff.  daselbst 
ist  auch  Vives  wiederholt  citiert.  s.  auch  Wachler  (cit.  anm.  126) 
s.  266  f. 

N.  Jahrb.  f.  phil.  u.  päd.  U.  abt.  1897  hft.  3.  9 


130  F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik. 

oder  spanischen  rechtes  sollen  die  jungen  leute  werden,  sondern  ge- 
lehrte, welche  'das  rechte'  und  'das  gute'  vertreten  können.^®* 

Unter  sich  mögen  die  Studenten  ernste  disputationen  über 
fragen  der  bezeichneten  art  anstellen,  jedoch  mit  ausschlusz  der 
öffentlichkeit,  damit  die  Untersuchung  der  sache  und  nicht  dem  ehr- 
geize  diene. 

§  66.  'Wer  aber,  von  gott  mit  höherem  geiste  begabt,  nicht 
durch  erdensorgen  gefesselt  werden  kann ,  sondern  zum  verkehre 
mit  den  himmlischen  sich  aufschwingt,  jener  glückliche  götterlieb- 
ling  möge  sich  zur  theosophie  und  theologie  erheben",  über  diesen 
seligen  und  bewundernswerten  dürfen  wir  nicht  im  zusammenhange 
mit  den  andern  reden,  auch  sind  wir  von  dem  langen  wege  ermüdet; 
eine  solche  abhandlung  erfordert  eine  besondere  Sorgfalt;  wir  wer- 
den sie,  SO  gott  will,  später  einmal  in  ruhe,  mit  frischen  kräften  und 
wärmerer  begeisterung  abfassen;  denn  dieser  gegenständ  ist  um- 
fassender und  erhabener  als  die  menschen  glauben.'  trad.  diso.  5,  4 
(VI  415)."^ 

Allgemeine  unterrichtsgrundsätze. 

§  67.  Unserem  pädagogen  schwebt  nicht  eine  rein  objective, 
mechanisch  anwendbare  methode ,  eine  'didaktographie'  vor,  wie  es 
bei  Comenius  und  Pestalozzi  der  fall  ist,  sondern  Vives  macht,  in 
richtiger  erkenntnis,  den  erfolg  des  Unterrichts  im  höchsten  grade  von 
der  subjectivität  des  lehrers  und  des  schülers  abhängig,  wie  aus 
der  vorstehenden  darstellung  ersichtlich  ist.  dennoch  läszt  sich  eine 
reihe  von  allgemein  giltigen  didaktischen  Vorschriften  aus  seinen 
pädagogischen  theorien  ableiten,  diese  nicht  systematisch  sondern 
gelegentlich  ausgesprochenen  grundsätze  zeigen  eine  energische  ab- 
kehr  von  den  verknöcherten  formen  des  scholastischen  schulmechanis- 
mus  und  eine  fülle  von  trefflichen,  zum  teil  auch  bedenklichen,  keimen, 

*^'  s.  trad.  disc.  5,  4  (VI  409  f.).  es  ist  meistens  von  der  begründung 
und  der  praktischen  gestaltung  dieses  neuen  rechtes  die  rede,  viel 
pädagogisches  enthält  dieses  capitel  nicht.  .  .  tum  vero  non  sacerdos 
ac  professor  fuerit  Romanarum  aut  Hispanarum  legum,  sed  boni  et 
aequi,  cuius  artem  per  magna  aliqua  excogitari  ingenia  equidem  per- 
cuperem,  quam  futuri  iurisconsulti  addiscerent,  quae  ars  iustitiae  voca- 
retur  .  .  .  ich  erwähne  noch  für  das  ins  civile  als  pflicht  der  Inter- 
preten psychologische  beobachtung,  eigne  anschauung  des  lebens  und 
Studium  der  geschichte.     trad.  disc.  5,  4  (VI  413). 

'^^  diesen  plan  hat  Vives  nicht  ausgeführt.  Francken  vermutet  s.  178, 
dasz  ihn  die  befürchtung  abgehalten  habe,  'hierbij  in  opentlijken  strijd 
zieh  te  zullen  wikkelen  met  de  Leuvensche  Universiteit';  doch  man  be- 
denke, dasz  ihm,  als  er  obigen  plan  1531  äuszerte,  die  Stimmungen  der 
Löwener  theologen,  welche  seit  1522  seine  commentarien  zu  Augustinus 
in  bänden  hatten,  hinlänglich  bekannt  sein  musten.  Vives  war  der 
Orthodoxie  nicht  entfremdet,  einen  wissenschaftlichen  streit  hat  er  trotz 
seiner  friedensliebe  niemals  gefürchtet,  auszer  der  behandlung  anderer 
gegenstände  dürfte  ihn  vielleicht  seine  jetzt  beginnende  schmerzhafte 
krankheit  sowie  die  absieht  abgehalten  haben,  die  schwebende  Schlich- 
tung der  theologischen  gegensätze  im  reiche  abzuwarten. 


F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik.  131 

deren  entwicklung  sich  erst  bei  den  'neuerem'"*  oder  noch  später 
zeigt,  ich  führe  kurz  die  wichtigsten  an.  sie  wenden  sich  alle  an 
den  lehrer,  nach  ihrem  inhalte  aber  lassen  sie  sich  gliedern  in  solche, 
welche  vorwiegend  l)den  schüler,  2)  den  lehrstoff,  3)  den  lehrer, 
4)  die  Unterrichtsform  betreffen."* 

I.  1)  berücksichtige  die  kindesnatur!  verlange  nicht  von 
knaben,  was  erst  Jünglinge  leisten  können. ^'^  bedenke,  dasz  Charakter 
wie  anlagen  des  kindes  nicht  constant  sind."^  benutze  klug  die 
eigenartigen  triebe  des  kindes,  werde  aber  auch  seinen  besonderen 
bedürfnissen  gerecht."^  2)  beachte  im  weitgehendsten  masze  die 
Individualität  des  Schülers  nach  der  sittlichen  anläge,  der  intellec- 
tuellen  begabung,  der  speciellen  neigung,  dem  körperlichen  zustande, 
dem  alter,  dem  ziel  desselben:  tantum  cuique  permittat,  quantum 
censebit  expedire.  trad.  disc.  1, 6  (VI  271)."^  3)  wenn  möglich  nicht 


294  dieser  zusammenfassende  ausdruck  ist  eingeführt  von  Raumer 
(cit.  anm.  6). 

29^  eine  ähnliche  einteilung  findet  sich  in  Vives'  abhandlung  über 
die  belehrende  rede  rat.  die.  2,  12  (II  158):  obscuratur  oratio  vel  ex 
rebus,  vel  a  dicente  dedita  opera,  vel  vitio  audientium. 

296  trad.  disc.  3,  4  (VI  316):  meminerit  prudens  institutor,  quantum 
inter  exordientem,  procedentem  et  absolutum  intersit;  non  id  esse  a 
puero  incipiente  requirendum,  quod  a  iuvene  .  .  .  nihil  adeo  esse  prae- 
posterum,  ut  fructum  iain  tum  maturum  exigere  ,  quum  arbores  germi- 
nare  primo  vere  incipiunt. 

29'  *trad.  disc.  2,  4  (VI  292):  verum  de  ingenio  dubio  autetiam  malo 
non  est  illico  desperandum,  nee  nimis  tarnen  fidendum  bono;  mutationis 
ingeniorum    ac    morum  multa    sunt  exempla    et   in  civitate  et  in  schola. 

2M8  vgl.  §  7  und  anm.  161.  247.  den  ehrtrieb  berücksichtigt  die 
forderung  von  mitschülern,  die  auch  ausschlaggebend  ist  bei  der  frage 
nach  privatem  oder  öffentlichem  unterrichte,  s.  trad.  disc.  2,  2  (VI  279  f.), 
stud.  puer.  1  (I  267).  2  (I  272).  man  hüte  sich  vor  Überspannung  des- 
selben. *trad.  disc.  3,  4  (VI  315):  consultius  est  adoleseentes  nihil 
scire,  quam  ambitionis  et  superbiae  mancipia  fieri.  an  diese  stelle  ge- 
hört auch  die  richtige  forlerung  *trad.  disc.  3,  3  (VI  314  f.):  conserva- 
buut  quae  prioribus  mensibus  scripserint,  ut  sequentibus  comparent,  et 
profectum  rieprehendant,  eaqiie  insistant,  qua  se  profecisse  intelligent; 
4,  4  (VI  367):  tua  ipsius  priora  cum  posterioribus  conferes,  ut  ex  com- 
paratione  deprehendas  profectum.     s.  weiter  anm.   199  und  §   19. 

299  vgl.  die  häufigen  hinweise  bei  den  einzelnen  Unterrichtsfächern, 
auszerdem  trad.  disc.  1,  4  (VI  259):  nam  alia  aliis  ingeniis  conveniunt 
ut  palatis  ut  ventriculis  etc.  *2,  2  (VI  278):  ei  quemque  applicent 
arti  cui  quemque  idoneum  videbunt.  *2,  4  (VI  297):  praeceptor  vero 
in  schola  auditorium  suum  debet  spectare  .  .  ut  tradat  congruentissima 
captui  suorum.  4,  4  (VI  363):  acute  inspici  oportet  quibus  tandem 
rebus  appositum  sit  iuvenis  ingenium  .  .  ut  eo  se  quisque  applicet,  quo 
naturae  nutu  quodam  fertur,  si  modo  in  finitimum  virtuti  vitium  non 
propendit.  an.  et  v.  2,  2  (III  347):  .  .  ut  est  cuiusque  ingenii  pronitas 
et  attendit  ad  haec  aut  illa  libentius.  eine  prüfung  der  anlagen  findet 
im  eiternhause  (anm.  116),  vor  der  aufnähme  in  die  anstalt  und  alle 
zwei  bis  drei  monate  während  des  aufenthaltes  in  derselben  statt 
(anm.  135  f.).  anhaltspunkte  für  die  beurteilung  bieten  vor  allem  inter- 
esse,  rechnen,  gedächtnis,  spiel.  *trad.  disc.  4,  4  (VI  363):  quibus 
quisque  sit  rebus  appositus,  cognoscetur  ex  deiectatione ,  quae  de  con- 
formitate    et    congruentia    quadam    oritur    obiecti    et    facultatis;    *2,  4 

9* 


132  F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik. 

zwang,    sondern  erregung  des  Interesses ! ^'"'    4)  nicht  begriff- 
liche   deduetion,    sondern    anschauliche    induction!^"' 


(VI  291  f.):  nihil  aeque  mentis  aciem  patefacit,  ut  expedita  computandi 
ratio,  et  ingenii  tarditas  tarditate  computationis  arguitur  .  .  *memoriam 
Signum  ingenii  Quintilianus  ponit,  quae  duabus  constat  partibus,  facile 
percipere,  et  fideliter  continere,  prius  indubitatum  est  acuminis  indicium, 
alterum  capacitatis  .  .  .  *exercebuntar  lusionibus,  id  etiam  acumen 
retegit  et  mores  naturae,  potissimum  inter  aequales  et  sui  similes,  ubi 
nihil  finget,  sed  omnia  exibunt  uaturalia;  2,  2  (VI  281  f.)  fährt  Vives 
nach  weitläufiger  besprechung  der  verschiedenartigen  beanlagungen 
fort:  *ingenium  non  est  vel  malis  rebus,  vel  parvis  ac  puerilibus  ex- 
plorandum;  sed  et  oculus  non  continuo  acute  cernit,  quod  aliqua  ad 
serum  vel  in  tenebris  acute  cernit;  ita  nee  ingenium  habendum  est  pro 
acuto,  quod  in  rebus  parvis  aut  levibus  multum  pollet.  Untersuchungen 
über  den  Wechsel  des  Charakters  und  den  unterschied  der  beanlagung 
s.  auch  an.  et  v.  2,  6  (III  368).  2,  8  (III  274  ff.),  ver.  tid.  1,  3  (VIII  17). 

300  *  exerc.  1.  lat.  dial.  princeps  puer  (I  376):  Sophobulos:  nulla  res 
tarn  facilis  est,  quae  non  fiat  difficilis  si  invitus  facias.  non  est  opera 
litteris  impensa  laboriosa  ei  qui  libens  eam  subit.  *trad.  disc.  3,  4 
(VI  318):  mirae  libertatis  est  humanum  ingenium,  exerceri  se  patitur, 
cogi  non  patitur;  multa  ab  eo  facile  impetres,  pauca  et  infeliciter  ex- 
torqueas;  2,4  (VI  292)  'tu  nihil  invita  dices  faciesve  Minerva'  .  .  nihil 
tum  tractabitur  prave  ac  sinistre  a  coactis  et  lepugnantibus.  Vives 
hütet  sich  aber  vor  den  verkehrten  extremen  der  Ratichianer  und 
philantliropisten.  die  körperliche  Züchtigung  verwirft  er  durchaus  nicht. 
s.  anm.  78.  106.  179. 

^'"  die  induclion  war  der  weg,  auf  welchem  man  zu  den  Wissen- 
schaften gelangt  ist,  auf  ihm  sind  sie  fortzubilden,  für  diese  mehr 
philosophische  als  pädagogische  theorie  führe  ich  nur  die  wichtigsten 
stellen  an:  *trad.  disc.  1,  2  (VI  249):  ars,  cuius  inveniendae  haec  fere 
fuit  ratio  atque  observatio :  initio  una  atque  altera  expcrientia  ex  ad- 
miratione  novitatis  annotabatur  ad  usum  vitae;  ex  singnlaribtis  aliquot 
experimeutis  colligebat  mens  universalitatem,  quae  compluribus  deinceps 
experimentis  adiuta  et  confirmata,  pro  certa  explorataque  haberetur; 
tradebatur  tum  posteris;  addebant  alii  quae  ad  eundem  usum  finemque 
pertinerent:  haec  collecta  per  magni  ac  praecellentis  ingenii  viros  dis- 
ciplinas  sive  artes  effecerunt,  nam  hoc  erit  generali  utendum  vocabulo; 
quidquid  nunc  est  in  artibus,  in  natura  prius  fuit,  non  aliter  quam 
uniones  in  concha,  aut  gcmmae  in  arena;  sed  quod  hebetes  multorum 
oculi  non  animadversum  praeteribant,  ab  acutioribus  indicatum  est; 
illique  inventores  dicti,  non  quasi  rem  quae  non  esset,  fecissent  ipsi, 
sed  detexissent,  quae  lateret.  aber  er  erinnert  an  Piatons  wort  (im 
Gorgias)  ut  experientia  artem  pariat,  ars  (methode)  experientiam  regat. 
das  ius  civile  entsteht  nach  trad.  disc.  5,  4  (VI  413):  raulta  videndo, 
observando,  gestis  quoque  rebus  maiorum  legendis  etc.  für  naturwissen- 
schaften  und  medicin  s.  §  44  f.  57  f.  *caus.  corr,  1,  1  (VI  8):  .  .  haec 
ab  eodem  uno  per  varia  experimenta  collecta,  vel  collocata  cum  alienis 
praecepta  efficiebant,  quae  etiam  alios  in  re  simili  adiuvarent;  1,  2 
(VI  13) :  harum  omnium  artium  materia,  vires,  utilitates  in  natura  sunt 
ab  opifice  deo  positae.  *3,  3  (VI  319):  quum  omnia  universalia  ex 
singularibus  sint  nobis  collecta,  quae  singularia  quum  sint  infinita,  per- 
sequi  omnia  non  potuimus  etc.  de  prima  philosophia  2  (III  229):  ani- 
mus  in  intelligendo  .  .  prius  mista  intelligit,  et  sensui  obiecta,  hinc 
magis  simplicia,  et  recondita  ,  .  liomini  prius  notum  est  opus  absolu- 
tum  naturae  quam  eins  elementa.  s.  auch  de  instrumento  probabilitatis 
(III  83  f.).  für  die  methode  gilt  darum:  *trad.  disc.  2,  4  (VI  296)  in 
praeceptione    artium    multa    experimenta    colligemus,    multorum    usum 


F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik.  133 

veranlasse  den  sehüler  zur  autopsie.^"'  veranschauliche  durch  bei- 
spiele.^"^  verfahre  genetisch.^"'  schreite  vom  sinnfälligen  zum  abs- 
tracten^"S  vom  bekannten  zum  unbekannten '"^  vom  leichten  zum 
schweren  fort/"'    5)  suche  durch  ^übung  das  wissen  des  Schülers 


observabimus,  ut  ex  illis  universales  fiant  regulae,  de  quibus  experi- 
mentis,  si  sint  quae  cum  norma  non  congruant,  signanda  est  causa  cur 
id  fiat,  sin  ea  nesciatur,  et  pauca  sint,  quae  non  quadrent,  annotanda 
sunt,  sin  plura  sint  quam  quae  congruant,  aut  pari  numero,  non 
statuendum  de  eo  dogma,  sed  id  transmittendum  admirationi  posterum 
.  .  sie  ex  M.  Ciceronis  usu  ac  Demosthenis  praecepta  rhetorices  petuntur, 
ex  Homero  et  Vergilio  poesis;  sed  ei  qui  de  quaque  arte  commentatur, 
et  praecepta  format,  subinde  est  oculus  ab  experimentis  et  usu  ad 
naturam  ipsam  revocandus,  ut  exactissima  tradat  magis  quam  con- 
sueta  .  .  exemplar  enim  absolutum  est  in  natura,  quod  tantum  quisque 
exprimit,  quantum  valet  ingenio,  aut  diligentia;  alii  plus  aliis,  nemo 
plene  ac  perfecte.  ein  treffliebes  beispiel  inductiven  lebrverfabrens 
s.   exerc.  I.  lat.  dial.  princeps  puer  (I  373  ff.), 

302  s.  anm.  232,  263  u.  a. 

303  trad.  disc.  3,  2  (VI  307  f.):  unverstandene  wörter  werden  nicht 
durch  definitionen,  sondern  durch  ihre  auvvendung  in  sätzen  erklärt,  die 
den  classikern  entlehnt  sind  oder:  *ipse  (magister)  nonnunquam,  ut 
melius  ob  oculos  rem  subiiciat,  exemplum  de  suo  finget,  quod  deforma- 
tum  erit  in  speciem  vel  sententiolae ,  vel  fabellae,  aut  historiae,  aut 
proverbii  succiucte  comprehensi. 

3"^  s.  z.  b.  anm.  249. 

305  *caus.  corr.  3,  5  (VI  131):  illi  (die  Scholastiker)  pueros  suos 
immergunt  in  arcana  illa  naturae,  quae  constare,  et  intelligi  nullo  pe- 
nitus  modo  possunt,  nisi  gustatis  bis  exterioribus;  nam  ordo  nostrae 
cognitionis  hinc  est  ad  illa,  nee  eo  penetrari  a  nobis  potest,  nisi  per 
haec  quae  sunt  foris,  ad  incognita  enim  itur  per  cognita,  et  ad  mentis 
iudicium  per  sensuum  functiones:  isti  contra  rüdem  puerum  .  .  statiin 
praedicabilibus,  et  praedicamentis,  et  sex  principiis  proluunt  etc.  an.  et 
V.  2,  7  (III  373):  cursus  discendi  est  ex  sensibus  ad  imaginationem,  ab 
hac  ad  mentem,  qualis  est  et  vitae  et  naturae;  itaque  a  simplicibus 
progressio  fit  ad  coniuncta,  a  singulari  ad  universale;  quod  est  anno- 
tare  in  pueris,  qui  .  .  primum  exprimunt  partes  separatas  siugularum 
rerum,  deinceps  couiungunt  et  copulant,  universalia  etiam  siugulari 
vocant  nomine,  ut  fabros  omnes  nomine  eins  fabri,  quem  primum  no- 
verunt  ..  .  tum  ex  siugularibus  mens  coUigit  universalia,  uude  ad  sin- 
gularia  rursum  ex  uuiversalibus  revertit;  itaque  primi  magistri  sunt 
sensus,  in  quorum  domo  est  conclusa  mens,  e  quibus  princeps  est  visus 
.  .  post  cognitionem  autem  rerum  inventam  artesque  constitutas,  audiendi 
sensus  tum  plura  et  maiora,  tum  celerius  docet.  *rat.  die,  3,  8  (II  226): 
sensibilia  sunt  primum  ostendenda,  deinceps  ea,  quae  sunt  bis  proxima. 

""6  *trad.  disc,  3,  1  (VI  302):  ars  grammatica  ex  uotioribus ,  ut 
aliae  omnes  tradenda.  Vives  weist,  wenn  auch  unklar,  auf  naturgemäsz- 
heit  im  sinne  des  Comenius  hin:  rat.  die.  3,  8  (II  225),  trad.  disc.  2,  4 
(VI  296);  4,  6  (VI  375).  allein  richtiger  ist  seine  erkeiintnis  *rat.  die. 
3,  8  (II  326):  non  est  in  praeceptis  exhibendis  natura  rerum  spectanda, 
sed  audientis ,  ut  illi  et  notiora  dicamus,  et  prior  a,  nun  naturae; 
cursum  quidem  et  viam  naturae  debemus  imitari ,  non  iugredi;  habet 
illa  quae  sunt  sibi  notissiraa,  nempe  siraplicissima  in  compositis  .. 
nobis  notissima  sunt  exposita  sensibus. 

3*^  trad.  disc.  3,  2  (VI  309):  itaque  initio  pauca  et  facilia  obiiciet, 
mox  cousuefacit  pluribus  maioribus,  solidis;  4,  3  (VI  359):  primum  fa- 
ciliora  quaedam  et  simpliciora  versabunt.     anm.  198. 


134  F.  Kuypers :  Vives  in  seiner  pädagogik. 

in  praktisches  können  umzuwandeln.^"-  6)  rufe  durch  häufige  Wieder- 
holungen das  vergessene  in  dem  schüler  wieder  wach.^"' 

IL  1)  lasse  dich  in  der  wähl  des  stoffes  leiten  von  der  rück- 
sicht  auf  moral.  religion,  nützlichkeit.  was  dem  nicht  dient, 
falle  weg,  nichts  werde  lediglich  des  wissens  wegen  betrieben.^'" 
2)  Sachen,  nicht  blosz  worte  bringe  der  Unterricht.^"  3)  in  Inhalt 
und  form  vermeide  pedanterie  und  kleinigkeitskrämerei,  ander- 
seits bringe  eine  grosze  fülle  von  stoff. ^'^  4)  die  darstellung  sei  ge- 
ordnet und  knapp,  die  anordnung  richte  sich  nach  der  be- 
schaffenheit  des  gegenständes  oder  der  des  schülers.  jede  folgende 
stufe  stütze  sich  auf  die  vorhergehenden."^  5)  suche  concentra- 
tion  der  einzelnen  Unterrichtsfächer,  veranlasse  auch  den  schüler, 
durch  anläge  von  collectaneenheften  nach  zusammenfassender  Ver- 
bindung alles  wissenswerten  zu  streben,^'* 


^"^  *trad.  disc.  4,  3  (VI  359):  quod  mihi  de  instrumento  omui  di- 
cendum  videtur,  in  quo  adornando  non  perinde  elegantia  requirenda  est, 
et  accurata  compositio,  quam  iit  apte  usui  deserviat;  *5,  l  (VI  386): 
quae  ad  usum  referuutur  aliquem,  ea  nisi  aliquando  ipse  obeas,  quan- 
tumcunque  exposita  habeas,  et  percepta ,  nunquam  tarnen  recte  exse- 
queris;  4,  7  (VI  381):  disputationes  eruut,  quomodo  universales  canones 
in  experimentum  singulorum  operum  deriventur.  s.  auch  intr.  sap.  6,  174f. 
(I  14  f.);  6,  141  (I  12):  ingeniura  exercitatione  acuitur;  15,  475  (I  39): 
ne  verbis  quod  scis  ostentes  sed  rebus  te  osfeude  scire. 

^°ä  mor.  erud.  5,  1  (VI  416):  miscebit  studia  et  prima  in  tertiis  re- 
petet,  tertia  in  sextis.  stud.  puer.  1  (I  266);  exerc.  I.  lat.  dial.  schola 
(I  3351. 

ä'o  s.  anm.  32,  67,  290  u,  a. 

3"  ich  verweise  auf  Vives'  inductionslehre.  *trad,  disc.  3,  2  (VI  307): 
selbst  von  dem  veranschaulichenden  beispiele  wird  gefordert  aliquid 
habeat  cognitione  dignuni,  ähnlich  anm.  171,  308.  *intr.  sap.  6,  173 
(I  14):  annitere  ue  sola  verba  inteliegas,  sed  praecipue  scnsa. 

"*  wiederholt  in  dieser  abhandlung  ausgesprochen.  *trad.  disc.  3,  2 
(VI  306):  immo  vero  sicut  in  civitate  aut  domo  bene  constituta,  fla- 
gitium  admittit  magistratus  vel  pater  familias,  qui  locum  malo  et  inu- 
tili  homini  rellnquit,  quem  posset  occupare  bonus:  .sie  delictum  est,  si 
in  ingenio  ineptiis  illis  locus  tribuatur,  in  quo  reponi  possent  alia  pro- 
futura.  beispiele  scholastischer  kleinigkeitskrämerei  in  allen  fächern 
s.  Sapiens  (IV  22  ff.).  —  trotz  der  riesigen  zahl  von  Schriftstellern, 
welche  Vives  behandelt  und  privatim  gelesen  wissen  will,  trad.  disc.  5,  4 
(VI  415):  non  sunt  in  singulis  artium  ii  legendi  soli,  quos  praescribimus, 
uam  fugisse  nos  aliquos,  cognosci  dignissimos,  non  dubitamus. 

3'3  trad.  disc.  2,  4  (VI  296):  in  praeceptis  artium  ordo  est  res  ad 
docendum  efficacissima  ut  facilius  auditores  tum  percipiant,  tum  reti- 
neant;  ducuntur  scilicet  rebus  ita  dispositis,  et  dum  posteriora  quasi 
ex  prioribus  videntur  nasci,  accipiuutur  omnia  pro  certissimis;  sed  quis 
Bit  ordo  ..  in  libris  de  dicendo  exposuimus:  rat.  die.  2,  15  (II  193): 
argumentorum  ordo  vel  naturalis  est,  vel  ad  auditoris  rationem  refertur  etc. 
s.  auch  an.  et  v.  2,  2  (III  349).  »trad.  disc.  1,  6  (VI  268):  adde  quod 
disciplinae,  breviter  ae  pure  ostensae,  acumen,  iudicium,  prudentiam, 
communium  rerum  usum  adiuvant;  longa  earum  tractatio  retundit  vim 
mentis,  et  molestissima  est.  dieses  citat  ist  von  Comenius  als  motte 
der  physicae  Synopsis  vorgesetzt,     ausg.  v.  Reber  s.  46. 

^•'  mor.  erud.  5,  1  (VI  416):  nam  connexionem  inter  se  habent  omnia 
haec  et  affinitatem  quaudam  (nämlich  die  Unterrichtsfächer),    das  eigent- 


F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik.  135 

in.  1)  hüte  dich  vor  Vorurteilen;  deine  erste  meinung 
von  einem  schüler  sei  eine  gute."^  2)  fessele  den  schüler  an 
deine  persönlichkeit,  bleibe  ihm  unbedingte  autorität:  darum 
gib  ein  gutes  beispiel,  verheimliche  deine  schwächen,  bereite  dich 
gewissenhaft  auf  den  Unterricht  vor  und  gestalte  deinen  vorti'ag 
interessant.^'^ 

IV.  1)  der  Unterricht  werde  mit  gebet,begonnen.^'^  2)  der 
schüler  folge  dem  vortrage  durch  schriftliche  aufzeichnun- 
gen.^'*  3)  disputationen  sind  nur  in  beschränktem  masze  gestattet. 


liehe  concentrationsg'ebiet  ist  die  classikerlectüre.  liier  ist  zu  vermitteln 
*trad.  disc.  3,  1  (VI  304):  cognitio  aliqua  rerum ,  nempe  temporum, 
locorum,  historiae,  fabulae,  proverbiorum,  sententiarum,  apophthegmatum, 
rei  domesticae,  rei  rusticae,  gustus  etiam  quidam  civilis  ac  publicae; 
3,2  (VI  308):  beim  namen  einer  historischen  persönlichkeit  erfahre  der 
schüler  einiges  über  sein  leben,  seine  heimat,  seine  beschäftigung  usw. 
zur  erklärung  der  in  rede  stehenden  gegenstände  sollen  geographische, 
geschichtliche,  naturwissenschaftliche,  ethnographische  und  allgemeine 
bemerkungen  aus  den  höheren  Wissenschaften  gemacht  werden,  die 
classiker  selbst  liefern  realien;  verbaler  realismus.  s.  u.  a.  puer  2 
(I  274);  aber  auch  umgekehrt:  historiae  quoque  instruere  possunt  lin- 
guam.  auf  die  anläge  von  collectaneenheften  legt  Vives  sehr  groszes 
gewicht,  ihre  einrichtung  bespricht  er  am  ausführlichsten  *trad.  disc. 
3,  3  (VI  310):  itaque  unusquisque  puerorum  habebit  librum  chartae 
vacuum,  in  partes  aliquot  divisum,  ad  ea  accipienda,  quae  ex  ore  prae- 
ceptoris  cadent,  utique  non  viliora  quam  gemmae:  in  parte  una  reponet 
verba  separata,  et  singula;  in  altera  proprietates  loquendi  atque  idio- 
mata  sermonis,  vel  usus  quotidiani ,  vel  rara,  vel  non  omnibus  nota 
atque  exposita;  in  alia  parte  historias  (wohl  kurze  daten),  in  alia  fabulas 
in  alia  dicta  et  sententias  graves;  in  alia  salsas  et  argutas;  in  alia 
proverbia,  in  alia  viros  famosos  ac  nobiles,  in  alia  urbes  insignes,  in 
alia  animantes,  stirpes,  gemmas  peregrinas,  in  alia  locos  auctorum  diffi- 
ciles  explicatos;  in  alia  dubia  nondum  soluta:  haec  initio  simplicia  ac 
velut  nuda,  aliquanto  post  convestiet  ac  ornabit;  habebit  maiorem  co- 
dicem;  eodem  referet  tum  quae  a  praeceptore  acceperit  copiosius  dicta 
et  fusius,  tum  quae  ipse  sua  opera  apud  magnos  scriptores  legerit,  vel 
«X  aliis  dicta  observarit;  et  quemadmodum  in  hoc  suo  veluti  calendario 
fiedes  et  nidos  habet  quosdam,  ita  si  velit  singulorum  nidorum  notas 
pinget  sibi,  quibus  ea  distinguet  in  scriptoribus,  quae  in  quemque  est 
locum  relaturus.  ähnlich  stud.  puer.  1  (I  266  u.  268);  2  (I  272);  intr. 
sap.  6,  172  (I  14).  Vives  will  überhaupt  stud.  puer.  2  (I  273):  nee  librum 
ullum  legas  quin  eadem  excerpas,  quae  de  sermone  praeceptoris  dixi  .  .  . 
in  qua  (lectione)  tria  sunt  animadvertenda,  verba,  formulae  loquendi 
et  sensa.     ähnl.  1  (I  258).     und  das  bei  der  massenhaften  lectüre! 

2'=  *trad.  disc.  2,  4  (VI  293):  destinato  iam  litteris  puero,  ut  pater 
de  filio  spem  debet  optimam  concipere,  ita  praeceptor  de  discipulo. 

"ß  s.  anm.  151,  159,  199  u.a.  stud.  puer.  2  (I  271):  semper  (prae- 
ceptoris dicta)  cum  dignitate  in  animum  admitte  et  oraculi  cuiusdam 
vice  habe. 

^"  stud.  puer.  2  (I  270) :  quum  sapientia  et  virtus  et  scientia  omnis 
divinitus  contingant,  aequum  est  ut  primus  aditus  ad  haec  omnia  sit 
per  deum.  mor.  erud.  5,  1  (VI  419):  itaque  quoties  ad  Studium  acce- 
dimus,  ab  oratione  auspicandum  est  .  .  ut  sana  sint  nostra  studia,  ut 
nemini  noxia,  ut  nobis  et  omnibus  in  commune  salutifera. 

^'^  *8tud.  puer.  2  (I  272):  nee  unquam  ad  audiendum  institutorem 
accedas,  penna  et  charta  inermis,  ne  quod  praetervolet  ...     ä.  ö. 


136  F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik. 

sie  dürfen  auf  keinen  fall  den  gegner  verletzen ,  der  eitelkeit  Vor- 
schub leisten  oder  der  Wahrheit  abbruch  thun;  sie  sollen  eine  fried- 
liche 'vergleichung  der  Studien'  (collatio  studiorum)  sein.^'* 

Schlusz. 

§  68.  Vives  berührt  nicht  blosz  die  eine  oder  andere  Seite  der 
Pädagogik,  wie  manche  erziehungsschriftsteller  vor  und  zu  seiner 
zeit,  sondern  es  läszt  sich  aus  seinen  schritten  ein  vollständiges 
System  derselben  zusammenstellen,  welches  —  besonders  wenn  mau 
seine  ansichten  über  bildung  des  weiblichen  geschlechts  einrechnet  — 
niemals  vor  ihm  gleich  erschöpfend  dargestellt  sein  dürfte,  obgleich 
manche  detaillierungen  fehlen,  seine  theorien  sind  zwar  oft  ohne 
bewusten  Zusammenhang  ausgesprochen,  in  anlehnung  an  man- 
cherlei zwecke  entwickelt  und  in  vielerlei  Schriften  zum  ausdrucke 
gekommen,  aber  sie  sind  in  consequenter  weise  aufgebaut  auf  der- 
selben psychologischen  und  ethischen  grundlage. 

Sein  ziel  ist  erreichung  der  himmlischen  und  irdischen  bestim- 
mung.  darum  ist  der  Schwerpunkt  seiner  pädagogik  bildung  zur 
tugend  und  zur  praktischen  tüchtigkeit  durch  christliche  erziehung 
und  vernünftigen  Unterricht,  was  obigem  ziele  nicht  dient,  ist  wert- 
los; nichts  wird  lediglich  des  wissens  wegen  betrieben,  harmonische 
ausbildung  an  geist  und  körper,  in  theorie  und  praxis,  in  formalen 
fähigkeiten  und  materialen  kenntnissen  wird  auf  dem  wege  zu  diesem 
ziele  erreicht. 

In  seinen  forderungen  ist  Vives  ein  groszer  reformator  der 
pädagogik.  seine  Stellung  in  der  geschichte  derselben  kann  viel- 
leicht durch  eine  kurze  vergleichung  mit  den  Scholastikern,  den 
humanisten,  Luther  und  den  'neuerem'  fixiert  werden. 

Er  macht  entschieden  front  gegen  den  scholastischen  unter- 
richtsbetrieb.  statt  des  mittelalterlichen  lateins  soll  das  classische 
eingeführt,  zur  grundlage  des  Sprachunterrichts  eine  reformierte 
grammatik,  zum  centrum  desselben  die  classikerlectüre  gemacht 
werden,  hilfsmittel  soll  die  gereinigte  muttersprache  sein,  griechisch, 
hebräisch,  arabisch  und  die  modernen  sprachen  werden  facultative 
Unterrichtsfächer,  nicht  logische  kunststückchen,  sondern  Sachen 
lerne  der  schüler,  die  nicht  allein  aus  dem  oft  irrenden  und  oft 
falsch  verstandenen  Aristoteles  sondern  auch  aus  den  andern 
classikern,  vor  allem  aber  aus  der  natur  selbst  zu  schöpfen  sind. 
die  artes  sermonicales  des  triviums  werden  durchbrochen  durch  die 
naturwissenschaft,  das  quadrivium  wird  erweitert  durch  geschichte, 
vor  allem  culturgeschichte,  und  moralphilosophie.  auszer  der  theo- 
retischen bildung  erhalten  die  schüler  einen  einblick  in  alle  selten 

""  häufig  iu  dieser  abhandlung  ausgesprochen,  definiert  wird  die 
disputation  de  disputatione  (III  68):  argumentorum  ad  aliquid  proban- 
dum,  aut  improbaudum ,  comparatio.  über  den  charakter  dieser  coila- 
tiones  s.  mor.  erud.  5,  2  (VI  427).  einige  didaktische  winke  für  den 
schüler  s.  auszer  in  stud.  puer.   1  u.  2  in  intr.  sap.  6,  140  f.  (I  12  f.). 


F.  Euypers:  Vives  in  seiner  pädagogik.  137 

des  praktischen  lebyns.  die  grenze  zwischen  lehrer  und  schüler  wird 
scharf  gezogen ,  mit  unbedingter  superiorität  des  ersteren,  die  Über- 
gangszeit zu  einem  praktischen  berufe  wird  festgesetzt,  die  quali- 
fication  zu  einem  wissenschaftlichen  musz  durch  examina  erworben 
werden,  es  beginnt  eine  eigne  philosophische  facultät  sich  zu  ent- 
wickeln; der  Unterricht  in  den  andern  facultäten  beginnt  erst 
mit  dem  25n  jähre,  die  besoldung  der  lehrer  ist  staatlich,  die 
schüler  zahlen  kein  Schulgeld,  der  Unterricht  wird  geregelt  durch 
eine  planmäszige  methode,  deren  springende  punkte  berücksich- 
tigung  der  Individualität,  induction ,  zwanglosigkeit  sind.  —  Ratio 
vicit,  vetustas  cessit,  des  Ratichius  stolzes  motto,  hätte  fast  hundert 
jähre  früher  in  etwas  anderer  auffassung  Vives'  werk  de  disciplinis 
schmücken  dürfen. 

Vergleichen  wir  seine  anschauungen  mit  denen,  die  im  all- 
gemeinen bei  den  humanisten  galten,  so  möchten  sie  sich  haupt- 
sächlich in  folgenden  punkten  unterscheiden:  er  behält  ausdrücklich 
seineu  supranaturalismus  bei  und  sieht,  abgesehen  von  kirchlichen 
misständen,  nicht  in  der  religiösen  anschauung  sondern  nur  in 
Wissenschaft  und  Unterricht  des  mittelalters  eine  verirrung.  darum 
will  auch  er  zwar  an  das  classische  altertum  anknüpfen,  aber  es 
sollen  die  christlichen  lehren  gewahrt,  die  alten  als  beiden  gereinigt, 
als  forscher  kritisiert,  und  die  realen  kenntnisse  nicht  blosz  aus 
ihnen,  sondern  zunächst  aus  der  anschauung  selbst  entnommen 
werden,  und  wie  in  realer,  so  geht  er  auch  in  verbaler  hinsieht  über 
die  alten  hinaus:  bei  aller  Verurteilung  der  barbarismen  scheut  er 
sich  nicht,  auf  grund  des  lateinischen  und  griechischen  neubildung 
von  Wörtern  vorzunehmen,  um  die  spräche  für  den  modernen  ge- 
brauch zu  erweitern;  denn  in  der  allgemeinen  Verwendbarkeit  und 
dem  sachlichen  Inhalte  liegt  der  wert  der  classischen  spräche ,  an 
sich  ist  sie  nicht  mehr  bildend  als  eine  vulgäre,  darum  sind  auch  die 
dichter  von  höchst  zweifelhaftem  werte,  der  damals  den  humanisten 
beigelegte  name  'poeten'  passt  für  Vives  nicht  im  geringsten,  das 
ziel  der  eloquenz  erreicht  er  zwar,  wie  alle  humanisten,  auf  dem 
dornenvollen  umwege  der  grammatik  und  der  classikerlectüre,  aber 
dieser  weg  ist  nicht  der  beste,  sondern  nur  der  durch  die  notlage 
bedingte,  wären  die  Römer  und  Griechen  noch  da,  so  wäre  es  dem 
scbulgemäszen  unterrichte  bei  weitem  vorzuziehen,  sich  diese  Völker 
selbst  zu  lehrern  zu  nehmen,  wie  Vives  es  denn  thatsächlich  bei  den 
lebenden  sprachen  durchgeführt  haben  will. 

Mit  Luther  teilt  er  die  erkenntnis  der  Wichtigkeit  der  erziehung, 
der  bedeutung  der  familie  für  dieselbe,  die  forderung  der  staatlichen 
Unterweisung  armer  kinder  sowie  überhaupt  der  staatlichen  fürsorge 
für  die  schule;  den  schulzwang  hat  er  nirgends  deutlich  gewollt. 

Mit  den  'neuerem'  stimmt  er  überein,  wenn  er  erstens  nach- 
drücklich und  wiederholt  'parallelismus'  von  sache  und  spräche 
verlangt,  zweitens  den  christlichen  glauben,  sitten  und  Selbständig- 
keit der  schüler  durch  die  beiden  nicht  gefährdet  und  drittens  die 


138  F.  Kuypers:  Vives  in  seiner  pädagogik. 

realien  eingeführt  wissen  will,  für  die  erstgenannte  forderung 
liefert  er  indes  keine  praktischen  hilfsmittel,  die  zweite  weisz  er  mit 
der  classikerlectüre  zu  vereinigen,  durch  welche  nur  zum  teil  der 
letzten  genügt  wird,  es  soll  zwar  eine  neue  grammatik  aus  den 
Schriftstellern  erst  verfaszt  werden ,  aber  es  lernt  der  schüler  nicht 
erst  die  spräche  und  dann  die  grammatik,  auszer  bei  den  lebenden 
sprachen,  das  abgekürzte  verfahren  durch  einen  methodischen  com- 
pendienlehrgang  kennt  Vives  nicht,  die  muttersprache ,  auf  deren 
reinhaltung  mit  fleisz  zu  sehen  ist,  ist  hilfsmittel  für  den  fremd- 
sprachlichen Unterricht,  aber  nicht  in  dem  sinne  des  Ratichius  'dasz 
an  ihr  die  grammatik  zuerst  eingeübt  werden  musz,  darnach  an  den 
fremden  sprachen'. 

Auf  die  frage  nach  Vives'  einflusz  auf  die  späteren  pädagogen 
kann  ich  hier  nicht  eingehen ;  sie  läszt  sich  nicht  so  leichthin  beant- 
worten ,  wie  es  manchmal  geschehen  ist.  ich  begnüge  mich  damit, 
in  vorliegender  abhandlung  den  versuch  zu  einer  brauchbaren  grund- 
lage  gegeben  zu  haben,  das  urteil  über  Vives  als  pädagogen  fasse 
ich  dahin  zusammen:  Vives  nimmt  in  der  geschichte  der  pädagogik 
eine  bedeutende  Stellung  ein;  denn  er  liefert  eine  alle  zweige  der  er- 
ziehungswissenschaft  umfassende  pädagogik,  die,  aus  einheitlichem 
princip  erwachsen,  mit  aller  schärfe  sich  gegen  das  hergebrachte 
wendet,  die  besten  bestrebungen  seiner  zeit  in  sich  vereinigt,  un- 
zweifelhaft der  nächsten  epoche  vorarbeitet  und  keime  fast  aller 
späteren  entwicklung  enthält,  mögen  auch  seine  vorschlage  heute 
zum  groszen  teile  überholt  sein  —  von  manchen  bleibt  es  zu  be- 
dauern, dasz  sie  in  der  jetzigen  praxis  keine  oder  nur  geringe  an- 
wendung  finden,  was  er  wollte,  erreichte  in  mehreren  wichtigen 
punkten  zwar  nicht  die  forderungen  des  nächsten  Jahrhunderts,  war 
aber  für  seine  zeit  grosz  und  neu.  nulla  ars  simul  et  inventa  est  et 
absoluta  .  .  patet  omnibus  veritas,  nondum  est  occupata:  multura 
ex  illa  etiam  futuris  relictum  est.    caus.  corr.  praef.  (VI  7). 

Kiel.  Franz  Kuypers. 


10. 

HOMERISCHE   KLEINIGKEITEN  AUS   DER  SCHULPRAXIS. 

(stumme   handlung.      Nausikaa.     Antinoos.      das   weinen   des   Odysseus. 

das  Sirenenabenteuer,    die  heldentypen  der  unterweit:  Agamemnon  und 

Achilleus.     mutterliebe.) 

Man  kann  den  Homer  nicht  lesen,  ohne  immer  wieder  einzel- 
heiten  zu  finden,  welche  bei  geeigneter  behandlung  das  Interesse 
der  schüler  an  der  dichtung  erhöhen  und  die  gestalten  des  dichters 
ihrem  fühlen  näher  bringen  können,  wir  glauben  natürlich  nicht, 
dasz  das,  was  wir  hervorheben,  aus  einer  absieht  des  dichters  her- 
vorgegangen ist;  genie,  persönlicher  und  volkscharakter  trieben  ihn 


E.  Rosenberg:  Homerische  kleinigkeiten  aus  der  Schulpraxis,    139 

zu  einer  darstellung,  an  der  wir  das  uns  bemerkenswert  erscheinende 
aussondern,  es  ist  aber  nur  eine  nachlese,  die  wir  vornehmen,  und 
unzweifelhaft  werden  vielen  die  von  uns  noch  gefundenen  ähren 
minderwertig  erscheinen.  —  Gerade  bei  Homer  kann  man  nicht  oft 
genug  von  'stummer  handlung'  sprechen,  wozu  auch  Cauer  in  seinem 
schönen  buch  von  der  kunst  des  Übersetzens  rät.  aus  seinen  deutschen 
classikerwerken  ist  der  schüler  gewöhnt,  in  den  reden  oder  hinter 
denselben  erklärende  bemerkungen  wie:  'geht  ab',  'leise',  'für  sich' 
u.  dgl.  zu  lesen,  im  Homer  müssen  ihm  ähnliche  bemerkungen  mit- 
geteilt oder  aus  ihm  entwickelt  werden;  sonst  leidet  sein  fröhliches 
interesse  an  der  sich  dramatisch  entwickelnden  handlung.  nicht 
immer  freilich  ist  die  'stumme  handlung'  so  notwendig  und  so  deut- 
lich zu  constatieren,  wie  z.  b.  in  der  rede  der  Sibylle  an  den  lebhaft 
abwinkenden  Charon  bei  Yergil  VI  399 — 407,  wo  wir  nicht  blosz 
die  dem  Südländer  so  eigentümliche  lebhafte  gesticulation  bei  dem 
nullae  und  nee,  nicht  blosz  die  vorstellende  handbewegung  bei 
Troius  Aeneas,  sondern  auch  eine  immer  heftiger  ablehnende  hal- 
tung  beim  Charon  anzunehmen  haben,  welche  die  Sibylle  schliesz- 
lich  zu  dem  letzten  mittel  und  zu  den  worten  veranlaszt:  si  te  nulla 
movet  tantae  pietatis  imago  usw.  der  lehrer  musz  hier  gerade  so 
regisseur  sein,  wie  es  der  dichter  ist  mit  den  worten:  aperit  ramum, 
qui  ueste  latebat,  die  er  uns  auch  besser  aus  ramum  hunc  hätte  er- 
raten lassen  sollen,  es  ist  nun  entschieden  erspieszlich ,  eine  solche 
stumme  handlung  z.  b.  auch  in  der  rede  des  Alkinous  r)  309  ff.  dort 
anzunehmen,  wo  Alkinous  fortfährt:  deKOVia  be  c'  Oii  Tic  epuHei. 
Odysseus  hatte  sicherlich  keine  miene  der  freudigen  Zustimmung 
gezeigt,  sondern  erraten  lassen,  dasz  er  an  solche  plane  nicht  denke ; 
darum  folgt  dann  bei  Alkinous  die  nochmalige  Versicherung:  ^f) 
TOÖTO  —  YevoiTO,  darum  —  wir  würden  empfinden,  um  die  Ver- 
legenheit nicht  zu  sehr  zu  zeigen  —  das  sofortige  genaue  ein- 
gehen in  den  plan  der  entsend ung.  auch  in  der  in  ihrer  schlichten 
einfalt  unübertrefflichen  6)ai\ia  der  Nausikaa  mit  Odysseus,  an  die 
Horaz  wohl  gedacht  haben  kann,  als  er  HI  9  die  Lydia  die  aus- 
drücke des  liebenden  Jünglings  stets  noch  überbieten  läszt,  denke 
ich  mir  das  benehmen  des  Odysseus,  der  in  des  wortes  bestem  sinne 
ein  propositi  tenax  war,  gern  so,  dasz  ich  ihn  nach  den  alles  zu- 
sammenfassenden Worten:  cu  yotp  }A  eßiuucao,  KOUpr)  sich  rasch  und 
energisch  abwenden  lasse,  ein  weiteres  'schmachtendes'  hinblicken 
würde  beiden  personen  schaden  bringen.  Nausikaa  ist  durchaus 
kein  schüchternes  mädchen,  das  sich  verliebt  hat;  jenen  frommen 
Seelen  gleich,  die  als  kr  an  kenp  fleger  innen  im  dienste  einer 
höheren  idee  auf  die  im  Verhältnis  dazu  kleinlichen  rücksichten 
ihres  geschlechts  nicht  mehr  acht  geben  und  tbatkräftig,  wo  und 
wie  ihre  hilfe  nötig  ist,  eingreifen,  hat  sie  sich  dem  unbekleideten 
Odysseus  genähert,  und  mit  einer  dankbaren  erinnerung  ist  sie 
zufrieden,  nachdem  sie  gefühlt  und  gehört  bat,  dasz  sich  ihre 
Sympathie  mit  dem  stattlichen  fremden  nicht  zu  einem  wärmeren 


140    E.  Eosenberg:  Homerisclie  kleinigkeiten  aus  des  Schulpraxis. 

gefühl  steigern  darf,  sie  ist  eine  das  durchschnittsmasz  der  frauen 
überragende  erscheinung,  welche  Odysseus  richtig  charakterisiert: 
ujc  ouK  av  eXiTOio  vedjxepov  dvTidcavxa  epHeiaev  (r)  292).  — 
Für  'stumme  handlung'  verweise  ich  noch  auf  i  19.  wie  lange 
läszt  Odysseus  sich  bitten ,  ehe  er  seinen  namen  sagt !  welche  vor- 
rede! er  beabsichtigt  einen  dramatischen  effect.  man  male  den 
Schülern  die  Spannung  aus,  mit  der  die  Phäaken  an  seinem  munde 
hängen,  man  erzähle  von  dem  gedankenstrich  hinter  bdj)aaTa  vaiuüv 
und  übersetze:  ich  bin  dieser  Odysseus,  der  Laertessohn,  und  man 
behaupte  kühn,  dasz  Odysseus  die  ausführliche  beschreibung  von 
Ithaka  gleich  darauf  folgen  lasse,  nicht,  um  seine  heimatsliebe  zu 
zeigen,  auch  wohl  nicht,  um  sich  durch  diese  zu  beglaubigen,  son- 
dern gewis  mehr,  umdiehochgehendebewegung,  welche  seine 
Worte  erregen  musten,  vorübergehen  zu  lassen,  ehe  er  mit  der 
erzählung  begann,  (ich  verweise  beiläufig  auf  die  erwiderung  des 
Odysseus  auf  die  worte  des  Polyphem  (i  259).  die  angst,  das  heraus- 
poltern der  worte,  das  den  faden  verlieren  ist  trefflich  gemalt,  die 
Worte  Xaoi  b'  'Atpeibeo)  'AYCX)ae')avovoc  verlangen  eine  kurze  pause 
vorher  nach  der  unangenehmen  beobachtung  des  Odysseus,  dasz  seine 
früheren  worte  keinen  eindruck  beim  Polyphem  gemacht  haben, 
auch  vor  fi|ueic  b'  auie  Kixavö)aevoi  ist  eine  pause  anzunehmen; 
denn  der  zweite  versuch ,  durch  geschichtliche  tbatsachen  etwas  zu 
erreichen,  hat  noch  mehr  fehlgeschlagen.)  —  Auch  kann  man  in  den 
personen  dieses  frischesten  teils  der  dichtung  eine  feinheit  der  ge- 
sinnung  spüren,  die  noch  heute  entzückt,  nachdem  Athene  den 
Odysseus  auf  die  hervorragende  Stellung  der  Arete  in  dem  haushält 
des  Alkinous  zu  seiner  'Information'  hingewiesen,  wie  zart,  ich 
möchte  fast  sagen,  'galant'  benimmt  er  sich  dann  gegen  eie!  bei 
den  abschiedsworten  v  59  wünscht  er  ihr  Wohlergehen,  bis  das 
'alter'  kommt  und  der  tod.  seinen  einzigen  speciellen  toast 
widmet  er  ihr,  wie  er  sie  auch  um  aufnähme  gebeten  hatte,  nicht 
den  Alkinous.  scheint  es  nicht,  als  ob  die  eigentliche  herscheria 
des  landes  Arete  gewesen  wäre,  nicht  Alkinous?  die  Phäaken 
weichen  ja  auch  sonst  —  nicht  blosz  in  dieser  groszen  Verehrung 
der  frau,  in  ihren  sitten  von  denen  der  Griechen  ab.  in  der  Ord- 
nung bei  der  tafel,  in  der  sie  eSeir|C  il6\xe\0i  dem  gesange  des 
Demodokus  zuhören,  in  der  betonung  der  freuden  des  gesanges,  in 
der  kunst  des  tanzes,  in  der  ängstlichkeit  bei  dem  sausen  des  steines 
zeigen  sie  die  einÜüsse  einer  gröszeren  cultur.  so  besitzt  auch  ihr 
könig  ein  Zartgefühl,  welches  ihn  uns  liebenswert  macht,  er  ist 
es  nicht,  den  vorzeitige  neugierde  treibt  nach  dem  namen  des  fremd- 
lings zu  forschen;  es  ist  die  gattin,  die  aber  für  ihre  neugierde 
triftige,  hausfrauenhafte  gründe  hat.  er  fragt  selbst  dann  nicht,  als 
er  den  Odysseus  weinen  sieht,  obwohl  er  als  rücksichtsvoller  vvirt 
seinen  gast  stets  im  äuge  hat;  er  sorgt  für  abwechslung  in  den  be- 
lustigungen,  als  er  grund  zu  haben  glaubte,  anzunehmen,  dasz  der 
gesang  seinen  gast  aufrege;  er  ist  ein  zu  geschickter  wirt,  als  dasz 


E.  Rosenberg:  Homerische  kleinigkeiten  aus  der  Schulpraxis.    141 

er  die  kleine  Verstimmung,  die  durch  Euryalus  in  die  Versammlung 
gekommen  war,  nicht  schnell  durch  einen  neuen  verschlag  zurück- 
zudämmen   wüste,    man  beobachte  auch^    wie  Alkinous  auch  dem 
neide,  der  sich  etwa  bei  dem  siege  des  Odysseus  erheben  könnte, 
durch  das  starke  lob  entgegentritt,  das  er  seinem  volk  in  vauTiXir) 
Kai  TTOCCi  Kai   öpxriCTuT  koi  doibr)    spendet  —  ein  lob,   welches 
Odysseus  ebenso  schlau  und  ebenso  darauf  bedacht,  durch  sein  lob 
eine   entstehende   neidische   regung   zu  unterdrücken,   mit  klugen 
Worten   bestätigt,    erst  als  Odysseus  gewissermaszen  selbst  durch 
sein  weinen  und  sein  tiefes  aufseufzen  dem  wirte  nahe  legt,  nach 
dem  gründe  zu  fragen  —  erst  da  entschlieszt  sich  der  taktvolle 
herscher  zu  der  bedeutsamen  frage,  von  der  er  abstand  genommen, 
da  er  aus  der  antwort  des  fremden  an  die  Arete  gemerkt  hatte,  dasz 
derselbe  seinen  namen  zu  verbergen  suche  —  und  wie  entschuldigend 
selbst  da  noch,  wenn  alles  echt  ist,  was  wir  in  der  rede  lesen!    frei- 
lich will  mir  das  mittel,  welches  der  dichter  anwendet,  um  die  er- 
kennung    hinauszuziehen   und   herbeizuführen,    etwas   plump   er- 
scheinen, wenn  Alkinous  die  frage  that,  als  Odysseus  zuerst  weinte, 
weil  Demodokus  unvermutet  eine  saite  seines  inneren  berührt  hatte, 
die  solche  töne  von  sich  gab  —  dann  war  alles  in  Ordnung;  nach- 
dem   aber  Odysseus   selbst   den   sänger   ermuntert  und  ihm  das 
thema  genannt  hat,  konnte  Odysseus  nicht  mehr  so  schluchzen  und 
weinen,  ohne  sich  bewust  zu  sein,  dasz  er  dadurch  die  ent- 
scheidung  herbeiführen  müsse,    das  zweite  weinen  also  ist  ein  be- 
rechnetes, absichtliches,  das  weinen  ist  hier  nicht  lediglich  mehr  ge- 
fühlsausdruck,  ein  'bühnenmittel'  äuszerlicher  art.    hierin 
erscheint  mir  die  composition  ebenso  wenig  zu  billigen ,  wie  darin, 
dasz   der  dichter  die  scene  mit  den  Sirenen  hinter  die  in  der  unter- 
weit —  ich   gehe  immer  von  der  echtheit  des  ganzen  aus  —  hat 
legen  wollen,   was  für  einen  anreiz  konnte  es  vernünftigerweise  für 
Odysseus  haben,  wenn  die  Sirenen  |ui  189  versprechen:  ib)uev  T^P 
TOi  irdvG'   öc'   evi  Tpoir)  eupeir)  usw.,   nachdem  er  eben  erst  die 
helden  persönlich  begrüszt  hatte!  aber  wie  reizend  naiv  ist  es  weiter 
-vom  dichter,  dasz  er  seinen  helden,  den,  der  allem  bisher  wider- 
standen, wirklich  binden  und  äuszerlich  in  eine  läge  bringen 
läszt,  die  ihm  nicht  gelegenheit  gibt,  seine  Selbstüberwindung  zu 
zeigen,  ja,  dasz  er  seinen  helden  nach  unserem  fühlen  erniedrigt, 
indem  dieser  in  der  that  seine  genossen  auffordert,  ihn  loszubinden, 
das  ist  ähnlich  kindlich ,  als  wenn  er  von  dem  gesang  der  Circo  be- 
wundernd sagt:  bdnebov  b'  ccirav  d)acpijue)iUKe,  als  wenn  die  macht 
der  stimme  das  einzig  in  frage  kommende  sei.  warum  aber  läszt  der 
dichter  den  Odysseus  die  Sirenen  überhaupt  hören,  während  wachs 
ihm,  wie  den  andern,  über  die  gefahr  hinweghelfen  konnte?  grosze 
männer  müssen  alles  kennen  lernen,  um  es  besser  beurteilen  können; 
ein  Odysseus  hörte  thatsächlich  in  sich  die  Sirenentöue  häufiger  und 
deutlicher  als  seine  genossen;  das  nichthören  auf  solche  lockungen 
ist  bedeutenden  männern  schwerer  gemacht  als  der  menge. 


142   E.  Rosenberg:  Homerische  kleinigkeiten  aus  der  Schulpraxis. 

Aber  es  ist  erfreulicher,  Homer  zu  loben  als  zu  erklären,  dasz 
man  etwas  in  ihm  nicht  zu  billigen  wisse,  und  so  will  ich  noch  auf 
einzelnes  aufmerksam  machen,  das  leicht  übersehen  wird,  in  den 
beiden,  welche  dem  Odjsseus  in  der  unterweit  nahen,  sind  gewisse 
typen  charakterisiert,  da  ist  zunächst  Agamemnon,  warum  ist 
YUVaiKÜJv  das  letzte  in  der  anrede  des  Odysseus  an  ihn?  weil 
Odysseus  weisz,  welche  rolle  die  frauen  im  leben  des  unglücklichen, 
gespielt  haben,  darum  antwortet  auch  Agamemnon  mit  der  Ver- 
urteilung des  weibes  X  428:  d)c  ouk  aivötepov  Km  Kuvxepov  ctXXa 
YuvaiKÖc.  noch  einmal  wiederholt  Odysseus,  welche  schlimme  rolle 
die  frau  in  dem  leben  der  Atriden  gespielt  hat.  Agamemnon  kommt 
ihm  wie  ein  buszopfer  für  alle  die  armen  vor,  die  um  der  Helena 
willen  den  Untergang  gefunden.  Agamemnon  antwortet  wieder 
mit  wenig  schmeichelhaften  bemerkungen  über  die  frau ,  die  nur  in 
bezug  auf  die  Penelope  eine  einschränkung  erfahren,  die  rede  ist 
aber  durch  die  innigkeit  des  gefühls,  mit  der  der  heerführev  das  glück- 
liche Verhältnis  zwischen  vater  und  söhn  schildert,  ausgezeichnet; 
wir  sehen :  er  ist  als  ein  weichherziger,  den  frauen  allzu  ergebener 
mensch  geschildert,  ein  mann,  wie  er  der  natur  des  Odysseus  nicht 
sehr  sympathisch  ist;  weswegen  er  denn  auch  das  gespräch  etwas 
rauh  mit  den  worten:  kokÖv  b'  dve)HiJuXia  ßdZieiV  abbricht,  vielleicht 
auch  gereizt  durch  das  mistrauen,  das  sich  so  natürlich  in  der  brüst 
des  Agamemnon  selbst  gegen  eine  Penelope  regte.  Odysseus  hatte 
ja  keine  Kassandra  weggeführt  und  keiner  Kalypso  oder  Circe  sein 
herz  gegeben.  —  Welch  andere  saiten  werden  bei  der  Zusammen- 
kunft mit  Achilles  berührt!  das  ist  ein  schwerblütiger,  alles  tief 
und  schwarz  auffassender  Charakter  auch  in  der  unterweit,  schon  in 
der  anrede  an  Odysseus  am  schlusz  das  tieftraurige:  ei'biuXa  Ktt- 
fiövTUJv!  sein  sorgen  geht  um  den  söhn,  nicht  ob  er  lebt,  sondern 
ob  er  ein  krieger  geworden,  um  den  vater,  nicht  ob  er  am  leben,  son- 
dern ob  er  noch  in  der  gebührenden  TipLX]  ist.  und  als  er  des  ruhmes 
seines  sohnes  so  viel  gehört,  verliert  er  keine  worte  weiter,  sondern 
geht  lyuxr)  jaaKpd  ßißdca,  der  vater  eines  beiden  und  selbst 
ein  held,  über  die  asphodeloswiese.  wie  anders  ist  dieser  rauhe, 
unerbittliche  heldencharakter  als  sein  einstiger  gegner  auf  erden  ge- 
schildert! —  Ich  übergehe  die  episode  mit  Aias,  obwohl  auch  sie 
den  Charakter  desselben  gut  festhält,  und  alle  die  folgenden,  die  an 
frische  weit  den  vorher  besprochenen  nachstehen,  und  erwähne  nur 
noch  aus  dem  beginn  der  veKUia  v.  153:  auTiKtt  b'  Itvuj,  wo  das 
auTiKtt  so  recht  bezeichnend  ist  für  die  mütterliche,  die  das  kind 
sofort  erkennt;  war  doch  die  mütterliche  die  Ursache  des  todes  der 
Antikleia  gewesen,  wie  sie  das  dann  selbst  in  einer  schön  disponierten 
rede  ausführt,  in  der  sie  die  schi'eckliche  erklärung  ihres  todes  als 
das  ihr  unangenehmste  bis  zuletzt  aufspart. 

Hirschberg.  Emil  RosENBERa. 


P.  Vogel:  drei  hilfsbücher  für  den  deutschen  Sprachunterricht.     143 

11. 

DREI    HILFSBÜCHER    FÜR    DEN    DEUTSCHEN    SPRACH- 
UNTERRICHT  DER   OBER-   (UND   MITTEL-)CLASSEN,   BE- 
SONDERS DER  OBERSECUNDA. 


Die  zweite  hälfte  unseres  Jahrhunderts,  besonders  die  letzten 
beiden  Jahrzehnte  sind  so  überaus  fruchtbar  gewesen  an  büchern, 
Monographien ,  aufsätzen  in  Zeitschriften  usw. ,  die  sich  mit  germa- 
nistik  und  dem  deutschen  Unterricht  beschäftigen,  dasz  es  dem 
gymnasiallehrer,  zumal  wenn  er  nicht  germanist  von  fach  ist,  bereits 
unmöglich  geworden  ist,  alle  einzelerscheinungen  zu  verfolgen  und 
sich  das  für  ihn  wissenswerte  und  für  den  deutschen  Unterricht  ver- 
wertbare daraus  anzueignen,  um  so  willkommener  sind  deshalb  für 
den  lehrer  des  deutschen  gerade  in  jetziger  zeit  bücher,  welche  ihm 
—  dank  der  belesenheit  und  dem  fleisze  des  betreffenden  Ver- 
fassers —  die  lectüre  einer  groszen  anzahl  von  Schriften  ganz  er- 
sparen, anderseits  ihm  kenntnis  geben,  w  o  er  im  bedürfnisfalle  über 
eine  einzelne  frage  sich  genauere  auskunft  zu  holen  hat.  der  unzweifel- 
hafte, wenn  auch  zunächst  vorwiegend  praktische  wert  eines  solchen 
buches  wird  noch  bedeutend  gehoben,  wenn  nicht  nur  unter  einem 
geschickt  gewählten  einheitlichen  gesichtspunkt  Zusammenstellungen 
und  auszüge  aus  der  überreichen  litteratur  geboten  werden,  sondern 
zugleich  eine  selbständige  wissenschaftliche  behandlung  und  eigen- 
artige, neue  auffassungen  zu  finden  sind. 

Alle  diese  Vorzüge  sind  in  hervorragendem  masze  eigen  dem 
buche  von 

0.  Weise,  unsere  Müttersprache,  ihr  werden  und  ihr  wesen. 
ZWEITE  AUFLAGE.'    Leipzig,  B.  G.  Teubuer.    1896. 

Der  Verfasser  beabsichtigt',  sein  thema  'auf  wissenschaftlicher 
grundlage,  aber  allgemein  verständlich  und  anregend  zu  behandeln'; 
er  bezweckt,  'die  noch  vielfach  verbreitete  äuszerliche  auffassung 
vom  Wesen  der  spräche  zu  bekämpfen,  sonach  über  die  Ursachen 
des  Sprachlebens  aufzuklären  und  die  entwicklung  der  ein- 
zelnen Spracherscheinungen  zu  verfolgen',  von  den  entsprechen- 
den Schriften  Schleichers-  und  Behaghels  unterscheidet  sich  Weises 
büchlein  hauptsächlich  dadurch,  dasz  es  'die  spräche  mehr  im  zu- 
sammenhange mit  dem  Volkstum  zu  betrachten  sucht  und  mit 
gröszerem  nachdrucke  die  bedeutung  der  Wörter  betont'. 

Hiermit  sind  die  günstigsten  Vorbedingungen  geboten  für  ein 
hervorragend  wertvolles  hilfsbueh  für  jeden  lehrer  des  deutschen, 


^  die  erste  aufläge  war  binnen  fünf  monaten  vergriffen. 
*  A.  Schleicher,  die  deutsche  spräche,  5e  aufläge,  Stuttgart  1888. 
Behaghel,  die  deutsche  spräche,  Leipzig  und  Prag  1886. 


144     P.Vogel:  drei  hilfsbücher  für  den  deutschen  sprachunterricM. 

besonders  für  den  der  obersecunda,  da  diesem  ja  ein  'überblick  über 
die  entwicklung  der  deutschen  spräche'  durch  die  neue  lehrordnung 
für  die  sächsischen  gymnasien  von  1893  ausdrücklich  vorgeschrieben 
ist.  eine  Übersicht  des  Inhalts  wird  dies  durchaus  bestätigen: 
A.  geschichte  der  deutschen  spräche;  B.  das  wesen  der  neuhoch- 
deutschen spräche:  1)  deutsche  spräche  und  deutsche  volksart', 
2)  spräche  Norddeutschlands  und  Süddeutschlands,  3)  unterschiede 
zwischen  mundart  und  Schriftsprache,  4)  altdeutsche  gesittuug  im 
Spiegel  des  Wortschatzes ,  5)  entwicklung  des  stils  und  der  cultur, 
6)  gesetze  des  lautwandels,  7)  gesetze  der  wortbiegung,  8)  Wort- 
bildung der  deutschen  spräche,  9)  geschichte  der  fremdwörter, 
10)  reichtum  des  heimischen  Wortschatzes,  11)  natürliches  und 
grammatisches  geschlecht,  12)  bedeutungswandel  der  deutschen 
spräche,  13)  lehre  vom  Satzgefüge. 

Die  ausführung  der  einzelnen  capitel  ist  eine  treffliche  zu 
nennen :  sie  sind  alle  reichhaltig  —  und  zwar  nicht  nur  dank  den 
zahlreichen  (in  den  anmerkungen  genannten)  quellen  — ,  vielseitig 
und  in  verschiedenster  hinsieht  anregend;  als  besonders  gelungen 
erscheinen  dem  unterzeichneten  1 — 4.  8  — 10.  12.  die  darstellung  ist 
anziehend  und  geistvoll,  dabei  allgemeinverständlich,  um  letzteres 
zu  erreichen,  werden  fremdwörter,  besonders  also  alle  grammatischen 
kunstausdrücke  vermieden  (nur  s.  243  steht  versehentlich  'aus  abs- 
tracten  zu  collectiven  werden');  ferner  werden  zwar  allenthalben 
viele  beispiele  gebracht,  nirgends  aber  die  leser  durch  übermäszig 
zahlreiche  ermüdet:  weitere  beispiele  sind  ja  vorkommenden  falls 
leicht  zu  beschaffen;  auch  werden  die  beispiele,  soweit  die  deutschen 
sprachen  nicht  ausreichen ,  vorwiegend  aus  den  bekannteren ,  wenn 
möglich  aus  den  neueren  sprachen  genommen ,  so  aus  dem  lateini- 
schen, französischen  und  englischen,  auch  aus  dem  italienischen  und 
spanischen,  sehr  selten  tritt  griechisch  (natürlich  in  lateinischen 
lettern),  angelsächsisch,  altslovenisch  usw.  auf.  besonders  aber  ist 
es  bezeichnend  für  Weises  bestreben,  einem  weiteren  leserkreise  zu 
dienen,  dasz  er  wenigstens  im  texte  fast  durchgängig  (ausnähme: 
s.  11)  vermeidet,  widersprechende  ansichten  von  verschiedenen  ge- 
lehrten zu  nennen  oder  sich  mit  ihnen  auseinanderzusetzen,  er  zieht 
es  vor,  eine  ansieht  schlechthin  und  bestimmt  vorzutragen,  auf  die 
gefahr  hin,  hie  und  da  auf  Widerspruch  zu  stoszen:  wenn  er  z.  b. 
behauptet  (s.  61  f.),  dasz  in  Süddeutschland  mehr  als  im  norden  die 
Vorbedingungen  zu  einer  glücklichen  entfaltung  der  künste  vor- 
handen seien,  ersteres  daher  wie  geschaffen  wäre,  auf  dem  gebiete 
des  schönen  die  führung  in  Deutschland  zu  übernehmen,  und  wenn 
er  dies  u.  a.  dadurch  belegt,  dasz  Bayern  seit  langer  zeit  ein  wich- 
tiger sitz  der  maierei  und  bildenden  künste  sei,  so  würde  im  gegen- 
satz  dazu  mit  recht  auf  das  niederrheinische  Düsseldorf  hingewiesen 


^   mit  feinsinniger  gegenüberstellung  von  romanischer  spräche  und 
volksart! 


P.  Vogel:  drei  liilfsbücber  für  den  deutsclien  Sprachunterricht.      145 

werden,  und  die  niederländische  maierei  bekundet  zur  genüge,  dasz 
der  Süden  vor  dem  norden,  das  hochland  vor  dem  tiefland  in  dieser 
hinsieht  keinen  durchgehenden  vorzug  besitzt,  bei  der  weiteren 
behandlung  der  verschiedenen  beanlagung  von  Ober-  und  Nieder- 
deutschen sagt  Weise  u.  a. ,  hier  sei  mehr  das  Vaterland ,  dort  mehr 
natur  und  minne  besungen  worden,  'die  dorfgeschichten  und  volks- 
stücke  sind  vom  Schwarzwald  (Auerbach),  vom  Berner  land  (Jeremias 
Gotthelf)  und  von  Österreich  (Anzengruber)  ausgegangen':  gegen 
letztere  behauptung  ist  geltend  zu  machen ,  dasz  Immermanns  (geb. 
in  Magdeburg,  gest.  in  Düsseldorf)  Münchhausen  die  erste  moderne 
dorfgeschichte  ist  und  dasz  Fritz  Eeuters  plattdeutsche  dorf-  und 
Volkserzählungen  den  eindruck  vollster  Originalität  machen,  min- 
destens aber  die  fähigkeit  des  Niederdeutschen  auf  diesem  gebiete 
als  der  des  Süddeutschen  ebenbürtig  erscheinen  lassen. 

Alles  in  allem  ist  Weises  Schrift  nach  Inhalt  und  form  derart, 
dasz  jeder  gebildete  Deutsche  sie  lesen  kann  und  mit  groszem 
nutzen  und  interesse  lesen  wird,  jeder  gymnasiast  müste  im  laufe 
der  Schulzeit  —  ganz  besonders  in  den  secunden  und  primen  —  von 
all  dem  erfahren,  was  das  buch  vorführt,  teils  in  extenso,  teils  dasz 
er  wenigstens  einen  begriff  davon  erhält;  die  beschränkte  zeit  wird 
ein  zuviel  unmöglich  machen,  der  eine  lehrer  wird  dies,  der  andere 
jenes  mehr  in  den  Vordergrund  stellen  zu  müssen  glauben;  in  keinem 
falle  hält  ref.  die  auf  solche  besprechungen  verwandte  zeit  für  ver- 
loren. —  Sicher  werden  die  meisten  lehrer  —  so  ist  es  wenigstens 
dem  unterzeichneten  gegangen  —  durch  die  beschäftigung  mit  dem 
buche  angeregt,  ihren  schülern  noch  manches  zu  bieten,  worauf  sie 
bisher  nicht  verfallen  sind;  auch  ist  der  stoff  so  reichhaltig  und 
manigfaltig,  dasz  man  nicht  darauf  angewiesen  ist,  gerade  das  oder 
jene  capitel  des  Werkes  im  unterrichte  zu  behandeln,  sondern  man 
fühlt  sich  auch  veranlaszt,  aus  den  verschiedensten  teilen  des  buches 
sich  Zusammenstellungen  nach  irgend  welchen  andern,  für  den  Unter- 
richt besonders  verwertbaren  gesichtspunkten  zu  machen,  z.  b.  die 
Wirkung  der  angleichung  auf  die  entwicklung  der  deutschen  spräche 
(stoff  besonders  in  cap.  3.  6.  7.  8.  11.  12),  das  neuhochdeutsche  in 
seinem  Verhältnis  zum  mittelhochdeutschen  (besonders  nach  5.  6.  7. 
8.  10.  11.  12.  13),  desgleichen  das  mittelhochdeutsche  in  seinem 
Verhältnis  zum  althochdeutschen  u.  a.  m. 

Zum  schlusz  einige  bedenken  und  änderungsvorschläge.  wenn 
verf.  als  Inhalt  von  B  angibt  Svesen  der  neuhochdeutschen  spräche', 
so  bietet  er  in  den  zugehörigen  capiteln  wesentlich  mehr,  insofern 
er  durchgängig  die  älteren  sprachstufen  heranzieht  und  daraus  den 
jetzigen  sprachstand  herleitet;  es  würde  demnach  Sverden  und 
wesen  .  .  .'  einzusetzen  sein.  —  B  1  und  B  4  berühren  sich  gegen- 
seitig, greifen  auch  in  Weises  darstellung  thatsächlich  mehrfach  in 
einander  über,  so  dasz  sie  besser  in  einem  capitel  oder  in  zwei 
aufeinanderfolgenden  capiteln  zu  behandeln  sein  dürften,  ebenso 
fällt  aus  B  5  manches  unter  A.  —  In  B  3  wäre  noch  mehr  hervor- 

N.  Jahrb.  f.  phil.  u.  päd.  II.  abt.  1897  hft.  3.  10 


146     P.Vogel:  drei  hilfsbücher  für  den  deutseben  Sprachunterricht. 

zuheben  oder  auszuführen,  dasz  die  mundart  die  eigentliche  spräche 
darstellt,  dasz  sie  gegebenen  falls  maszgebender  sein  musz  als  die 
grammatische  theorie  der  sprachgelehrten ;  im  Zusammenhang  hier- 
mit würde  zu  entwickeln  sein,  einen  wie  auffälligen  instinct  für  die 
Sprachgesetze  die  Volkssprache  zeigt,  das  in  so  warmem,  ansprechen- 
dem tone  geschriebene  capitel  würde  nur  gewinnen,  wenn  noch  mehr 
diese  praktischen  consequenzen  gezogen  würden,  die  doch  dem  Stand- 
punkte Weises  zu  entsprechen  scheinen,  insofern  derselbe  in  seiner 
Schrift  einer  dictatur  der  theorie  offenbar  nicht  das  wort  redet.  *  — 
S.  149  spricht  verf.  vom  Übergang  der  schwachen  biegung  in 
die  starke;  in  demselben  abschnitt  erwähnt  er  Zeitwörter,  bei 
denen  sich  schwache  und  starke  formen  noch  um  die  herschaft 
streiten:  wenn  er  nun  da  als  beispiel  neben  fragte  :  frug  auch 
melkte  :  molk  nennt,  so  musz  der  leser  nach  dem  Zusammenhang 
annehmen,  dasz  letzteres  ursprünglich  schwach  flectiert  ge- 
wesen sei.  und  wenn  fortgefahren  wird:  'bei  triefen,  sprieszen, 
sieden,  stieben,  saugen  hat  sich  die  schwache  form  erfolgreich 
neben  die  starke  gesetzt',  so  ist  dieser  satz  schon  seiner  fassung 
nach  in  den  vorhergehenden  abschnitt  zu  verweisen,  wo  der  Über- 
gang der  starken  biegung  in  die  schwache  behandelt  wird.  — 
S.  157  wird  behauptet,  die  altüberlieferte  Ungleichheit  des  stamm- 
vocals  in  der  2n  und  3n  pers.  sing,  ind,  praes.  sei  im  neuhoch- 
deutschen groszenteils  beseitigt;  es  werden  nur  angeführt:  er 
melkt,  webt,  pflegt,  bewegt,  und  sind  nicht  viel  (er  hebt,  schert) 
weitere  beispiele  vorhanden,  wohl  aber  massenhafte  für  die 
noch  fortbestehende  Ungleichheit  nach  dem  muster  von  nehme, 
nimmst,  gebe,  gibst,  werfe,  wirfst. '  —  Schlieszlich  einige  kleinig- 
keiten:  s.  7  wird  das  lehnwort  opfern  von  operari  abgeleitet;  die 
Wörterbücher  von  Grimm,  Heyne,  Kluge  führen  es  übereinstimmend 
auf  oflferre  zurück."  —  S.  41  'die  Deutschen  vernachlässigen  oft  auf 
kosten  des  inhalts  die  form':  soll  wohl  heiszen  zu  gunsten,  wie 


4  um  80  auffälliger  erscheint,  dasz  er  sich  s.  174  mit  Trautmann 
über  die  's-seuclie'  (d.h.  das  -s-  der  wortfuge  bei  weiblichen  haupt- 
wörtern  wie  hilfslehrer)  aufregt;  besonders  auffällig,  weil  s.  252  die 
nach  analogie  von  echt  genitivischen  adverbien  wie  anfangs,  rings, 
mittels,  teils  u.  a.  gebildeten,  theoretisch  unrichtigen  formen  links, 
rechts,  bereits,  vormittags,  jählings,  hinterrücks,  vor  alters,  jenseits, 
allerdings  ruhig  hingenommen  werden. 

'  altüberliefert  ist  übrigens  nicht  die  Ungleichheit  der  2n  und 
3n  pers.,  sondern  ahd.  und  mhd.  hat  der  ganze  Singular  i  (iu)  im 
gegensatz  zu  e  (io,  ie)  des  plurals;  nhd.  ist  dann  der  stammvocal  der 
In  pers.  dem  des  plurals  angeglichen  worden,  wohl  weil  es  die  in  der 
2n  und  3n  pers.  umlautenden  verba  (trage,  trägst,  trägt)  nahe  legten, 
gerade  diese  beiden  formen  absonderlich  zu  vocalisieren. 

^  es  wäre  auch  auffällig,  wenn  opfern  noch  die  hochdeutsche  laut- 
verschiebung  aufwiese,  während  andere  auch  für  christliche  zwecke, 
also  wohl  zu  gleicher  zeit  aufgenommene  worte  (poena:  pein;  prae- 
dicare;  predigen;  damnare:  verdammen)  derselben  nicht  mehr  unter- 
zogen sind. 


P.  Vogel :  drei  hilfsbücher  für  den  deutscheu  Sprachunterricht.      147 

der  schlusz  des  §  36  zeigt.  —  S.  155  anm.  1  wird  behauptet,  Weih- 
nachten und  Ostern,  ursprünglich  dat.  plur.,  bildeten  den  genitiv 
mit  -s-  wie  singularia!?  —  S.  166  werden  von  worten  auf  -de  nur 
vier  als  Schriftdeutsch  noch  gebräuchlich  bezeichnet:  gebärde,  ge- 
meinde, beschwerde,  zierde;  Grimm  nennt  noch:  freude,  (be)gierde, 
behörde,  (liebde  in  titulaturen).  —  S.  221  wird  als  beweis  dafür, 
dasz  mittwoch  sich  dem  geschlecht  der  übrigen  Wochentage  fügt, 
mittwochs  angeführt:  derartige  analogiebildungen  finden  sich 
aber  auch  anderwärts  häufig  (s.  anm.  4  a.  e.) ,  ohne  dasz  deswegen 
ein  Übergang  des  geschlechts  anzunehmen  wäre,  auf  derselben  seite 
ist  aetas  statt  aestas  gedruckt.  —  S.  238  'manchmal  erscheint  das 
einfache  wort  vornehmer  (ar  neben  adler),  manchmal  wieder  die 
Zusammensetzung  (marstall,  aber  mähre).'  hier  ist  doch  nicht  das 
zusammengesetzte  wort  als  solches  vornehmer,  sondern  es  hat  sich 
nur  in  der  Zusammensetzung  die  alte,  vornehmere  bedeutung  von 
mähre  erhalten  (s.  Weise  209 :  Widerstandskraft  der  Wörter  in  ge- 
wissen Verbindungen). 

Aber  selbst  wenn  alle  die  geäuszerten  bedenken  für  beachtlich 
befunden  werden  sollten,  würde  dadurch  der  vorher  gerühmte  hohe 
wert  des  buches  durchaus  nicht  beeinträchtigt  werden;  verf.  folgt 
nur  seiner  innersten  Überzeugung ,  wenn  er  die  schrift  zum  Schlüsse 
nochmals  allen  lesern,  insbesondere  allen  fachgenossen  aufs  wärmste 
empfiehlt,  die  Teubnersche  Verlagsbuchhandlung  hat  das  werk  in 
bezug  auf  druck  und  papier  so  vorzüglich  ausgestattet  und  liefert 
es  in  einem  so  geschmackvollen  modeeinband,  dasz  es  sich  auch  zu 
geschenken  oder  als  kleinere  bücherprämie  bestens  eignet. 

F.  Kaufmann,  kurzgefaszte  laut-  und  Formenlehre  des  goti- 
schen, ALT-,  MITTEL-  UND  NEUHOCHDEUTSCHEN.  ZWEITE  AUF- 
LAGE.   Marburg,  N.  G.  Elwert.    1895. 

Das  buch  ist  zunächst  für  candidaten  des  höheren  schulamts 
berechnet,  welche  Vorlesungen  über  deutsche  grammatik  oder  ein- 
zelne Sprachperioden  gehört  haben  und  als  eine  art  repetitorium 
das  hauptsächlichste  in  stichworten  beisammen  zu  finden  wünschen, 
mindestens  ebenso  wertvoll  ist  es  aber  sicherlich  für  lehr  er  des 
deutschen,  die  häufig  —  zumal  beim  Unterricht  der  obersecunda 
—  in  die  läge  kommen,  sich  über  einzelheiten  der  flexion  der  älteren 
sprachstufen  oder  der  lautlehre  auskunft  holen  zu  müssen,  und  es 
ist  gerade  dieses  buch  für  den  gymnasialunterricht,  der  ja  vor- 
wiegend die  entwicklung  der  deutschen  spräche  darzustellen  hat, 
besonders  geeignet ,  weil  es  das  gotische  und  die  sprachen  der  drei 
hochdeutschen  Sprachperioden  durchaus  parallel  und  in  rücksicht 
auf  ihre  wechselseitigen  beziehungen  behandelt;  im  zweiten  ab- 
schnitt (formenlehre)  sind  die  paradigmata,  ebenso  pronomina 
und  Zahlwörter  sämtlich  auch  parallel  gedruckt  und  bieten  so  auf 
den  ersten  blick  ein  bild  des  werdens  der  spräche,    die  im  ersten 

10* 


148     P.Vogel:  drei  hilfsbücher  für  den  deutschen  sprachunterriclit. 

abschnitt  (§  12  —  45)  behandelte  lautlehre  geht  natürlich  beson- 
ders weit  über  das  hinaus,  was  je  auf  dem  gymnasium  zu  behandeln 
ist,  indem  —  entspi'echend  dem  ursprünglichen  zweck  der  gram- 
matik  —  streng  wissenschaftlich  und  eingehend  die  gotischen,  alt-, 
mittel-  und  neuhochdeutschen  vocale,  dann  desgleichen  die  con- 
sonanten  behandelt  werden,  bei  der  überaus  übersichtlichen  und 
klaren  darstellung  aber  bietet  trotzdem  auch  dieser  teil  ein  vor- 
zügliches hilfsmittel  zu  schneller  information  für  den  lehrer.  in 
§  6  —  11  wird  eine  Vorgeschichte  der  deutschen  spräche 
geboten:  §  6  lautstand  der  indogermanischen  grundsprache,  §  7 
urgermanischer  vocalismus,  §  8  ablautsreihen ,  §  9  urgermanischer 
consonantismus,  §  10  urgermanischer  lautstand,  §  11  die  schrift; 
in  der  einleitung  wird  behandelt:  §  1  der  indogermanische 
sprachstamra ,  §  2  die  gliederung  der  germanischen  sprachen ,  §  3 
die  Perioden  des  hochdeutschen ,  §  4  die  hochdeutschen  mundarten, 
§  5  die  quellen. 

Es  ist  ohne  weiteres  ersichtlich,  dasz  hier  in  engem  rahmen 
(108  Seiten)  und  für  geringes  geld  ungewöhnlich  viel  stoflf  geboten 
wird;  fügt  ref.  noch  hinzu,  dasz  er  das  buch  nach  inhalt  und  form 
für  nahezu''  einwandfrei  hält,  so  wird  man  verstehen,  wenn  er  es 
den  beteiligten  kreisen  als  treffliches  hilfsbuch  bezeichnet. 

H.  Paul,,  DEUTSCHES  WÖRTERBUCH.    Halle,  Max  Niemeyer.    1896. 

Das  Grimmsche  Wörterbuch  öfter  und  gern  zu  benutzen  ver- 
hindert die  wegen  der  groszen  zahl  der  bände  schwierige  hand- 
habung  und  die  unübersichtliche  länge  vieler  artikel;  auch  findet  es 
sich  in  anbetracht  des  hohen  preises  fast  nie  in  Privatbesitz,  ähn- 
lich steht  es  mit  dem  billigeren  und  kürzer  gefaszten,  immerhin  aber 
noch  voluminösen  lexikon  von  Heyne,  um  so  verdienstlicher  ist  da- 
her die  herausgäbe  des  —  nur  6inen,  mäszig  starken  band  ausmachen- 
den —  Wörterbuchs  von  Hermann  Paul,  der  preis  ist  auch  für  den 
notleidenden  gymnasiallehrer  erschwinglich,  der  inhalt  genügt  für 
schulzwecke  vollständig,  wohl  auch  in  den  meisten  fällen  darüber 
hinaus,  es  sei  denn,  dasz  es  sich  um  eingehende  sprachwissenschaft- 
liche Studien  handelte,  —  und  so  dürfte  das  buch  binnen  kurzem  wie 
Georges  zum  eisernen  bestand  der  privatbibliotheken  von  gymnasial- 
lehrern  gehören. 

Die  verkürzte  fassung  hat  Paul  dadurch  ermöglicht,  dasz  er  auf 
absolute  Vollständigkeit  verzichtet,  fremdwörter  sind  grundsätzlich 
ausgeschieden,  aber  auch  die  deutschen  werden  nur  insoweit  auf- 


'  erwünscht  wären  vielleicht  einige  praktische  winke  über  die  aus- 
spräche einzelner  laute  und  lautzeichen  in  der  älteren  spräche,  und 
betreffs  der  anordnung  wäre  zu  raten,  etwa  §  53.  54  unter  der  chiffre  C, 
§  55 — 58  unter  D  zusammenzufassen,  weil  in  der  jetzigen  form  §  53 — 58 
—  also  z.  b.  Zahlwörter,  pronomina  —  unter  B  (schwache  declination) 
subsumiert  erscheinen. 


P.  Vogel:  drei  büfsbücher  für  deu  deutseben  spracb unterriebt.     149 

geführt,  als  sie  wirklich  der  erklärung  bedürfen,  und  bei  den  auf- 
geführten wiederum  nicht  alle  bedeutungen  und  erklärungen  ge- 
bracht, sondern  es  wird  unter  weglassung  des  allgemein  bekannten 
und  verständlichen  nur  das  geboten,  worüber  aufschlusz  zu  erhalten 
wirklich  bedürfnis  vorliegt,  fremde  sprachen*  werden  nur  in  aus- 
nahmefällen,  z.  b.  bei  lehnworten  herangezogen,  alt-  und  mittelhoch- 
deutsch natürlich  sehr  oft,  aber  auch  nicht  regelmäszig,  sondern  nur, 
wenn  es  für  das  Verständnis  sprachlicher  erscheinungen  und  ab- 
weichungen  erforderlich  scheint. 

Besonderer  wert  wird  gelegt  auf  die  landschaftlichen  Ver- 
schiedenheiten, auf  die  abweichungen  der  heutigen  spräche  von  der 
der  classiker  des  vorigen  Jahrhunderts  und  Luthers,  sowie  auf  das 
Verhältnis  der  verschiedenen  gebrauchsweisen  der  Wörter,  auf  die 
bedeutungsentwicklung  und  auf  erklärung  des  vex'dunkelten  sinnes 
herkömmlicher  redeweisen,  alles  gesichtspunkte,  die  das  werk  gerade 
dem  praktischen  schulmann  dringend  empfehlen.  —  Es  ist  hierbei  — 
in  ansehung  des  vorwiegend  wissenschaftlichen  Zweckes  des  lexikons 
—  rühmend  hervorzuheben,  dasz  schwankende  und  unsichere  erklä- 
rungen als  solche  stets  ausdrücklich  bezeichnet,  öfters  auch  Varianten 
mitgeteilt  werden. 

Beim  genauen  lesen  einer  gröszeren  anzahl  von  Stichproben  hat 
ref.  die  genannten,  mehr  in  der  anläge  des  buches  im  groszen  und 
ganzen  beruhenden  Vorzüge  noch  ergänzt  gefunden  durch  gediegen- 
heit  der  ausarbeitung  im  einzelnen,  nur  der  gewissenhaftigkeit 
halber  werden  einige  zweifei  und  wünsche  geäuszert:  bieder  mann 
scheint  dem  unterzeichneten  nicht  durch  assimilation  aus  biderb- 
mann  entstanden  zu  sein,  sondern  durch  abschleifung  des  b,  die 
sich  auch  beim  simplex  biderbe  :  bider  bereits  im  lön  Jahrhundert 
findet.  —  Unter  ^blaustrumpf  dürfte  noch  die  entstehung  dieses 
Spottnamens  zu  erklären  sein.  —  burschikos  soll  scherzhaft  mit 
griechischer  endung  gebildet  sein:  es  lehnt  sich  doch  aber  wohl 
eher  an  das  lateinische  belli  cosus,  als  an  TroXe|uiKU)C  an.  —  Gibt 
es  gar  keine  erklärung  für  den  gebrauch  von  ente  =  erfundene 
nachricht?  —  fetzel  s.  fötzel:  letzterer  artikel  fehlt,  —  fistel: 
1)  eine  art  geschwür:  richtiger  'geschwür  mit  eiterndem  gang', 
denn  nur  so  wird  der  Zusammenhang  mit  der  grundbedeutung  klar. 


^   sogar   das   gotische   wird   vermieden   z.  b.  unter  'bände'  das  got. 
bandwa  nicht  genannt,  sondern  nur  umschreibend  angedeutet. 

SCHNEEBERÜ.  PäUL  VoGEL. 


1 50  K.  Landmann :  deutsche  Schulausgaben  von  H.  Schiller  u.  V.  Valentin. 

12. 

DEUTSCHE    SCHULAUSGABEN    VON    H.  SCHILLER    UND 
V.  VALENTIN.' 


Als  sich  referent  vor  zwei  jähren  mit  einer  bücherbesprechung 
unter  obigem  titel  an  die  redaction  der  Jahrbücher  wandte,  da 
war  es  allerdings  zunächst  das  stoflfliche  interesse  für  die  beiden 
Goltherschen  Schriften  (nr.  I  und  II  der  Sammlung) ,  was  ihn  dazu 
bestimmte,  zugleich  aber  auch  die  erinnerung  an  das  unlängst  von 
Curt  Hentschel  gehaltene  gericht  ^über  Schulausgaben  deutscher 
classiker'^  sowie  die  hoffnung,  dasz  die  Ehlermannsche  Sammlung 
den  dort  erhobenen,  zum  grösten  teile  vollberechtigten  vorwürfen 
mit  gutem  erfolge  begegnen  würde,  gleichwohl  glaubte  er  dem 
neuen  unternehmen  besser  durch  sachliche  darlegung  der  Vorzüge 
jeder  einzelnen  nummer  dienen  zu  können  als  durch  einen  kämpf, 
zu  dem  ihn  weder  neigung  noch  besondere  qualitäten  als  vorfechter 
beriefen,  dasz  er  aber  bei  aller  anerkennung  der  Verdienste  dieser 
Sammlung  gegen  vereinzelt  hervortretende  mängel  seine  äugen  nicht 
verschlossen  hielt,  glaubt  er  in  den  beiden  vorausgegangenen  Über- 
sichten zur  genüge  gezeigt  zu  haben,  und  so  gestattet  er  sich  denn, 
die  Sammlung  noch  einmal  —  bis  zum  vollen  zweiten  dutzend  — 
in  geschlossener  colonne  aufzuführen,  indem  er  sich  vorbehält,  die 
weiter  folgenden  erscheinungen ,  die  genehmigung  der  verehrten 
redaction  vorausgesetzt,  je  nach  lust  und  laune  zu  behandeln,  die 
vorliegenden  nummern  (19—24,  nur  21/22  als  doppelnummer)  sind: 

19)    DIE    DICHTUNG    DER    BEFREIUNGSKRIEGE    (aUSWAHl).      HERAUS- 
GEGEBEN VON  DR.  Julius  Ziehen,  Oberlehrer  am  goethe- 

GYMNASIUM  ZU  FRANKFURT  A.  M. 

Zu  den  dichtem  der  befreiungskriege  pflegen  wir  um  so  lieber 
zurückzugreifen,  als  die  kriegspoesie  der  jähre  1870/1  fast  durch- 
weg die  tiefen  herzenstöne  vermissen  läszt,  die  aus  jenen  in  liebe 
und  hasz  so  heimatlich  zu  uns  herüberklingen,  und  so  kann  denn 
eine  auswahl  in  den  'deutschen  Schulausgaben'  nur  willkommen  ge- 
heiszen  werden,  selbst  wenn  sie  nur  dazu  dienen  sollte,  die  geschichte 
der  befreiungskriege  zu  illustrieren.  —  Die  einleitung  (s.  1 — 4) 
gibt  eine  allgemeine  Charakteristik  der  verschiedenen  richtungen,  in 
denen  die  patriotische  dichtung  in  den  jähren  der  tiefsten  schmach 
und  höchsten  erhebung  Deutschlands  sich  bewegt,  die  auswahl 
selbst  ist  so  getroffen,  dasz  unter  I — IV  (s.  5 — 83)  die  vier  dichter 
der  befreiungskriege  im  eigentlichen  sinne  des  wortes:  Arndt, 
Schenkendorf,  Rückert  und  Körner  zur  darstellung  gelangen,  unter 
V  (83  —  88)   befreiungslieder  von   dichtem  anderer   dichterkreise 


1  vgl.  neue  Jahrbücher  f.  phil.  u.  päd.  II  abt.  1896  hft.  3  u.  4. 

2  vgl.  zeitschr.  f.  d.  deutschen  Unterricht,  VIII  22—40. 


K.Landruann:  deutsche  Schulausgaben  von  H.Schiller  u.V.  Valentin.   151 

(ühland,  Brentano,  Fouqu6,  Seume  und  Stägemann,  von  den  vier 
letzten  je  eins)  mitgeteilt  werden,  auf  die  frage,  ob  nicht  eins  oder 
das  andere  der  hier  vorgeführten  gedichte  hätte  weggelassen  oder 
durch  ein  anderes  ersetzt  werden  können,  wollen  wir  nicht  ein- 
gehen, da  hier  zumeist  das  subjective  ermessen  entscheidet,  wie 
denn  z.  b.  referent  anstatt  der  gespreizten  staatsratsdichtung  nr.  60 
das  aller  weit  bekannte,  aber  kaum  als  befreiungssang  erkannte 
abschiedslied  der  freiwilligen  Jäger  Ver  hat  dich,  du  schöner  wald', 
von  dem  Lützower  J.  v.  Eichendorff  gewählt  haben  würde.'  —  Die 
sachlichen  und  die  zeitbeziehungen  der  einzelnen  gedichte  sind  durch 
vorausgehende  bemerkungen  genügend  klargestellt,  vermiszt  habe 
ich  dagegen  zu  nr.  38  (die  Straszburger  tanne)  die  bemerkung,  dasz 
das  fällen  einer  alten  tanne  im  Straszburger  bergforst  am  pfingst- 
montag  1817  für  Rückert  die  veranlassung  zu  dem  gedichte  ab- 
gab^, eine  Zeitbestimmung,  die  dann  freilich  auch  die  aufnähme  von 
ühlands  machtvollem  liede  'am  18  october  1816'  gefordert  haben 
würde.  —  Das  titelbild ,  Rauchs  grabdenkmal  der  königin  Luise  in 
Charlottenburg,  gereicht  dem  büchlein  zu  besondei-er  zierde.  die 
nichtbeachtung  der  einheitlichen  rechtschreibung  bei  einzelnen 
Wörtern  dagegen,  wie  s.  86  ('heerd',  neben  'vogelherd',  'herden' 
s.  42),  sowie  die  falsche  Stellung  zweier  Wörter  auf  s.  83  (nr.  53, 
str.  5  'ich  bin'  statt  'bin  ich')  sind  kleine  versehen,  die  mit  einer 
levissima  nota  erledigt  sein  mögen. 

20)  die  braut  von  messina  oder  die  feindlichen  brüder  von 
Friedrich  von  Schiller,  herausgegeben  von  dr.  Veit 
Valentin,    Professor    an   dem   Realgymnasium   wöhler- 

SCHÜLE  zu  FRANKFURT  A.  M. 

'Wie  es  Schiller  verstanden  hat,  in  der  braut  von  Messina  den 
antiken  geist  neu  zu  beleben  und  einen  zweiten  Oedipus  zu  schaffen, 
das  wird  immer  wieder  unsere  bewunderung  erwecken.'  soK.  Heine- 
mann, Goethe  II  198.  und  wenn  auch,  wie  der  verfasset  dort  weiter 
ausführt,  die  deutsche  bühne  über  das  drama  als  den  gipfel  der 
antikisierenden  richtung  hinweggeschritten  ist,  so  hat  die  deutsche 
schule  es  doch  um  so  treuer  festgehalten  und  wird  das  auch  in  Zu- 
kunft thun,  zumal  wenn  es  ihr  in  einer  ausgäbe  geboten  wird,  wie 
sie  V.  Valentin,  ganz  in  Übereinstimmung  mit  der  schon  an  Iphigenie 
(nr.  5),  der  Jungfrau  von  Orleans  (nr,  12/13)  und  Antigene  (nr.  14) 
von  ihm  angewandten  interpretationsmethode,  in  die  'deutschen 
Schulausgaben'    einstellt.  —  In  der  braut  von  Messina  geben  die 


'  vgl.  O.  Lyon,  ztschr.  für  den  deutschen  Unterricht,  IV  76  ff., 
und  dessen  buch:  'die  lectüre  als  grundlage  eines  einheitlichen  und 
naturgemäszen  Unterrichts  in  der  deutschen  spräche,  sowie  als  mittel- 
punkt  nationaler  bildung'  (Leipzig,  B.  G.  Teubner). 

*  Ernst  Brandes,  ztschr.  f.  d.  deutschen  Unterricht,  III  554  ff., 
zugleich  als  beispiel  einer  auch  für  kleinere  dichtungen  wünschens- 
werten darlegung  der  composition  zu  beachten. 


152  K.  Landmann :  deutsche  Schulausgaben  von  H.  Schiller  u.  V.  Valentin, 

historischen  Verhältnisse  nur  den  rahmen  ab,  in  dem  der  dichter  ein 
künstlerisches  problem  der  antiken  tragödie  in  das  christliche,  von 
der  weit  des  Islam  durchsetzte  mittelalter  hinüberträgt,  um  das 
walten  der  sittlichen  weltordnung  im  zusammenstosz  mit  dem  eigen- 
willigen handeln  der  menschen  zur  grundlage  einer  dramatischen 
dichtung  im  geiste  seiner  eignen  zeit  zu  gestalten,  wir  müssen 
darauf  verzichten,  die  16  selten  der  einleitung,  in  der  der  heraus- 
geber  diese  künstlerische  thätigkeit  des  dichters  beleuchtet,  in  noch 
kürzerer  form  zusammenfassen  zu  wollen,  nur  auf  die  Übersicht 
über  den  dramatischen  aufbau  (s.  14 — 16)  möge  in  folgendem  hin- 
gewiesen werden,  nicht  als  ob  wir  damit  den  wert  der  arbeit  zu  be- 
zeugen gedächten ,  sondern  nur,  um  das  ergebnis  der  Untersuchung 
zu  schematischer  anschauung  zu  bringen,  wobei  überdies  zu  be- 
merken ist,  dasz  wir  die  den  gang  der  handlung  näher  skizzierenden 
Untersätze  (wie  z.  b.  zu  I  1 :  Isabellas  darlegung  des  zustandes.  mit- 
teilung  von  der  Zusammenkunft  der  brüder.  befehl  zur  herbei- 
führung  Beatricens:  beabsichtigte  Vereinigung  der  geschwister) 
beiseite  lassen,  hiernach  gestaltet  sich  unsere  Übersicht  folgender- 
maszen: 
1 — 1425.     I.    Scheinerfolg   der   menschlichen   klugheit. 

1.  prologos:  1 — 131     1,  unhaltbare    läge    in    staat    und 

familie. 
chor:  parodos.    132 — 254         einzug  der  beiden  chöre. 

2.  epeisodion  1 :       255—859     2.  Versöhnung  der  brüder. 

3.  Verlobungen  der  brüder:  keim  zur 
erfüllung  der  orakel. 
chor:  860 — 979  das  leben  im  frieden. 

3.  epeisodion  2:       980 — 1228  4.  Verlobungen  der  Schwester, 
chor:  1229  —  1258       dem  mächtigen  gehört  stets  das 

kostbarste. 

4.  epeisodion  3:    1259—1705  5.  Vereinigung  der  familie. 

1426 — 1439.     IL    Höhepunkt  des  Scheinerfolgs  und 
Wendung. 

1.  höchstes  glück. 

2.  Wendung. 

1440 — 2845.  III.  Wiederherstellung  der  sittlichen  welt- 
ordnung. 

1.  hemmung      glücklicher      lösung 
durch  verblendete  leidenschaft. 
chor:  beginnt  handelnd  das 

5.  epeisodion  4:    1706 — 1928  2.  erkennen  Don  Manuels. 

chor:  1929—2027       klagelied.      weheruf     über     den 

raörder. 

6.  epeisodion  5:     2028  —  2266  3.  erkennen  der  Beatrice, 
chor:  2267—2308       totenklage. 


K.Landmaiin:  deutsche  Schulausgaben  von  H.Schiller  u.V.  Valentin.  153 

7.  epeisodion  6:  2309 — 2562  4.  erkennen  Isabellas  und  DonCesars. 
chor:  2563—2594       seligpreisung     schlichten,     aber 

friedlichen  lebens. 

8.  epeisodion:  2595 — 2840  5.  erfüllung  der  orakel.  wiederher- 
exodos  Stellung  der  sittlichen  welt- 
chor:  Ordnung. 

schluszwort.       2841 — 2845       Wertlosigkeit      eines      schuld- 

bewusten  lebens. 
Fügen  wir  hinzu,  dasz  auch  der  text  (s.  17 — 95)  den  gang  der 
handlung  in  den  kopfzeilen,  am  rande  auszer  der  fortgesetzten  vers- 
zählung  (10,  20  usw.)  auch  (in  fettschrift)  die  bezeichnung  der 
epeisodien  und  chorlieder  sowie  des  prologos  und  der  exodos  mit 
wünschenswerter  deutlichkeit  hervortreten  läszt,  so  wird  die  aus 
den  ausgaben  der  alten  classiker  bekannte  typographische  Sorgfalt 
aufs  beste  gewahrt  erscheinen,  so  dasz  also  die  ausgäbe  auch  nach 
dieser  seite  hin  als  eine  vortreffliche  bezeichnet  werden  musz. 

21/22)  homers  odyssee  übersetzt  von  johann  heinrich  voss. 
in  verkürzter  gestalt  herausgegeben  von  dr.  julius 
Ziehen. 

Homers  Odyssee  in  verkürzter  gestalt !  das  dünkt  wohl  manchen 
aus  der  blütezeit  der  classischen  philologie  heraufgekommenen  eine 
Sünde  wider  den  heiligen  geist.  und  dennoch  musz  referent  ge- 
stehen, dasz  ihm  seit  seinen  ersten,  mit  aller  hingebung  betriebenen 
Homei'studien  da  s  lied  von  der  heimkehr  des  Odysseus  nicht  wieder 
eine  so  hohe  freude  bereitet  hat  wie  bei  der  Wanderung,  auf  der  er 
die  arbeit  des  herausgebers  durch  das  Homerische  epos  und  seine 
commentare  hindurch  begleitete,  und  wenn  dieser  am  Schlüsse  der 
einleitung  die  Überzeugung  ausspricht,  'dasz,  wer  den  hier  vorliegen- 
den auszug  aus  der  Odyssee  gelesen  hat,  eine  vollständige  Vorstel- 
lung von  dem  künstlerischen  bau  des  ganzen  epos  besitzt',  so  müssen 
wir  dem  gehobenen  selbstbewustsein,  das  sich  aus  diesen  werten  zu 
erkennen  gibt,  seine  volle  berechtigung  zugestehen.  —  Betrachten 
wir  zunächst  diese,  nicb  t  ganz  6  Seiten  füllende  einleitung:  Homeros, 
seine  epen.  ihre  künstlerische  gestaltung.  bedeutung  bei  den 
Griechen,  den  Römern,  in  mittelalter  und  neuzeit.  Übersetzungen. 
Johann  Heinrich  Voss,  ausarbeitung,  Schicksal  und  Wirkung  seiner 
Übersetzung,  die  Vossische  Übersetzung  in  den  'deutschen  Schul- 
ausgaben' —  das  sind  die  einzelnen  punkte,  die  in  den  kopfzeilen 
dieser  6  seiten  die  ergebnisse  der  'Homerischen  frage'  für  die  be- 
dürfnisse  der  schule  zusammenfassen,  für  unsere  besprechung  ist 
der  letzte  dieser  punkte  von  hervorragender  bedeutung.  seine  aus- 
führung  lautet  bis  zu  der  bereits  oben  herausgehobenen  stelle:  'in 
der  vorliegenden  ausgäbe  muste  vor  allem  der  gewaltige  umfang 
des  Odysseusepos  (24  bücher  =  12110  verse)  auf  ein  dem  lehrplan 
der  schule  entsprechendes  masz  zurückgeführt  werden,  es  bot  sich 
wohl  die  möglichkeit,  bei  dieser  Verkürzung  eine  der  älteren,  un- 


]54  K. Landmann :  deutsche  schulausgabenvon  H.Schiller  u.V. Valentin. 


erweiterten  formen  der  Odyssee,  vermutungsweise  wenigstens,  her- 
zustellen, da  jedoch  mehrere  gerade  der  kritisch  anfechtbarsten 
stellen  zu  den  teilen  der  dichtung  gehören,  die  auf  die  folgezeit  den 
nachhaltigsten  eindruck  gemacht  haben  ,  so  verbot  sich  ein  solches 
verfahren  für  dieses  büchlein.  es  ist  daher  ohne  rücksicht  auf  alter 
und  herkunft  der  verschiedenen  bestandteile  des  epos  hier  eine  ver- 
kürzte form  der  Odyssee  gegeben,  die  durch  auslassung  unwichtigerer 
episoden  und  einzelner  leicht  entbehrlicher  stellen  unter  völliger 
Wahrung  der  Homerischen  gesamtcomposition  erreicht  werden 
konnte'.^  —  Um  eine  probe  von  der  herstellung  dieses  verkürzten 
textes  zu  geben ,  stellen  wir  die  verszählung  des  ersten  gesanges 
nach  Voss  und  Ziehen  so  neben  einander,  dasz  die  ausscheidungen 
als  punkte  markiert  werden,  an  denen  jene  'auslassung  unwich- 
tigerer episoden  und  einzelner  leicht  entbehrlicher  stellen'  ohne  be- 
sondere mühe  überschaut  werden  kann,  die  Überschrift  dieses  ersten 
gesanges  ist:  I.  götterversammlung.  Athene  auf  Ithaka. 
Die  verszählung  vergleicht  sich  bei 
Voss  Ziehen  Voss  Ziehen 

1-9  [8—9]  1-7       186— 194  [191— 194]  147— 152 

10—24  [23-24]  8  —  20  195—203  [203]  153—160 
25—31  [29—31]  21—24  204— 217  [216— 217]  161— 171 
32—67  [66—67]  25—58  218— 267  [256— 267]  172-209 
68-79  [79]  59—69     268-284  [283— 284]  210— 224 

80— 112  [106  — 112]  70—95  285— 319  [306— 319]  225— 246 
113— 169  [159—169]  96—138  320-422  [326-422]  247— 252 
170—178  [174—178]  139—142  423—445  [429—444]  253—259 
179—185  [183—185]  143—146 

Eine  genauere  prüfung  der  ausgelassenen  stellen  wird  ergeben, 
dasz  die  Ökonomie  des  Homerischen  epos  darunter  nicht  nur  nicht 
leidet,  sondern  im  gegenteil  ganz  erheblich  gewinnt,  und  wenn  wir 
weiter  erwägen ,  dasz  durch  diese  auslassungen  das  gesamtepos  um 
5750  verse  verkürzt  wird  und  dennoch  in  seinem  künstlerischen 
bau  durchaus  vollendet  vor  uns  steht,  dann  werden  wir  in  dieser 
'rettung'  des  antiken  geistes  in  ein  den  ästhetischen  forderungen 
der  gegenwart  entsprechendes  gewand  ein  verdienst  des  heraus- 
gebers  erkennen ,  das  auch  über  die  kreise  der  schule  hinaus  unsere 
volle  anerkennung  herausfordert. 

Was  endlich  die  an  dem  Vossischen  texte  vorgenommenen  ab- 
änderungen  betrifft,  so  bescheidet  sich  der  herausgeber,  dieselben 
als  'nur  unbedeutende'  zu  bezeichnen,  referent  dagegen,  der  gelegen- 
heit  hatte,  einige  corrigierte  druckbogen  der  vorläge®  zu  gesicht  zu 

^  es  dürfte  nicht  überflüssig  erscheinen,  an  dieser  stelle  auf  das 
unlängst  zu  Dresden  mit  groszem  erfolg  zur  auffdhrung  gebrachte 
musikdrama  Odysseus'  heimkehr  von  A.  Bungert  hinzuweisen:  auch 
eine  renaissanee! 

^  vgl.  einl.  8.  VIII:  'von  den  verschiedenen  gesamttexten  hat  Michael 
Bernays  zur  hundertjährigen  feier  des  ersten  erscheinens  der  Vossischen 


i\ .  Landmann :  deutsche  Schulausgaben  von  H.Schiller  U.V.Valentin.   155 

hekommen,  darf  mit  vergnügen  bezeugen,  dasz  in  sehr  vielen  fällen 
der  hiatus  beseitigt,  spondeen  im  fünften  fusz  (die  aber  in  Wahrheit 
meist  trochäen  waren)  daktylisch  erweitert,  stilistische  härten  ge- 
mildert, mit  einem  worte,  die  verse  flüssiger  gestaltet  worden  sind, 
so  dasz  der  ausgäbe  auch  in  dieser  beziehung  unser  beifall  nicht  ver- 
sagt werden  kann,  zum  beweise  dessen  lassen  wir  die  54  ersten 
verse  des  fünften  gesanges  im  abdruck  folgen,  wobei  wir  zugleich 
die  stellen  andeuten,  an  denen  die  innerhalb  des  entsprechenden 
raumes  (Voss  V  1  —  147)  erfolgten  kürzungen  verglichen  werden 
mögen, 

V.  Kalypso.     befehl  zur  entlassung  des  Odysseus. 
Und  die  rosige  Eos  entstieg  des  edlen  Tithonos 

lager  und  brachte  das  licht.*     der  rüstige  Argosbesieger         [2 — 43] 
eilte  sofort  und  band  sich  unter  die  füsze  die  schönen 
goldnen  ambrosischen  sohlen,  mit  denen  er  über  die  wasser 
5  und  das  unendliche  land  im  hauche  des  windes  einherschwebt. 
hierauf  nahm  er  den  stab,  womit  er  die  äugen  der  menschen 
zuschlieszt,    welcher   er   will,    und  wieder  vom  Schlummer  erwecket, 
diesen  hielt  er  und  flog,   der  tapfere  Argosbesieger, 
stand  auf  Pieria  still,  und  senkte  sich  schnell  aus  dem  äther 
10  nieder   aufs   meer   und   schwebte   dann   über  die  flut,  wie  die  möve. 

•[52—54] 
als  er  die  ferne  insel  Ogygia  jetzo  erreichte, 
stieg  er  aus  dem  gewässer  des  dunkelen  meeres  ans  ufer, 
wandelte  fort,  bis  er  kam  zur  weiten  grotte  der  nymphe, 
und  gieng  eilend  hinein  in  die  schön  gewölbete  grotte.        *[54— 77] 
15  ihn  erkannte  sogleich  die  hehre  göttin  Kalypso: 

denn  die  unsterblichen  götter  verkennen  nimmer  das  antlitz 
eines  anderen  gottes,  und  wohnt'  er  auch  ferne  von  dannen. 
aber  nicht  Odysseus  den  herlichen  fand  er  zu  hause: 
weinend  sasz   er  am  ufer  des  meeres.     dort  sasz  er  gewöhnlich 
20  und  zerquälte  sein  lierz  mit  weinen  und  seufzen  und  jammern 
und  durchschaute  mit  thränen  die  grosze  wüste  des  meeres. 
aber  dem  kommenden  setzte  die  hehre  göttin  Kalypso 
einen  prächtigen  thron  von  strahlender  arbeit  und  fragte: 

'warum  kommst  du  zu  mir,  du  gott  mit  dem  goldenen  stabe, 
25  Hermes,  geehrter,  geliebter?    denn  sonst  besuchst  du  mich  niemals, 
sage,  was  du  verlangst:    ich  will  es  gerne  gewähren, 
steht  es   in   meiner  macht,   und   sind   es  mögliche  dinge.'  *[91 — 95] 
da  begann  er  und  sprach  zur  hehren  göttin  Kalypso: 

'fragst  du,  warum  ich  komme,  du  göttin  den  gott?    ich  will  dir 
30  dieses  alles  genau  verkündigen,  wie  du  befiehlest. 

Zeus  gebot  mir,  hieher  ohn'  meinen  willen  zu  wandern !  *[100 — 104] 
dieser  sagt,  es  weile  der  unglückseligste  aller 
männer  bei  dir,  die  Priamos  Stadt  neun  jähre  bekämpften, 
und  im  zehnten  darauf  mit  Ilions  beute  zur  heimat 
35  kehreten,  aber  Athene  durch  missethaten  erzürnten, 

dasz  sie  die  göttin  mit  stürm  und   hohen  fluten  verfolgte, 
alle  die  tapfern  gefährten  versanken  ihm  dort  in  den  abgruud: 
aber  er  selbst  kam  her,  von  stürm  und  woge  geschleudert, 
jetzo  gebeut  dir  der  gott,  dasz  du  ihn  eilig  entlassest. 

Odyssee  i.  j.  1881  den  der  ersten  ausgäbe  wieder  zu  ehren  gebracht; 
in  der  vorliegenden  bearbeitung  ist  bei  aller  anerkennung  der  groszen 
Vorzüge  des  textes  v.  j.  1781  eine  spätere  fassung  zu  gründe  gelegt 
worden.' 


156  K.  Landmann:  deutsche  Schulausgaben  von  H.  Schiller  u.V.  Valentin. 

40  denn  ihm  war  nicht  bestimmt,  hier  fern  von  den  seinen  zu  sterben: 
sondern  sein  Schicksal  ist,  die  freunde  wiederzuschauen 
und  sein  prächtig-es  haus  und  seiner  väter  gefilde.' 

als  er  es  sprach,  da  erschrak  die  hehre  göttin  Kalypso. 
und  sie  redet'  ihn  an  und  sprach  die  geflügelten  worte: 
45  'grausam   seid   ihr  vor   allen  und  neidischen  herzens,    o  götter! 

*  [119— 128] 
also  verargt  ihr  auch  mir  des  sterblichen  mannes  gemeinschaft, 
den   ich   vom   tode   gewann.*     doch   senden   werd'   ich    ihn   nimmer; 

[130-140] 
denn  mir  gebricht  es  hier  an  ruderschiffen  und  männern, 
über  den  weiten  rücken  des  meeres  ihn  zu  geleiten. 
50  aber  ich  will  ihm  mit  rat  beistehn  und  nichts  ihm  verhehlen, 
dasz  er  ohne  gefahr  die  heimat  wieder  erreiche.' 

ihr  antwortete  drauf  der  rüstige  Argosbesieger: 
'send'  ihn  also  von  hinnen  und  scheue  den  groszen  Kronion, 
dasz  dich  der  zürnende  nicht  mit  schrecklicher  räche  verfolge!' 

Als  schlusz  unserer  besprechung  aber  wüsten  wir  kein  passen- 
deres wort  zu  setzen  als  den  schlusz  der  einleitung  des  heraus- 
gebers:  'möchte  der  geist  der  altgriechischen  dichtung,  der  dem 
Germanentum  so  ungleich  näher  steht  als  der  der  römischen  dicht- 
kunst,  auch  aus  den  folgenden  blättern  recht  eindringlich  auf  den 
leser  wirken ! ' 

23)  HERMANN  UND  DOROTHEA  VON  WoLFGANG  VON  GoETHE.    HERAUS- 
GEGEBEN VON  DR.  Veit  Valentin. 

Wer  unter  den  lehrern  des  deutschen  das  vorliegende  heft  zur 
prüfung  für  den  gebrauch  in  der  schule  zur  band  nimmt,  dem 
möchten  wir  empfehlen ,  den  ersten  gesang ,  selbst  wenn  er  ihn  bis 
zu  freiem  Vortrag  gegenwärtig  haben  sollte,  noch  einmal  in  den  ab- 
schnitten 1 — 60,  61  — 165,  166  —  213  zu  lesen,  sich  diese  drei  ab- 
schnitte als  dramatische  scenen  eines  ersten  actes  oder  als  bilder 
nach  Ramberg  vor  die  seele  zu  führen,  sodann  die  Übersicht  s.  16 
unter  I  1  [läge,  a)  b)  c)]  nachzulesen  und  endlich  die  einleitung 
bis  s.  7  einer  ebenso  gründlich  nachdenkenden  betrachtung  zu  unter- 
ziehen, und  wir  sind  überzeugt,  dasz  seine  wähl  alsbald  entschieden 
sein  wird,  für  die  leser  der  Jahrbücher  aber,  die  das  heft  gerade 
nicht  zur  band  haben,  möge  hier  wenigstens  der  schlusz  des  bezeich- 
neten abschnittes  der  einleitung  vei'botenus  folgen:  'da  er  (der 
dichter)  seine  erzählung  mit  dem  gespräche  der  eitern  Hermanna 
beginnt,  von  da  au  die  bandlung  ununterbrochen  weiterführt,  so 
kann  er  Dorothea  persönlich  erst  sehr  spät  auftreten  lassen,  er  ge- 
winnt hieraus  den  nicht  hoch  genug  zu  schätzenden  vorteil ,  dem 
börer  und  leser  Dorothea  erst  so  erscheinen  zu  lassen,  wie  sie 
sich  durch  ihr  thun  und  ihr  wesen  in  der  auffassung  anderer  ab- 
spiegelt, die  dabei  hervortretende  Steigerung,  je  mehr  wir  sie  und 
ihr  thun  kennen  lernen,  im  Zusammenhang  mit  der  wachsenden  be- 
deutung  der  urteile,  die  über  sie  gefällt  werden,  läszt  die  Spannung, 
sie  endlich  selbst  auftreten  zu  sehen ,  immer  gröszer  werden,  und 
wenn  nun  dieses  auftreten  nicht  nur  alle  erwartungen  erfüllt,  son- 


K.  Landmann:  deutsche  Schulausgaben  von  H.Schiller  u.V.  Valentin.   157 

dern  neue  Spannung  erweckt,  so  steigert  sich  unsere  teilnähme  un- 
unterbrochen bis  zur  glücklichen  erreichung  des  zieles  des  einzel- 
ereignisses  und  der  es  beständig  begleitenden ,  selbst  immer  deut- 
licher hervortretenden  und  dadurch  das  einzelereignis  zu  immer 
höherer  bedeutung  erhebenden  aussieht  in  die  ferne  der  weltereig- 
nisse.'  —  Wir  sehen,  es  ist  dieselbe  betrachtungsweise,  die  wir  auch 
an  V.  Valentins  erklärung  der  dramen  zu  rühmen  hatten,  nicht  das 
Schlagwort  von  der  'epischen  breite'  darf  bestimmend  sein  für 
unsere  beurteilung  epischer  kunstwerke ,  sondern  der  nachweis  dra- 
matischen aufbaues,  wie  ihn  z.  b.  Gustav  Freytag  (erinnerungen  aus 
meinem  leben,  ges.  werke,  1,  179  flf.)  auch  für  den  roman  in  ganz 
bestimmter  gestalt  fordert:  einleitung,  aufsteigen,  höhepunkt,  Um- 
kehr und  katastrophe;  gegensätzliche  herausarbeitung  der  Charaktere 
usw.  und  so  werden  wir  den  herausgeber  von  'Hermann  und  Dorothea' 
auch  durch  die  folgenden  abschnitte  der  einleitung  mit  steigendem 
Interesse  begleiten ,  insbesondere  auch  die  schluszworte  des  ab- 
schnittes  über  'die  Charaktere  als  bew^egungsmittel  der  handlung' 
scharf  ins  äuge  fassen,  und  endlich  der  Übersicht  über  den  künst- 
lerischen auf  bau  des  epos  im  ganzen  ebenso  nachgehen,  wie  wir  dies 
oben  für  den  ersten  gesang  empfohlen  haben. 

24)  Luthers  deutsche   Schriften  (auswahl).    herausgegeben 
VON  DR.  Ernst  Schlee,  director  des  Realgymnasiums  und 

DER  REALSCHULE  ZU  ALTONA. 

Als  'Lutherlesebuch'  ist  die  vorliegende  auswahl  auf  dem  Um- 
schlag der  nr.  24  unserer  Schulausgaben  verzeichnet,  eine  benennung, 
die  sich  nicht  blosz  aus  euphonischen  gründen  vor  der  auf  dem  haupt- 
titel  gegebenen  empfehlen  dürfte,  der  auswahl  ist  (s.  1 — 10)  eine 
einleitung  über  Luther  als  den  begründer  unserer  hochdeutschen 
Schriftsprache  vorausgeschickt,  der  wir  die  folgende  stelle  entnehmen, 
die  zugleich  anstatt  einer  Inhaltsangabe  in  übei'sichtlicher  form  dienen 
möge,  in  dem  absatz,  der  von  Luthers  genialer  herschaft  über  die 
spräche  handelt,  heiszt  es:  'mag  er  von  den  praktiken  des  handeis 
(nr.  8  'von  kaufhandlung  und  wucher'),  oder  vom  seligen  stand 
der  kriegsleute,  oder  von  höfischen  und  politischen  Verhältnissen 
schreiben,  immer  zeigt  er  eingehendste,  auf  unmittelbarer  anschauung 
beruhende  kenntnis.  und  wie  auf  allen  gebieten  ,  so  war  er  auch  in 
allen  tonarten  meister  der  spräche,  der  ausdruck  frommer  Innigkeit 
(nr.  1  'auslegung  des  Vaterunsers'  und  3  'von  der  freiheit  eines 
Christenmenschen')  stand  ihm  nicht  weniger  zu  geböte  als  der 
zornige  ruf  zum  kämpfe  (nr.  2  'an  den  christlichen  adel  deutscher 
nation  von  des  christlichen  Standes  besserung'),  als  der  ausdruck  zu- 
versichtlichen gottvertrauens  (nr.  5  'an  den  kurfürsten  Friedrich'), 
als  derbe  Zurechtweisung  und  ironischer  humor  (nr.  11  'ein  send- 
brief  vom  dolmetschen'),  im  briefwechsel  mit  seinen  hausgenossen 
redete  er  gern  die  spräche  des  kindlichen  gemütes  und  des  freund- 
lichen Scherzes  (nr.  9  'an  die  tischgesellen'  und  10  'an  seinen  söhn 


158    0.  Richter:  anz.  v.  G.  Degenhardt  prakt.  geometrie  auf  dem  gymn. 

Johannes'),  und  in  dem  leichten  flusse  unterhaltend  belehrender 
rede,  wechselnd  zwischen  ernst  und  scherz,  ist  ihm  keiner  unserer 
classischen  Schriftsteller  gleichgekommen  (nr.  12  'auslegung  des 
lOln  Psalms').'  —  Die  anmerkungen  zu  dem  auf  der  Erlanger  aus- 
gäbe beruhenden,  in  der  Schreibart  jedoch  nach  maszgabe  der 
späteren  Schriften  ausgeglichenen  texte  sind  auf  das  knappeste  masz 
beschränkt,  vielleicht  hier  und  da  etwas  zu  knapp,  wie  z,  b.  gleich 
s.  12  die  bemerkung  'gleisen  =  heucheln  (verschieden  von  gleiszen)' 
durch  hinzufügung  von  'mhd.  glihsen,  älter  nhd.  gleihsen,  vgl.  similis 
und  simulare'  hätte  erklärt  werden  dürfen,  wogegen  die  erklärung 
der  formen  'dar'  (von  mhd.  'turren',  wagen,  s.  16)  und  'thüren' 
(s.  44)  wie  auch  der  schon  mhd.  verkürzten  form  'er'  =  hör  (s.  15 
und  89)  an  der  späteren  durch  Zurückweisung  auf  die  frühere  stelle 
zu  vereinfachen  gewesen  wäre,  doch  das  sind  nur  kleinigkeiten. 
im  ganzen  ist  auch  von  dieser  nummer  der  'deutschen  Schulaus- 
gaben' zu  sagen,  dasz  durch  sie  ein  wichtiges  stück  deutschen  geistes 
zu  durchaus  würdiger  darstellung  gelangt,  und  wenn  wir  nr.  19 
als  eine  wertvolle  gäbe  zur  geschichte  der  deutschen  befreiungs- 
kriege  begrüszten,  so  dürfen  wir  hier  mit  dem  herausgeber  auch  auf 
den  Unterricht  in  der  reformationsgeschichte  hinweisen  und  unserer 
besprechung  an  jener  wie  an  dieser  stelle  die  wohlgemeinte  Weisung 
hinzufügen :  ein  büchlein  für  schule  und  haus. 

Darmstadt.  Karl  Landmann. 


13. 

PRAKTISCHE  GEOMETRIE  AUF  DEM  GYMNASIUM.     VON  GeORG  DeGEN- 

HARDT.    Frankfurt  a.  M.,  J.  C.  Hermannsche  bucbhandlung.    1896. 

Unter  den  gymnasien,  wo  man  sich  ernstlich  bemüht,  den 
mathematikunterricht  anregender  und  fruchtbarer  zu  machen ,  ragt 
das  kaiser  Friedrichs -gymnasium  in  Frankfurt  a.  M.  hervor,  dr. 
C.  Müller  hat  dort  die  projectionslehre  mit  erfolg  eingeführt,  und 
von  den  bestrebungen,  den  geometrieunterricht  durch  praktische 
geometrie  zu  beleben,  gibt  vorliegende  arbeit  ein  anschauliches 
bild.  sie  enthält  eine  genaue  beschreibung  und  erklärung  des  ge- 
brauchs  der  hierzu  notwendigen  Werkzeuge  in  formen ,  wie  sie  für 
den  Schulunterricht  zweckmäszig  sind,  dazu  eine  gute  auswahl  von 
Übungsaufgaben,  in  drei  stufen  geordnet,  der  anfänger  wird  hier 
von  den  einfachsten  aufgaben  der  praktischen  geometrie  bis  zu  den 
Problemen  der  landesvermessung  geführt,  die  schrift  kann  allen 
fachgenossen  auf  das  wärmste  zum  studium  und  zur  nacheiferung 
empfohlen  werden,  der  verf.  sei  auf  mehrere  entstellende  druck- 
fehler  in  der  Zahlentabelle  s.  15  aufmerksam  gemacht;  das  richtige 
ergebnis  ist  19  a.  70,67  qm. 

Leipzig.  Otto  Richter. 


G.  Diestel:  anz.  v.  A.  Hettner  Spamers  groszer  handatlas.       159 

14. 

Spamers  groszer  handatlas  in  150  kartenseiten  nebst  alpha- 
betischem ORTSREGISTER.  HIERZU  150  FOLIOSEITEN  TEXT,  ENT- 
HALTEND EINE  GEOGRAPHISCHE,  ETHNOGRAPHISCHE  UND  STATI- 
STISCHE BESCHREIBUNG  ALLER  TEILE  DER  ERDE  VON  DR.  AlFRED 

Hettner,  a.  o.  prof.  an  der  Universität  Leipzig. 

Erst  nach  wochen  und  monaten  vermag  man  den  wert  eines 
baus-  und  stubengenossen,  zumal  eines  lehrbafteo,  zu  erkennen  und 
zu  würdigen,  gerade  ein  solcber  ist  ein  groszer  bandatlas ,  an  den 
man  bei  allen  kleinen  und  groszen  anlassen ,  bei  der  täglichen 
zeitungslectüre ,  die  uns  oft  über  die  grenzen  unseres  erdteiles 
hinausführt,  oder  beim  lesen  von  kriegs-  und  reiseberichten ,  die 
immer  wiederholte  frage  richtet:  'wo  liegt  das?  wie  nahe  oder  wie 
weit  von  längst" bekannten  orten?'  da  ist  es  denn  von  besonderem 
werte ,  wenn  man  ohne  grosze  mühe  und  ohne  Zeitverlust  eine  voll- 
kommen klare  antwort  erhält ,  selbst,  wenn  sie  lauten  sollte:  'ich 
weisz  es  auch  nicht'.  —  Dasz  wir  vortreffliche,  preiswerte  atlanten 
längst  besitzen,  ist  allbekannt;  ref.  braucht  sie  nicht  erst  aufzu- 
zählen, allein  er  erinnert  sich  doch  mit  bedauern  der  unnütz  ver- 
geudeten zeit,  wenn  er  z.  b.  während  des  chinesisch -japanischen 
kriegs  nach  langem  suchen  das  gewünschte  doch  nicht  fand  oder  ein 
andermal  auf  einer  mustergiltig  schraffierten  gebirgskarte  vergeblich 
im  dunkeln  tappte,  in  dem  Spamerschen  handatlas  gewährt  ein 
alphabetisches  namenregister  auf  130  siebenspaltigen  druckseiten 
die  möglichkeit,  in  wenigen  minuten  den  gesuchten  ort  in  einem 
klar  bezeichneten  viereck  aufzufinden  oder  sofort  zu  wissen,  dasz  er 
auf  keiner  karte  zu  finden  ist.  übrigens  hat  der  atlas  im  laufe  von 
zwei  monaten  bei  täglichem  gebrauch  nur  zweimal  die  antwort  ver- 
sagt, das  ist  alles ,  was  man  verlangen  kann,  erwägt  man  gar  den 
sauberen  stich,  die  deutliche  schrift  und  die  klare,  weder  das  äuge 
beleidigende,  noch  das  Verständnis  trübende  färbung  der  grenz- 
linien,  so  wird  man  zugeben  müssen,  dasz  dieser  atlas  in  karto- 
graphischer beziehung  den  besten  atlanten  anderer  offizinen  zum 
mindesten  an  die  Seite  zu  stellen  ist. 

Allein  einen  ganz  besonderen  vorzug  erlangt  er  noch  dadurch, 
dasz  der  Verleger  die  leeren  rückseiten  der  karten  einem  rühmlichst 
bekannten  gelehrten  eingeräumt  hat,  um  darauf  nach  dem  neuesten 
stände  der  forschung  einen  abrisz  der  geographie  zu  geben  und 
diesen  durch  hunderte  von  kleinen  detail-  und  Übersichtskarten,  von 
Zeichnungen  und  diagrammen  zu  erläutern,  hier  werden  nicht  nur 
viel  besuchte  gebirgsgegenden  und  städte  in  gröszerem  maszstabe 
dargestellt,  statistische  angaben  übersichtlich  durch  diagramme  auf- 
gehellt, sondern  auch  die  hauptabschnitte  der  astronomischen, 
physischen  und  physikalischen  geographie,  der  geologie  und  ethno- 
graphie  ausgibig  behandelt,  man  darf  nur  die  abschnitte  über  die 
gestalt  und  grösze  der  erde,  der  erdwärme  und  den  zustand  des  erd- 


160     0,  Richter:  anz.  v.  A.  Schülke  vierstellige  logarithmentafeln. 

innern  lesen ,  um  zu  begreifen ,  dasz  der  gelehrte  Verfasser  wirklich 
mit  freude  die  gelegenheit  ergriffen  hat,  die  neuesten  resultate  der 
geographischen  forschung  auf  diesem  wege  in  weitere  kreise  ge- 
langen zu  lassen,  als  es  unseren  gelehrten  handbüchern  zu  gelingen 
pflegt,  mit  bewunderungswürdigem  geschick  hat  er  dabei  den  immer 
unbequemen,  oft  gewis  verzweiflungsvollen  kämpf  um  den  räum 
siegreich  durchgefochten  und  immer  rechtzeitig  auf  dem  ende  der 
zweiten  Seite  den  unbarmherzigen  schluszstrich  erreicht,  ohne  eine 
zeile  zu  viel  oder  zu  wenig  zu  verbrauchen,  nur  bei  genauester  ver- 
gleichung  der  textbehandlung  bemerkt  man,  dasz  dieser  unliebsame 
äuszere  zwang  ihn  in  einigen  abschnitten  zu  Prokrustes-experimenten 
genötigt  hat. 

Zieht  man  endlich  in  betracht,  dasz  durch  die  Schönheit  der 
typen  (wodurch  sich  der  Spamersche  verlag  auch  sonst  auszeichnet), 
durch  die  stärke  und  weisze  des  papiers,  durch  den  denkbar  solide- 
sten und  geschmackvollsten  einband  dieser  handatlas  den  rang  eines 
prachtwerkes  erreicht,  so  wird  man  den  preis  von  20  mk.  kaum  be- 
greiflich finden.  —  Man  darf  dreist  behaupten,  dasz  die  Verlags- 
buchhandlung, die  auch  sonst  bemüht  ist,  die  resultate  der  Wissen- 
schaft in  künstlerisch  illustrierten  werken  einem  gröszeren  publicum 
zuzuführen,  sich  durch  ihren  handatlas  ein  verdienst  um  das  deutsche 
haus  und  die  deutsche  familie  erworben  hat.  es  dürfte  nicht  leicht 
ein  ähnliches  werk  zu  finden  sein,  das  man  als  preiswürdiger  be- 
zeichnen könnte. 

Dresden.  G.  Diestel. 


15. 

VIERSTELLIGE  LOGARITHMENTAFELN  NEBST  MATHEMATISCHEN,  PHYSI- 
KALISCHEN UND  ASTRONOMISCHEN  TABELLEN.  FÜR  DEN  SCHUL- 
GEBRAUCH ZUSAMMENGESTELLT  VON  DR.  A.   SCHÜLKE.      Leipzig, 

B.  G    Teubuer.    1895. 

Die  handlichste  aller  bisher  veröfi'entlichten  vierstelligen  loga- 
rithmentafeln, in  mehreren  beziehungen  für  den  schulgebrauch  ver- 
einfacht und  auf  nur  16  selten  untergebracht,  wie  viel  zeit  und 
mühe  könnte  gespart  und  für  wichtigere  zwecke  verwendet  werden, 
wenn  unsere  schüler  mit  vierstelligen  logarithmen  rechneten!  aber 
wann  wird  der  gebrauch  solcher  logarithmen  für  die  schulen  vor- 
geschrieben werden?  —  Nicht  weniger  als  durch  das  gefällige 
äuszere  und  die  noch  von  keinem  andern  werke  dieser  art  erreichte 
Übersichtlichkeit  der  logarithmentafeln  empfiehlt  sich  das  vorliegende 
werkchen  durch  die  reichhaltigkeit  der  tabellen  für  aufgaben  aus  der 
angewandten  mathematik.  die  letzte  Seite  enthält  eine  überaus  klare 
geometrische  darstellung  der  logarithmen  zur  basis  10,  aus  der  man 
die  logarithmen  der  zahlen  auf  3  bis  4  decimalstellen  ablesen  kann. 

Leipzig.  Otto  Richter. 


ZWEITE  ABTEILUNG 

FÜR  GYMNASIALPÄDAGOGIK  UND  DIE  ÜBRIGEN 

LEHRFÄCHER 

MIT    ADSSCHLÜSZ    DER    CLASSISCHEN    PHILOLOGIE 

HERAUSGEGEBEN  VON  PROF,  DR.  RiCHARD  RiCHTER. 


16. 

QUINTILIAN    ALS     DIDAKTIKER    UND    SEIN    EINPLUSZ 

AUF    DIE    DIDAKTISCH -PÄDAGOGISCHE    THEORIE    DES 

HUMANISMUS. 


Vorbemerkungen. 

Seitdem  Ernst  Laas  in  seiner  geistvollen  schrift  über  'die  päda- 
gogik  des  Johannes  Sturm'  (Berlin,  Weidmann,  1872)  mit  nachdruck 
darauf  hingewiesen  hatte,  dasz  die  didaktisch-pädagogische 
theorie  des  humanismus  vielfach  von  Quintilian  beeinfluszt  worden 
sei,  ist  diese  thatsache  nicht  mehr  übersehen  worden;  man  hat  sie 
jedoch  nicht  so  scharf  ins  äuge  gefaszt,  dasz  man  eine  genauere  Vor- 
stellung von  ihr  gewonnen  hätte,  es  schien  daher  wünschenswert, 
diesen  einflusz  nach  breite  und  tiefe  einmal  genauer  auszumessen. 

Um  dafür  die  nötige  grundlage  zu  gewinnen,  muste  zunächst 
Quintilian  selbst  und  sein  werk  näher  betrachtet  werden,  auch  nach 
den  vorhandenen  Schriften,  die  sich  mit  ihm  als  pädagogen  und 
didaktiker  beschäftigen  —  sie  sind  am  Schlüsse  des  ersten  abschnittes 
zusammengestellt  —  dürfte  es  nicht  überflüssig  sein,  eine  möglichst 
allseitige  darstellung  seiner  person  als  lehrer  und  des  didaktisch- 
pädagogischen gehalts  seiner  institutio  oratoria  zu  versuchen. 

Auch  bei  den  in  frage  kommenden  humanisten  wurde  das  Ver- 
hältnis zu  Quintilian  nicht  nur  nach  seiner  stofflichen,  sondern 
auch  nach  seiner  persönlichen  seite  beobachtet;  es  wurde  nicht 
nur  gefragt:  was  ist  aus  Quintilian  entnommen,  sondern  auch:  wie 
ist  aus  ihm  entnommen,  da  zeigten  sich  denn  verschieden  ab- 
gestufte arten  der  benutzung:  angefangen  von  einer  eilfertigen 
herübernahme  einzelner  stellen,  ja  ganzer  abschnitte,  die  bisweilen 
geradezu  den  Charakter  des  plagiats  trägt,  bis  zur  innerlichen  assimi- 
lierung des  tiefsten  geistigen  gehalts.  so  ergaben  sich  bei  unserer 
Untersuchung  auch  einzelne  beitrage  zur  litterat Urgeschichte:  so- 
woTil  eine  gewisse  erkenntnis  von  der  persönlichkeit  Quintilians  und 

N,jahrb.r,phil,u.päd.  II.  abt.  1897  hfl.4u.5.  11 


162  A.  Messer:  Quintiliau  als  didaktiker. 

von  der  eigenart  seines  Werkes,  als  auch  manche  charakteristische 
einblicke  in  die  schriftstellerische  arbeitsweise  mehrerer  bedeutender 
humanisten.  ich  verweise  hier  besonders  auf  die  abschnitte  über 
Enea  Silvio,  Wimpheling  und  Erasmus. 

Bei  einer  Specialuntersuchung  wie  der  unsrigen  liegt  die  gefahr 
nahe,  dasz  das  eine  object,  auf  das  der  blick  scharf  gerichtet  wird, 
die  angrenzenden  aus  dem  gesichtsfelde  verdränge,  und  dasz  so  die 
gegenstände  nicht  in  ihrem  richtigen  gröszenverhältnisse  erscheinen, 
um  dies  zu  vermeiden,  wird  durch  gelegentliehe  hinweise  wiederholt 
daran  erinnert,  wie  viel  Quintilian  selbst  für  sein  werk  der  älteren 
litteratur  und  der  herschenden  Schulpraxis  entnehmen  konnte ,  und 
auch  für  die  humanisten  sind  noch  andere  quellen  aufgezeigt,  aus 
denen  sie  auf  diesem  gebiete  schöpfen  konnten ;  insbesondere  ist  die 
unter  Plutarchs  namen  gehende  schrift  Ttepi  TTaibuuv  «Y^J^Tnc 
näher  berücksichtigt,  und  für  ihre  benutzung  sind  die  nötigen  be- 
lege beigebracht,  endlich  ist  auch  nicht  unterlassen  worden,  die 
momente  besonders  hervorzuheben ,  die  sich  in  der  didaktisch-päda- 
gogischen theorie  zur  geltung  bringen  musten  unmittelbar  heraus 
aus  der  tiefe  der  weitverzweigten  geistigen  Strömungen,  die  wir 
unter  dem  namen  humanismus  zusammenfassen. 

Die  Schriften  des  Johannes  Sturm  sind  die  zeitlich  letzten, 
auf  die  ich  meine  Untersuchung  erstreckt  habe,  die  foi'derungen  der 
pädagogisch-didaktischen  theorie  des  humanismus  werden  für  das 
protestantische  Schulwesen  durch  Melanchthon  und  Sturm ,  für  das 
katholische  durch  die  Jesuiten  in  weitgehender  weise  verwirklicht, 
damit  ist  ein  gewisser  abschnitt  gegeben:  die  zeit  des  Werdens  und 
Wachsens  ist  zu  ende,  wie  das  althumanistische  Schulwesen  in  seinen 
wesentlichen  zügen  mit  groszer  Stabilität  bis  in  das  18e  Jahrhundert 
sich  erhält,  so  trägt  auch  die  es  begleitende  theoretische  litteratur  — 
wenn  wir  von  reformpädagogen  wie  Ratichius  und  Comenius  ab- 
sehen —  ein  gleichförmiges  gepräge.  für  diesen  zustand  des  be- 
harrens  in  theorie  und  praxis  verweise  ich  auf  zwei  charakteristische 
belege:  in  den  letzten  jähren  des  17n  Jahrhunderts  hat  Thomas 
Grenius  drei  stattliche  bände  didaktisch- pädagogischer  abhand- 
lungen  im  geiste  des  humanismus  aus  dem  15n  bis  17n  Jahrhundert 
herausgegeben  —  nicht  als  historisch  bedeutsam,  sondern  zur 
unmittelbaren  Verwertung  in  der  praxis,  und  noch  1730  hat  Hall- 
bauer  die  wichtigsten  schulschriften  Sturms  wieder  ediert  und  sie 
als  die  trefflichste  gymnasialpädagogik  auch  für  die  damalige 
zeit  warm  empfohlen,  weil  sich  also  diese  litteratur  der  humanisti- 
schen Pädagogen  von  der  zweiten  hälfte  des  16n  bis  in  die  erste  des 
18n  Jahrhunderts  der  hauptsache  nach  in  den  gleichen  gedanken- 
kreisen  fortbewegt,  so  hat  es  kein  Interesse,  hier  immer  wieder  den 
directen  oder  indirecten  einflusz  Quintilians  aufweisen  zu  wollen, 
dasz  man  sein  buch,  'eine  art  encyclopädie  dessen,  was  die  alten  im 
ganzen  gebiet  der  erziehung  und  der  geistesbildung dachten'  (John 
Stuart  Mi  11,  Selbstbiographie,  übersetzt  vonKolb  s.  17),  andauernd 


A.  Messer:  Quintiliau  als  didaktiker.  163 

zu  würdigen  wüste,  zeigt  in  überaus  lehrreicher  weise  das  bedeut- 
same werk  Charles  Rollins,  trait6  de  la  maniere  d'enseigner  et 
d'etudier  les  helles  lettres,  1726  —  31.  mit  diesem  werke  haben 
wir  freilich  das  ende  der  humanistischen  pädagogisch-didaktischen 
litteratur  erreicht:  es  leitet  in  vielfacher  beziehung  schon  hinüber 
zum  neuhumanismus,  der  im  laufe  des  18n  Jahrhunderts  sich 
allmählich  mit  klarerem  bewustsein  von  dem  alten  humanismus 
unterscheidet  und  loslöst. 

Erster  abschnitt. 

Quintilian   als   didaktiker   und  der  didaktische  gehalt  der 
institutio  oratoria. 

1.  Quintilian  ist  der  didaktiker'  unter  den  rhetoren. 
seine  institutio  oratoria  ist  nicht  und  wilP  nicht  sein  ein  einfaches 
lebrbuch  der  rhetorik,  sondern  sie  gibt  die  anleitung  zur  erreichung 
eines  bestimmten  bildungsideals:  orator  perfectus  ist  die  kürzeste 
bezeichnung  desselben;  so  ist  es  von  Quintilian  und  vor  ihm  von 
Cicero  auf  grund  des  volkscharakters ,  der  politischen,  socialen  und 
litterarischen  Verhältnisse  formuliert  worden. 

Wenn  auch  in  diesem  bildungsideale  der  sittliche  beziehungs- 
punkt  stark  hervortritt,  wenn  auch  die  pädagogischen  momente 
der  bildungsarbeit  wiederholt  berührt  werden,  so  hat  doch  Quintilian 
thatsächlich  die  erziehung  als  solche  nicht  behandelt,  darum 
dürfte  es  berechtigt  sein,  ihn  vorwiegend  als  didaktiker  zu 
charakterisieren. 

Es  zeigt  sich  aber  der  didaktische  gehalt  seines  werkes 
zunächst  darin,  dasz  er  auch  den  bildungsgang  vor  dem  eintritt  in 
die  eigentliche  rhetorenschule  bespricht.^  er  ist  sich  dabei  bewust, 
etwas  ungewöhnliches  zu  thun ;  denn  er  entschuldigt  und  verteidigt 
sich  wiederholt'*,  dasz  er  solche  'kleinigkeiten'  behandle,  aber  er 
weisz  wohl,  wie  wichtig  sie  sind;  zwar  trägt  ihre  erörterung  keinen 
besonderen  rühm  ein,  aber  sie  sind  die  fundamente,  auf  denen  das 
stolze  gebäude  der  bildung  mit  seinen  giebeln  und  türmen  ruht. '" 
ferner  bewährt  er  sich  als  didaktiker  dadurch,  dasz  er  auch  bei  der  be- 
handlung  der  eigentlichen  rhetorik  immer  und  immer  wieder  hinweise 
gibt,  wie  die  theoretischen  sätze  praktisch  zu  verwirklichen  seien.*' 

1  für  die  genaue  Scheidung'  von  pädagogik  und  didaktik,  erziehung 
und  bildung,  die  ich  in  dieser  schrift  festzuhalten  bemüht  bin,  verweise 
ich  auf  0.  Willmann,  didaktik  als  bildungslehre  I^  s.  74— 85.  —  Ich 
benutze  gern  diese  gelegenheit,  auszusprechen,  wie  viel  ich  diesem  treff- 
lichen werke  —  nicht  nur  für  die  vorliegende  arbeit  —  verdanke. 

2  Quint.  I  prooem.  24  f. 

3  es  bildet  dies  den  inhalt  des  ersten  buches.  vgl.  Quint.  I  prooem.  21. 
*  Quint.  I  prooem.  21.   I  1,  21—24.   I  5,  6  f.   17,  33. 

^  I  prooem.  4. 

•^  er  thnt  dies  mit  absieht,  wie  er  dies  auch  in  der  vorrede  des 
Werkes  ausspricht.    I  prooem.  §  23.    deshalb  bieten  auch  nicht  nur  das 

11* 


164  A.  Messer:  Quintiliau  als  didaktiker. 

Bei  diesem  Sachverhalt  dürfte  es  nahe  liegen,  die  frage  aufzu- 
werfen, ob  er  die  didaktik  in  ihrer  eigenart  klar  erfaszt 
habe/  —  Zunächst  scheidet  er  das  wissen  und  können  von  dem  ver- 
mögen zu  lehren*^,  eine  Unterscheidung,  die  ja  schon  in  dem  gemeinen 
bewustsein,  wie  es  sich  durch  die  spräche  ausdrückt,  liegt,  dabei 
sucht  er  aber  die  ansieht  zu  begründen,  dasz  der,  der  etwas  am  besten 
weisz  und  kann,  es  auch  am  besten  lehren  könne. ^ 

Dieselbe  ineinanderschiebung  des  wissenschaftlichen  und  künst- 
lerischen auf  der  einen,  des  didaktischen  auf  der  andern  seite  zeigt  die 
institutio  selbst,  sie  erörtert  zwar  die  accessorischen  bildungs- 
stoffe  lediglich  nach  ihrem  bildungsgehalt  und  zur  festsetzung  des 
umfanges,  in  dem  sie  heranzuziehen  sind'",  aber  für  den  centralen 
bildungsstoff,  die  rhetorik,  gibt  sie  zugleich  die  darstellung  der 
materie  selbst.  Quintilian  bietet  also  keine  allgemeine  bildungs- 
lehre,  keine  didaktik,  sondern  eine  rhetorik,  wenn  auch  mit  reichem 
didaktischen  gehalte. 

Ist  er  sich  nun  bei  der  behandlung  der  rhetorik  selbst  des  Unter- 
schiedes zwischen  rein  wissenschaftlicher  und  didaktischer 
methode  bewust?  mehrere  stellen  zeigen,  dasz  er  wenigstens  in 
einigen  wichtigen  punkten  diesen  unterschied  klar  erfaszt  hat.  er 
erkennt,  dasz  er  nicht  nach  wissenschaftlicher  Vollständigkeit  streben 
darf,  dasz  er  also  das  didaktisch  wertvolle  auswählen  musz";  er 
macht  bei  seiner  arbeit  die  erfahrung,  dasz  diese  auswahl  oft  der 
schwierigste  teil  des  lehrens  ist'^;  er  ist  sich  bewust,  dasz  die  an- 
ordnung  des  Stoffes  beim  lehren  eine  andere  sein  musz,  als  die  der 
rein  wissenschaftlichen  behandlung,  dasz  nicht  das,  was  in  der 
Wissenschaft  und  kunst  selbst  das  erste  und  wichtigste  ist,  deshalb 

erste  und  etwa  noch  das  zweite  und  zehnte,  sondern  alle  bücher  der 
institutio  zur  darstellung  ihres  didaktischen  gehaltes  material,  wenn 
auch  nicht  in  gleichem  umfange. 

^  ich  verkenne  nicht,  dasz  schon  durch  das  aufwerfen  solcher  fragen 
ein  unhistorischer  maszstab  angelegt  wird,  allein  ihre  erörterung  soll 
nicht  zu  einem  historisch  berechtigten  Werturteil  über  Quintilian  führen, 
sondern  nur  ihn  und  sein  werk  in  seiner  eigenart  uns  möglichst  all- 
seitig zum  bewustsein  bringen. 

8  II  3,  7.    II  8,  11. 

*  II  3,  5  f.  er  führt  dafür  folgende  gründe  au :  primum,  quod  eum 
qui  eloquentia  ceteris  praestat,  illa  quoque  per  quae  ad  eloquentiam 
pervenitur,  diligentissime  percepisse  credibile  est;  deinde,  quia  plurimum 
in  praecipiendo  valet  ratio,  quae  doctissimo  cuique  planissima  est; 
postremo,  quia  nemo  sie  in  maioribus  eminet,  ut  eum  minora  deficiant. 
mit  denselben  gründen  könnte  man  auch  beweisen,  dasz  ein  gelehrter 
Philologe  eo  ipso  ein  guter  lehrer  sei.  man  glaubt  jetzt  nicht  mehr 
daran  —  oder  doch  noch? 

*"  I  c.  4 — 9:  die  grammatik  (doch  geht  er  auch  hier  stellenweise 
zur  erörterung  des  wissenschaftlichen  stofifes  selbst  über);  I  c.  10.  11: 
die  mathematische,  musikalische  und  körperliche  ausbildung;  XII  c.  3: 
die  philosophischen,  c.  4:  die  juristischen,  c.  5:  die  historischen  Studien. 

1'  II  10,  1. 

"^  VIII  prooem.  5:  itaque  in  toto  artis  huiusce  tractatu  difficilius 
est  iudicare  ,  quid  doceas,  quam,  cum  iudicaris,  docere. 


A.Messer:  Quintilian  als  didaktiker.  165 

auch  schon  beim  lehren  an  die  erste  stelle  treten  musz.  '^  endlich 
spricht  er  es  geradezu  aus ,  dasz  er  bestrebt  gewesen  sei ,  durch  an- 
sprechende form  das  Studium  seines  werkes  zu  erleichtern  und  an- 
genehm zu  machen;  er  verkennt  dabei  nicht,  dasz  ihm  dies  in  den 
zahlreichen  trockenen  partien  des  rhetorischen  Systems  nicht  nach 
wünsch  möglich  war.  '*  thatsächlich  ist  allenthalben  seine  spräche 
klar  und  gewandt  und  da,  wo  der  stoff  es  gestattet  (also  besonders 
im  ersten  und  zweiten,  zehnten,  elften  und  zwölften  buch),  reich  an 
glücklichen  und  treffenden  bildern  und  vergleichen,  an  geistvollen 
aussprüchen  von  epigrammatischer  kürze  und  schärfe.  —  Ist  es  ihm 
aber  auch  gelungen ,  allenthalben  sich  auf  das  didaktisch  wertvolle 
zu  beschränken?  es  will  uns  scheinen,  als  habe  er  oft  zu  viel  stoff 
geboten,  als  müsse  insbesondere  die  fülle  von  auffassungen ,  die  er 
bei  manchen  punkten  aus  der  litteratur  zusammenträgt,  eher  ver- 
wirrend als  klärend  wirken,  zumal  da  bei  der  kürze  der  darstellung, 
die  —  wenigstens  subjective  und  partielle  —  berechtigung  der  ein- 
zelnen ansichten  und  ihre  tiefere  begründung  in  dem  ganzen  der 
verschiedenen  philosophischen  und  rhetorischen  Systeme  nicht  ge- 
würdigt werden  kann,  freilich  wir  stehen  der  ganzen  rhetorik  weit 
ferner,  und  manches  mag  uns  recht  überflüssig  vorkommen,  dessen 
kenntnis  der  damaligen  zeit  unerläszlich  erschien,  dennoch  dürfte 
unser  urteil  nicht  ganz  subjectiv  sein;  seine  objective  begründung 
wird  uns  deutlicher  werden  durch  erörterung  der  frage,  für  welche 
leser  denn  die  institutio  bestimmt  sei. 

An  einer  äuszerlich  sehr  bedeutungsvollen  stelle,  in  den  schlusz- 
worten  des  ganzen  werkes,  bezeichnet  er  es  als  bestimmt  für  die 
Studiosi  iuvenes. '^  aber  welchen  wert  haben  für  diese  z.  b.  die  er- 
örterungen  des  ersten  und  teilweise  die  des  zweiten  buches?  — 
Quintilian  hat  jedoch  auch  selbst  über  die  bestimmung  seines 
Werkes  sich  anders  ausgesprochen ,  und  zwar  in  einer  weise ,  die 
zeigt,  dasz  ihm  im  verlauf  seiner  arbeit  die  rücksicht  auf  die  lernen- 
den bisweilen  geradezu  an  zweite  stelle  gerückt  ist,  dasz  also  die 
didaktische  tendenz  überwuchert  wurde  von  der  rein  wissenschaft- 
lichen, eine  möglichst  vollständige  darstellung  des  rhetorischen 
Systems  zugeben.'^  dabei  bleibt  aber  der  eigentliche  grund- 
gedanke  des  werkes:  alles,  was  ihm  reiche  erfahrung 
und  belesenheit  als  notwendig  und  wünschenswert  für 
die  ausbildung  des  redners  erscheinen  läszt,  auszu- 
sprechen'^, und  dieser  veranlaszt  ihn  zur  aufnähme  ganzer  partien, 


13  X  1,  3  f.         »1  III  prooem.  3.         '^  XII  11,  31. 

1^  XI  1,  5:  nos  institutionem  professi  non  solum  scieutibus,  sed 
etiam  discentibus  tradimus.  XI  1,  55:  quod  praecipue  declamantibus 
(neque  enim  me  poenitet  ad  hoc  quoque  opus  meum  et  cnram  suscepto- 
rum  semel  adolescentium  respicere)  custodiendum  usw.  usw. 

''  II  10,  15:  quamvis  enim  omne  propositum  operis  a  nobis 
destinati  eo  spectat,  ut  orator  institnatur,  tarnen,  ne  quid  studiosi 


166  A.Messer:  Quintiliau  als  didaktiker. 

die  für  einen  Schüler  der  rbetorenschule  keine  praktische  bedeutung 
haben,  es  ist  aber  gewissermaszen  ein  durchaus  i^ersönliches  be- 
dürfnis,  dem  er  durch  abfassung  dieses  Werkes  entspricht:  als  redner 
und  lehrer  sich  bethätigend,  ist  er  alt  geworden;  so  zieht  er  denn 
in  dieser  schrift  schlieszlich  die  summe  seines  lebens,  indem  er 
über  den  bildungsgang  im  allgemeinen  und  sein  fach  im  besondern 
seine  ansichten  entwickelt  —  eine  von  den  beschäftigungen  wählend, 
die  er  in  seinem  schluszwort  als  die  erwünschteste  ausfüllung  eines 
schönen  lebensabends  bezeichnet. '°  er  will  damit  zugleich  die  bitten 
dankbarer  schüler  erfüllen'^,  einem  freunde  einen  liebesdienst  er- 
weisen^" und  vor  allem  seinem  allein  noch  übrigen,  innig  geliebten 
söhne  sein  didaktisch-rhetorisches  testament  als  kostbarstes  erbstück 
hinterlassen.'-'  je  mehr  somit  der  eigenartig  zusammengesetzte  in- 
halt  seines  Werkes  aus  seiner  persönlichkeit  heraus  zu  begi'eifen 
ist,  um  so  mehr  dürfte  es  am  platze  sein,  zunächst  den  versuch  zu 
machen,  ihn  selbst  als  lehrer  zu  charakterisieren,  es  wer- 
den uns  dabei  zugleich  manche  seiner  allgemeinen  didaktischen 
grundsätze  erkennbar  werden,  solche  nämlich,  die  bei  ihm  gewisser- 
maszen im  unbewusten  wurzeln  und  nur  die  abstracte  formulierung 
der  Wirksamkeit  gewisser  charakterzüge  sind. 

Wie  Quintilian  vom  redner  immer  und  immer  wieder  mit  dem 
grösten  nachdruck  verlangt,  dasz  er  ein  vir  bonus  sei,  so  läszt  sein 
werk  auch  ihn  selbst  als  eine  durchaus  sittliche  persönlich- 
keit erkennen. 

Nicht  sowohl  die  zahlreichen  hinweise  auf  den  absoluten  wert 
des  ethischen  mögen  als  belege  dafür  dienen,  sondern  solche  stellen, 
in  denen  sich  mehr  unwillkürlich  seine  gediegene  sittliche  natur, 
sein  fest  in  sich  gegründeter  Charakter  verrät,  alles  eitle  haschen 
nach  beifall  ist  ihm  vex'haszt,  der  sacbe  soll  der  redner  dienen, 
nicht  der  eignen  person:  causa  potius  laudetur  quam  patronus";  er 
gelangt  dabei  zu  dem  tief  sittlichen  satze,  dasz  es  bei  tüchtigem  thun 
auf  den  äuszeren  erfolg  überhaupt  gar  nicht  ankomme."  die  zu 
seiner  zeit  eingerissene  Unsitte,  dasz  die  Zöglinge  der  rhetorenschulen 
die  declamationen  ihrer  mitschüler  mit  obligatem  beifall  begleiteten, 
ist  ihm  in  der  seele  zuwider.^''  sein  sinn  ist  aufs  gründliche  gerichtet, 
aller  Oberflächlichkeit  und  allem  blendwerk  abhold,  er  verwirft  darum 
ebenso  das  übereilte  aus-dem-stegreif-reden  bei  Schülern*^  wie  das 
virtuosentum  berufsmäsziger  declamatoren,  die  über  jegliches  thema 
auf  der  stelle  einen  Vortrag  zu  halten  bereit  sind  und  womöglich 

requirant,  etiam  si  quid  erit,  quod  ad  scholas  pertineat  proprie,  in 
transitu  non  omitteiuus. 

1«  XII  11,  4  f.         »M  prooem,  1  f.         «»  I  prooem.  6. 

2'  er  gesteht  dies  im  piooemium  des  sechsten  buches,  wo  in  er- 
schütternder weise  der  schmerz  über  den  Verlust  auch  dieses  letzten 
kindes  zum  ausbruch  kommt,  von  nun  an  soll  die  arbeit  an  seinem 
werke  ihn  in  seinem  leide  trösten. 

"  XII  9,  4.  6.         "  II  17,  22—26.         «<  II  2,  9.         "  II  4,  15  flf. 


A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker.  167 

vom  publicum  sich  noch  das  wort  angeben  lassen,  mit  dem  sie 
anfangen  sollen."^  umgekehrt  empfiehlt  er  dem  wahren  redner  die 
gewissenhafteste  Vorbereitung  auf  den  einzelnen  rechtsfall,  diese 
hat  sich  zuerst  auf  eine  eingehende  kenntnisnahme  und  juristische 
erfassung  des  Sachverhalts  zu  richten",  wie  ihm  überhaupt  die 
Sachen  wichtiger  sind  als  die  worte,  der  inhalt  ihm  über  der 
form  steht.-^  ferner  ist  die  rede  selbst,  wenn  zeit  vorhanden,  sorg- 
fältig vorzubereiten;  eine  schriftliche  ausarbeitung  derselben  gilt 
ihm  als  regel.''^  neben  der  ausübung  des  rednerischen  berufs,  die 
nicht  zur  geistlosen  routine  werden  soll,  haben  stets  theoretische 
Studien  und  praktische  Übungen  herzugehen:  studendum  semper  et 
ubique!^"  —  Die  didaktische  formulierung  dieses  seines 
soliden  sinnes  heiszt:  die  demente  in  Wissenschaft  und 
kunst  als  die  fundamente  des  ganzen  mit  aller  Sorgfalt 
behandeln  und  langsam  vom  leichteren  zum  schwereren 
fortschreiten;  alles  überhasten  bringt  keinen  Zeit- 
gewinn, sondern  Zeitverlust.^' 

Eine  nur  wenig  verschiedene  Wirkung  desselben  sittlich  tüchtigen 
Charakters  ist  es,  wenn  er  Verweichlichung  in  musik^^  undredekunst^', 
das  abzielen  auf  den  rein  sinnlichen  Ohrenschmaus  unerbittlich  be- 
kämpft und  wenn  er  jeglicher  verkünstelung  in  der  rede  ^^  abgeneigt  ist. 

So  bewahrt  er  denn  auch  dem  verderbten  Zeitgeschmack  und 
der  gerade  herschenden  mode  gegenüber  seine  Selbständigkeit,  und 
er  hat  den  mut,  nachdrücklich  dagegen  zu  protestieren  und  auf 
bessere  Vorbilder  hinzuweisen,  geleitet  von  einem  tief  wahren  grund- 
satz,  den  er  in  dem  geistreichen  worte  ausspricht:  mala  multi  pro- 
bant,  nemo  improbat  bona/^  —  Allerdings  erhebt  sich  Quintilian 
nicht  so  weit  über  das  sittliche  niveau  seiner  zeit  und  seines  volkes, 
dasz  er  den  beruf  des  anwalts  von  der  ihm  im  altertum  allgemein 
anhaftenden  Verlogenheit  und  rabulisterei  völlig  reinigte  und  seine 
aufgäbe  als  die  Vertretung  des  rechtes  definierte,  er  strebt  ernst- 
lich danach ,  aber  er  macht  doch  in  diesem  punkte  zum  teil  recht 
bedenkliche  Zugeständnisse;  er  lehrt  den  satz,  dasz  der  zweck  das 
mittel  heilige,  in  seiner  unsittlichen  anwendung^^,  indem  er  den  ge- 
brauch der  lüge  —  zu  gutem  zwecke  —  gestattet." 

«6  X  7,  21.        27  XII  8. 

"^  VII  pro.  32:  niliil  verborum  causa  faciendum,  cum  verba  ipsa 
rerum  gratia  sint  reperta.    X  2,  13:  verba  per  se  soni  tantum.    XI  1,  7. 

29  X  7,  29.         30  X   7,  27.         ^i  j  j     31  £    i  4^  e.   I  7,  34  f. 
32  I  10,  31  f.         33  ij  6^  22. 

31  I  6,  40:  nihil  odiosius  est  affectatione.    IV  2,  38. 

3^  XII  10,  73—76.  specifisch  römisch  gefärbt  erscheint  seine  polemik 
gegen  das  ,  was  ihm  in  seiner  zeit  als  misbrauch  erscheint,  in  seinem 
tadel  über  die  benutzung  der  redekunst  zum  gelderwerb  I  12,  16 — 18. 
doch  macht  er  hier  gewisse  concessionen  XII  7,  8 — 12. 

30  durchaus  berechtigt  ist  derselbe,  wenn  die  mittel  sittlich  gleich- 
gültig sind;  unsittlich  wird  er  erst,  wenn  als  mittel  auch  solches  zu- 
gelassen wird,  was  an  sich  unerlaubt  ist. 

37  II  17,   19.  26-29.  36.   III  7,  25.  8,  39  f. 


168  A.  Messer:  Quiutiliau  als  didaktiker. 

Ein  ähnlicher  grundzug  seines  wesens,  der  fast  im  gleichen 
masze  wie  sein  auf  das  sittliche  gerichtetes  streben  der  ganzen  per- 
sönlichkeit ihr  gepräge  verleiht,  ist  sein  philosophischer  sinn, 
mit  eindringendem  Verständnis  und  klarem  blick  für  das  ganze  der 
Philosophie  und  den  inneren  Zusammenhang  ihrer  einzelnen  teile 
weist  er  die  notwendigkeit  philosophischer  durchbildung  für  den 
redner  nach.^-  deutlich  zeigt  sich  aber  seine  philosophische  be- 
anlagung  auch  darin,  dasz  er  es  versteht,  die  verschiedensten  fragen 
aus  ihrer  engeren  Umgebung  herauszuheben,  sie  mit  analogen  er- 
scheinungen  auf  andern  gebieten  in  beziehung  zu  setzen  und  sie  also 
in  ihrer  allgemeinen ,  philosophischen  bedeutung  zu  erfassen,  die 
thatsache  der  individuellen  Verschiedenheit  in  der  geistigen  bean- 
lagung^'  wie  in  den  körperformen ^",  im  stil  der  einzelnen^'  und  der 
nationen^*^  wie  in  den  diesen  mitbedingenden  volkscharakteren  ^^  ist 
ihm  in  ihrer  weittragenden  bedeutung  klar  bewust.  den  begriflf  der 
nachahmung  und  den  des  fortschritts,  der  über  dieselbe  hinaustreibt 
und  mit  derselben  sich  verbinden  soll,  weisz  er  aus  der  betrachtung 
der  verschiedensten  Seiten  des  culturlebens  zu  gewinnen  und  mit 
logischer  schärfe  zu  entwickeln.^"*  auch  die  für  alles  psychische 
Wachstum ,  für  alle  geistige  bildung  so  grundlegenden  begriffe 
natura,  ars,  exercitatio  hat  er  mit  philosophischer  tiefe  erfaszt 
und  verwendet.  ^^ 

Dieser  philosophische  sinn  bewahrt  ihn  vor  aller 
pedanterie,  vor  peinlichem  festhalten  an  starren  regeln, 
vor  Überschätzung  der  methode.  er  spricht  geradezu  aus: 
mihi  semper  moris  fuit,  quam  minime  alligare  me  ad  praecepta, 
quae  KaGoXiKCt  vocitant,  id  est  (ut  dicamus  quomodo  possumus)  uni- 
versalia  vel  perpetualia.  raro  enim  reperitur  hoc  genus,  ut  non  labe- 
factari  parte  aliqua  et  subrui  possit.  "*  in  den  manigfachsten  formen 
variiert  er  den  satz:  res  in  oratore  praecipua  consilium  est^^,  wo- 
mit er  sagen  will,  dasz  allenthalben  die  eigne  Urteilskraft  (wofür  in 
manchen  fällen  das  taktgefühl  eintritt'")  zu  entscheiden  habe,  ob 
und  inwieweit  die  regeln  bindend  sind,  wiederholt  kennzeichnet  er 
die  punkte,  wo  die  methode  nicht  ausreicht,  wo  etwas  durch  lehre 
nicht  übertragen  werden  kann.^* 

^'  XII  2,  1 — 28.  seine  wiederholte  polemik  gegen  die  pliilosophen 
ist  der  hauptsache  nach  ein  grenzstreit,  der  in  den  damaligen  (hoch-) 
schulverhältuissen  seine  erklärung  findet.  Qiiintilian  vindiciert  die  ethik 
(I  prooem.  10 — 17),  ja  die  gesamte  philosopliie  der  rhetoreuschule;  was 
übrigens  im  wesen  der  sache  nicht  begründet  ist.  daneben  finden  sich 
einzelne  spitzige  bemerkungen  gegen  die  'collegen'  von  der  philosophie, 
z.  b.  philosophia  simulari  potest,  eloquentia  non  potest  XII  3,   12. 

39  I  3,  6  f.         "0  III  10,  10.         41  a.  a.  o.         '^  XII  10,  16—19. 

43  a.  a.  o.         "J  X  2. 

*'"  seine  behandlung  dieser  begriffe  wird  unten  näher  erörtert  werden. 

«  II  13,   14. 

"  II  13,  2.     vgl.  XI  2,  27.  44.   XII  10,  8  ff.  69.  72. 

•«8  XI  3,   181.   IX  4,  119  f.   XI  1,  91. 

49  die  belege  dafür  unten  bei  der  erürterung  der  begriffe  natura,  ars  usw. 


A.  Messer:  Quintüian  als  didaktiker.  169 

Ein  philosophischer  sinn,  der  das  einzelne  in  seiner  beziehung 
mm  allgemeinen  erfaszt,  wird  die  sicherste  grundlage  bilden  für 
eine  gesunde  kritik,  die  die  einzelnen  objecto  in  ihrem  relativen 
wert  klar  und  kühl  zu  erkennen  und  zu  nennen  den  mut  hat.  un- 
befangen würdigt  er  die  Vorzüge  der  griechischen  spräche  vor  der 
lateinischen  und  das  dadurch  mitbedingte  Verhältnis  der  hellenischen 
und  römischen  beredsamkeit.""  meisterhaft  versteht  er  die  Vertreter 
der  einzelnen  litteraturgattungen  zu  charakterisieren  und  zu  kri- 
tisieren^', wobei  er  sich  wohl  bewust  bleibt,  dasz  gegenüber  den 
groszen  mustern  bescheidenheit  im  urteil  sich  geziemt.^-  kritik 
übt  er  auch  an  der  erzählung  von  der  wunderbaren  rettung  des 
Simonides.  ^^ 

Ein  philosophisch-kritischer  sinn  (kritisch  vor  allem  gegen 
sich  selbst!)  ist  aber  eine  überaus  wertvolle  ausstattung  für  den 
didaktiker.  er  läszt  ihn  in  der  kleinarbeit  des  lehrens  die  groszen 
ziele  nicht  verlieren;  bewirkt,  dasz  er  stets  herr  bleibt  über  den 
Stoff,  um  ihn  den  jeweiligen  subjectiven  bedürfnissen  der  lernen- 
den entsprechend  zu  gestalten ;  bewahrt  ihn  so  vor  versinken  in 
didaktischen  materialismus;  treibt  ihn  an,  bei  seiner  lehrthätigkeit 
sich  immer  wieder  zu  fragen:  hat  das,  was  ich  thue  und  wie  ich 
es  thue,  auch  zweck?  das  sicherste  gegeumittel  gegen  geistloses 
schabionisieren  und  mechanisieren  des  Unterrichts. 

Gegenüber  der  verkünstelung  und  Verweichlichung  des  Zeit- 
geschmacks weist  Quintilian  auf  die  natur  als  fübrerin  hin^^;  er 
bleibt  dabei  aber  weit  entfernt  von  aller  naturalistischen  roheit^';  er 
ahnt,  dasz  natur  und  kunst  keinen  absoluten  gegensatz  bilden, 
dasz  auch  die  kunst  natürlich  ist.^*  seine  leitsterne  sind  ihm  dabei 
utilitas  und  decor;  er  ist  überzeugt,  dasz  die  kunstregeln  der 
zweckmäszigkeit  ihren  Ursprung  verdanken",  und  dasz  diese  immer 
norm  für  ihre  befolgung  bleibt^';  ferner  weisz  er:  nihil  potest 
placere,  quod  non  decet.  "*  kommen  utilitas  und  decor  in  collision, 
so  hat  die  rücksicht  auf  das  schickliche  und  schöne  vorzugehend^; 
doch  sind  solche  collisionen  nach  seiner  ansieht  selten.^' 

Der  rhetorenschule  seiner  zeit  fehlt  nun  vor  allem  die  rücksicht 
auf  die  utilitas;  darum  polemisiert  er  gegen  einen  schulbetrieb,  der 
immer  mehr  die  fühlung  mit  dem  leben  verliert,  Selbstzweck  wird 
und  seine  schüler  fortdauernd  auf  dem  Schülerstandpunkt  festhält^-; 
er  hebt  hervor,  dasz  die  praktische  bethätigung  der  einzige 


5»  XII  10,  27  ff,  35-39.         s'  X  1,  46-131.         ^2  x  1,  -26. 

5^  XI  2,   16. 

=^  II  5,  10—12.   X  3,  15  ff.  7,  21.   XI  3,  57.   XII  10,  75  f. 

'=•1  IX  4,  3.   XI  3,  10  ff.         S6  XII  10,  40—48. 

='  II  13,  6  :  neque  enim  rogationibus  plebisve  scitis  sancta  sunt  ista 
praeeepta,  sed  hoc  quidquid  est  utilitas  excogitavit. 

58  II  13,  7  Tgl.  X  1,  7. 

=3  I  11,  11  vgl.  XI  1,  8  ff".  3,  177.  181;  ähnlich  Cic.  Or.  c.  21. 

^0  XI  1,  9  ff.         «1  XI  1,  8.  14. 

«2  II  10.   II  -20,  4.    XI  3,  57.    X  7,  4  u,  ö. 


170  A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

zweck  alles  lernens  und  übens  sei/^  so  sucht  er  in  reforma- 
torischem  sinne  auf  seine  zeit  einzuwii'ken ;  er  ist  ein  greis  mit 
jugendlicher  frische,  frei  von  jeglichem  gefühl  der  decadence  schreitet 
er  vorwärts;  bei  aller  Verehrung  der  meister  der  vorzeit,  Ciceros 
zumal,  bleibt  sein  blick  nicht  auf  die  Vergangenheit  geheftet:  der 
höhepunkt  der  kirnst  ist  noch  gar  nicht  erstiegen,  aber  er  wird 
erstiegen  werden,  im  Vollgefühl  seines  gebildeten  Zeitalters 
meint  er,  dasz  die  bedingungen  zur  Verwirklichung  des  rednerideals 
niemals  in  so  reichem  masze  erfüllt  gewesen  seien :  tot  nos  prae- 
ceptoribus,  tot  exeraplis  instruxit  antiquitas,  ut  possit  videri 
nulla  Sorte  nascendi  aetas  felicior  quam  nostra,  cui 
docendae  priores  elaborarunt.  *'  es  erinnert  an  den  Huttenschen  aus- 
ruf,  dasz  es  eine  lust  sei  zu  leben,  einen  ausruf,  den  man  von  einem 
Zeitgenossen  Domitians  im  allgemeinen  nicht  zu  hören  erwartet. 

Quintilians  hoffnung  hat  sich  als  eitel  erwiesen,  er  hat  nicht 
die  tiefgreifende  Veränderung  gewürdigt,  die  mit  der  errichtung  des 
kaisertums  eingetreten  war:  die  eigentlichen  lebeusbedingungen  für 
eine  blütezeit  der  redekunst  schwanden  immer  mehr  dahin,  er 
verkennt  auszerdem,  dasz  auch  das  Vorhandensein  günstiger  Zeit- 
umstände das  genie  selbst  nicht  hervorbringt;  sie  können  es  för- 
dern, seine  entfaltung  und  bethätigung  überhaupt  erst  ermöglichen, 
aber  das  genie  selbst  rausz  geboren  werden.  —  Das  jedoch  wird 
man  zugeben,  dasz  ein  lehr  er,  der  so  von  dem  zukunfts- 
sicheren gefühl  des  fortschritts  beseelt  ist,  unwillkür- 
lich seinen  Schülern  von  dem  schwung  und  dem  feuer 
seines  eignen  wesens  mitteilen,  sie  fortreiszen  und  be- 
geistern wird. 

Wir  dürfen  annehmen,  dasz  Quintilian  mit  den  bisher  be- 
zeichneten eigenschaften  einen  ausgeprägten  lehrtrieb  ver- 
band, er  hat  diesen  wohl  lebhaft  in  sich  empfunden  und  war 
sich  bewust,  wie  wertvoll  er  für  den  lehrer  sei;  denn  er  schlieszt 
den,  der  seiner  entbehrt,  geradezu  von  der  zahl  der  lehrer  aus.*^ 
er  fühlt  auch,  dasz  dieser  trieb  selbstlos  sein  musz,  dasz  der 
lehrer  sich  nicht  für  manche  geschäfte  zu  gut  und  zu  vornehm 
dünken  darf.^*  noch  im  alter  erscheint  ihm  die  fortführung  seiner 
lehrthätigkeit  in  den  engeren  grenzen  seines  privathauses  als  eine 
der  wünschenswertesten  beschäftigungen :  frequentabunt  vero  eius 
domum  optimi  iuvenes  more  veterum  et  veram  dicendi  viam  velut 
ex  oraculo  petent.  hos  ille  formabit  quasi  eloquentiae  parens  et  ut 
vetus  gubernator  litora  et  portus  et,  quae  tempestatum  signa,  quid 
secundis  flatibus,  quid  adversis  ratio  poscat,  docebit,  non  humani- 
tatis  solum  communi  ductus  officio,  sed  amore  quodam  operis. 


63  III  8,  70.   X  3,  30.  7.  2.   19.   XI  3,  23.  27.  29.       ' 

^*  XII  11,  23.     das    ganze  schluszcapitel  ist  übrigens  für  die  frohe 

lioffnung   auf   fortschritt,   die  Quintilian   beseelt,    sehr  charakteristisch. 

vgl.  I  prooem.  10.   I  10,  8. 

65  III  2,  5.         6"  II  1,  1-6.  13. 


A.  Messer:  Quintiliau  als  didaktiker.  171 

nemo  enim  minui  velit  id,  in  quo  maximus  fuit.  quid  porro  est 
honestius  quam  docere  quod  optima  scias?"  —  Macht  es 
nicht  den  eindruck,  als  sei  ihm  hier  mit  dem  bild  des  alternden 
orator  perfectus  sein  eignes  zusammengeflossen? 

Auf  eine  lange  praxis  zurückblickend  und  noch  immer  fest- 
haltend an  der  liebgewonnenen  beschäftigung  schreibt  er  sein  werk, 
die  fülle  eigner  erfahrung  und  die  frucht  theoretischer  studieu,  die 
er  zum  teil  eigens  für  sein  werk  angestellt  hat%  legt  er  darin  nieder, 
er  spricht  es  offen  aus,  dasz  er  seinen  Vorgängern  sehr  viel 
verdanke;  jedes  haschen  nach  Originalität  ist  ihm  fern:  cum 
reperto,  quod  est  Optimum,  qui  quaerit  aliud,  peius  velit *^*  (auch 
ein  beachtenswerter  grundsatz  für  den  didaktiker!). 

Er  will  nicht  sowohl  neues  ersinnen,  sondern  das  vorhandene 
beurteilen  und  daraus  auswählen,  ubicumque  ingenio  non  erit  locus, 
curae  testimonium  meruisse  contentus.  ^" 

Quintilian  ist  kein  irgendwie  bahnbrechender  geist, 
er  hat  aber  mit  selbständigem  urteil  und  mit  conser- 
vativem  sinn  das,  was  die  Wissenschaft  in  ihrer  seit- 
herigen entwicklung  ihm  bot,  erworben,  um  es  zu  be- 
sitzen, dabei  hat  er  sich  nicht  auf  sein  fach  beschränkt;  eine 
allseitigerebildung  zeigt  sich  nicht  nur  darin,  dasz  er'eine  solche 
für  den  redner  fordert,  sondern  auch  z.  b.  in  seinem  verständnis- 
vollen excurs  über  mal  er  ei  und  plastik  im  zwölften  buch";  er 
empfindet  selbst  tief  die  wii'kung  der  maierei  ''^ ;  er  hat  auch  einen 
feinen  sinn  für  das  musikalische."  —  Alles  dies  verleiht  seiner 
persönlichkeit  und  seinem  werke  etwas  harmonisches,  masz- 
V olles,  das  von  allem  extremen,  von  jeglicher  einseitigkeit  sich 
fernhält,  und  es  ist  gewis  nicht  zufällig,  dasz  er  die  behandlung  der 
eigentlichen  rhetorik  schlieszt  mit  der  mahnung:  similis  in  ceteris 
ratio  est  ac  tutissima  fere  per  medium  via,  quia  utriusque  ulti- 
mum Vitium  est.''^ 

2.  Es  soll  nunmehr  versucht  werden,  den  reichen  didakti- 
schen gehalt  der  institutio  nach  höheren  gesichtspunkten  geordnet 
zur  anschauung  zu  bringen;  dabei  werden  auch  die  verhältnismäszig 
wenigen,  aber  um  so  wertvolleren  pädagogischen  gedauken  ge- 
bührende beachtung  finden. 


"  XII  11,  5  f.        68  XII  11,  8.        f'9  II  15,  38. 

''"  III  1,  22.  über  sein  Verhältnis  zu  seinen  Vorgängern  spricht  er 
sich  aus:  I  pro.  2,  4—6.  23-25.  II  15,  37  ff.  III  1.  III  11,  21.  V  19,  59. 
14,  27—32.   XII  prooem.  3.  4.   XII  3,  2. 

"  XII  10,  3—8;  ein  ähnlicher  excurs  Cic.  Brut.  c.  18. 

'^  XI  3,  67:  nee  mirum,  si  ista  (die  gesten  des  redners),  quae  tarnen 
in  aliquo  posita  sunt  motu,  tantum  in  animis  valent,  cum  pictura, 
tacens  opus  et  habitus  seniper  eiusdem,  sie  in  intiraos  penetret  affectus, 
ut  ipsam  vim  dicendi  nonnumquam  superare  videatur.  ein  Zu- 
geständnis, das  im  munde  eines  rhetors  gewis  viel  besagt. 

"  IX  4,   116.   XI  4,  10  ff.         ^^  XII  10,  80  vgl.  Cic.  Or.  c.  22. 


172  A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

Da,  wo  Quintilian  von  dem  anfangsunterricht  in  der  schule 
spricht,  fordert  er  vom  lehrer  an  erster  stelle,  dasz  er  die  geistige 
Verfassung  der  schüler  zu  erkennen  suche/^  er  übersieht  also  die 
bedeutung  der  psychologie  für  didaktik  und  pädagogik  durchaus 
nicht,  er  macht  sie  freilich  nicht  in  der  weise  zum  ausgangspunkt, 
dasz  er  die  seele  des  schülers  in  den  mittelpunkt  stellte  und  unter- 
suchte ,  welche  bildungsstoffe  zu  einem  'vermehren,  heben,  vei'edeln 
der  intellectuellen  thätigkeit,  nähren  und  wachsenmachen  des  geistes' 
geeignet  und  deshalb  heranzuziehen  seien:  die  bildungsstoffe  viel- 
mehr sowie  das  bildungsziel,  zu  dessen  erreichung  sie  zu  dienen  haben, 
sind  ihm  von  vorn  herein  gegeben;  die  psychologie  soll  nur 
für  das  verfahren  beim  lehren  und  für  die  behandlung  des  zöglings 
normgebend  sein.'"  er  steht  dabei  ausgesprochenermaszen  auf  dem 
boden  der  empirischen  psychologie." 

Bezüglich  des  sinnlichen  Wahrnehmungsvermögens  be- 
merkt er,  dasz  die  ge sich ts eindrücke  schärfer  und  deutlicher  sind 
als  die  gehörsempfindungen.''^  ferner  erscheinen  als  psychische 
vermögen:  memoria  und  iudicium.  näher  spricht  er  sich  nur 
über  das  erstere  aus.  es  ist  im  frühen  kindesalter  allein  wirksam'*, 
aber  da  auch  am  zuverlässigsten  und  leistungsfähigsten,  deshalb 
musz  es  auch  auf  dieser  stufe  des  Unterrichts  fast  ausschlieszlich  be- 
rücksichtigt werden;  durch  Übung  läszt  es  sich  sehr  ausbilden.^"  da- 
durch, dasz  man  alles,  was  haften  soll,  aufschreibt,  kann  man  seine 
entwicklung  beeinträchtigen.*'  das  vermögen  der  memoria  äuszert 
sich  in  zweifacher  hinsieht:  eins  duplex  virtus,  facile  per- 
cipere  et  fideliter  continere.**  was  das  gedächtnis  im  engeren 
(uns  gewöhnlichen)  sinne  betrifft,  so  spricht  er  sich  ausführlich 
über  seine  ausbildung  im  zweiten  capitel  des  elften  buches  aus. 
er  erörtert  hier  auch  die  angeblich  auf  Simonides  zurückgehende 
mnemotechnik  (ars  memoriae)."^  er  bestimmt  ihr  wesen  dahin, 
dasz  dabei  die  einzelnen  teile  des  auswendig  zu  lernenden  Stoffes  in 
gedanken  verbunden  werden  mit  den  einzelnen  platzen  eines  wirk- 
lichen oder  gedachten  räumlichen  gebildes,  das  natürlich  dem  geiste 
ganz  plastisch  vorschweben  musz.  nutzen  erwartet  er  davon  nur 
dann,  wenn  lange  nameni^eihen  festzuhalten  sind,  für  die  einpiägung 
zusammenhängender  rede  empfiehlt  er  einfachere  mittel,  zunächst 
scharfes  hinrichten  des  geistes  (mentis  intentio)  auf  das  zu  lernende^*; 
ferner  den  stoff  zu  teilen,  aber  nicht  in  zu  kleine  teile;  das  locale 


«  I  3,  1.         '«  I  3,  6  f. 

"  I  12,  8.   III  2,  3.   XI  2,  4.  17.  43. 

^^  XI  2,  34.  durch  diese  beiden  sinne  dringen  nach  seiner  ansieht 
alle  affecte  in  die  seele.     XI  3,  14. 

'^  I  1,  19.         *o  I  19,  36.   XI  2. 

8'  X  6,  2.  7,  32  f.;  so  auch  Plato  Phaedrus  s.  274  f. 

62  I  3,  1.    XI  2,  3. 

''3  XI  2,  11—26.  auch  Cicero  spricht  darüber  de  er.  II  86  ff.  und 
Seneca  rhet,  contr.  I  praef. 

84  XI  2,  10. 


A.  Messer:  Quintiliau  als  didaktiker.  173 

gedächtnis  herbeizuziehen,  indem  man  das  geschriebene  in  seiner 
aufeinanderfolge  gewissermaszen  im  geiste  vor  sich  zu  sehen  strebt ; 
um  ablenkung  zu  verhüten,  das  einzuprägende  leise  vor  sich  hin  zu 
sagen ,  vor  allem  aber  die  rede  logisch  zu  disponieren,  er  weisz, 
dasz  die  gedächtniskraft  abhängig  ist  von  dem  jeweiligen  körper- 
lichen und  seelischen  befinden,  und  dasz  eine  dazvfischen  liegende 
nacht  beim  auswendiglernen  oft  wunder  wirkt,  fleiszige  Übung 
gilt  ihm  als  die  sicherste  'gedächtniskunst'.  darum  sollen 
die  Schüler  von  früh  an  viel  auswendig  lernen,  zunächst 
poetisches."  —  Wie  auf  dem  gebiete  des  gedächtnisses ,  so  weisz 
er  überhaupt  im  Seelenleben  die  bedeutung  der  Übung  und  ge- 
wöhn ung  gebührend  zu  würdigen. ^^  damit  hängt  zusammen,  dasz 
gewisse  thätigkeiten  zu  mechanisch  verlaufenden  werden,  wie 
er  das  bezüglich  des  lesens  und  des  ex  tempore  redens  nachweist.  ®^ 
er  ahnt  die  bedeutung  der  spräche  für  die  entwicklung  der  Ver- 
nunft, den  engen  Zusammenhang  zwischen  ratio  und  oratio.^* 
ebenso  entgeht  ihm  nicht  der  einflusz  des  willens  auf  die  intel- 
lectuellen  Vorgänge-**;  auch  unterscheidet  er  die  willkürliche  und 
die  unwillkürliche  aufmerksamkeit. ^'^ 

Selbstthätigkeit  ist  das  ziel  des  Unterrichts;  ein  wirksames 
mittel  sie  zu  wecken  ist  die  frage:  neque  solum  haec  ipse  debebit 
docere  praeceptor,  sed  frequenter  interrogare  et  iudicium  discipulo- 
rum  experiri.  sie  audientibus  securitas  aberit  nee,  quae  dicentur, 
superfluent  am-es,  siraulque  ad  id  perducentur,  quod  ex  hoc  quae- 
ritur,  ut  inveniant  ipsi  et  intelligant.  nam  quid  aliud  agi- 
mus  docendo  eos,  quam  ne  docendi  semper  sint. ^' 

Gute  beanlagung  sieht  er  als  das  normale  an;  dasz  der 
mensch  gelehrig  sei,  ist  ihm  so  natürlich  wie  dem  vogel  das  fliegen, 
dem  pferd  das  laufen,  dem  raubtier  die  Wildheit,  ungelehrige  sind 
ebenso  unnatürlich  und  ebenso  selten  wie  köi'perliche  misgeburten*^: 
eine  wohl  etwas  zu  optimistische  auffassung.  —  Dasz 'er  die  indivi- 
duelle Verschiedenheit  der  beanlagung  öfters  betont  %  will  an  sich 
noch  nicht  viel  besagen,  bedeutsamer  ist,  dasz  er  sie  für  die  behand- 
lung  der  schüler  und  das  lehrverfahren ^*  wie  auch  für  die  berufs- 
wahl^^  in  allererster  iinie  berücksichtigt  wissen  will,  dabei  weicht 
er  von  dem,  was  er  als  herschende  ansieht  bezeichnet,  in  einem 
punkte  ab:  jene  fordere,  dasz  der  einzelne  auch  innerhalb  des 


85  XI  2,  27-44. 

8«  I  1,  37.  2,  8.  11,  3.  III  1,  6.  es  wird  davon  in  anderem  Zu- 
sammenhang noch  ausführlicher  die  rede  sein. 

8^  I  1,  34.   X  7,  8—11.   XI  2,  8. 

88  II  16,  11—19.  20,  9. 

8^13,15:  ad  profectum  enim  opus  est  studio,  non  indignatione, 
I  3,  8  f.:  Studium  discendi  voluntate,  quae  cogi  non  potest, 
constat. 

8»  X  3,  23.  28  f.         »1  II  5,  13  vgl.  II  6,  6. 

^M  1,  1  f.   XI  2,  49.         93  I  1,  3.   I  3,  i_7.   II  8,  1. 

^*  I  3,  1—7.         96  II  8. 


174  A.  Messer:  Quintiliau  als  didaktiker. 

beruf s,  den  er  auf  grund  seiner  individualität  ergriffen,  haupt- 
sächlich nach  der  richtung  ausgebildet  werde,  in  der  seine  eigen- 
tümliche begabung  liege.  Quintilian  hält  dies  nur  bei  schwächer 
begabten  für  rätlich,  die  andernfalls  gar  nichts  leisten  würden,  wirk- 
liche talente  dagegen  will  er  möglichst  allseitig  ausgebildet  haben, 
so  dasz  z. b.  der  künftige  redner  in  allen  stilgattungen  geübt  werde, 
auch  in  denen ,  die  seiner  natur  an  sich  weniger  entsprechen.  — 
Woran  ist  aber  die  beanlagung  zu  erkennen?  das  haupt- 
kennzeichen  dafür  ist  bei  kindern  die  memoria,  die  sich  nach 
Quintilian  in  mühelosem  auffassen  und  treuem  behalten  bewährt; 
nächstdem  der  nachahmungstrieb,  der  sich  aber  nicht  im  nach- 
äffen von  äuszerlichkeiten,  um  dadurch  heiterkeit  zu  erregen,  äuszern 
darf,  nam  probus  quoque  in  primis  erit  ille  vere  ingeniosus,  alio- 
qui  non  peius  duxerim  tardi  esse  ingenii  quam  mali.  er  wünscht 
sich  Schüler,  die  leicht  auffassen,  auch  manches  von  selbst  erfragen, 
aber  doch  im  allgemeinen  mit  ihrem  denken  dem  lehrer  mehr  folgen 
als  voraneilen;  den  frühreifen  fehlt  meist  der  rechte  innere  ge- 
halt,  sie  leisten  später  nichts,  auch  eifer  zum  spiel,  das  ja  diesem 
alter  naturgemäsz  ist,  bezeugt  gute  beanlagung,  weil  seelische  frische 
(alacritas);  köpf  bänger  werden  meist  auch  bei  den  studien  ohne  feuer 
und  Schwung  sein,  übrigens  bietet  das  spiel  auch  die  beste  gelegen- 
heit  dazu,  die  beanlagung  nach  der  ethischen  seite  zu  erkennen."^ 
auch  zu  grosze  fülle  und  kühnheit  beim  sprechen  und  schreiben  ist 
ein  gutes  zeichen:  facile  remedium  est  ubertatis  ;  sterilia  nuUo  labore 
vincuntur.  ein  zu  zeitiges  vorwiegen  der  urteikskraft  verspricht 
weniger." 

Es  mag  hier  sofort  der  nachweis  sich  anschlieszen,  dasz  er 
auch  bei  der  dar  Stellung  der  bildungsarbeit  selbst 
häufig  die  psychologie  herbeizieht,  seine  hohe  meinung 
von  der  leistungsfähigkeit  des  menschlichen  geistes,  die  nicht  nur 
in  dem  glauben  an  die  durchschnittlich  gute  beanlagung,  sondern 
auch  sonst  hervortritt  "^  dient  ihm  als  grundlage  für  die  anforde- 
rungen,  die  er  in  bezug  auf  die  anzueignenden  bildungsstoffe  an  den 
redner  stellt,  er  hat  über  das  gleichzeitige  betreiben  mehrerer  unter- 
richtsgegenslände  im  zwölften  capitel  des  ersten  buches  manche  feine 
psychologische  bemerkung  gemacht,  der  menschliche  geist  ist  so  be- 
weglich, dasz  ein  völliges  concentrieren  desselben  auf  einen  punkt 
geradezu  unmöglich  ist;  man  wird  das  aber  auch  gar  nicht  an- 
streben, da  die  abwechslung  zugleich  erbolung  gewährt;  endlich 
würden  bei  successivem  betrieb  der  einzelnen  gegenstände  die 
früher  behandelten  nachher  wieder  in  Vergessenheit  geraten,  es  ist 
dabei  keine  überbürdung  zu  fürchten,  der  geist  ist  in  den  jungen 
Jahren  erstaunlich  gelehrig;  wie  viel  leistet  er  z.  b.  in  den  zwei 
Jahren  des  Sprechenlernens!    auch  der  umstand,  dasz  ersieh  noch 

^^  die  belege  für  das  vorhergehende  I  3,  1 — 13. 

"  II  4,  4—7.     dieselbe  ansieht  bei  Cic.  de  or.  II  21. 

98  I   12,  2.   XII  11,  10. 


A.Messer:  Quiutilian  als  didaktiker.  175 

vorzugsweise  receptiv  beim  Unterricht  verhält,  trägt  dazu  bei,  die 
ermüdung  zu  vermindern;  ebendarin  liegt  aber  noch  ein  weiterer 
grund,  die  einführung  in  die  so  zu  sagen  accessorischen  bildungs- 
stoffe  —  die  natürlich  nicht  in  derselben  ausdebnung  angeeignet 
werden  wie  das  bauptfach  —  in  die  frühere  zeit  zu  verlegen;  denn 
das  eigne  producieren,  das  in  den  späteren  jähren  in  den  Vorder- 
grund treten  musz,  ist  viel  zeitraubender  und  macht  schon  deshalb 
eine  gröszere  beschränkung  auf  das  bauptfach  nötig,  über  alle  dem 
übersieht  aber  Quintilian  nicht  die  notwendigkeit,  einer  wirklichen 
überbürdung  entgegenzuti-eten.  für  den  anfangsunterricht  musz 
gelten:  er  sei  spiel.^^  auch  in  dem  weiteren  verlauf  des  Unterrichts 
ist  immer  die  altersstufe  und  das  verschiedene  masz  des  könnens 
zu  berücksichtigen.  '"^  vor  allem  aber  sind  die  Studien  stets  durch 
erholungsfristen ,  die  zweckmäszig  mit  spiel  ausgefüllt  werden,  zu 
unterbrechen,  bezüglich  ihrer  ausdebnung  gibt  er  die  bündige  regel: 
modus  tamen  sit  remissionibus ,  ne  aut  odium  studiorum  faciant 
negatae  aut  otii  consuetudinem  nimiae.  von  spielen  wird  erwähnt 
das  den  Scharfsinn  übende  lösen  von  quastiunculae.  wenn  Quintilian 
lediglich  dies  hervorhebt,  so  will  er  damit,  wie  der  Wortlaut  der 
stelle  beweist"",  andere  mehr  den  körper  in  anspruch  nehmende 
spiele  nicht  ausschlieszen,  aber  es  ist  doch  bezeichnend,  dasz  er 
gerade  dies  nennt,  alle  berücksichtigung  des  körperlichen 
factors  hat  bei  ihm  lediglich  den  zweck,  dem  geiste  erholung 
und  erfrischung  zu  bieten;  auch  das  betreiben  palästrischer  Übungen 
soll  nur  der  ausbildung  des  rednerischen  gestus  dienen;  er  empfiehlt 
sie  nicht  ohne  eine  tadelnde  bemerkung  über  die,  qui  corporum  cura 
mentem  obruerunt. '"•  der  gedanke  einer  gleichmäszigen 
ausbildung  von  geist  und  körper  tritt  nirgends  hervor; 
freilich  zeigen  mehrere  stellen,  dasz  er  die  bedeutung  der  körper- 
lichen gesundheit  für  den  normalen  verlauf  der  psychischen  thätig- 
keit  und  für  die  leistungsfähigkeit  überhaupt  nicht  verkennt.  '"^ 

Ebenfalls  unter  berücksichtigung  psychologischer  gesichts- 
punkte  erörtert  Quintilian  die  frage,  ob  haus-  oder  schul- 
erziehung  vorzuziehen  sei.'"*  er  entscheidet  sich  für  die  letztere; 
die  positiven  gründe,  die  er  dafür  vorführt,  sind  alle  psycho- 
logischer natur.  der  Schulbesuch  entwöhnt  von  der  natürlichen 
Schüchternheit  und  befangenheit ,  anderseits  verhütet  er  Selbstüber- 
schätzung, da  die  leistungen  vieler  in  der  schule  den  vergleich  mög- 
lich machen,  er  macht  schulfreundschaften  möglich,  quae  ad  senectu- 
tem  usque  firmissime  durant  religiosa  quadam  necessitudine  imbutae. 
neque  enim  est  sanctius  sacris  iisdem  quam  studiis  initiari.  ferner 
erwirbt   man    den   sensus   communis  nur  im   zusammenleben   mit 


ä»  I  1,  20:  lusus  hie  sit.         '"«  II  4,  U.  6,  5.   X  5,  1. 
'"•  I  3,  11:    sunt    etiam    nonnulli    acuendis    puerorum  ingeniis  non 
inutiles  lusus.     für  das  übrige  vgl.  §  8—13. 
'«2  I  11,  15-19. 
'»3  X  3,  26  f.  31.    XI  2,  35.  3,   19—29.         ">^  I  2. 


176  A.Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

andern,  nur  die  schule  gibt  die  möglichkeit,  ebrgeiz  und  Wetteifer 
zu  entfachen,  und  auf  der  untersten  stufe,  wo  diese  noch  nicht  wirk- 
sam sind,  bietet  sie  den  vorteil,  dasz  die  schüler  an  fortgeschritteneren 
mitschülern  wirksamere,  weil  leichter  zu  erreichende  muster  für  die 
nachahmung  haben  als  am  lehrer.  endlich  noch  ein  i3sychologischer 
grund,  der  für  den  lehrer,  speciell  den  rede  lehrer  gilt:  eine 
gröszere  anzahl  von  schülern  bringt  den  lehrer  mehr  in  Stimmung 
und  in  schwung  als  ein  einzelner. 

A-Uch  bei  der  besprechung  des  Verfahrens  in  der  schule 
und  der  behandlung  der  schüler  wird  nicht  nur,  wie  schon 
erwähnt,  im  allgemeinen,  sondern  auch  im  einzelnen  auf  psycho- 
logische erwägungen  zurückgegriffen,  dieselbe  wird,  insoweit  sie 
hauptsächlich  auf  den  willen  des  zöglings  einzuwirken  hat  (eine 
ganz  reinliche  Scheidung  des  intellectuellen  und  ethischen  ist  hier 
natürlich  nicht  möglich)  weiter  unten  zur  darstellung  kommen; 
hier  sei  nur  erwähnt,  dasz  Quintilian  psychologische  begründung 
gibt  für  den  gebrauch  der  frage  '"^  für  die  art  der  aufgabenstellung '"^ 
und  ihrer  correctur"'^,  für  die  l^ebandlung  der  schreibübungen'"- 
und  des  auswendiglernens.'"^ 

Besondere  aufmerksamkeit  widmet  Quintilian  den  bei  der 
bildungsarbeit  im  ganzen  in  betracht  kommenden  factoren  natura, 
exercitatio  (oder  Studium)  und  ars  (oder  doctrina,  disciplina, 
cura,  worunter  er  auch  die  imitatio  begreift).""  es  wird  sich  ver- 
lohnen, seine  ansichten  darüber  etwas  eingehender  zu  betrachten.'" 

'05  II  5,   13.         '06  ij  6,         107  n  4,  10—14.         "«  x  S,  22  ff. 

'°^  II  7.  vieles,  was  Quintilian  über  die  zuletzt  erwähnten  punkte 
sagt,  ist  auch  heute  noch  lesens-  und  beherzigenswert,  z.  b.  was  er 
bemerkt  über  die  vom  lelirer  zu  gebende  anleitung  zur  anfertigung  der 
aufgaben ,  über  die  art  der  correctur  bei  den  ersten  versuchen  eigner 
production,  die  etwa  unsern  aufsätzen  entsprechen:  nee  illud  quod  ad- 
moneamus  indignum  est  ingenia  puerorum  nimia  interim  emendationis 
severitate  deficere;  nam  et  desperant  et  dolent  et  novissime  oderunt, 
et,  quod  maxime  nocet,  dum  omuia  timent,  nihil  conantur.  feine  psycho- 
logische bemerkungen,  die  aber  über  das  didaktische  gebiet  hinaus- 
reichen, finden  sich  auszerdem  IV  3,  10.  V  12,  3.  VI  1,  29.  X  3,  33.  6,  5. 
XI  1,  15—17.  38  ff.  3,   1—5.   14.  61.   XII  5.  2—4. 

"0  schon  bei  Aristoteles  finden  wir  sie  in  bezug  auf  das  ethische 
gebiet,  allerdings  in  einer  zum  teil  etwas  abweichenden  bedeutung,  als 
<pOcic,  ^Goc,  Xöfoc  angegeben,     pol.  VII  12. 

'"  vieles  wird  sich  hier  mit  geringen  modificationen  von  der 
red  nerbildung  auf  die  leh  rerbildung  übertragen  lassen:  auch  beim 
lehrer  müssen  anläge,  theoretische  bildung  mit  nachahmung  und  Übung 
zusammenwirken;  wie  das  reden,  so  soll  auch  das  lehren  und  erziehen 
durch  Wissenschaft  von  bloszer  routine  zur  kun  st  Übung  erhoben  wer- 
den; wie  der  redner,  so  hat  auch  der  lehrer  auf  menschen  einzuwirken, 
jener  freilich  auf  erwachsene,  dieser  auf  heranwachsen<le;  auch  zu  den 
aufgaben  des  lehrers  gehört  das  docere,  movere  und  delectare,  auch  für 
ihn  läszt  sich  ein  capitel  de  affectibus  und  de  risu  (über  witz  und 
humor)  schreiben ;  auch  er  wirkt  —  fast  noch  mehr  als  der  redner  — 
mit  seiner  ganzen  persönlichkeit  und  bedarf  deshalb  als  sicherer 
grundlage  seiner  Wirksamkeit  einer  sittlichen  durchbildung:  wie  der 
redner,  so  niusz  auch  der  lehrer  vor  allem  ein  vir  bonus  sein. 


A.Messer:  Qnintiliau  als  didaktiker.  177 

in  der  regel  treten  diese  drei  momente  cor respondierend  auf. 
wie  sie  bei  der  historischen  entwicklung  der  beredsamkeit  zusammen- 
gewirkt haben"',  so  müssen  sie  auch  iDei  der  ausbildung  zum  redner 
zusammenwirken:  facultas  orandi  consummatur  natura,  arte,  exer- 
citatione,  cui  partem  quartam  adiiciunt  quidam  imitationis,  quam 
DOS  arti  subiicimus.'"  eine  gewisse  naturanlage  musz  vorhanden 
sein,  sonst  bleibt  alle  Unterweisung  vergeblich,  anderseits  kann 
durch  eifer  und  Übung  mancher  mangel  in  der  begabung  aus- 
geglichen werden."^  wenn  ferner  auch  pi-axis  ohne  theorie  mehr 
wert  ist  als  theorie  ohne  praxis "'',  so  genügen  doch  natura  und 
exercitatio  allein  nicht,  sondern  die  doctrina  musz  hinzukommen."® 
auf  die  frage  endlich,  naturane  plus  eloquentiam  conferat  an 
doctrina"^,  antwortet  er:  si  parti  utrilibet  omnino  alteram  detrahas, 
natura  etiam  sine  doctrina  raultum  valebit,  doctrina  nulla  esse  sine 
natura  poterit.  sin  ex  pari  coeant:  in  mediocribus  quidem  utrisque 
maius  adhuc  credam  naturae  esse  momentum,  consummatos  autem 
plus  doctrinae  debere  quam  naturae,  putabo. 

Auf  das  Verhältnis  dieser  drei  factoren  zu  einander  wird  auch 
im  einzelnen  vielfach  aufmerksam  gemacht,  so  bei  der  ausbildung 
des  gedächtnisses,  des  rednerischen  Vortrags,  des  extemporierens, 
bei  den  schreibübungen,  bei  der  kunst  der  Wortfügung."^ 

Was  nun  die  natura  für  sich  allein  betrifft,  so  hebt  doch 
Quintilian  manche  punkte  hervor,  in  denen  sie  fast  allein  in  be- 
tracht  kommt:  sie  musz  eben  manches  bieten ,  zu  dem  ars  und  exer- 
citatio fast  nichts  hinzuthun,  und  das  sie  noch  viel  weniger 
ersetzen  können;  an  andern  punkten  bezeichnet  er  genauer,  in 
■welchem  grade  die  anläge  vorhanden  sein  musz,  um  der  lehre 
und  Übung  die  nötige  unterläge  zu  geben,  so  können  z.  b.  körper- 
liche erscheinung  und  stimme  derart  ungeeignet  und  unzulänglich 
sein,  dasz  alle  Unterweisung  verschwendet  wäre"^;  ebenso  musz  eine 


"2  III  2,  1:  nam  cui  dubium  est,  quin  sermonem  ab  ipsa  rerum 
natura  geniti  protinus  homines  acceperint  (quod  certe  principium  est 
eius  rei)  huic  Studium  et  incrementum  dederit  utilitas,  summam  ratio 
et  exercitatio?  ...  §  3:  initium  ergo  dicendi  dedit  natura,  initium  artis 
observatio  .  .  .  haec  (sc.  observata)  confirmata  sunt  usu.  tum  quae  sciebat 
quisque  docuit. 

"3  III  5,  1.  der  Wortlaut  der  stelle  beweist,  dasz  auch  die  Quintilian 
vorliegende  litteratnr  diese  frage  reicblich  erörtert  hatte,  ferner  ist  zu 
vergleichen  I  prooem.  26.  27. 

''*  I  prooem.  26.   I  1,  3. 

**5  XII  6,  4:  plusque,  si  separes,  usus  sine  doctrina  quam  citra  usum 
doctrina  valet. 

"^  Quintilian  spricht  über  diesen  punkt  sehr  ausführlich  II  11 — 18. 
II  17. 

**^  II  19.  dabei  ist  wohl  die  exercitatio  unter  doctrina  mit  ein- 
begriffen zu  denken,  er  vergiszt  auch  nicht  hervorzuheben,  dasz  natura 
und  ars  keine  schroffen'  gegensätze  sind:  omnia  quae  ars  consummaverit, 
a  natura  initia  duxisse  II   17,  7. 

'•«  XI  2,  1.  9.  XI  3,  n.  19.  X  5,  7  f.  vgl.  X  7,  18.  X  3,  15.  IX  4, 
3—19.  119  f.         119  XI  3,  12  f. 

N.jahrb.  f.  phil.  u.  päd.  II.  abl.  1897  hft.4u.  5.  12 


178  A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

gewisse  leistungsfähigkeit  des  gedächtnisses,  zu  dessen  ausbildung 
ja  die  Übung  so  viel  thun  kann,  schon  von  natur  gegeben,  andern- 
falls mag  statt  des  rednerberufs  lieber  der  des  Schriftstellers  er- 
griffen werden.  '^°  ja  gerade  die  wichtigsten  eigenschaften  des 
redners  sind  durch  lehre  und  nachahmung  nicht  zu  übertragen: 
adde  quod  ea,  quae  in  oratore  maxima  sunt,  imitabilia  non 
sunt,  Ingenium,  inventio,  vis,  facilitas  etquidquid  arte 
non  traditur. "''  dahin  gehört  auch  die  animi  praestantia, 
quam  nee  metus  frangat  nee  acclamatio  terreat  nee  audientium  aucto- 
ritas  ultra  debitam  reverentiam  tardet. '■*  bei  der  actio  leistet  die 
natura  das  meiste.''^  wo  die  kunstregeln  versagen,  da  musz  ein 
natürliches  gefühl  für  das  geziemende  uns  leiten,  dieses 
taktgefühl  ist  in  seinem  wesen  nichts  anderes  als  eine  noch 
mehr  in  der  region  des  fühlens  liegende  stufe  des  iudicium  oder 
consilium,  dessen  Wichtigkeit  Quintilian  nicht  nach- 
drücklich genug  betonen  kann.  ''*  er  sagt  zwar  nirgends  aus- 
drücklich, dasz  es  lediglich  auf  der  natura  beruhe,  aber  er  scheint 
dies,  worauf  der  Wortlaut  der  in  betracht  kommenden  stellen  hin- 
deutet, als  selbstverständlich  vorauszusetzen,  dabei  wird  er  nicht 
verkannt  haben,  dasz  es  durch  bethätigung  sich  entwickeln  und  ver- 
feinern kann. 

Was  den  zweiten  factor,  die  ars,  betrifft,  so  erörtert  Quin- 
tilian im  17n  capitel  des  2n  buches  ausführlich,  inwiefern  die  rhetorik 


>2«  XI  2,  49.         '2'  X  2,  12. 

1*2  XII  5,  1.  vgl.  §  2:  citra  coustantiam,  fiduciam,  fortitudinem  nihil 
ars,  nihil  Studium,  nihil  profectus  ipse  profuerit.  sie  musz  also  von 
natur  gegeben  sein.         '"  XI  3,  11. 

^^^  I  7,  30.  II  13,  2.  III  3  (wo  er  sich  dagegen  erklärt,  mit  Cicero 
u.  a.  das  indicium  als  besondern  teil  neben  der  inventio  aufzuführen, 
weil  dasselbe  in  allen  partes  oratoriae  zur  geltung  komme),  im  ein- 
zelnen wird  die  notwendigkeit  der  Urteilskraft  oder  des  taktgefühls  be- 
tont für  die  Wortwahl  X  1,  6.  8,  für  die  Orthographie  I  7,  30,  für  das 
schreiben  X  3,  5.  7,  für  die  lectüre  und  imitation  X  1,  26.  36.  40.  X  2,  3.  14-. 
dieselbe  eigenschaft  ist  wohl  gemeint  mit  dem  ausdruck  acumen  VI  4,  13: 
valet  autem  in  altercatione  plurimum  acumen,  quod  sine  dubio  ex  arte 
non  venit;  natura  enim  non  docetur,  arte  tamen  adiuvatur.  —  Eine  inter- 
essante parallele  hierzu  bieten  die  bemerkungen  Kants  über  die  Ur- 
teilskraft in  der  'kritik  der  reinen  Vernunft'  (elementarlehre  II  teil 
I  abt.  II  buch  s.  139  der  ausgäbe  von  Kehrbach),  er  definiert  die  Ur- 
teilskraft als  'das  vermögen  unter  regeln  zu  subsumieren,  d.  i.  zu 
unterscheiden,  ob  etwas  unter  einer  gegebenen  regel  (casus  datae  legis) 
stehe,  oder  nicht'  .  .  .  aucli  Kant  betont,  dasz  es  hier  fast  völlig  auf 
die  natur  anläge  ankomme,  'wollte  sie  (die  logik)  nun  allgemein  zeigen, 
wie  man  unter  diese  regeln  subsumieren,  d.  i.  unterscheiden  sollte,  ob 
etwas  darunter  stehe  oder  nicht,  so  könnte  dieses  nicht  anders,  als 
wieder  durch  eine  regel  geschehen,  diese  aber  erfordert  eben  darum, 
weil  sie  eine  regel  ist,  aufs  neue  eine  Unterweisung  der  Urteilskraft; 
und  so  zeigt  sich,  dasz  zwar  der  verstand  einer  belehrung  und  aus- 
rüstung  durch  regeln  fähig,  Urteilskraft  aber  ein  besonderes  talent 
sei,  welches  gar  nicht  belehrt,  sondern  nur  geübt  sein  will,  daher  ist 
diese  auch  das  specitische  des  sogenannten  mutterwitzes,  dessen 
mangel  keine  schuMf^ersetzen  kann'  usw. 


A.Messer:  Quintiliaa  als  diclaktiker.  179 

als  eine  solche  bezeichnet  werden  könne.  —  In  der  bildungsarbeit 
tritt  sie  dem  schüler  zunächst  verkörpert  entgegen  im  lehrer. '" 
die  trefflichsten  lehrer  sind  zu  wählen  und  auch  in  bezug  auf 
den  inhalt  der  doctrina,  denlehrstoff,  gilt,  dasz  das  beste  gerade 
gut  genug  sei. '^®  der  lehrer  kann  durch  das  lehrbuch  nicht  er- 
setzt werden,  noch  auch  durch  muster,  die  in  der  littei'atur  vorliegen, 
bezüglich  des  letzteren  punktes  erinnert  er  an  das  Sprichwort:  viva 
illa  vox  alit  plenius  ^"  und  bezüglich  des  ersteren  ist  zu  beachten, 
dasz  er  bemerkt,  nur  der  künstler  könne  an  den  vorhandenen  kunst- 
werken  die  ars  nachweisen ,  da  diese  als  solche  nicht  hervortreten 
darf. '^'^  es  genügt  also  wahrhaftig  nicht,  ein  kurzes  lehrbuch  aus- 
wendig zu  lernen. '^^  —  Die  ars  ist  aus  der  observatio  entstanden 
und  zwar  der  des  nützlichen  und  schicklichen;  utilitas 
und  decor  bleiben  darum  auch  stets  für  befolgung  oder 
nich  tbefolgung  der  kunstregeln  maszgebend. ''"  —  Zur 
ars  musz  die  imitatio  hinzukommen,  wie  die  beispiele  zur  regel; 
sein  grundsatz  ist  dabei:  in  omnibus  fere  minus  valent  praecepta 
quam  experimenta.  '^'  über  die  imitatio  hat  er  sich  im  zweiten  capitel 
des  zehnten  buches  in  überaus  feinsinniger  weise  ausgesprochen,  nur 
einige  hauptgedanken  mögen  daraus  hervorgehoben  werden,  im 
übrigen  mag  auf  die  lectüre  dieses  auch  heute  noch  sehr  lesens- 
werten abschnitts  verwiesen  werden,  die  nachahmung  allein  ge- 
nügt nicht;  denn  bei  bloszer  nachahmung  wäre  es  nie  zu  einem 
fortschritt  gekommen,  oft  ist  es  leichter,  mehr  zu  leisten  als 
genau  das  nämliche;  ja  die  copie  ist  notwendig  dem  original 
gegenüber  minderwertig;  vieles  und  gerade  das  beste  ist  überhaupt 
unnachahmlich,  mit  sorgfältigem  urteil  sind  die  muster  zu 
wählen  und  das  festzustellen,  worin  wir  uns  nach  ihnen  richten 
wollen,  nicht  auf  äuszerlichkeiten  darf  sich  die  nachahmung  be- 
schränken, manche  glaubten  Cicero  ähnlich  zu  sein,  wenn  sie  ihre 
Perioden  oft  mit  esse  videatur  schlössen,  beherzige  jeder  bei  der 
nachahmung  seine  kraft  und  seine  Individualität;  berücksichtige  er 
die  eigentümlichen  gesetze  des  gerade  behandelten  Stoffes !  endlich 
gilt  der  grundsatz:  non  qui  maxime  imitandus  et  solus  imitandus  est. 

Die  exercitatio  nennt  Quintilian  geradezu  potentissimum 
discendi  genus.  '^-  auch  ihre  Wirksamkeit  wird  auf  den  verschiedenen, 
gebieten  im  einzelnen  nachgewiesen.'^^ 

Dieselben  drei  factoren  haben  auch  ihre  geltung  auf  dem  ethi- 
schen gebiet.    Quintilian  hat  übrigens  die  erziehung,  wiewohl 

'*5  derselbe  wird  geradezu  an  stelle  der  ars  genannt  z.  b.  I  pro.  27: 
haec  ipsa  (sc.  bona  ingenii)  sine  doctore  perito,  studio  pertinaci 
.  .  .  per  se  nihil  prosunt. 

126  I  1,   10.   11.  '2'   II  2,  8.  »25  II  5^   7     I   11^  3  f. 

'29  II  13,  15.         'SO  XI  2,  17.   II  13,  6—8. 

13'  II  5,  16  vgl.  XII  2,  70.         132  11  17,  12. 

'33  fijj.  ^jig  ]esen,  schreiben  und  reden  I  pro.  27,  das  meditieren 
X  7,  25  f.,  das  extemporieren  X  7,  24,  für  die  ausbildung  des  gedächt- 
nisses  XI  2,  1.  9.  36.  40. 

12* 


180  A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

er  dem  sittlichen  den  höchsten  wert  beimiszt,  nicht  eigens  be- 
handelt, sondern  sie  nur,  was  ja  der  stoff  mit  sich  brachte,  ge- 
legentlich gestreift,  also  auch  die  sittliche  bildung  beruht  auf  natur- 
anlage,  gewöhnung  und  Übung  und  einsieht,  wenn  er  sagt:  virtus 
etiamsi  quosdam  impetus  ex  natura  sumit,  tamen  perficienda 
doctrina  est'^\  so  will  er  damit  natürlich  den  gewissermaszen 
zwischen  der  ethischen  anläge  und  der  den  abschlusz  bildenden 
sittlichen  einsieht  stehenden  factor  der  gewöhnung  nicht 
ausschlieszen.  er  fordert  vielmehr  wiederholt,  dasz  die  erziehung 
schon  von  den  ersten  jähren  an  beginne,  also  von  einer  zeit  an,  in 
der  es  sich  nicht  um  sittliche  einsieht,  sondern  nur  um  gewöhnung 
handeln  kann,  er  tadelt  aufs  schärfste  die  verweichlichte  erziehung 
seiner  zeit ,  die  die  kinder  noch  ehe  sie  recht  sprechen  können  an 
ausschweifende  luxusbedürfnisse  gewöhnt,  die  ihre  unarten  mit 
küssen  belohnt,  die  das  unsittliche  treiben  des  elterlichen  hauses 
ihren  äugen  und  obren  nicht  entzieht:  fit  ex  bis  consuetudo,  deinde 
natura,  discunt  haec  miseri,  antequam  sciant  vitia  esse;  inde  soluti 
ac  fluentes  non  accipiunt  ex  scholis  mala  ista,  sed  in  scholas  aflferunt.  '^^ 
die  sittliche  gewöhnung  in  den  frühsten  kinderjahren  ist  um  so 
wichtiger,  als  dann  noch  die  seele  bildungsfähig  ist;  später  aber  er- 
starrt sie  gewissermaszen  und  ist  für  einwirkungen  schwer  zugäng- 
lich:  tum  vel  maxime  formanda,  cum  simulandi  nescia  est  et  prae- 
cipientibus  facillime  cedit,  frangas  enim  citius  quam  corrigas,  quae 
in  pravum  induruerunt. ''^  die  angeführten  stellen  beweisen,  dasz 
er  die  Wichtigkeit  der  gewöhnung  und  Übung  auf  dem  ethi- 
schen gebiete  durchaus  nicht  unterschätzt,  auch  hier  gilt  ferner 
der  grundsatz,  dasz  beispiele  wirksamer  sind  als  lehren'";  auch  hier 
hat  also  die  imitatio  ihre  stelle,  von  der  das  wort  gilt:  frequens 
imitatio  transit  in  mores.  '^~ 

Bezüglich  des  einflusses  der  natura  auf  ethischem  gebiete 
finden  sich  bei  Quintilian  äuszerungen ,  die  nicht  ganz  im  einklang 
stehen:  einerseits  wird  constatiert,  dasz  die  mehrzahl  der  menschen, 
vor  allem  die  Jugend  von  natur  mehr  zum  schlechten  und  verkehrten 
neigt;  anderseits  läszt  die  erwägung,  dasz  das  gute  doch  das  natur- 
gemäsze  sei,  dasselbe  als  das  näherliegende  und  leichtere  erscheinen.  '^' 
dieser  Widerspruch  erklärt  sich  wohl  so,  dasz  Quintilian  bezüglich 
des  ethischen  nicht  wie  bei  dem  intellectuellen  ganz 
auf  dem  boden  der  empirie  bleibt;  er  betont  vielmehr  die 
metaphysische  grundlage  der  ethik ''"',  der  malus  ist  ihm  wie  den 

"<  XII  2,  1.        »••'5  I  2,  6—8.         '^«  I  3,  12  f. 

'"  XII  2,  30.         '^^  I  11,  3. 

'3^  ersteres  I  1,  5.  2,  2.  6,  44,  letzteres  I  12,  18.  XII  11,  11—13,  wo 
er  geradezu  sagt:  natura  enim  nos  ad  mentem  optimam  genuit,  adeoque 
discere  meliora  volentibus  promptum  est,  ut  vere  intuenti  mir  um  sit 
illud  magis,  malos  esse  tam  multos.  nam  ut  aqua  piseibus,  ut 
sicca  terrenis,  circumfusus  nobis  Spiritus  volucribus  convenit;  ita  certe 
facilius  esse  oportebat  secuudum  naturam  quam  contra  eam 
vivere.         '^o  XII  2,  20  f. 


A.Messer:  Quintilian  als  didaktiker.  181 

Stoikern  der  stultus,  der  bonus  der  prudens'^',  und  wie  jenen  ist 
ihna  das  gute  identisch  mit  dem  naturgemäszen  (wobei  denn  freilich 
nicht  recht  abzusehen  ist,  warum  so  wenige  menschen  ihrer  natur 
gemäsz  handeln).''*'^  dem  gegenüber  kommt  bei  ihm  aber  doch  auch 
die  der  erfahrung  sich  aufdrängende  thatsache  zur  geltung,  dasz 
so  viele,  zumal  in  jungen  jähren,  an  dem  schlechten  gefallen  finden.  "^ 
In  das  ethische  gebiet  fällt  auch  die  behandlung  des  Schülers, 
der  Quintilian  eine  besondere  aufmerksamkeit  gewidmet  hat.  masz- 
gebender  grundsatz  ist  ihm,  dasz  der  wille,  auf  dem  auch  das 
Studium  discendi  beruht'**,  nicht  gezwungen  werden  kann."^ 
darum  müssen  ihm  alle  Zwangsmittel  beim  Unterricht,  vor  allem  die 
körperliche  Züchtigung  als  ungeeignet  erscheinen,  die  gründe, 
die  er  dagegen  anführt,  sind  folgende :  sie  ist  etwas  häszliches,  passt 
besser  für  sklaven  und  ist  eigentlich  eine  iniuria;  wo  vorwürfe  nichts 
fruchten,  da  hilft  sie  auch  nichts;  sie  wird  meist  überflüssig  sein, 
wenn  die  paedagogi  die  schüler  zu  den  Studien  anhalten;  bei  er- 
wachseneren, an  die  doch  weit  höhere  anforderungen  gestellt  werden, 
musz  man  ja  auch  ohne  sie  auskommen*,  sie  kann  anlasz  bieten  für 
die  schüler  zu  niederdrückender  beschämung,  für  die  lehrer  zu  mis- 
brauch  ihres  rechtes  gegenüber  dem  wehrlosen  alter."®  —  Welche 
motive  und  Interessen  sollen  aber  nun  den  schüler  in  be- 
wegung  setzen?  vor  allem  soll  der  Unterricht  möglichst  angenehm 
gemacht  werden,  er  soll  im  anfang  überhaupt  nur  spiel  sein;  durch 
spielen  mit  elfenbeineren  buchstaben  (id  quod  est  notum:  also  kein 
origineller  gedanke  Quintilians!)  sollen  die  kinder  die  formen  der- 
selben kennen  lernen;  spielend  sollen  sie  ausgewählte  Sprüche  und 
stellen  besonders  aus  dichtem  (namque  eorum  cognitio  parvis  gra- 
tior  est)  dem  gedächtnisse  einprägen.'"''  möglichst  angenehm 
sollen  die  Übungen  in  der  rhetorenschule  sein '*^;  angenehm  der 
lehrer  zumal  bei  der  besprechung  der  eingereichten  arbeiten'*^;  und 
weil  die  kritik  der  eignen  productionen  anzuhören  den  schülern 
weniger   angenehm    sei,    so   wird   auch    empfohlen,    reden  älterer 


"1  XII  1,  3  ff.  30.  >^2  V  10,  34  vgl.  XII  11,  29. 

^*^  anch  das  erwähnt  er,  dasz  die  charakteranlage  durch  die  der 
eitern  und  die  der  ganzen  natiou  bedingt  sei.     V  10,  24. 

^**  lediglich  darauf  kommt  es  Quintilian  an;  die  scliulzucht,  soweit 
ßie  den  schüler  zum  guten  überhaupt  anleiten  und  vor  dem  bösen  be- 
wahren soll,  hat  er  wie  die  erziehung  überhaupt  nicht  speciell  in  den 
bereich  seiner  erörterungen  gezogen. 

'^^  I  3,  8  f.:  Studium  discendi  voluntate,  quae  cogi  non  potest  constat. 

i<6  der  Wortlaut  der  stelle  erweckt  den  eindruck,  als  ob  Quintilian 
hier  hauptsächlich  an  Züchtigung  wegen  mangelhafter  bethätigung  im 
Unterricht  denke,  die  frage,  ob  sie  etwa  gegenüber  sittlichen  verstöszen 
und  gebrechen  am  platze  sei,  scheint  ihm  als  eine  besondere  und  von 
der  vorigen  zu  trennende  nicht  zum  bewustsein  gekommen  zu  sein,  sie 
mochte  wie  die  sittliche  erziehung  überhaupt  ihm  (wie  auch  wohl  der 
schale  seiner  zeit)  ferner  liegen. 

1"  I  1,  20.   I  1,  26.    I  1,  36. 

»s  II  4,  5.  26.    II  10,  5.  '"  II  4,  12. 


182  A.Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

autoren  kritisch  zu  besprechen:  aliena  enim  vitia reprehendi  quisque 
mavult  quam  sua. ''""  Cicero  wird  an  den  anfang  der  prosalectüre 
gestellt,  weil  er  leicht  ist  und  für  die  schüler  angenehm.  Quintilian 
gesteht,  dasz  er  selbst  den  gesichtspunkt  des  angenehmen  bei  ab- 
fassung  seiner  institutio  beobachtet  habe :  .  .  .  admiscere  temptavi- 
mus  aliquid  nitoris  .  .  .  ut  hoc  ipso  alliceremus  magis  iuventutem 
ad  cognitionem  eoinim,  quae  necessaria  studiis  arbitrabamur,  si  ducti 
iucunditate  aliqua  lectionis  libentius  discerent.'^' 

Ferner  sollen  antreibend  wirken  bitten,  belohnungen,  lob'-*, 
hoffnung'"',  die  triebartige  nachahmung  (besonders  bei  den  kleinen'^*) 
und  am  mächtigsten  der  ehrgeiz).  um  ihn  zu  entfachen,  ist  von 
belobung,  location,  certieren  reichlicher  gebrauch  zu  machen ;  masz- 
gebend  ist  dabei  der  satz:  licet  ipsa  vitium  sit  ambitio,  frequenter 
tamen  causa  virtutum  est.  '^°  endlich  übersieht  er  auch  nicht  ein 
weit  feineres  motiv:  die  liebe  zum  lehrer'"®,  neben  der  die  liebe  zur 
Wissenschaft  und  zum  Studium  mehr  als  pflicht  gefordert,  denn  als 
thatsächliches,  triebartig  wirkendes  motiv  constatiert  wird. '^^ 

Wenn  Quintilian  das  ethische  nur  mehr  gelegentlich  ge- 
streift hat,  PO  darf  dies  nicht  zu  der  ansieht  verleiten,  als  ob  er 
etwa  seine  bedeutung  unterschätzt  habe,  er  als  lehrer  der 
rhetorik  konnte  sie  wohl  nicht  nachdrücklicher  betonen  als  dadurch, 
dasz  er  wiederholt  versichert,  dasz  die  sittliche  ausbildung 
wichtiger  sei  als  die  intellectuelle  (deren  höhepunkt  ihm 
die  rednei'ische  ist),  ja  dasz  die  letztere  bei  einem  schlechten  geradezu 
ein  übel   sei.'^*    darum   fordert  er  denn  auch,   dasz  die  sittlichen 


"0  II  5,  16. 

*^'  II  1,  3.  auch  hier  bändelt  es  sich  selbstverstäncilicli  nicht  um 
einen  originellen  pfedanken  Quintilians.  er  selbst  citiert  an  der  letzten 
stelle  Lucrez  I  934  (und  IV  11): 

ac  vehiti  pueris  absinthia  taetra  medentes 
cum  dare  conantur,  prius  oras  pocula  circum 
aspirant  mellis  dulci  flavoque  liquore  usw. 
man  denke  auch  an  Horaz'  crustula  doctorura! 

i^^*  I  1,  20. 

'^'  II  4,  13:  nullo  magis  studia  quam  spe  gaudent. 

»5<  I  2,  26.   II  3,  10. 

»58  11^  22 — 25  vgl.  XII  1,  8.  in  derselben  weise  urteilt  bekanntlich 
Cicero. 

'^^  II  2,  8:  vix  autem  dici  potest ,  quanto  libentius  imitemur  eos, 
^uibus  favemus.  II  9:  muitum  haec  pietas  (gegen  den  lehrer)  conferet 
studio,  mit  näherer  begründung.  Quintilian  beweist  übrigens  auch  noch 
an  andern  stellen,  dasz  er  sich  des  engen  Zusammenhangs  zwischen  der 
Verstandes-  und  willenssphäre  im  menschen,  der  Wechselwirkung  zwischen 
dem  intellectuellen  und  ethischen  wohl  bewust  ist.  vgl.  V  14,  35.  VI  2,  5 — 7. 
VIII  3,  5. 

'"  II  9,  1. 

'*'  Quintilian  hat  diesen  gedanken  —  in  dem  er  übrigens  auch  mit 
Cicero  einig  ist  —  nicht  nur  an  zahlreichen  stellen  gelegentlich  aus- 
gesprochen ,  sondern  ilin  auch  im  ersten  capitel  des  zwölften  buches 
ausführlich  eutwickelt  und  begründet,  da  heiszt  es  z.  b.  (§  1):  sit  ergo 
nobis  orator,  quem  constituimus,   is,  qui  a  M.  Catone  finitur,  vir  bonus 


A.Messer:  Quintilian  als  clidaktiker.  183 

eigenschaften  zuerst  berücksichtigt  werden  bei  auswahl  der  ammen, 
der  Spielkameraden,  der  pädagogen,  des  rhetors.'*'  aus 
sittlichen  gründen  verlangt  er,  dasz  die  knaben  und  die  er- 
wachseneren in  der  rhetorenschule  getrennt  sitzen.  "^°  auch  auf  den 
Unterricht  selbst  wird  dieser  gesichtspunkt  angewendet,  schon 
für  die  ersten  schreibübungen  der  kinder  werden  ethisch  wert- 
volle Sätze  gefordert.'^'  bei  der  auswahl  der  lectüre  in  der  schule 
des  grammatikers  ist  vor  allem  auf  den  sittlichen  gehalt  zu  sehen.  '®- 
im  einzelnen  bemerkt  er:  utiles  tragoediae,  alunt  et  Ijrici,  si  tarnen 
in  bis  non  auctores  modo  sed  etiam  partes  operis  elegeris;  nam  et 
Graeci  licenter  multa  et  Horatium  nolim  in  quibusdam  interpretari. 
elegia  vero,  utique  quae  amat,  et  hendecasyllabi,  qui  sunt  commata 
Sotadeorum  (nam  de  Sotadeis  ne  praecipiendum  quidem  est)  amo- 
veantur,  si  fieri  potest;  si  minus,  certe  ad  firmius  aetatis  robur  reser- 
ventur.  comoedia  .  .  .  cum  mores  in  tuto  fuerint,  inter  prae- 
cipua  legenda  erit. '"  so  der  beide  Quintilian!  —  Auch  für  die 
redeübungen  werden  ethisch  wertvolle  stoffe  empfohlen,  die  sittliche 
Wirkung  der  geschichte  wird  hervorgehoben  und  die  der  musik  nicht 
übersehen"'^;  mit  besonderer  wärme  wird  endlich  der  abschlusz  der 
sittlichen  bildung,  die  begründung  der  ethischen  einsieht  durch  das 
Studium  der  moralphilosophie  empfohlen.  '^^ 

Soviel  über  die  berücksichtigung,  die  Quintilian  der  psycho- 
logischen und  ethischen  seite  der  bildung  schenkt. 

Welches  ist  nun  das  ziel  dieser  bildungsarbeit,  das 
bildungsideal,  dem  Quintilian  zustrebt?  es  ist  das  seines 
Volkes  überhaupt,  das  schon  Cicero  in  seinen  wesentlichen  zügen 
gezeichnet  hat:  der  orator  perfectus.  die  republikanischen 
Staatseinrichtungen,  die  für  das  gesprochene  wort  so  empfängliche 
natur  des  Südländers,  die  berschende  sitte,  alles  hatte  in  der  gleichen 
richtung  dahin  gewirkt,  dasz  der  römische  bürger,  der  am  staats- 
ieben sich  beteiligen  wollte  —  und  das  erschien  ja  als  der  eigent- 
liche beruf  des  mannes  —  befähigt  sein  muste,  durch  die  rede 
zu  wirken,  gemeint  ist  also  mit  dem  ausdruck  orator  nicht  der, 
der  die  ausübung  der  redekunst  als  solcher  zu  seinem  beruf 

dicendi  peritus;  verum,  id  quod  et  ille  posuit  prius,  et  ipsa  natura 
potius  ac  malus  est,  utique  vir  bonus;  und  (§  32):  facultas 
dicendi,  si  in  malos  incidit,  et  ipsa  iudicanda  est  malum;  peiores 
enim  illos  facit,  quibus  contigit. 

1=9  I  1,  4.  7.  9.   II  2,  1.  15.         '«0  II  2,  14. 

1^1  I  1,  35  f.:  ii  quoque  versus,  qui  ad  imitationem  scribendi  pro- 
ponentur,  non  otiosas  velim  sententias  babent  sed  honestum  aliquid 
monentes.  prosequitur  haec  memoria  in  senectutem  et  impressa  animo 
rudi  usque  ad  mores  proficiet. 

if^  I  8,  4:  cetera  admonitione  magna  egeut,  in  primis,  ut  tenerae 
mentes  tracturaeque  altius,  quidquid  rudibus  et  omnium  ignaris  insederit, 
uon  modo  quae  diserta  sed  vel  magis  quae  bonesta  sunt,  discant. 

»63  I  8,  4-7.         16«  XII  2,  29  flt.  I  10,  31—33. 

1"  XII  2,  1—6.  15—20. 


184  A.Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

macht,  nicht  der  schulredner,  der  rhetor,  sondern  der  mit  der  bil- 
dung  seiner  zeit  ausgerüstete  bürger,  der  in  der  beherschung  des 
Wortes  das  notwendigste  und  zugleich  wirksamste  mittel  besitzt  zur 
teilnähme  an  der  politischen  und  an  der,  im  altertum  damit  enge 
verknüpften,  gerichtlichen  thätigkeit. 

Damit  ist  schon  gegeben,  dasz  neben  dem  moment  der  fer  tig- 
keit,  der  eloquentia,  das  der  kenntnis,  der  eruditio  darin  ent- 
halten sein  musz;  denn  nur  auf  grund  der  Sachkenntnis  und  zwar 
einer  vielseitigen  Sachkenntnis  kann  der  redner  seiner  aufgäbe  ge- 
recht werden,  die  in  nichts  geringerem  besteht  als  über  alle  vor- 
kommenden fragen  inhaltlich  und  formell  tadellos  reden  zu  können.'^® 
vor  der  naheliegenden  gefahr,  in  gehaltlose,  nichtige  rederei  zu  ver- 
fallen, wird  ausdrücklich  gewarnt,  indem  betont  wird,  dasz  die  worte 
für  die  gedanken  da  sind,  dasz  der  inhalt  über  der  form  stehe.'" 

Ferner  ist  mit  der  eloquentia  auch  gründliche  logische 
Schulung  und  eine  ausbildung  des  gemütes  erfordert:  das  erstere, 
insofern  die  dialektik  mit  der  rhetorik  untrennbar  verbunden  ist, 
und  besonders  insofern  die  geistige  Selbständigkeit,  die  eigne 
Urteilsfähigkeit  (consilium,  prudentia)  geradezu  die  wichtigste 
eigenschaft  des  redners  bildet;  das  letztere,  da  der  redner  auf  das 
gemüt  wirken  musz:  er  nicht  nur  zu  belehren,  sondern  zu  er- 
schüttern und  mit  fortzureiszen  hat.  diese  Wirkung  wird 
derjenige  am  sichersten  ausüben,  der  die  affecte,  die  er  bei  den  Zu- 
hörern erwecken  will,  selbst  empfindet.'"^ 

So  steht  an  sich  die  Schulung  und  bereicherung  des 
geistes  gleichwertig  neben  der  ausbildung  des  red- 
nerischen könnens,  und  da  ratio  und  oratio  die  beiden  eigen- 
schaften  sind ,  durch  die  der  mensch  sich  vom  tier  unterscheidet ,  so 
wird  in  ihnen  zugleich  das  eigentlich  menschliche,  die  humanität 
ausgebildet  (der  ausdruck  humanitas  findet  sich  allerdings  bei  Quin- 
tilian zur  bezeichnung  des  bildungszieles  nicht),  dabei  ist  freilich 
nicht  zu  verkennen,  dasz  doch  die  rednerische  fertigkeit,  in 
der  die  geistige  bildung  gewissermaszen  erst  in  erscheinung  tritt, 
eben  dadurch  mehr  die  beachtung  auf  sich  lenkt  und  dasz  öfter  die 
oratio  allein  als  der  specifisch  menschliche  vorzug,  und  als 
derjenige,  in  dem  die  bildung  in  ihrer  Wirksamkeit  sich  greifbar 
darstellt,  genannt  wird.  '*" 


'^"  II  21,  4:  ego  (neque  id  sine  auctoribus!)  materiara  esse  rlietorices 
iudico  omnes  res  quaecunque  ei  ad  dicendum  subiectae  sint.  —  Das 
gauze  capitel  handelt  von  diesem  gegenständ  und  auf  die  Übereinstim- 
mung mit  Plato  (Gorgias  s.  454'',  IMiaedrus  s.  -261  ^)  und  Cicero  (de 
or.   1,  15.  de  inv.  I  5.  de  or.  1,  6)  wird  ausdrücklich  hingewiesen. 

'"  X  2,  13.  27.  VII  pro.  32:  nihil  verborum  causa  faciendum,  cum 
verba  ipsa  rerum  gratia  sint  reperta. 

168  VI  2,  25  —  31;  vgl.  I  2,  30:  maxima  pars  eloquentiae  constat 
animo. 

'^ä  ratio  und  oratio  werden  als  gleichwertig  genannt  z.  b. 
II  20,  9:    quodsi  .  .  hominem  .  .  ratione   atque   oratione  excellere 


A.  Messer:  Quintiliau  als  didaktiker.  185 

Die  geistige  und  sprachliche  bilduug  musz  aber  auf  sitt- 
licher grundlage  ruhen,  der  redner  musz  ein  sittlich  guter 
mann  sein,  und  umgekehrt:  nur  der  vir  bonus  kann  zum  orator 
perfectus  werden,  damit  ist  schon  ausgesprochen,  dasz  das  ethische 
und  das  intellectuelle  nicht  beziehungslos  neben  einander  stehen, 
sondern  dasz  sie  in  einander  übergreifen  und  sich  verflechten,  so 
findet  z.  b.  die  sittliche  bildung  ihren  abschlusz  und  ihre  Vollendung 
durch  die  sittliche  einsieht,  in  der  aus  dem  intellectuellen  gebiet 
licht  fällt  auf  das  ethische;  der  orator  also,  indem  er  als  vir  bonus 
sich  vollendet,  kann  zugleich  als  vere  sapiens  und  prudens  bezeichnet 
werden.  "°  ferner  ist  die  aus  bildung  zum  wahren  redner  und  die 
ausübung  des  rednerischen  berufs  gar  nicht  möglich  ohne  die 
ethischen  eigenschaften. '^'  so  erscheint  die  eloquentia  selbst 
geradezu  als  ethisch  wertvoll  und  dies  gibt  dem  bildungsideale 
eine  man  möchte  sagen  religiöse  weihe,  die  sich  in  der  bezeichnung 
oratoris  sacrum  nomen  unwillkürlich  ausdrückt.  '^- 

Gerade  bei  dieser  betonung  des  sittlichen  Charakters  der  elo- 
quentia konnte  Quintilian,  ohne  ins  phrasenhafte  zu  geraten,  es  aus- 
sprechen, dasz  sie  den  reichsten  lohn  in  sich  trage,  dasz  sie  die 
höchste,  weil  sittliche  befriedigung  durch  sich  selbst  gewähre, '" 

Stark  hervortretend  ist  endlich  in  diesem  bildungsideal  die 
praktische  tendenz.  allerdings:  nicht  dem  gemeinen  erwerb  darf 
die  beredsamkeit  dienen ''\  aber  ebenso  wenig  darf  der  redner  ein 
Stubengelehrter  sein,  der  dem  leben,  insonderheit  dem  politischen 
leben  und  seinen  aufgaben  aus  dem  wege  geht,  im  griechischen 
bildungsideal  tritt  freilich  die  neigung  zum  stillen,  sich  selbst  ge- 
nügenden gelehrten-  und  philosophenleben  sehr  in  Vordergrund, 
in  der  griechischen  weit  waren  ja  schon  lange ,  seit  der  monarchi- 
schen gestaltung  der  dinge,  an  die  stelle  der  mit  dem  Staate  innig 
verwachsenen  bürg  er,  deren  lebensberuf  politische  thätigkeit  war, 
privatmenschen  getreten.  —  Mit  vollem  bewustsein,  '^dem  stark 


ceteris  certum  est:  cur  non  tarn  in  eloquentia  quam  in  ratione  virtutem 
eius  esse  credamus?  für  sich  allein  erscheint  die  oratio  z.  b. 
I  10,  7:  oratio,  qua  nihil  praestantius  homini  dedit  providentia.  vgl. 
XII  11,  30.  besonders  lehrreich  ist  für  den  Übergang  von  der  ersten 
ausdrucksweise  in  die  zweite  die  stelle  II  16,  11 — 19,  aus  der  ich  das 
wichtigste  heraushebe:  rationem  igitur  nobis  praecipuam  dedit  (sc. 
natura)  ..  sed  ipsa  ratio  neque  tarn  nos  iuvaret  neque  tarn  esset  in 
nobis  manifesta,  nisi  quae  concepissemus  mente,  promere  etiam 
loquendo  possemus:  quod  magis  deesse  ceteris  animalibus  quam  intel- 
lectum  et  cogitationem  quandam  videmus;  worauf  dann  der  nachweis 
versucht  wird,  dasz  auch  den  tieren  in  gewissem  sinne  ratio  zukomme; 
so  bleibt  denn  als  das  specifisch  menschliche  lediglich  die  oratio  und 
der  mensch  in  seiner  Vollendung  stellt  sich  dar  im  orator. 

'-0  XI  1,  35.  XII   1,  30. 

"1  II  21,  8—10  und  mit  ausführlicher  begründung  XII  1. 

'"  XII   1,  24,  vgl.  I   12,   18. 

''3  XII  11,  29  ff. 

^'•*  XII  7,  8 — 12,  wo  er  auch  fein  bemerkt:  pleraque  hoc  ipso  pos- 
sunt  videri  vilia,  quod  pretium  habent. 


186  A.Messer:  Quintilian  als  clidaktiker. 

ausgeprägten  socialpolitischen  sinne  der  Römer' "'"  entsprechend 
lehnt  Quintilian  diesen  zug  des  griechischen  bildungsideals  ab.  im 
zweiten  capitel  des  zwölften  buches,  in  dem  er  mit  wärme  zur  be- 
schäftigung  mit  der  philosophie  auffordert,  erklärt  er  (§  6  f.) :  qua- 
propter  haec  exhortatio  mea  non  eo  pertinet,  ut  esse  oratorem 
philosophum  velim,  quando  non  alia  vitae  secta  longius  a  civilibus 
officiis  atque  ab  omni  munere  oratoris  recessit.  .  .  .  atqui  ego  illum, 
quem  instituo,  ßomanum  quendam  velim  esse  sapientem,  qui  non 
secretis  disputationibus  sed  rerum  esperimentis  atque  operibus  vere 
civilem  virum  exhibeat.  noch  mehr  ins  einzelne  gehend  bezeichnet 
er  die  praktische  thätigkeit,  der  der  redner  sich  hingeben  musz, 
gleich  in  der  vorrede  seines  ganzen  Werkes  (§  10)  (abermals  mit 
polemischer  tendenz  gegen  die  'philosophen') :  neque  enim  hoc  con- 
cesserim,  rationem  rectae  honestaeque  vitae  (ut  quidam  putaverunt) 
ad  philosophos  relegandam ,  cum  vir  ille  vere  civilis  et  publi- 
carum  privatarumque  rerum  administrationi  accommodatus,  qui 
regere  consiliis  urbes,  fundare  legibus,  emendare  iu- 
diciis  possit,  non  alius  sit  profecto  quam  orator.  ja  sogar  auch 
im  kriege  musz  er  sich  bewähren,  und  mitten  in  den  schrecken  des 
kampfes  musz  seine  rede  ihre  macht  über  das  gemüt  der  Soldaten 
bewähren.  "^ 

Und  doch:  im  munde  Ciceros  mochten  derartige  ausführungen 
noch  ihre  volle  Wahrheit  haben,  wenn  Quintilian  sie  vorträgt,  so 
können  wir  uns  doch  der  empfindung  nicht  entschlagen,  als  lasse  er 
dabei  zu  sehr  die  realen  Verhältnisse  auszer  betracht.  wir 
befinden  uns  ja  nicht  mehr  in  den  zeiten  der  senatsherschaft ;  jetzt 
ist  es  nicht  mehr  möglich,  dasz  reden  wie  die  gegen  Catilina  oder 
für  die  lex  Manilia  gehalten  werden;  schon  seit  mehr  als  einem  Jahr- 
hundert ist  der  principat  begründet,  der  mehr  und  mehr  zur  ab- 
soluten monarchie  sich  auszugestalten  strebt,  die  Verhandlungen  im 
Senate  verlieren  ihre  weitreichende  Wichtigkeit;  die  Volksver- 
sammlung ist  so  gut  wie  beseitigt;  die  g er ichts Verhandlungen 
büszen  ihren  politischen  Charakter  ein,  die  wirklich  bedeut- 
samen fälle  zieht  das  gericht  des  kaisei'S  und  seiner  mandatare  an 
sich,  immer  mehr  muste  unter  dem  einflusz  dieses  wandeis  der  zeit 
auch  das  römische  bildungsideal  nach  der  richtung  hin  gravitieren, 
nach  der  das  griechische  schon  längst  sich  entwickelt  hatte,  mag  im 
übrigen  Quintilian  mit  seinem  zurücklenken  auf  Cicero  billigens- 
werte  und  realisierbare  ziele  verfolgen:  hier  strebt  er  etwas  an, 
was  sich  nicht  voll  realisieren  läszt,  für  den  Ciceronianischen 
'vollkommenen  redner'  sind  die  lebensbedingungen  unwiderruflich 
dahin. 


175  Willmann,  didaktik  I^  s.  201.  —  Seine  ausführungen  über  das 
'ethos  der  römischen  bildung'  habe  ich  in  diesem  capitel  mehrfach 
benutzt. 

"^  XII  1,  28.  in  diesem  capitel,  besonders  §  23 — 32  ist  am  aus- 
führlichsten über  die  praktische  tendenz  des  orator  gesprochen. 


A.Messer:  Quiatilian  als  clidaktiker.  187 

Sollte  Quintilian  davon  gar  kein  bewustsein  gehabt  haben?  es 
ist  kaum  denkbar;  wahrscheinlicher  ist,  dasz  bestimmte  gründe  ihn 
hinderten ,  diesem  bewustsein  deutlichen  ausdruck  zu  verleihen,  er 
nimmt  die  weitgehendste  rücksicht  auf  Domitian ,  dem  er  ja  auch 
besonders  verpflichtet  war.  zeugnis  davon  gibt  die  überschwäng- 
lichehuldigung,  die  erden  dichterischen  und  militärischen  leistungen 
des  kaisers  darbringt,  er  verfällt  dabei  in  eine  Schmeichelei,  die 
wirklich  peinlich  berührt  und  beweist,  wie  schädlich  es  auch  auf 
den  Charakter  eines  in  der  that  sittlich  strebenden  mannes  wirken 
kann,  unter  der  nicht  genugsam  eingeschränkten  herschaft  eines 
sittlich  minderwertigen  menschen  zu  stehen,  wie  nahe  es  also  auch 
gelegen  hätte,  über  die  veränderten  Zeitverhältnisse  zu  klagen, 
Quintilian  schreibt,  als  ob  nicht  der  wink  des  kaisers  oder  seiner 
ratgeber,  sondern  der  redegewaltige  bürger  in  senat  und  Volks- 
versammlung die  geschicke  des  reiches  bestimme,  nur  einmal  ent- 
schlüpft ihm  eine  wehmütige  bemerkung  über  die  eingeschränkte 
politische  bedeutung  der  gerichte. '"  thatsächlich  zeigt  aber 
Quintilians  werk  selbst  durch  die  ganze  auswahl  und  behandlung 
des  Stoffes,  dasz  für  den  damaligen  redner  die  thätigkeit  vor 
ge rieht  durchaus  die  hauptsache  war,  die  institutio  beschäf- 
tigt sich  vorwiegend ,  die  bücher  4.  5  und  7  sogar  ausschlieszlich 
mit  dem  genus  iudiciale. 

So  dürfte  also  wohl  ein  hyperconservativer  sinn,  der  die  ver- 
änderte zeitlage  zu  wenig  würdigt,  ihn  an  dem  Ciceronianischen 
bildungsideal  mit  seiner  vorwiegenden  tendenz  auf  praktische  be- 
thätigung  festhalten  lassen,  anderseits  mag  ihn  die  rücksicht  auf 
den  kaiser  verhindert  haben,  sich  klar  darüber  auszusprechen,  ob  er 
denn  wirklich  noch  die  daseinsbedingungen  für  den  orator  perfectus 
als  vorhanden  ansieht,  oder  ob  er  sie  durch  eine  änderung  auf  poli- 
tischem gebiet  oder  sonstwie  zurückgeführt  haben  will,  eins  ist 
sicher:  sein  bildungsideal  ist  nicht  mehr  ganz  zeit- 
gemäsz. 

Um  so  bemerkenswerter  ist  darum  die  art,  wie  er  —  hierin 
abweichend  von  Cicero  —  den  begriff  des  Ideals  faszt.  Cicero 
spricht  es  ganz  offen  aus,  dasz  niemals  jemand  im  vollen  sinne  ein 
orator  perfectus  werden  wird,  sein  ideal  schwebt  wie  die  Platonische 
idee  unerreichbar  über  der  menschenweit. '^^  er  faszt  also  den 
begriff  des  ideals  so,  wie  wir  ihn  gewöhnlich  fassen:  es  ist  ein 
unser  streben  regulierendes  und  befeuerndes  phantasiegebilde,  dem 
wir  uns  in  unzähligen  abstufungen  annähern,  das  wir  aber  nie  ganz 

•'■  er  erwähnt  die  tliatsacbe,  dasz  einst  Cicero  den  L.  Murena 
hauptsächlich  dadurch  rettete,  dasz  er  den  richtern  die  Überzeugung 
beibrachte:  nihil  esse  ad  praesentem  rerum  statum  utilius  quam  pridie 
Calendas  Januarias  ingredi  cousulatum.  er  fügt  hinzu:  quod  genus 
uostris  temporibus  totum  paene  sublatum  est,  cum  omuia  curae  tute- 
laeque  unius  innixa  periclitari  nullo  iudicii  exitu  possint.  war  übrigens 
das   aufhören   der   politischen   advocatenrede  ernstlich  zu  beklagen? 

'"^  Cic.  Or.  c.  2  (662).  c.  5  (667). 


188  A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

in  Wirklichkeit  umsetzen  können,  anders  Quintilian  I  er  gibt  zu :  das 
ideal  ist  noch  nicht  erreicht,  auch  Demosthenes  und  Cicero  haben 
es  nicht  erreicht,  es  ist  auch  in  der  that  sehr  schwer  zu  verwirk- 
lichen, aber  an  sich,  seinem  wesen  und  begriffe  nach,  ist 
es  nicht  unerreichbar,  ja  die  gegenwart  ist  sogar,  getragen  von 
der  Vergangenheit,  vor  allem  befähigt  es  zu  verwirklichen.'" 

Man  wird  zugeben,  dasz  diese  fassung  des  Ideals  nur  geeignet 
sein  kann,  seine  triebkraft,  seinen  anfeuernden  einflusz  auf  das 
menschliche  streben  zu  erhöhen,  sie  harmoniert  auch  trefflich  zu 
dem  bildungsstolzen  hochgefühl,  mit  dem  Quintilian  von  seiner 
gegenwart  redet,  und  das  ihn  auch  übersehen  läszt,  'dasz  dem  epi- 
gonentura  mit  aller  lehrkunst  nicht  aufzuhelfen  ist',  aber  diese 
ganze  freudige  und  hoffnungsreiche  grundstimmung,  von  der  seine 
persönlichkeit  getragen  ist,  und  die  ihn  auch  treibt,  so  feurig 
die  pflicht  zur  praktischen  bethätigung  zu  predigen:  sie  erinnert 
doch  etwas  an  den  idealistisch  gesinnten  und  zugleich  selbstzufrie- 
denen schulmeistei-,  der  es  gar  edel  und  herzlich  gut  meint,  der  aber 
doch  jahraus,  jahrein  —  wenn  auch  nur  geistig  —  ^in  sein  museum 
gebannt  ist',  der  die  weit  'nur  am  feiertag'  sieht  und  sie  dann  viel 
ansprechender  findet,  als  sie  in  ihrer  werktäglichen  Wirklichkeit  sein 
mag.  so  flieszt  denn  unmerklich  viel  von  dem  idealgefärbten  Inhalt 
des  subjects  auf  das  object  über,  die  grenze  zwischen  dem  sein- 
sollenden und  dem  seienden  verwischt  sich ,  das  ideal  scheint  der 
Wirklichkeit  um  so  näher  zu  liegen,  je  weiter  derjenige,  der  es  im 
herzen  trägt,  von  der  Wirklichkeit  entfernt  ist. 

So  merken  wir  denn  gerade  an  dieser  stelle,  wie  bildungsideale 
doch  auch  ohne  den  willen  ihrer  bekenner  sich  unmerklich  ver- 
schieben durch  die  macht  der  Verhältnisse;  gerade  hier  wird 
uns  fühlbar  der  allmähliche,  notwendige  Übergang  von  der  alten 
politischen  beredsamkeit  der  republikanischen  zeit  zu  der 
unpolitischen  rhetorik,  wie  sie  dann  noch  Jahrhunderte  hin- 
durch in  den  schulsälen  ihr  wesen  treibt,  noch  zwei  kleine  züge 
mögen  diese  Wendung  nach  der  schule  hin,  dies  abstreifen  des 
socialpolitischen  charakters  der  beredsamkeit  illustrieren.  Cicero 
erklärt  es  noch  für  unverträglich  mit  der  würde  des  redners,  seine 
kunst  zu  lehren'®^:  bei  Quintilian,  dem  redelehrer,  erscheint  dies 
nicht  nur,  selbstverständlich,  als  ganz  unanstöszig,  sondern  seinem 
orator  perfectus  ist  sogar  die  fortsetzung  der  lehrthätigkeit  bis  ins 


"^  XII  1,  18  ff.  I  1,  10  f.  I  pro.  20.  I  10,  i  ff.  8.  XII  11,  25  ff.  — 
Einmal  bricht  dabei  auch  der  zweifei  sich  bahn,  ob  die  fassung  des 
ideals  als  eines  einzigen  und  absoluten  wohl  die  richtige  sei. 
XII  10,  2:  suos  autem  haec  operum  genera,  quae  dico,  ut  auctores  sie 
etiam  amalores  habeut;  atque  ideo  nondum  est  perfectus  orator  ac 
nescio  an  ars  ulla,  non  solura  quia  aliud  in  alio  magis  eminet,  sed 
quod  non  una  Omnibus  forma  placuit,  partim  conditione  vel  temporum 
vel  locorum,  partim  iudicio  cuiusque  atque  proposito.  vgl.  Cic.  or. 
c.  11  (675). 

150  Cic.  or.  c.  42  (725). 


A.  Messer:  Quintiliau  als  didaktiker.  189 

höchste  alter  ein  ziel,  *aufs  innigste  zu  wünschen'.'*'  fernerhält 
Quintilian  es  für  angemessen,  dasz  der  orator  perfectus  sich  von  der 
politischen  thätigkeit  zurückziehe,  sobald  das  nahen  des  alters  sich 
bemerklich  mache:  quare  antequam  in  has  aetatis  veniat  insidias, 
receptui  canet  et  in  portum  integra  nave  perveniet.  und  warum? 
quia  decet  hoc  quoque  prospicere,  ne  quid  peius,  quam  fecerit, 
faciat.  so  dient  doch  im  gründe  die  thätigkeit  des  redners  nicht  aus- 
schlieszlich  dem  gemeinwesen,  sondern  —  man  möchte  fast  sagen: 
zuerst  —  der  selbstdarstellung  der  eignen  persönlich- 
keit, die  sociale  tendenz  wird  zurückgedrängt  von  der  sub- 
jecti v-egoistischen.  man  fühlt:  verschwunden  ist  die  zeit, 
als  sich  ein  Appius  Claudius,  erblindet  und  dem  tode  nahe,  in  den 
Senat  tragen  läszt  und  seine  letzte  kraft  einsetzt,  die  ehre  des  Staates 
zu  retten  —  wahrlich  nicht  daran  denkend,  ob  er  noch  so  schön  rede 
wie  in  der  zeit  seiner  manneskraft! 

Nachdem  wir  das  bildungsideal  betrachtet  haben,  das  Quin- 
tilian vorschwebte,  sollen  seine  ausführungen  über  die  bei  der 
bildungsarbeit  beteiligten  personen  hier  zusammengefaszt 
werden. 

Als  leiter  der  bildung  und  erziehung  erscheint  bei 
Quintilian,  wie  es  auch  naturgemäsz  ist,  der  vater.  er  wird  schon 
von  der  geburt  des  sohnes  seine  sorge  darauf  richten,  dasz  für 
die  entwicklung  des  künftigen  redners  die  günstigsten  bedingungen 
gegeben  sind.  ""^ 

Vor  allem  musz  das  kind  von  anfang  an  richtig  und  rein 
sprechen  lernen,  deshalb  ist  bei  der  auswahl  der  ammen  nicht 
nur  auf  die  moralischen  eigenschaften,  sondern  auch  auf  die  spräche 
zu  sehen. '^^  Quintilian  sieht  es  dabei  gewissermaszen  als  selbstver- 
ständlich an,  dasz  die  amme  an  die  stelle  der  mutter  trete,  doch 
gedenkt  er,  wenigstens  einmal ,  flüchtig  auch  dieser ;  auch  bei  ihr 
wünscht  er  wie  beim  vater  möglichst  hohe  bildung  (quam  plurimum 
eruditionis)  und  weist  u.  a.  auf  Cornelia,  die  mutter  der  Gracchen, 
und  ihren  einflusz  auf  die  rednerische  ausbildung  der  söhne  hin.  '^' 

Auch  die  altersgenossen,  mit  denen  der  knabe  erzogen 
wird,  müssen  denselben  anforderungen  an  moralität  und  reine 
spräche  genügen  wie  die  ammen. '^°  die  darauf  folgende  stelle  über 
die  paedagogi  ist  so  charakteristisch,  so  aus  dem  leben  gegriffen, 
dasz  ich  sie  ganz  hersetzen  will  (§  8) :  de  paedagogis  hoc  amplius, 
ut  aut  sint  eruditi  plane,  quam  primam  curam  esse  velim;  aut  se 
non  eruditos  esse  sciant;  nihil  enim  peius  est  iis,  qui,  paulum  ali- 
quid ultra  primas  litteras  progressi ,  falsam  sibi  scientiae  persua- 
sionem  induerunt;  nam  et  cedere  praecipiendi  peritis  indignantur, 
et  velut  iure  quodam  potestatis,  qua  fere  hoc  hominum  genus  intu- 


>»'  XII  11,  4—7.         '52  I  1^  i_3  1-3  I  1^  3_5. 

18*  I  1,  6.  185  I  1,  7. 


190  A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

mescit,  imperiosi  atque  interim  saevientes  stultitiam  suam  per- 
docent.  als  trauriges  beispiel  eines  solchen  pädagogen  wird  Leonidas 
genannt,  der  auf  seinen  zögling  Alexander  d.  gr.  einige  seiner 
fehler  übertragen  haben  soll.  '^^ 

Im  hause  erfolgt  auch  noch  —  wohl  durch  den  paedagogus  — 
die  erste  Unterweisung  im  lesen  und  schreiben  und  zwar  im  griechi- 
schen und  lateinischen,  ob  auch  der  eigentliche  sogenannte  gram- 
matische Unterricht  im  hause  oder  in  der  schule  erfolgen 
solle,  hat  Quintilian  ausführlich  erörtert. '-''  für  das  erster e  scheint 
zu  sprechen,  dasz  der  Schulbesuch  durch  das  Zusammensein  mit  der 
allezeit  zum  schlechten  aufgelegten  jugend  sittliche  gefahren  birgt, 
und  dasz  der  privatlehrer  seine  ungeteilte  kraft  einem  widmen 
kann,  aber  der  knabe  kann  auch  zu  hause  verdorben  werden:  durch 
das  gesinde ,  durch  einen  gewissenlosen  lehrer  selbst,  sorgfältige 
Überwachung  ist  also  auch  hier  nötig  und  sie  wird  auch  die  in  der 
schule  drohenden  gefahi-en  abzuwenden  wissen:  man  wähle  nur 
einen  sittlich  tadellosen  lehrer,  eine  schule,  in  der  strenge  zucht 
harscht,  man  gebe  nur  dem  knaben  einen  geeigneten  älteren  be- 
gleiter'"''  bei  und  vor  allem:  man  halte  auf  ein  sittlich  reines 
familienleben. 

Für  die  schulerziehung  sprechen  nun  aber  mehrere  gewichtig© 
gründe:  gute  lehrer  werden  nicht  hauslehrer  sein  wollen,  nam  opti- 
mus  quisque  praeceptor  frequentia  gaudet  ac  maiore  se  theatro 
dignum  putat  (§  9).  es  ist  ferner  nicht  möglich,  dasz  der  lehi'er 
sich  den  ganzen  tag  einem  widme,  wenn  der  knabe  schreibt,  aus- 
wendig lernt,  überlegt,  so  ist  er  am  besten  allein;  anderseits  ist 
es  bei  der  behandlung  des  grammatischen  Stoffes,  bei  der  Inter- 
pretation, bei  rhetorischen  disponierübungen  und  declamationea 
ganz  gleich,  ob  einer  oder  meh  rere  Schüler  zuhören;  non  enim 
vox  illa  praeceptoris,  ut  cena,  minus  pluribus  sufficit;  sed  ut  sol, 
universis  idem  lucis  calorisque  largitur  (§  14).  bei  der  anleitung 
zum  richtigen  und  sinnvollen  lesen,  bei  der  correctur  der  arbeiten 
musz  sich  der  lehrer  allerdings  mehr  mit  dem  einzelnen  beschäftigen 
und  eine  grosze  zahl  ist  hier  hinderlich,  aber  man  wähle  keine  über- 


'^'''  I  1,  9.  —  Dieser  unglückliche  Leonidas  figuriert  denn  auch  in 
der  von  Quintilian  beeinfluszten  litteratur  gewöhnlich  als  abschrecken- 
des exempel,  ohne  dasz  man  recht  weisz,  worin  eigentlich  sein  vergehen 
bestanden  habe,  eine  etwas  rätselhafte  andeutung  darüber  findet  sich 
(wie  ich  aus  dem  Spaldingschen  Quintilian-commentar  ersehe)  lediglich 
bei  Hinkmar  von  Rheims  (ep.  14):  et  legimus,  quomodo  Alexander  in 
pueritia  sua  habuit  baiulum  (i.  e.  paedagogum)  nomine  Leonidem, 
citatis  moribus  [motibus?]  et  incomposito  incessu  notabilem;  quae  puer, 
quasi  lac  adulterinum  sugens,  ab  eo  sumpsit. 

1^7  I   2. 

'^'^  I  2,  5:  et  nihilominus  amicum  gravem  viriim,  aut  fidelem  libertura, 
lateri  filii  sui  adiungere,  cuius  assiduus  comitatus  etiam  illos  meliores 
faciat,  qui  timebuntur.  mit  dem  amicus  gravis  vir  ist  wohl  ein  geeig- 
neter dient  des  hauses  gemeint.  —  Dasz  sich  auch  freie  zu  solchen 
Pädagogendiensten  hergaben,  zeigt  I  2,  10. 


A.Messer:  Quiutiliaa  als  didaktiker.  191 

füllte  schule,  übrigens  ist  es  für  den  künftigen  redner  unerläszlich, 
dasz  er  von  früh  an  durch  Zusammensein  mit  menschen  sich  der 
Schüchternheit  entschlage.  die  schule  bietet  gelegenheit,  freund- 
schaften  zu  schlieszen ,  die  bis  ins  alter  dauern ,  lob  und  tadel  für 
den  einen  schüler  hat  auch  nutzen  für  die  andern,  hier  allein  ist  es 
möglich,  den  ehrgeiz,  jenen  mächtigen  sporn  für  die  Studien,  zu 
nützen;  hier  allein  kann  die  unwillkürliche  nachahmung  der  schüler 
unter  einander  platz  greifen ;  endlich  wirkt  es  auf  den  lehrer  selbst 
anregender,  vor  einer  classe  als  vor  einem  einzelnen  zu  sprechen. 

Neben  dem  Unterricht  in  der  schule  des  'grammatikers'  hat  die 
Unterweisung  in  den  andern  fächern  der  cykOkXioc  rraibeia  herzu- 
gehen. '*"  der  besuch  der  rhetorenschule  schlieszt  sich  an.  nur  be- 
züglich des  rhetors  hat  sich  Quintilian  eingehender  über  die  er- 
fordernisse,  denen  er  genügen  soll,  ausgesprochen.'^"  wir  wollen 
diese  ausführungen  mit  den  einzelnen  vorhergehenden  andeutungen 
zu  einem  gesamtbilde  vereinigen,  das  uns  zeigen  soll,  wie  der 
lehrer  nach  Quintilians  sinn  beschaffen  sein  musz  und  wie  sein 
Verhältnis  zu  den  schülern  sich  zu  gestalten  hat. 

Tüchtiges  sachliches  wissen  und  (zumal  beim  rhetor)  sach- 
liches können  musz  sich  verbinden  mit  lehrgeschick  und  lehr- 
trieb '^',  mit  hingebung  an  den  beruf  und  erfahrung.  '*'  den  schülern 
gegenüber  musz  er  möglichst  individualisierend  zu  verfahren  suchen, 
darum  musz  er  vor  allem  ihre  intellectuelle  und  ethische  beanlagung 
zu  erkennen  suchen. '^^  auch  musz  er  bemüht  sein,  dem  geistigen 
niveau  der  schüler,  dem  grade  ihrer  leistungsfähigkeit  sein  lehr- 
verfahren und  seine  anforderungen  anzupassen,  also  keine  über- 
bürdung! ist  das,  was  er  bietet,  zu  hoch  für  die  knaben  oder  zu 
reichlich ,  so  wird  es  so  wenig  aufgenommen ,  wie  wenn  man  eine 
grosze  quantität  flüssigkeit  auf  einmal  in  ein  gefäsz  mit  enger 
Öffnung  gieszen  will:  einträufeln  musz  man  das  wissen,  nicht  ein- 
schütten. '^*  der  lehrer  musz  sich  vorkommen  wie  ein  erwachsener, 
der  mit  einem  kleinen  kinde  einen  weg  macht:  er  musz  es  an  der 
band  nehmen  und  seine  schritte  verkleinern  nach  dem  trippeln  des 
kindes. '^'^  strenge  zucht  soll  in  der  schule  herschen'*^  aber  grund- 
satz  musz  sein:  mehr  durch  verhüten'",  mehr  durch  ermahnen '^^ 
wirken  als  durch  strafen;  schlage  sind  durchaus  zu  verwerfen. '^^ 

Wie  in  der  bildung  überhaupt  bei  Quintilian  das  ethische 
moment  stark  hervortritt,  so  auch  im  Verhältnis  des  lehrers 
und  Schülers,    es  genügt  nicht,  wenn  der  lehrer  —  auch  für  den 

1S9  I  10,  1  ff. 

'ä"  II  2.  —  Quintilian  bemerkt  selbst,  dasz  diese  ausführungen 
nicht  nur  für  den  rhetor,  sondern  auch  für  die  übrigen  lehrer  geltung 
haben.     II  2,  2. 

'3'  I  4,  23.  X  5,  19.  XII  11,  14.  —  Ist  die  gelehrsamkeit  des  gram- 
maticus  nicht  sehr  bedeutend,  so  soll  er  sich  lieber  eng  an  ein  ge- 
bräuchliches lehrbuch  anschlieszen.     I  5,  7. 

192  I  11,  14.  193  I  3,  1—7.  »9»  I  2,  27—29.  »95  u  3^  7_9. 

1'«  I  2,  5.         '"  I  3,  14.         198  n  2,  b.         '99  I  3^  13—18. 


192  A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

lehrer  der  rhetorik  gilt  dies  —  lediglich  in  ein  bestimmtes  Wissens- 
gebiet einführt,  eine  bestimmte  fertigkeit  vermittelt,  aber  gegen  die 
persönlichkeit  des  schülers  mit  glatter  höflichkeit  sich  abschlieszt  — 
wie  das  wohl  im  höheren  Unterricht  zu  zeiten  so  sein  mag.  nein, 
er  soll  sich  auch  den  älteren  Zöglingen  gegenüber  als  geistiger 
vater  fühlen.'^""  darum  kann  er  aber  auch  nicht  das  eigne  sittliche 
selbst  hinter  seine  lehrthätigkeit  als  indifferent  zurücktreten  lassen, 
sondern  er  musz  mit  seiner  ganzen  persönlichkeit  wirken, 
er  kann  nur  dann  gegen  moralische  fehler  und  schwächen  bei  seinen 
Schülern  auftreten,  wenn  er  selbst  frei  davon  ist.  sein  ernst  gehe 
nicht  bis  zur  Unfreundlichkeit,  seine  freundlichkeit  werde  nicht 
burschikos,  er  sei  vor  allem  nicht  langweilig ,  trocken  und  pedan- 
tisch.^"' er  bekämpfe  den  zorn,  lasse  aber  nicht  das  tadelnswerte 
ungerügt  hingehen,  er  sei  einfach  und  schlicht  in  seinem  lehrton, 
geduldig  und  genau  in  seinem  lehrverfahren;  er  suche  mehr  durch 
stätigkeit  und  consequenz  .zu  erreichen  als  durch  raaszlose  anfoi'de- 
rungen.  die  schüler  musz  er  zu  selbstthätiger  raitarbeit  heranziehen, 
indem  er  den  regsamen ,  die  von  sich  aus  fragen ,  gerne  auskunft 
gibt,  die  gleichgültigen  dagegen  durch  fragen  in  atem  hält,  im 
loben  sei  er  nicht  knauserig  —  das  erzeugt  abneigung  — ,  aber  auch 
nicht  zu  verschwenderisch,  das  bewirkt  lauheit.  bei  der  beurteilung 
der  sehülerleistungen  werde  er  ebenso  wenig  bitter  und  satirisch, 
wie  grob  und  beleidigend.  —  Manche  lehi*er  fahren  dabei  die  schüler 
an,  als  ob  sie  persönliche  feinde  vor  sich  hätten.  —  Er  soll  dabei 
manches  loben,  manches  hingehen  lassen,  manches  ändern  —  aber 
mit  angäbe  des  grundes  — ,  auch  von  dem  seinigen  hinzuthun;  bis- 
weilen soll  er  selbst  musterarbeiten  dictieren;  gänzlich  verfehltes 
soll  er  nochmals  anfertigen  lassen  und  dabei  in  dem  schüler  die  hofF- 
nung  erwecken,  dasz  er  es  viel  besser  machen  könne. 

Endlich  ist  auch  noch  auf  das  verschiedene  alter  und  können 
rücksicht  zu  nehmen:  mancher  gut  gemeinte  versuch  ist  anzu- 
erkennen, aber  dabei  zu  bemerken,  dasz  die  anerkennung  nur  eine 
relative  sei,  dasz  man  später  besseres  erwarte.  ^"^  für  den  redelehrer 
aber  insbesondere  gilt,  dasz  er  täglich  selbst  seinen  schülern  eine 


200  sumat  igitur  ante  omnia  parentis  erga  discipulos  suos  animum. 
II  1,  4.  Quintilian  gibt  hier  übrigens  auch  nur  der  allgemeinen  römi- 
schen auffassung  ausdruck;  vgl.  Willmann,  didaktik  P  s.  201,  der  z.  b. 
verweist  auf  Juv.  sat.  7,  209:  di  praeceptorem  sancti  voluere  parentis 
esse  loeo.  • —  Die  folgenden  ausführungen  sind,  soweit  nicht  andere 
belegsteilen  angegeben  werden,  aus  dem  zweiten  capitel  des  zweiten 
buches  entnommen,  das  die  Überschrift  trägt  'de  moribus  et  officiis 
praeceptoris'.  dies  capitel  ist  in  der  humanistischen  litteratur  un- 
zähligemal  ausgeschrieben  worden,  es  verdient  in  der  that  durch  seinen 
reichen  inhalt,  den  es  in  knappe  und  zierliche  form  kleidet,  auch  heute 
noch  gelesen  und  beherzigt  zu  werden. 

2"'  II  4,  8:  quapropter  in  primis  evitandus  et  in  pueris  praecipue 
magister  aridus  usw. 

^"^  diese  ratschlage  für  die  correctur  und  beurteilung  der  sehüler- 
leistungen stehen  II  4,  10 — 14. 


A.Messer:  Quintilian  als  didaktiker.  193 

mustergültige  leistuug  vorführe;  denn,  wie  das  sin-ichwort  sagt: 
viva  vox  alit  plenius ;  und  das  lebensvolle  vorbild  des  lehrers,  zumal 
wenn  ihm  die  schüler  liebe  und  Verehrung  entgegenbringen ,  wirkt 
mehr  als  die  leblosen  muster  in  den  büchern.  dabei  sollen  die 
schüler  aufmerksam  und  bescheiden  zuhören;  denn  der  lehi-er  soll 
nicht  dem  geschmack  und  urteil  der  schüler  entsprechend  reden, 
sondern  umgekehrt  soll  er  ihr  urteil  durch  seine  leistungen  erst  be- 
richtigen und  bilden,  ungehörig  ist  es,  dasz  die  schüler  gegenseitig 
ihre  leistungen  beloben  und  beklatschen:  nur  der  lehrer  hat  über 
sie  zu  richten. 

Bei  der  betrachtung  des  Verhältnisses  zwischen  eitern  und 
lehrer  wollen  wir  uns  zunächst  erinnern,  dasz  Quintilian  sich  nicht 
in  einem  Zeitalter  der  durchgeführten  staatsschule ,  der  prüfungen 
und  berechligungen  befindet,  der  einflusz  des  elternhauses 
istalso  bedeutender.  —  Zunächst  musz  der  vater  sorgfältig  die 
schule  aussuchen,  der  er  seinen  söhn  anvertrauen  will:  die  besten 
lehrer  sind  zu  wählen  und  zwar  gleich  von  an  fang  an.  der  be- 
gründung  der  letzteren  forderung  hat  Quintilian  ein  besonderes 
capitel  (II  3)  gewidmet,  er  bekämpft  darin  die  ansieht,  mittel- 
mäszige  lehrer  seien  für  den  elementarunterricht  geeigneter;  denn 
da  sie  nicht  durch  eine  so  weite  geistige  kluft  von  den  schülern  ge- 
trennt seien,  so  seien  sie  leichter  zu  verstehen  und  nachzuahmen; 
auch  seien  sie  nicht  zu  stolz,  die  mühselige  kleinarbeit  des  anfangs- 
unterrichts  auf  sich  zu  nehmen.  —  Man  könnte  diesen  erwägungen 
zustimmen,  bemerkt  er,  wenn  solche  lehi'er  den  schülern  lediglich 
weniger  beibrächten,  aber  sie  bringen  ihnen  falsches  bei,  was 
nachher  wieder  mühsam  ausgemerzt  werden  musz.  darum  hat  der 
flötenspieler  Timotheus  von  schülern,  die  vorher  bei  einem  andern 
lehrer  waren  ,  das  doppelte  honorar  verlangt,  ferner :  der  treffliche 
lehrer  beherscht  jedenfalls  auch  die  demente  seines  faches  am 
sichersten,  fehlt  ihm  aber  der  wille  sie  zu  lehren,  so  verdienter 
überhaupt  nicht  den  namen  eines  lehrers.  also  wie  Phoenix  bei 
Homer,  so  sei  der  lehrer,  den  man  wählt,  tam  eloquentia  quam 
moribus  praestantissimus.^"^ 

Der  vater  soll  ferner  bestrebt  sein ,  den  lehrer  sich  zum  freund 
zu  machen,  dann  wird  sein  junge  in  der  schule  nicht  vernachlässigt 


^03  es  wurde  schon  in  anderm  zusammenhange  bemerkt,  dasz  in 
dieser  erörterung  zu  wenig  zwischen  dem  sachlichen  wissen  und 
können  des  lehrers  und  seiner  didaktischen  fähigkeit  unterschieden 
ist.  die  letztere  musz  allerdings  in  hohem  masze  gerade  für  den  an- 
fangsuuterricht  vorhanden  sein,  von  dem  eisteren  wird  auf  der  elemen- 
taren stufe  ein  geringeres  masz  genügen  als  auf  der  höheren;  wobei 
nicht  in  abrede  gestellt  werden  soll,  dasz  derjenige,  welcher  sein  fach 
wirklich  mit  philosophischem  geiste  beherscht,  am  besten  das  wesent- 
liche und  das  unwesentliche  zu  scheiden  und  den  wissenschaftlichen 
Stoff  am  einfachsten  und  verständlichsten  darzustellen  vermag:  eine 
wirklich  populäre  darstellung  setzt  vollendete  wissenschaftlichkeit  voraus 
übrigens  kommen  für  unsere  frage  noch  andere  gesichtspunkte  in  betracht. 

N.  Jahrb.  f.  phil.  u.  päd,  II.  abt.  1897  htt.  4  u.  5.  13 


194  A.Messer:  Quintiliau  als  didaktiker. 

werden  ,  der  lehrer  wird  sich  dann  ihm  gegenüber  mehr  von  Zu- 
neigung als  von  Pflichtgefühl  leiten  lassen.*"'  —  Man  sieht: 
hiermit  geraten  wir  auf  die  schwachen  Seiten  des  privatschul- 
wesens.  das  zeigt  auch  die  bemerkung:  selbstverständlich  werde 
der  lehrer  mit  begabten  und  eifrigen  Zöglingen  besonders  an- 
gelegentlich sich  beschäftigen  in  suam  quoque  gloriam.  natürlich, 
er  ist  ja  zugleich  geschäftsmann,  der  für  seine  schule  reclame  machen 
musz!  derartiges  findet  übrigens  Quintilian  ganz  berechtigt,  er 
tadelt  nur,  dasz  die  eitelkeit  und  Urteilslosigkeit  der  eitern  vielfach 
ungünstig  auf  den  Unterrichtsbetrieb  selbst  einwirke,  so  macht  es 
ihnen  eitel  freude,  wenn  das  söhnchen  möglichst  früh  aus  dem 
Stegreif  reden  kann;  sie  legen  auf  das  häufige  declamieren 
eigner  elaborate  des  schülers  übertriebenen  wert,  in  solchen 
fragen  musz  aber  der  lehrer  an  dem  festhalten,  was  vom  didaktischen 
Standpunkt  als  das  richtige  erscheint.*"^  anderseits  darf  er  nicht 
des  geschäftsinteresses  halber  die  schüler  möglichst  lange  in  seiner 
anstalt  festhalten  wollen;  denn  ein  hauptzweck  der  lehrkunst  be- 
steht ja  gerade  darin,  den  weg  des  lernens  abzukürzen:  omnia 
breviora  reddet  ordo  et  ratio  et  modus,*"® 

Übrigens  vergiszt  Quintilian  nicht  ganz,  dasz  auch  die 
schüler  pflichten  haben,  freilich  das  capitel  darüber  (II  9)  ist 
gar  kurz:  die  'pflichten'  bestehen  im  gründe  nur  in  der  einen:  ut 
praeceptores  suos  non  minus  quam  ipsa  studia  ameut.  uns  möchte 
es  vielleicht  rätlicher  erscheinen,  nicht  zur  liebe  zu  verpflichten, 
sondern  zur  arbeit,  sollte  sich  nicht  bei  tüchtiger  gemeinsamer 
arbeit,  bei  der  der  schüler  sich  geistig  gefördert  fühlt,  die  liebe 
unter  der  band  von  selbst  einstellen  — ,  wenn  nur  der  schüler 
merkt,  dasz  der  lehrer  auch  ein  herz  hat?  aber  von  einer 
pflicht  zur  arbeit  sagt  Quintilian  nichts,  es  stimmt  dies  zu 
dem  'philanthropischen'  zuge,  den  wir  schon  früher  an  ihm 
bemerkt  haben:  angenehm  der  lehrer,  angenehm  der  lehrstoff,  an- 
genehm das  lehrverfahren,  prügel  streng  verpönt,  gewis  ist  ein 
solches  streben  zu  billigen,  aber  darf  es  ausschlieszlich  masz- 
gebend  sein?  ob  wohl  die  menschen,  denen  man  in  der  jugend  jede 
Schwierigkeit  aus  dem  wege  geräumt,  für  das  leben  gut  vorbereitet 
sind  ?    das  leben  ist  kein  spiel,  die  schule  soll  es  auch  nicht  sein ! 

Nach  der  betrachtung  des  bildungsziels  und  der  personen,  die 
den  schüler  zu  diesem  ziele  hinleiten  sollen,  mag  nunmehr  das 
nötige  über  die  bildungsstoffe  bemerkt  werden. 

Die  eigentlichen,  centralen  bildungs Wissenschaften 
sind  für  Quintilian  wie  für  die  Römer  überhaupt  grammatik  und 
rhetorik.*"^    das  griechische  ist  neben  dem  lateinischen  soweit 

20*  I  2,  15  f.         205  II  4,  16.  7,   1.  X  5,  21.         ^"^  XII  11,  13  f. 

207  Willmann,  didaktik  I«  s.  188.  —  Zum  belege  dafür,  dasz  Quin- 
tilian in  seinen  erörterungen  über  Stoffe,  gang  und  verfahren  der 
bildungsarbeit  im  allgemeinen  nur  das  wiedergibt,  was  bei  den  Römern 


A.  Messer:  Quintiliau  als  didaktiker,  195 

zu  beireiben,  dasz  das  volle  erfassen  der  griechischen  litteratur 
möglich  ist:  Zielpunkt  bleibt  auch  hierbei  die  lateinisch  e  eloquenz. 

Die  'grammatik'  umfaszt  (in  beiden  sprachen)  die  eigent- 
liche Sprachlehre  (recte  loquendi  scientia  und  scribendi  ratio) 
und  die  lectüre  und  Interpretation  der  dichter  (poetarum 
enarratio).*"^  mit  diesen  beiden  teilen  der  grammatik(methodice  und 
historice)    sollen  leichte  aufsatzübungen  verbunden  vs^erden.'"' 

Der  betrieb  der  'rhetorik'  umfaszt  auszer  der  Unterweisung 
im  eigentlichen  rhetorisch -dialektischen  system  schrift- 
liche und  mündliche  Übungen'^'"  und  lectüre  der  histo- 
riker  und  redner.*^"  Quintilian  faszt  die  höhere  stufe  des 
rhetorischen  Unterrichts,  die  vor  allem  eine  auf  reichtum  der 
spräche  basierte  sichere  fertigkeit  (facilitas,  eSic)  anstrebt  und  zur 
fähigkeit  aus  dem  stegreif  zu  reden  hinanführt,  im  zehnten  buche 
nochmals  gesondert  ins  äuge,  auch  hier  sind  scribere,  legere, 
dicere  die  verschiedenen  Seiten  des  betriebs.  die  Übungen  sind 
natürlich  schwieriger  und  werden  selbständiger  vorgenommen,  die 
lectüre  ist  viel  umfassender,  zieht  nicht  nur  redner  und  historiker, 
sondern  auch  dichter  und  philosophen  im  weitesten  umfange  in  ihr 
bereich ,  gleichviel  ob  sie  auf  früheren  stufen  des  Unterrichts  schon 
behandelt  worden  sind  oder  nicht.^'^ 

Um  diese  fundamentalen  disciplinen  gruppieren  sich  als  ac- 
cessorische  zunächst  die  encyclischen  fächer:  musik,  'geo- 
raetrie'^'^  ferner  Unterweisung  durch  den  Schauspieler  und 
den  turnlehrer^'^  endlich  zum  abschlusz  philosophie,  ge- 
schichte,  Jurisprudenz,^'^ 

Der  accessorische  Charakter  dieser  disciplinen  ergibt  sich 
aus  der  römischen  anschauung  überhaupt,  aus  der  art,  wie  Quin- 


üblich  war,  wenn  auch  mit  vereinzelten  reformvorschlägen,  verweise 
ich  hier  ein  für  allemal  auf  die  Zusammenstellungen  bei  Eckstein, 
lateinischer  und  griechischer  Unterricht  s,  3 — 43. 

208  I  4,  1  f.  Quintilian  weist  bei  dieser  gelegenheit  darauf  hin, 
dasz  die  grammatik  plus  habet  in  recessu  quam  fronte  promittat:  text- 
kritik,  höhere  kritik,  ästhetische  Würdigung  der  autoren,  kenntnis  auch 
der  prosaischen  spräche,  der  metrik ,  astronomie ,  philosophie,  bered- 
samkeit  gehören  dazu,  das  sind  natürlich  anforderungen  an  den  1  ehrer: 
er  braucht  das  alles  gelegentlieh  bei  der  enarratio  poetarum.  dasz 
übrigens  lediglich  die  dich  ter  le  ctüre  als  aufgäbe  des  grammaticus 
erscheint,  ist  für  die  lateinische  spräche  einigermaszen  verständlich, 
auch  bei  uns  liegt  ja  (abgesehen  von  den  schriftlichen  Übungen)  der 
Schwerpunkt  des  muttersprachlichen  Unterrichts  in  der  enarratio  poe- 
tarum. man  hat  wohl  diese  praxis  einfach  auf  das  griechische 
übertragen. 

509  I  9  2)0  II  4.  6.  7.  10, 

*"  II  5.  —  Die  notwendigkeit  des  Unterrichts  im  rhetoi'ischen  system 
und  verschiedene  Vorfragen  desselben  werden  besprochen  II  11  —  21. 
das  System  selbst  füllt  die  bücher  III— IX  und  XI. 

212  so  sagt  auch  Quintilian  in  bezug  auf  Homer  und  Vergil  aus- 
drücklich: neque  enim  semel  legentur  I  8,  5. 

213  I   10.  214  I    11.  215    XII   2—5. 

13* 


196  A.  Messer:  Quictilian  als  didaktiker. 

tilian  sie  neben  grammatik  und  rhetorik  mehr  beiläufig  behandelt, 
und  wird  von  ihm ,  bezüglich  der  encyclischen  fächer  wenigstens, 
auch  ausdrücklich  hervorgehoben,^'* 

Bei  der  erörterung  der  notwendigkeit  und  des  bildungsgehalts 
der  musik-'^  wird  mehr  das  Studium  der  musikalischen  theorie  als 
das  erlernen  irgend  eines  instruments  oder  ausbildung  im  gesang 
hervorgehoben.  Quintilian  führt  dabei  zunächst  mehrere  autoritäten 
für  den  wert  der  musik  an  sich  und  als  bildungsmittel  an 
und  weist  auf  das  musikalische  und  rhythmische  element  in  der  rede, 
auf  das  rhythmische  in  der  gesticulation  bin. 

Die  von  Quintilian  sogenannte  geome tri e  umfaszt  die  geo - 
metrie  (im  dem  engeren,  uns  geläufigen  sinne),  die  arith- 
metik  und  die  astronomie.^'^  was  ihren  bildungsgehalt  und  ihre 
notwendigkeit  für  den  redner  betrifi't ,  so  bezeichnet  er  es  als  eine 
vulgaris  opinio ,  die  auch  er  zu  billigen  scheint:  agitari  animos  et 
acui  ingenia  et  celeritatem  percipiendi  venire  inde.*'^  aber  auszer 
dieser  formal  bildenden  Wirkung  lassen  sich  noch  weitere  gründe 
für  sie  anführen,  rechnen  zu  können  und  die  fertigkeit  zu  be- 
sitzen, die  zahlen  mit  den  fingern  darzustellen,  bezeichnet  Quintilian 
als  ein  erfordernis,  dem  jeder,  der  nur  irgendwie  anspruch  auf 
bildung  erhebt,  genügen  musz. ""  die  geome trie  (in  ihrer  an- 
wendung  auf  die  feldmeszkunde)  ist  oft  bei  grenzstreitigkeiten  not- 
wendig, aber  sie  steht  auch  mit  der  rhetorik  in  formaler  Verwandt- 
schaft, beiden  ist  gemeinsam  die  Ordnung,  der  aufbau  aus  Schlüssen, 
das  aufdecken  trügerischer  Wahrscheinlichkeiten,  der  redner  bedarf 
ferner  unter  umständen  astronomischer  kenntnisse.  viele  fragen 
endlich,  die  ihm  vorkommen  können,  z.  b.  über  art  und  weise  von 
Verteilungen,  über  teilung  ins  unendliche,  über  die  Schnelligkeit  der 
Vermehrung  ,  können  durch  geometrische  beweisführung  einfach  ge- 
löst werden. 

In  beschränktem  masze  dienen  auch  Schauspielkunst  und 
gymnastik-^'  der  heranbildung  des  künftigen  redners.  erstere 
bat  auf  deutliche  und  richtige  ausspräche  hinzuwirken ,  sie  bildet 
gesticulation,  mienenspiel  und  Vortrag,  wobei  besonders  der  aus- 
druck  der  Stimmungen  und  affecte  zu  beachten  ist.  die  gymnastische 
ausbildung  fördert  die  gewandtheit  der  bewegungen  und  des  ganzen 


*'•'  I  10,  1=8,  wo  es  heiszt  (§  6):  similiter  oratorera,  qui  debet  esse 
sapiens,  non  geometres  faciet  aut  musicus  quaeque  bis  alia  subiungam, 
sed  bae  quoque  artes,  ut  sit  consummatus,  iuvabunt. 

2"  I  10,  9—33. 

2'^  I  10,  35:  cum  sit  geometria  divisa  in  numeros  atque  formas; 
I  10,  46:  quid?  quod  se  eadem  geometria  tollit  ad  rationem  usque 
mundi?  in  qua,  cum  siderum  certos  constitutosque  cursus  numeris 
docet,  discimus  nibilesse  inordinatum  atque  fortuitura.  —  Von  den 
mathematiscben  wissenscbaften  iiberbaupt  wird  gehandelt  I  10,  34 — 49. 

2'"  er  fügt  bei:  sed  prodesse  eam  non  ut  ceteras  artes,  cum  per- 
ceptae  sint  sed  cum  discatur,   existimant. 

2*0  I  10,  35.         «»  I  11. 


A.Messer:  Quintilian  als  didaktiker.  197 

auftretens  und  trägt  so  gleichfalls  zur  ausbildung  der  gesticulation 
bei.  abscblieszend  treten  dann  noch  hinzu:  philosophie,  ge- 
schichte  und  j  urisp rüden z.  in  dem  zweiten  bis  vierten  capitel 
des  zwölften  buches  wird  deren  bedeutung  für  den  redner  ausführ- 
lich untersucht,  die  m  o  r  a  1  p  h  i  1  o  s  o  p  h  i  e  zunächst  vollendet  durch 
herbeiführung  ethischer  einsieht  die  sittliche  ausbildung  des  redners, 
auch  ist  sie  ihm  unentbehrlich  wegen  der  zahllosen  ethischen  momente 
seiner  stoffe;  der  dialektik  bedarf  er  zum  beweisen,  widerlegen 
und  disputieren;  die  naturphil  osophie  gibt  für  die  ethik  die 
philosophische  grundlage  durch  nachweis  der  göttlichen  Vorsehung, 
unseres  göttlichen  Ursprungs  und  unseres  zieles,  der  tugend ;  sie  ist 
auch  sonst,  namentlich  in  bezug  auf  religiöse  materien  für  den  redner 
wichtig,  gegenüber  den  philosophischen  schulen  wird  ein  eklektisches 
verhalten  empfohlen,  von  der  geschichte  wird  dem  redner  ge- 
liefert exemplorum  copia  und  nur  dies;  darum  hat  er  auch  als 
gleichwertig  zu  berücksichtigen  quae  sunt  a  clarioribus  poetis 
ficta.  die  Jurisprudenz,  das  privat-,  Staats-  und  kirchenrecht 
(scientia  iuris  civilis  et  morum  ac  religionum  rei  publicae)  ist  dem 
redner  ihres  materiellen  inhalts  wegen  unentbehrlich. 

Überblicken  wir  nunmehr  den  gang  des  Unterrichts,  die 
aufeinanderfolge  der  einzelnen  fächer.  im  römischen 
bildungswesen  lassen  sich  drei  stufen  unterscheiden:  die  elemen- 
tare ,  welche  den  gewöhnlich  vom  grammatista  erteilten  Unterricht 
im  lesen  und  schreiben  umfaszt,  die  mittelstufe,  den  Unterricht  des 
grammaticus  und  die  Oberstufe,  die  rhetorenschule,  der  gedanke, 
dasz  zuerst  das  vorwiegend  formal  bildende,  dann  das  die  Sach- 
kenntnis (eruditio)  fördernde  zu  behandeln  sei,  wird  nur  einmal 
(I  8,  8)  gelegentlich  der  lectüre,  und  zwar  mehr  beiläufig  aus- 
gesprochen: sed  pueris,  quae  maxime  Ingenium  alant  atque 
animum  augeant,  praelegenda;  ceteris  quae  ad  eruditio nem 
modo  pertinent,  longa  aetas  spatium  dabit. 

Bezüglich  des  elementarunterrichts  setzt  Quintilian 
voraus,  dasz  er  vom  paedagogus  erteilt  -werde.  ^'" 

Eratosthenes  u.  a.  haben  geraten ,  mit  diesem  elementarunter- 
richt  nicht  vor  ablauf  des  siebenten  jahres  zu  beginnen;  dann 
erst  habe  das  kind  die  nötige  fassungsgabe  und  Widerstandsfähig- 
keit. Quintilian ,  bei  seiner  abneigung  gegen  feste  normen ,  hält  es 
lieber  mit  denen,  die  wie  Chrysippus  wollen  nullum  tempus  vacare 


^•^  Quintilian  sagt  dies  zwar  nirgends  ausdrücklich,  aber  er  spricht 
nur  von  der  einen  schule  des  grammaticus  (der  grammatista  oder  litte- 
rator  wird  nirgends  erwähnt),  beim  eintritt  in  diese  schule  sind  die 
demente,  die  ja  'spielend'  erlernt  werden,  schon  angeeignet  (vgl.  II  1,  1: 
sed  nobis  iam  paulatim  accrescere  puer  et  exire  de  gremio  et  discere 
serio  incipiat).  endlich:  wenn  der  paedagogus  nur  als  begleiter,  an- 
stands-  und  sittenmeister  dienen  sollte,  wozu  dann  die  erörterung  über 
seine  wissenschaftliche  bildung?  (I  1,  8). 


198  A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

cura.^-^  die  erziehung  setzt  ja  auch  scbon  so  frühe  ein,  warum 
nicht  die  bildung?-^'  es  wird  ja  nicht  viel  gelernt  in  dieser 
zeit,  aber  was  gelernt  wird,  gewährt  immerhin  einen  vorsprung  für 
später;  auch  wird  nur  das  gedächtnis  in  anspruch  genommen 
und  das  ist  jetzt  am  leistungsfähigsten;  endlich  soll  dieser  elementar- 
unterricht  nur  ein  spiel  sein:  abneigung  gegen  die  Studien  durch 
zu  hohe  anforderungen  darf  er  jedenfalls  nicht  erzeugen,  mit  dem 
griechischen  soll  der  anfang  gemacht  werden,  denn  latein  lernt 
der  knabe  von  selbst;  aber  es  darf  nicht  längere  zeit  aus- 
schlieszlich  betrieben  werden  (sicut  plerisque  moris  est  I  1,  13), 
weil  es  sonst  die  lateinische  ausspräche  verdirbt,  eine  nähere  be- 
gründung  für  die  erlernung  des  griechischen  brauchte  Quintilian 
nicht  zu  geben;  er  erwähnt  nur  beiläufig  (mehr  zur  rechtfertig ung 
des  Vorausschiebens  dieses  faches  vor  das  latein  als  des  faches 
selbst)  :  simul  quia  disciplinis  quoque  Graecis  prius  instituendus  est, 
unde  et  nostrae  fluxerunt. 

Eine  Zeitbestimmung  für  den  eintritt  in  die  grammatikerschule 
findet  sich  nicht,  während  der  Zugehörigkeit  zu  dieser  genieszt 
der  schüler  auch  die  Unterweisung  des  geometres,  musicus,  comoedus 
und  in  der  palaestra.  "^  für  den  Übergang  in  die  rhetorenschule,  die 
griechische  sowohl  wie  die  lateinische,  lehnt  er  ausdrücklich  eine 
genaue  festsetzung  ab:  er  soll  erfolgen,  cum  poterit.^'-'®  er  tadelt 
übrigens  das  hinaufschieben  der  grenze  zwischen  gramma- 
tiker-  und  rhetorenschule,  bei  dem  der  rhetor  sich  auf  die 
anleitung  zu  den  eigentlichen  declamationes  und  zwar  nur  im  genus 
deliberativum  und  iudiciale  beschränkt,  das  übrige  dagegen  von  dem 
grammaticus  vorweggenommen  wird,  die  lehrer  des  griechischen 
halten  die  grenze  im  allgemeinen  richtiger  fest,  über  die  rhetoren- 
schule hinaus  führt ^'^  dann  der  im  zehnten  buch  geschilderte  freiere 


"^  die  frage,  wann  der  elementarunterricht  zu  beginnen  sei,  wird 
besprochen  I  1,   15 — 20. 

"'  dieser  hinweis  auf  die  erziehung  beweist  nichts,  er  zeigt  aber, 
ebenso  wie  die  folgenden  benierkungen,  dasz  Quintilian  den  eigentlich 
entscheidenden  punkt,  die  rücksicht  auf  die  gesundheit,  nicht  ge- 
würdigt hat,  wie  ja  überhaupt  bei  ihm  die  körperliche  ent- 
wicklung  kaum  beachtet  wird. 

225  das  gleichzeitige  betreiben  dieser  gegenstände  wird  ausführ- 
lich begründet  (I  12).  wir  haben  darüber  schon  in  anderm  zusammeu- 
hang  gesprochen. 

2**"  die  frage  ist  erörtert  II  1  (besonders  §  7). 

"'  ich  drücke  mich  absichtlich  so  unbestimmt  aus,  weil  Quin- 
tilian nichts  darüber  sagt,  ob  er  diesen  teil  des  studienganges  noch 
ganz  oder  teilweise  in  die  rhetorenschule  verlegt  oder  nachher  an- 
setzt, er  ist  wohl,  wie  ich  im  text  andeute,  als  das  Übergangsstadium  zu 
fassen,  denn  ein  ganz  freier,  selbständiger  betrieb  ist  zweifellos  voraus- 
gesetzt, dieser  aber  brauchte  nicht  auszuschlieszen,  dasz  daneben  noch 
die  rhetorenschule  besucht  wird,  man  lese  die  anekdote  nach,  die 
X  3,  12—14  erzählt  wird,  der  arme  Julius  Secundus,  der  da  für  seine 
arbeit  den  anfang  nicht  finden  kann,  war  adhuc  scholae  operatus.  — 
Übrigens   hören   wir  bei   Quintilian   überhaupt  fast   nichts    über    die 


A.  Messer:  Quintilian  als  clidaktiker.  199 

betrieb  der  rhetorischen  Übungen  und  der  zur  Vervollkommnung 
der  sprachbeherschung  dienenden  lectüre,  womit  sich  das  Studium 
der  Philosophie,  geschichte  und  Jurisprudenz  verbindet,  solche 
Studien  wie  auch  die  eigentlich  rhetorischen  Übungen  müssen  übri- 
gens den  redner  auch  stets  in  der  px-axis  begleiten:  studendum  semper 
et  ubique.^^^  der  beginn  d  er  prakti  sehen  bethätigung  (vor 
gericht)  soll  nicht  verfrüht,  aber  noch  weniger  zu  lange  hinaus- 
geschoben werden;  was  psychologisch  sehr  richtig  begründet  wird: 
nam  cotidie  metus  crescit,  maiusque  fit  semper,  quod  ausuri  sumus, 
et,  dum  deliberamus,  quando  incipiendum  sit,  incipere  iam  serum 
est.^-^  empfohlen  wird  auch  nach  dem  beispiele  Ciceros,  ziemlich 
zeitig  schon  einige  mal  als  redner  aufzutreten  —  das  lehrt  die  praxis 
kennen  und  zeigt,  wo  es  uns  noch  fehlt  —  alsdann  mag  man  sich 
noch  einige  zeit  ganz  den  Studien  widmen. 

Für  das  Unterrichtsverfahren  auf  der  elementarstufe,  in 
der  grammatiker-  und  der  rhetorenschule  gibt  Quintilian  mancherlei 
anweisungen.'-'"  nur  in  einzelnen  punkten  scheint  er  dabei  von  der 
allgemein  geübten  praxis  abzuweichen,  dies  findet  z.  b.  gleich  am 
anfang  statt,  wenn  er,  mit  richtiger  Würdigung  der  anschaulich- 
keit,  rät,  namen  und  formen  der  buchstaben  zugleich  lernen  zu 
lassen  (die  gewöhnliche  methode  präge  zuerst  nur  die  namen  in 
ihrer  reihenfolge  ein).^^'  es  folgt  das  erlernen  der  silben.  beim 
schreibenlernen  empfiehlt  er  holztafeln  mit  eingeschnittenen 
buchstaben  zu  gebrauchen,  das  nachziehen  derselben  gibt  gröszere 
Sicherheit  und  macht  das  führen  der  band  durch  den  lehrer  über- 
flüssig, gut  und  schnell  schreiben  zu  können  (was  gewöhnlich  ver- 
nachlässigt wird)  ist  wichtig  für  das  schriftliche  concipieren  der 
reden,  bei  den  leseübungen  ja  keine  überhastung,  das  erzeugt 
Unsicherheit,  stocken,  wiederholen,  um  immer  nach  rechts  hin  das 
folgende  schon  übersehen  zu  können,  bedarf  es  einer  mechani- 
schen fertigkeit,  die  erst  nach  langer  Übung  sich  einstellt,  zu  den 
Schreibübungen  nehme  man  ungewöhnlichere  Wörter,  damit  sie 
unter  der  band  bekannt  werden  und  Sprüche  ethischen  inhalts,  auch 
lasse  man  solche  auswendig  lernen,  das  rasche  hersagen  schwer 
auszusprechender  Wörter  oder  wortreihen  übt  die  zunge. 

Der  grammaticus  gibt  zunächst  die  lautlehre^^',  dann  die 
redeteile^^^  besonders  gründlich  ist  die  flexion  der  noraina  und  verba 


äuszere  Organisation  der  schulen  und  die  äuszeren  formen 
des  betriebs. 

22^  X  7,  27. 

229  XII  6,  3.     das  ganze  capitel  handelt  von  dieser  frage. 

23"  für  die  untere  stufe  kommt  besonders  in  betracht:  I  1,  24 — 37; 
für  die  mittlere:  I  4 — 9;  für  die  obere  II  4 — 8.  10.  anleitung  zum  selb- 
ständigen arbeiten  gibt  das  zehnte  buch. 

231  I  1,  24  ff.     hier  auch  die  belege  für  das  folgende. 

232  I  4,  6-17. 

233  I  4,  17—21. 


200  A.  Messer:  Quiutilian  als  didaktiker. 

einzuprägen.*^^  von  den  drei  Vorzügen  der  rede:  ut  emendata,  ut 
dilucida,  ut  ornata  sit,  strebt  die  grammatik  als  emendate  loquendi 
regula  zunächst  den  ersten  an.  sie  lehrt  die  barbarismen  (fehler  in 
einzelnen  Wörtern)  und  soloecismen  (fehler  in  Wortverbindungen) 
vermeiden ^^"'  und  weist  auf  als  normgebend  für  das  sprechen:  die 
analogie,  die  etymologie,  die  autorität,  den  Sprachgebrauch.'^^  für 
das  schreiben  kommt  die  Orthographie*" hinzu;  sie  darf  sich  nicht 
in  kleinigkeiten  verlieren ,  aber  gründlichkeit  ist  hier  wie  in  der 
grammatik  überhaupt  notwendig:  non  obstant  hae  disciplinae  per 
illas  euntibus,  sed  circa  illas  haerentibus  (§  35). 

Bei  der  dichterlectüre"'  ist  vor  allem  das  lesen  selbst  zu 
üben.  Voraussetzung  ist:  Verständnis  des  zu  lesenden;  sinngemäszes 
und  schönes  lesen  wird  angestrebt;  bei  dramatischer  lectüre  ist  der 
Wechsel  der  sprechenden  durch  Veränderung  der  stimme  anzu- 
deuten (nicht  mehr!),  man  beginne,  wie  üblich,  mit  Homer 
und  Vergil.  ihre  Vorzüge  werden  allerdings  erst  erwachsene  bei 
erneuter  lectüre  ganz  würdigen,  Interim  et  sublimitate  heroici  car- 
minis  animus  assurgat  et  ex  magnitudine  rerum  spiritum  ducat  et 
optimis  imbuatur.  auch  tragiker  sind  nützlich,  lyriker  wegen  sitt- 
licher bedenken  nur  in  auswahl,  komiker  ebendeshalb  erst  später 
vorzunehmen,  an  der  lectüre  werden  die  redeteile  und  die  metrischen 
gesetze  eingeübt;  die  eigentümlichkeiten  der  poetischen  spräche, 
ungewöhnliche  ausdrücke  (glossemata).  tropen  und  figuren  werden 
beachtet,  praecipue  vero  illa  infigat  animis,  quae  in  oeconomia 
virtus,  quae  in  decore  rerum,  quid  personae  cuique  convenerit,  quid 
in  sensibus  laudandum,  quid  in  verbis,  ubi  copia  probabilis,  ubi 
modus,  also  auch  eine  ästhetische  Würdigung,  dazu  kommt 
die  sachliche  interpretation  (enarratio  historiarum).  der  lehrer  be- 
denke dabei,  dasz  es  zu  den  virtutes  grammatici  gehört  aliqua 
nescire ! 

Dem  grammaticus  fallen  auch  zu  einige  elementare  rhe- 
torische Übungen  (dicendi  primordia)^^^:  äsopische  fabeln  münd- 
lich und  schriftlich  nacherzählen,  verse  auflösen  und  mit  steigender 
freiheit  variieren,  bearbeitung  von  sententiae  (allgemeinen  Sätzen), 
chriae(anwendung  solcher  auf  einen  bestimmten  fall),  ethologiae 
(Charakterschilderungen)  im  anschlusz  an  die  lectüre  (quia  initium 
ex  lectione  ducunt);  narratiunculas  a  poetis  celebratas  notitiae 
causa  non  eloquentiae  tractandas  puto. 

Auch  indem  rhetorischen  Unterricht  können  wir  drei  selten 
unterscheiden,  die  einführung  in  die  rhetoi'ische  theorie,  die 
(prosa-) lectüre  und  die  mündlichen  und  schriftlichen  Übungen, 
über  die  form,  wie  die  theoretische  Unterweisung  erfolgen  soll, 
hat  sich  Quintilian  nicht  ausgesprochen,  in  den  Inhalt  derselben 
gewährt  uns  seine  institutio  einen  trefflichen  einblick.  die  lectüre 


234  I  4^  22—29.  235  I  5^  5_54.         aar,  j  g  237  j  7  238  j  g. 

ss'J  1  9. 


A.  Messer :  Quintilian  als  clidaktiker.  201 

von  bistorikern  und  besonders  von  rednern^*"  ist  freilieb  nur  bei 
den  griecbiscben  rbetoren  in  gebrauch  und  wird  auch  da  gewöhn- 
lich unterlehrern  überlassen.  Quintilian  empfiehlt  sie  dringend,  es 
soll  das  nicht  mehr  ein  elementarer  betrieb  sein,  bei  dem  der  lehrer 
vorliest,  der  schüler  nachliest  und  einzelne  ausdrücke  erklärt  werden, 
und  bei  dem  man  sich  mit  den  einzelnen  schülern  abgeben  musz, 
sondern  der  lehrer  soll  silentio  facto  unum  aliquem  (quod  ipsum 
imperari  per  vices  Optimum  est)  constituere  lectorem,  ut  protinus 
pronuntiationi  assuescant;  tum  exposita  causa,  in  quam  scripta 
legetur  oratio  (nam  sie  clarius  quae  dicentur  intelligi  poterunt) 
nihil  otiosum  pati  usw."^'  die  besprechung  richtet  sich  zunächst  auf 
die  inventio,  indem  sie  in  den  einzelnen  teilen  der  rede  die  ihnen 
eigentümlichen  Vorzüge  nachweist,  also  im  prooemium  die  kunst, 
den  hörer  zu  gewinnen,  in  der  narratio  kürze,  klarheit,  glaubwürdig- 
keit  usw.  auch  die  mittel,  durch  die  der  Verfasser  die  aflfecte  zu  er- 
regen weisz,  werden  zum  bewustsein  gebracht;  endlich  die  elocutio 
betrachtet. 

Auch  schlechte  reden,  besonders  solche,  die  dem  raode- 
geschmack  entsprechen,  sollen  behandelt  und  den  schülern  gezeigt 
werden,  warum  sie  schlecht  sind,  bei  all  diesen  besprechungen 
sind  die  schüler  durch  fragen  zur  mitarbeit  heranzuziehen,  ihr  urteil 
ist  zu  bilden. 

Für  die  auswahP'^  gibt  er  die  regel :  ego  optimos  quidem  et 
statim  et  semper  sed  tarnen  eorum  candidissimum  quemque  et 
maxime  expositum  velim.  also  ist  für  knaben  Livius  geeigneter  als 
Sallust,  der  zwar  ein  gröszerer  historiker,  aber  schwerer  verständ- 
lich ist.  unter  den  rednern  zuerst  Cicero  (et  iucundus  incipientibus 
quoque  et  apertus  est  satis,  nee  prodesse  tantum  sed  etiam  amari 
potest) ,  dann ,  nach  dem  rat  des  Livius ,  ut  quisque  erit  Ciceroni 
simillimus.  davor,  die  lectüre  der  älteren  (der  Gracchen,  Catos  u.  a.) 
mit  knaben  zu  betreiben,  glaubt  Quintilian  ebenso  warnen  zu  müssen 
wie  vor  der  lesung  der  modernen,  jene  sind  im  ausdruck  zu  rauh 
und  nüchtern,  diese  zu  zierlich  und  affectiert. 

240  II  5. 

^*^  auch  hier  ist  die  äuszere  seite  des  angeratenen  Verfahrens 
nicht  recht  klar,  folgt  auf  die  Vorlesung  der  ganzen  rede  (oder  etwa 
gröszerer  abschnitte)  die  darlegung  des  Sachverhalts  und  die  besprechung 
oder  —  wie  es  wohl  auch  lieiszen  könnte  und  wie  es  wohl  zweck- 
mäsziger  sein  dürfte  —  wird  nach  bestinimung  des  schülers,  der  zu 
lesen  hat,  der  Sachverhalt  auseinandergesetzt  und  dann  gleich  im  an- 
schlusz  an  einzelne  gelesene  abschnitte  die  rede  besprochen?  —  Die 
Worte:  silentio  facto  lassen  vermuten,  dasz  das  allgemeine  silentium, 
in  der  rhetorenschule  wenigstens,  nicht  das  gewöhnliche  war. 
für  die  grammatikerschule  läszt  die  bemerkung  (I  2,  15):  at  enim 
emendationi  praelectionique  numerus  obstat  den  schlusz  zu,  dasz  sich, 
wenigstens  bei  anleitung  zum  lesen  und  Verbesserung  (doch  wohl  der 
schriftlichen  arbeiten),  der  lehrer  lediglich  mit  den  einzelnen 
abgab,  ohne  allgemeine  aufmerksamkeit  und  demgemäsz  allgemeines 
silentium  zu  verlangen. 

2'2  II  5,  18-26. 


202  A.Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

Die  schriftlichen  und  mündlichen  Übungen  der  rhe- 
torenschule  werden  ausführlich  erörtert,  das  vierte  capitel  des 
zweiten  buches  gibt  die  verschiedenen  gattungen  der  themen  an. 
es  sind :  1)  narrationes.  2)  beweis  oder  Widerlegung  solcher  erzäh- 
lungen  (z.  b.  von  dem  raben,  der  dem  Valerius  im  kämpf  mit  dem 
Gallier  zu  hilfe  kam).  3)  lob  und  tadel  von  persönlichkeiten,  ver- 
gleichung  solcher.  4)  communes  loci  (z.  b.  in  adulterum,  aleatorem 
oder  adulter  caecus,  aleator  pauper).  5)  theses  (fragen  wie  rusticana 
vita  an  urbana  potior?  ducendane  uxor?  6)  leg  um  laus  ac  vitu- 
peratio  (besprechung  von  gesetzesvorschlägen:  eine  Übung  für  vor- 
gerückte)."^ dasz  die  schüler  auch  alle  ihre  derartigen  aufsätze  aus- 
wendig lernen  und  voi'tragen,  widerrät  Quintilian -^^:  es  sei  nützlicher, 
auserlesene  stellen  aus  rednern,  historikern  aliove  quo  genere  digno- 
rum  ea  cura  voluminum  lernen  zu  lassen,  diese  bieten  bessere 
Vorbilder,  die  sich  tief  in  die  seele  einprägen  und  unbewust  (non 
sentientes)  werden  die  schüler  bei  der  eignen  production  ihnen  nach- 
ahmen, ferner  übt  es  das  gedächtnis  mehr,  fremdes  als  eignes  zu 
lernen. 

Bei  diesen  aufsätzen  musz  zunächst  eine  bis  ins  einzelne 
gehende  anleitung  erfolgen. -^^  das  ist  nützlicher  als  die  sorg- 
fältigste correctur  nachher:  primum  quia  emendationem  auribus 
modo  accipiunt,  divisionem  vero  (die  mit  dem  lehrer  festgestellte 
disposition)  ad  cogitationem  etiam  et  stilum  perferunt;  deinde  quod 
libentius  praecipientem  audiunt  quam  reprehendentem  (beides  psy- 
chologisch sehr  richtig!),  allmählich  musz  allerdings  die  Selbständig- 
keit des  schülei's  gröszer  werden. 

Die  Verbesserung^'^  durch  den  lehrer  musz  die  gründe  der 
änderungen  erkennen  lassen  und  vor  allem  darauf  bedacht  sein,  den 
schüler  nicht  zu  ängstlich  in  seinem  arbeiten  und  mutlos  zu  machen. 

Die  declamationes^"  endlich,  die  eigentlichen  redeübungen 
(über  fingierte  stofife  aus  allen  drei  redegattungen),  nehmen  in  der 
rhetorenschule  den  breitesten  räum  ein.  Quintilian  billigt  dies,  wie 
sehr  er  auch  den  zu  seiner  zeit  üblichen  betrieb  verabscheut,  ihm 
gegenüber  betont  er,  dasz  die  declamationes  lediglich  den  zweck 
haben,  für  die  im  wirklichen  leben  vorkommenden  reden 
vorzubereiten,  sie  müssen  also  inhaltlich  und  formell  diesen 
möglichst  angenähert  werden. 

Sehr  beherzigenswerte  ratschlage  für  das  selbständige 
weiterarbeiten  an  der  eignen  rednerischen  (und  schriftstelleri- 
schen) aubbildung  enthält  das  zehnte  buch,  auch  auf  dieser  obersten 
stufe  lassen  sich  lectüre,  schriftliche  und  mündliche  Übun- 
gen unterscheiden,    die  lectüre  musz  jetzt  sehr  umfassend  wer- 


I 


*"  es  sind  dies  die  gebräuchlichen  rhetorischen  progymnasmata. 
vgl.  Volkmann,  rhetorik  der  Griechen  und  Kömer  bei  Iw.  Müller,  hand- 
buch  der  class.  altert.-wiss.  11  s.  457. 

244    II    7.  245    II    6.  ««    II    4,    10  —  14.  247    H    JQ. 


A.Messer:  Quiutiliau  als  didaktiker.  203 

den  ^^®,  in  gleicher  weise  poeten,  bistoriker,  redner  und  pbilosophen 
berücksichtigen ;  sie  musz  dabei  doch  sehr  sorgfältig  sein ,  nicht 
nur  das  einzelne,  sondern  nach  wiederholter  lefjung  auch  das  ganze 
der  litterarischen  producte  ins  äuge  fassen. -^^  für  schriftliche 
Übungen  gilt  Ciceros  wert"":  stilus  optimus  effector  ac  magister 
dicendi. 

Zunächst  langsam  und  mit  aller  Sorgfalt  schreiben-''!  summa 
haec  est  rei:  cito  scribendo  non  fit,  ut  bene  scribatur;  bene  scri- 
bendo  fit,  ut  cito  (§  10).  aber  man  kann  auch  in  der  Sorgfalt  zu 
weit  gehen :  nee  promptum  est  dicere,  utros  peccare  validius  putem, 
quibus  omnia  sua  placent  an  quibus  nihil  (§  12).  auf  die  nieder- 
schrift  folge  die  emendatio,  pai's  studiorum  longe  utilissima.'^'^ 
ihre  aufgäbe  ist  adiicere,  detrahere,  mutare.  man  gehe  erst  nach 
einiger  zeit  daran,  wenn  uns  die  eignen  producte  etwas  fremd  ge- 
worden, ne  nobis  scripta  nostra  tamquam  recentes  fetus  blan- 
diantur.  —  Et  emendatio  ipsa  finem  habeat! 

Da  es  sich  bei  diesen  Übungen  hauptsächlich  um  gewinnung 
von  Wortvorrat  und  gewandtheit  im  ausdruck  handelt,  so  empfiehlt 
sich  besonders  das  übersetzen  aus  dem  griechischen-^',  ferner 
die  wetteifernde  prosaische  bearbeitung  von  Stoffen,  die  schon  von 
dichtem  und  von  rednern  behandelt  worden  sind"^,  endlich  die 
manigfache  Variation  eigner  aufsätze  (von  den  oben  erwähnten 
themen  sind  dazu  besonders  geeignet  die  Be'ceic  und  loci  com- 
munes).'^^  die  declamationes  müssen  den  redner  auch  in  der  praxis 
stets  begleiten."^  auch  historisches,  dialoge  und  poetisches  musz 
hie  und  da  der  abwechslung  halber,  mehr  zur  erholung,  abgefaszt 
werden.  ^'='' 

Der  schon  vorgerücktere  jünger  der  rhetorik  schliesze  sich  an 
einen  bewährten  redner  an ,  wohne  oft  den  gerichtsverhandlungen 
bei,  höre  die  reden  beider  jjarteien  und  fasse  sie  selbst  nochmals  ab, 
so  wie  er  sie  für  angemessen  hält.  "^  von  dem  schriftlichen  con- 
cipieren  der  reden  schreitet  man  fort  zur  Vorbereitung  auf  reden 
(erst  kürzere,  dann  längere)  durch  blosze  meditation^^^;  und  dies 


*'8  der  doch  recht  reichhaltigen  litteraturübersicht  (X  1,  46 — 133) 
schickt  er  die  bemerkung  voraus:  fateor  enim  plures  legendos  esse 
quam  qui  a  me  nominabuntur. 

2«  X  1,  20. 

2=°  Cic.  de  or.  I  33,  60.  —  Die  Übungen  selbst  werden  im  dritten 
capitel  des  zehnten  buches  besprochen,  diese  geistvollen  ausführungen 
über  die  Imitation  im  zweiten  capitel  haben  wir  schon  in  anderm  zu- 
sammenhange gewürdigt. 

2^'  X  3,  5  ff.  das  schlieszt  nicht  aus,  dasz,  wenn  uns  gedanken 
und  Worte  reichlich  zuströmen,  ein  abschnitt  auch  einmal  rascher  hin- 
geworfen wird,  nur  musz  er  nachher  mit  kritik  nochmals  vorgenommen 
werden  (§  7). 

252    X    4.  253    X    5,    2  f. 

254  X  5,  4—8.         255  X  5,  9—13. 
2=s  X  5,  14.         25-  X  5,  15  f. 
2'»s  X  5,  17—20.         259  X  6. 


204  A.Messer:  Quintilian  als  didabtiker. 

führt  endlich  zu  dem  vermögen,  aus  dem  stegreifzu  reden,  das 
für  den  redner  unentbehrlich  ist  und  zugleich  den  höhepunkt  seiner 
leistungen,  die  schönste  frucht  seiner  Studien  bildet.^*" 


260  X  7.  —  Der  Vollständigkeit  halber  verzeichne  ich  hier  noch  die 
litteratur  über  Quintilian  als  didaktiker  und  pädagogen. 
dieselbe  bot  übrigens  für  die  vorstehende  arbeit  so  gut  wie  keine  aus- 
beute, sie  mag  aber  als  beweis  dienen  für  die  auch  im  vorigen  und  in 
diesem  Jahrhundert  fortdauernde  Schätzung  Quintilians  nach  der  hier 
behandelten  seite  hin;  denn  es  werden  darin  meist  die  gedanken  Quin- 
tilians von  den  betr.  Verfassern  zu  ihrer  gegenwart  in  Beziehung  gesetzt. 
Olpe,  Chr.  Ferd.,  progr.  de  Quintiliano  optimo  scholae  regendae 
magistro.  4.  Dresdae  1772.  —  Oettelius,  G.  Chr.,  de  consilio  Quin- 
tiliani  a  poetis  imprimis  Homero  et  Virgilio  lection.  iuvenil,  esse  in- 
cipiendam.  gymn. -progr.  4.  Salfeldiae  1782  (14  s.).  —  Lehrbuch  der 
schönen  Wissenschaften  in  prosa.  aus  d.  lat.  d.  Quintil.  unter 
d.  aufsieht  m.  anm.  u.  vorr.  v.  Schi  räch.  Heimst.  1773 — 75.  3tom. 
in  8".  nochmals  in  verbesserter  aufläge  von  Jul.  Billerbeck,  Helm- 
stedt 1825.  —  Andres,  Bonaventura,  Quinktilians  pädagogik  und 
didaktik  mit  anmerkungen  herausgegeben.  8'\  Wirzburg  1793  (195  u. 
122  s.).  (dieses  recht  interessante  buch  gibt  im  ersten  teil  eine  reihe 
Quintiliauischer  grundsätze,  die  mit  bezugnahme  auf  die  bestehenden 
Verhältnisse  weiter  ausgesponnen  werden,  im  zweiten  eine  Zusammen- 
stellung der  didaktisch  wertvollen  abschnitte  im  urtext.)  —  Quin- 
tilians lehren  und  Warnungen  an  junge  schriftsteiler,  aus  d.  lOn  b. 
ausgezogen,  von  d.  nachahmung  od.  nachfolge,  in:  mus.  f.  gr.  u.  röm. 
litt,  dritte  st.  (1795)  s.  124—132.  —  Billerbech,  H.  L.  J.,  comment. 
de  finibus  inter  studia  literarum  gymnasiorum  et  academiarum  regendis 
ad  meutern  Quintiliani  subiecta  ratione  ea,  quam  studia  gymn.  nostrorum 
et  acad.  postulant.  4.  Hildeshemiae  1800.  —  Gedicke,  L.  F.  G.  E., 
Quintilians  gedanken  über  d.  öff.  u.  häusl.  erzieh,  nebst  einigen  anm. 
u.  Zusätzen,  progr.  8.  Bautzen  1805.  —  Rüdiger,  Car.  Aug.,  de 
Quintiliano  paedagogo  prolusio.  4.  Fribergae  1820  (9  s.).  —  Otto, 
Quintilian  und  Rousseau,  eine  pädagogische  parallele,  gymn. -progr.  4. 
Neisse  1836  (19  s.).  —  Boeckh,  A.,  de  delectu  in  studiis  instituendo 
(Quint.  I  8).  ind.  lect.  hih.  1839/40.  4.  Berol.  1839  (4  s.).  kl.  sehr.  IV 
s.  471  ff.  —  Nisard,  .^ug. ,  de  imitandi  ratione  in  litteris  secundura 
Quintiliani  opinionem.  8.  Paris  1845  (21  s.).  —  Pilz,  Carl,  Quintilianus. 
ein  lehrerleben  aus  der  römischen  kaiserzeit.  8".  Leipzig  1863.  — 
Fleisch  mann,  Anton,  Quintilians  pädagogik.  progr.  d.  akad.  gymn. 
4.  \yien  1864  (38  s.).  —  Dassenbach  er,  Job.,  die  Verdienste  Quin- 
tilians um  den  sprachl.  unterr.  progr.  d.  real -gymn.  8.  Mähr.-Neu- 
stadt  1871  (13  s.).  —  Froment,  Th.,  quid  e  M.  Fabii  Quintiliani  ora- 
toria  institutione  ad  liberos  ingenue  nunc  educandos  excerpi  possit.  8. 
Parisiis  1874  (103  s,). 

(fortsetzung  folgt.) 
GiESZEN.  August  Messer. 


E.  Plaumann:  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich.     205 

17. 

DER  MYTHOS  VON  ADMET  UND  ALKESTIS  UND  DIE  SAGE 
VOM  ARMEN  HEINRICH. 


Dasz  die  liebe,  zumal  des  weibes,  zu  jedem  opfer  fähig  ist  und 
selbst  das  eigne  herzblut  freudig  für  den  geliebten  gegenständ  hin- 
gibt, ist  der  grundgedanke  in  dem  griechischen  mythos  von  'Admet 
und  Alkestis'  und  in  der  deutschen  sage  vom  'armen  Heinrich'. 

Die  offenbar  landläufige  form  der  erzählung  von  der  Alkestis 
finden  wir  beim  Apollodoros  in  seiner  ßißXioGriKr),  wo  sie 
I  9,  14—15  lautet:  0ipr\c  be  6  Kpriöeuuc  Oepdc  ev  GeccaXia  KTicac 
e^ewricev  "Ab)ariTov  Kai  AuKoOpfov.  AuKOÜpTOC  laev  ouv  rrepi 
Nepeav  KaiLUKrice,  Yn^ac  be  €upubiKr|V,  die  be  evioi  cpaciv  'A|ncpi- 
Geav,  eYtvvncev  'OcpeXiriv  KXriGevTa  'Apxe^opov.  'Abpr|TOu  be 
ßaciXeiiovToc  tujv  Oepüjv  eGriteucev  'AttöXXuuv  auTuj  luvricieuo- 
lievLfj  xfiv  TTeXiou  GuyaTepa  "AXKriCTiv.  eKCiviu  be  buuceiv  eTiaYTei- 
Xaiaevou  TTeXiou  ifiv  GuyaTepa  tlu  KaiaZeuHavTi  äp|ua  Xeoviuuv 
Ktti  KOtTTpuuv  'AttöXXuuv  CeuEac  ebujKev  •  ö  be  komicoc  rrpöc  TTeXiav 
"AXKriCTiv  Xa)ußdvei.  Guuuv  be  ev  toic  yömoic  eSeXctGexo  'Apieiuibi 
GOcai  •  bid  TOÜTO  töv  GdXajuov  dvoiEac  eupe  bpaKÖVTUuv  cneipaic 
ueTrXripuüjaevov. '  'AttöXXujv  be  emuiv  eEiXdcKecGai  ttiv  Geöv  ijuicato 
Tiapd  Moipoiv,  i'va,  öiav  "AbjuriTOC  )aeXXi]  xeXeutdv,  diroXuGri  toO 
Gavdiou,  dv  eKouciiuc  Tic  ÜKep  auToö  GvriCKeiv  eXiiiai.  ujc  be  f|XGev 
fi  ToO  GvriCKeiv  fme'pa  piie  toO  TiaTpöc  iir]Te  Tfjc  ^riipöc  unep  auToO 
GvncKeiv  GeXövTUüv  "AXxricTic  uTrepaireGave  •  Kai  auifiv  rrdXiv  dire'- 
ireimjjev^  fi  Köpri,  ujc  be  evioi  XeTOuciv  'HpaKXflc  [dveKÖ|uice]  M^X^- 
cdjuevoc  "Aibri-^ 

Das  wunderbare  Schicksal  der  Alkestis  hat  nun  auch  seinen 
dramatischen  dichter  bei  den  Griechen  gefunden,  und  zwar  den 
TTOiriTric  xpaYiKLUTaTOC,  den  Euripides.  das  stück  beginnt  mit 
einem  prolog,  der  uns  die  Vorgeschichte  des  dramas  gibt:  Zeus  hat 
den  wunderthätigen  arzt  Asklepios,  Apollos  söhn,  durch  seinen  blitz 
erschlagen,  weil  er  durch  seine  heilkunst  selbst  tote  dem  leben 
wiedergegeben,  im  zorn  hierüber  hat  Apollo  die  verfertiger  der 
blitze,  die  Kyklopen,  getötet,  wofür  ihm  Zeus  die  busze  auferlegt 


'  'schon  den  Homerischen  gedichten  sind  die  verschiedenen  formen 
nicht  fremd,  in  denen  sieh  der  mensch  dem  cultus  gegenüber  ver- 
sündigen kann,  denn  es  begeht  nach  ihnen  derjenige  einen  schweren 
frevel,  der  dem  dienste  eines  gottes  thätigen  widerstand  leistet  .  .  . 
oder  die  Verehrung  einer  gottheit  in  auffälliger  weise  vernachlässigt.' 
L.  Schmidt,  die  ethik  d.  a.  Gr.  II  s.  16. 

^  vgl.  Plato  symp.  179'=. 

^  so  wohl  schon  Phrynichos,  nach  ihm  Euripides  (fragm.  trag.  Phryn. 
2  und  3).  nach  andern  wird  sie  von  Herakles  aus  dem  Hades  geholt 
(Lucian,  dialog.  mortuor.  23:  Kai  ty\v  öiaoYevf)  juou  "AXKriCTiv  irap- 
6Tr^|i\|)aTe  'HpaKXei  x«piZö|uevoi.  Röscher,  ausführl.  lexicon  der  griech. 
u.  röm.  mythologie  u.  "AXKrjCXic.  seine  tbat  wird  auch  erwähnt  Apollodor 
ßißXioerjKri  2,  6. 


206     E.  Plaumanu:  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich. 

hat,  eine  zeit  lang  einem  sterblichen  dienstbar  zu  werden.  Apollo 
hat  nun  in  irdischer  gestalt  sich  als  hii-t  bei  seinem  freunde,  dem 
als  besonders  gastfreundlich  berühmten  könige  Admetos  von  Pherä 
verdingt ,  der  in  glücklicher  und  von  blühenden  kindern  gesegneter 
ehe  lebt  mit  Alkestis,  der  schönen  tochter^  (Eur.  Alk.  177  ff.)  des 
königs  Pelias  von  lolkos  (v.  37  ff.),  geliebt  von  seiner  gattin*  und 
von  glücklichen  unterthanen.  allein  die  götter  haben  ihm  den  tod 
bestimmt,  da  gelingt  es  dem  Apollo,  für  seinen  freund  von  den 
Mören  zu  erwirken ^  dasz  derselbe  dem  tode  entfliehen  solle,  wenn 
jemand  sich  freiwillig  für  ihn  opfere,  doch  kein  freund,  nicht  vater 
und  mutter  können  sich  trotz  ihres  alters  entschlieszen,  den  tod  für 
Admet  zu  wählen,  nur  Alkestis,  'seine  blühende,  lebensfrohe  gattin, 
die  glückliche  mutter  heranblühender  kinder',  ist  von  so  i-einer,  auf- 
opfernder liebe  zu  ihi*em  gemahl  beseelt,  dasz  sie  sich  bereit  erklärt, 
dem  Sonnenlicht  für  ihn  zu  entsagen,  und  heute  gerade  soll  sie 
sterben,  in  der  sichern  empfindung,  dasz  der  tag  der  entscheidung 
gekommen,  hat  die  fürstin  in  frischem  quell wasser  gebadet,  an  dem 
hausaltar  die  göttin  gebeten,  sich  ihrer  beiden  waisen  anzunehmen, 
dann  von  dem  schlafgemach ,  von  den  an  sie  sich  anschmiegenden 
kindern,  auch  von  der  ganzen  dienerschaft,  besonders  aber  von  ihrem 
gemahl  zärtlichen  abschied  genommen  zum  unsäglichen  schmerze 
des  letzteren,  jezt  treten  jene  alle  aus  dem  palast,  aber  Alkestis 
wird  bereits  schwächer  und  schwächer,  mit  der  beteuerung,  das?, 
sie  lediglich  aus  liebe  zu  Admet  sterbe,  verbindet  sie  schlieszlich  die 
bitte  an  den  gatten,  nicht  wieder  zu  heiraten,  und  er  verspricht  es; 
vielmehr  wolle  er  sein  ganzes  leben  hindurch  um  sie  trauern,  nie 
solle  gesang  und  saitenspiel  bei  ihm  wieder  erklingen;  sie  werde 
sein  'einzig  liebes  traumbild'  sein,  bis  sein  tod  sie  wieder  vereinen 
werde,  daraufhin  gibt  sie  die  kinder  in  seine  bände  und  sinkt  dann 
ohnmächtig  zusammen.  Admet  geht  nun,  für  die  bestattung  der 
fürstin  die  nötigen  Vorbereitungen  zu  treffen ,  und  von  seinem  ge- 
folge  wird  die  leiche  derselben  hinter  ihm  hergetragen.  —  Jetzt  er- 
scheint Herakles  und  fragt  nach  Admet,  derselbe  solle  ihm  den  weg 


*  vgl.  Hom.  II.  II  713—15: 

TüJv  (sc.  o'i  <l)€päc  ^v^iuovTo)  f\px'  'AburiTou  qpi\oc  iraTc  ^vöeKO  vriOiiv 
eö|ur|\oc-  TÖv  ütt'  'A&iariToio  x^Ke  öia  -fuvaiKwv 
"AXKrjCTic  ,  TTeXiao  eu-faTpOüv  elöoc  üpiccr]. 
vgl.  Paus.  V  17,  11. 

*  das    zärtliche   Verhältnis   von  Admet  und  Alkestis  betreffend  vgl. 
Hom.  Od.  VI  182  ff.: 

DU  |uev  Yctp  ToO  Y^  Kpeiccov  koI  äpeiov 
f]  06'  ö|.iocppov^ovT€  vormaciv  oTkov  IxT^ov 
ävi'ip  Kai  Tuvt'i  •  ttöW  äXfea  bucjueveecciv 
Xdpjuaxa  b'  eüjuev^Trici,  jnäXicxa  bi  t'  ^kXuov  aOroi. 
^  nach  Euripides  allerdings  durch  täuschung,  vielleicht  im  anschlnsz 
an    Aeschylus,     nach    dessen    Eumeniden   v.  172.  723   und    728  f.    (oiVLU 
TrapriiräTricac    dpxctiac   Oedc)   Apollon    die   Mören   trunken   gemacht  und 
in   der   trunkenheit   ihnen    das   versprechen  abgenommen  hat.     Röscher 
a.  a.  0.  u.  "AöiuriToc. 


E.  Plaumaun :  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich.     207 

weisen,  weil  er  nach  den  rossen  des  Diomedes  ausziehe,  gleich  tritt 
auch  Admet  in  trauerkleidern  samt  gefolge  heraus  und  heiszt  den 
gast  freundlich  willkommen,  der  erstaunt  gleich  nach  dem  gründe 
der  trauerkieider  fragt,  allein  Admet  antwortet  dauernd  auf  eine  so 
versteckte  art,  dasz  Herakles  hinter  den  eigentlichen  grund  seiner 
trauer  nicht  kommt,  von  Admets  gastfreundschaft  also  ungescheut 
gebrauch  macht,  durch  einen  diener  sich  in  die  freradenzimmer 
führen  und  wein  vorsetzen  läszt.  —  Als  Admet  jetzt  an  der  spitze 
des  trauerzuges  aus  dem  palaste  tritt,  kommt  auch  sein  vater  Pheres 
mit  dienern  und  grabesspenden  für  Alkestis  hinzu  und  spricht  jenem 
sein  mitgefühl  aus,  gleichzeitig  aber  auch  seine  befriedigung  dar- 
über, dasz  Admets  weib  für  ihn  gestorben  und  so  er,  der  vater, 
nicht  seines  kindes  beraubt  werde,  und  wünscht  dann  der  toten 
heil  in  der  unterweit.  Admet  aber  weist  des  vaters  teilnähme  und 
geschenke  schroflf  zurück,  ja  er  wendet  sich  schmähend  gegen  ihn 
mit  harten  woi'ten  des  Vorwurfs  darüber,  dasz  der  alte  in  sklaven- 
sinn  nicht  für  ihn,  den  söhn,  gestorben;  er  werde  in  zukunft  seine 
eitern  als  solche  nicht  mehr  betrachten,  und  sagt  sich  von  seiner 
kindespflicht  los.  Pheres  aber  leugnet  es,  dasz  nach  thessalischem 
und  griechischem  gesetze  eine  Verpflichtung  für  ihn  bestehe,  statt 
des  sohnes  zu  sterben,  vielmehr  zeuge  es  von  feigheit  des  sohnes, 
dasz  er  selbst  den  tod  gescheut  und  sein  weib  für  ihn  zu  sterben  be- 
schwatzt habe,  darin  bekunde  sich  seine  liebe  zum  leben,  und  diese 
behersche  auch  den  vater  und  dürfe  ihm  nicht  verargt  werden, 
schlieszlich  eilt  Pheres  in  hellem  zorn  davon,  während  Admet  ihm 
nachrufend  sich  nochmals  von  ihm  lossagt  und  dann  sein  gefolge 
auffordert,  die  verstorbene  zum  Scheiterhaufen  zu  führen.  —  Ein 
diener,  der  nun  aus  dem  palaste  tritt,  leiht  seinem  unmut  worte 
über  den  gefühllosen  und  anspruchsvollen  gast,  den  er  und  seine 
mitdiener  bewirten  müsten ,  ohne  sichs  merken  lassen  zu  dürfen,  in 
wie  traui-iger  läge  ihr  herr  und  sie  alle  sich  befänden  bei  dem  tode 
der  herrin,  die  allen  gleichsam  eine  mutter  gewesen,  gleich  er- 
scheint auch  Herakles  selbst,  mit  kränzen  geschmückt,  und  macht 
dem  diener  vorwürfe  wegen  seines  düstern,  dem  gaste  gegenüber 
unpassenden  aussehens,  und  fordert  ihn  auf,  vielmehr  mit  ihm  zu 
zechen,  weil  man  das  leben  genieszen  müsse,  so  lange  man  lebe. 
da  hört  er  nun  allmählich  zu  seiner  Verwunderung  von  dem  diener, 
dasz  nicht  ein  fremdes  weib,  sondern  Admets  gattin  selbst  gestorben 
sei.  erstaunt  darüber,  dasz  dieser  trotzdem  in  seinem  gastlichen 
sinne  ihn,  den  fremden,  empfangen  habe,  fragt  er  nach  der  be- 
gräbnisstätte  und  thut  sogleich  den  entschlusz  kund,  dafür  die 
Alkestis  für  ihren  gatten  wiederzuholen,  jetzt  kehrt  Admet  mit 
seinem  gefolge  vom  begräbnis  in  sein  ödes  haus  in  tiefer  trauer  mit 
seinen  verlassenen  kindern  zurück,  nicht  der  hinweis  seiner  greisen 
unterthanen  im  chor  auf  das  allgemeine  menschenloos,  noch  darauf, 
dasz  er  nicht  der  erste  sei,  dem  solches  geschehe,  nicht  die  ermah- 
nung,  sein  leid  mannhaft  zu  tragen,  nicht  der  trost  der  getreuen 


208     E.  Plaumann:  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinricli. 

diener  vei'mag  seinen  kummer  zu  lindern,  er  preist  vielmehr  das 
Schicksal  seiner  gattin ,  die  nun  über  alles  leid  erhaben  sei ;  er  aber 
komme  in  ein  ödes  haus,  ohne  freundlichen  grusz  zu  verwaisten 
kindern,  zu  weinenden  dienern,  und  dazu  werde  noch  üble  nach- 
rede kommen,  dasz  er  aus  feigheit  nicht  selbst  habe  sterben  wollen, 
sondern  sein  weib  für  sich  habe  sterben  lassen,  so  sei  bei  übler 
nachrede  und  bösem  geschick  sein  leben  nichts  nütze.  —  Nun 
kommt  Herakles,  ein  verschleiertes  weib  führend,  zurück  und  macht 
dem  Admet  vorwürfe,  dasz  er  ihm  über  den  tod  seiner  gattin 
nicht  die  Wahrheit  gesagt  habe,  da  er  ihm  nahe  genug  zu  stehen 
glaube,  um  sein  vertrauen  zu  verdienen,  dann  bittet  er  ihn,  das  ver- 
schleierte weib,  welches  er  im  kämpf  gewonnen,  ihm  aufzubewahren, 
bis  er  selbst  die  thrakischen  rosse  gewonnen.  Admet  aber  weist  zu- 
nächst jenen  Vorwurf  damit  ab,  dasz  er  aus  freundschaft,  um  Herakles 
nicht  weiter  ziehen  zu  lassen,  ihm  sein  leid  verhehlt  habe;  bittet  ihn 
dann  aber,  aus  verschiedenen  gründen  die  hut  der  Jungfrau  einem 
andern  zu  empfehlen,  weil  sein  schmerz  noch  zu  frisch  sei.  er  kann 
sich  jedoch  nicht  enthalten  einzugestehen,  dasz  an  wuchs  und 
haltung  diese  Jungfrau  seiner  verstorbenen  gattin  gleiche,  und  ein 
wunderbares  sehnen  zieht  seinen  blick  immer  wieder  auf  die  tief 
verschleierte  gestalt.  trotzdem  lehnt  er  die  aufnähme  derselben  ab, 
wie  oft  auch  Herakles  es  ihm  andeutet,  dasz  es  mit  ihr  eine  besondere 
bewandtnis  habe,  schlieszlich  musz  er  auf  des  Herakles  bitten  die 
Jungfrau  doch  in  empfang  nehmen;  und  nun  erhebt  dieser  den 
Schleier  mit  der  frage  an  Admet,  ob  sie  seinem  weibe  nur  gleiche,  und 
fordert  ihn  dann  auf,  sich  seines  glückes  zu  freuen  in  dem  besitze 
seiner  wiederbelebten  gattin.  erstaunt  tritt  Admet  zurück  in  der 
befürchtung,  es  sei  das  nur  ein  trugbild  der  hölle.  erst  als  Herakles 
ihm  das  gegenteil  versichert,  macht  sich  seine  freude  in  Worten  luft, 
und  er  gibt  deshalb  befehl  zu  groszen  opfern  und  festen  zur  feier 
dieses  freudigen  ereignisses^  wobei  des  mächtigen  Zeussohnes  in 
dankbarkeit  und  liebe  gedacht  werden  solle. 

Ein  blick  in  des  Euripides  drama  zeigt  uns,  dasz  er  in  der  Vor- 
geschichte einzelheiten  als  bekannt  voraussetzt  und  also  voraussetzen 
durfte,   so  ist  bei  ihm  nicht  ersichtlich,  warum  die  götter  dem  Admet 
den  tod  vor  der  zeit  bestimmt  haben ;  wir  müssen  also  doch  wohl 
den  bei  Apollodor  angegebenen  grund  auch  für  Euripides  annehmen ; 
denn  einen  grund  verlangen  wir  doch  beim  dramatischen  dichter, 
oder  soll  etwa  allein  die  allgewalt  des  Schicksals  als  solcher  ange- 
nommen werden,  da  v.  247  f.  Admet  von  sich  und  Alceste  sagt: 
öpqi  (Helios)  ce  Kd)ae  buo  KttKuJc  TrenpaYÖTac 
oubev  0eouc  bpdcavxac  dvö'  ötou  9avei? 
ferner  sind  an  stelle  der  Artemis,  die  ihre  Verletzung  durch  Admet 
rächt,   die  götter  in  ihrer  gesamtheit  eingesetzt,  womit  natürlich 

'  Klein,  gescbicbte  des  dramas  bd.  I  'hat  in  maszvoller  und  ge- 
rechter beurteilung  die  sebönheiten  des  Stückes  gewürdigt  und  bervor- 
gehoben'  (Ellinger).    vgl.  Scblegel,  über  dramat.  kunst  u.  litt.  II  245  f. 


E.  Plaumann:  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich.     209 

auch  der  eigentümliche  modus  der  räche,  wie  ihn  Apollodor  erzählt, 
gefallen  ist. 

Von  den  beiden  arten  ferner,  wie  nach  Apollodor  und  einer 
Variante  des  mythos  der  opfertod  der  Alkestis  belohnt  wurde, 
muste  der  dramatiker  natürlich  eine  wählen,  und  er  wählte  die, 
welche  unbedingt  als  die  dramatischere  erscheint,  wenngleich  wir 
den  Vorgang  nicht  sehen,  nämlich  die  Wiedergewinnung  derselben 
durch  den  kämpf  des  Herakles  mit  dem  tode,  den  ersterer  aus  dank- 
barkeit  für  den  urgastlichen  sinn  des  Admet  übernimmt  und  mit 
glück  zu  ende  führt,  denn  die  verherlichung  der  gastlichkeit  steht 
doch  neben  dem  preise  der  selbstlosen  liebe,  die  auch  vor  dem  vor- 
zeitigen tode  nicht  zurückschreckt,  —  ein  punkt,  der  um  so  wich- 
tiger ist,  als  der  Grieche  ungemein  am  leben  hieng  —  als  nebenidee 
des  dramas  auszer  allem  zweifei.  welch  ein  vorteil  dadurch  für  den 
Charakter  des  Admet  gewonnen  wird ,  werden  wir  gleich  sehen. 

In  Admets  charakter  ist  der  hervorstechendste  zug  sein 
edler  sinn,  der  sich  vorzüglich  in  uneingeschränkter  gastlich- 
keit bekundet.  Tipöc  T«P  Aiöc  eiciv  ctTiavTec  Eeivoi  (Hom.  Od. 
VI  207)  war  seine  unerschütterliche  Überzeugung,  und  daraus  folgte 
für  ihn  der  grundsatz,  die  gastfreundschaft  keinem  und  unter  keinen 
umständen  zu  versagen,  'so  hat  denn',  heiszt  es  auch  bei  L.  Schmidt, 
die  ethik  der  alten  Griechen  II  327,  'die  Alkestis  des  Euripides  an 
der  bedeutung  der  gastlichen  pflichten  eines  ihrer  hauptmotive, 
welches  trotz  der  hier  und  da  an  das  burleske  streifenden  ausführung 
hinreichend  hervortritt,  denn  Admetus,  der  seine  gastfreundschaft 
dem  gott  Apollo  gegenüber  schon  einmal  bewähren  konnte  (v.  568  ff.), 
findet  gelegenheit,  sie,  unter  eigentümlich  schwierigen  umständen  an 
Herakles  zu  üben,  dieser  ist  nach  langer  Wanderung  ermüdet  nach 
Pherä  gekommen,  und  Admetus  kann  ihm  nicht  verschweigen,  dasz 
sein  haus  durch  einen  todesfall  in  trauer  versetzt  ist,  verhindert  ihn 
aber  dennoch,  dasselbe  zu  meiden,  indem  er  ihm  verschweigt,  dasz 
die  betrauerte  sein  weih  ist.  dadurch  hauptsächlich  wird  Herakles 
so  gerührt,  dasz  er  sich  entschlieszt,  Alkestis  aus  dem  Hades  zurück- 
zuholen.' oft  und  deutlich  ist  daher  dieser  grundzug  von  Admets 
Charakter  durch  Euripides  betont,  so  darin,  dasz  Apollo  einst  aus 
dem  himmel  verbannt  gerade  zu  Admet  in  den  dienst  trat,  wie  jener 
selbst  sagt  v.  1  —  2: 

o)  buu|uaT'  'Ab|ui]Tei'  ev  oTc  eiXriv  etuu 

6ficcav  TpaneZiav  aivecai  Geöc  rrep  ujv. 
und  v.  8  —  10: 

eXOiLv  be  YöTav  xrivb'  eßoucpopßouv  Hevuj 

Ktti  Tovb'  ecujZiov  oTkov  ec  TÖb'  fiiuepac. 

öciou  f ap  avbpoc  ocioc  wv  eTuxxcvov  usw. 
vgl.  V.  68.  509  ff.  539  und  545  f. ,  wo  ihm  z.  b.  der  chor  den  Vor- 
wurf macht,  dasz  er  trotz  seiner  trauer  einen  fremden  bei  sich  auf- 
genommen habe,   den  er  aber  entrüstet  zurückweist  mit  der  vor- 
wurfsvollen frage  v.  553  f.: 

N.  Jahrb.  f.  phil.  u.  päd.  II.  abt.  1897  hft.  4  u.  5.  14 


210     E.  Plauniann:  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich. 

dXX'  ei  böiuujv  cqpe  Kai  iröXeujc  dirriXaca 

Eevov  inoXövia ,  luäXXov  dv  |a'  errr^vecac ; 
um  dann  gleich  hinzuzufügen  v.  555  f. : 

ou  bfJT'  errei  jjlox  cujaqpopd  juev  oubev  dv 

Ibieiujv  eTiYveT',  dHeviurepoc  b'  i^w. 
von  seinem  hause  überhaupt  sagt  er,  demselben  sei  jede  Verletzung 
der  gastlichen  pflichten  fremd,  v.  566  f.: 

rdiLid  b'  ouK  eTTiCTatai 

laeXaGp'  dTTiueeTv  oub'  drijudZieiv  Hevouc. 
daher  denn  auch  das  ungeteilte  lob,  das  die  greise  des  chors  (v.  569  flf.) 
in  einem  längeren  liede,  besonders  in  str.  1  und  4  ihm  spenden,  vgl. 
V.  809.  823.  830.  855  f. 

Doch  er  war  nicht  nur  gastlich,  sondern  überhaupt  sorg- 
fältig in  seinen  pflichten  gegen  die  götter,  wie  er  doch 
schon  oben  (v.  10)  als  dvr)p  ocioc  bezeichnet  worden  ist.  so  heiszt 
er  trotz  blutenden  herzens  doch  möglichst  heiter  den  Herakles  bei 
sich  willkommen  v.  509  : 

Xaip',  Ol  Aiöc  TTai  TTepceuuc  t'  dqp'  aijaaTOC. 
darum   darf  er  aber  auch  von  des  Herakles  gesinnung  gegen  ihn 
sagen  v.  511:  euvouv  b'  övia  c'  eHemcTaiuai.    er  ist  also  gott- 
geliebt,   und  deshalb  geht  sein  Schicksal  göttern  zu  herzen;   so 
sagt  Apollon  v.  42  : 

cpiXou  Tdp  dvbpoc  cujuqpopaic  ßapuvoiaai.  vgl.  v.  1116  f. 
war  also  sein  Verhältnis  und  verhalten  den  göttern  gegenüber 
im  allgemeinen  musterhaft,  so  erscheint  es  ebenso  gegenüber  den 
menschen,    und   zwar  sehen  wir  ihn  zunächst  als  einen  zärtlich 
liebenden  gatten;  ein  diener  berichtet  v.  201  f.: 

xXaiei  t'  aKomv  ev  xepoiv  cpiXiiv  ^x^v, 

Ktti  imii  npobouvai  Xicceiai    usw. 
so  fleht  er  Alkestis  an  v.  275  ff. : 

|afi  Tipoc  ce  Geijuv  xXric  )ne  npobouvai, 

\xr\  TTpoc  TTaiboiv  ouc  öpcpavieic, 

dXX'  dva  TÖX)ua* 

coO  Y dp  qpGijuevnc  oükct'  dv  eirjv  • 

ev  coi  b'  ec^iev  Kai  lr\v  Kai  )ari. 

cfiv  Ydp  qpiXiav  ceßö)aec9a. 
und  V.  341  f.: 

dpa  fioi  cxeveiv  irdpa 

TOidcb'  duapTdvovTi  cuZ;utou  ceGev; 
deshalb  will  er  auch  das  fremde  weib  nicht  in  sein  haus  aufnehmen, 
weil  ihr  anblick  ihn  dauernd  an  seinen  unersetzlichen  Verlust  erinnern 
und  ihm  heisze  thränen  des  Schmerzes  und  der  Sehnsucht  auspressen 
würde,    v.  1046  ff. : 

OUK  dv  buvaiMriv  irivb'  öpuJv  ev  buj|uaciv 

dbdKpuc  eivar  )ari  vocoOvti  )ioi  vöcov 

TTpocGrjc  dXic  fäp  cujacpopd  ßapOvo)aai. 


E.  Plaumann:  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich.     211 

wird  doch  schon  der  anblick  ihrer  altersgenossinnen  die  schmerz- 
liche erinnerung  seines  Verlustes  in  ihm  wecken,    vgl.  v.  952  f.: 
ou  fap  eHave'HoMai 

Xeuccuuv  bctjuapioc  inc  ejurjc  öjuriXiKac, 
und  die  einsamkeit  des  hauses,  die  öden  räume,  der  verwaiste  thron 
treiben  ihn  hinaus  v.  944  flf. 

Weil  er  sie  so  zärtlich  geliebt,  soll  auch  nie  ein  anderes  weib 
an  ihre  stelle  treten,  so  versichert  er  dem  Herakles  v.  1090:  OUK 
eCTi  TIC  TLub'  dvbpi  cuTKXi9r|C€Tai ,  nachdem  er  schon  vorher  ihr 
selbst  versichert  hat  (v.  928  ff.),  dasz  ihr  bild  nie  aus  seinem  herzen 
schwinden  werde: 

ecxai  Tab'  ecTai ,  )ufi  Tpecric  *  CTrei  c'  iffh 

Ktti  Ziüucav  eixov  Kai  öavoOc'  €)afi  T^vf] 

jaövri  KCKXricei,  koutic  dvxi  coö  rroxe 

TÖvb'  avbpa  vüjLicpri  GeccaXic  TtpoccpGeTHeTai  usw. 
es  ist  ihm  nach  solchem  verlust  das  eigne  leben  nicht  lieb,  ja  eine 
last,  und  er  wünscht  sich  selbst  den  tod  (vgl.  861  ff.),  daher  auch 
seine  fassungslosigkeit  bei  dem  unverhofften  wiedersehen  seiner 
gattin,  deren  erscheinung  er  für  ein  trugbild  der  hölle  halten  zu 
müssen  fürchtet,    v.  1123  ff. : 

Ol  Geoi,  Ti  XeEuj;   cpdcju'  dveXiriCTOV  TÖbe* 

Yuvaka  Xeuccuu  Triv  cjuriv  eTriTumuc , 

f|  Ke'pTOjuöc  )ae  9eoö  Tic  CKnXriccei  x^pd; 
daher  auch  seine  innig  zärtliche  begrüszung,  als  er  sich  von  der 
Wahrheit  der  erscheinung  überzeugt  hat;  v.  1133  f.: 

uj  qpiXTdxrjC  YuvaiKÖc  ö|U)Lia  Kai  be'iaac, 

e'xuj  c'  deXTTTOJC,  oöttot'  öipecGai  boKUJV, 
und  seine  jubelnde  freude,  an  der  er  sein  ganzes  volk  in  festen  und 
dankopfern  teilnehmen  zu  lassen  wünscht  v.  1155  ff.   auch  vgl.  noch 
V.  96  f.  231  f.  250  f.  264  f.  382.  384.  425  ff.  878  f.  895  ff.  1037  ff. 
1082.  1092.  1094.  1097.  1133  f. 

Wie  aber  sein  herz  von  liebe  zu  seiner  gattin  erfüllt  ist,  so 
hängt  es  auch  mit  innigkeit  an  den  Unterpfändern  ihrer  liebe,  den 
kindern;  er  ist  ein  zärtlicher  vater.  dies  erkennt  seine  gattin 
ihm  an  v.  302  f.:  ToOcbe  Ydp  qpiXeic  oux  fjccov  f\  'yw  iraibac  usw., 
und  er  selbst  lehnt  den  wünsch  nach  mehr  kindern  von  einer 
etwaigen  andern  frau  entschieden  ab  v.  334  f. : 

dXic  be  TTaibuuv,  Tüjvb'  övr|civ  euxojaai 

GeoTc  tevecGar  coO  ydp  oük  lijvriiueGa. 
Für  sein  volk  ferner  hat  er  ein  fürsorgliches  herz,  und 
es  besteht  zwischen  dem  herscher  und  seinen  unterthanene  in  schönes 
Verhältnis  gegenseitigen  Vertrauens,  'fürst  und  volk  reichen  sich  die 
band,  lieb'  und  treue  weihen  sich  dem  könige';  denn  er  ist  zwar  ein 
strenger,  aber  edler  fürst,  vgl.  v.  770  f.  als  z.  b.  Alkestis  beim  ab- 
schied von  den  ihrigen  die  bitte  ausspricht,  Admet  möchte  den 
kindern  ein  rechter  vater  sein  und  an  ihnen  ihre  stelle  zugleich  mit 
vertreten  und  nicht  mehr  heiraten,  damit  die  kinder  nicht  der  un- 

14* 


212     E.  Plaumann:  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich, 

gunst  einer  Stiefmutter  ausgesetzt  würden,  geben  schon  die  Vertreter 
des  Volks,  die  greise  des  chors,  ehe  er  selbst  es  ausspricht,  in  seinem 
namen  die  Versicherung  ab,  dasz  er  diese  bitte  der  frau  erfüllen 
werde,  v.  326  f.: 

6dpc€i,  irpö  TOUTOu  fäp  XeTeiv  oux  alojJiax' 

bpdcei  idbe  usw. 
ihre  teilnähme  an  der  trauer  des  fürsten  versichern  sie  v.  369  f. : 

Kai  )afiv  ifvj  coi  TrevBoc  ibc  qpiXoc  qpiXuj 

XuTTpöc  cuvoicu)  Triebe- 
und  V.  813: 

fiiaiv  becTTOTLuv  j^eXei  KttKd. 
Doch  sein  Charakter  hat  auch  Schattenseiten,  zunächst 
musz  uns  anstöszig  erscheinen  der  mangel  an  ehrerbietung 
gegen  seine  eitern,  speciell  seinem  vater  gegenüber,  dem  er  ins 
gesiebt  die  bittersten  vorwürfe  macht,  weil  er,  der  doch  an  der 
schwelle  des  todes  stehe,  sich  nicht  habe  entschlieszen  können,  für 
ihn,  seinen  söhn,  zu  sterben,    zu  Alkestis  sagt  er  v.  336  ff.: 

oicuj  be  TTev6oc  ouk  eTY\c\ov  tö  cöv, 

dXX'  ecT*  dv  aiujv  oüjaöc  dvTe'xil ,  Tuvai , 

CTUTÜJV  i^ev  r\  )lx'  exiKTev,  ex^öipu^v  b'  e)aöv 

TTtttepa*  XÖYUJ  ydp  rjcav  oük  epTMJ  (piXoi.  vgl.  v.  469  ff. 
auch  lehnt  er  des  vaters  grabesspenden  für  Alkestis  mit  entschieden- 
heit  und  in  der  schroffsten  weise  ab,  ja  er  sagt  sich  in  aller  form 
von  ihm  los ,  zweifelt  sogar  seine  Vaterschaft  bei  ihm  an ,  nennt  ihn 
einen  feigling  und  spricht  sich  selbst  von  jeder  Verpflichtung  gegen 
die  eitern  frei,  'und  doch  war  das  anrecht,  welches  als  der  unmittel- 
bare persönliche  gewinn  aus  dem  kinderbesitze  angesehen  wurde,  die 
pflege  im  alter'  (L.  Schmidt,  ethik  II  140).  da  der  vater  selbst- 
verständlich über  äuszerungen  seines  sohnes  von  der  art  mit  recht 
empört  ist,  so  findet  zwischen  ihnen  eine  recht  erregte  scene  statt 
(v.  629  ff.),  und  als  der  vater  voll  entrüstung  sich  entfernt,  ruft  ihm 
der  söhn  seine  obigen  äuszerungen  noch  nach  (v.  734  ff,),  'nun  ist 
aber  von  den  pflichten  der  eitern  gegen  die  kinder  nicht  häufig  die 
rede,  wohl  weil  das  Vorhandensein  einer  innigen  Zuneigung  zu  ihnen 
im  gründe  selbstverständlich,  ihr  fehlen,  wo  es  ausnahmsweise  vor- 
kommt, als  ein  zeichen  äuszerster  unnatur  betrachtet  wird,  einen 
um  so  wichtigeren  platz  nehmen  ...  die  pflichten  dieser  gegen  jene 
in  der  ethischen  reflexion  der  Griechin  ein'  (L.  Schmidt,  ethik  II 141). 
'von  seinen  kindern  gehaszt  und  verflucht  zu  werden,  ist  daher  nach 
Theognis  ein  schlimmeres  loos  als  der  tod  und  die  schwersten  krank- 
heiten'  (L.  Schmidt  a.  a.  o.  II  138).  so  können  wir  dem  Admet  den 
Vorwurf  nicht  ersparen,  dasz  er  wie  ein  undankbarer  söhn  zu  einer 
verkennung  seines  Verhältnisses  zu  den  eitern  sich  hinreiszen  läszt 
und  dem  vater  einen  Vorwurf  macht,  der  ihn  selbst  trifft,  'dagegen 
ist  es  nichts  als  eine  auf  die  lachlust  der  zuschauer  berechnete  um- 
kehrung des  naturgemäszen  Verhältnisses,  wenn  in  dieser  durchaus 


i 


E.  Plaumann:  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich.     213 

burlesken®  scene  (v.  629 — 738)  Admet  den  schein  annimmt,  als  ob 
es  ihm  fi-eistehe,  sich  von  seinem  vater  loszusagen,  weil  dieser  sich 
nicht  statt  seiner  gattin  für  ihn  geopfert  hat'  (Schmidt  a.  a.  o.  II  139). 
warum  aber  hängt  er  so  am  leben ,  dasz  er  selbst  des  lebens  seiner 
schönen,  jugendlichen  und  von  ihm  innig  geliebten  gattin  nicht 
schonen  mag?    sein  vater  sagt  ihm  ins  gesicht  v.  694  ff.: 

cu  foöv  dvmbujc  biejudxou  tö  ixy]  Gaveiv 

Ktti  Zifjv  TiapeXGujv  ifiv  Treirpiuineviiv  Tvx^^ 

TttÜTriv  KaiaKTOC.  (vgl.  v.  420  ff.) 
was  will  es  da  heiszen ,  dasz  er  sie  bittet  und  beschwört,  ihn  nicht 
zu  verlassen,  und  versichert,  dasz  sein  leben  für  ihn  dann  auch 
keinen  wert  mehr  habe;  dasz  er  das  loos  der  frau  preist,  die  nun 
bald  über  leid  und  schmerzen  erhaben  sein  werde;  und  wenn  er  be- 
reut, dai^z  er  nun  rechtlos  sein  dasein  weiter  führe,  dasz  er  jetzt,  wo 
er  sie  verloren,  erst  recht  ihren  wert  erkenne,    v.  935  ff. : 

q)iXoi,  YuvaiKÖc  bai)Liov'  euTuxectepov 

ToujuoO  vo|uiZ!uu,  Kairrep  ou  boKoOvö'  ö)aiuc. 

Tfjc  |uev  Ydp  oubev  d\YOC  ävperai  ttot€, 

TToXXuJv  be  jLiöxOujv  euKXenc  eTraucaio. 

e^tu  b'  öv  ou  xp^v  lr]v ,  Tiapeic  tö  |u6pci)aov 

XuTipov  bidEuj  ßioTov  dpii  jnavGdvuD. 
er  hat  selbst  die  empfindung,  dasz  man  ihm  den  Vorwurf  der  feig- 
heit  nicht  ersparen  und  er  also  der  gattin  beraubt  und  gleichzeitig 
beschimpft  leben  werde,    v.  954  ff. : 

epei  be  in'  öctic  exöpöc  wv  Kupei  xdbe  • 

iboö  TÖv  aicxpuic  KuvQ'  öc  ouk  eiXi]  öaveiv, 

dXX'  r|V  e'Til.uev  dviibouc  dvpuxict 

TTeqpeuTev  "Aibriv  eii'  dvr)p  eivai  boKei; 

CTu^ei  be  Touc  teKÖvrac  auTÖc  oü  Ge'Xujv 

eaveiv.   TOidvbe  Ttpöc  KaKoTci  KXriböva 

e'Huj.    Ti  juoi  Z!fiv  bfiia  Kubiov,  cpiXoi, 

KttKUJC  kXuovti  Ktti  KttKUJC  TTeTTpaf  OTi ; 
und  sein  eigner  vater  sagt  ihm  v.  696  ff . : 

eil'  e^riv  dv|iuxiav 

Xe'-feic,  YuvaiKÖc,  ui  KdKicO',  ficcri]ue'voc, 

ii  Tou  KttXoO  coO  TipouGave  veaviou; 
mit  seinen  obigen  werten  trifft  er  genau  das,  woran  wir  anstosz 
nehmen,  allein  vom  Standpunkt  des  Griechen  aus  schützt  ihn  eben 
die  unbedingt  gültige  liebe  zum  leben  und  wohl  auch  der  nunmehr 
unabänderliche  beschlusz  des  Schicksals,  dasz  Alkestis  sterben  müsse, 
nachdem  sie  sich  dazu  bereit  erklärt  und  somit  ihrer  pflicht  genügt 
hat,  wodurch  das  von  Admet  begangene  unrecht  an  dem,  was  ihm  das 
liebste  wai',  gerächt  wui'de.    freilich  sollte  er  sie  ja  dann  wieder  er- 


8  zur  erkliining  s.  G.  EUinger,  Älceste  in  der  modernen  litt.  s.  1. 


214     E.  Plaumann:  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich, 

halten,    'zu  den  festesten  Voraussetzungen  nämlich ,  von  denen  der  ^ 

glaube  der  alten  Griechen  nicht  lassen  mochte,  gehörte,  dasz  in  den 
Schicksalen  der  menschen  eine  strenge  gerech tigkeit  waltet,  welche 
das  gute  belohnt  und  das  böse  bestraft'  (Schmidt  a.  a.  o.  I  47).  und  \ 

ersteres  geschah  hier  damit,  dasz  Admet  nicht  nur  dem  tode  ent-  \ 

gieng,  sondern  auch  seine  gattin  wiedererhielt  dafür,  dasz  er  sich  -^ 

durch  ungewöhnliche  gastlichkeit  vor  allen  andern  menschen  aus- 
zeichnete, 'des  Admet  tod  aber  wäre  bei  dem  hohen  alter  seines 
vaters  Pheres,  sowie  auch  bei  der  noch  zarten  jugend  seines  sohnes 
Eumelos  nicht  blosz  für  sein  volk  ein  Unglück,  sondern  bei  der  gast- 
lichen gesinnung  des  Admet  auch  für  die  ganze  menschheit  ein 
groszer  verlust  gewesen.' 

So  ist  Admet  denn  ein  edler  fürst,  ein  liebender  und  innig  ge- 
liebter gatte,  ein  treuer  und  liebevoller  vater,  ein  gottesfürchtiger 
mann,  der  vor  allen  andern  menschen  durch  eine  bei  seinen  lands- 
leuten  hochgeschätzte  tugend  sich  auszeichnet,  dasz  er  trotzdem  in 
einem  falle  einer  gottheit  den  schuldigen  tribut  zu  zahlen  unter- 
läszt,  musz  er  schwer  büszen.  das  ist  das  tragische  in  seinem  ge- 
schick.  doch  schlägt  die  busze  schlieszlich  zu  seinem  glück  aus;  und 
das  schafft  uns  befriedigung. 

Wie  Admets  cardinaltugend  die  gastfreundschaft  ist,  so  ist 
es  bei  Alkestis  die  zärtliche,  selbstlose,  opferfreudige 
liebe  des  weibes  zu  ihrem  manne,  die,  um  ihn  zu  retten,  selbst  vor 
dem  tode  in  jugendlichen  jähren  nicht  zurückschreckt  (vgl.  Schmidt 
a.  a.  0.  I  204),  trotzdem  dasz  sie  ein  schuldloses  edles  weib  ist 
(vgl.  V.  324  flF.).    v.  282  ff.  sagt  sie: 

CTOü  ce  TTpecßeüouca  koivti  ific  ejufjc 

Hiuxiic  KttTacTTicaca  qpiljc  xöb'  eicopäv 

övriCKO) ,  TTapöv  )uoi  jui]  BaveTv  uirep  ceöev  usw. 
dies  erkennt  auch  ihr  gatte  tief  gerührt  an  v.  340  f. : 

cu  b'  dvTiboöca  tIic  ejuflc  ict  qpiXiaTa 

ijjuxnc  ^cuucac.    (vgl.  v.  384.) 
so  thut  auch  der  chor  v.  460  AT.  : 

cu  Totp.  iJL»  Mova  oi  qpiXa  YuvaiKuuv, 

cu  TÖV  auTttc 

eiXac  TTÖciv  dvii  cäc  otJLieTvpai 

ipuxäc  e^  "Alba* 
und  V.  439  flf. : 

icTuj  b*  "Aibac  ö  )Lie\aTXaiTac  Geöc  6c  t'  im.  kuOtt« 

TTribaXio)  T€  YepuJV 

veKpoTTOjaTTÖc  itei, 

TToXu  bri  TToXu  YuvaiKa  dpicxav 

XiMvav  'AxepovTiav  TTOpeu- 

cac  eXaia  biKuuTTuj. 
Vgl.  V.  231  f.  199  f!  150 f  144.84f.33flf.  so  thut  auch  Apollo  v.  17  f. 
und  der  diener  v.  615  f.  (vgl.  v.  154  flf.): 


E.  Plaumaim:  Admet  uud  Alkestis  und  der  arme  Heinrich.     215 

ecBXfic  Tctp  oubeic  dviepei  Kai  cuucppovoc 

YuvaiKÖc  f]|udpTiiKac- 
und  ebenso  Herakles  v.  1083  (vgl.  v.  824.  1013): 

YuvaiKÖc  keXfjc  lijaiiXaKac"  Tic  dvTepei; 
Ihre  Schuldlosigkeit  ist  betont  in  den  schon  oben  citierten 
Worten  Admets  v.  247  f. 

Dazu  steht  sie  noch  in  blühendem  alter,  ist  schön  und 
lebensfroh;  sie  selbst  sagt  v.  288  f.: 

oiib'  ecpeicdjuriv 

iißric  e'xouca  bilip'  ev  oic  eiepiröiuriv. 
und  Thanatos  meint  v.  55  in  bezug  auf  sie:' 

veujv  qpBivövTuuv  jaeTZiov  dpvujuai  ^ipac. 
der  dichter  schreibt  ihr  v.  159  zu  XeuKÖV  XPÖ«  und  v.  174  xpuuTÖC 
€i»eibfi  qpuciv  ('der  wange  zartes  rot')  und  Admet  sagt  v.  332  f.: 

ouK  ecTiv  oÖTuuc  oure  Traipöc  euYevoOc 

out'  elboc  dXXiuc  euTTpeTrecTdTri  ^vvr\. 
ihre  freude  am  leben  bekundet  der  diener  v.  205  f.: 

öjuujc  be  KaiTiep  c|uiKpöv  e|U7Tveouc'  e'Ti 

ßXe'ipai  TTpöc  aiiYdc  ßouXeTai  Tdc  fiXiou, 
und  V.  262  klagt  sie  selbst  tief: 

oiav  öböv  d  beiXaiOTttTtt  TTpoßaivuu 
und  V.  301 : 

ipuxfic  Ydp  oubev  ecTi  Ti|uidjTepov. 
dafür  ist  auch  beweisend  ihr  rührender  abschied  von  dem  Schlaf- 
zimmer und  ehebett,  wo  sie  einst  dem  geliebten  gatten  die  Jung- 
fräulichkeit geopfert  bat,  v.  177  S. 

Dazu  haben  sich  noch  andere  Vorzüge  gesellt;  sie  ist  eine  zart  - 
liehe  mutt er.  so  bittet  sie  v.  164  ff.  die  gottheit  des  bauses,  sich 
ihrer  verwaisten  kinder  anzunehmen : 

be'cTTOiv',  e-jih  Ydp  epxo|uai  xaTd  xöovöc, 

TtavucTttTÖv  Te  TTpocTTiTvouc'  aiTvicojuai, 

TeKv'  opqpaveOcai  rajud,  Kai  tuj  )li€v  qpiXri 

cuZieuHov  dXoxov ,  Tri  öe  Yevvaiov  ttöciv. 
tief  schmerzvoll  ruft  sie  v.  270  in  der  empfindung  von  dem  nahen 
des  todes  zu  den  kindern  aus : 

TGKVa  TEKV',  0UK6TI  be 

ouKETi  judTTip  cqpiJuv  ecTiv. 
auch   wünscht  sie  die  kinder  nicht  der  Ungunst  einer  Stiefmutter 
ausgesetzt  zu  sehen  v.  304  ff. 

Deshalb  genieszt  sie  auch  innige  liebe;  v.  991  ff.  heiszt  es  in 
dem  chorliede  von  ihr: 

qpiXa  juev  öt'  fjv  |ue6'  fnaOüv, 

(piXa  be  Gavouc'  ec  dei. 
schmerzerfüllt  ruft  ihr  söhn  Eumelos  aus  v.  393  f. : 

iuu  ]xo\  Tuxac.    luaia  be  KdTuu 

ßeßaKev,  oÜKeT'  ecxiv,  iL 


216     E.  Plaumann:  Adniet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich. 

.  ,c,,  /: 

TTüTep,  uqp  rikux). 

TTpoXiTToOca  b'  upiöv  ßiov 

ujpcpdvicev  iXdfiUJV.^ 
vgl.  V.  324.  264  f.  289  ff. 

Auch  ist  sie  eine  geliebte  fürstin  und  hei-rin.*  sc  ver- 
wünscht der  diener  den  dienst  bei  der  bewirtung  des  lästigen  gastes, 
des  Herakles,  da  er  dadurch  verhindert  werde,  seiner  geliebten  herrin 
das  letzte  geleit  zu  geben,  v.  765  ff.: 

Kai  vOv  eTib  laev  ev  bö)ioiciv  eciiiL 

Sevov,  TTavoöpYov  KXüuTra  Kai  Xi^ciiiv  Tivd, 

f\  b'  eK  bö)Liujv  ßeßrjKev  oub'  ecpecrröiariv 

oub'  eHeteiva  xeip'  äTTOi|uujZ!uuv  e|ufiv 

becTToivav ,  i\  |uoi  Ttäci  t'  oiKeiaiciv  fjv 

|ur|T)ip'  KaKÜüV  TctP  M^piujv  eppiiero 

öpTCtc  laaXdccouc'  dvbpöc  u-,\v, 
an  einer  andern  stelle  (v.  825)  klagt  derselbe  schmerzvoll:  aTTUüXö- 
jaecöa  Tidviec,  ou  Keivri  laövri.   vgl.  v.  773  ff.  762  ff. 

Beim  abschied  weinen  alle  diener,  und  jedem  reicht  sie  zum 
scbeidegrusz  die  band.    v.  192—96  vgl.  v.  213  ff.  105  ff.  79  ff. 

Der  chor  aber  begleitet  sie  beim  scheiden  mit  den  herzlichsten 
Segenswünschen  für  das  jenseitige  leben  v.  741  ff.: 

iuu  IUI.    cxeiXia  TÖX)aiic 

Ol  Yevvaia  ku\  \xeY  dpicTr), 

Xaipe-  TTpöcppoiv  be  xöövioc  6'  '€p)Liiic 

"Aibnc  le  bexo'T'.   ei  be  ti  KÖKei 

TiXeov  ecT'  «TaGoic ,  toutujv  lueiexouc' 

"Aibou  vujLiqpri  Trapebpeüoic. 
geradezu  göttliche  ehrung  wird  ihr  in  aussieht  gestellt,  jedenfalls 
sie  derselben  für  würdig  erklärt  v.  995  ff. : 

\ir\hk  veKpujv  ujc  cpOiiaevuJv  xuJMa  vo|uiZ:ec9a) 

TÜjußoc  Tdc  dXöxou,  öeoici  b'  ö)aoiujc 

Ti|adc6ai,  ceßac  euTTÖpuJv. 

Kai  TIC  boxMi«v  KeXeuBov 

eiaßaivujv  tdb'  epei' 

aüia  TTOie  rrpouGav'  dvbpöc, 


I 


vgl.  Schiller,  das  lied  von  der  glocke  v.  250  flf.: 
ach,  die  gattin  ists,  die  teure, 
ach,  es  ist  die  treue  mutter, 
die  der  schwarze  fürst  der  schatten 
wegführt  aus  dem  arm  des  gatten, 
aus  der  zarten  kinder  schar, 
die  sie   blühend  ihm  gebar, 
die  sie  an  der  treuen  brüst 
wachsen  sah  mit  mutterlust  — 
ach,  des  hauses  zarte  bände 
sind  gelöst  auf  immerdar; 
denn  sie  wohnt  im  schattenlande, 
die  des  hauses  mutter  war! 


E.  Plaumann:  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich.     217 

vöv  b'  ecTi  ladKaipa  baiiauuv  * 
Xaip\  o)  TTÖTvi',  eiü  be  boinc 
ToTai  viv  rrpocepoOci  cpfjiuai. 

Fügen  wir  nun  noch  hinzu,  dasz  sie  entschieden  gottes- 
fürchtig  ist,  wenn  sie  so  gottergeben  stirbt,  nachdem  sie  mit 
peinlicher  genauigkeit  die  religiösen  Vorbereitungen  zu  ihrem  tode 
vollzogen  (vgl.  v.  159  flf.),  so  dürften  die  hauptztige  ihres  Charakters 
zusammengestellt  sein  als  einer  liebevollen,  selbstlosen,  opferfreudigen 
frau,  einer  zärtlichen  mutter,  einer  fürsorglichen  fürstin  und  eines 
gottergebenen  weibes. 

Auch  Phädrus  bei  Plato  cu|aTTÖciov  179'"=  führt  Alkestis  als 
beispiel  dafür  an,  wie  die  wahre  liebe  den  menschen  selbstlos  macht 
und  ihm  sogar  den  mut  einflöszt,  für  den  geliebten  zu  sterben;  es 
heiszt  dort:  Ktti  diTexvujc,  ö  ecpr)  "0|ur|poc,  fievoc  ejunveOcai  evioic 
Tuuv  fipuiujv  TÖv  Geov,  toOto  ö  "Gpuuc  toic  epijuci  Trape'xei  tiTvö- 
inevov  nap*  auToO  ('als  seine  gäbe'  KLehrs). '"  Kai  juriv  uTrepa-rro- 
GvriCKeiv  ye  |uövoi  eGeXouciv  oi  epOuviec,  ou  |uövov  öti  dvbpec, 
dXXd  Ktti  Tuvakec.  toutou  be  Kai  r\  TTeXiou  GuTdinp  "AXkvictic 
iKavf)v  juapTupiav  rrapexeTai,  uTiep  ToObe  toO  Xötou,  eic  touc 
"eXXrivac  eGeXricaca  luövri  unep  toO  auTi^c  dvbpöc  dTToGaveiv, 
övTujv  auTuJ  TTüTpöc  Tc  Kai  lariTpöc-  ouc  eKeivri  tocoOtov  uirep- 
eßdXeio  irj  qpiXia  bid  töv  epojTa,  ujcre  dnobeiEai  auTOuc  dXXo- 
ipiouc  öviac  TUJ  uieT  Kai  6vö)naci  )uövov  irpocriKoviac.  Kai  toOt' 
epfacaiaevri  tö  epTOv  oütuu  KaXöv  ^'boSev  epYdcacBai  ou  pövov 
dvöpujTTOic  dXXd  Kai  toTc  GeoTc,  ujcie  ttoXXujv  rroXXd  Kai  KaXd 
epYaca|Ufevuüv ,  eüapiGjariioic  bri  ticiv  ebocav  toOto  y^Pöc  oi  Geoi 
eE  abou  dveivai  ndXiv  ir\v  vjjuxriv  dXXd  Kai  Tr]v  eKCivric  dveicav 
dTocGevTec  tuj  epfuj.  oütuü  küi  Geoi  xriv  Tiepi  töv  epoiia  ciroubriv 
le  Kai  dpeiriv  judXicxa  Ti|aujciv. 

Doch  Diotima  behandelt  es  in  ihrer  rede  in  Piatons  Gastmahl 
als  eine  selbstverständliche  Voraussetzung,  dasz  die  höchsten 
thaten  der  aufopferung  durch  den  gedanken  an  den 
gewinn  eines  ehrenvollen  namens  bei  der  nachweit 
eingegeben  werden,  und  erkennt  darin  eine  der  drei  formen 
des  dem  menschen  natürlichen  strebens  nach  der  teilnähme  an  der 
Unsterblichkeit  (Schmidt  a.  a.  o.  I  197).  und  auch  hierfür  wird 
Alkestis  als  beispiel  angeführt  und  damit  eine  etwas  veränderte  auf- 
fassung  des  motivs  zu  ihrer  that  gegeben ;  es  hätte  sich  dann  mit 
der  liebe  der  ehrgeiz  gepaart,  diese  berühren  sich  allerdings  bei 
Plato  sehr  eng.  vgl.  cu^Tröciov  178<='':  ö  Tdp  XP^'l  dvGpuuTTOic 
fiTeicQai  TiavToc  tou  ßiou  toic  jueXXouci  KaXujc  ßiiucecGai  toOto 
oÜTe  cuTTtveia  oiaTe  ejunoieiv  oütuj  KaXujc  oÜTe  Ti)Liai  ouTe  ttXoO- 
toc  out'  dXXo  oubev  d)c  epoic.  XeYw  be  hr\  ti  toOto;  Tfiv  |uev 
eTTi  ToTc  aicxpoTc  aicxuvr|v ,  im  be  toTc  KaXoic  cpiXoTiiuiav. 

Dann  heiszt  es  cu)li7t6ciov  208'='':  enei  T€  Kai  tujv  dvGpuuTTOiv 


8.  überhaupt  die  treffliche  Übersetzung  von  K.  Lelirs. 


218     E.  Plaumann:  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich. 

€1  eGeXeic  eic  iriv  (piXoTi)uiav  ßXeqjai,  Qavixaloic  av  ific  dXoTiac 
iT€pi  ä  eTUJ  eipHKa,  ei  )Liri  evvoeic,  ev9u)uri9eic  ibc  beivüuc  bidKeiviai 
epujTi  Toö  övo|uacToi  Yeve'cGai  küi  kXeoc  eic  töv  dei  xpövov 
dedvaiov  KttTaBecGar  Kai  uirep  toütou  kivöuvouc  re  Kivbuveueiv 
eTOi)aoi  eici  -rrdviec,  judXXov  r\  uirep  tujv  Tiaibtjuv,  Kai  xpiFai' 
dvaXiCKeiv  Kai  ttövouc  TToveTv  oücTivacoOv  Kai  ÜTrepaTroBvriCKeiv. 
enei  oi'ei  cu,  eqpri,  "AXktictiv  unep  'AbjuriTou  dnoeaveiv  dv  r]  'AxiX- 
Xe'a  TTaTpÖKXuj  eTranoGaveTv  11  TrpoaTroGaveiv  dv  tov  fmeiepov 
Köbpov  ÜTTep  xfic  ßaciXeiac  tujv  Traibiuv,  (nil  oio/aevouc  aGdvaiov 
)iivri|uiiv  dpeific  nepi  auTUJV  ececGai,  i^v  vOv  vnueTc  e'xoiaev.  ttoXXoO 
Ye  bei,  ecpri'  dXX\  oTjuai,  uirep  dpeific  dGavdiou  Kai  Toiauiric 
böHric  euKXeouc  navtec  ndvia  rroioOciv,  öcuj  dv  djueivouc  uici, 
TOCOUTUJ  jadXXov.  tou  fäp  dGavdiou  dpujciv.  (vgl.  Schmidt  a.  a.  0. 
I  204). 

Danach  ist  der  ehrgeiz  eine  natüi'liche  folge  von  der  liebe  oder 
untrennbar  verbunden  mit  ihr. 

Bei  den  Römern  wurde  der  mythos  von  der  Alkestis 
auch  vielfach  auf  der  bühne  aufgeführt,  ein  beweis  für  das  Interesse, 
■welches  man  der  that  der  Alkestis  entgegenbrachte,  vgl.  Juvenal 
6,  652:  spectant  subeuntem  fata  mariti  Alcestim;  als  stoff  eines 
pantomimus  nennt  ihn  Lucian  de  saltu  52  (vgl.  Röscher  a.  a.  0.).  ein 
stück  des  Laevius  mit  dem  titel  Alcestis  wird  erwähnt  von  Gellius 
noct.  Attic.  19,  7.  'wenn  nun',  heiszt  es  bei  Friedlaender  in  der 
Sittengeschichte  I  511  f.,  'hier  vorzugsweise  schwächen  und  thor- 
heiten,  verirrungen  und  laster  der  römischen  frauen  geschildert 
worden  sind,  so  ist  der  grund  nur  der,  dasz  die  Zeitgenossen  sich 
mit  Vorliebe  darüber  verbreitet,  bei  ihren  scheinlosen  fugenden  aber 
selten  verweilt  haben,  da  diese  der  satire  wie  der  rhetorik  keinen 
oder  keinen  so  dankbaren  stoff  boten,  doch  fehlt  es  nicht  ganz  an 
Schilderungen  von  eben,  in  welchen  'die  gatten  durch  gegenseitige 
liebe  und,  indem  wechselweise  eines  sich  dem  andern  unterordnete, 
in  wunderbarer  eintracht  lebten:  wobei  das  verdienst  einer  guten 
frau  um  ebenso  viel  gröszer  ist,  als  (bei  einer  unglücklichen  ehe) 
die  schuld  einer  schlechten'  (Tac.  Agric.  c.  6);  an  Schilderungen 
von  gattinnen  und  müttern,  die  das  licht  des  hauses  waren  (wie 
Annia  Regula,  die  gemablin  des  Herodes  Atticus  auf  ihrem  grab- 
mal  genannt  wird),  namentlich  die  briefsammlung  des  jüngeren 
Plinius  lehrt  uns  eine  reihe  edler  und  trefflicher  frauen  kennen,  er 
berichtet  auch  den  heldenmütigen  tod  einer  frau  aus  seiner  Vater- 
stadt Como,  den  er  mit  recht  dem  so  viel  gepriesenen  der  älteren 
Arria"  gleichstellt,  bei  einer  fahrt  über  den  Comer-see  hatte  ihm 
ein  älterer  freund  eine  villa  und  an  dieser  ein  über  das  wasser  vor- 
springendes gemach  gezeigt,  aus  dem  jene  junge  frau  mit  ihrem 
mann  sich  herabgestürzt  hatte,  derselbe  litt  infolge  einer  langen 
krankheit  an  fressenden  geschwüren ;  er  zeigte  sie  seiner  frau  und 


I 


vgl.  Plin.  epp.  III  16.  Tac.  ann.  16,  34.  Martial  I  14. 


E.  Plaumann:  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich.     219 

fragte  sie,  ob  sie  das  übel  für  heilbar  halte,  es  erschien  ihr  hoff- 
nungslos, sie  ermahnte  ihn,  sich  den  tod  zu  geben  und  war  dabei 
nicht  nur  seine  gefährtin,  sondern  auch  seine  führerin  und  sein  Vor- 
bild; sie  banden  sich  aneinander  und  stürzten  sich  so  in  den  see."^ 
diese  that  erinnert  an  den  opfertod  der  Alkestis,  wenn  hier  auch  die 
frau  nicht  für  den  mann  stirbt,  aber  doch  stirbt  sie  mit  ihm  ge- 
meinsam und  ist  seine  führerin  zum  tode;  sicherlich  hätte  sie,  — 
die  empfindung  haben  wir  —  wohl  auch  ersteres  gethan ,  wenn  es 
zu  seiner  rettung  gedient  hätte. 

Der  mythos  von  der  Alkestis  ist  nun  auch  in  der  modernen 
litteraturoft  dramatisch  behandelt  worden,  betreffs  dieses  punktes 
kann  ich  auf  eine  interessante  und  lehrreiche  kleine  schrift  'Alceste 
in  der  modernen  litteratur'  (Halle  a.  S.,  buchhandlung  des  Waisen- 
hauses 1885)  von  Georg  E  Hing  er  verweisen,  der  darin  'der  ganzen 
entwicklungsgeschichte  dieses  stoffs  in  der  neueren  dichtung  nach- 
geht und  dieselbe  in  ihren  einzelnen  phasen  verfolgt',  also  sämtliche 
dramatische,  gesungene  und  nicht  gesungene  bearbeitungen  der 
Deutschen,  Franzosen,  Italiener,  Engländer,  originale  und  Über- 
setzungen, selbst  die  volksschauspiele  oder  Puppenspiele  mit  ein- 
geschlossen von  Hans  Sachs  bis  Herder  durchgebt,  ihren  Inhalt  an- 
gibt und  eine  kurze  kritik  ihnen  beifügt,  den  inhalt  möge  man  dort 
nachlesen,  doch  ist  es  vielleicht  nicht  uninteressant  oder  überflüssig, 
wenn  ich  in  kurzen  Worten  die  von  Ellinger  über  die  einzelnen  stücke 
gefällte  kritik  wiedergebe  und  mich  darauf  beschränke,  nur  stellen- 
weise kurze  bemerkungen  hinzuzufügen. 

Die  zahl  der  bearbeitungen,  die  Übersetzungen  mit  einbegriffen, 
beträgt  nicht  weniger  als  zwanzig,  darunter  elf  von  Deutschen,  je 
vier  von  Franzosen  und  Italienern  und  eine  von  einem  Engländer, 
zeitlich  folgen  diese  stücke  so  aufeinander: 

Hans  Sachs  (1494 — 1576)  tragedia  mit  VII  personen,  die 
getreu  frau  Alceste  mit  ihrem  getreuen  mann  Admeto  und  hat 
3  actus  (1551):  interessant  nur  wegen  des  stoffs.  —  Der  Alceste- 
stoff  ist  mit  der  ermordung  von  Alcestens  vater  Pelias  durch  Medea 
verquickt.  —  Wie  alle  trauerspiele  des  Hans  Sachs  äuszerst  schlecht 
gearbeitet  (E.  s.  2  ff.). 

Alexander  Hardy.  tragödie:  Alceste  ou  la  Fidelite  (1602), 
jedenfalls  nach  Euripides  gearbeitet,  vermittelt  durch  die  lateinische 
Übersetzung  des  Schotten  Buchannan  (1506  —  82).  dem  modernen 
dichter  erschien  es  anstöszig,  dasz  Admet  bei  Euripides  in  Alcestens 
Opfer  einwilligt,     und   bei  allen  Verschiedenheiten  der  modernen 

1*  s.  Plin.  epp.  VI  24:  navigabam  per  Larium  nostrum,  cum  senior 
amicus  ostendit  mihi  villara  atque  etiam  cubiculum,  quod  in  lacum  pro- 
minet: 'ex  hoc',  iiiquit,  'aliquando  municeps  nostra  cum  marito  se  prae- 
cipitavit'.  causam  requisivi.  maritus  ex  diutino  morbo  circa  velanda 
corporis  ulceribus  putrescebat:  uxor  ut  inspiceret  exegit;  neque  enim 
quemquam  fidelius  indicaturum  possetne  sanari.  vidit,  desperavit;  hor- 
tata  est,  ut  moreretur  comesque  ipsa  mortis,  dux  immo  et  exemplum 
et  necessitas  fuit.     nam  se  cum  marito  llgavit  abiecitque  in  lacum. 


220     E.  Plaumann :  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich. 

Alceste-dramen  ist  doch  dieser  zug  allen  gemeinsam,  dasz  Alceste 
gegen  den  willen ,  meist  auch  ohne  willen  des  Admet  ihre  that  voll- 
führt (E.  s.  4  ff.  u.  36  ff.).'"  das  stück  selbst  enthält  unorganische 
Zusätze  aus  der  Hercules-  und  Theseussage  —  es  fehlt  deshalb  die 
einheit  —  die  dramatische  technik  ist  mangelhaft,  doch  versuche 
darin ,  Spannung  zu  erregen  —  die  änderungen  des  Euripides  nicht 
immer  glücklich'  (E.  s.  6f.). 

Quinault:  Alceste  ou  le  triomphe  d' Aleide  (1674).  oper. 
musik  von  Lullj.  beeinfluszt  durch  Hardy.  —  Sieht  man  von  dem 
vergleich  mit  dem  antiken  stücke  und  einigen  andern  mangeln  ab, 
so  ist  es  geschickt  gemacht  —  streben  nach  genauer  motivierung  — 
abwechslung  in  der  handlung  —  zarte  und  anmutige  verse  —  manig- 
fache  decorationskünste.  —  Getreues  abbild  der  anschauungen  des 
Zeitalters  Ludwigs  XIV:  kein  glaube  an  eheliche  treue,  'die  ehe 
zerstört  die  Zärtlichkeit  und  macht  die  liebe  reizlos:  wollt  ihr  ewig 
lieben,  so  heiratet  niemals!'  diese  worte  Cephisens  sind  charak- 
teristisch für  Quinault;  sie  bezeichnen  den  geist,  welcher  das  ganze 
stück  beherscht  und  durchdringt,  daher  Admet  und  Alceste  nicht 
gatten,  sondern  liebende  (E.  s.  7  flf.). 

Wolfhart  Spangenberg,  deutsches  textbuch  zu  der  im 
jähre  1604  auf  dem  Straszburger  akademietheater  aufgeführten 
lateinischen  Übersetzung  der  Euripideischen  Alkestis  von  Buchannan 
(E.  s.  12). 

Zwei  deutsche  Übersetzungen  der  Alceste  des  Quinault 
(oper),  beide  in  Hamburg  aufgeführt,  schon  Wieland  kannte  die 
beiden  stücke  und  hat  sie  im  deutschen  Merkur  (1773)  analysiert 
(in  dem  aufsatze:  über  einige  ältere  deutsche  Singspiele,  die  den 
namen  Alceste  führen  usw.;  von  der  zweiten  Übersetzung  sagt  übri- 
gens Wieland,  dasz  sie  1719  auf  dem  groszen  Braunschweigischen 
theater  aufgeführt  sei). 

Die  erste  der  beiden  Übersetzungen  ist  von  einem 
sonst  unbekannten  herrn  Matsen  schon  1680  verfaszt.  die  verse 
sind  plump,  der  Personenstand  ist  vermehrt  durch  die  hanswurst- 
artige persönlichkeit  des  Rochas  (E.  s.  12)  'Alceste  und  hans- 
wurst  —  ein  barokkischer  einfall',  sagt  Wieland  in  jener  abhand- 
lung,  'wobei  dem  poeten  selbst  das  herz  ein  wenig  geschlagen  zu 
haben  scheint!  allein  er  rechtfertigt  sich  in  seiner  vorrede  damit: 
'dasz  dieser  Rochas  nicht  für  morose  und  stoische  köpfe,  sondern 
für  leute,  welche  einen  zulässigen  scherz  lieben,  hinzugefügt  sei', 
und  beweiset  die  zulässigkeit  der  sache  durch  eine  stelle  des  ge- 
lahrten D.  Morofs,  welche  unglücklicherweise  für  seinen  Rochas 
nichts  beweist.' 

Die  zweite  Übersetzung  ist  von  dem  bekannten  hofpoeten 

'^  dasz  aber  auch  schon  im  altertum,  und  zwar  bei  den  Römern, 
vereinzelte  stimmen  sich  geltend  machten,  welche  die  einwilligung  des 
Admet  in  das  opfer  der  Alcestis  nicht  billigten,  darüber  s.  Ellinger  a.  a.  o. 
s.  56  m.  im  nachtrag. 


E.  Plaumann:  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich.     221 

Johann  Ulrich  Koenig  von  1719.  auch  hier  ist  der  Personen- 
stand des  Quinault  vermehrt  durch  die  Amazonenkönigin  Hippo- 
lite  (!).  die  Übersetzung  ist  nicht  so  steif  und  ungelenk,  wie  die 
Matsens,  doch  ist  die  dichtung  im  Verhältnis  zum  original  sehr  ver- 
wässert (E.  s.  12  ff.).  —  Wieland  bemerkt  übrigens  zu  Koenigs 
notiz  in  seinem  vorbericht,  sein  werk  sei  einesteils  eine  Übersetzung 
der  französischen  Alceste,  dasz  in  der  that  der  deutsche  dichter 
durchaus  so  viel  an  dieser  geändert,  davon-  und  dazugethan  habe, 
dasz  er  seine  Alceste  mit  gutem  fug  für  seine  eigne  Schöpfung  hätte 
ausgeben  können,  'was  am  meisten  an  ihm  gelobt  zu  werden  ver- 
dient ,  ist ,  dasz  er  die  würde  des  sujets  besser  in  acht  genommen 
und  die  komischen  scenen  weggelassen  hat,  welche  bei  Quinault  das 
wenige  Interesse,  das  die  ernsthaften  allenfalls  erregen  könnten,  fast 
gänzlich  vernichten.' 

Des  Italieners  Aurelio  Aureli  drama  (oper)  L'Antigona 
delusa  d' Alceste,  entstanden  1664.  nur  der  anfang  schlieszt 
sich  an  Euripides  an,  dann  vermischt  der  dichter  den  mythos  nach 
weise  der  italienischen  operndichtung  des  17n  Jahrhunderts  mit 
einem  modernen,  völlig  frei  erfundenen  stoff,  einer  ganz  modernen 
eifersuchtsgeschichte.  auch  rein  dramatisch  betrachtet  ist  nichts  zu 
loben  (E.  s.  14  ff.),  auch  Wielands  urteil  lautet  ähnlich:  ^Aurelis 
oper  ist,  wie  die  italienische  oper  jener  zeit  überhaupt,  phantastisch 
im  Inhalt;  da  ist  keine  idee  von  dem  stück  des  Euripides,  das  zu 
kennen  der  dichter  scheinbar  absichtlich  verleugnet;  bis  auf  die 
namen  ist  alles  erfindung  und  ganz  gegen  den  geschmack  des  landes, 
in  dem  es  spielt,  der  dichter  will  nur  erstaunen,  nicht  Interesse  für 
seine  personen  erwecken,  einfachheit  des  planes  ist  principiell  ver- 
mieden, ebenso  das  natürliche  der  ausführung.  eine  menge  von 
personen  kommt  darin  vor  usw.'  übrigens  wählte  Haendel  das 
drama  Aurelis  zur  grundlage  für  seine  oper. 

Deutsche  Übersetzung  von  Aurelis  drama  vom  jähre 
1693.  Wieland  nennt  als  Übersetzer  einen  Paul  Thiemich,  der 
schule  zu  St.  Thomas  in  Leipzig  collegen.  die  Übersetzung  ist  von 
ähnlicher  qualität  wie  die  Übersetzung  der  Alceste  des  Quinault 
durch  Matsen  (E.  s.  19).  im  anschlusz  an  Aureli  und  durch  ihn  d.  h. 
durch  die  eben  angeführte  Übersetzung  desselben  beeinfluszt  sind 
zu  nennen  drei  deutsche  volksschauspiele  (Puppenspiele); 
denn  zu  den  ständigen  repertoirestücken  des  puppentheaters  gehörte 
die  Alceste:  a)  von  einem  solchen  berichtet  F.  v.  Matthisson ,  er- 
innerungen,  Zürich  1810;  b)  noch  stärker  durch  Aureli  beeinfluszt 
ist  ein  zweites  Puppenspiel  'Alceste  oder  der  Höllenstürmer';  c)  ein 
drittes  Puppenspiel  'der  betrogene  ehemann  oder  der  seltsame  und 
lächerliche  jungfernzwinger',  das  übrigens  auszer  dem  namen  des 
Admet  mit  der  Alceste -sage  gar  nichts  zu  thun  hat  (vgl.  über  alle 
drei  E.  s.  19  ff.). 

Des  Italieners  Pierjacopo  Martello  (1665 — 1727)  drama 
(oper)  'Alceste' :  bestreben  alles  wunderbare  wegzulassen  und  durch 


222  C.  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen. 

natürliche  Vorgänge  zu  ersetzen ;  aber  nicht  consequent  durchgeführt, 
wie  es  die  figur  des  Hercules  beweist  (E.  s.  22  f.). 

Drama  des  Engländers  Thomson:  der  stoff  ist  völlig  ins 
moderne  übergeführt;  titel  'Eduard  und  Eleonora'.  so  interessant 
der  versuch  auch  ist,  den  alten  stoff  in  ein  neues  gewand  zu  kleiden, 
so  wenig  kann  diese  bearbeitung  den  künstlerischen  ansprüchen 
genügen:  mangel  an  dramatischer  bewegung;  personen  zu  wenig 
interessant,  weil  zu  gleichartig  in  edelmut;  ganze  stellen  aus  dem 
Euripides  entlehnt  nicht  zum  vorteil  des  modernen  dramas.  inter- 
essant Lessings  äuszerst  günstiges  urteil  darüber,  wie  er  es  später 
schwerlich  gefällt  haben  würde  (E.  s.  24 — 29). 

Des  Italieners  Calsabigi  gesungenes  drama  'Alceste':  es 
ist  die  einzige  Alceste ,  die  sich  durch  Glucks  musik  immer  auf  den 
bühnen  erhalten  hat.  C.s  drama  verrät  geschmack  und  Verständnis ; 
er  strebt  zur  einfachheit  des  Euripides  zurück;  keine  verwirrenden 
episoden  und  zusätze;  nebenpersonen  nur  im  notfalle,  ja  der  Hercules 
des  Euripides  fehlt  sogar  ganz  (die  gestalt,  in  der  wir  Glucks  Alceste 
jetzt  auf  der  bühne  sehen,  ist  die  französische  bearbeitung  der  oper, 
in  die  man  die  gestalt  des  Hercules  eingefügt  hat).  (E.  s.  29  ff.) 
(Fortsetzung  folgt.) 

Danzig.  E.  Plaumann. 


18. 
EIN  VERSUCH   DIE    LEHRE  VOM  GEBRAUCH  DER  ZEIT- 
FORMEN,   BESONDERS    IM    FRANZÖSISCHEN,    ZU    VER- 
VOLLSTÄNDIGEN,   ZU    BERICHTIGEN    UND    AU^    IHREN 
GRUND  ZURÜCKZUFÜHREN. 


Vor  zwanzig  jähren  etwa  machte  ich  den  versuch,  die  regeln 
über  die  tempora  der  Vergangenheit  im  französischen  auf  ihren 
grund  zurückzuführen,  ich  trage  jetzt  allerlei  nach ,  um  das  damals 
bemerkte  zu  vervollständigen  und  zu  stützen,  wem  meine  er- 
klärungen  nicht  zusagen,  den  möchte  ich  bitten,  sie  zu  widerlegen 
und  durch  bessere  zu  ersetzen,  jedenfalls  handelt  es  sich  um  dinge, 
die  der  erklärung  bedürfen,  die  frühere  abhandlung  ist  dem  leser 
schwerlich  bekannt  oder  zur  band,  das  zum  Verständnis  notwendigste 
werde  ich  daher  kurz  wiederholen,  mit  kleinen  änderungen,  die  den 
grund  der  sache  wenig  berühren. 

Man  soll  keine  eulen  nach  Athen  tragen,  darum  pflege  ich 
nichts  dem  druck  zu  übergeben,  ohne  das,  was  einer  der  letzten 
und  besten  meiner  Vorgänger  über  den  gegenständ  gesagt,  damit 
zu  vergleichen,  so  prüfe  ich  die  richtigkeit  meiner  ansieht,  lasse 
mich,  wo  nötig,  eines  besseren  belehren  und  kann  im  entgegen- 
gesetzten fall  einwendungen ,  die  man  mit  unrecht  dagegen  machen 


C.  Kunibert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen.  223 

könnte,  im  voraus  berücksichtigen  und  widerlegen.*  das  erste  mal 
zog  ich  die  grammatik  Mätzners  zur  vergleichung  herbei ;  heute  lege 
ich  die  von  Plattner  zu  gründe.^ 

Aus  dem  gesagten  geht  schon  hervor,  dasz  ich  ihm  damit  eine 
ehre  erweise;  doch  musz  ich  dies  noch  besonders  betonen;  denn  ein 
deutscher  bruder  in  Moliöre,  dem  ich  einmal  dieselbe  ehre  erwies, 
hat  mich  dafür  ins  angesicht  gesegnet,  ich  werde  einem  jeden 
dankbar  sein,  der  (wie  es  früher  einmal  Mangold  und  Mahrenholtz 
gethan,  jener  in  bezug  auf  den  Tartuffe,  dieser  auf  die  Fourberies 
de  Scapin)  diese  oder  irgend  eine  andere  arbeit  von  mir  berück- 
sichtigend oder  der  seinigen  zu  gründe  legend,  mich  im  Interesse 
der  Sache  in  anständiger  weise  über  meine  Irrtümer  belehrt, 
niemand  ist  unfehlbar,  und  eine  grosze  grammatik,  wie  die  von 
Plattner,  kann  nicht  von  Irrtümern  frei  sein. 

Allgemeines,  die  vier  festen  punkte  indergegen- 
wart,  Vergangenheit  und  zukunft,'  'gieb  mir  einen  festen 
punkt  im  weltenraum',  sagte  Archimed,  '^so  will  ich  die  erde  aus 
ihren  angeln  heben ! '  dieser  ausspruch,  so  oft  als  denkmal  mensch- 
licher grösze  angestaunt,  ist  noch  mehr  eins  menschlicher  schwäche 
und  überhebung.  unsere  schwäche  nur  läszt  uns  zu  dem  kühnen 
wort  so  hinaufschauen  und  die  seine  zwang  den  groszen  mann, 
die  bedingung  zu  stellen;  sie  bedurfte  eben  des  festen  punktes ,  der 
ihr  versagt  war,  und  —  hätte  wohl  auch  noch  Schiffbruch  gelitten, 
wenn  die  bedingung  erfüllt  worden  wäre,  zum  ausdruck  unserer  ge- 
danken  bedürfen  wir  gleichfalls  eines  festen  punktes  im  räume  der 
Zeiten ;  im  praesens,  um  ruhig  auf  ihm  zu  verharren ;  in  den  andern 
Zeitformen,  um,  dort  festen  fusz  fassend,  den  blick  vorwärts  zu 
werfen  und  rückwärts,  im  praesens,  perfect,  futur  I  wird  der  punkt 
stillschweigend  vorausgesetzt:  die  gegenwart  des  redenden,  sie  ist 
ihm  selbst  und  dem  zuhörer  bekannt:  ich  schreibe,  werde  schreiben, 
habe  geschrieben,  überall  sonst  drückt  man  ihn  aus,  durch  eine 
zweite  verbalform,  ein  adverb  oder  eine  adverbiale  bestimmung.'' 
so  unser  imperfect  und  plusquamperfect:  'Romulus  gründete  Rom 
im  jähre  753',  'ich  gieng  hinaus,  war  schon  hinausgegangen,  als 
er  ankam'.'  zuweilen  brauchen  wir  zwei  solche  punkte  und 
richten  dann  den  blick ,  von  dem  einen  vorwärts ,  von  dem  andern 
rückwärts,  auf  etwas,  das  in  der  mitte  liegt  zwischen  beiden;  so  im 
futurum  II  und  in  dem  eigentümlich  französischen  pass6  ant6rieur.  im 


*  zugleich  zeigt  mir  die  abweichende  ansieht  meines  Vorgängers, 
welche  punkte  vor  allem  der  aufklärung  bedürfen. 

2  die  zweite  aufläge,  sie  ist  vom  jähre  1887.  die  von  Lücking 
und  Benecke  sind  älter. 

^  die  hier  besprochenen  dinge  sind  wohl  überhaupt  noch  von 
niemand  berührt  worden,  ihre  theoretische  und  praktische  Wichtigkeit 
wird  im  laufe  der  arbeit  immer  mehr  hervortreten. 

*  einige  ausnahmen  später,     sie  bestätigen  übrigens  die  regel. 

^  auch  im  conditionnel:  'ich  würde  hinausgehen,  je  sortirais',  wo 
eine  bedingung  zu  ergänzen  ist. 


224  C.  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen. 

futurum  11  ist  jedoch  der  erste  wieder  die  selbstverständliche  gegen- 
wart  des  redenden ,  und  nur  der  zweite  bedarf  des  besonderen  aus- 
drucks:  'wann  du  kommst',  oder  'nach  zwei  stunden  werde  ich  die 
arbeit  vollendet  haben.'  das  passe  antörieur  aber,  das  futurum 
exaetum  der  Vergangenheit,  bedarf  zugleich  noch  der  bestimmung 
desjenigen  punktes  der  Vergangenheit,  von  dem  man, 
sowie  einer  Vorbereitung  auf  den  Inhalt  der  in  der  mitte  liegenden 
thätigkeit^  auf  die  man  hinausschaut,  wenigstens  durch  eine 
zweite  verbalform :  'il  me  fallait  faire  ce  travail;  je  l'eus  fini 
ä  deux  heures.' 

I.  Der  feste  punkt  der  gegenwart  ohne  besondere 
Zeitbestimmung. 

a)  Das  praesens,  das  praesens,  die  gegenwart  des  redenden, 
der  au  gen  blick,  wo  er  spricht,  bedarf  also  keiner  näheren  be- 
stimmung. genau  genommen  bezeichnet  es  nur  einen  punkt  der 
thätigkeit  wie  das  englische  'I  am  speaking'.  das  sprechen  ist  schon 
und  noch  in  seiner  mittleren  dauer  begriffen,  ein  interessantes  bei- 
spiel  davon  findet  sich  in  B6rangers  le  Tailleur  et  la  fee:  'ton  fils 
atteint  (von  dem  blitz)  va  perir  consum6.'  er  ist  nur  auf  dem  wege 
zum  untergehen,  kommt  nicht  wirklich  um:  denn 

dieu  le  regarde  et  I'oiseau  ranime 
vole  en  chantant  braver  d'  autres  orages. 
anders  in  Sätzen  wie:  'le  Nil  prend  sa  source  dans  l'intferieur  de 
l'Afrique  et  va  se  jeter  dans  la  M6diterran6e',  wo  wir  va  gar 
nicht  übersetzen:  'ergieszt  sich  (wirklich).'  da  bezeichnet  das 
praesens  anfangs-  und  endpunkt,  die  volle  und  zugleich  zur  eigen- 
schaft  gewordene  thätigkeit.  so  besonders  von  fähigkeiten,  gewohn- 
heiten,  vor  allem,  wenn  ein  einzelwesen  die  gattung  ver- 
tritt: 'der  bäcker  bäckt.'  wenn  die  natur  des  subjects  es  erlaubt, 
kann  die  thätigkeit  der  gattung,  selbst  die  des  bloszen  individuums, 
die  ewigkeit  umfassen:  *Jesus  lebt  und  ich  mit  ihm.  gott  ist  all- 
gegenwärtig.' 

Zuweilen  vertritt  das  praesens  ein  futurum,  iraperfectum,  per- 
fectum ,  um  vergangenes  oder  zukünftiges  lebhaft  zu  vergegen- 
wärtigen: *il  m'arrive  un  grand  malheur,  Charleraagne  passe  les 
Alpes,  met  en  fuite  les  Lombards'  usw.'  'on  vient'  sagt  der  keilner, 
indem  er  davonläuft,  und:  'je  suis  raort;  je  suis  enterr6',  der,  seines 
Schatzes  beraubte  Moliöresche  geizhals.  in  diesem  fall  bezeichnet 
das  praesens  oft  nur,  dasz  man  etwas  thun  will  oder  soll:  il  part 
dans  trois  jours. 

b)  Das  futur  simple,  auch  das  einfache  futur  braucht  blosz 
in  der  gegenwart  festen  fusz  zu  fassen  und  stellt  dann  von  diesem 
Standpunkt  die  thätigkeit  nur  überhaupt  als  zukünftig  hin :  'ich 
werde  sprechen';  und  wie  das  praesens  hat  es  gleichfalls  zugleich 

ß  an  die  stelle  der  thätigkeit  kann  natürlich  auch  ein  leiden  treten 
oder  ein  zustand. 

'  diese  zwei  beispiele  sind  aus  Plattner. 


C. Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen.  225 

jene,  auf  einen  punkt  beschränkte  und  eine  umfassendere  bedeutung, 
von  'je  serai  lä  a  sept  heures'  bis  zu  'les  envieux  mourront,  mais 
jamais  l'envie'  und  'Dieu  est,  fut  et  sera'.  in  beiden  fällen  ist  es 
oft  die  strengste  form  des  befehls.  in  der  erwartung,  dasz  man  ge- 
horche, wird  das  befohlene  schon  als  in  der  zukunft  geschehend  hin- 
gestellt: 'tu  ne  tueras  pas  =  du  sollst^  nicht  töten.'  wir  ge- 
brauchen so,  in  noch  schrofferer  weise,  wohl  das  praesens,  von  dem 
einzelnen  fall,  der  unmittelbar  bevorstehenden  zukunft:  'du  rührst 
dich  nicht  vom  fleck!'  und  auch  allgemeiner:  'das  tbust  du  mir 
nicht  wieder.'  wie  das  von  der  zukunft  gebrauchte  'je  pars  usw.' 
vorzugsweise  ein  'wollen',  bezeichnen  dies  praesens  und  futurum 
ein  'sollen'.^ 

Das  futur  kann  auch  ein  perfectum  vertreten,  das  vergangene 
erscheint  als  zukünftig,  vom  Standpunkt  einer  früheren  Vergangen- 
heit; dann  bedarf  aber  diese,  die  nicht,  wie  die  gegen- 
wart,  von  vorn  herein  bekannt  ist,  eines  besonderen 
ausdrucks:  'ä  la  mort  de  Theodose  le  Grand,  l'empire 
romain  formait  les  deux  empires  d'orient  et  d'occident,  qui  ne 
seront  plus  reunis.""  ebenso  ein  praesens,  um  die  Wahrscheinlich- 
keit auszudrücken :  'le  choeur  de  cette  6glise  sera  du  15e  siöcle' '" 
(=  'wird  sein'  oder  'ist  wohl  aus'). 

c)  Das  perfectum,  passe  indefini.  das  perfectum  stellt  ein 
ereignis  der  Vergangenheit,  vom  bekannten  Standpunkt  der  gegen- 
wart,  nur  ganz  allgemein  als  in  j  e n e  r  vollendet  worden  oder  in 
dieser  vollendet  hin:  'j'ai  ecrit  pendant  que  tu  as  lu'  und  blosz 
'j'ai  ecrit  une  lettre' ;  daher  meist  ohne  Verbindung  mit  andern 
Zeiten  und  ereignissen  der  Vergangenheit;  drum  nennt  es  der  Franzose 
mit  recht  passe  indefini. 

Nicht  dasz  es  uns  ohne  jeden  compass  umhertreiben  liesze  auf 
dem  meere  der  zeiten.  der  satz:  'Dieu  a  cr6e  le  monde'  z.  b.  ver- 
setzt uns  schon  durch  seinen  Inhalt  an  den  anfang  aller  Zeitrech- 
nung, der:  'Romulus  a  fonde  Rome'  jeden,  für  den  er  sinn  hat,  in 
den  Zeitraum,  in  den  das  ereignis  hineinfiel,  daraus  folgt:  die  im 
ind6fini  vorgeführten  ereignisse  der  ferneren  Vergangenheit  müssen 
wichtig  sein;  sonst  könnte  man  sie  ja  nicht  als  bekannt  voraus- 
setzen; auch  verdienten  sie  sonst  nicht,  aus  dem  Zusammenhang  mit 


s  oft  verliert  es  diese  schroffe  bedeutung,  wenn  nicht  von  einer 
allgemeinen  Vorschrift  die  rede  ist,  z.  b.:   tu  diras  ä  ton  maitre  que  usw. 

^  natürlich  nur  in  der  zweiten  und  dritten  person,  besonders  in 
der  zweiten. 

•"  aus  Plattner.  nebenbei  noch  die  bemerkung,  dasz  unser  futurum 
'ich  werde  sprechen'  aus  ''i.  w.  sprechend'  herzuleiten  ist.  vgl. 
'I  shall  be  writing.'  jenes  futurum  von  der  Wahrscheinlichkeit  ist  viel- 
leicht in  folgender  weise  zu  erklären:  'wenn  ich  die  Sache  überlege, 
werde  ich  wohl  zu  der  ansieht  kommen  müssen,  dasz  .  .  .';  der  kürze 
wegen  ist  die  bedingung  ausgelassen,  und  zum  ersatz  dafür  oder  zur 
erinnerung  daran  dasjenige,  woran  die  bedingung  geknüpft  wird,  selbst 
in  das  tempus  gesetzt,  in  dem  sie  stehen  müste. 

N.  Jahrb.  f.  phil.  u.  päd.  II.  abt.  1897  hft.  4  u.  5.  15 


226  C.  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen. 

andern  herausgerissen,  für  sich  allein,  der  nach  weit  vorgeführt  zu 
werden. 

Andei's  bei  der  sogenannten  gegenwart.  da  fiöszen  auch  un- 
bedeutende dinge  interesse  ein;  nur  müssen  uns  diese,  als  der  gegen- 
wart angehörig,  bekannt  sein,  oder  wir  setzen  voraus,  dasz  sie 
ihr  angehören,  da  kann  man  sagen:  'ein  mann  ist  vom  dache  ge- 
fallen', was  man  nicht  erwähnen  würde  als  ein  vor  100  jähren  vor- 
gefallenes ereignis.  wer  von  geschichte,  von  ereignissen  der  ferneren 
Vergangenheit  keinen  begriff  hat ,  wird  wohl  gar  auch  diese ,  wenn 
ganz  allgemein  davon  geredet  wird ,  in  die  gegenwart  verlegen  und 
denken,  das  ihm  unbekannte  Rom  sei  erst  jetzt  von  einem  herrn 
Romulus  gegründet  worden,  natürlich  kann  zu  dem  ind6fini,  wie 
zu  dem  present  und  futur,  jede  angemessene  Zeitbestimmung  hinzu- 
treten, auch  wird  wohl  in  eine  fortlaufende  erzählung  ein  pass6  in- 
dfefini  eingeschoben,  oder  sie  schliesztoder  beginnt  mit  einem  ind6fini, 
wenn  man  sie,  z.  b.  eine  mit  einem  freund  gemachte  reise,  mit  einer, 
vom  festen  punkt  der  gegenwart  aus  gemachten  bemerkung 
einleitet,  unterbricht  oder  schlieszt:  'j'ai  fait  cette  semaine  un  tr6s 
interessant  vojage.'    'depuis  ce  temps  je  ne  Tai  pas  revu.' 

Das  eigentliche  perfectum,  das  tempus  der  nur  vom  Standpunkt 
der  gegenwart  betrachteten,  allgemeinen,  unbestimmten  Vergangen- 
heit, findet  selten  Verwendung,  selbst  im  gewöhnlichen  leben  begnügt 
man  sich  nur  im  ersten  augenblick  auf  die  frage:  'was  gibts  neues?' 
mit  der  antwort:  'ein  mann  ist  vom  dache  gefallen.'  bald  geht  man 
auf  die  einzelheiten  ein,  und,  damit  der  zuhörer  sich  in  diesen  zu- 
recht finde,  erzählt  man  sie  vom  Standpunkt  der  Vergangenheit, 
in  ihrem  Verhältnis  zu  einander. 

So  auch,  wenn  in  den  büchern  jemand  etwas  eben  erlebtes  be- 
richtet, wie  im  drama.  in  der  erzählenden  litteratur  aber,  in  der 
geschichte,  im  epos  und  roman,  wo  meist  der  Schriftsteller  selber 
das  wort  führt,  kann  dieser  unmöglich  die  vielen  vorfalle  einer 
ferneren  Vergangenheit  blosz  vom  Standpunkt  der  gegenwart  als 
vergangen  hinstellen,  .sätze  wie:  'Romulus  hat  Rom  gegründet, 
Columbus  bat  Amerika  entdeckt',  gebraucht  man  fast  nur  in  Schul- 
büchern, um  der  Jugend  einzelne  besonders  wichtige  thatsachen 
recht  einzuprägen,  oder  um  sie  beim  übersetzen  in  fremde  sprachen 
im  gebrauch  der  tempora  und  grammatischen  formen  zu  üben. 

Die  grammatik  von  Plötz  bringt  bei  dem  p.  ind6fini  fol- 
gende Sätze,  von  denen  mir  der  erste  bedenklich  erscheint:  'au  mois 
de  mars  1815,  le  Moniteur  universel  (Journal  ofticiel  de  Paris) 
a  donn§  successivement  les  nouvelles  suivantes  de  l'arrivee  de 
Napoleon  P"^  en  France :  l'anthropophage  est  sorti  de  son  repaire.  — 
l'ogre  de  Corse  vient  de  debarquer  au  golfe  Juan.  —  le  tigre  est 
arrive  a  Gap.  —  le  monstre  a  couch6  ä  Grenoble.  —  le  tyran  a  tra- 
vers6  Lyon.  —  Tusurpateur  a  6t6  vu  ä  soixante  Heues  de  la  capi- 
tale.  —  Bonaparte  s'avance  ä  grands  pas ,  mais  il  n'entrera  jamais 
dans  Paris.  —  Napoleon  sera  demain  sous  nos  remparts.  —  l'em- 


C,  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen.  227 

pereur  est  arriv6  ä  Fontainebleau.  —  sa  majeste  imperiale  et  royale 
a  fait  hier  au  soii'  son  entree  dans  son  chäteau  des  Tuileries,  au 
milieu  de  ses  fideles  sujets.' 

Statt  a  donne  würde  ich  donna  sagen,  der  Inhalt  dieses  ersten 
Satzes  ist  zu  unbedeutend,  um,  ganz  aus  dem  Zusammenhang  heraus- 
gerissen, für  sich  allein  der  n  a  c  h  w  e  1 1  vorgeführt  werden  zu  können  ; 
das  defini  aber  bringt  ihn,  wie  wir  später  bei  der  besprechung  dieses 
tempus  sehen  werden,  in  jenen  Zusammenhang  wieder  hinein,  und 
der  mit  der  geschichte  bekannte,  in  die  bestimmte  Vergangenheit 
versetzt,  denkt  sich  dann  die  damit  verbundenen  ereignisse  hinzu." 

Soll  jedoch  das  d6fini  bleiben,  so  müste  man  den  unbedeuten- 
den Inhalt  als  ein  ereignis  der  sogenannten  gegenwart  behandeln; 
dann  müsten  wir  aber  schon  vorher  auf  den  Standpunkt  derer  ver- 
setzt worden  sein,  für  die  er  gegenwart  war;  und  da  diese  1815 
lebten,  fiele  die  Jahreszahl  weg  und  wohl  auch  der  name  des  monats ; 
dafür  könnte  man  setzen:  cette  semaine,  la  semaine  derniöre  oder 
etwas  ähnliches. 

In  den  übrigen  sätzen  ist  alles  in  Ordnung,  sie  sind  vom  Stand- 
punkt der  Zeitgenossen  aufgefaszt,  auf  den  der  erste  satz  uns  ver- 
setzt hat. 

Plattner  über  das  indefini.  meine  bemerkungen  über 
das  präsent  und  futur  enthalten  manches  in  bezug  auf  erklärung 
und  definition  das  sich  bei  Plattner  nicht  findet,  jedoch  nichts,  das 
ihm  widerspricht,  anders  beim  ind6fini.  'das  perfect  (p.  ind.)',  sagt 
Plattner,  'bezeichnet  eine  abgeschlossene  handlung,  welche  (hier- 
durch scheidet  es  sich  vom  historischen  perfect  ==  p.  defini)  mit 
der  gegenwart  in  Zusammenhang  steht,  mon  fröre  est  parti 
(abgereist  und  daher  gegenwärtig  nicht  hier),  aus  diesem  gründe 
steht  das  perfect  (nie  dashistor,  perf.'-),  wenn  eine  abgeschlossene 
handlung  in  einen  Zeitpunkt'^  verlegt  wird,  in  dessen  grenzen  auch 
noch  der  gegenwärtige  augenblick  fällt'',  z.  b.  'aujourd'  hui,  cette 
semaine,  cette  ann6e  usw.'  dann  aber  fährt  er  fort:  'auszer- 
dem  steht  es  a)  bei  lebhafter  erzählung:  je  suis  venu,  j'ai  vu, 
j'ai  vaincu'  und,  im  Widerspruch  mit  seiner  definition:  b)  bei  histori- 
schen angaben,  wenn  dieselben  nicht  einer  fortlaufenden  er- 
zählung angehören:  'les  Huns  ont  produit  en  Europe,  par  leur  lai- 
deur  et  leur  förocite,  une  impression  d'horreur  qui  s'est  longteraps 
conservee  dans  le  souvenir  des  peuples'.  'Corneille  est  n6  oder  na- 
quit  ä  Rouen  en  1606':  der  von  den  Hunnen  gemachte  eindruck, 
die  geburt  Corneilles  im  jähre  1606  stehen  nicht  mehr  im  Zusammen- 
hang mit  der  gegenwart.    Plattners  definition  schlieszt  diese  fälle 


"  ebenso  wie  bei  dem  satz:  Romulus  fonda  Rome. 

•*  steht  eine  solche  Zeitbestimmung  nicht  unmittelbar  dabei,  so 
kann  man  wohl  das  defini  setzen:  j'ai  eu  beaucoup  ä  faire  aujour- 
d'hui.     je    me  levai   k  6  heures,   je  pris  mon  cafe',  je  sortis  ä  7  usw. 

'^  besser:  Zeitraum,  in  den  der  gegenwärtige  augenblick  noch  als 
Zeitpunkt  hineinfällt. 

15* 


228  C.  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen. 

aus,  ist  also  durch  eine  weniger  enge  zu  ersetzen;  die  meinige  aber 
erklärt  diese  beispiele,  die  der  seinigen  widersprechen,  der  satz  von 
den  Hunnen  reiszt  eine  noch  für  die  nachweit,  der  brief  Caesars  eine 
für  die  damalige  gegenwart  interessante  thatsache  aus  dem  Zusammen- 
hang heraus,  um  jene  vom  Standpunkt  der  damaligen  zeit,  diese  von 
dem  der  jetzigen,  blosz  als  geschehen  hinzustellen;  wenn  aber  Caesar 
zum  überfiusz  die  nachricht  von  seiner  ankunft  und  Orientierung 
mit  der  des  sieges  verbindet,  so  geschieht  es  nur,  um  durch  ihre 
bedeutungslosigkeit  anzudeuten,  wie  wenig  mühe  der  sieg  ihm  ge- 
kostet, und  diese  Verbindung  eben  gibt  jenem  bericht  den  bekannten, 
aus  dem  Widerspruch  zwischen  der  geringen  mühe  und  dem  groszen 
resultat  hervorgehenden  witzigen,  geistreichen  anstrich. 

IL  Ein  fester  punkt  der  Vergangenheit,  mit  beson- 
derer bestimmung  dieses  punktes,  von  dem  man  die 
ereignisse  betrachtet  (imperfectum,  perfect.  histori- 
cum,  plusquamp. ,  imparfait,  passe  döfini,  plusque- 
parfai  t). 

1.  Unterschied  zwischen  unser m  imperfectum  (im- 
parfait und  p.  d6fini)  und  dem  eigentlichen  perfectum 
(p.  indefini).  das  perfectum,  passe  ind6fini,  eignet  sich  also  nicht 
für  eine  erzählung,  die  in  behäbiger  weise  mit  allen  einzelheiten  be- 
kannt macht,  anders  das  imperfectum'",  welches  gerade  diese  in 
ihrer  zeitlichen,  ursächlichen  oder  sonstigen  Verbindung  mit 
einander  vorführt,  die  sätze :  'Karl  fällt,  ist  gefallen,  wird  fallen' 
bedürfen  im  gewöhnlichen  leben  keines  näher  bestimmenden  Zu- 
satzes; aber  'Karl  fiel?'  da  heiszt  es  gleich  'wann?'  man  würde  es 
nicht  einmal  sagen,  ohne  das  wann  durch  andere  sätze,  meist  wieder 
mit  einem  imperfectum,  zu  bestimmen,  das  imperfectum  zwingt  uns, 
den  Standpunkt  der  gegenwart  zu  verlassen''  und  versetzt  uns  jedes- 
mal in  die  zeit,  in  welche  jeder  einzelne  teil  der  begebenheit  hinein- 
fällt, damit  wir  alles  in  ihr  gegenwärtig  schauen  und  in  der  fremden 
Vergangenheit  wie  in  der  eignen  gegenwart  uns  behaglich  und  zu 
hause  fühlen,  zu  diesem  zweck  aber  musz  uns,  bei  der  menge  der 
mit  einander  verbundenen  ereignisse,  gleich  von  vorn  hei-ein  und 
immer  wieder  von  neuem ,  stets  und  überall ,  in  dieser  Vergangen- 
heit erst  recht  der  i^unkt  angewiesen  werden,  auf  dem  wir  festen 
fusz  fassen  sollen,  um  von  da  aus  gleichzeitiges,  vergangenes  und  zu- 
künftiges in  richtiger  beleuchtung  zu  schauen  und  zu  unterscheiden. 

Nur  in  drei  fällen  bedarf  man  einer  solchen  bestimmung  nicht, 
erstens,  wenn  keine  besondere  Vergangenheit  gemeint  ist,  son- 
dern die  ganze  vergangene  ewigkeit,  um  den  ausdruck  zu  ge- 
brauchen: 'gott  war,  gott  ist  und  wird  sein.' 

"  unser  imperfectum,  zugleich  das  perf.  historicum  und  passe'  de'fini. 

'^  dies  meint  wohl  auch  Plattner,  wenn  er  sagt,  das  historische 
perfect  stehe  nicht  in  Zusammenhang  mit,  in  beziehung  zu 
der  gegenwart.  dies  gilt  aber  auch  vom  imparfait  und  lateinischen 
imperfectum,  also  von  unserm  imperfectum  in  seinem  ganzen  umfang. 


C,  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen.  229 

Zweitens,  bei  einzelnen  bekannten  aus  der  Welt- 
geschichte und  ihrem  Zusammenhang  herausgerissenen  that- 
sachen,  wo  schon  die  thatsachen  selbst  oder  namen  hinreichend  an 
die  zeit  und  die  Verhältnisse  erinnern:  'Romulus  gründete  Rom.' 
'Hannibal  war^®  ein  groszer  feldherr,  wenn  es  jem  als '^  einen  gab.' 
während  der  satz  'Karl  der  grosze  schlug  die  Sachsen'  nichts  auf- 
fallendes hat,  würde  'Karl  schlug  den  Johann'  gewis  bedenken  er- 
regen, jener  versetzt  in  das  leben  eines  mannes,  in  eine  reihe  von 
begebenheiten,  die  wir  kennen,  so  dasz  man  das  fehlende  unwillkür- 
lich ergänzt  und  ohne  durch  eine  menge  von  begebenheiten  ver- 
wirrt zu  werden,  die  zwei  angeführten  ausnahmen  bestätigen  also 
nur  die  regel;  bei  der  zweiten  aber  müssen  die  von  der  angeführten 
thatsache  berührten  Verhältnisse  wieder  so  wichtig  oder  auch 
interessant  sein'^,  dasz  man  bei  dem  leser  die  fähigkeit  und  die 
lust,  das  zum  Zusammenhang  notwendige  zu  ergänzen,  voraussetzen 
darf,  wir  haben  nur  ein  imperfectum.  der  Franzose  aber  hat 
dafür  zwei  formen;  und  während  auch  er  die  eine  imparfait 
nennt,  hat  er  die  andere  als  bestimmte  Vergangenheit,  pass6 
defini,  zugleich  von  der  unbestimmten,  dem  ind6fini,  und  vom 
imparfait  untei-schieden. '® 

2.  Unterschied  zwischen  imparfait  und  passe  de- 
fini. das  pass6  indefini  war  unbestimmt,  weil  es  die  Vergangen- 
heit nicht  näher  angab;  doch  gilt  das  auch  noch  in  anderer  hinsieht. 

Jedes  ding,  für  sich  betrachtet,  hat  anfang,  mitte  und  ende; 
an  der  kleinsten  begebenheit,  an  jedem  anfang,  jeder  mitte,  jedem 
ende  selbst  kann  man  wieder  diese  drei  teile  unterscheiden,  und  das 
indefini"  kümmerte  sich  auch  darum  nicht;  ebenso  wenig  unser 
imperfectum.'^  das  französische  defini  und  imparfait  hingegen 
kehren  gerade  diesen  unterschied  hervor,  im  gegensatz  zum  in- 
defini könnte  man  sie  daher  beide  d6finis  nennen,  das  eine  jedoch 
verdient  den  namen  noch  aus  einem  dritten  gründe,  und  so  behielt 
auch  der  Franzose  für  das  andere  den  'imparfait'  bei,  um  so  mehr, 
als  dieser  wieder  genau  angibt,  wodurch  sich  das  imparfait  vom 
defini  unterscheidet,  'j'^crivais',  gleich  dem  englischen  'I  was 
writing'^",  ich  war  schreibend,  je  partais,  ich  war  abreisend,  setzt 


*"  hier  sind  beide  fälle  vereinigt. 

>'  und  deshalb  wenigstens  dem  redenden  so  wichtig  erscheinen, 
so  z.  b.  bei  inschriften  auf  grabsteinen  usw.:  'er  war  ein  treuer  gatte 
usw.';  aber  da  gehen  doch  angaben  über  geburt,  todesjahr,  vielleicht 
noch  anderes  vorher,  dies  gilt  auch  von  dem  satz  über  Napoleon  und 
den  Moniteur  vom  mois  de  mars  1815.  es  ist  interessant  als  ein 
beispiel  menschlicher  Unbeständigkeit. 

'^  das  lateinische  steht  hier  auch  dem  französischen  nach,  es  hat 
nur  eine  form  für  das  defini  und  indefini. 

^^  ebenso  wenig  die  übrigen  Zeiten,  mit  ausnähme  des  imperf., 
passe'  defini  und  der  davon  abgeleiteten  plusquamperf.  und  p.  ante'rieur. 

2°  die  Normanen  nahmen  wahrscheinlich  das  bedürfnis  dieser  Unter- 
scheidung  mit   nach  England   hinüber,   und    da   der  Angelsachse   keine 


230  C.  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen. 

den  anfang  der  thätigkeit,  als  schon  hinter  mir  liegend,  voraus, 
und  das  ende  liegt  noch  in  der  zukunft,  es  bezeichnet  nur  einen 
Zeitraum  oder  -punkt  aus  der  mittleren  dauer;  und  wendet 
man  dies  wieder  auf  den  anfang  allein  an  ,  um  auch  an  ihm  anfang, 
mitte  und  ende  zu  unterscheiden,  so  heiszt  es  nur:  'meine  Vor- 
bereitungen zu  diesem  anfang  waren  schon  und  noch  in  ihrer 
mittleren  dauer  begriffen';  also  wenn  es  sich  um  eine  eisenbahn- 
fahrt handelte,  nicht  einmal :  'ich  wollte  gerade  einsteigen'  sondern 
etwa:  'ich  hatte  erst  ein  billet  gelöst,  wollte  eins  lösen,  hatte  be- 
schlossen eins  zu  lösen'  und  wie  die  Zwischenstufen  zwischen  dem 
ersten  gedanken  und  dem  wirklichen  anfang  der  ausführung  sonst 
noch  heiszen  mögen.-'  in  diesem  sinn  kann  man  schon  sagen:  'je 
partais,  j'ecrivais'  wie  im  present:  'je  pars  (lundi),  wenn  man  noch 
nicht  einmal  die  geringste  von  den  äuszer liehen  handlungen  an- 
gefangen, die  zum  abreisen  gehören,  wenn  man  nicht  einmal  die 
feder  zum  schreiben  in  die  band  genommen  hatte,  j'ecrivis  hin- 
gegen heiszt:  ich  fieng  an  zu  schreiben  und  schrieb  wirklich,  da 
werden  anfangs-  und  endpunkt  der  wirklichen  thätigkeit  in 
einen  punkt  zusammengezogen,  und  diese  wird  durch  die  sie  ein- 
schlieszenden  grenzen  (man  denke  an  das  lateinische  fines)  de- 
finiert, fehlt  ein  weiterer  zusatz,  so  bleibt  ihre  Zeitdauer  freilich 
unbestimmt,  und  j'6crivis  kann  ebenso  gut  ein  blosz  beginnendes 
wie  ein  länger  anhaltendes  schreiben  bezeichnen;  in  dem  einen 
fall  fieng  dann  blosz  dieser  anfang,  in  dem  andern  aber  die  länger 
dauernde  thätigkeit  wirklich  an  und  ward  ausgeführt,  anders  jedoch, 
wenn  ein  object  oder  eine  Zeitbestimmung  hinzutritt,  in  'j'^crivis 
une  lettre'  oder  'deux  heures'  bleibt  es  nicht  beim  beginnen,  bei  der 
bloszen  Verwirklichung  des  Schreibens  überhaupt;  die  thätigkeit, 
die  mit  dem  anfang  des  briefes  oder  der  zwei  stunden  begann,  ge- 
langte erst  mit  deren  ende  zum  abschlusz." 


zwei  einfachen  formen  dafür  hatte,  bildeten  sie  sich  neben  dem  un- 
bestimmten einfachen  imperfect  die  umschreibende  nebenform,  deren, 
freilich  prosaische,  unpoetische  derbheit  den  unterschied  am  klarsten 
hervortreten  läszt,  und  diese  dehnten  sie  dann  auch  auf  alle  übrigen 
tempora  aus:  I  am,  shall  be  writing  usw. 

*'  die  beweisenden  beispiele  folgen  später. 

*'  andere  Zeitformen  können  aucli  wohl  einmal  den  anfang  be- 
zeichnen, aber  es  ist  ihnen  nicht  besonders  eigentümlich,  so  z.  b.:  il 
m'ordonne  d'ecrire  et  j'e'cris.  j'aurai,  je  serai ,  ich  werde  sein,  be- 
kommen (weil  das  zukünftige  haben  erst  anfangen  musz) ,  tu  peux 
Favoir  (ebenso),  ebenso  natürlich  das  conditionnel.  in  gewissen  fällen 
selbst  das  inde'fini  und  plusqueparf.  so  Dumas,  Diane  de  Lys  II  3: 
""et  votre  mari?  —  il  n'a  rien  su.'  ebenda  II  6:  'comment  l'auriez- 
vous  SU?'  und  IV  2:  'comment  avez-vous  su  cela?'  und  II  3:  'je  ne  tiens 
pas  du  tout  i'i  connaitre  ce  monsieur',  wie  III  2:  'on  se  demande 
comment  tu  l'as  connu',  wo  savoir  'erfahren'  und  connaitre  'kennen 
lernen'  zu  übersetzen  ist.  ebenso:  il  avait  su  ä  l'hotel  qua  sa  fille 
de'me'nageait  (d'Hervilly,  le  trou  de  vrille,  am  schlusz).  von  dem  imparf. 
in  diesem  sinn  wird  später  die  rede  sein. 


C.  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen.  231 

In  La  Fontaines  fabel  'la  laitiere  et  le  pot  au  lait'  rechnet  die 
milchfrau  sich  vor,  wie  sie  aus  dem  ertrag  ihrer  milch  endlich  würde 
ein  Schwein  anschaffen  können,  dann  fährt  sie  fort:  'als  ich  es  be- 
kam, war  es  schon  von  ziemlicher  stärke',  und  dies  'bekam'  drückt 
sie  durch  'je  l'eus'  aus.  'je  l'avais'  würde  die  mittlere  dauer,  oder 
besser,  irgend  einen  teil  oder  punkt  derselben  bezeichnen,  den 
anfang  des  habens  aber,  oder  auch  den  bloszen  anfang  dieses  an- 
fangs", die  Vorbereitungen  dazu,  als  schon  hinter  ihr  liegend,  voraus- 
setzen: ich  war  schon  im  besitz  oder  auf  dem  wege-^  zum  besitze; 
'je  l'eus'  hingegen  bezeichnet  die  volle  besitz  nähme  vom  anfang 
bis  zum  abschlusz:  'ich  fieng  an  es  zu  haben  und  halte  es  dann 
wirklich.'  auch  wenn  sie  sagen  wollte:  'ich  besasz  es,  mit  ein- 
schlusz  des  anfangs-  und  endpunktes,  gerade  sechs  monate', 
auch  dann  raüste  das  dfefini  stehen,  'je  l'avais  six  mois'  hiesze:  'in 
dem  augenblick,  von  welchem  ich  rede,  besasz  ich  es  schon, 
war  ich  schon  so  lange  im  besitz',  ohne  bezeichnung  des  anfangs- 
und  endpunktes;  und  versteht  es  sich  auch  von  selbst,  dasz  sie  dann 
vor  sechs  monaten  in  den  besitz  gelangte,  es  verstünde  sich  nicht 
von  selbst,  dasz  dieser  jetzt  aufhörte;  er  könnte  noch  lange  dauei'n, 
wenn  man  nicht  hinzufügt,  dasz  ihr  das  Schwein  genommen  ward, 
das  defini  hingegen  sagt,  fest  abgerenzt  und  bestimmt:  'ich  besasz 
es  sechs  monate,  anfangs-  und  endpunkt  eingeschlossen.'  —  Ebenso: 
'cette  guerre  dura  6  ans',  während  das  gleich  bei  einem  bestimmten 
punkt  der  mittleren  dauer  stehende  und  auch  stehen  bleibende 
durait  die  möglichkeit  nicht  ausschlieszt,  dasz  der  krieg  noch  100 
jähre  länger  gedauert  hat. 

Der  unterschied  zwischen  imparfait  und  defini  im  allgemeinen 
tritt  auch  groszartig  hervor  an  einer  stelle  der  Schöpfungsgeschichte: 
'Dieu  dit  que  la  lumiöre  se  fasse  et  la  lumiere  se  fit.'  hier  zieht  'se 
fit'  anfangs-  und  endpunkt  des  lichtwerdens  in  eins  zusammen,  so 
dasz  sie  sich  decken;  'se  faisait'  griffe  nur  einen  punkt  aus  der 
mittleren  dauer  heraus;  der  anfang  läge  schon  hinter  uns,  während 
der  endpunkt  noch  fehlte,  auch  hier  wäre  es  gar  möglich ,  dasz  nur 
die  zu  dem  anfang  getroffenen  Vorbereitungen  in  ihrer  mittleren 
dauer  begriffen  waren. 

'Gott  ist,  war  und  wird  sein'  läszt  sich  nur  'Dieu  est,  Dieu  fut 
et  Dieu  sera'  wiedergeben.  'Dieu  etait'  hiesze:  er  war  in  irgend 
einem  Zeiträume  oder  gar  -punkte  zwischen  dem  anfang  und 
dem  ende  der  vergangenen  ewigkeit.  selbst  diese  können  wir  uns 
ja  nicht  ohne  anfang  denken,  das  d6fini  'fut'  hingegen  urafaszt  sie 
in  ihrem  ganzen  umfang,  man  vergleiche  noch :  'Annibal  etait  (zu 
irgend  einer  zeit  seines  lebens)  un  grand  g6neral ,  s'il  en  fut 
(wenn  es  jemals  einen  gab).'  das  ganze  sein  der  Vergangenheit 
klappt  in  eins  zusammen,  so  dasz  die  mitte  sich  den  blicken  entzieht. 

Wir  haben  nichts,  was  dem  pass6  defini  gleich  kommt;  nur  in 


*'  das  nähere  hierüber  später. 


232  C.  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen. 

einem  fall  kann  man  auf  etwas  annähernd  ähnliches  hinweisen,  in 
*gott  sprach:  es  werde  licht  und  es  ward  licht'  läszt  sich  'ward' 
schwerlich  durch  'wurde'  ersetzen.'-* 

So  bildet  denn  in  einer  hinsieht  das  dfefini  mit  dem  ind6fini 
einen  gegensatz  zum  imparfait.  es  umfaszt  die  durch  ein  object  be- 
stimmte oder  die  durch  eine  Zeitbestimmung  begrenzte  thätigkeit 
oder  auch  den  bloszen  wirklichen  anfang  der  sonst  unbestimmten 
thätigkeit  in  ihrem  ganzen  umfang  vom  anfangs-  bis  zum  endpunkt. 
im  gegensatz  zum  indefini  aber  reiszt  es  sie  nicht,  blosz  als  'ver- 
gangen vom  Standpunkt  der  gegenwart,  aus  ihrem  Zusammenhang 
mit  der  Vergangenheit  heraus,  sondern  versetzt  uns,  ebenso  wie 
das  imparfait,  gerade  in  diese  hinein  und  läszt  uns  jenen  ab- 
geschlossenen anfang,  jene  ganze  thätigkeit  in  der  Ver- 
gangenheit gegenwärtig  schauen,  wie  das  imparfait  einen  bloszen 
Zeitraum  oder  -punkt  ihrer  mittleren  dauer  oder  auch  ihres 
anfangs,  und  zwar  zusammen  mit  andern  imparfaits  und  definis,  so 
dasz  sie,  in  ihrer  Verbindung  mit  einander ,  den  festen 
punkt  in  der  Vergangenheit,  von  dem  wir  jede  der  vielen 
einzelheiten  betrachten  sollen,  ihren  zeitlichen,  ur- 
sächlichen und  sonstigen  Zusammenhang,  näher  be- 
stimmen, während  das  auf  dem  bekannten  Standpunkt  der  gegen- 
wart stehen  bleibende  und  auf  die  einzelheiten  nicht  eingehende 
indfefini  solcher  bestimmungen  und  Unterscheidungen  innerhalb  der 
Vergangenheit  nicht  bedarf. 

Ich  lasse  ein  paar  sätze  als  beispiel  folgen. 

1)  zwei  imparf. :  'j'entrais,  lorsqu'il  sortait.'  die  zwei  hand- 
lungen  laufen  neben  einander  her,  als  solche,  deren  anfang  schon 
hinter,  deren  abschlusz  noch  vor  den  personen  lag.  ob  ich  wirklich 
eintrat,  er  wirklich  hinausgieng,  bleibt  unentschieden,  vielleicht 
wollte  ich  ihn  oder  er  mich  besuchen,  und  dies  veranlaszte  mich  oder 
ihn,  wieder  umzukehren. 

2)  'je  sortis,  lorsqu'il  entra.'  beides  6eng  an  und  ward  aus- 
geführt; wieder  gleichzeitig,  oder  indem  das  'sortis'  dem  'entra' 
folgte.^'  vielleicht  gieng  ich  hinaus,  um  ihn  zu  meiden,  weil  er 
eintrat. 

3)  ebenso:  'je  sortis  lorsqu'il  entrait';  nur  dasz  sein  eintreten 
schon  und  noch  in  der  mittleren  dauer  begriffen  war,  als  ich  das 
hinausgehen  anfieng  und  ausführte. 


"  auch  hat  das  impeifect  von  'haben'  zuweilen  die  bedeutnng  'be- 
kommen' aber  nur  durch  die  Verbindung  des  verbums  mit  einem  be- 
stimmten Substantiv,  so:  'ich  besuchte  deinen  bruder  und  hatte  das 
glück  (j'eus  le  bonheur),  ihn  zu  hause  zu  treffen.'  ebenso:  'da  hatte 
er  einen  glücklichen  einfall.'  die  Zusammensetzung  weist  selbst  schon 
auf  etwas  neueintretendes  hin.  vgl.  noch  im  englischen  Swift  Gullivers 
voyage  to  Lilliput  chapter  III:  'I  had  the  good  fortune  to  divert  the 
emperor  one  day  in  a  very  extraordinary  manner'  und  eh.  IV:  'the 
people  had  notice  that  .   .  .' 

*^  vgl.  'lorsqu'il  m'aper<;ut,  il  prit  la  fuite.' 


C.  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen.  233 

4)  'je  sortais  lorsqu'il  enlra.'  hier  ward  mein  schon  und  noch 
in  der  mittleren  dauer  begriffenes  ausgehen  vielleicht  durch  sein  ein- 
treten verhindert. 

Zwei  durch  'lorsque'  verbundene  imparfaits  sind  zwei  neben 
einander  herlaufende  mathematische  linien,  zwei  d6finis  zwei  mathe- 
matische punkte,  die  zusammenfallen  oder  einander  folgen;  ein 
imparf.  und  ein  d6fini  hingegen  eine  linie,  die,  selbst  ohne  anfangs- 
und  endpunkt,  von  einem  in  sich  abgeschlossenen  punkte  durch- 
schnitten wird,  der  in  sie  hineinfällt,  es  ist  grammatikalisch 
gleichgültig,  welches  von  den  zwei  mit  einander  verbundenen  verben 
man  als  den  punkt  betrachtet ,  auf  dem  man  festen  fusz  faszt ;  das 
Verhältnis  ist  eben  gegenseitig  und  das  entscheidende,  die  zeitfrage, 
wird  nicht  davon  berührt. 

Folgen  einander  zwei  imparfaits  oder  zwei  definis,  deren  gleich- 
zeitigkeit  oder  sonstiges  Zeitverhältnis  nicht  durch  eine  conjunction 
oder  etwas  anderes  angegeben  wird,  so  gilt  natürlich  der  satz;  'wer 
zuerst  kommt,  mahlt  zuerst.'  dann  ist  alles  in  der  Ordnung  und 
der  reihenfolge  zu  denken,  in  der  es  uns  entgegentritt,  es  fragt 
sich  also  höchst  selten''^  ob  etwas  an  sich,  sondern  fast  immer, 
ob  es  in  seinem  Zeitverhältnis  zu  etwas  anderem  als  in 
der  mittleren  dauer  begriffen,  im  abgeschlossenen  anfang,  in  seiner 
durch  ein  object,  eine  Zeitangabe  bestimmten  dauer  vorgeführt 
werden  soll. 

Einige  beispiele  mögen  dies  klar  machen,  mit  ihrer  hilfe  werde 
ich  zugleich  aus  der  grundbedeutung  des  imparfait  und  des  döfini 
die  für  die  einzelnen  fälle  gültigen  regeln  ableiten  und  auch  einige 
freilich  bekannte,  aber  meines  Wissens  noch  nicht  erklärte,  besonders 
auffällige  eigentümlichkeiten  zu  erklären  suchen,    zuerst 

A.  das  imparfait. 

1.  Das  imparfait  vom  anfange  des  anfangs  und 
endes  und  von  ereignissen  usw.,  die  nicht  zu  ende  ge- 
führt wurden  (iraperfectum  conatus).  selbst  an  dem  an- 
fang und  ende  kann  man,  wie  gesagt,  anfangspunkt,  mittlere  dauer 
und  endpunkt  unterscheiden,  das  zeigt  sich  am  deutlichsten  beim 
imparfait  und  defini  von  commencer  und  achever. 

Im  folgenden  satze  liegt  der  feste  punkt,  von  dem  man  etwas 
neueintretendes  betrachtet,  in  der  mittleren  dauer  des  anfangs:  *je 
commen^ais  ä  partager  son  frugal  repas,  quand  nous  vimes  un 
paysan  qui,  ä  notre  aspect,  s'arreta  sur  le  seuil  usw.  (Souvestre,  les 
boisiers,  I,  le  braconnier).  das  heiszt:  'ich  fieng  eben  an,  wollte  an- 
fangen oder  hatte  eben  angefangen.'  worin  dieser  anfang  bestand, 
wie  weit  er  gediehen  war  oder  gedieh,  wird  uns  nicht  mitgeteilt, 
vielleicht  waren  nur  erst  Vorbereitungen  dazu  getroffen,  vgl.  noch 
zwei  stellen  aus  Voltaires  Charles  XII,  wo  auch  zwei  imparf.  diesen 
festen  punkt  der  mittleren  dauer  bezeichnen:  livre  2  'cette  etincelle 


^^  die  ausnahmen  sind  stäze  wie  'dieu  fut,  Romulus  fonda  Roma'  usw. 


234  C.  Hiimbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen. 

coramen9ait  a  embraser  l'empire'  und  livre  4  'le  czar  avait  pass6 
la  riviöre  ä  une  lieue  de  Pultava,  et  commeii9ait  ä  former  son 
camp',  dagegen  vom  ganz  sicheren  wirklichen  anfang  und  abschlusz 
des  anfangs:  'ces  essais  commencerent  ä  lui  donner  de  la  r6putation' 
(madame  Kiccoboni,  Ernestine). 

In  dem  satze  mit  'je  comraen^ais'  hätte  der  redende  vielleicht 
nur  dann  wirklich  angefangen  mitzuspeisen ,  wenn  ihn  die  an- 
kunft  des  bauern  nicht  gestört  hätte,  bei  commencerent  fällt  diese 
möglichkeit  weg.  und  wie  mit  dem  anfang,  so  auch  mit  dem  ende :  *le 
drame  s'achevait;  d6jä  madame  Kaucourt  avait  declamfe  le  naturel 
et  hurle  la  passion  au  gre  des  connaisseurs  de  l'endroit  (Delatouche, 
un  Souvenir  comique).  und  dann  folgt,  was  auf  diesem  festen  punkte 
der  mittleren  dauer  des  achever  eintrat. 

Im  folgenden  satze  findet  sich  beides  zusammen  :  'j'achevais 
de  m'habiller  et  je  venais  d'ouvrir  ma  fenötre,  quandje  vis  passer 
mr.  Brogues,  qui  se  disposait  ä  se  rendre  ä  ses  affaires  (Revue  des 
deux  mondes  15/1  93  s.  272).  die  aufführung  und  das  anziehen 
hatten  schon  angefangen ,  sich  dem  ende  zu  nähern ,  aber  dies  ende 
selbst  war  immer  noch  in  einem  punkte  seiner  mittleren  dauer:  'das 
drama  näherte  sich  eben  oder  immer  mehr  seinem  ende,  fast 
war  ich  ganz  mit  dem  anziehen  fertig,  als  das  oder  das  eintrat.' 

Im  folgenden  satze  fieng  hingegen  das  achever  an  und  ward  zu 
ende  geführt  zu  einer  zeit,  wo  etwas  anderes  schon  und  noch 
in  seiner  mittleren  dauer  begriffen  war:  'l'air  meprisant  de  lord 
Monteith,  Taffectation  avec  laquelle  il  portait  en  avant  son  manteau 
de  vert  de  mer  achevörent  de  m'instruire'  =  'klärten  mich 
vollends  auf  (mad.  la  comtesse  d'Asch,  Sorcellerie). 

Im  vorletzten  satze  ward  der  redende  möglicherweise  durch  den 
anblick  des  Brogues  am  völligen  anziehen  verhindert. 

Das  imparfait  gleich  unserm  conjunctiv  des  plus- 
quamperfects:  il  p6rissait  'er  wäre  gestorben',  il  devait 
'er  hätte  müssen',  sowie  von  der  vorherbestimmung 
durchs  Schicksal  (imgegensatzzuildut,  p6rit,  fallut). 

Der  Franzose  nennt  sein  conditionnel  das  imparfait  des  futur; 
kehrt  man  den  satz  um  ,  so  ist  sein  imparfait  das  conditionnel  der 
Vergangenheit,  die  blosz  in  ihrer  mittleren  dauer  au.sgedrUckte 
thätigkeit  gelangt  nur  dann  zum  abschlusz,  wenn  kein  hindernis 
entgegentritt,  wenn  irgend  eine  bedingung  erfüllt  wird,  'il  p6rirait' 
heiszt:  'er  würde  sterben'  und  'il  p6rissait' :  'er  wäre  gestorben;  er 
war  schon  und  noch  auf  dem  wege  zum  sterben,  er  starb  aber 
nur  unter  der  daran  geknüpften  oder  hinzu  gedachten 
bedingung.'  so  in  Eacines  Andromaque  IV  1.  die  witwe  Hektors 
erklärt  ihrer  vertrauten,  was  sie  zwingt,  den  Pjrrhus  zu  heiraten, 
und  hindert,  dem  gatten  länger  die  treue  zu  bewahren.  *est-ce  lä 
cette  ardeur  tant  promise  ä  sa  cendre?'  —  'mais  son  fils  perissait, 
il  l'a  fallu  defendre.'  sein  söhn  starb,  wenn  sie  sich  ihm  nicht 
opferte.    *le  roi  pris,    une  grande  partie  de  la  chevalerie  couch6e 


C,  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen.  235 

dans  la  poussiere,  la  France  6tait  perdue  si  le  peuple  ne  l'evit 
sauv6e'  (Malte-Brun).  Astyanax  und  Frankreich  waren  schon  und 
noch  auf  dem  wege  zum  Untergang,  als  das  volk  und  die  mutter 
die  vollständige  ausführung  verhinderten,  daher:  wäre  verloren 
gewesen  (wenn  nicht  .  .  .).  fut  perdue  hingegen  und  perit  würden 
bezeichnen :  beides  fieng  an  und  ward  wirklich  zu  ende  geführt. 

Imparfait  von  devoir.  nachdem  der  durch  sein  heimweh 
nach  Frankreich  zurückgetriebene  auswanderer  in  B6rangers  'retour 
dans  la  patrie'  die  fruchtbarkeit  der  von  ihm  verlassenen  wärmeren 
länder  gepriesen:  'toute  l'annee  lä  brille  orn6e  de  fleurs,  de  fruits, 
et  de  fruits  et  de  fleurs!'  knüpft  seine  Vaterlandsliebe  daran  die  be- 
merkung:  'dieu  te  devait  leurs  föcondes  chaleurs'  =  gott  muste 
dir  ihre  fruchtbare  wärme  geben,  wäre  vorher  gesagt  worden  oder 
würde  nachher  gesagt,  dasz  er  sie  Frankreich  wirklich  gab,  so  gäbe 
das  imparf.  devait  nur  dafür  den  grund  an,  der,  als  das  geben  an- 
fieng  und  ausgeführt  ward,  schon  und  noch  in  seiner  mittleren 
dauer  begriffen  war.  dies  ist  aber  nicht  der  fall:  gott  muste  sie  ihm 
geben,  war  schon  und  blieb  sie  ihm  noch  schuldig;  vom  Zeitpunkte 
des  redenden  angesehen,  war  das  müssen  schon  und  noch  in  seiner 
mittleren  dauer  =  er  hätte  es  thun  müssen,  in  folgendem  satze 
steht  devait  nur  scheinbar  für  dut:  'quelque  temps  aprös,  Michel- 
Ange  devait  retourner  ä  Rome  et  y  passer  plus  que"(sic)  la  moitiö 
de  sa  vie'  (Revue  d.  d.  m.  1/2  93  s.  553).  hier  ist  es  nicht  'müste, 
muste',  sondern  ''sollte'  zu  übersetzen.  Michel-Angelo  hat  gerade 
auf  Rom  geschimpft,  und  dann  wird  nicht  gesagt,  dasz  er  schon 
jetzt  dahin  zurückgieng,  sondern  nur:  es  war  um  diese  zeit 
(schon  und  noch)  bestimmt  im  buche  des  Schicksals,  dasz 
er  vier  jähre  später  dahin  zurückkehren  würde,  diese  bestim- 
mung  lastete  vom  anfang  der  zeiten  oder  seines  lebens  und  auch 
jetzt  immer  noch  auf  ihm  bis  zu  dem  augenblicke,  wo  sie  erfüllt 
worden  war. 

Im  gegensatz  dazu  einige  sätze  mit  dut  und  fallut.  'il  lui 
f  a  1 1  u  t  redevenir  bottier,  mais  il  tenait  trop  ä  ses  nouvelles  habitudes 
pour  y  renoncer.  il  resolut  d'ßtre  ä  Ja  fois  deux  hommes,  bottier 
la  nuit,  fashionable  le  jour'  (J.  d'Hervilly,  le  trou  de  vrille,  am 
schlusz).  'il  lui  fallut'  und  ebenso  'il  dut'  bezeichnet:  'er  muste 
es  thun  und  that  es;  zu  der  zeit,  in  die  wir  durch  das  vorher- 
gehende versetzt  worden,  fieng  er  an  es  zu  thun  und  führte  es 
zu  ende',  während  'fallait,  devait'  nur  das  'müssen'  an  sich  aus- 
drücken, nicht  in  that  umgesetzt;  'er  war  schon  und  blieb  immer 
noch  müssend'. 

In  den  sätzen:  'Karl  der  grosze  ehrte  die  tapferkeit  Witte- 
kinds; darum  gab  er  ihm  als  lehn  das  herzogtum  Sachsen'  und 
'K.  d.  g.  ehrte  die  taperkeit  Wittekinds,  indem  er  ihm  das  h.  S. 
als  lehn  gab*  hat  das  imperfectum  'ehrte'  eine  sehr  verschiedene 


müste  de  heiszen,  weil  der  satz  keine  vergleichung  enthält. 


236  C.  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen. 

bedeutung.  in  dem  ersten  bezeichnet  es  nur  das  innere  gefühl, 
das  nicht  erst  in  dem  augenblick  aufkam,  wo  Karl  dem  Witte- 
kind Sachsen  gab,  sondern  schon  und  noch  in  seiner  mittleren 
dauer  begriffen  war,  als  das  geben  anfieng  und  ausgeführt  ward;  es 
ist  die  Ursache,  das  ursprüngliche,  das  schon  vorhanden  war  in 
dem  augenblick,  wo  die  Wirkung  eintrat,  in  dem  zweiten  satze  aber 
sind  das  'ehren'  und  'geben'  gleichzeitig:  Karl  zeigte,  dasz  er  den 
W.  ehrte,  machte  das  innere  gefühl  äuszerlich  sichtbar,  und  dies 
Sichtbarwerden  fieng  erst  an  und  ward  zugleich  zu  ende  geführt  in 
dem  augenblick,  wo  er  das  geben  anfieng  und  ausführte,  unser 
imperf.  kann  den  unterschied  nicht  wiedergeben,  der  Franzose  setzt 
in  dem  ersten  fall  'honorait'  und  in  dem  zweiten  'honora'.  und 
ebenso  ist  es  beim  müssen,  zur  not  könnten  wir  sagen:  'er 
muste  es  schon  lange  thun'  statt  'hätte  thun  müssen',  damit 
vergleiche  man  nun:  'endlich  muste  er  es  thun.'  in  dem  ersten 
satz  erscheint  das  'müssen'  als  etwas,  das  schon  und  noch  in  seiner 
mittleren  dauer  begriffen  war,  als  ein  sich  gleich  bleibender  zustand  ; 
um  ein  nahe  liegendes  bild  zu  gebrauchen,  als  eine  schuld,  die  schon 
auf  ihm  lastete  und  immer  noch  nicht  abgetragen,  gelöscht  ward; 
ihr  anfangspunkt  liegt  schon  hinter,  ihr  endpunkt  noch  vor  uns; 
darum  dürfen  beide  nicht  ausgedrückt  werden,  sondern  nur  ein 
Zeitraum  oder  -punkt  der  mittleren  dauer.  daher  im  französischen 
'il  devait'  oder  'il  fallait  que'.  in  dem  zweiten  gibt  das  wörtchen 
'endlich'  dem  'muste'  eine  ganz  andere  bedeutung.  hier  werden 
das  theoretische  und  praktische  müssen  unterschieden,  jenes  war 
auch  hier  schon  in  seiner  mittleren  dauer,  da  trat  das  praktische 
hinzu;  er  ward  endlich  thatsächlich  gezwungen,  das  schon  lange 
notwendige  wirklich  zu  thun;  das  äuszere  thun  aber,  das  nun  erst 
anfieng  und  zugleich  auch  zu  ende  geführt  ward,  wie  die  löschung 
der  schuld  durch  die  zahlende  thätigkeit  des  Schuldners,  rausz  im 
französischen  durch  das  passe  defini  wiedergegeben  werden,  so 
dasz  anfangs-  und  endpunkt  des  löschens,  mit  überspringung  jeder 
mittleren  dauer,  sich  in  einem  punkte  berühren,  bei  honora 
wird  ein  inneres  gefühl,  bei  dut  und  fallut  eine  zu  erfüllende 
pflicht  durch  eine  äuszerliche  handlung  mit  anfangs- 
und  endpunkt  in  that  umgesetzt,  so  kommt  hier  der  unter- 
schied zwischen  imparfait  und  passe  defini  in  voller  macht  zum 
Vorschein. 

Zwei  beispiele  von  dut  in  demselben  sinne:  'Ballanche  dut 
plaire,  et  il  plut  beaucoup'  (Revue  d.  d.  m.  1/1  93  s.  66).  'si 
Menzikoff  fit  cette  manoeuvre  de  lui-möme,  la  Russie  lui  dut 
son  salut;  si  le  czar  l'ordonna,  il  etait  un  digne  adversaire  de 
Charles  XII  (Voltaire  Ch.  XII,  livre  4),  das  faire,  devoir,  ordonner 
fiengen  erst  an  und  wurden  zugleich  ausgeführt,  als  das  ötre  schon 
und  noch  in  seiner  mittleren  dauer  begriffen  war;  oder:  dies  war 
schon  und  noch  in  seiner  mittleren  dauer,  als  jenes  anfieng  und  aus- 
geführt ward. 


C.  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen.  237 

2.  Das  imparfait  von  dem,  was  man  erst  später  aus- 
führte, was  man  erst  sollte  oder  wollte,  'je  passai  la  soir6e 
avec  mon  nouvel  ami  . . .;  il  partait  le  lendemain;  mais  il  fut  con- 
venu  que  nous  ne  nous  quitterions  pas  comme  cela  .  .  ,  sans  avoir 
consacr6  notre  amiti§  par  un  verre  d'eau  de  cerises'  (A.  Dumas  pöre, 
nouvelles  impressions  de  voyage,  un  mot  pour  un  autre).  'dös  qu'il 
eut  un  peu  repris  ses  sens,  il  demanda  une  chambre  et  un  lit;  mais 
la  foire  venait  de  finir  ä  Kaysersberg,  et  l'auberge  etait  pleine  de 
gens  qui  repartaient  le  lendemain'  (Souvestre,  au  coin  du  feu, 
les  deux  devises).  das  lendemain  ist,  von  demanda,  venait,  etait  aus 
gerechnet,  noch  zukünftig  und  zeigt  klar,  dasz  sie  jetzt  noch  nicht 
am  abreisen  sein  konnten;  in  gedanken  aber  hatten  sie  es  schon  an- 
gefangen, vielleicht  auch  schon  Vorbereitungen  dazu  getroffen,  und 
insofern,  aber  auch  nur  insofern,  war  es  in  seiner  mittleren  dauer 
begriffen. 

In  diesen  zwei  beispielen  'wollten'  die  betreffenden  personen 
^abreisen';  wären  sie  aber  von  andern  dazu  gezwungen,  so  träte 
'sollen'  an  die  stelle  von  'wollen';  und  dann  hätte  das  blosze  im- 
parfait des  verbs  dieselbe  bedeutung ,  wie  vorher  in  dem  satze  über 
Michel- Angelo  der  infinitif  mit  dem  imparf.  von  devoir:  'in  dem 
buche  des  Schicksals  stand  es  schon  geschrieben,  in  ihm  oder  in 
den  gedanken  des  befehlenden  hatte  ihr  abreisen  damals 
schon  angefangen.'  und  in  diesem  sinne,  von  etwas  blosz  gedachtem 
steht  auch 

3.  das  imparfait  ohne  beschränkende  oder  zu  er- 
gänzende bedingung  von  dingen,  die  nie  angefangen 
und  ausgeführt,  auch  nicht  in  ihrer  mittleren  dauer 
begriffen,  nicht  einmal  wirklich  vorbereitet  waren, 
nur  in  der  phantasie  hatten  sie  zu  der  angegebenen  zeit  an- 
gefangen; diese  malte  sie  sich  vor;  und  da  es  bei  dem  vormalen 
blieb,  erscheinen  sie  als  schon  und  noch  in  der  mittleren  dauer. 

'Figurez-vous  que  j'ai  6t6  agit6e  de  l'id^e  de  faire  un  grand 
coup  . . .  un  beau  matin  je  feignai  s  une  effrayante  migraine,  pour  ne 
point  paraitre  de  la  journ6e.  je  m'echappais  du  chäteau,  je  prenais 
le  chemin  de  fer,  j'arrivais  ä  Paris,  j'entendais  les  Huguenots, 
et  je  revenais  dans  la  nuit  pour  reparaitre  au  dejeuner,  guerie  et 
fraiche,  comme  une  convalescente  .  .  .je  n'ai  pas  ose  .  .  .  et 
pourtant  on  n'aurait  rien  su  .  .  .'  (Revue  d.  d.  m.  15/9  91  s.  271). 
dies  alles  ist  eben  abhängig  zu  denken  von  der  Vorstellung,  zu  der 
zeit,  wo  sie  sich  dies  alles  vorstellte,  war  für  diese  ihr  Inhalt,  wenn 
auch  nie  ausgeführt,  als  der  stoff,  auf  dem  sie  beruhte,  schon  vor- 
handen, daher  auch  stets  das  imparfait  nach  den  verben  des  denkens, 
wenn  man  jenen  inhalt  nicht  in  die  zukunft  verlegt;  dann  aber  steht 
weder  imparfait  noch  passe  defini,  sondern  das  imparfait  der  zukunft, 
das  conditionnel.  hierüber  noch  später,  ebenso :  'eile  recommen9a, 
pour  la  millidme  fois  peut-etre,  un  de  ces  rßves  tout  eveill6s  que  le 
bon  La  Fontaine  a  chantös  avec  tant  de  gräce  et  de  naivete'  (de  la 


238  C.  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen. 

laitiöre  et  le  pot  au  lait).  M'abord  eile  retranchait  ä  chacune  de  ses 
semaines  deux  grandes  journees  de  travail  .  .  .  eile  se  donnait  tous 
las  trois  mois  une  robe  neuve  .  .  ainsi  par6e  eile  allait  ä  Meudon 
par  le  bateau  ä  vapeur,  et  ne  revenait  que  bien  tard  .  .  .*  (Jules 
Janin,  les  chäteaux  en  Espagne). 

4.  Das  imparfait  scheinbar  vom  fortschritt  (eine 
reihe  imparfaits  mit  demselben  subject,  bei  einem 
neuen  absatz  oder  capitel,  mit  einer  adverbialen  be- 
stimmung);  besonders  von  sitten  und  gewohnheiten, 
auch  von  Handlungen  als  zeichen  eines  zustandes.  in 
der  anfangs  erwähnten  arbeit  hatte  ich  gesagt:  'eine  reihe  von 
imparfaits  kann  niemals  einen  fortschritt  ausdrücken,  weil  in  dem 
wesen  jedes  einzelnen  nichts  von  fortschritt  vorhanden  ist  .  .  .  das 
imparf.  stellt  uns  gleich  mitten  in  die  thätigkeit,  in  ihre  mittlere 
dauer  hinein  .  .  .  und  wie  wir  von  vorn  herein  darin  stehen,  so 
bleiben  wir  auch  darin  ...  es  entläszt  uns  eben  da,  wo  es  uns 
empfieng,  während  uns  das  pass6  defini  mit  einem  schlage  von 
ihrem  anfangspunkt  an  das  ende  führt,  ein  fortschritt  in  der  zeit 
und  in  der  handlung."*" 

Dies  erleidet  eine  beschränkung.  an  sich  drückt  das  imparf. 
keinen  fortschritt  aus;  aber  die  durch  ein  zweites  imparf.  aus- 
gedrückte handlang  kann  man  sich  denken  als  der  durch  das  erste 
ausgedrückten  folgend,  blosz  weil  sie  uns  später  entgegentritt,  und 
insofern  kann  auch  eine  reihe  von  imparf.  einen  fortschritt  bezeichnen, 
wenn  die  betreffenden  bandlungen  von  derselben  person  ausgeführt 
wurden  und  nicht  gleichzeitig  sein  konnten,  manchmal  wird  frei- 
lich beim  imparfait  der  fortschritt  nur  ausgedrückt  durch  einen 
neuen  absatz,  den  anfang  eines  neuen  capitels  (zwischen 
beiden  denkt  man  sich  eine  zeit  verstrichen,  während  der  allerlei 
geschehen  kann,  wie  zwischen  den  acten  eines  Schauspiels);  oder 
auch  durch  eine  adverbiale  bestimmung,  wie  'zwei  stunden 
darauf,  da  bedarf  es  natürlich  nicht  mehr  dieses  ausdrucks  durch 
das  verbum:  'donnez-moi  l'enfant,  disait  Giuditta.'  und  in  einem 
neuen  absatz:  'eile  emmenait  le  pauvre  petit  6tre,  le  lavait,  le 
peignait  .  .  .  et  quelques  jours  aprös  le  renvoyait  a  ses  parents, 
qui  criaient  au  miracle.'" 

Besonders  häufig  ist  diese  ausnähme  bei  sitten  und  gewohn- 
heiten. so  z.  b.  in  folgenden  Sätzen  über  die  kaiserwahl:  'die  ehe- 
maligen kurfürsten  wählten  einen  fürsten  zum  könige  von  Deutsch- 
es ich  gebe  die  stelle  verkürzt  wieder.  Mätzner  hatte  damals  gerade 
dem  imparf.  die  fähigkelt  zugeschrieben,  den  fortschritt  auszudrücken, 
und  dem  gegenüber  muste  ich  damals  meine  ansieht  in  diesem  punkte 
ausführlicher  begründen. 

23  ich  weisz  nicht  mebr,  woraus  diese  stelle  entnommen  ist.  in  diesem 
fall  kann  das  imparf.  den  fortschritt  noch  mehr  hervorheben  als  das 
de'fini,  wenn  es  aufgefaszt  wird  in  dem  sinne  'sie  hatte  schon  an- 
gefangen' im  gegensatz  zu  'sie  fieng  erst  an',  dies  liegt  aber  nicht 
in  dem  imparf.  an  sich. 


C.  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen.  239 

land ;  ein  herold  rief  ihn  als  nachfolger  Karls  des  groszen  aus.  hierauf 
begab  er  sich  nach  Italien,  wurde  in  Pavia  zum  könige  der 
Lombardei  gekrönt  und  endlich  in  Rom  zum  römischen  kaiser 
gesalbt.' 

An  sich  liegt  hier  in  jedem  verbum  und  von  einem  zum 
andern  ein  fortschritt  vor,  in  der  zeit  wie  in  der  handlung.  blosz 
auf  einen  fall  angewandt,  müsten  sie  daher  im  passe  defini  stehen, 
der  eine  steht  aber  hier  für  alle,  wie  die  paradigmen  mensa  und 
amo  für  die  substantiva  und  verba,  die  ihnen  gleichen;  und  die 
gesamtheit  dieser  fälle,  in  der  sich  erst  die  sitte  oder  ge  wohn- 
heit  verkörpert,  wird  uns  als  schon  und  noch  in  ihrer  mittleren  dauer 
begriffen  vorgeführt;  denn  vorher,  als  sie  erst  anfieng ,  war  sie 
ja  noch  keine  gewohnheit;  und  als  sie  ihr  ende  erreichte, 
hörte  sie  auf  es  zu  sein.^"  besteht  nun  diese  sitte  wie  hier  aus  ver- 
schiedenen thätigkeiten,  von  denen  eine  jede  für  sich  anfieng  und 
ausgeführt  ward,  und  die  aufeinander  folgten,  so  treten  diese  be- 
sonderheiten,  da  man  nicht  beides  zugleich  ausdrücken  kann,  zurück 
hinter  das  durch  sie  verkörperte  ganze;  alle  jene  sätze  werden  als 
ausdruck  dieses  einen  ganzen  zusammengefaszt,  und  dieses  tritt 
uns  als  schon  und  noch  bestehend  im  imparfait  in  seiner  mittleren 
dauer  entgegen,  ebenso  trat  bei  den  schon  erwähnten  phantasie- 
gebilden  der  fortschritt  im  einzelnen  zurück  hinter  den  ausdruck 
der  nichtWirklichkeit  des  ganzen. 

Ebenso  wenn  handlungen,  die  anfiengen,  ausgeführt  wurden 
und  einander  folgten,  als  zeichen  eines  zustandes,  z.  b.  einer 
aufregung,  Verlegenheit  aufgefaszt  werden,  die  schon  und  noch  in 
ihrer  mittleren  dauer  begriffen  war.  dies  findet  man  besonders 
häufig  bei  dem  pathetische  Südländer  schildernden,  selber  patheti- 
schen Alph.  Daudet ,  während  der  mehr  verstandesmäszig  lebendige 
Nordfranzose  lieber  den  ström  der  thatsachen  im  pass6  d6fini  vor- 
führt, ein  beispiel  aus  Tartarin  de  Tarascon :  'etourdi  de  tout  ce 
tumulte,  le  pauvre  Tartarin  allait,  venait,  pestait,  jurait,  se  demenait, 
courait  apres  ses  bagages  et,  ne  sachant  comment  se  faire  comprendre 
de  ces  barbares,  les  haranguait  en  frauQais,  en  pi'oven^al,  et  m6me 
en  latin  .  .  .  on  ne  l'ecoutait  pas  . .  .'  dies  war  alles  schon  und  noch 
in  seiner  mittleren  dauer  begriffen,  da  aber:  'heureusement  qu'un 
petit  homme  intervint  .  .  .';  an  dieser  stelle,  zur  Schilderung  eines 
mannes,  der  sich  nicht  zu  helfen  weisz,  ist  das  imparfait  so  gut  an- 
gebracht ,  dasz  niemand  ein  dfefini  setzen  würde,  wir  stehen  mitten 
in  einem  Wirrwarr,  aus  dem  sich  kein  ausgang  finden  läszt. 


'"  an  den  begriff  sitte  knüpft  sieh  bekanntlich  gleich  der  gedanke 
an  Wiederholung;  diese  aber  verlangt  nicht  als  solche  das  imparf,,  son- 
dern nur,  wenn  sie  erscheint  als  die  Verkörperung  einer  schon  und  noch 
bestehenden,  in  einem  punkte  ihrer  mittleren  dauer  vorgeführten  sitte. 
der  Zeitpunkt,  von  dem  man  eine  sitte  betrachtet,  in  den  man  sich  bei 
ihr  hineinversetzt,  ist  eben  naturgemäsz  einer,  wo  sie  schon  und  noch 
herschte. 


240  C.  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen. 

Aus  dem  gesagten  ergibt  sich  zugleich,  weshalb  eigen  Schäften 
meist  im  imparf.  stehen,  auch  bei  ihnen  pflegt  man  sich  in  eine  zeit 
zu  versetzen,  wo  jemand  sie  schon  und  noch  besasz;  als  das  und 
das  geschah,  waren  sie  schon  und  noch  in  ihrer  mittleren  dauer 
begriffen. 

Selbst  die  sätze  von  Giuditta  mit  dem  kind  lieszen  sich  als  ein 
schon  in  seiner  mittleren  dauer  begriffener  zustand  auffassen. 

Meine  begründung  dieser  scheinbaren  ausnahmen  beim  im- 
parfait  wird  noch  durch  eine  andere ,  entgegengesetzte .  gleichfalls 
nur  scheinbare  beim  defini  bestätigt. 

B.  Das  pass6  defini  von  sitten  und  gewohnheiten 
(wie  von  eigenschaften  und  zuständen),  das  defini  tritt 
an  die  stelle  des  imparfait,  sobald  man  von  einer  sitte,  von  der  die 
einzelnen  fälle  zusammenfassenden  gesamtheit,  den  bloszen  anfangs- 
punkt  oder  auch  die  ganze  dauer,  vom  anfangs-  bis  zum  endpunkt 
darstellen  will. 

1.  In  folgenden  beispielen  wird  einer  sitte^',  die 
schon  war  oder  gewesen  war,  im  imparfait,  eine  solche, 
die  dann  anfieng,  im  passe  döfini  entgegengestellt, 
vom  Standpunkt  der  alten  sitte  erscheint  die  eine  als  etwas,  das 
dann  erst  anfieng  und  ausgeführt  ward,  'on  les^^  faisait  autrefois 
de  l'argent  pris  sur  les  ennemis:  dans  ces  temps  malheureux,  on 
donna  celui  des  citoyens;  les  distributions  n'avaient  lieu  qu'apr^s 
une  guerre:  Neron  les  fit  pendant  la  paix'  (früher  hatte  man  das 
6ine  gethan,  nun  aber  und  von  nun  an  that  man  das  andere) 
(Montesquieu,  consid6rations  sur  la  grandeur  et  la  decadence  des 
Romains  cap.  XV).  —  'le  senat  voyait  de  pres  la  conduite  des 
g6neraux,  et  leur  ötait  la  pens6e  de  rien  faire  contre  leur  devoir. 
mais  lorsque  les  legions  passörent  les  Alpes  et  la  mer,  les  gens  de 
guerre,  qu'on  6tait  oblige  de  laisser  pendant  plusieurs  campagnes 
dans  les  pays  que  l'on  soumettait,  perdirent  peu  ä  peu  l'esprit  de 
citoyens;  et  les  g6n6raux,  qui  disposerent  des  armees  et  des 
royauraes,  sentirent  leur  force,  et  ne  purent  plus  ob6ir  (ver- 
lernten das  gehorchen)  (Montesquieu  c.  IX). 

Das  zweite  buch  von  Voltaires  Charles  XII  beginnt  mit  einer 
Schilderung  der  gleichgültigkeit  des  beiden  gegen  alle  Staats- 
angelegenheiten und  der  änderung  in  seinen  sitten  und  gewohn- 
heiten von  dem  augenblickan,  wo  er  anfieng,  sich  auf  den 
krieg  vorzubereiten,  'il  n'assistait  presque  jamais  dans  le  conseil 
que  pour  croiser  les  jambes  sur  la  table  ...  du  moment  qu'il  se 
pr6para  ä  la  guerre,  il  commen9a  une  vie  toute  nouvelle  .  .  .  il  ne 
connut  plus  ni  magnificence,  ni  jeux,  ni  dölassements  .  .  .  il  avait 
aim6  le  faste  dans  les  habits;  il  ne  fut  vGtu  depuis  que  comme  un 
simple  Soldat  .  .  .  il  renon9a  aux  femmes  pour  jamais  .  .  .  il  r6solut 


^'  zum  teil  auch  einem  gewohnheitsmäszigen  zustande. 
^*  les  distributions  oder  älmliches. 


C.  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen.  241 

ausßi  de  s'abstenir  de  vin  toufc  le  reste  de  sa  vie.'  ebenda  livre  II: 
Ml  r6gnait  depuis  longtemps  dans  les  troupes  su6doises  une  dis- 
cipline  .  .  .  le  jeune  roi  en  augmenta  encore  la  sev6rit6.  il  voulut 
de  plus  qua  dans  une  victoire  ses  troupes  ne  döpouillassent  les  morts 
qu'aprös  en  avoir  eu^^  la  permission.' 

'Mme  de  la  Tour  d'Erableuse  souffrait  plus  des  douleurs  de 
Germaine  que  dessiennes.  lorsqu'elle  fut  s6par6ede  sachöre  malade, 
eile  se  remit  peu  a  peu,  et  eile  partagea  moins  pöniblement  des 
maux  qu'elle  ne  voyait  plus  .  .  .  eile  ne  fut'*  jamais  rassuree ,  mais 
eile  ne  v6cut  pas  dans  l'attente  du  dernier  soupir  de  sa  fille.  eile 
n'ouvrit  Jamals  sans  trembler,  une  lettre  d'Italie;  mais,  dans  l'inter- 
valle  de  cbaque  courrier  eile  eut  des  instants  de  röpit  (About,  Ger- 
maine Hachette  1890  s.  100  cap.  V).  —  'sa  position  etait  döjä 
meilleure.  malheureusement  il  voulut  combattre  ses  rivaux  avec 
leurs  armes,  il  commanda  ä  son  tailleur  un  habit  d'une  coupe 
romantique  .  .  .  un  paquet  de  breloques  pendit'^  ä  sa  ceinture. 
quoiqu'il  eüt  la  vue  excellente,  il  ne  regar  d  a  plus  qu'avec  un  lorgnon 
d'or'  (Paul  de  Müsset,  le  Bisc61iais  cap.  V).  —  'anim6  par  Tair  plus 
pur  (des  bois)  on  arrivait  ä  comprendre  l'espöce  de  delire  qui,  vers 
le  12  siöcle,  s'empara  de  la  noblesse  entiöre  et  la  poussa  dans  les 
forets  .  . .  alors  les  bois,  pareils  ä  une  mar6e  montante,  envahirent 
partout  les  champs  et  les  villages'  (man  schuf  wälder,  wie  man  sie 
heute  vernichtet)  (Souvestre,  les  boisiers  cap.  II).  —  'depuis  les 
empereurs,  il  f  u  t  plus  difficile  d'ecrire  l'histoire.  tout  d  e  v  int  secret; 
toutes  les  d6p6ches  des  provinces  furent  portees  dans  le  cabinet 
des  empereui's;  on  ne  sut  plus  que  ce  que  la  folie  et  la  hardiesse 
des  tyrans  ne  voulut  point  cacher,  ou  ce  que  les  historiens  con- 
jecturörent'  (Montesquieu,  considörations  cap.  XIII).  —  'dös 
l'ouverture  du  cinquiöme  siöcle,  de  l'an  406  ä  Tan  409,  ce  ne  fut 
plus  par  des  incursions  limitöes  a  certains  points  et  quelquefois 
efficacement  reprim6es  que  les  Germains  infestörent  les  pi'ovinces 
romaines'  (Guizot,  histoire  de  France).  —  'Napol6on  se  tut,  mais 
depuis  ce  moment  il  traita  froidement  ce  grand  officier,  sans  pour- 
tant  le  rebuter'  (histoire  de  Napoleon  et  de  la  grande  armee  von 
S§gur  cap.  III). 

2.  In  den  zwei  folgenden  Sätzen  steht  eine  das 
ganze  leben  eines  menschen  oder  die  ganze  Vergangen- 
heit umfassende  bemerkung  im  d6fini.  'si  nous  ölevons  un 
jour  un  monument  ä  D6saugiers  je  proposerai  d'y  tracer  cette  courte 
inscription:  ä  D.,  qui  n'eut  pas  d'ennemis  (n'avait  bezeichnet  nur: 

'^  dies  ist  ein  fall,  wo  auch  das  indefini  von  avoir  'erhalten'  zu 
übersetzen  ist.  zuerst  denkt  man  sich  in  der  zeit,  wo  die  erlaubnis 
noch  nicht  da  ist,  und  von  diesem  Standpunkte  ist  das  spätere  avoir  eu 
zugleich  ein  avoir  recju.     vgl.  das  über  j'aurai  usw.  bemerkte. 

^*  das  fut.  umfaszt  wohl  mehr  noch  die  ganze  dauer,  weil  nicht 
pas,  sondern  jamais  dabei  steht. 

^'  im  deutschen  'von  jetzt  an'  hinzusetzen. 
N.  Jahrb.  f.  phil.  u.  päd.  0.  abt.  1897  hft.  4  u.  5.  16 


242  C.  Humbert :  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen. 

zu  irgend  einer  zeit  seines  lebens  oder:  als  er  gerade  starb,  n'eut: 
niemals),  ebenso:  Ha  vie  fut  celle  du  juste'  (l'oraison  funöbre  sc.  II, 
vicomtesse  de  Chamilly).  zugleich  erinnere  ich  an  die  über  'Dieu 
est,  fut  et  sera'  gemachte  bemerkung.  vgl.  noch:  'les  Romains 
f  urent  braves',  die  ganze  zeit  ihres  bestehens,  und  6taient  in  einem 
besondern  Zeitraum  oder  Zeitpunkt,  von  dem  gerade  vorher  die 
rede  gewesen;  'c'est  une  vieille  cit6  norraande,  s'il  en  fut  (J.  Janin, 
mon  voyage  ä  Brindes),  und  endlich  die  französische  Übersetzung 
eines  schon  deutsch  gegebenen  satzes :  'Annibal  fut'  und  '6tait  un 
grand  g6n6ral,  s'il  en  fut'  (wenn  es  jemals  einen  gab,  während  der 
ganzen  Vergangenheit  vom  anfangspunkt  bis  zur  gegenwart,  ihrem 
endpunkt).^*  das  die  ganze  vergangene  ewigkeit  umfassende  fut  be- 
darf um  so  weniger  eines  sie  noch  besonders  hervorhebenden  adverbs, 
als  es  am  ende  steht  und  betont  wird,  siehe  meine  abhandlung 
'die  französische  Wortstellung  auf  eine  hauptregel  zurückgeführt' 
usw.  im  centralorgan  für  die  interessen  des  realschulwesens  1878 
s.  457—555. 

Ähnlich  ist  auch  folgende  stelle  aus  einer  novelle"  von  Henri 
de  Bornier:  'l'avocat,  r6unissant  toutes  ses  forces,  r6suma  tous  les 
faits  de  sa  cause  dans  une  de  ces  p6roraisons  6mouvantes  comme 
les  murs  du  palais  en  entendirent  rarement.'  das  zweite  d6fini 
umfaszt  wieder  die  ganze  Vergangenheit,  die  hinter  dem  redenden 
liegt,  vom  anfangs-  bis  zum  endpunkt,  beide  mit  eingeschlossen, 
und  unabhängig  von,  ohne  Verbindung  mit  der  gegenwart;  enten- 
daient  würde  heiszen:  'wie  sie  damals,  als  er  das  r6sumer  anfieng 
und  ausführte,  die  mauern  des  gerichtshofs  selten  hörten  oder  zu 
hören  pflegten';  das  'hören'  hatte  dann  schon  angefangen  oder 
vielmehr  das  'selten  hören'  und  war  noch  in  seiner  mittleren  dauex* 
begriflFen,  als  der  advocat  seine  rede  hielt. 

In  der  folgenden  stelle  aus  Guizots  histoire  de  France  steht 
3.  das  d6fini  erst  vom  anfang  einer  regierungs- 
tbätigkeit  und  einzelnen  handlungen,  dann  von  der 
ganzen  regierung,  vom  anfang  bis  zum  ende.  Tentr^e  de 
Louis  IX  devenu  majeur  dans  l'exercice  personnel  du  pouvoir  royal 
ne  changea  rien  ä  la  conduite  des  affaires  publiques.  point  d'inno- 
vation  vaniteusement  cherch6e  pour  constater  l'avönement  d'un 
nouveau  maltre ;  point  de  x*6action  ni  dans  les  actes  et  les  paroles 
du  souverain,  ni  dans  le  choix  et  le  traitement  de  ses  conseillers;  la 
royaut6  du  fils  continua  le  gouvernement  de  la  möre.  Louis  per- 
sista  a  lutter,  pour  la  pr6pond6rance  de  la  couronne,  conti-e  la  puis- 
sance  des  grands  vassaux;  il  acheva  de  dompter  le  turbulent  comte 
de  Bretagne,  Pierre  Mauclerc;  il  acquit  du  comte  de  Champagne 
Thibaut  IV  les  droits  de  suzerainet6  dans  les  comt6s  de  Chartres, 


3*  ebenso  würde  in  Hes  Phe'niciens  f urent  le  peuple  le  plus  com- 
mer^ant  de  l'antiquite''  furent  das  ganze  altertum  umfassen  (vgl.  Plattuer). 
"  comment  on  devient  beau. 


C.  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen.  243 

de  Bleis,  de  Sancerre  et  la  vicomte  de  Chäteaudun;  il  acheta  de  son 
possesseur  le  fertile  comt6  de  Macon.'  so  weit  der  anfang  der 
regierungsthätigkeit,  vom  Standpunkt  der  vorigen  regierung  aus 
angesehen,  dann  aber  die  ganze  regierung,  aus  der  Vogelschau  an- 
gesehen, nach  ihrem  abschlusz:  ''ce  fut  presque  toujours  par  des 
proc6d6s  pacifiques,  par  des  n6gociations  habilement  conduites  et 
des  Conventions  fidölement  ex6cut6es,  qu'il  accomplit  ces  accroisse- 
ments  du  domaine  royal;  et  quand  il  fit  la  guerre  ä  quelqu'un  de 
ses  grands  vassaux,  il  ne  s'y  engagea  que  sur  leur  provocation,  pour 
soutenir  les  droits  ou  l'honneur  de  sa  couronne,  et  il  usa  de  la 
victoire  avec  autant  de  mod6ration  qu'il  en  avait  montr6  avant 
d'entrer  dans  la  lutte.' 

4.  Oft  steht  eine  neue  oder  vom  anfangspunkt  bis 
zum  endpunkt  eines  Zeitraums  her  sehende  sitte  erst  im 
d6fini;  dann  aber  sind  wir  mitten  drin,  und  darum  folgt 
ein  imparfait.  'voici  quel  fut  pendant  pres  d'un  mois  le  genre 
de  vie  de  Tambitieux  Substitut,  a  six  heures  de  matin  il  se  levait 
courageusement  .  .  .'  (Charles  de  Bernard ,  les  alles  d'Icare  IX).  — 
'aussitöt  que  les  soldats  eurent  pass6  le  dötroit,  tous  ceux  qu'ils 
rencontrören t  dans  leur  marche  füren t  des  ennemis,  et  les  sujets 
de  Tempereur  grec  eurent  plus  ä  souflfrir  que  les  Turcs  de  leurs 
Premiers  exploits.  dans  leur  aveuglement  ils  alliaient  la  super- 
stition  ä  la  licence,  et,  sous  les  banniöres  de  la  croix,  commettaient 
des  crimes,  qui  fönt  fr6mir  la  nature'  (Michaud,  I^  croisade).  — 
'il  y  avait  une  loi  de  majest6  contre  ceux  qui  commettaient  quelque 
attentat  contre  le  peuple  romain.  Tibere  se  saisit  de  cette  loi,  et 
l'appliqua,  non  pas  aux  cas  pour  lesquels  eile  avait  6t6  faite, 
mais  a  tout  ce  qui  put  servir  sa  haine  ou  ses  d6fiances.  ce  n'6taient 
pas  seulement  les  actions  qui  tombaient  dans  le  cas  de  cette  loi, 
mais  des  paroles,  des  signes  et  des  pens6es  möme'  (Montesquieu, 
considerations  cap.  XIV).  —  'les  hommes  portaient  alors  des  cra- 
vates  de  dontelle,  qu'on  arrangeait  avec  assez  de  temps  et  de  peine. 
les  princes  s'6tant  habillös  avec  pröcipitation  pour  le  combat,  avaient 
pass6  negligemment  ces  cravates  autour  du  cou:  les  femmes  por- 
t^rent^^  des  Ornaments  faits  sur  ce  modMe;  on  les  appela  des 
Steinquerques.  toutes  les  bijouteries  6taient  ä  la  Steinquerque' 
(Voltaire,  siöcle  de  Louis  XIV  chap,  XVI),  hier  steht  zuerst  das 
imparfait  von  einer  damals  schon  bestehenden  sitte,  dann  das 
pass6  d6fini  von  einer  dann  neu  aufkommenden,  und  zuletzt  auch 
diese  wieder,  nachdem  ihre  einführung  erwähnt  worden,  vom  Stand- 
punkt der  spätem  zeit,  als  in  der  mittleren  dauer  begriffen,  im 
imparfait. 

5.  Zuweilen  findet  man  auch  die  zu  irgend  einer 
zeit  in  ihrer  mittleren  dauer  begriffene  sitte  des  noch 
lebenden  und  die  das  ganze  leben  umfassende  des  schon 


38  'nun'  hinzusetzen. 

16' 


244  C,  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen. 

gestorbenen  zusammengestellt,  so  bei  Cherbuliez  (Valbert) 
in  der  Revue  d.  d.  m.  1  oct.  1882  s.  683  f.:  'le  baron  Nothomb 
n'6tait  pas  de  ces  hommes  qui,  a  force  d'aimer  l'ordre,  redoutent 
tout  ce  qui  pourrait  deranger  leurs  habitudes.  ses  Souvenirs  lui 
6taient  cbers,  mais  il  savait  s'en  affranchir,  il  n'6tait  pas 
le  prisonnier  de  sa  memoire.'  und  dann:  'il  eut  toute  sa  vie 
l'esprit  ouvert  aux  nouveautös.  toute  sa  vie  il  eut  l'amour  des 
voyages';  und  dann  wieder:  'il  en  faisait  une  chaque  ann6e;  on 
pretendait  m6me  en  sa  famille  que  ses  malles  6taient  toujours 
boucl6es'  usw.;  und  endlich  wieder  zusammenfassend:  'rester  jeune 
jusqu'au  bout,  c'est  un  sort  r6serv6  a  peu  de  mortels  et  ce  fut 
le  partage  de  M.  Nothomb.' 

In  den  folgenden  Sätzen  über  Jeanne  d'Arc  denkt  man  sich 
diese  zuerst  lebendig  zu  einer  zeit,  wo  die  sitte  und  gewohnheit 
noch  in  der  mittleren  dauer  erscheint,  man  versetzt  sich  mitten 
hinein;  dann  aber  steht  man  am  ende  ihres  lebens  und  zieht  daraus 
das  facit,  aus  der  Vogelschau,  vom  anfangspunkt  bis  zum  endpunkt.  ^' 
'dös  son  avance  Jeanne  d'Arc  allait  volontiers  aux  saints  lieux. 
eile  se  confessait  souvent  .  .  .  toute  sa  vie  eile  eut  le  goüt  des 
pratiques,  des  observances,  et  comme  une  passion  pour  le  son  des 
cloches'  (Revue  d.  d.  m.  1/8  90  s.  691).  vergleiche  noch:  'les  Lac§- 
dömoniens  eurent  dans  tous  lestemps  une  extröme  d6f6rence 
pour  leurs  öpouses  et  ils  leur  permettaient  de  s'ing6rer  dans  les 
affaires  publiques  bien  plus  qu'ils  n'osaient  eux-m6mes  s'ing6rer  dans 
leurs  affaires  priv6es'  (Revue  d,  d.  m.  1/11  80  s.  216). 

Ähnlich  in  folgendem  satze:  'Nelson  Page  (6crivain  am6ricain) 
ajoute,  pour  expliquer  le  peu  de  goüt  que  l'art  d'6crire  parut  in- 
spirer  k  ses  ancötres,  que  l'ambition  politique  6tait  chez  eux  presque 
g6n6rale,  et  qu'une  merveilleuse  facilitö  de  parole  les  distingua 
toujours;  ils  appliquaient  des  facultas  qui  eussent  pu  trouver  un 
autre  emploi  ä  d'6ternelles  controverses  sur  le  gros  problöme  de 
l'esclavage'  (Revue  d.  d.  m.  15/4  83  s.  654).  erst  steht  hier  das 
d6fini;  parut  zieht  das  facit  aus  dem  leben  aller  vorfahren  in  bezug 
auf  den  besprochenen  gegenständ ,  vom  anfangs-  bis  zum  endpunkt, 
die  darin  äuszerlich  hervortretende  gleichgültigkeit  gegen  schrift- 
stellerische thätigkeit,  und  parallel  damit  steht  ihr  die  alle  aus- 
zeichnende redegewandtheit  gegenüber,  daher  gleichfalls  distingua; 
um  dann  dies  doppelte  facit  zu  erklären,  sieht  sich  nun  der  Verfasser 
ihr  leben  näher  an ,  nicht  mehr  aus  der  Vogelschau  des  über  dem 
ganzen  schwebenden,  der  alles  aus  der  ferne  mit  einem  blicke  um- 
faszt;  und  zu  diesem  zweck  versetzt  er  sich  jetzt  mitten  in  ihr  leben, 
ihre  thätigkeit  hinein  und  sieht,  wie  sie,  meist  von  politischem  ehr- 
geiz  beherscht,  die  ihnen  von  anfang  bis  zu  ende  gegebenen  anlagen 


29  in  derselben  weise  wird  der  schüler  am  ende  eines  aufsatzes 
von  den  eigenschaften  eines  beiden  am  besten  im  de'fini  reden,  in  der 
mitte  im  imparfait. 


A.  Biese :  zum  deutschen  -unterricbt.  245 

vor  allem  mündlichen  debatten  über  die  sklavenfrage  zu  widmen 
pflegten,  es  könnte  hier  überall  das  d6ßni  stehen,  dann  fiele  aber 
jene  feine  Unterscheidung  weg/" 

'"*  ich  bemerke  noch  folg:endes:  einen  ganzen  Zeitraum,  ein  ganzes 
leben  usw.  umfassende  ausdrücke,  also  auch  toujours,  ziehen  gern  das 
defini  nach  sich,  sie  nötigen  uns  gleichsam,  das  ganze  aus  der 
Vogelschau  zu  umfassen  mit  einem  blick,  und  diesem  toujours  steht 
hier  beim  imparfait  das  beschränkte,  unterscheidende  presque  generale 
gegenüber. 

(fortsetzung  folgt.) 
Bielefeld.  C.  Humbert. 


19. 

ZUM  DEUTSCHEN  UNTERRICHT. 

(s.  Jahrgang  1896  s.  537—544.) 


n. 

Als  Goethe  in  seinen  gesprächen  mit  Eckermann  auch  einmal 
auf  das  wesen  des  genies  zu  sprechen  kam,  da  nannte  er  es  'eine 
zeugende  kraft,  die  von  geschlecht  zu  geschlecht  fortwirke  und  so 
bald  nicht  erschöpft  und  verzehrt  sein  dürfte',  so  nennt  er  unter 
den  componisten,  die  eine  bleibende  productivität  besessen  hätten, 
Mozart,  unter  den  baukünstlern  denjenigen,  der  zuerst  die  formen 
und  Verhältnisse  der  altdeutschen  baukunst  erfunden,  'denn  seine 
gedanken  haben  fortwährend  productive  kraft  behalten  und  wirken 
bis  auf  die  heutige  stunde',  so  wirke  auch  Luther  fort,  so  auch 
Lessing:  'freilich  wollte  er  den  hohen  titel  eines  genies  ablehnen, 
allein  seine  dauernden  Wirkungen  zeugen  wider  ihn',  dasz  Goethe 
recht  behalte  auch  betreffs  unserer  heutigen  jugend,  das  ist  eine 
der  schönsten  aufgaben  des  deutschen  Unterrichts  in  der  oberprima. 
unsere  schüler  müssen  eine  'dauernde  Wirkung'  von  der  lectüre 
Lessings  mit  ins  leben  nehmen,  wie  ist  das  zu  erreichen?  die  Jugend 
musz  spüren,  dasz  es  einem  stahlbade  gleicht,  sieh  in  Lessings  klare 
und  reine  gedankenweit  zu  versenken,  dem  streng  logischen,  licht- 
vollen aufbau  seiner  urteile  und  schluszfolgerungen  nachzuspüren, 
der  dialektischen  kunst  seines  prägnanten  und  doch  in  den  manig- 
fachsten  formen  sich  ergehenden  stils  bewunderungsvoll  sich  hin- 
zugeben, für  die  begriflFsbildung  und  Stilentwicklung  kann  kaum 
eine  lectüre  so  fruchtbar  gestaltet  werden  als  die  Lessings.  man 
leugnet  es  jetzt  vielfach ,  zum  schaden  unserer  jugend.  man  betont, 
der  negativ  kritische  zug,  der  seinem  ganzen  charakter  und  somit 
seiner  darstellungsweise  aufgeprägt  sei,  verführe  zum  absprechen, 
zum  verwerfen,  wer  so  spricht,  übersieht  die  fülle  fruchtbarer  keime, 
positiver  gedanken,  die  sich  in  Lessings  deductionen,  auch  wenn  sie 


246  A.  Biese:  zum  deutschen  Unterricht. 

niederreiszen,  finden,  man  führt  ferner  gegen  ausgedehntere  be- 
handlung  den  hinweis  auf  die  Wertlosigkeit  mancher  litteratur- 
erscheinungen  ins  feld,  ohne  die  seine  kritik  unverständlich  bliebe, 
so  besonders  in  der  Hamburgischen  dramaturgie.  von  Olint  und 
Sophronia  dürfte  eine  Inhaltsangabe  mit  einigen  proben  genügen; 
und  wie  treffliche  Vortragsgegenstände  für  die  schüler  bieten  die 
französischen  dramen ,  die  man  im  urtext  und  in  der  Übersetzung 
den  einzelnen  in  die  band  gibt,  da  spricht  denn  der  eine,  ehe  man 
zu  der  erörterung  Lessings  übergeht,  über  Corneilles 'graf  Essex', 
der  andere  über  Semiramis  von  Voltaire,  ein  dritter  über  Zaire  usw., 
ein  vierter  hat  zur  veranschaulichung  des  Schlegelschen  dramas  über 
Torquato  Tassos  befreites  Jerusalem  II 1 — 56  zu  berichten  usw.  usw. 
so  werden  auch  die  zu  übergehenden  stücke  durch  möglichst  ein- 
gehende und  treffende  Inhaltsangaben  von  den  schülern  selbst  über- 
mittelt, so  dasz  der  gebende  und  nehmende  gewinn  hat.  eine  fülle 
der  anregendsten  fragen  auch  allgemeinerer,  ästhetischer  art  thut 
sich  ja  überhaupt  ganz  von  selbst  infolge  der  besprechung  auf. 
hierfür  wie  für  alles  einzelne  sachliche  bietet  bei  weitem  die  beste 
anleitung  die  auch  hinsichtlich  der  auswahl  glücklichste  ausgäbe 
von  J.  Buschmann  (Ferd.  Schoeningh,  Paderborn),  hier  läszt 
man  sich  auch  die  anmerkungen  unter  dem  text  gefallen,  da  sie 
knappheit  mit  beschränkung  auf  das  wesentliche  verbinden;  die 
fragen  und  aufgaben  am  Schlüsse  verraten  überall  den  kundigen, 
scharfsinnigen  pädagogen,  der  auf  das  sorgsamste  die  bahnen 
der  Lessingschen  dialektik  verfolgt,  ohne  je  ins  kleinliche  oder 
triviale  zu  verfallen,  wie  es  in  derlei  ausgaben  leider  nur  zu  häufig 
der  fall  ist. 

Auch  bei  der  lectüre  Lessings  musz  es  selbstverständlich  die 
wichtigste  aufgäbe  sein,  von  den  einzelheiten  zum  allgemeinen  auf- 
zusteigen, Lessing  zu  begreifen  in  seiner  eigenart  und  im  Verhält- 
nisse zu  den  führenden  geistern  seiner  zeit,  z.  b.  zu  Gottsched,  also 
zu  verstehen,  aus  welchen  gründen  Lessing  ihn  bekämpft,  ferner,  in 
welcher  weise  er  das  im  17n  litteraturbriefe  entworfene  programm 
ausgeführt  hat,  sodann,  welche  gesetze  er  über  die  kunst  der  tra- 
gödie  aufstellt,  womit  sich  die  wichtigste  frage  verknüpft :  von  wel- 
chen nationalen  und  poetisch  kritischen  gesichtspunkten  aus  Lessing 
in  seiner  Hamburgischen  dramaturgie  Voltaire  befehdet,  vielleicht 
ist  es  nicht  unangebracht,  hierbei  etwas  zu  verweilen. 

Es  ist  begreiflich,  dasz  mit  stolzen  planen  und  kühnen  hoff- 
nungen  Lessing  im  jähre  1767  nach  Hamburg  gieng,  wo  das,  was 
er  längst  ersehnt  hatte ,  ein  nationaltheater  gegründet  ward  mit 
einer  festen  bühne.  man  erstrebte  originalstücke  mit  nationalem 
inhalt  und  charakter,  und  was  hatte  anderes  Lessing  allezeit  sich 
selbst  als  ziel  gesetzt?  wie  herlich  ward  gerade  in  jener  zeit  dies 
greifbare  gestalt  in  der  Minna  von  Barnhelm!  so  gieng  er  sieges- 
freudig ans  werk,  und  so  entstand  seine  dramaturgie,  die  aus  einer 
theaterzeitung  zu  der  grundlegendsten  dramatischen  ästhetik  wurde, 


A.  Biese:  zum  deutschen  Unterricht.  247 

die  ihn  auf  der  höhe  seines  kritischen  Vermögens,  aber  auch  zugleich 
als  nationalen  beiden  zeigt,  der  mit  der  feder  wider  den  welschen 
geist  streitet,  wie  der  geistesverwandte  preuszische  könig  mit  dem 
Schwerte,  den  Franzosen  gilt  vor  allem  seine  fehde,  ihren  einflusz  auf 
die  deutsche  bühne  will  er  brechen,  und  so  streitet  er  besonders 
scharf  wider  Voltaire,  zunächst  von  nationalen  bestrebungen  aus. 
nur  selten  freilich  hebt  Lessing  diese  selbst  heraus,  aber  sie  lagen 
ja  dem  ganzen  unternehmen  als  treibende  kräfte  zu  gründe.  Lessing 
hebt  den  grundcharakter  der  Deutschen  hervor,  wenn  er  sagt:  'wir 
Deutschen  bekennen  es  treuherzig  genug,  dasz  wir  noch  kein 
theater  haben.'  was  thun  aber  die  Franzosen?  was  thut  der  herr 
von  Voltaire?  er  behauptet,  selbst  die  Griechen  könnten  von  den 
Franzosen  noch  lernen,  wenn  sie  wieder  aufstünden,  er  ist  also 
durch  echt  französische  eitelkeit  verblendet,  diese  ist  daran  schuld, 
dasz  sie  noch  kein  theater  haben ,  weil  sie  sich  in  selbstbethörung 
über  die  alten  stellen,  anstatt  von  ihnen  zu  lernen,  und  nun  sollten 
wir,  fragt  Lessing  mit  bitterer  Ironie,  in  ihre  schule  gehen,  sollten 
lernen  von  einem  herrn  von  Voltaire,  der  so  unlauter  und  so  eitel 
in  seinem  charakter  ist?  musz  uns  Deutschen,  die  wir  in  treue  und 
ehrlichkeit  unsern  stolz  suchen,  nicht  die  ganze  art  dieses  welschen 
gecken  abstoszen?  —  Und  nun  verfolgt  der  erbarmungs-  und  rück- 
sichtslose kritiker  —  wie  der  grosze  könig  die  beere  der  Franzosen  — 
den  Voltaire  mit  unnachahmlicher  kunst,  spürt  alle  Schlupfwinkel 
der  Sophisterei,  eitelkeit  und  unwahrhaftigkeit  auf,  und  da  sprüht 
jener  hasz,  den  die  groszthaten  Friedrichs  geschürt  hatten,  jene  Ver- 
achtung, die  aus  der  Charakteristik  des  Riccaut  spricht,  und  so  deckt 
er  die  eitle  gefallsucht  des  dichters  auf,  der  vor  das  publicum  heraus- 
tritt und  sich  beklatschen  läszt,  während  'das  wahre  meisterstück 
uns  so  ganz  mit  sich  selbst  erfüllt,  dasz  wir  des  Urhebers  darüber 
vergessen,  dasz  wir  es  nicht  als  das  product  eines  einzelnen  wesens, 
sondern  der  allgemeinen  natur  betrachten.'  'und  was  hat  der  mann 
von  genie'  —  der  dem  verlangen  des  publicums,  ihn  kennen  zulernen, 
nachgibt  —  'dabei  wirklich  vor  dem  ersten  besten  murmeltier  voraus, 
welches  der  pöbel  gesehen  zu  haben  ebenso  begierig  ist?'  aber  wie 
leicht  und  gern  liesz  sich  ein  Voltaire  in  diese  falle  locken!  spottet 
Lessing  mit  beiszendem  höhn,  nicht  minder  über  den  mangel  an 
aufrichtigkeit  MaflFei  gegenüber,  so  dasz  er  sich  in  einem  satze  drei 
Unwahrheiten  zu  schulden  kommen  lasse.  —  So  tritt  aus  Lessings 
betrachtungsweise  hervor,  wie  unsympathisch  dem  Deutschen  die 
art  Voltaires  sein  musz;  und  so  ruft  er  die  energische  mahnung 
aus,  den  falschen  götzen  vom  throne  zu  stoszen  und  den  nahe  ver- 
wandten Shakespeare  auf  den  schild  zu  heben.  —  Es  treiben  zur 
beseitigung  des  Voltaireschen  einflusses  aber  auch  poetisch-kritische 
rücksichten.  Lessing  befehdet  Voltaire  als  kritiker  und  als  dichter, 
erstens  als  kritiker:  die  schlage,  die  Voltaire  gegen  Maffei  führt, 
treffen  zumeist  ihn  selber;  den  jüngeren  Corneille  chicaniert  und 
schulmeistert   er  in  lächerlicher  weise,   auf  grund  der  geschichte, 


248  A.  Biese :  zum  deutschen  Unterricht. 

wobei  dem  Voltaire  dann  allerlei  Irrtümer  mitunterlaufen,  zweitens 
als  dichter:  Voltaire  ist  einerseits  nicht  original,  er  liefert  in  der 
Merope  nur  ein  abbild  der  Maffeischen ,  was  er  ändert,  ist  albern 
(rüstung  —  ring) ;  er  ahmt  Shakespeare  nach ,  ohne  ihn  zu  erreichen, 
in  der  Zaire  stellt  er  nicht  liebe,  sondern  galanterie  dar,  es  sind  ge- 
spräche  von  liebenden,  aber  es  tritt  uns  nicht  die  liebe  selbst  in 
ihren  phasen  entgegen,  wie  sie  aus  dem  keime  des  mitgefühls  zu 
duftiger  blume  und  berauschender  frucht  erwächst;  wohl  bildet  er 
dem  Othello  den  Orosman  nach,  aber  er  erreicht  ihn  nicht,  denn  die 
leidenschaft  soll  dem  funken  gleichen ,  aus  dem  die  flamme  empor- 
schlägt und  dann  das  verzehrende  feuer  lichterloh  sich  verbreitet  usw. 
dies  führt  uns  dahin,  dasz  wir  das  französische  drama  überhaupt 
kahl  und  flach  und  kühl  nennen  müssen.  —  Anderseits  befolgt 
Voltaire  nicht  die  regeln  des  Aristoteles;  er  ahmt,  wie  die  Franzosen 
überhaupt,  die  Griechen  nur  in  den  unwesentlichen  punkten  nach, 
so  in  der  einheit  des  ortes  und  der  zeit,  und  wie  verrenken  sie 
diese!  Voltaire  in  der  Merope!  bei  den  Griechen  entwickelte  sich 
die  einheit  des  ortes  und  der  zeit  aus  der  einheit  der  handlung,  aus 
der  Schlichtheit  und  natürlichkeit  des  ganzen  dramatischen  aufbaus, 
besonders  auch  aus  dem  wesen  des  chors.  —  Und  wie  steht  es  ferner 
mit  der  Wirkung  der  tragödie?  fragt  Lessing,  was  soll  die  tragödie 
nach  Aristoteles?  mitleid  und  furcht  erwecken,  rühren,  rührt  uns 
Voltaire?  rührt  er  uns  mit  seinem  gespenst?  —  Wieder  ein  beweis, 
wie  er  Shakespeare  falsch  verstanden,  und  wie  er  Aristoteles  nicht 
begrifien  hat!  —  Sind  seine  gestalten  überhaupt  tragisch?  ist  Merope 
nicht  eine  kannibalin  ?  erweckt  sie  furcht  und  mitleid  ?  ('madame'  — 
so  apostrophiert  L.  sie  —  ich  müste  mich  sehr  irren,  oder  Sie  wären 
in  Athen  ausgepfiffen  worden!')  kurz  und  gut,  die  Franzosen  haben 
kein  theater,  keine  tragödie,  die  wir  nachahmen  könnten;  ihre  ti'a- 
gödie  erweckt  nicht  furcht  und  mitleid,  höchstens  Philanthropie; 
zumeist  geben  sie  Zärtlichkeit  für  liebe,  philanthropische  regungen 
für  erschütterung  und  rührung;  sie  haben  keine  wäi-me,  keine  glut 
der  empfindung. 

Auf  Lessings  spuren  giengen  Goethe  und  Schiller  fort,  und  so 
rühmt  Schiller  ('an  Goethe') :  'einheimscher  kunst  ist  dieser  Schau- 
platz eigen,  hier  wird  nicht  fremden  götzen  mehr  gedient;  wir 
können  mutig  einen  lorbeer  zeigen ,  der  auf  dem  deutschen  Pindus 
selbst  gegrünt;  selbst  in  der  künste  heiligtum  zu  steigen,  hat  sich 
der  deutsche  genius  erkühnt,  und  auf  der  spur  des  Griechen  und  des 
Britten  ist  er  dem  bessern  rühme  nachgeschritten.'  —  Das  ist  Lessings 
verdienst.  —  Und  wie  steht  es  heute?  unser  nationaigefübl  musz 
trauern,  wenn  wir  sehen,  wie  die  fremden,  wie  die  Franzosen  neben 
andern  ausländex-n  unsere  deutscheu  bühnen  entweder  direct  oder 
in  ungelenken  nachbildungen  beherschen.  man  wird  noch  immer 
an  das  bittere  wort  des  groszen  kritikers  gemahnt,  man  könne  bei- 
nahe sagen ,  es  sei  der  Charakter  der  Deutschen ,  keinen  eignen 
Charakter  haben  zu  wollen. 


A.  Biese:  zum  deutschen  Unterricht.  249 

Was  Lessing  durch  die  schärfe  seines  Verstandes,  die  klarheit 
seines  stiles,  die  fruchtbarkeit  seiner  ideen,  —  was  Schiller  durch 
das  pathos  seiner  rede,  durch  die  sittliche  tiefe  seiner  denkweise  — , 
das  musz  Goethe  bei  der  Jugend  wirken  durch  die  plastik  der  an- 
schauung,  die  wärme  seiner  empfindung,  die  zugleich  den  nährboden 
seiner  herlichsten  gedanken  bildet,  und  durch  die  grösze  seiner  all- 
gewaltigen persönlichkeit  überhaupt. 

Er  ist  der  Jugend  weit  schwerer  zu  erschlieszen  und  nahe  zu 
bringen  als  Schiller,  und  doch  thut  es  gerade  not  in  unserer  zer- 
fahrenen und  zwiespältigen  zeit,  wie  aber  ist  es  möglich?  die  Wissen- 
schaft hat  treffliche  Wegweiser  gerade  in  den  letzten  jähren  für  die 
bahn  dargeboten,  auf  der  wir  zur  erkenntnis  des  mikrokosmos  'Goethe' 
gelangen,  lange  haben  in  begreiflicher  scheu  vor  der  grösze  der  auf- 
gäbe die  deutschen  gelehrten  gezögert,  leben  und  schaffen  ihres 
grösten  dichtergenius  darzustellen,  die  tiefen  seines  wesens  zu  er- 
gründen, die  fülle  seines  geistigen  wirkens  zu  erschöpfen  und  die 
weite  der  Goethe-litteratur  zu  umspannen ,  erschien  als  eine  Unmög- 
lichkeit für  den  einzelnen,  und  doch  kann  die  gegenwart  von  wenigen 
groszen  der  Vergangenheit  so  viel  lernen  wie  von  Goethe,  der  die 
deutsche  poesie  auf  ihrem  gipfel  zeigt,  der  den  naturwissenschaften 
neue  wege  gebahnt  hat,  dessen  geist  in  Wahrheit  ein  universeller 
und  von  humanität  und  idealismus  durchleuchteter  war,  so  dasz  auch 
seine  weltweisheit  eine  leuchte  für  unser  denken  und  handeln  wer- 
den kann,  wie  seine  dichtung  eine  unversiegbare  quelle  des  genusses 
und  der  Vertiefung  unseres  empfindens.  und  so  rauste  und  musz 
immer  von  neuem  das  wagnis,  Goethes  äuszeres  und  inneres  sein  zu 
veranschaulichen,  gewagt  werden,  denn  freilich  die  weit  Goethes 
nach  allen  selten  zu  umfassen  kann  keinem  gelingen,  denn  wer  das 
ästhetische  beherscht,  wird  doch  wieder  den  naturwissenschaften 
nicht  gerecht,  oder  wer  für  das  epische  und  dramatische  wohl  nach- 
fühlendes Verständnis  besitzt,  der  vermag  hinwiederum  dem  lyri- 
schen nicht  auf  den  grund  zu  dringen  u.  ä.  m. 

Das  tritt  auch  bei  den  werken  von  Richard  M.  Meyer  und 
Albert  Bielschowsky  hervor,  auf  die  wir  hier  nur  flüchtig  hin- 
weisen wollen. 

Beide  werke  sind  in  ihrer  weise  vortrefflich,  bei  beiden  berührt 
so  wohlthuend  und  anregend  das  bestreben,  das  einzelne  in  beziehung 
zum  ganzen  zu  bringen;  und  das  ist  bei  Goethe  besonders  die  haupt- 
sache.  auch  wo  man  bei  Meyer,  dessen  verstand  die  phantasie  und 
das  gemüt  überwiegt,  mehr  ausgeklügeltes  und  pointiert  antitheti- 
sches als  wirklich  erwiesenes,  mehr  blendendes  als  erleuchtendes 
und  überzeugendes  findet,  musz  man  doch  den  Scharfsinn  des  Ver- 
fassers anerkennen ;  zuweilen  bedauert  man,  dasz  offenbar  aus  äuszeren 
gründen  Streichungen  vorgenommen  sind,  die  die  einheitlichkeit  ge- 
stört haben,  wer  Goethes  leben  in  prima  zu  behandeln  hat,  wird 
ungemein  viel  anregung  in  dem  schönen  buche  finden,  über  Goethes 
wesen  und  seine  dichtungen  wie  über  sein  Verhältnis  zu  Schiller,  so 


250  A.  Biese :  zum  deutschen  Unterricht. 

auch  über  die  Verschiedenheit  ihrer  naturen.  mit  recht  geht  Meyer 
auf  den  classischen  brief  Schillers  an  Goethe  vom  23  aug,  1794  zu- 
rück, denn  in  der  that  eignet  sich  am  besten  jene  Scheidung  von 
deduction  (Schiller)  und  induction  (Goethe)  —  was  Schiller  'intuition' 
=  anschauung,  erfahrung  nennt  — ;  worin  beide  übereinstimmen, 
das  ist  das  ziel ,  den  menschen  von  trüben  schlacken  befreien  zu 
wollen,  damit  rein  und  klar  der  echte,  wahre  mensch  hervorgehe.  — 
Goethes  grundanschauung  der  weit  wird  mit  recht  von  Meyer  ge- 
kennzeichnet durch  die  aussprüche:  'das  wahre,  mit  dem  göttlichen 
identisch,  läszt  sich  niemals  an  uns  direct  erkennen ,  wir  schauen  es 
nur  im  abglanz,  im  beispiel,  symbol,  in  einzelnen  und  verwandten 
erscheinungen,  wir  werden  es  gewahr  als  unbegreifliches  leben  und 
können  dem  wünsch  nicht  entsagen,  es  dennoch  zu  begreifen.'  so 
heiszt  es  auch  im  Faust:  'am  farbigen  abglanz  haben  wir  das  leben' 
und  'alles  vergängliche  ist  nur  ein  gleichnis'.  das  buch  schlieszt  mit 
der  mahnung:  'nicht  ein  meister  wollte  Goethe  selbst  sein,  sondern 
ein  befreier.  die  befreit  er,  die  sich  ihm  willig  ergeben,  das  ist  das 
letzte  und  höchste,  was  ein  groszer  mann  seinem  volke  zu  schenken 
vermag:  dasz  er  alle  lehrt,  unablässig  zu  streben,  im  dienste  der 
ideale  «ohne  hast,  aber  auch  ohne  rast»  zu  streben  wie  er.  nie  war 
ein  leben  wie  dieses  eine  kunstschöu  aufsteigende  entwicklung;  so 
viel  hohes  er  schuf,  das  höchste  bleibt  sein  bild  —  und  alle  seine 
hohen  werke  sind  herlich  wie  am  ersten  tag.' 

Ragt  Meyers  buch  hervor  durch  die  dialektische  schärfe  und 
bei  aller  liebe  und  bewunderung  doch  durch  eine  gewisse  souveräne 
kühle  der  betrachtung,  so  wirkt  das  buch  von  Bielscbowsky  durch 
die  herzenswärme  und  begeisterung,  durch  den  hingehendsten  enthu- 
siasmus;  es  ist  von  der  ersten  seite  bis  zur  letzten  fesselnd,  spannend, 
hinreiszend  geschrieben.  Goethe  der  gröste  unter  den  menschlichen 
menschen  —  wie  Wieland  ihn  nannte  — ,  das  ist  das  grundthema, 
das  sich  durch  das  buch  hindurchzieht  wie  eine  melodie  durch  eine 
Symphonie,  Goethe,  diese  wunderbare  einheit  von  verstand  und 
Phantasie,  von  energie  und  empfindung,  Goethe,  ein  glied  aller 
Zeilen,  denn  er  ist  ebenso  zu  hause  am  Main  wie  an  der  Um  oder  in 
Italien,  er  versteht  die  regungen  der  Volksseele,  sei  es  in  Deutsch- 
land oder  im  alten  Griechenland  oder  in  der  renaissance,  Goethes 
leben  das  gehaltreichste,  anziehendste  und  bewunderungswürdigste 
unter  allen  seinen  werken:  das  ist,  was  Bielscbowsky  uns  darlegt  in 
meisterhafter  form,  wie  Goethe  ein  pandaimonion  unsichtbarer 
geister  in  köpf  und  herzen  hegte,  wie  ihn  seine  unvergleichlichen 
gaben  beglückten,  wie  er  aber  auch  unter  ihnen  gelitten  hat:  das  er- 
leben und  empfinden  wir  mit,  denn  es  ist  nicht  trockene  Schulweis- 
heit, die  uns  durch  das  Frankfurter,  Leipziger,  Straszburger  und 
Weimarer  leben  bis  nach  Italien  hinleitet,  wo  die  bluten  zu  den  her- 
lichsten fruchten  sich  entfalten,  und  die  uns  die  jugendfrischen, 
geniefrohen  Schöpfungen  des  jungen  dichters  und  die  raeisterwerke 
des  mannes  erläutert,  sondern  es  ist  der  volle  pulsschlag  eines  be- 


A.  Biese:  zum  deutschen  Unterricht.  251 

geisterten  herzens  und  der  kluge  feine  sinn ,  der  auf  eignen  bahnen 
spürt  und  überraschende,  wenn  auch  nicht  immer  einwandfreie  ge- 
sichtspunkte  findet,  wie  z.  b.  bei  erörterung  des  Tasso,  womit  der 
erste  band  schlieszt.  er  läszt  mit  Spannung  und  hoher  erwartung 
den  zweiten  erharren. 

Goethe  war  das  gröste  'naturproduct'  —  um  einen  lieblings- 
ausdruck  von  ihm  zu  brauchen ,  und  das  gröste  kunstwerk  zugleich, 
und  so  auch  sein  leben,  er  hat  eben  jene  gröste  und  schwerste 
kunst  auch  verstanden,  die  kunst  zu  leben,  wie  aber  diese  nur  mit 
heiszem  ringen  zu  gewinnen  ist,  das  lehrt  auszer  dem  Faust  be- 
sonders der  Tasso.  Goethe  hat  auch  hier  von  seinem  innersten  er- 
leben tiefstes  und  schönstes  niedergelegt,  und  wenn  sich  nun  im 
Tasso  Goethe  widerspiegelt,  so  haben  wir  den  contrast  zwischen 
dem  dichter  der  Wirklichkeit,  der  sich  zum  höchsten  lebenskünstler 
emporrang,  und  dem  dichter  der  phantasie,  der  eben  daran  scheitert, 
dasz  er  nicht  zu  leben  versteht,  und  was  lehrt  dieser  contrast?  dasz 
es  Goethe  selbst  nur  unter  vielen  schmerzen  gelang,  jene  höhe  der 
Selbstzucht  zu  erlangen.  Tasso  ist  eine  problematische  natur,  die 
sich  nicht  ins  leben  zu  schicken  weisz,  es  sich  nicht  gefügig  zu 
machen  versteht  und  darum  mehr  ambos  als  hammer  ist.  und 
warum  ist  diese  ars  vivendi,  die  dem  Tasso  versagt  blieb,  so  schwer? 
weil  sie  ebenso  viel  Selbsterkenntnis  wie  welterkenntnis,  ebenso 
viel  Selbstüberwindung  wie  weltbezwingung  erfordert,  weil  nur  ein 
starkes  herz  voll  menschen-  und  weltliebe  den  widerstreit  von  idee 
und  Wirklichkeit,  den  kämpf  mit  enttäuschungen  bestehen  und  ver- 
winden kann. 

Wie  sehr  der  mensch  selbst  sein  gröster  feind  ist,  welch  Danaer- 
geschenk eine  grosze  einseitige  begabung,  welch  leid  neben  allem 
inneren  reichtum  ein  empfindsames  herz  in  sich  schlieszt,  wie  der 
lorbeer  mehr  ein  zeichen  der  schmerzen  ist  als  des  glucks,  der  rühm 
'ein  Sonnenstrahl,  der  sich  in  thränen  bricht',  das  lehrt  uns  der 
Tasso.  er  hat  daher  eine  tief  ethische  und  somit  auch  tief  päda- 
gogische bedeutung;  es  ist  eine  seelenmalerei  in  ihm  von  einer  fein- 
heit,  die  ebenso  wichtig  wie  schwierig  für  das  erfassen  eines  schüler- 
kopfes  ist.  nur  für  denjenigen  jungen  wie  alten  geist  wird  die 
eigenart  Tassos  sich  erschlieszen,  dessen  empfindungsieben  einen 
künstlerischen  zug  hat ,  der  das  selig  unselige ,  das  in  einer  reichen 
gemütsweit  liegt,  wenigstens  ahnen  oder  mitempfinden  kann,  es 
gibt  neuere  ausleger,  die  mit  einer  härte  und  strenge,  mit  einem 
sittlichen  dunkel  über  Tasso  zu  gericht  sitzen,  weil  er  der  selbst- 
zügelung  entbehre,  von  jubel  in  Verzweiflung,  von  der  genialsten 
begeisterung  schier  in  Wahnsinn  verfalle,  die  schranken,  die  ihn, 
den  armen  dichter,  von  der  hochgeborenen  prinzessin  trennen,  über- 
sehe, dasz  man  sich  fragen  musz,  wo  dann  noch  die  anziehungskraft 
dieser  gewaltigen  poetennatur  liege,  die  der  herzog  und  die  gräfin 
von  Sanvitale  bewundern  und  die  edle,  rein  und  hochgestimmte, 
so  überaus  feinfühlige  prinzessin  liebt,  soweit  überhaupt  ihr  mildes, 


252  A.  Biese:  zum  deutschen  unterricM. 

sanftes,  ätherisches  wesen  einer  tieferen  liebesregung  fähig  ist. 
Tasso  ist  ein  tragisches  dichtergenie.  sein  genie  wie  sein  verderben 
ruht  darin,  dasz  er  ganz  empfindung  ist,  ganz  seele,  herz,  gemüt. 
in  der  einsamkeit  hat  er  sich  vertieft,  sind  die  schwingen  der  dichte- 
rischen kraft  gewachsen,  in  der  einsamkeit  schwelgend  huldigt  er 
dem  süszesten  genusse  reicher  naturen,  dem  selbstgenusz  und  dem 
naturgenusz;  aber  in  der  einsamkeit,  in  der  entfernung  und  ent- 
fremdung  von  den  menschen  liegt  eine  schwere  gefahr;  da  lauern 
die  gespenster  des  argwohns  und  des  mistrauens  gegen  andere  und 
gegen  sich  selbst,  der  Verzagtheit  und  Verzweiflung,  so  sehr  die  ein- 
samkeit die  tiefsten  gründe  des  herzens  erschlieszt,  so  dasz  da& 
höchste  und  reinste  aus  ihm  geboren  wird,  so  verderblich  und  ver- 
hängnisvoll wird  die  selbstbespiegelung,  die  den  rechten  maszstah 
durch  vergleich  mit  andern  verliert,  und  die  verkennung  der  menschen, 
der  Wirklichkeit  überhaupt,  wer  immer  durch  die  erscheinungen  hin- 
durch die  ideen  des  ewigen  und  schönen  hindurchleuchten  sieht,  der 
verachtet  zu  leicht  jene  und  büszt  dies  dadurch,  dasz  er  ihr  opfer 
wird,  dasz  er  in  dem  lebenskampfe  unterliegt.  Tasso  hat  ein  zu 
weiches  herz;  seine  tiefe  empfindung  führt  ihn  zur  empfindlichkeit 
und  empfindsamkeit.  was  ihn  grosz  und  schöpferisch  macht,  ist  zu- 
gleich sein  elend,  sein  überstarkes  gefühl  macht  ihn  ungerecht  gegen 
andere,  argwöhnisch,  anderseits  aber  auch  treibt  es  zur  Selbstüber- 
hebung, so  dasz  er  wähnt,  er  könne  die  harte  rinde  sprengen,  die 
das  innere  eines  Antonio  umschlieszt,  und  er  könne  die  band  aus- 
strecken nach  einem  unerreichbaren  ideal,  wie  die  tiefe  Sympathie 
aller  handelnden  personen  —  auszer  dem  Antonio  —  und  des  dichters 
selbst  dem  Tasso  gebührt,  so  sollen  auch  wir  sie  ihm  schenken,  an- 
statt splitterrichterlich  über  ihn  das  Vernichtungsurteil  zu  fällen,  er 
ist  ein  groszer  mensch,  aber  doch  wieder  klein;  grosz  in  seiner 
dichteranlage ,  grosz  in  seinem  warmen,  überströmenden  herzen, 
aber  klein  in  menschen-  und  Weltkenntnis,  klein  gegenüber  den 
widerstreitenden  Verhältnissen,  die  ihn  wie  der  ström  den  ertrinken- 
den hinwegreiszen.  begeisterung  und  besonnenheit  müssen  sich  die 
wage  halten ,  köpf  und  herz  müssen  gleichmäszig  ausgebildet  sein, 
wenn  der  mensch  zur  inneren  harmonie,  d.  b.  zum  glück  gelangen 
soll,  wer  zu  weich,  zu  herzlich,  zu  liebevoll,  zu  Vertrauens-,  zu 
hoffnungsselig  ist,  der  fällt  eben,  wie  Tasso,  von  einer  enttäuschung 
und  niederlage  in  die  andere,  der  verzehrt  sich  selbst,  der  ge- 
langt nie  zu  einem  gleichgewicht,  auf  dem  des  menschen  heil  be- 
ruht, aber  wer  möchte  nicht  mit  einem  solchen  menschen,  bei 
dem  die  hohen  Vorzüge  die  quellen  der  schwäche  sind ,  der  ganz 
und  gar  poesie  und  genie  ist,  lieber  sympathisieren,  als  mit  jenem, 
dessen  wesen  durch  und  durch  prosaisch  ist,  als  mit  Antonio,  dessen 
köpf  so  klar  und  klug,  dessen  herz  aber  so  kühl  ist  und  der  von 
der  nüchternen  berechnung  seines  Vorteils  bis  zu  häszlichem  neid 
und  bis  zu  spöttischem  höhn  über  alles  dichterische  schaffen  sich 
verleiten  läszt? 


A.Biese:  zum  deutschen  Unterricht.  253 

Bielschowsky  hat  Antonio  zu  schwarz  gemalt,  er  hat  die  parallele 
mit  dem  grafen  Görtz  zu  weit  getrieben.  Goethe  wollte  in  ihm  nicht 
■eine  unedle  gestalt  zeichnen,  sondern  das  widerspiel  zu  Tasso  in  dem 
sinne,  dasz  dieser  wohl  das  herz,  aber  nicht  den  köpf  auf  dem  rechten 
fleck  bat,  während  es  bei  jenem  umgekehrt  der  fall  ist.  beide  sind 
nicht  Verkörperungen  des  Ideals  eines  menschen,  sondern  ihre 
schwäche  ist,  dasz  aus  den  beiden  die  natur  nicht  einen  geformt 
hat,  wie  die  gräfin  klug  und  scharf  sagt,  das  umfassendste  bleibt 
immer,  dasz  beim  menschen  köpf  und  herz  auf  dem  rechten  flecke 
sitzen,  nicht  blosz  das  eine  von  beiden,  wie  es  bei  Antonio  und  Tasso 
hervortritt.  Tasso  läszt  sich  hätscheln  und  hätschelt  sein  herz  selbst 
wie  ein  krankes  kind,  er  ist  gefühls-  und  gemütsmensch  und  leidet 
daher  unsäglich  unter  dem  widerstände  der  harten  Wirklichkeit,  die 
zu  meistern  er  nicht  im  stände  ist,  und  geht  somit,  erschüttert  in 
den  grundvesten  seines  seins,  einer  unsicheren,  gewis  nicht  leidlosen 
Zukunft  entgegen.  Antonio,  der  kühle  verstand,  triumphiert,  be- 
hauptet siegreich  das  feld,  wo  der  arme  poet  in  die  fremde,  ins 
elend  gehen  musz.  das  ist  eben  die  tragik  des  lebens.  im  Olymp 
des  Zeus  ist  des  dichters  wahre  heimat,  nicht  auf  der  zerklüfteten, 
rauhen  erde,  er  trägt  das  sieges-,  aber  auch  das  schmerzenszeichen 
auf  der  stirn. 

Es  ist  sehr  fein,  was  R.  M.  Meyer  hervorhebt,  dasz  Antonio 
und  Tasso  in  dem  Stadium  beharren,  das  Goethe  und  Schiller  über- 
wanden. Goethe  sagte  über  sich  und  den  erst  spät  gefundenen 
freund:  'selten  ist  es,  dasz  personen,  die  gleichsam  die  hälften  von 
einander  ausmachen,  sich  nicht  abstoszen,  sondern  sich  anschlieszen 
und  einander  ergänzen.'  Tasso  sieht  alles  dichterisch  umgeformt  an, 
Antonio  alles  in  'der  gemeinen  deutlichkeit  der  dinge';  scheidet 
jener  poesie  und  leben  zu  wenig,  so  trennt  dieser  sie  zu  scharf  und 
sieht  in  Tassos  künstlerischem  wesen  nichts  als  launen  und  kindische 
Ungezogenheit;  ist  Tasso  zu  stürmisch  in  freundschaft  und  liebe,  zu 
überschwenglich  im  Wechsel  der  empfindung,  so  Antonio  zu  kalt,  zu 
hart,  ungerecht.  Tasso  ist  zu  sehr  dem  ideellen,  dem  phantasie- 
leben, Antonio  zu  sehr  dem  praktischen  leben  zugewandt;  sein 
dichterischer  schwung  ist,  wo  er  sich  zeigt,  nur  gemacht,  nur  künst- 
lich ;  er  ahnt  nicht,  was  es  heiszt:  'alles  vergängliche  ist  nur  ein 
gleichnis',  während  Tasso  in  solcher  erkenntnis  und  empfindung 
lebt  und  webt,  so  schönheitsliebend  und  schönheitsselig  er  ist,  so 
unpraktisch,  unordentlich,  rasch  im  handeln,  unüberlegt,  ungleich- 
mäszig  in  denken  und  in  Stimmung,  ein  spielball  eines  wankel- 
mütigen gefühlvollen  herzens.  in  alledem  ist  Antonio  überlegen, 
doch  häszlich  ist  sein  neid  und  seine  eifersucht. 

Bielschowsky  verkennt  aber  gleichwohl  den  Antonio;  zunächst 
wenn  er  die  worte  'mir  war  es  lang  bekannt,  dasz  im  belohnen 
Alphons  unmäszig  ist'  als  grobe  beleidigung  und  taktlosigkeit  auf- 
faszt.  fügt  doch  der  gewandte  weitmann  hinzu:  'und  du  erfährst, 
was  jeder  von  den  seinen  schon  erfuhr.'    so  schlieszt  er  also  sich 


254  A.  Biese:  zum  deutschen  Unterricht. 

selbst  ein,  und  so  machen  auch  auf  die  andern  die  worte  keinen 
tiefen,  keinen  verletzenden  eindruck.  —  Dasz  Goethe  sie  später  ein- 
gefügt habe,  ist  doch  nur  verlegenheitsconjectur.  —  Auch  am 
Schlüsse  die  worte  Tassos  an  Antonio  'edler  mann!'  wollte  Goethe 
wohl  kaum  anders  aufgefaszt  haben  als  voll  aufrichtigkeit  dem  nach 
einem  halt  suchenden  dichterherzen  entströmend,  nicht  aber  als  kahle 
böflichkeitsformel.  hat  sich  Antonio  auch  wahrlich  nicht  edel  ge- 
zeigt in  jener  streitscene ,  auch  nicht  in  dem  gespräche  mit  Alphons 
(V  1),  wo  ihn  dieser  mit  vornehmer  ruhe  zurückweist  und  den  tadel, 
den  er  über  Tasso  ausspricht,  dämpft,  so  weist  er  doch  mit  echtem 
gefühl  am  Schlüsse  den  unseligen  auf  das  hin ,  was  ihm  im  Schiff- 
bruch seines  glückes  noch  heil  und  rettung  bieten  kann:  sein  dichter- 
genie ,  sein  künstlerisches  schaffen. 

Wir  ersehen  am  Schicksal  Tassos,  wie  das  leben  durch  leid  er- 
zieht und  wie  schwer  die  echte  kunst  zu  leben  sich  erlernen  läszt, 
wie  'um  uns  herum  gar  mancher  abgrund ,  den  das  Schicksal  grub, 
doch  hier  in  unserm  herzen  ist  der  tiefste.'  wir  ersehen  aber  auch, 
je  häufiger  wir  die  dichtung  lesen,  mit  welcher  unerschöpflichen 
lebensweisheit  Goethe  dies  werk  ausgestattet  hat,  wie  es,  einem 
naturproduct  gleich,  sich  seiner  genialen  seele  entrang  zur  mahnung 
und  Warnung  für  alle  diejenigen,  die,  noch  in  der  Selbstzucht  be- 
griffen ,  danach  streben ,  köpf  und  herz,  verstand  und  gemüt  gleich- 
mäszig  auszubilden,  ihr  inneres  in  harmonie  zu  bringen,  d.  h.  wahres 
glück  zu  gewinnen,  darin  liegt  die  dichterische  und  pädagogisch- 
ethische bedeutung  dieses  meisterwerkes. 

Koblenz.  Alfred  Biese. 


20. 

DR.  ErDENBERGER,  DAS  AVANCEMENT  DER  AKADEMISCH  GEBILDETEN 
JUSTIZBEAMTEN   UND  LEHRER  IM  SÄCHSISCHEN  STAATSDIENSTE  IN 

DEN  JAHREN  1886—1896.    Leipzig,  Rengersche  buchhandlung.    1897. 

Das  schriftchen  gibt  eine  wertvolle  aufklärung  über  eine  lebens- 
frage  des  sächsischen  gymnasialwesens.  warum  sind  die  sächsischen 
gymnasiallehrer  so  tief  unzufrieden  mit  dem  für  sie  bestehenden 
Stellenetat,  während  von  einer  gleichen  Unzufriedenheit  bei  den 
Justizbeamten  des  landes  nichts  verlautet,  obgleich  auch  sie  auf  das 
ausscheiden  von  Vorgängern  und  das  freiwerden  von  stellen  warten 
müssen?  die  frage  ist  sehr  ernst  und  hat  eine  hohe  sittliche  bedeu- 
tung. es  gilt  den  widerwärtigen  schein  zu  beseitigen ,  als  wenn  die 
angehörigen  des  erziehungsberufes  im  vergleich  mit  ihren  zu  dem- 
selben Idealismus  erzogenen  bildungsgenossen  vom  richterstande  die 
ungeduldigen  und  begehrlichen,  die  nörgler  und  querulanten  wären, 
klarheit  kann  darüber  nur  geschafft  werden  durch  eine  nüchterne 
und  sachlich  eingehende  vergleicbung  der  beiderseitigen  gehalts- 
verhältnisse. 


i ; .  Richter :  anz.  v.  Erdenberger  avancement  d.  j  ustizbeamten  u.  lehrer.  255 

Diese  arbeit  liefert  hier  Erdenberger,  und  zwar  mit  den  ein- 
fachsten und  handgreiflichsten  ergebnissen.  ÖttXoOc  ö  liOöoc  TTiC 
dXriGeiac  ecpu.  er  beweist  durch  berechnungen,  die  jeder  nachprüfung 
standhalten  werden,  dasz  der  gegensatz  zwischen  den  beiden  beamten- 
gruppen  noch  tiefer  begründet  ist  als  nur  durch  den  hinlänglich  be- 
kannten verschiedenen  bau  der  beiderseitigen  gehaltsstafiFeln,  näm- 
lich: 3600  mk.  anfangsgehalt  bei  den  richtern  gegen  2400  mk.  bei 
den  lehrern,  trotzdem  dasz  sich  bei  diesen  das  durchschnittliche 
lebensalter  immer  ungünstiger  verschoben  hat  und  für  die  Inhaber 
der  niedrigsten  stelle  am  1  januar  1896  nicht  weniger  als  34,3  jähr 
betrug;  ferner  die  ungleiche  differenz  zwischen  den  gehaltsclassen: 
600  mk.  bei  den  richtern,  durchschnittlich  300  mk.  bei  den  lehrern; 
endlich  die  geringe  zahl  der  höchsten  stellen  bei  den  lehrern 
(14,  12,  10),  während  bei  den  richtern  jede  stufe  dieselbe  zahl 
von  stellen  hat. 

Wenn  nun  die  peinlich  empfundenen  und  nahezu  unerträglich 
gewordenen  misverhältnisse  in  den  besoldungen  der  gymnasiallehrer 
nur  auf  diesem  allerdings  vergleichsweise  sehr  unvorteilhaften  bau 
der  gehaltsstaflfel  beruhten,  so  könnte  durch  einen  gründlichen  umbau 
abgeholfen  und  das  princip  des  Stellenetats  erhalten  werden,  dem 
steht  aber  ein  anderes  hindernis  entgegen,  das  in  der  vorliegenden 
Schrift  einleuchtend  dargestellt  wird,  es  fehlt  für  die  gymnasial- 
lehrer der  kräftig  erleichternde,  eine  gesunde  und  befriedigende  be- 
wegung  ermöglichende  Übergang  in  einen  höheren  gehaltsbereich. 
als  solchen  gibt  es  nur  die  rectorate.  nun  kommt  aber  auf  17,6 
lehrerstellen  nur  1  rectorat,  während  bei  den  Juristen  bereits  auf 
2,24  untere  richter-  oder  staatsanwaltstellen  1  höhere  justizstelle 
kommt;  der  richter  oder  Staatsanwalt  hat  achtmal  mehr  aussieht  einen 
gehalt  von  6000  mk.  und  mehr  zu  erreichen  als  der  gymnasiallehrer. 

Diese  zahlen  reden  eine  eindringliche  spräche ;  sie  warnen  vor 
dem  versuche,  durch  erhöhungen  und  Verschiebungen  innerhalb  des 
Stellenetats  die  übelstände  zu  beseitigen,  wenn  diese  Veränderungen 
noch  so  durchgreifend  wären,  würde  doch  bei  dem  geringen  abflusz 
nach  den  rectoraten  immer  eine  verhängnisvolle  Stagnation  an  dieser 
und  jener  stelle  und  eine  unbillige  ungleichmäszigkeit  des  avance- 
ments  drohen,  das  führt  mit  notwendigkeit  auf  den  amtsaltersetat 
als  die  für  die  gymnasiallehrerschaft  natürlich  gegebene  einrichtung, 
die  einen  auf  die  dauer  befriedigenden  und  einwandfreien  zustand 
verbürgt,  freilich  nur  unter  der  bedingung,  dasz  die  gehaltssätze 
denen  der  vergleichbaren  akademisch  gebildeten  beamten  angeglichen 
werden  und  die  höchstgehalte  bei  Zeiten  zu  erreichen  sind ,  da  sich 
ja  eben  die  meisten  lehrer  in  mangel  eines  höher  besoldeten  dienstes, 
zu  dem  sie  aufrücken  könnten,  damit  begnügen  müssen. 

Nun  könnte  man  fragen,  wie  es  sich  eigentlich  erklärt,  dasz 
sich  die  sächsischen  gymnasiallehrer  erst  in  dem  jetzigen  Jahrzehnt 
und  namentlich  in  den  letzten  fünf  jähren  auf  ihre  notlage  besonnen 
zu  haben  scheinen,    vorher  war  es  in  ihrem  kreise  doch  recht  still 


256  R.  Richter:  anz.  v.  Erdenberger avancement  d. justizbeamten u.  lehrer. 

und  ruhig,  ich  habe  seit  1863  in  diesen  Verhältnissen  gelebt  und 
vermag  darum  aus  persönlicher  erfahrung  die  sache  einigermaszen 
zu  beurteilen,  bis  1886  hatte  ja  jede  schule  ihren  eignen  Stellen- 
etat, muste  das  nicht  erst  recht  als  ein  harter  druck  wirken?  die 
gegenwirkung  lag  in  folgendem,  im  anfange  der  sechziger  jähre 
war  bei  uns  zu  lande  die  zahl  der  candidaten  des  höheren  lehramtes 
sehr  gering,  so  dasz  frühzeitige  anstell ung  und  günstige  anfaugs- 
beförderung  die  regel  war.  ich  selbst  bin  in  einem  lebensalter  von 
23'/2  Jahren  ständiger  Oberlehrer  geworden,  was  damals  nichts  auszer- 
ordentliches  war.  auszerdem  wurde  mit  einem  so  zu  sagen  patriar- 
chalischen verfahren  dringenden  bedürfnissen  in  einzelnen  coUegien 
durch  locale  aufbesserungen  und  persönliche  Zulagen  abgeholfen, 
ende  der  sechziger  jähre  aber  begann ,  was  die  hauptsache  ist ,  die 
Periode  der  starken  äuszeren  entwicklung  des  höheren  Schulwesens 
in  Sachsen,  die  zwei-  und  anderthalbjährigen  classencurse  wurden 
aufgehoben  und  die  einjährigen  durchgeführt;  zu  den  11  alten  huma- 
nistischen gymnasien  wurden  6  neue  gegründet,  zu  den  6  alten  real- 
gymnasien  4  neue;  zahlreiche  parallelclassen  musten  eingerichtet 
werden,  dazu  kam  die  ausgestaltung  des  realschulwesens;  von  den 
jetzt  bestehenden  23  realschulen  sind  weitaus  die  meisten  in  jenem 
Zeiträume  als  sechsclassige  höhere  schulen  organisiert  worden,  das 
ergab  natürlich  eine  flotte  bewegung  in  der  lehrerweit,  öftere  Ver- 
setzungen und  avancements,  die  die  Ungunst  des  Stellensystems 
nicht  fühlbar  werden  lieszen. 

Nun  ist  seit  etwa  10  jähren  jene  entwicklung  abgeschlossen, 
es  ist  stillstand  eingetreten,  und  zwar  nach  menschlicher  berechnung 
auf  lange  dauer;  nun  sitzen  sie  fest,  eingekeilt  in  drangvoll  fürchter- 
liche enge,  die  vielen  gleichaltrigen  aus  der  zeit  des  aufschwungs: 
hinc  illae  lacrimae! 

Es  handelt  sich  also  um  die  Wirkung  eines  culturgeschicht- 
licben  Vorganges,  nicht  etwa  um  eine  psychologisch  auffällige  er- 
scheinung;  es  hat  sich  im  letzten  Jahrzehnt  ein  vollständiger  wandel 
in  den  äuszeren  Verhältnissen  der  gymnasien  vollzogen,  ein  wandel, 
mit  dem  sich  der  alte  stellenetat  schlechterdings  nicht  mehr  ver- 
trägt, während  in  den  beiden  vorhergehenden  Jahrzehnten  die  manig- 
faltigen  neugestaltungen  immer  wieder  heilmittel  boten,  so  kann 
auch  niemand  eine  vorwurfsvolle  kritik  früherer  maszregeln  in  der 
feststellung  dieser  thatsachen  finden;  sie  bestätigt  nur,  dasz  die 
durchgreifenden  neuen  maszregeln,  die  allen  anzeichen  nach  bevor- 
stehen, in  den  thatsächlichen  Verhältnissen  ihren  anlasz  und  ihre 
berechtigung  finden. 

Leipzig.  Richard  Richter, 


ZWEITE  ABTEILUNG 

FÜR  GYMNASIALPÄDAGOGIK  UND  DIE  ÜBRIGEN 

LEHRFÄCHER 

MIT    AUSSCHLUSZ    DEK    CLASSISCHEN    PHILOLOGIE 

HERAUSGEGEBEN  VON  PROF.  DR.  RiCHARD  RiCHTER. 


21. 

EIN  GUTACHTEN  GOTTFRIED  HERMANNS. 


Unter  den  briefen  Gottfried  Hermanns  an  Carl  August  Böttiger' 
befindet  sich  ein  von  unbekannter  band  geschriebenes  Schriftstück, 
das  die  Überschrift  trägt:  'über  den  lateinischen  und  griechischen 
Sprachunterricht  insbesondere.'  zum  glück  belehrt  uns  eine  später 
gemachte  handschriftliche  bemerkung  am  oberen  rande  der  ersten 
Seite ,  dasz  uns  hier  ein  teil  eines  gutachtens  abschriftlich  vorliegt, 
das  Hermann  im  februar  1818  an  das  curatorium  der  Thomasschule 
in  Leipzig  wegen  Verbesserung  dieser  schule  richtete,  das  gutachten 
selbst  ist  gänzlich  verschollen,  denn  weder  ist  es  im  archive  der 
Thomasschule,  noch  im  ratsarchive  der  stadt  Leipzig  vorhanden, 
ganz  besonders  aber  musz  auffallen,  dasz  in  den  langen  Verhand- 
lungen, die  -während  der  jähre  1815  — 1821  zwischen  dem  schul- 
curatorium^  und  dem  damaligen  rector  der  schule  Rost  stattfanden^ 
zu  dem  zwecke,  disciplin  und  unterrichtswesen  an  der  Thomana 
gründlich  umzugestalten,  auch  nicht  mit  einem  worte  erwähnt  wird, 
dasz  Gottfried  Hermann  zu  beginn  des  Jahres  1818  bei  dem  cura- 
torium der  Thomana  Verbesserungsvorschläge  eingereicht  hat.  viel- 
mehr erfahren  wir  aus  einer  längeren  eingäbe  des  rectors  Rost  vom 
9  october  1821,  dasz  Rost  persönlich  sechs  jähre  hindurch  die  durch- 


»  briefe  an  C.  A.  Böttiger  bd.  76  nr.  102  —  133  (kgl.  bibliotliek 
Dresden). 

*  das  curatorium  der  Thomasschule  lag  in  den  hiinden  des  stadt- 
magistrats.  1818  versahen  das  curatorenamt  der  oberhofgerichtsrat  und 
biirgermeister   dr.  Siegmann   und  der  baumeister  Chr.  Ludwig  Stieglitz. 

3  vgl.  die  schulacten,  deren  mitteilung  ich  hrn.  Oberlehrer  dr.  Brause 
in  Leipzig  \'erdanke;  ferner  das  nachwort  zur  ersten  lieferung  von  Rosts 
beitragen  zur  geschichte  der  Thomasschule  1820  s.  14 — 21,  sowie  aus 
dem  13n  Jahrgang  des  neuen  nekrologs  der  Deutschen  s.  172 — 173  des 
ersten  teils. 

N.  Jahrb.  f.  phil.  n.  päd.  11.  abt.  1897  hft.  6.  17 


258  0.  Fiebiger:  ein  gutacliten  Gottfried  Hermanns. 

dachtesten  und  umfassendsten  entwürfe  ausarbeitete,  durch  deren 
einführung  er  die  ihm  anvertraute  schule  zu  heben  gedachte ,  und 
schlieszlich  dieselben  in  einem  groszen  gesamtplan  zusammenfaszte, 
der  den  ungeteilten  beifall  des  oberconsistorialpräsidenten  v.  Ferber, 
des  ritters  professor  Hermann  und  des  studiendirectors  Böttiger  fand, 
und  am  Schlüsse  jener  eingäbe  erklärt  Rost,  er  sei  gern  bereit,  wenn 
die  vorgesetzte  behörde  ihn  nicht  für  fähig  genug  halte,  selbständig 
eine  neue  Schulordnung  zu  entwerfen  ,  jeden  andern  unterrichtsplan 
annehmen  zu  wollen,  der,  was  insbesondere  die  classische  philologie 
betreffe ,  die  billigung  der  herren  Blümner  und  Hermann  gefunden 
habe,  auf  grund  dieses  Zeugnisses  ist  also  Rost  allein  derjenige  ge- 
wesen, der  dem  curatorium  des  öfteren  eine  änderung  der  schul- 
Verfassung  als  dringend  notwendig  nahegelegt  hat,  und  Hermann 
hat  zu  Rosts  vorschlagen  nur  sein  placet  gegeben,  nichtsdesto- 
weniger musz  aber  daneben  die  thatsache  bestehen  bleiben,  dasz 
Hermann  selbst  im  februar  1818  ein  längeres  gutachten  über  eine 
zweckmäszige  Verbesserung  des  Unterrichts  an  der  Thomasschule 
abgegeben  hat;  nur  wissen  wir  eben  über  die  näheren  umstände  und 
die  besondere  veranlassung,  da  lediglich  ein  teil  jenes  gutachtens 
auf  uns  gekommen  ist,  gar  nichts,  praktischen  erfolg  hatten  Her- 
manns vorschlage  ebenso  wenig  wie  Rosts  zahlreiche  verbesserungs- 
pläne.  nur  das  eine  setzte  letzterer  beim  stadtmagistrat  durch,  dasz 
die  neue  Ordnung  der  Leipziger  Nicolaischule  vom  29  februar  1820 
für  die  Thomasschule,  die  bereits  eine  bedeutend  bessere  lehr- 
verfassung  hatte,  keine  geltung  erhielt,  im  übrigen  erliesz  der 
Leipziger  magistrat  am  17  mai  1819  nur  bestimmungen,  welche 
die  schuldisciplin  besser  regelten,  und  es  hat  bis  zum  jähre  1828 
gedauert,  ehe  das  unterrichtswesen  der  Thomana  neu  und  gründlich 
geordnet  worden  ist.^ 

So  wenig  aber  auch  das  Herraannsche  gutachten  für  die  Weiter- 
entwicklung des  geistigen  lebens  an  der  Thomasschule  bedeutung 
gehabt  hat,  für  uns  bleibt  es  darum  nicht  minder  wichtig  und  wert- 
voll, denn  einmal  liefert  es  einen  neuen  beweis  dafür,  dasz  Gott- 
fried Hermann  trotz  seiner  ausgesprochenen  beanlagung  für  den 
akademischen  lehrberuf  doch  der  entwicklung  des  höheren  Schul- 
wesens die  lebhafteste  teilnähme  entgegengebracht  hat.  ^  und  zum 
andern  bringt  es  vortrefflich  die  allgemeinen  grundsätze  zur  an- 
schauung,  die  der  grosze  meister  der  classischen  philologie  beim 
Schulunterricht  in  den  alten  sprachen  befolgt  wissen  wollte. 

Vollständig  ist  Hermann  in  seinen  ausführungen  nicht  und  will 
es   nicht  sein,    billiger  weise  wird  aber  auch  niemand  verlangen. 


*  vgl.  Stallbaum,  zur  erinnerung  an  die  Versammlung  ehemaliger 
Thomaner  am  27  und  28  juni  1854  s.  22  f. 

*  auch  der  brief  Hermanns  an  Böttiger  vom  24  miirz  1809  (bd.  76 
nr.  111),  der  die  an  der  landesschule  Pforta  durch  Ilsen  vorgenommenen 
Veränderungen  abfällig  bespricht,  läszt  erkennen,  wie  sehr  Hermaun  auf 
die  förderung  der  höheren  schule  bedacht  war. 


0.  Fiebiger:  ein  gutachten  Gottfried  Hermanns.  259 

dasz  eine  Persönlichkeit  wie  Hermann,  der  nie  eine  öffentliche  schule 
besucht®  hatte  und  der  sich  klar  bewust  war,  dasz  ihm  in  schulfragen 
das  unbedingt  erforderliche  praktische  Verständnis  abgehe '^j  auf  alle 
einzelheiten  des  Unterrichts  eingeht,  dafür  haben  seine  vorschlage 
wiederum  das  überaus  anziehende,  dasz  sie  sich  im  wesentlichen  auf 
die  erfahrungen  gründen ,  die  er  bei  seinem  eignen  bildungsgange 
gesammelt  und  im  späteren  leben  an  sich  erprobt  hatte. 

Auf  der  Unterstufe  ist  nach  Hermann  der  altsprachliche  Unter- 
richt durchaus  mechanisch  zu  betreiben  und  hat  sich  ausschlieszlich 
mit  der  einübung  und  befestigung  der  grammatischen  regeln  zu  be- 
fassen, alles  meditieren  ist  hier  vom  übel,  ganz  ähnlicb  urteilt 
Hermann  in  der  vorrede  zu  seiner  zweiten  ausgäbe  des  Sopho- 
kleischen  Philoktet  (s.  XIX)  ^:  'ex  quo  festinari  omnia  coepta  sunt, 
prius  criticam  facere  pueri  in  scholis  quam  cognoscere  grammaticam 
discunt',  mit  dem  hinweis  darauf,  dasz  auf  der  schule  vor  allem  die 
elemente  erlernt  werden  müsten,  wozu  auf  der  Universität  zeit  und 
gelegenheit  fehle,  als  sehr  brauchbare  gehilfen  der  lehrer  in  den 
beiden  unteren  classen  werden  die  sogenannten  coUaboratoren  em- 
pfohlen, dergleichen  nichtständige  lehrkiäfte  sind  an  der  Thomas- 
schule seit  dem  jähre  1802  beschäftigt  gewesen.'  auch  an  den 
fürstenschulen  finden  wir  sie  seit  dem  beginn  dieses  Jahrhunderts 
vielfach. '"  ihre  einführung  in  Meiszen  erfolgte  auf  grund  der 
rescripte  vom  29  mai  und  3  juni  1812",  wo  es  unter  nr.  3  heiszt, 
dasz  die  vier  anzustellenden  coUaboratoren  die  schüler  zu  beaufsich- 
tigen und  in  den  beiden  unteren  classen  Unterricht  zu  erteilen 
hätten,  auch  sollten  sie,  gerade  wie  Hermann  es  vorschreibt,  in 
besondern  emendations-  und  correcturstunden  die  den  Schülern  auf- 
gegebenen arbeiten  durchsehen  und  durchsprechen. '-  an  der  Thomas- 
schule verwendete  der  collaborator  Eger,  wie  aus  seinem  berichte 
vom  30  october  1819  hervorgeht'',  wöchentlich  eine  stunde  dazu, 
der  vereinigten  dritten  und  vierten  classe  ein  leichtes  speciraen  zu 
dictieren  und  es  auch  zugleich  durchzugehen. 

In  den  beiden  oberen  classen  kommt  es  Hermanns  ausführungen 
zufolge  beim  Unterricht  in  den  alten  sprachen  vorwiegend  darauf  an, 
den  schüler  mit  dem  geiste  derselben  vertraut  zu  machen,  nichts  ist 
aber  dazu  mehr  geeignet  als  eine  sorgfältige,  eindringende  classiker- 
lectüre.    nicht  viele,  sondern  einige  wenige  Schriftsteller  soll  der 


*  vg).  Köchly,  Gottfried  Hermann  s.  4. 

'  Ameis,  Gottfried  Hermanns  pädagogischer  einflusz  s.  15  f. 
^  bei  Ameis  a.  a.  o.  s.  37,  in  dessen  buche  viele  citate  aus  Hermanns 
Schriften  sorgfältig  zusammengetragen  sind. 
^  Stallbaum  a.  a.  o.  s.  24  anra. 

*"  Flathe,    Sanct  Afra   s.  324;    Kirchner,    die   landesschule   Pforta 
s.  66  und  68  fif. 

1'  Flathe  a.  a.  o.  s.  322. 

*2   Flathe   a.  a.  o.   s.  331.     vgl.   über   diese   art   der   correctur   auch 
Eckstein,  lateinischer  und  griechischer  Unterricht   s.  310. 
•'  s.  die  schulacten. 

17* 


260  0.  Fiebiger:  ein  gutachten  Gottfried  Hermanns. 

Schüler  lesen ,  und  zwar  einen  auf  einmal ,  aber  wenn  möglich  voll- 
ständig und  wiederholt,  mit  dieser  Forderung  stellte  sich  Hermann 
in  directesten  gegensatz  zu  der  allenthalben  herschenden  praxis. 
denn  selbst  an  den  fürstenschulen  ist  es  bis  in  den  anfang  dieses 
Jahrhunderts  hinein  allgemein  üblich  gewesen,  die  verschiedensten 
Schriftsteller  gleichzeitig  neben  einander  zu  lesen. '^  Hermann  hatte 
das  in  seiner  Jugend  anders  gelernt,  sein  lieblingslehrcr  Carl  David 
Ilgen  las  mit  ihm  in  zwei  jähren  nur  zwei  capitel  aus  Xenophons 
memorabilien  und  vier  bücher  der  Ilias'^  und  auf  der  Universität 
legte  ihm  sein  lehrer  Friedrich  Wolfgang  Reiz  nichts  eindringlicher 
ans  herz,  als  gleichzeitig  nicht  mehr  als  einen  schriftsteiler  zu  lesen.  ^' 
kein  wunder,  dasz  Hermann,  der  es  sich  unter  dem  einflusse  dieser 
lehrer  für  sein  ganzes  leben  zum  grundsatz  gemacht  hatte,  nur  einen 
Schriftsteller  oder  einen  gegenständ  auf  einmal  zu  treiben'^,  nach- 
drücklich eine  'notitia  rerum  plurimarum  sine  ullius  rei  scientia'  ver- 
wirft'" und  gegen  die  'levitas  saeculi'  eifert '^  welche  die  Jugend  wohl 
viel,  aber  nichts  gründlich  lernen  lasse,  das,  was  der  schüler  nach 
Hermanns  ansieht  auf  der  Oberstufe  des  gymnasiums  vor  allem  auf- 
fassen lernen  soll,  ist  und  bleibt  das  wesen  der  alten  sprachen,  und 
das  lehrt  ihn  allein  eine  planmäszige  schriftstellerlectüre  verstehen, 
überaus  zahlreich  sind  die  äuszerungen,  die  Hermann  der  Wichtig- 
keit des  gegenständes  angemessen  bei  jeder  gelegenheit  gerade  in 
dieser  frage  gethan  hat.  ganz  im  allgemeinen  sagt  er  darüber:  'eine 
spräche  lernt  man  überhaupt  nur  durch  vieles  und  verständiges 
lesen  der  Schriftsteller'^",  und  an  einer  andern  stelle  urteilt  er*': 
'commendare  soleo  aliis,  ut  quis  linguarum  rationem  usu  multaque 
lectione,  sicuti  vernaculam  linguam  discimus,  cognoscere  studeat.' 
im  besondern  läszt  sich  nach  Hermanns  meinung  sinn  und  gefühl 
für  die  groszen  feinheiteu  der  griechischen  spräche  'nur  durch  vieles 
und  verständiges  lesen  der  alten  erwerben'. ''•  aber  nicht  nur  um- 
fassend soll  die  schriftstellerlectüre  sein,    sie  musz  sich  auch ,  wenn 

'*  vgl.  Kössler,  gcschichte  der  fürsten-  und  landesschule  Grimma 
8.  191  und  193. 

*5  Köchly  a.   a.  o.  s.  4;  Jahn,  Gottfried  Hermann  s  5. 

'^  vgl.  Hermanns  praef.  act.  soc.  Gr.  s.  IX:  'haec  ei  duo  potissi 
mum  debeo ,  primum  ut  non  multos  simul  scriptores,  sed  unum  quoque 
tempore  solum  legerem,  deinde  ut  non  credere  temere,  sed  cogitare 
assuescerem  .  .  .',  und  Köchly  a.  a.  o.  s.  6. 

'^  vgl.  Jahn  a.  a.  o.  s.  14  und  Hermanns  aufforderuug  an  die  com- 
militoneu  (opusc.  V  s.  319):  'illud  animo  reputate  et  tenete  firmiter, 
eligere  sibi  quemque  debere  unam  aliquam  materiam,  in  quam  totus 
incumbat  in   eaque  quasi  domicilium  pouat  suum.' 

•'^  vgl.  Hermanns  festgrusz  an  die  jubilierende  Pforte  bei  Köchly 
a.  a.  0.  s.  138.  Hermann  bekennt  sich  damit  zu  dem  grundprincip  der 
fürstenschulen,  keine  vielwisserei  zu  pflegen,  vgl.  Flathe  a.  a.  o.  s.  325. 

'9  vgl.  Jahns  jahrb.  für  philol.  u.  päd.  bd.  27  1839  s.  433. 

20  zeitschr.   f.  altertumswissensch.  1834  s.  202. 

*•  opusc.  V  8.  51. 

"  Jahns  jahrb.  f.  philol.  u.  päd.  bd.  14  1830  s.  165  und  opusc.  I 
8.  129. 


0.  Fiebiger:  ein  gutachten  Gottfried  Hermanns.  261 

sie  von  wirklichem  nutzen  sein  soll,  jedesmal  nur  auf  einen  ein- 
zigen Schriftsteller  erstrecken,  denn  nur  so  ist  es  möglich,  sich  den 
Sprachschatz  und  die  ausdrucksweise  eines  Schriftstellers  wirklich 
anzueignen,  wie  Hermann  das,  übereinstimmend  mit  den  werten 
seines  gutachtens,  so  schön  lateinisch  wiedergibt":  'unum  .  .  qui 
scriptorem  aliquamdiu  solum  legit,  familiarius  ei  adsuescit,  ingenium 
eins,  cogitandi  sentiendique  rationem,  dicendique  genus  et  consuetu- 
dinem,  omnino  quidquid  eius  proprium  est,  paulatim  imbibit  suumque 
facit,  ut,  si  deinceps  ad  alium  progrediatur,  facile  et  quae  communia 
habeant  et  quibus  rebus  discrepent  animadvertat  atque  discernat.' 
dagegen  richtet  die  gleichzeitige  lectüre  mehrerer  Schriftsteller  nur 
Verwirrung  an  und  führt  dazu,  dasz  die  sprachlichen  eigentümlich- 
keiten  der  einzelnen  autoren  nicht  richtig  erkannt  werden,  eindring- 
lich warnt  Hermann  vor  diesem  fehler  einmal  in  seiner  vorrede  zur 
Tauchnitz-ausgabe  der  Ilias,  wo  es  heiszt'-':  'apertum  est  .  .  quo 
quis  plura  simul  tractet,  eo  magis  distrahi  attentionem  animi  rerum 
varietate,  impedirique  quo  minus  ea  percipiat,  quae  propria  singu- 
lorum  sunt?  quo  fit  ut  confundantur  omnia  ac  permisceantur,  nee 
distingui  quae  diversa  sunt  possint',  und  anderseits  in  der  vorrede 
zu  den  acta  societatis  Graecae  (s.  IX)  mit  den  worten :  'multa  .  .  et 
varia  simul  legendo  confunditur  et  conturbatur  animus  copia  rerum 
et  diversitate,  ut  omnia  permisceat  nee  percipere  discrimina  possit.' 
erst  wenn  der  schüler  einen  Schriftsteller  völlig  beherscht,  wozu  eine 
nochmalige  Wiederholung  des  gelesenen  sehr  viel  beiträgt^',  soll  er 
zur  lectüre  eines  andern  übergehen,  das  befähigt  ihn,  mit  Verständ- 
nis auf  den  unterschied  in  der  ausdrucksweise  der  einzelnen  Schrift- 
steller zu  achten",  ihre  gedanken  von  selbst  richtig  zu  erfassen", 
und  so  allmählich  bei  fortgesetzter  lectüre  zu  einer  richtigen  er- 
kenntnis  des  classischen  altertums  durchzudringen,  die  vielen  leuten 
deshalb  abgeht,  weil  sie  die  alten  Schriftsteller  entweder  verkehrt 
oder  unzureichend  verstehen.^*   einzig  und  allein  auf  der  grundlage 


^^  vgl,  die  praef.  act.  soc.  Gr.  s.  IX. 

"  abgedruckt  opusc.  III  s.  77. 

^^  den  wert  der  Wiederholung  legt  Hermann  dar  mit  den  worten 
(opusc.  III  s.  77):  'tertio  .  .  curandum  est,  ut  repetatur  lectio.  nam 
prima  cuiusvis  scriptoris  lectio  vix  aliam  habet  utilitatem,  quam  ut 
imaginem  aliquam  scriptoris  animo  concipiamus,  non  ut  eius  ingenium 
penitus  cognoscatur:  neque  omnia  quae  ei  propria  sunt  quibusque  differt 
ab  aliis  bcriptoribus  percipi  .  .  possunt.  quarum  rerum  copia  augetur 
repetenda  lectione,  quoque  saepius  repetitur,  eo  magis  in  animum  lectoris 
penetrat  scriptoris  ingenium. 

2^  vgl.  Hermanns  worte  in  der  praef.  act.  spc.  Gr.  s.  IX:  'si  deinceps 
ad  alium  progreditur,  facile  et  quae  communia  habent  et  quibus  rebu? 
discrepant  animadvertit  atque  discernit.' 

"  diese  meinung  spricht  Hermann  in  Jahns  jahrb.  f.  philol.  u.  päd. 
bd.  23  1838  s.  201  aus:  'den  richtigen  mittelweg  findet  man  durch  vteles 
und  lebendiges  lesen  der  alten  selbst,  ohne  interpreten.' 

'^s  des  längeren  verbreitet  sich  Hermann  darüber  in  der  praef.  act.  soc. 
Gr.  s.  XI:  'indignabar,  quod,  quamcunque  partem  antiquitatis  attingerem, 


262  0.  Fiebiger:  ein  gutachten  Gottfried  Hermanns. 

einer  nach  Hermanns  Vorschriften  getriebenen  classikerlectüre  be- 
kommt der  Schüler  nach  und  nach  von  selbst  gefühl  für  die  eigenart 
des  antiken  stils  und  vermag  selbst  dinge,  die  bei  keinem  alten 
Schriftsteller  vorkommen,  in  echt  classischer  form  auszudrücken, 
damit  verrät  uns  Hermann  das  grosze  und  doch  so  einfache  ge- 
heimnis  seines  lateinischen  stils.  denn  das  erregte  die  ungeteilte 
bewunderung  der  Zeitgenossen,  dasz  Hermann  die  modernsten  be- 
griffe echt  antik  wiederzugeben  verstand^',  und  dasz  er  trotz  des 
individuellen  gepräges  seines  lateins  alles  im  sinne  und  geiste  der 
alten  dachte  und  ausdrückte.^" 

So  lange  freilich  dem  schüler  infolge  unzureichender  lectüre 
das  richtige  gefühl  für  die  feinheiten  der  classischen  ausdrucksweise 
noch  abgeht,  sollen  eigentliche  stilübungen,  die  überhaupt  nur  im 
lateinischen  vorzunehmen  sind ,  mit  ihm  lieber  nicht  angestellt  wer- 
den, weil  sie  dem  noch  nicht  genügend  vorbereiteten  mehr  schaden 
als  nützen,  in  der  zweiten  classe  soll  der  schüler  daher  lediglich  ins 
deutsche  übertragene  stücke  aus  guten  Prosaschriftstellern  ins  latei- 
nische zurückübersetzen  und  bei  der  rückgabe  der  arbeit  vom  lehrer 
unterwiesen  werden,  warum  der  alte  schriftsteiler  an  den  stellen, 
VFO  die  rüekübersetzung  von  dem  Wortlaute  des  Originals  abweicht, 
sich  correcter  als  der  schüler  ausgedrückt  habe,  diese  retroversions- 
übung  bezeichnet  bereits  der  alte  Straszburgor  latinist  Johannes 
Sturm  als  den  'primus  gradus  in  exercitatione  stili'^',  und  Hermann 
empßehlt  sie  anderwärts ^'^  als  das  wirksamste  mittel,  um  dem 
schüler  'von  der  unendlichen  manigfaltigkeit  von  redensarten,  Wort- 
stellungen ,  zusamraenfügungen  der  sätze',  die  für  die  griechische 
spräche  so  charakteristisch  ist,  einen  begritf  zu  geben,  an  der 
Thomasschule  scheint  im  jähre  1819  in  secunda  nicht  einmal  die 
erste  Vorbedingung  für  die  vornähme  stilistischer  Übungen,  die  Her- 
mann in  der  sicheren  beherschung  der  grammatischen  regeln  er- 
blickt, erfüllt  gewesen  zu  sein,  denn  dem  berichte  des  lehrers 
Voigtländer ^^  ist  zu  entnehmen,  dasz  dieser  bei  der  emendation  der 
angefertigten  specimina  und  extemporalia  infolge  der  häufig  vor- 
kommenden grammatischen  fehler  es  für  angezeigt  hielt,  nur  die 
guten  Lateiner  der  secunda  auf  feinheiten  im  ausdruck  aufmerksam 
zu  machen,  eigentliche  freie  lateinische  stilarbeiten  sollen  nach 
Hermann  nur  von  den  scbülern  der  ersten  classe  geliefert  werden, 
und  zwar  sollen  dieselben  in  besonderen  stunden  im  einzelnen  durch- 

plurima  incerta,  falsa,  inepta,  atque  adeo  sanae  rationi  repugnantia 
tradi  viderem.  cuius  rei  causam  cum  in  eo  positam  esse  animadverterem, 
quod  scripta  veterum  vel  perperam  vel  non  satis  intellecta  essent: 
.  .  omne  Studium  eo  contuli,  ut  linguarum  rationem  usuraque  scriptorum 
quam  possem  certissime  explicatum  haberem.' 

'3  vgl.  Platner  in  der  zeitschr.  f.  altertumswissenscli.   1849  s.  3. 

30  Jahn  a.  a.  o.  s.  18  f. 

3'  s.  Eckstein  a.  a.  o.  s.  311. 

3«  in  Jahns  jahrb.  f.  philol.  u.  päd.  bd.  14  1830  .s.  165  f. 

33  vgl.  die  schulacten. 


0.  Fiebiger:  ein  gutachten  Gottfried  Hermanns.  263 

gesprochen  werden,  für  dergleichen  emendationen  waren  an  den 
fürstenschulen  für  das  lateinische  wöchentlich  zwei  stunden  an- 
gesetzt.^^ die  arbeiten  bestanden  in  abhandlungen,  reden  und  decla- 
mationen  über  gegebene  themata. 

Hand  in  hand  mit  einer  guten  stilistischen  Schulung  müssen 
auf  der  Oberstufe  zur  förderung  der  kenntnis  von  prosodie  und 
metrik  metrische  Übungen  gehen,  über  ihren  wert  äuszert  sich 
Hermann  ausführlich  in  einem  briefe  an  den  rector  Kirchner  von 
Pforta^^:  'mit  groszem  vergnügen  habe  ich  die  fertigkeit  und  ge- 
wandtheit  wahrgenommen,  womit  ihre  Schüler  die  lateinische  poesie, 
namentlich  in  der  epischen  gattung,  zu  handhaben  verstehen,  es 
freut  mich  das  um  so  mehr,  da  die  kunst,  lateinische  gedichte  zu 
machen,  immer  seltener  zu  werden  scheint,  so  dasz  man  selbst  von 
männern,  die  die  sache  verstehen  sollten,  oft  gedichte  zu  lesen  be- 
kommt, denen  nicht  nur  alle  lateinische  färbe,  sondern  sogar  pro- 
sodische  richtigkeit  fehlt,  ich  halte  überhaupt  diese  Übungen  für 
ganz  besonders  wichtig,  weil  der  lehrer  dabei  mit  weit  mehr  be- 
stimmtheit  und  schärfe,  als  es  in  der  prosa  geschehen  kann ,  auf  die 
wähl  der  ausdrücke,  die  richtige  Wortstellung,  die  Vermeidung  leerer 
phrasen  und  flickwörter  und  was  dergleichen  mehr  ist,  aufmerksam 
zu  machen  und  so  den  sinn  für  das  wahrhaft  antike  zu  wecken  und 
zu  bilden  veranlassung  findet.'  im  vergleich  zu  den  anforderungen, 
die,  was  metrische  fertigkeit  anlangt,  auf  den  fürstenschulen  an  die 
Schüler  gestellt  wurden,  verlangt  Hermann  in  seinem  Thomasschul- 
programm durchaus  nichts  auszergewöhnliches.  denn  beispielsweise 
auf  der  fürstenschule  zu  Grimma  begannen  die  lateinischen  vers- 
übungen  bereits  auf  der  Unterstufe '^  während  in  den  oberclassen 
alsbald  freie  bearbeitungen  einer  sogenannten  versmaterie  oder  gar 
carmina  in  verschiedenen  versmaszen  von  den  schülern  eingereicht 
wurden,  ausdrücklich  betont  Hermann,  dasz  zu  eigentlichen  poeti- 
schen arbeiten  nur  die  wirklich  poetisch  beanlagten  schüler  heran- 
gezogen werden  sollen,  denn  seiner  meinung  nach  gehörte  zu  wirk- 
licher poesie  mehr,  als  mit  hilfe  des  gradus  ad  Pamassum  eine  strophe 
zusammenzusetzen"  oder  aus  zusammengestöppelten  dichterischen 
phrasen  centonen  zu  verfertigen.^'  vielmehr  war  er  von  der  Über- 
zeugung durchdrungen,  dasz  nur  eine  angei'egte,  feinfühlende  dichter- 
lectüre  dichterisches  empfinden  zu  wecken  im  stände  sei,  nicht  aber 
eintöniges  silbenmessen,  wie  er  das  so  treffend  in  der  epitome  doctrinae 
metricae  (s.  VHI)  ausspricht:  'id  imprimis  curare  debent,  ut  non 
multos  simul,  sed  unum  eundemque  poetam  quoque  tempore,  eumque 
solum,  et  iterum  atque  iterum,  neque  obscura  illa  cum  diligentia. 


^■*  Rössler  a.  a.  o.  s,  194;  Flathe  a.  a.  o.  s.  331. 
^*  Kirchner,   bericht   über   die   säcularfeier   der  königl.  landesschule 
Pforta  8.  10  anm. 

'*  vgl.  Köchly  a.  a.  o.  s.  109;  Rössler  a.  a.  o.  s.  195. 
"  Jahns  Jahrb.  f.  philol.  u.  päd.  bd.  23  1838  s.  200. 
38  ebd.  bd.  14  1830  s.  166. 


264  0,  Fiebiger:  ein  gutachten  Gottfried  Hermanns. 

quae  singulas  syllabas  atque  apices  rimatur,  sed,  quo  fine  scripserunt 
poetae,  oblectationis  causa,  legant.' 

Im  griechischen  sollen  die  schüler  auf  der  Oberstufe  vor  allem 
dichterlectüre  treiben,  da  uns  das  wesen  der  griechischen  spräche 
in  ihrer  ursprünglichsten  und  reinsten  form  in  den  werken  der  grie- 
chischen poesie  entgegentritt,  auszerdem  kommt  das  Studium  der 
Prosaschriftsteller  im  griechischen  auf  der  schule  auch  schon  um  des- 
willen weniger  in  betracht  als  im  lateinischen,  weil  es  unmöglich 
aufgäbe  des  griechischen  Unterrichts  sein  kann,  die  schüler  in  der 
kenntnis  der  griechischen  spräche,  deren  prosa  so  unendlich  viele 
feinheiten  im  ausdruck  aufweist,  so  weit  zu  fördern,  dasz  sie  die- 
selbe auch  nur  annähernd  stilistisch  beherschen.^^  Hermann  will 
daher  schreibübungen  im  griechischen  nur  in  dem  umfange  angestellt 
wissen,  als  zu  einem  richtigen  Verständnis  der  griechischen  Sprach- 
eigentümlichkeiten unbedingt  erforderlich  ist.  und  ferner  sollen  die 
schüler  durch  die  schriftlichen  arbeiten  den  beweis  liefern,  'dasz  sie 
eine  gattung  von  Schriftstellern  hinlänglich  gelesen  haben,  um  in  ihr 
wesen  eingedrungen  zu  sein',  beide  forderungen  stellt  Hermann  im 
eiugange  seiner  besprechung  der  griechischen  gedichte  des  königs 
Ludwig  von  Baiein  auf.^"  was  nun  die  beschäftigung  mit  den  grie- 
chischen dichtem  betrifft,  so  soll  als  erster  und  vornehmster  unter 
ihnen  von  den  schülern  der  Homer  gelesen  werden,  diesen  platz  hat 
ihm  vor  Hermann  bereits  Friedrich  August  Wolf  angewiesen,  der 
ihn  als  das  A  und  das  0  der  griechischen  dichterlectüre  bezeichnet, 
und  der  bei  einer  andern  gelegenheit  sagt:  'in  schola  ex  poetis 
Graecis  prope  unus  Homerus.'^'  so  allgemein  aber  auch  seit  Wolf 
die  Wertschätzung  des  Homer  als  schulschriftstellers  geworden  war, 
so  beklagt  Hermann  doch,  dasz  dessenungeachtet  noch  recht  viele 
den  wahren  nutzen  der  Homerlectüre  für  die  schule  nicht  recht  ein- 
sähen.''^ ausführlich  begründet  er  daher  in  den  beiden  berühmten 
vorreden  zu  den  Tauchnitz-uusgaben  der  Ilias  und  Odyssee''^,  warum 
ihm  die  lectüre  des  Homer  gerade  für  anfänger  ganz  besonders 
zweckmäszig  erscheint,  seiner  ansieht  nach  eignen  sich  die  Homeri- 
schen gesänge  einmal  vortrefflich  zur  einführung  in  die  dichtei'- 
lectüre,  weil  sie  so  ungemein  leicht  verständlich  sind,  wie  die  be- 
kannten Worte  besagen  ^^ :  'est  Homerus  Graecorum  scriptorum  multo 
et  facillimus  et  difficillimus:  facillimus  delectari  cupientibus  . .  idque 
Homerus  ita  facit,  ut  nee  quae  narrat  obscura  sint,  nee  dictione 
utatur  impedita.'  zum  andern  ist  ihre  Sprechweise  überaus  schlicht 
und  einfach,  wie  wir  das  in  den  opusc.  III  75  ausgesprochen  finden: 
'dicendi  genus  .  ,  quo  utitur,  ita  planum  et  simplex  est,  ut  neque  in 

2ä  dasselbe  urteilt  Ecksteiu  a.  a.  o.  s.  478. 

''0  vgl.  Jahns  jahrb.  f.  philol.  u.  päd.  bd.  14  1830  s.  165. 

■"   Eckstein  a.  a.  o.  s.  459. 

•»2  vgl.  opusc.  III  74. 

*^  abgedruckt  im  dritten  bände  der  opusc. 

*^  opußc.  III  75.     vgl.  auch  opusc.  II   18. 


0.  Fiebiger:  ein  gutachten  Gottfried  Hermanns,  265 

constructione  verborura,  neque  in  sententiis  quidquam  sit,  quod 
morari  lectorem  possit,  nisi  forte  vel  significationes  verborum  quo- 
rundam,  vel  temporum  modorumque  ratio,  vel  vis  particularum.' 
gerade  diese  einfachheit  aber  musz  der  anfänger  sich  anzueignen 
suchen,  weil  sie  allein  nach  Hermanns  vporten''^:  'per  huius  (i.  e. 
Horaeri)  lectionem  simplicitati  illi  adsuescimus,  quae  fundamentum 
est  verae  accurataeque  scientiae'  die  grundlage  für  ein  gründliches 
wissen  bildet,  denn  nichts  ist  verkehrter  als  im  anfang  schrift- 
steiler mit  Schülern  zu  lesen,  die  geschraubt,  dunkel  und  verworren 
schreiben/*  drittens  läszt  sich  die  griechische  spräche  nirgends 
besser  als  am  Homer  studieren,  denn,  um  mit  Hermann  zu  reden  ^^: 
Linguae  Graecae  omnis  ratio  quasi  radices  suas  in  hoc  poeta  habet.' 
und  schlieszlich  ist  eine  genaue  kenntnis  des  Homer  darum  so 
wichtig,  weil  die  übrigen  Schriftsteller  mehr  oder  weniger  aus  dieser 
quelle  geschöpft  haben.  ""^ 

In  welcher  weise  der  lehrer  die  Homerlectüre  einrichten  soll, 
darüber  gibt  Hermann  in  den  opusc.  HI  75  folgende  ausführlichere 
Weisung^':  '(eo  perducendi  sunt  discipuli),  ut  postquam  ex  tribus 
quattuorve  rhapsodiis  formas  verborum  constructionumque  regulas 
a  magistro  acceperint,  deinde  reliqua  ipsi  oblectationis  causa  legere 
possint.  eoque  fine  totus  iis  perlegendus  est  Homerus.'  diese 
Weisung  hat  darum  so  groszen  wert,  weil  Hermann  in  dieser  frage 
ganz  aus  eigenster  erfahrung  spricht,  er  selbst  war  nämlich  von 
seinem  lehrer  Dgen  durch  die  lectüre  von  vier  büchern  der  Hias  in 
das  Studium  des  griechischen  eingeführt  worden  und  hatte  sich  eigen- 
händig eine  grammatik  der  Homerischen  spräche  zusammenstellen 
müssen.^"  und  ebenso  hatte  er  an  sich  die  Wahrnehmung  gemacht, 
wie  nutzbringend  das  fortgesetzte,  vollständige  lesen  des  Homer  sei. 
denn  bei  Jahn^'  lesen  wir,  dasz  er  von  sich  glaubte,  'die  Ilias  mit 
ausnähme  des  katalogs  und  einzelner  gleichgültiger  stellen ,  wo  er 
sich  in  den  formein  irren  könne ,  aus  dem  gedächtnis  herstellen  zu 
können',  allerdings  hat  er  seinen  Homer  auch  gründlichst  gelesen, 
denn  opusc.  HI  81  erzählt  er:  'aliquando  Hiadem  quater  aut  quin- 
quies  inter  paucos  dies  perlegi,  ut  nunc  rerum,  nunc  orationis,  nunc 
numerorum,  nunc  poetarum  ingenii  totiusque  carminum  coloris 
diversitates  adnotarem.'  mit  recht  lautet  darum  sein  urteiP*:  'si 
Homeri  .  .  multa  aceurataque  lectione  in  schola  exercerentur  pueri, 
firmum  et  solidum  nanciscerentur  scientiae  fundamentum.' 


*^  opusc.  III  77. 
«  opusc.  III  77  f. 

^'   vgl.   opusc.    III  77.      dieselbe    ansieht    vertritt  Hermann    in   den 
opusc.  I  309  nnd  II  18. 
^«  opusc.  III  77. 

*^  das  nämliche  wird  opusc.  III  80  empfohlen. 
5°  vgl.  Jahn  a.  a.  o.  s.  5. 
^'  a.  a.  0,  s.  15. 
^2  praef.  edit.  sec.  Philoct.  s.  XIX. 


266  0.  Fiebiger:  ein  gutachten  Gottfried  Hermanns. 

Auf  den  fürstenschulen^'  ist  die  Homerlectüre  übrigens  ganz 
im  sinne  Hermanns  gepflegt  worden,  denn  Rössler^*  bemerkt  aus- 
drücklich in  seiner  schulgeschichte  von  Grimma:  'dasz  jeder  den 
Homer  ganz  durchnahm,  war  selbstverständlich.'  nur  in  einem 
punkte  stimmen  die  schulmänner  der  gegenwart  nicht  mit  Her- 
manns ansichten  überein.  denn  während  letzterer  fordert,  dasz  das 
Studium  der  griechischen  spräche  mit  dem  Homer  begonnen  werde, 
sind  die  ersteren  der  meinung,  dasz  es  zweckmäszig  sei,  wenn  der 
Schüler  im  an  fang  das  attische  an  dem  einfachen  Xenophon  lerne, 
um  dann  bei  gröszerer  reife  die  Schönheiten  Homerischer  spräche 
und  dichtung  mit  wirklichem  genusz  zu  verstehen.  ^^ 

Auch  für  das  griechische  verlangt  Hermann,  dasz  versübungen 
mit  den  schülern  angestellt  werden,  sie  gelten  ihm  deshalb  für 
weniger  schwierig  als  griechische  stilübungen,  weil  die  poesie^^ 
'durch  das  versmasz,  durch  dialekt,  durch  gewisse  jeder  gattung 
eigne  formen  der  wörter,  der  redensarten,  der  Wortstellungen,  der 
gedankenverbindung  weit  festere  und  engere  schranken  hat',  und 
erleichtern  überdies  das  Verständnis  der  auszerordentlich  manig- 
faltigen  und  reich  gegliederten  griechischen  versformen  sehr,  von 
den  Engländern  kann  Hermann  das  nicht  genug  rühmen"'',  dasz  sie 
sich  so  viel  in  griechischen  versen  versuchen,  und  er  fordert  die 
Deutschen  in  dieser  hinsieht  zur  nachahmung  auf.  aber  so  leicht 
es  einem  Hermann  geworden  sein  mag,  griechische  verse  zu  liefern, 
wie  uns  unter  anderem  seine  musterhafte  Übertragung  einzelner 
scenen  des  Wallenstein  ins  griechische  beweist'®,  für  die  schüler 
boten  freie  griechische  versübungen  doch  grosze  Schwierigkeiten, 
an  den  fürstenschulen  sind  daher  freie  griechische  verse  nur  in  prima 
gemacht  worden''',  und  in  unsern  tagen  haben  derartige  schwere 
Übungen  gleich  ganz  aufgehört.  '^'^ 

Im  letzten  abschnitte  seines  gutachtens  führt  Hermann  aus, 
in  welcher  weise  die  alten  Schrift  steller  auf  der  schule  am  zweck- 
mäszigsten  gelesen  und  erklärt  werden,  in  den  Schulstunden  soll 
ausschlieszlich  die  sogenannte  statarische  lectüre  zur  anwendung 
kommen,  d.  h.  der  lehrer  soll  das  zu  behandelnde  Schriftwerk  so- 
wohl in  sprachlicher  wie  in  sachlicher  hinsieht  in  der  schule  sorg- 
fältig durchnehmen,  da  die  schüler  ohne  diese  anleitung,  im  anfang 
wenigstens,  schwerlich  im  stände  sein  dürften,  einerseits  die  eigen- 
art  der  fremden  spräche  zu  begreifen  und  anderseits  genau  auf  den 
inhalt  und  gedankengang  des  zu  lesenden  Schriftstellers  zu  achten. 

^3  über  den  betrieb  der  Homerlectüre  an  der  Thomasschule  im  Jahre 
1819  liegt  uns  ein  bericht  nicht  vor. 
"  a.  a.  o.  s.  242. 
*ä  vgl.  Eckstein  a.  a.  o.  s.  .369  fif. 
56  Jahns  Jahrb.  f.  phil.  u.  päd.  bd.  14  1830  s.  165. 
5'  Jahns  Jahrb.  f.  philol.  u.  päd.  bd.  14  1830  s.  164. 
58  Köchly  a.  a.  o.  s.  197  f. 
''  Rössler  a.  a.  o.  s.  194. 
60  Eckstein  a.  a.  o.  s,  488. 


0.  Fiebiger:  ein  gutachten  Gottfried  Hermanns.  267 

eine  richtige,  dem  bedürfnis  angepasste  behandlung  der  alten  Schrift- 
steller ist  freilich  keineswegs  leicht.  Hernoann  verlangt  von  ihr®': 
dasz  sie  'überall  das  notwendige  gibt  und  weder  durch  unnötiges 
und  ungehöriges  vom  vorliegenden  gegenstände  abführt,  noch  das, 
was  misverständnissen  ausgesetzt  ist,  unberührt  läszt' ;  und  weiter 
heiszt  es  in  der  bekannten  abhandlung  de  officio  interpretis®':  'per 
se  planum  est,  imperfectam  esse  interpretationem,  cui  desit  aliquid 
eorum,  quibus  opus  est.  opus  est  autem  iis,  quae  eum,  cui  quid  ex- 
plicatur,  vel  nescii-e  scias,  vel  non  sponte  intellecturum  credas,  vel 
aliter  quam  debeat  accepturum  suspiceris.'  es  sind  das  die  näm- 
lichen grundsätze,  die  lange  vor  Hermann  bereits  Johannes  Sturm 
aufgestellt  hat,  wenn  er  sagt®^:  *ita  properandum,  ut  necessaria  non 
praetereantur,  ita  commorandum,  ut  nihil  nisi  necessarium  exer- 
ceatur.'  zu  einer  erschöpfenden  schriftstellererklärung  gehört  nach 
Hermann,  dasz  nicht  nur  grammatische  fragen  erörtert  werden,  son- 
dern dasz  sich  damit  sowohl  eine  eingehende  besprechung  der  vor- 
kommenden antiquarischen  merkwürdigkeiten,  wie  eine  verständige 
ästhetische  betrachtung  des  gelesenen  verbindet,  darum  sollen  diese 
antiquarisch-ästhetischen  excurse  auch  wenn  irgend  möglich  gleich 
unmittelbar  im  altsprachlichen  Unterricht  angestellt  und  nicht  erst 
für  die  einschlägigen  anderweitigen  unteri'ichtsstunden  aufgespart 
werden,  in  unsern  tagen  wäre  dazu  überhaupt  keine  möglichkeit. 
aber  zu  anfang  dieses  Jahrhunderts  waren  an  den  höheren  schulen 
für  griechische  und  römische  antiquitäten,  für  archäologie,  mytho- 
logie  und  philosophie  in  der  regel  besondere  lehrstunden  angesezt/* 
dasz  Hermann  auf  eine  sorgfältige  berücksichtigung  der  realien,  wie 
auf  die  Würdigung  der  ästhetischen  Schönheiten  im  gedankenausdruck 
bei  der  altclassischen  lectüre  so  viel  gewicht  legt,  ist  ein  groszer 
fortschritt  im  vergleich  zu  der  anschauungsweise  früherer  zeiten ,  in 
denen  die  erklärung  der  alten  Schriftsteller  fast  ausschlieszlich  im 
abfragen  von  formen  und  durchsprechen  und  ableiten  grammatischer 
regeln  bestand,  die  wichtige  forderung,  sich  bei  der  schriftsteller- 
interpretation  nicht  mit  bloszer  worterklärung  zu  begnügen,  ist  an 
der  Meiszner  fürstenschule  übrigens  bereits  1812  erhoben  worden, 
denn  die  damals  erneuerte  Schulordnung  enthält  unter  anderem  die 
bestimmung,  dasz  künftig  die  wortexegese  eingeschränkt  werden 
solle  und  die  realien  dafür  in  den  Vordergrund  treten  möchten.®^  da- 
gegen scheint  1819  an  der  Thomasschule  im  wesentlichen  noch  die 
alte  praxis  befolgt  worden  zu  sein,  denn  in  dem  berichte  des  lehrers 
Voigtländer  heiszt  es:  'bei  der  erklärung  der  schriftsteiler  war  mein 
erstes  bestreben,  jedes  wort,  das  erklärungsfähig  war,  .  .  entweder 
nach  der  Ordnung  der  Wörter  im  texte  oder  nach  der  construction, 

6»  Wiener  jahrb.  bd.  124  1848  s.  228. 

"^  abgedruckt  in  den  opusc.  VII  101. 

"  bei  Eckstein  a.  a.  o.  s.  300. 

«<  Flathe  a.  a.  o.  s.  330;  Rössler  a.  a.  o.  s.  193. 

•■■5  Flathe  a.  a.  o.  s.  327  und  338. 


268  0.  Fiebiger:  ein  gutachten  Gottfried  Hermauns. 

die  allemal  vorhergieng,  .  .  zu  erklären,  d.  h.  teils  nach  der  etymo- 
logischen form,  teils  nach  seiner  bedeutung,  und  zwar  zuerst  nach 
seiner  eigentlichen,  woraus  dann  die  für  die  jedesmalige  stelle 
passende  aufgesucht  wurde,  zu  fragen,  dann  die  vorkommenden 
gegenstände  aus  mythologie,  geschichte,  antiquitäten  kürzlich ,  da 
grammatik  immer  das  vorzüglichste  ist,  zu  berühren  und  nun  die 
Übersetzung  so  weit  als  möglich  wörtlich  folgen  zu  lassen  .  .  .  end- 
lich wurden  auch  Schönheiten  im  ausdruck,  gedanken  und  der- 
gleichen nicht  ganz  übergangen.' 

Auszer  dem  statarischen  lesen  in  der  schule  sollen  aber  die 
Schüler  zu  hause  zu  eifriger  cursorischer  privatlectüre  angehalten 
werden,  so  war  es  auch  an  den  fürstenschulen  brauch,  denn  Flathe*^ 
wie  Rössler"  berichten  übereinstimmend,  dasz  in  der  regel  zu- 
nächst einige  abschnitte  eines  Schriftstellers  in  der  schule  genau  ge- 
lesen und  erklärt  wurden,  worauf  dann  die  schüler  das  übrige  zu 
hause  cursorisch  lasen,  wenn  Hermann  anderwärts  in  seinen  Vor- 
lesungen über  encyclopädie*^  empfiehlt,  einen  Schriftsteller  das  erste 
mal  möglichst  cursorisch  zu  lesen,  um  so  von  dem  ganzen  eine 
Vorstellung  zu  bekommen,  oder  wenn  er  in  der  epitome  doctrinaa 
metricae*^  sagt:  ^ita  debemus  accuratam  illam  lectionem  a  cursoria, 
quam  vocant,  disiungere,  ut  a  cursoria  illa  et  incipiendum  et  in  ea 
finiendum  esse  meminerimus.  nam  incipiendum  ab  ea  est,  ut  men- 
tem  prius  ingeniumque  scriptoris  cognoscamus,  quam  de  singulis 
eins  locis  dictisve  iudicemus,  et  finiendum  in  ea,  quia  operosiore  illa 
et  accuratiore  lectione  hoc  ipsum  consequi  studemus,  ut  sine  difficul- 
tate  legere  scriptorem  possimus',  so  kommen  diese  Vorschriften  ledig- 
lich für  die  Universität,  nicht  aber  für  die  schule  in  betracht.  denn 
für  den  schüler  ist  ein  erstmaliges  orientierendes  cursorisches  lesen 
darum  nicht  notwendig,  weil  seine  lectüre  vom  lehrer,  der  selbst- 
verständlich eine  genauere  bekanntschaft  mit  dem  zu  lesenden  Schrift- 
steller besitzen  musz,  überwacht  und  geleitet  wird. 

Damit  bin  ich  mit  meiner  besprechung  des  Hermannschen  gut- 
achtens  zu  ende,  es  enthält,  wie  wir  gesehen  haben,  eine  fülle  von 
gedanken,  die  in  Hermanns  Schriften  entweder  in  ähnlicher  form 
wiederkehren  oder  durch  sie  treffend  erläutert  werden;  und  wir 
müsten  Hermann  sicherlich  auch  dann  für  den  Verfasser  jenes  eigen- 
artigen Schriftstückes  halten,  selbst  wenn  uns  jene  auf  s.  257  be- 
sprochene randbemerkung  nicht  zu  hilfe  käme,  die  Hermanns  autor- 
schaft  auszer  frage  stellt. 

Ich  lasse  nun  Hermanns  gutachten  selbst  folgen. 


ß«  a.  a.  o.  s.  327. 

6'  a.  a.  0.  s.  24 1. 

**  bei  Ameis  a.  a.  o.  s.  35. 

6»  edit.  a]t.  1844  s.  VIII  f. 


0.  Fiebiger:  ein  gutachten  Gottfried  Hermanns.  269 


TJber  den  lateinischen  und  griechischen  Sprachunterricht 
insbesondere. 

Was  nun  die  erlernung  der  lateinischen  und  griechischen  spräche 
anlangt,  so  wird  in  den  beiden  untern  classen,  wo  blosz  das  mecha- 
nische der  spräche  und  grammatische  festigkeit  erworben  werden 
soll,  auf  den  geist  aber  noch  gar  keine  rücksicht  genommen  werden 
kann,  natürlich  mehr  arbeit  des  lehrers  erfordert,  da  hier,  was  dem 
Schüler  aufgegeben  wird ,  fast  blosz  in  auswendiglernen  und  über- 
setzen, und  höchstens  auch  in  einigen  kleinen  versuchen  zu  aufsätzen 
bestehen  kann:  so  ist  das  durchsehen  und  corrigieren  solcher  arbeiten 
unvermeidlich;  aber  eben  deshalb  erfordern  diese  classen  am  meisten 
die  beihilfe  von  collaboratoren.  es  läszt  sich  jedoch  auch  hier  die 
Sache  für  den  lehrer  weniger  mühsam  und  für  den  schüler  mit  über- 
wiegendem vorteil  einrichten,  wenn  die  aufsätze  nicht  zu  hause  cor- 
rigiert  und  dem  schüler  zurückgegeben,  sondern  in  besonderen 
corrigierstunden  vor  der  ganzen  classe  und  mit  aufrufung  einzelner 
schüler  zur  anzeige  und  berichtigung  der  fehler  durchgegangen 
werden. 

In  den  beiden  obern  classen,  bei  denen  die  festigkeit  in  der 
grammatik  als  schon  erworben  anzusehen  ist,  kommt  es  nun  auf  die- 
jenige behandlung  der  sprachen  an,  wodurch  man  in  ihren  geist  ein- 
geführt werden  soll,  hierzu  gibt  es  schlechterdings  nur  einen  ein- 
zigen weg,  und  dieser  besteht  in  dem  zvveckmäszig  angeordneten 
selbstlesen  nicht  vieler,  sondern  einiger  wenigen  classiker,  und 
dieser  nicht  abwechselnd  noch  stückweis,  sondei-n  nur  eines  ein- 
zigen auf  einmal,  welcher  anhaltend  zwar  mit  aufmerksamkeit,  aber 
cursorisch,  dagegen,  um  die  etwaigen  nachteile  des  cursorischen 
lesens  zu  vermeiden ,  nach  befinden  wohl  auch  wiederholt  zu  lesen 
ist.  durch  ein  solches  lesen  wird  man  mit  einem  Schriftsteller  all- 
mählich, ohne  zu  wissen  wie,  vertraut;  das  gemüt  wird  mit  ihm  be- 
freundet und  durch  ihn  erwärmt;  durch  dieses  belebte  gefühl  prägt 
sich  ihm  das  eigentümliche  und  charakteristische  desselben  immer 
tiefer  ein;  und  indem  das  fortgesetzte  und  wiederholte  lesen  das  ge- 
schäft  immer  leichter  und  angenehmer  macht,  entsteht  von  selbst 
und  unvermerkt  ein  typus  in  der  seele,  der  eben  so  fester  und 
sichei-er  ist,  je  weniger  er  sich  in  deutliche  begriffe  auflösen  läszt. 
ist  erst  ein  solcher  typus  entstanden,  so  hat  er  von  selbst  auf  das, 
was  man  spricht  oder  schreibt,  einen  unwillkürlichen  einflusz;  man 
ahmt  nicht  mehr  nach,  sondern  man  hat  sich  das  in  tausend  kleinen 
Zügen  bestehende  wesen  des  alten  angeeignet;  man  drückt  es,  ohne 
zu  wissen  oder  zu  wollen,  in  dem  was  man  selbst  macht,  wieder  aus; 
und  selbst  das,  was  bei  den  alten  nicht  vorkommt,  weisz  man  auf 
die  art  zu  denken  und  darzustellen,  wie  er  es  gedacht  und  dar- 
gestellt haben  würde,  ein  solches  allmählich  eingeprägtes  bild  eines 
einzigen  Schriftstellers  ist  der  erste  wahre  schritt,  den  geist  des 
altertums  zu  erkennen,    indem  dann  wieder  ein  anderer  Schriftsteller 


270  0.  Fiebiger:  ein  gutachten  Gottfried  Hermanns. 

ebenso  gelesen  wird ,  tritt  nun  auch  dieser  in  seiner  individualität 
lebhaft  hervor;  und  wenn  so  mehrere  nach  und  nach  gelesen  und 
aufgefaszt  werden,  entsteht  ein  richtiges  gefühl  sowohl  dessen,  was 
den  allgemeinen  Charakter  des  classischen  altertums  ausmacht,  als 
der  besonderen  Verschiedenheiten  desselben,  hieraus  geht  eine  rich- 
tige beurteilung  dessen  hervor,  was  an  jedem  ort  und  zu  jedem  tone 
gehört,  und  eine  gewandtheit,  überall  das  rechte  zu  treffen;  und  so 
bildet  sich  das,  was  man  stil  nennt,  eine  der  sache  angemessene, 
klare,  in  sich  selbst  harmonische  darstellungsart,  die  ganz  von  dem 
verschieden  ist,  was  man  gewöhnlich  zu  sehen  bekommt,  von  der 
undeutlichen,  verworrenen,  bunten  und  abgeschmackten  zusammen- 
raffung alter  und  neuer,  poetischer  und  prosaischer  phrasen,  die, 
wie  antik  immer  jede  einzelne  für  sich ,  doch  zusammen  nur  etwas 
widersinniges,  geschmackloses  und  allem  antiken  Charakter  gänzlich 
widerstreitendes  geben. 

In  der  ersten  hälfte  der  periode  nun,  wo  der  schüler  mit  dem 
geist  der  alten  vertraut  werden  soll,  sind  stilübungen  eher  nach- 
teilig als  nützlich,  indem  nicht  eher  eine  nachbildung  möglich  ist, 
als  bis  das  urbild  richtig  aufgefaszt  ist,  und  mithin  jeder  versuch 
etwas  nachzubilden  nicht  blosz  verunglücken  musz,  sondern  durch 
die  Überlegung,  die  er  erfordert,  die  aufmerksamkeit  gewöhnlich 
auf  auszerordentliche  dinge  leitet,  wodurch  selbst  die  richtige  auf- 
fassung  des  Urbildes  erschwert,  gehindert  und  auf  eine  art  begonnen 
wird,  die,  von  einer  schiefen  ansieht  ausgehend,  den  wahren  ge- 
sichtspunkt  oft  auf  immer  verrückt,  es  sollten  daher  wohl  in  der 
zweiten  classe,  als  welche  eigentlich  die  erste  hälfte  dieser  periode 
umfaszt,  schriftliche  stilübungen  gänzlich  ausgesetzt  bleiben,  desto 
mehr  aber  auf  privatlesen  guter  zur  bildung  des  stils  geeigneter 
Prosaiker  gedrungen  werden. 

Allein,  da  es  nicht  ratsam  sein  würde,  die  vorher  erworbene 
fähigkeit  sich  grammatisch  richtig  auszudrücken,  ungeübt  ruhen  zu 
lassen,  und  nicht  vielmehr  zu  den  späterhin  vorzunehmenden  stil- 
übungen gewissermaszen  vorzubereiten:  so  dürfte  hier  das  zweck- 
mäszigste  sein,  einzelne  deutsch  übersetzte  perioden  aus  guten  clas- 
sikern  zu  dictieren  und  diese  in  den  lehrstunden  selbst  ins  latei- 
nische übertragen  zu  lassen ,  wobei  dann  jedesmal  das  original  als 
muster  verglichen  und  die  schüler  auf  die  gründe,  warum  etwas  so 
oder  anders  ausgedrückt  worden,  aufmerksam  gemacht  würden. 

Nicht  minder  können  zu  eben  diesem  behufe  poetische  themata 
in  Versen  von  leichterer  art  aufgegeben  werden,  die,  wie  sie  auch 
anfangs  ausfallen  mögen,  doch  nicht  nur  als  eine  ganz  verschiedene 
gattung  von  Schreibart,  dem  prosaischen  stil  wenig  abbruch  thun, 
sondern  auch  einerseits  durch  die  auf  das  metrum  und  die  prosodie 
zu  wendende  aufmerksamkeit  zu  erlernung  dieser  sehr  notwendigen 
kenntnisse  dienen,  anderseits  für  eigentliche  poetische  Übungen 
gerade  solche  Vorübungen  sind,  wie  die  grammatikalischen  Übungen 
der  unteren  classen  für  die  eigentlichen  stilübungen. 


0.  Fiebiger:  ein  gutachten  Gottfried  Hermanns.  271 

Die  eigentlichen  stilübungen  nun  gehören  nach  diesen  ansichten 
für  die  erste  classe,  nachdem  sich  der  schüler  in  secunda  durch 
fleisziges  und  zweckmäsziges  privatlesen  dazu  geschickt  gemacht 
hat.  indessen  musz  auch  in  dieser  classe  dieses  privatlesen  stets 
fortgesetzt  werden,  bei  den  schriftlichen  stilübungen  aber  würde 
sehr  darauf  zu  sehen  sein,  dasz  der  lehrer,  der  solche  ausarbeitungen 
notwendig  zu  hause  durchsehen  müste,  nicht  auf  einmal  zu  viele 
aufsätze  zu  corrigieren  hätte,  er  würde  daher  wöchentlich  nur  eine 
gewisse  anzahl  zu  erhalten  und ,  nachdem  er  dieselben  corrigiert 
hätte,  sie  ebenso,  wie  oben  bei  den  grammatikalischen  Übungen  der 
untern  classe  bemerkt  worden,  in  besonderen  stunden  mit  bemerk- 
lichmachung  des  fehlerhaften  durchzugehen  haben,  die  poetischen 
Übungen  sind  zwar  von  allen  schülern  ohne  ausnähme  zu  verlangen; 
aber  zu  eigentlichen  poetischen  arbeiten  dürften  nur  diejenigen, 
welche  anlagen  zur  poesie  haben,  nach  vorhergegangenem  fleiszigen 
lesen  der  dichter,  vorzüglich  anzuhalten  sein. 

Ähnlich,  obwohl  mit  einiger  Verschiedenheit,  verhält  es  sich 
mit  der  griechischen  spräche,  da  hier  die  Übung  im  schreiben  nichts 
wesentliches,  sondern  nur  ein  hilfsmittel  zu  schnellerem  und  tieferem 
eindringen  in  das  wesen  der  spräche  ist,  so  kann  in  den  obern  classen, 
wo  die  schüler  mit  dem  geiste  des  altertums  bekannt  werden  sollen, 
die  bei  der  lateinischen  spräche  erforderliche  behandlungsart  nicht 
mehr  als  richtschnur  dienen,  die  lateinische  spräche  ist  ihrer  natur 
nach  eine  prosaische  spräche,  und  ihr  charakter  würde  daher  aus  der 
prosa  zu  schöpfen  sein,  auch  wenn  sie  nicht  zum  behuf  des  Sprechens 
und  prosaischen  Schreibens  erlernt  würde,  die  griechische  spräche 
hingegen  ist  ursprünglich  von  der  poesie  ausgegangen,  und  durch 
diese  gestaltet  worden;  ihre  prosa  ist  nur  die  zur  höchsten  Voll- 
kommenheit gereifte  frucht  langer  und  manigfaltiger  ausbildung 
und  eben  deshalb  mit  unendlichen  Schwierigkeiten  verbunden,  wenn 
daher  die  griechische  spräche  so  erlernt  werden  soll,  dasz  man  in 
ihr  wesen  und  ihren  geist  eindringe,  so  musz,  wie  überwiegend  auch 
der  nutzen  ihrer  prosa  für  die  Wissenschaften  ist,  doch  mit  dem  der 
anfang  gemacht  werden,  wo  bei  den  wenigsten  Schwierigkeiten  der 
griechische  geist  am  bestimmtesten  und  lebendigsten  erscheint, 
dieser  geist  nun,  dessen  wesen  in  der  naturgemäszesten  einfachheit 
und  edelsten  Ungezwungenheit  besteht,  und  der  zugleich,  da  die 
Römer  nur  nachahmer  der  Griechen  sind,  der  geist  des  ganzen 
classischen  altertums  ist,  kann  nirgends  mit  dieser  klarheit  und 
leichtigkeit  aufgefaszt  und  ergriffen  werden,  als  in  dem  Homer,  den 
die  Griechen  selbst  als  ihr  ideal  anerkennen  und  von  dessen  lesen 
alle  bildung  bei  ihnen  ausgieng.  es  ist  hier  nicht  der  ort,  die  gründe 
für  diese  behauptung  ausführlicher  zu  entwickeln ;  ausgemacht  aber 
ist  es,  dasz  ein  mit  dem  Homer  begonnenes  Studium  der  griechischen 
Sprache  für  die  richtige  auffassung  des  wesens  und  geistes  des  ge- 
samten altertums  ebenso  entschiedenen  und  in  dem  ganzen  leben 
fortwirkenden  nutzen  habe,  als  das  gegenteil  grosze  und  nie  ganz 


272  0.  Fiebiger :  ein  gutachten  Gottfried  Hermanns. 

zu  verwischende  nachteile  hat.  es  ist  demnach  höchst  wichtig,  dasz 
in  secunda  anleitung  zum  lesen  des  Homer  gegeben,  der  dichter 
selbst  aber  privatim  von  den  schillern  ganz  durchgelesen  und  dies 
als  unnachläszliche  notwendigkeit  angesehen  werde. 

Auch  das  bekanntmachen  der  schüler  mit  der  hellenischen 
spräche  dürfte  eben  nicht  von  nutzen  sein,  dafür  wären  Übungen 
in  griechischen  versen  anzusetzen,  eine  sache  die  leichter  ist  als 
griechische  prosa  und  zu  erlernung  der  von  so  vielerlei  regeln  und 
feinheiten  abhängigen  prosodie  ungemein  viel  beiträgt. 

Es  dürfte  wohl  nicht  geraten  sein ,  classische  autoren  in  den 
lehrstunden  cursorisch  zu  behandeln,  teils  ist  schon  an  sich  nicht 
klar,  wie  eine  cursorische  behandlung  dazu  beitragen  soll,  den  reich- 
tum  und  genius  der  spräche  besser  kennen  zu  lernen,  da  hierzu 
gerade  das  gegenteil  erfordert  wird,  nämlich  ein  längeres  verweilen 
bei  dem,  was  man,  wenn  man  blosz  auf  das  verstehen  des  sinnes  im 
ganzen  sieht,  übergehen  würde;  teils  würde  ein  cursorisches  lesen 
durch  hier  und  da  eingestreute,  meistens  rhetorische  und  ästhetische 
bemerkungen,  auf  keinen  fall  zur  beförderung  gründlicher  kenntnisse 
und  richtiger  bestimmter  ansichten  dienen,  vielmehr  ist  nach  reif- 
lichem erachten  alles  cursorische  lesen  lediglich  dem  privatfleisze  zu- 
zumuten, von  den  lehrstunden  aber  gänzlich  auszuschlieszen.  denn 
nicht  nur,  dasz  die  gründliche  grammatische  und  antiquarische  be- 
handlung stets  fortgesetzt  werden  musz,  so  ist  sie  auch  gerade  das,  was 
der  schüler  für  sich  selbst  nicht  erreichen  kann,  sondern  wozu  er  not- 
wendig des  lehrers  bedarf;  nicht  minder  erfordert  die  rhetorische 
und  ästhetische  beurteilung  eines  Schriftstellers  oder  einzelner  stücke 
desselben ,  wenn  sie  nicht  in  leere  ausrufungen  oder  seichte  andeu- 
tungen  ausarten  soll,  ebenso  gut,  wie  das  grammatische  und  anti- 
quarische, eine  genaue,  klare  und  ausführliche  auseinandersetzung. 

Es  können  auch  nicht  immer  die  Sacherklärungen  füglich  bei 
Seite  gesetzt  und  auf  den  dahin  einschlagenden  anderweitigen  Unter- 
richt verwiesen  werden,  und  nur  insofern,  als  jener  anderweitige 
unterriebt  für  den  einzelnen  fall  hinreichend  sein  würde ,  was  oft 
nicht  der  fall  ist,  indem  viele  Sacherklärungen  ein  tieferes  eingehen 
in  das  einzelne  notwendig  machen,  als  in  dem  anderweiten  all- 
gemeinen Unterricht  verlangt  werden  kann. 

Dagegen  dürfte  das  privatlesen ,  welches  seinem  oben  an- 
gegebenen zwecke  nach  cursorisch  sein  musz,  zu  befördern,  zu  leiten 
und  unter  gehöriger  aufsieht  zu  erhalten,  es  sehr  zweckmässig  sein, 
dasz  teils  in  besonderen  stunden  die  schüler  über  das,  was  sie  ge- 
lesen, examiniert,  teils  ihnen  das  befragen  des  lehrers  über  das,  was 
sie  nicht  verstanden,  zur  pflicht  gemacht  würde,  eine  pflicht,  deren 
erfüUung  zu  bewirken,  eben  jene  esamina  ein  sehr  gutes  mittel  zu 
sein  scheinen. 

Dresden.  Otto  Fiebiger. 


A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker.  273 

(16). 

QUINTILIAN     ALS     DIDAKTIKER    UND    SEIN    EINFLÜSZ 

AUF    DIE    DIDAKTISCH- PÄDAGOGISCHE    THEORIE    DES 

HUMANISMUS. 

(Fortsetzung.) 


Zweiter  abschnitt. 

Die  wiederauffindung  der  vollständigen  institutio  oratoria 
und  ihre  bedeutung. 

1.  Quintilians  institutio  oratoria  war  i  m  mittelalter  nicht 
ganz  unbekannt,  in  den  karolingischen  zeiten  bemüht  sich  Ser- 
vatus  Lupus,  der  abt  von  Ferriöres,  ein  exemplar  zu  erhalten.^®' 
schon  bei  ihm  erscheint,  wie  später  bei  Petrarca,  das  interesse  für 
Quintilian  in  Verbindung  mit  einer  ausgesprochenen  Vorliebe  für 
Cicero,  auch  Wibald  von  Stablo  hat  die  institutionen  gekannt 
und  als  lehrmittel  der  rhetorik  geschätzt,  ebenso  Petrus  von 
Blois.^*^  aber  in  Italien  scheinen  sie  lange  wie  verschollen  ge- 
wesen zu  sein.  Petrarca  erhielt  von  Lapo  da  Castiglionchio  eine 
handschrift  der  institutionen  zum  geschenk.^^^  er  hatte  vorher  schon 
die  unter  Quintilians  namen  erhaltenen  declamationen  kennen  ge- 
lernt ^^*,  ihnen  aber  wenig  geschmack  abgewinnen  können,  um  so 
gröszer  war  jetzt  seine  freude.  in  seinem  'Orkusbrief'  vom  7  december 
1350  faszt  er  sie  in  die  worte:  olim  tuum  nomen  audieram  et  de  tue 
aliquid  legeram,  et  mirabar  unde  tibi  nomen  acuminis.  sero  in- 
genium  tuum  novi:  oratoriarum  institu tionum  liber  heu! 
discerptus  et  lacer  venit  ad  manus  meas  .  .  .  diu  tuis  in  rebus 
erravei-am :  errori  finem  advenisse  gratulor.  vidi  formosi  corporis 
artus  effusos;  admiratio  animum  dolorque  concussit.  et  fortasse 
nunc  apud  aliquem  totus  es,  et  apud  talem  forsitan,  qui  suum  hos- 


*^'  Beati  Servati  Lupi  opera  ed.  Balurius.  edit.  II.  Antwerp. 
1710.  epist.  1.  8.  62.  103.  Voigt^  a.  a.  o.  II  331  f.,  dem  ich  auch  das 
vorstehende  citat  entnehme,  beiläufig  sei  hier  bemerkt,  dasz  auch 
Hieronymus  in  seinem  brief  de  institutione  filiae  (epistula  107  ad 
Laetam)  Quintilian  sehr  ausgiebig  benutzt  hat  (eine  Übersetzung 
des  briefes  gibt  C.  Ernesti  in  der  Sammlung  der  bedeutendsten  päd. 
sehr.  bd.  III,  Paderborn  1889). 

"2  Voigts  I  238,  der  hinweist  auf  Wibaldi  epist.  167  ed.  Jaffe  monum. 
Corbei.  s.  284.     Ciceronis  opp.  rec.  Orelli,  edit.  alt.  vol.  111  s.  VIII. 

263  Pierre  de  Nolhac.  Petrarque  et  l'humanisme.  Paris  1892  (biblio- 
th^que  de  Tecole  des  iiautes  e'tudes.  sciences  philologiques  et  histori- 
ques.  fascicule  91)  s.  281—90,  dem  ich  auch  die  folgenden  auf  Petrarca 
bezüglichen  angaben  entnehme. 

*^*  dasz  Petrarca  in  den  anfangsworten  des  briefes  auf  die  decla- 
mationen anspielt  und  nicht  auf  den  geistvollen  dialog  de  causis 
corruptae  eloquentiae,  der  ja  ebenfalls  bisweilen  dem  Quintilian  zu- 
geschrieben wurde,  hat  Nolhac  (s.  282)  wenigstens  sehr  wahrscheinlich 
gemacht. 

N.  Jahrb.  f.  phil.  u.  päd.  11,  abt.  1897  hft.  6.  18 


274  A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

pitem  habet  incognitum!  quisquis  in  te  reperiendo  fortunatior 
fuerit,  sciat  se  rem  magni  pretii  possidere  quamque  si  noverit  primas 
inter  divitias  locet  .  .  .  opto  te  incolumem  videre  et,  sicubi  totus 
es,  oro  ne  diutius  me  lateas. 

In  dem  briefe  spricht  die  erste  begeisterung  über  den  ge- 
winn eines  solchen  Schatzes,  der  um  so  wertvoller  erscheinen  muste, 
als  Petrarca  die  wichtigsten  rhetorischen  Schriften  Ciceros  (de  ora- 
tore,  Brutus,  orator)  nicht  besasz,*^^ 

Hatte  ja  doch  auch  der  majestätische  klang  und  der  süsze  Wohl- 
laut der  Tullianischen  rede  ihn  schon  als  knaben  berauscht,  seine  Ver- 
götterung Ciceros  war  seitdem  durch  alles  gewachsen ,  was  er  von 
ihm  oder  über  ihn  las.  jetzt  lernte  er  auch  Quintilian  als  Verehrer 
des  meisters  kennen,  muste  er  ihm  darum  nicht  von  vorn  herein 
als  geistesverwandter  und  freund  erscheinen?  er  schreibt  in  seinem 
alter:  nil  mihi  fere  nisi  unus  Cicero  sapiebat,  praecipue  ex  quo 
Quintiliani  institutiones  oratorias  legi."®  schon  daraus 
sehen  wir,  dasz  seine  hochschätzung  Quintilians  von  dauer  war. 
noch  deutlicher  zeigen  dies  die  randbemerkungen  seines  exemplars, 
das  sich  jetzt  in  Paris  befindet.*'''  dieselben  sind  am  zahlreichsten 
in  den  büchern  X — XII,  am  wenigsten  häufig  in  den  büchern  II — V. 
der  verschiedene  Inhalt  läszt  dies  sehr  erklärlich  erscheinen:  dort 
die  geistvollen  ausführungen  über  die  aneignung  vollkommener 
sprachbeherschung  durch  vielseitige  lectüre,  schreib-  und  rede- 
übungen  im  zehnten  buch ,  die  feinsinnigen  bemerkungen  über  den 
decor  oratorius,  die  memoria  und  die  actio  im  elften  und  endlich 
die  darstellung  der  sittlichen  und  wissen>chaftlichen  ausbildung  des 
redners  auf  dem  höhepunkt  der  rednerischen  Vollkommenheit  im 
zwölften,  hier  dagegen  meist  ziemlich  trockene  rhetorisch-technische 
partien,  die  die  grosze  verderbtheit  des  textes  noch  weniger  an- 
ziehend erscheinen  lassen  muste.  die  bemerkungen  selbst  sind  zum 
teil  lediglich  begeisterte  ausrufe,  wie :  graviter,  urbane  et  eleganter, 
magnifica  exhortatio,  apertissima  similitudo,  subsiste  et  vide  usw., 
teils  zeigen  sie,  wie  Petrarca  seine  lectüre  zu  den  damaligen  Verhält- 
nissen in  beziehung  setzte,  zu  I  1,  8  (nihil  enim  peius  est  iis,  qui, 
paulum  aliquid  ultra  primas  literas  progressi,  falsam  sibi  per- 
suasionem  induerunt,  von  Quintilian  in  bezug  auf  die  paedagogi 
gesagt)  bemerkt  er:  notate  hoc,  scholastici  de  nihilo  tumescentes; 
zu  I  2,  6  (dem  scharfen  tadel  der  damaligen,  verweichlichten  kinder- 
erziehung):  notate  nimium  indulgentes  parentes;  zu  X  2,  4  (iraitatio 
per  se  ipsa  non  sufficit,  vel  quia  pigri  est  ingenii  contentura  esse 
iis,  quae  sint  ab  aliis  inventa .  . .):  hinc  illud  quod  est  in  scholastica 
disciplina.  das  wort:  nihil  crescit  sola  imitatione  (X  2,  9)  ist  ihm 
so  aus  dem  herzen  gesprochen ,  dasz  er  es  nochmals  an  den  rand 
schreibt,    und  gelegentlich  der  bemerkung,  dasz  der  wahre  nach- 

**^  sie  kamen  erst  1422  iu  Lodi  zum  vorscbein.  Voigt ^  I  245. 
•"  epist.  rer.  senil.  XVI  1  (opera  omnia.  Basileae  1581)  s.  984. 
*67  gg  igt  ^er  codex  Parisinus  7720,  vgl.  Nolhac  s.  284. 


A,  Messer:  Quintilian  als  didaktiker,  275 

ahmer  auch  über  einen  Demosthenes  hinausgeben  dürfe,  braust  er 
auf:  notate,  asini,  quos  nee  nomine  digner.'^- 

Petrarcas  exemplar,  eine  bandschrift  aus  der  mitte  des  14n  Jahr- 
hunderts, gehört  zu  jener  altern  classe  der  Quintilian-handschriften, 
denen  durch  ausfall  verschiedener  blätterlagen  etwa  zwei  siebente! 
des  textes  fehlen.""^  sie  enthält  I  1,  6  (verum  nee  de  patribus 
tantum  loquor)  —V  14,  12;  VIII  3,  64— VIII  6,  17;  VIII  6,  67 
—  IX  3,  2;  X  1,  107— XI  1,  71;  XI  2,  33- XII  10,  43.  es  fehlten 
also  hauptsächlich  teile,  die  speciell  rhetorisch- technischen  er- 
örterungen  gewidmet  waren,  so  in  der  groszen  lücke  von  V  14,  12 
— VIII  3,  64  der  gröste  teil  des  schluszcapitels  von  buch  V  über 
Enthymem  und  Epicheirem,  das  buch  VI,  welches  die  peroratio,  die 
affecterregung,  die  anwendung  von  scherz  und  witz,  die  gerichtliche 
debatte  und  die  bedeutung  von  urteil  und  Überlegung  (iudicium)  bei 
der  rednerischen  thätigkeit  behandelt,  ferner  buch  VII,  das  mit 
seinen  sehr  ins  einzelne  gehenden  erörterungen  über  die  disposition 
ganz  dem  genus  iudiciale  angehört,  endlich  buch  VIII  bis  fast  an 
das  ende  des  dritten  capitels,  also  von  der  darstellung  der  elocutio 
die  ausführungen  über  latinität  und  deutlichkeit  des  ausdrucks  und 
teilweise  die  über  den  redeschmuek.  dagegen  waren  die  partien,  die 
vorzugsweise  allgemein  didaktischen  ausführungen  gewidmet  sind, 
mit  verhältnismäszig  geringen  lücken  vorhanden,  so  fehlten  z.  b.  im 
ersten  buch  auszer  der  vorrede  nur  die  bemerkungen  über  die  durch- 
schnittlich gute  beanlagung  der  kinder  und  über  die  notwendigkeit 
einer  sorgfältigen  auswahl  der  ammen ,  deren  Sprechweise  auch  zu 
berücksichtigen  sei.  die  kenntnis  des  buches  scheint  jedoch 
wegen  seiner  verderbten  und  unvollständigen  gestalt 
zunächst  nicht  in  weitere  kreise  gedrungen  zu  sein,  ob 
Boceacio  eine  abschrift  besessen  ist  sehr  zweifelhaft.""  dercanzler 
Salutato,  das  haupt  des  Florentiner  humanistenkreises  um  die 
wende  des  Jahrhunderts,  kannte  Quint.  in  seiner  verstümmelten  ge- 
stalt"', seine  hoflfnung  aber,  aus  Frankreich  eine  vollständige  band- 
schrift zu  erhalten,  erwies  sich  als  trügerisch."^  Gasparino  da 
Barzizza,  der  Stifter  der  schule  des  Ciceronianismus,  der  später 
auch  zuerst  mit  einem  lehrbuch  der  rhetorik  hervortrat"',  machte 
sich  daran,  das  fehlende  aus  eigner  erfindung  zu  ergänzen."'' 

^*8  interessant  sind  auch  die  bemerkung^en  über  sich  selbst,  zu 
denen   ihn  die  lectüre  veranlaszt.     eine  anzahl  bei  Nolhac  s.  288  f. 

^^^  diese  handschriftenclasse,  als  deren  archetypus  der  codex 
Bernensis  351  aus  dem  anfang  des  zehnten  Jahrhunderts  gilt,  ist  ver- 
treten durch  den  Ambrosianus  II  (sig^natur  F  111  sup.)  den  codex 
Joannensis,  3  Parisini  (7719.  7720  [die  bandschrift  Petrarcas]  7722)  und 
2  Vossiani  (1  und  3)  in  Leyden.  C.  Halm,  die  textesquellen  der 
rhetorik  des  Q.  sitzg.-ber.  der  Münchner  akademie  1866.  bd.  1  s.  493  S. 
weitere  iitteratur  über  die  handschriften  bei  Teuffei,  gesch.  d.  röm. 
litteratur. 

«'"  Nolhac  s.  281   u.  anm.  2.         "i  ebd.  s.  281. 

"*  Voigt  a.  a.  o.  I  s.  238  und  anm.  3. 

^''^  a.  a.  o.         ^'^  a.  a.  o. 

18* 


276  A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

2.  Aus  dieser  einen  thatsacbe  läszt  sich  schon  schlieszen,  wie 
grosz  die  freude  der  humanisten  sein  mochte,  als  die  ahnung,  die 
Petrarca  in  dem  oben  erwähnten  briefe  ausgesprochen,  sich  buch- 
stäblich als  Wahrheit  erwies,  indem  Poggio  in  der  kloster- 
bibliothek  von  St.  Gallen  in  staub  und  moderein  voll- 
ständiges exemplar  auffand."^  es  geschah  dies  im  winter 
1415  auf  1416."*  o  lucrum  ingens!  schreibt  Lionardo  Bruni  an 
Poggio  auf  die  freudige  künde  hin,  insperatum  gaudium!  ego  te, 
Marce  Fabi,  quando  te  integrum  aspiciam!  et  quantus  tu  mihi  tum 
eris!  quem  ego  quamvis  lacerum  crudeliter  ora 

ora  manusque  ambas  populataque  tempora  raptis 

auribus  et  truncas  inhonesto  vulnere  nares  [Aen.  VI  495  ff.] 

in  deliciis  habebam.  oro  te,  Poggi,  fac  me  quam  cito  huius  desiderii 
compotem,  ut,  si  quid  humanitus  impendeat,  hunc  prius  viderim, 
quam  e  vita  discedam.  Quintilianus,  rhetoricae  pater  et  oratoriae 
magister  eiusmodi  est,  ut  quum  tu  illum  diuturno  ac  ferreo  bar- 
barorum carcere  liberatum  huc  miseris,  omnes  Hetruriae  populi  con- 
currere  gratulatum  debeant.  ^^'  wie  bezeichnend  spricht  sich  hier 
die  damals  herschende  Schwärmerei  für  die  altrömische  litteratur 
aus!  noch  ein  anderer  brief  mag  hier,  wenigstens  teilweise,  eine 
stelle  finden,  der  in  anlehnung  an  Quintilian"*  einen  gedanken  aus- 
führt, der  uns  in  der  folge  immer  und  immer  wieder  in  den  päda- 
gogisch-didaktischen Schriften  der  humanisten  entgegen  tritt,  in 
einem  brief  vom  15  december  1417"®  erzählt  Poggio  dem  Baptista 
Guarino  von  seinem  funde.  darin  heisztes:  nam  quid  est,  per  Deum 
immortalem,  quod  aut  tibi  aut  caeteris  viris  possit  esse  iucundius, 
acceptius,  gratius,  quam  cognitio  earum  rerum,  quarum  commercio 
doctiores  efßcimur  et,  quod  maius  quiddam  videtur,  elegantiores? 
nam  quum  generi  humano  rerum  parens  natura  dederit  intellectum 
ac  rationem ,  tamquam  egregios  duces  ad  bene  beateque  vivendum, 
quibiis  nihil  queat  praestantius  excogitari,  tarnen  haud  scio  an  sit 
omnium  praes  tantissimum ,  quod  ea  nobis  elargita  est  usum 
rationemque  dicendi,  sine  quibus  nee  ratio  ipsa  neque 
intellectus   quidquam  ferme  valerent!    solus  est  enim 


2"  a.  a.  0.  s.  237  f. 

*'ß  Poggio  schrieb  den  codex  in  Constanz,  wohin  er  ihn  mitnehmen 
durfte,  in  53  tagen  mit  eigner  band  ab,  und  zwar  wie  er  selbst  in  seiner 
handschrift  bemerkt  scde  apostolica  vacante,  also  zwischen  24  mai  1415 
und  11  nov.  1417  (Voigt  I  s.  238  anm.  5).  der  ausflug  nach  St.  Gallen 
hatte  aber  im  winter  stattgefunden  (Voigt  I  s.  237).  es  musz  dies  der 
winter  1415  auf  16  gewesen  sein;  denn  schon  am  13  sept.  1416  ant- 
wortet Lionardo  Bruni  von  Florenz  aus  auf  die  erste  benachrichtigung 
von  den  St.  Gallener  funden  (Voigt  I  s.  237  anm.  2j. 

"■^  ep,  IV  5  (Leonardus  Brunns  [Arretinus]  epi.stolarum  libri  VIII 
reo.  Mehus.     p.  I.  II  Florentiae  1741).  I  s.  Hl  ff. 

»^8  II  16,  12—17. 

*^ä  ep.  1  5  (Poggius,  epistolae  rec.  Thomas  de  Tonellis  vol.  I, 
Florentiae  1832). 


A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker.  277 

sermo,  quo  nos  utentes  ad  exprimendam  animi  virtutem,  a  reli* 
quis  animantibus  segregamur. 

Anfang  april  1417  schreibt  Bruni  von  Florenz  aus  an  Poggio: 
Quintilianus  tuus  laboriosissime  emendatur;  permulta  sunt  enim 
in  nostro  vetusto  codice,  quae  addenda  tue  videantur.  sed 
in  quibus  locis  vetustus  deerat  .  .  plerisque  in  locis  insanabilis 
morbus  est.^'° 

Man  wird  annehmen  dürfen,  dasz  sich  nunmehr  die  kenntnis 
Quintilians  rasch  verbreitete.  Valla  mochte  besonders  die  aufmerk- 
samkeit  auf  ihn  lenken,  da  er  es  in  seiner  erstlingsschrift  (um  1428) 
wagte,  ihn  sogar  über  Cicero  zu  stellen'®',  'was  freilich  die  her- 
gebrachte Schätzung  des  letzteren  nicht  zu  beeinträchtigen  ver- 
mochte. 

Spätestens  um  die  mitte  des  Jahrhunderts  wurde  Quintilian 
auch  in  Deutschland  wieder  bekannt,  in  einem  briefe  aus  dem  jähre 
1454  eifert  Gregor  Heimburg  gegen  'Quintilians  redeblümchen'  ^'^ 
und  als  1456  von  der  artistenfacultät  in  Heidelberg  56  bände 
römischer  autoren  gekauft  wurden,  befand  sich  auch  die  institutio 
darunter.*®^  —  Für  die  spätere  zeit  wird  ihre  Verbreitung  bezeugt 
durch  die  grosze  anzahl  von  drucken,  die  sich  an  die  editio  prineeps 
(Rom  1470)  in  rascher  folge  anschlössen.^®* 

3.  Vergerio  ist,  soweit  uns  bekannt,  der  erste  der  italieni- 
schen humanisten ,  der  die  bildung  und  erziehung  zum  gegenständ 
einer  besonderen  schrift  gemacht  hat.^®'  ihre  Vollendung  fällt  in  die 

2»o  ep.  IV  9  Mehus  a.  a.  o.  I  s.  120.  —  Über  das  Verhältnis  des 
vetustus  codex  zu  der  handschrift  Poggios  schreibt  Bruni  in  dem  vor- 
her citierten  briefe  (IV  5) :  in  Lac  inventione  tua  scito  maius  lucrum 
factum  esse,  quam  tu  sentire  videaris,  Quintilianus  enim  prius  lacer 
atqne  discerptus  cuncta  membra  sua  per  te  recuperabit.  vidi  enim 
capita  librorum,  totus  est,  cum  vix  nobis  media  pars  et  ea  ipsa 
lacera  superesset,  die  worte  media  pars  aollen  hier  wohl  bedeuten: 
die  hälfte,  denn  wollte  man  sie  übersetzen:  das  mittlere  stück,  so 
würde  dies  auf  eine  handschrift  von  dem  umfange  des  exemplars 
Petrarcas  nicht  passen ,  da  hier  im  ersten  buch  nur  wenig  fehlt  und 
auch  das  letzte  fast  vollständig  vorhanden  ist.  oder  sollte  man  in 
Florenz  eine  noch  verstümmeitere  handschrift  besessen  haben  als 
Petrarca? 

^^'  vgl.  a.  a.  0.  I^  s.  464.  —  Auch  einen  commentar  zu  der  institutio 
hat  Valla  geschrieben.     Voigt  II  ^  s.  392. 

^'^^  Voigt  II 3  s.  288. 

2«3  Voigt  IV  s.  296. 

^"^  vgl.  die  bibliographischen  werke  von  Hain  und  Panzer. 

^^''  das  von  mir  benutzte  exemplar  hat  den  titel:  Petri  Pauli  Vergerii 
ad  Ubertinum  Caesariensem  de  ingenuis  moribus  opus  incipit  foeliciter 
(Panzer,  aun.  typ.  I  s.  247  nr.  34  [od.  28].  Hain  II  s.  482  nr.  15991). 
die  schrift  umfaszt  25  blätter  in  8°  (mit  moderner  bleistiftzählung).  in 
demselben  bändchen  ist  enthalten:  Plutarchus  de  liberis  educandis  in 
der  Übersetzung  des  Guarino;  Hieronymi  praesbiteri  de  otüciis  liberorum 
erga  parentes  (2  blätter);  Magni  Basilii  de  institutis  iuvenum  über, 
übersetzt  von  Leonardus  Aretinus.  am  Schlüsse  steht:  impraessum 
Brixie  per  Boninum  de  Boninis  de  Ragusia  anno  domini  MCCCCLXXXV 
die  VI  decembris. 


278  A.Messer:  Quintilian  als  didaktiker, 

jähre  1402  bis  1404.^^®  der  Verfasser  war  ein  vielseitig  gebildeter 
mann,  nicht  nur  in  der  artistenfacultät,  sondern  auch  in  der  juristi- 
schen und  medicinischen  hatte  er  akademische  grade  erworben. ^-^ 
dem  entsprechend  hat  er  auch  seinen  stoff  mit  weitem  blick  behan- 
delt, körperliche,  geistige  und  sittliche  bildung  in  gleicher 
weise  berücksichtigt,  auf  die  Verschiedenheit  der  Individualitäten 
wird  sogleich  im  anfange  eingegangen;  die  intellectuellen  und 
ethischen  naturanlagen  versucht  er  auf  körperliche  beschaffenheiten 
zurückzuführen;  der  geistigen  bildung  weist  er  einen  sehr  reichen 
inhalt  zu;  das  interesse  des  Staates  an  tüchtiger  erziehung  und  bil- 
dung wird  betont,  die  spräche  ist  klar  und  gewandt.  Salutato,  dem 
er  die  schrift  übersandt  hatte,  begründet  das  lob,  das  er  ihr  spendet, 
in  seinem  briefe  an  den  Verfasser  mit  den  worten:  non  enim  mihi 
Visus  es  adulescentulum  instituere,  sed  ad  omnem  vitae  rationem  et 
aetatis  humanae  differentias  virum  perfectissimum  erudire.  placet 
Stylus,  placet  rara  penes  modernes  soliditas,  quae  sobriam  redolet 
vetustatem,  placet  dispositio,  quae  veluti  gradibus  procedens  rerum 
naturam  sequitur  nee  omittit  aliquid  nee  perturbat.  et,  ut  breviter 
loquar,  carissime  Petre  Paule,  quod  ad  institutionem  vitae  pertinet 
Ciceronem  nostrum  et  Ambrosium  tractantes  de  officiis  exhausisti.'*^ 


286  der  terminus  a  quo  ergibt  sich  aus  einer  an  den  prinzen  Uüer- 
tinus  von  Carrara  gerichteten  stelle  (fol.  216):  apud  Brixiam  cum 
unper  esses  in  exercitu  Germanorum,  progredi  ausus  es  in  hostes 
armatus.  A.  Rösler.  der  im  siebenten  band  der  'bibliothek  der  katho- 
lischen Pädagogik'  (Freiburg  1894)  eine  sehr  schätzbare  Übersicht  über 
die  pädagogischen  leistungen  Italiens  im  15n  Jahrhundert  gibt,  bezieht 
diese  stelle  auf  den  krieg,  den  Francesco  Novello  1390  zur  wieder- 
gewinnunji  seines  gebietes  mit  erfolg  führte  (s.  76.  78).  Leo  (geschichte 
der  italienischen  Staaten  III  s.  106  fif.)  berichtet  allerdings  bezüglich 
dieses  kriegcs,  dasz  Francesco  'mit  einer  zalilieichen  begleitung  grösten- 
teils  deutscher  kriegsmannschaft'  in  Italien  eingetroffen  sei,  aber  von 
einer  'schlacht  bei  Hrescia'  verlautet  nichts,  auch  wird  der  ausdruck 
Vergerios:  cum  esses  in  exercitu  Germanorum  weit  passender  er- 
scheinen, wenn  wir  an  das  beer  denken,  das  der  deutsche  könig  Ruprecht 
von  der  Pfalz  im  jähre  1401  nach  Oberitalien  führte.  Leo  (a.  a.  o.  III 
8.  341)  gibt  dazu  eine  mitceilung,  die  unsere  stelle  vollständig  erklärt: 
october  1401  kam  Ruprecht  in  Trident  an.  Francesco  da  Carrara 
führte  ihm  italienische  hilfsvölker  zu,  und  durch  das  gebirge  zogen  sie 
in  das  Brescianische,  wo  nachher  auch  kämpfe  stattfanden.  —  Also 
kann  die  genannte  stelle  nicht  wohl  vor  dem  jähr  1402  geschrieben 
sein.  —  Den  terminus  ad  quem  gibt  das  datum  von  Salutatos  tod : 
mai  1406  (Voigt  u.  a.  o.  IP  s.  458).  auf  eine  noch  frühere  zeit  dürfte 
der  umstand  hinleiten,  dasz  der  verhängnisvolle  krieg,  in  dem  Venedig 
den  herschern  von  Carrara  einen  so  schrecklichen  Untergang  bereitete 
(1405),  schon  1404  seinen  anfang  nahm,  die  schrift  setzt  an  den  stellen, 
wo  sie  sich  direct  an  Ubertinus  wendet,  den  ungestörten  bestand  des 
fürstentums  voraus,  auch  werden  (fol.  24')  seine  beiden  älteren  brüder 
Franciscus  und  Jacobus,  die  1405  einen  tragischen  tod  fanden  (Leo 
a.  a.  o.  III  s.  114  f.),  als  lebende  Vorbilder  erwähnt. 

2"  Voigt  a.  a.  o. 

'8**  der  brief  Salutatos,  sowie  das  antwortschreibeu  Vergerios,  in 
dem  er  einige  kleine  ausstellungen,   die  jener  gemacht,  zu  widerlegen 


A.Messer:  Quintilian  als  didaktiker.  279 

noch  zur  zeit  des  feinsinnigen  kritikers  Paolo  Giovio  (1483 — 1552) 
wurde  die  Schrift  in  den  schulen  gelesen,  und  bis  in  das  17e  Jahr- 
hundert hinein  hat  man  sie  gedruckt.^®*  von  allem,  was  der 
italienische  humanismus  auf  didaktisch -pädagogischem  gebiet  her- 
vorgebracht hat,  gebührt  dieser  schrift  neben  der  Vegios  sicher 
die  meiste  beachtung.  um  so  wichtiger  erscheint  auch  die 
frage,  ob  und  inwieweit  sie  von  Quintilian  beeinfluszt  sei. 

Wir  haben  oben  gesehen ,  dasz  man  im  kreise  Salutatos  die  in- 
stitutio  oratoria  kannte,  allerdings  nur  in  der  gestalt,  wie  sie  auch 
Petrarca  besessen  hatte,  aber  die  partien  von  allgemein  didaktischem 
Charakter  waren  ja  meist  vorhanden.  Vergerio  hat  mit  den  Floren- 
tiner humanisten  nicht  nur  in  brieflichem  verkehr  gestanden,  er  hat 
auch  zeitweise  in  ihrer  mitte  gelebt,  er  hat  in  Florenz  —  freilich 
nicht  lange  —  dialektik,  vielleicht  auch  eloquenz  und  rhetorik  ge- 
lehrt*'", und  später,  als  er  schon  ein  angesehener  magister  an  der 
hochschule  zu  Padua  war,  hat  er  abermals  in  Florenz  sich  ein- 
gefunden, um  bei  Manuel  Chrysoloras  das  griechische  zu  lernen.-" 
also  —  rein  äuszerlich  betrachtet  —  ist  die  möglichkeit,  dasz 
er  Quintilians  institutio  aus  eigner  lectüre  kannte ,  wohl  gegeben, 
man  könnte,  bei  dem  Interesse  der  dortigen  humanisten  für  Quin- 
tilian, diese  kenntnis  als  eine  wahrscheinliche  bezeichnen,  wenn 
nicht  der  gedanke  nahe  läge,  dasz  der  traurige  zustand  des  textes 
vom  lesen  abschreckte,  durch  die  betrachtung  der  äuszeren  mög- 
lichkeit oder  Wahrscheinlichkeit  läszt  sich  also  die  frage,  ob  er  bei 
abfassung  seiner  schrift  Quintilians  werk  gekannt  habe  und  von  ihm 
beeinfluszt  worden  sei,  nicht  entscheiden,  die  betrachtung  des  in- 
halts  musz  uns  die  antwort  geben,  allerdings  dürfen  wir  gleich- 
heit  der  ansichten  an  und  für  sich  noch  nicht  als  be- 
weisgrund  für  beeinflussung  durch  Quintilian  benutzen,  es  ist  ja 
erziebung  und  bildung  ein  gebiet,  auf  dem  jeder  zunächst  passiv 
seine  erfabrungen  sammelt,  und  auf  dem  auch  die  meisten,  sei  es 
auch  nur  gegenüber  jüngeren  familiengliedern,  bei  eigner  be- 
thätigung  zu  beobachten  und  erfabrungen  zu  machen  gelegenheit 
und  anlasz  haben,  bei  der  weitgehenden  Übereinstimmung  mensch- 
lichen Wesens  in  verschiedenen  zeiten  und  an  verschiedenen  orten 
werden  sich  hier  vielfach  die  gleichen  ansichten  finden ,  ohne  dasz 

sucht,  ist  abgedruckt  bei  Muratori,  rerura  italicarum  scriptores,  tom.  XVI 
p.  230—234. 

2'»8  Voigt  a.  a.  o.  II  ^  s.  458. 

"0  Voigt  13  s.  341. 

29'  Voigt  V  8.  220.  es  war  dies  zwischen  1397  und  1400;  Chryso- 
loras verliesz  Florenz  im  märz  1400.  Voigt  a.  a.  o.  I^  s.  227  anm.  3. 
mit  dem  in  anm.  2  gesagten  erledigt  sich  auch  die  bemerkung  Röslers 
(a.  a.  o.  s.  75  anm.  1),  dasz  Vergerio  schon  vor  seinen  Studien  bei 
Chrysoloras  griechisch  gelernt  habe,  er  stützt  sie  auf  eine  stelle  in 
dem  erwähnten  briefwechsel  zwischen  Salutato  und  Vergerio,  an  der 
letzterer  bemerkt:  ego  vero  id  etiam  antea  in  Graeco  deprehendissera. 
der  brief  ist  eben  nicht  in  das  jähr  '1393  oder  wenig  nachher',  sondern 
etwa  in  das  Jahr  1403  oder  1404  zu  setzen. 


280  A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

eine  entlehnung  denkbar  wäre,  ferner  ist  ja  die  institutio  oratoria 
nicht  sowohl  durch  neuheit  und  eigenart  ihrer  gedanken  aus- 
gezeichnet, als  vielmehr  durch  den  reichen  niederschlag  des  vorher 
geleisteten,  das  gilt  für  das  pädagogisch -didaktische  gebiet  ebenso 
gut,  wie  für  das  rhetorische,  vieles,  was  wir  bei  Quintilian  lesen, 
lesen  wir  auch  bei  Plato,  Aristoteles,  Cicero  u.  a.  wenn  nun  solches 
von  Vergerio  wirklich  aus  antiken  quellen  geschöpft  wäre,  müste 
es  an  sich  gerade  die  institutio  sein,  aus  der  es  geflossen?  kurz,  wir 
werden,  bei  dem  fehlen  äuszerer  beweisgründe,  nur  dann  ein  voll- 
gültiges Zeugnis  für  die  benutzung  Quintilians  durch  Vergerio  zu 
besitzen  glauben,  wenn  sich  momente  ergeben,  die  sich  nur  durch 
die  annähme  einer  solchen  zwanglos  erklären  lassen,  finden  sich 
derartige  ? 

Was  zunächst  den  Inhalt  der  schrift  im  ganzen  betrifft,  so 
faszt  Vergerio  seinen  stoff  mehr  allseitig,  bei  Quintilian  bleibt 
doch  der  eigentliche  gegenständ  der  erörterungen  die  intellec- 
t  u  e  1 1  e  bildung,  und  zwar  die  bildung  zum  r  e  d  n  e  r ,  die  körperliche 
Seite  wird  nur  gestreift,  die  sittliche  in  ihrer  hohen  bedeutung  für 
den  redner  zwar  wiederholt  betont,  aber  nicht  speciell  behandelt: 
bei  Vergerio  dagegen  sind  diese  drei  selten  gleichmäszig  berück- 
sichtigt; die  rednerische  fertigkeit  tritt  in  seinem  bildungsideal 
durchaus  nicht  als  das  beherschende  moment  hervor;  neben  die 
wissenschaftliche  ausbildung  stellt  sich  als  gleichwichtig  die  mili- 
tärische und  staatsmännische  —  freilich  geschieht  dies  letztere  viel- 
leicht nur  mit  rücksicht  auf  den  prinzen,  dem  die  schrift  gewidmet 
ist,  denn  bisweilen  schiebt  sich  doch  dem  Verfasser,  seiner  eignen, 
nach  allseitiger  intellcctueller  ausbildung  strebenden  persön- 
lichkeit entsprechend,  unwillkürlich  das  stille  gelehrtenleben  als  die 
aufs  höchste  zu  wünschende  daseinsgestaltung  vor.**'  —  Im  ein- 
zelnen finden  sich  manche  Übereinstimmungen,  beide  fordern:  der 
Unterricht  und  die  erziehung  soll  möglichst  früh  beginnen^*';  die 

^^^  so  heiszt  es  z.  b.  an  einer  stelle  (fol.  13^):  quae  igitur  potest 
esse  vita  iucundior  aut  certe  commodior,  quam  legere  semper  aut 
scribere  et  novos  quidem  existentes  res  antiquitatis  cognoscere,  prae- 
sentes  vero  cum  posteris  loqui  atque  ita  omue  tempus,  quod  et  prae- 
teritum  est  et  futurum,  nostrum  facere.  an  einer  andern  (fol.  IS**) 
geht  er  in  der  Forderung  sorgfältiger  zeitausniitzung  zum  zwecke  der 
Studien  soweit,  dasz  er  rät,  auch  super  coenam  legere  und  soranum 
inter  libros  exspectare  aut  certe  per  libros  fugere;  freilich  der  arzt  in 
ihm  —  er  hatte  ja  auch  medicin  studiert  —  erhebt  dagegen  einspruch, 
er  fährt  nämlich  fort:  quamquam  physici  obesse  ea  visui  luminibus 
quoque  contendunt,  quod  et  verum  est,  si  modo  praeter  modum  id  aut 
intentione  nimia  aut  super  nimiam  saturitatem  id  tiat. 

^'-J^  für  die  sittliche  erziehung  fordert  er  dies  gleich  im  anfang 
(fol.  26):  artibus  vero  bonis  nisi  quis  ab  adolescentia  fuerit  instructus 
aut  si  perversis  infectus  exstiterit,  non  facile  de  se  speret  in  aetate 
provectiore  posse  aut  has  abieere  aut  illas  continuo  sibi  parare.  iacienda 
sunt  igitur  in  hac  aetate  fundamenta  bene  vivendi  et  formandus  ad 
virtutem  animus,  dum  tener  est  et  facilis  quamlibet  impressionem  ad- 
mittere:    qui   ut  nunc   erit,    ita   et   in   reliqua   vita   servabitur.      später 


A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker.  281 

intellectuellen  und  ethischen  anlagen  sind  zu  erforschen,  und  die 
Schüler  sind  ihrer  individualität  entsprechend  zu  behandeln^";  der 
ehrgeiz  ist  als  sporn  für  die  Studien  zu  benutzen  ^^•^;  für  den  anfangs- 
unterricht  soll  man  sich  nicht  mit  mittelmäszigen  lehrern  begnügen, 
sondern  sogleich  die  besten  wählen*^"  u.  a.  trotz  dieser  mehrfachen 
anklänge  ist  nirgends  in  der  spi'achlichen  fassung  oder  der  be- 
gründung  der  gedanken  eine  solche  Übereinstimmung,  dasz  sie  auf 
eine  entlehnung  hinwiese,  dieser  umstand  dürfte  aber  geradezu 
gegen  die  annähme  einer  beeinflussung  durch  Quintilian  in  die 
wagschale  fallen,  wenn  sich  zeigen  wird,  wie  offenkundig  die 
benutzung  der  institutio  oratoria  bei  allen  übrigen  italienischen 
humanistenpädagogen  ist  —  mit  einziger  ausnähme  Lionardo  Brunis, 
dessen  schrift  aber  wohl  auch  vor  der  entdeckung  des  vollständigen 
textes  abgefaszt  und  insofern  mit  der  Vergerios  auf  gleiche  linie  zu 
stellen  ist.  schwerer  wiegt  ein  anderes:  Quintilian  ist  bei  Vergerio 
nirgends  genannt,  während  er  doch  sonst  seine  quellen  anzugeben 
pflegt,  es  werden  citiert  Plato  dreimal,  Aristoteles  viermal,  Plutarch 
dreimal,  Terenz,  Sallust,  Vergil  je  einmal,  Cicero  zweimal,  Horaz 
viermal,  endlich  sei  noch  auf  eins  hingewiesen :  in  manchen  punkten 
ist  Vergerio  anderer  ansieht  als  Quintilian:  er  rät  gegenüber  man- 
chen individualitäten  zur  körperlichen  Züchtigung"®^,  die  Quintilian 
völlig  verwirft;  er  urteilt  weit  günstiger  über  frühreife  knaben  als 
jener. "'^  an  solchen  stellen  hätte  es  doch  nahe  gelegen,  dasz  er  sich 
mit  Quintilian  auseinandersetzte ,  aber  auch  hier  findet  sich  keine 

wird  dieselbe  forderung  für  die  intellectuelle  bilduug'  erhoben  (fol.  9^): 
die  Studien  müssen  a  piima  infantia  beginnen :  non  erimns  in  senectute 
sapientes,  nisi  iuvenes  primum  sapere  coepimus.  —  Für  Quintilian  vgl. 
1  1,  15—20. 

^^*  die  Verschiedenheit  der  intellectuellen  beanlagung  wird  be- 
sprochen fol.  3^  z.  21  —  fol.  4''  z.  20;  die  ethischen  anlagen  des  knaben- 
und  Jünglingsalters  werden  charakterisiert  fol.  5^  z.  19  —  fol.  7  *>  z.  9. 
auch  für  die  berufswahl  wird  sorgfältige  berücksichtigung  der  indi- 
vidualität gefordert  (fol.  16^  z.  8  —  fol.  17^  z.  22).  bei  Quintilian 
kommt  hauptsächlich  in  betracht  I  3. 

^^''  er  sieht  es  als  ein  zeichen  eines  liberale  ingenium  an  (fol.  S"»): 
studio  laudis  excitari  incendique  amore  gloriae,  unde  oritur  generosa 
quaedam  invidia  et  sine  odio  de  laude  probitateque  contentio.  vgl. 
fol.  4%  9^.     für  Quintilian  vgl.  z.  b.  I  2,  22, 

2^^  fol.  17''  heiszt  es:  et  prima  quoque  artium  elementa  ab  optimis 
praeceptoribus  accipere  convenit.  Quintilian  begründet  dies  ausführ- 
lich im  dritten  capitel  des  zweiten  buches. 

*^'  vgl.  fol.  9'':  alii  quidem  laude  et  per  spem  honoris,  alii  mu- 
nusculis  blanditiisque  alliciendi,  minis  alii  flagrisque  cogendi 
erunt.     Quintilian  spricht  über  diesen  punkt  I  3,  13 — 18. 

^^^  Vergerio  glaubt  nicht,  dasz  die,  welche  über  ihr  alter  weise 
sind,  später  thöricht  werden,  quod  omnibus  pene  vulgo  est  usurpatum 
(fol.  9^).  er  führt  für  seine  ansieht  eine  spaszhafte  anekdote  an. 
Quintilian  dagegen  äuszert  (I  3,3):  hie  meus  quae  tradentur  non  diffi- 
culter  accipiet,  quaedam  etiam  interrogabit,  sequetur  tamen  magis 
quam  praecurret.  illud  ingeniorum  velut  praeco.x  genus  non  temere 
umquam  pervenit  ad  frugem.  dieser  gedanke  wird  nachher  noch  näher 
ausgeführt. 


282  A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

bezugnahme  auf  ihn,  weder  eine  offene,  noch  eine  versteckte,  alle 
diese  momente  sprechen  gegen  die  annähme,  dasz  Vergerio  bei  ab- 
fassung  seiner  schrift  von  Quintilian  beeinfluszt  worden  sei.  dieses 
ergebnis  wird  auch  nicht  erschüttert  durch  die  eine  stelle  bei 
Vergerio,  die  —  soweit  ich  wenigstens  bis  jetzt  sehe  —  nur  aus 
Quintilian,  unmittelbar  oder  mittelbar,  geflossen  sein  kann,  bei  der 
ausführung  des  gedankens,  dasz  man  von  vorn  herein  stets  den 
besten  lehrer  und  den  besten  lehrstoff suchen  müsse,  erwähnter  den 
griechischen  musiker  Timotheus,  der  von  solchen  Schülern,  die  schon 
bei  einem  andern  meister  gelernt,  das  doppelte  honorar  gefordert 
habe  (fol.  17  '^).  bei  Quintilian  steht  die  anekdote  II  3,  3.  betrachten 
wir  die  stellen  selbst: 

Quintilian.  Vergerio, 

Propter  quod  Timo-  Quam  ob  rem  Timotheus,  musicus  suo 
theum,  darum  in  arte  tempore  illustris,  qui  ob  multiplicatas  in 
tibiarum,  ferunt  duplices  cithara  cordas  et  novorum  modorum  adin- 
ab  iis,  quos  alius  insti-  ventionem  Sparta  iussus  est  exulare,  ab 
tuisset,  solitum  exigere  discipulis  quidem  qui  nihil  apud  alios  pro- 
mercedes,  quam  si  rüdes  fecissent  certam  paciscebatur  mercedem, 
traderentur.  ab  bis  autem,  qui  ex  aliis  quippiam  edi- 

dicerant,  duplam  exigebat. 
Dieser  Timotheus  wird  zwar  auch  noch  sonst  in  der  antiken 
litteratur  erwähnt,  in  Paulys  realencyclopädie  sind  auszer  unserer 
stelle  noch  folgende  angeführt:  Ath.  XII  s.  538  f.;  XIII  s.  565*; 
XIV  s.  626»';  636«;  657«^.  Paus.  III  12,  8;  VIII  50,  3.  wozu  noch 
hinzuzufügen  sind:  Macrob.  Sat.  I  c.  17;  VII  c.  16;  noch  andere  bei 
Pape,  lexicon  der  griech.  eigennamen.  an  diesen  stellen  erscheint 
zwar  wiederholt  die  notiz,  dasz  er  wegen  Vermehrung  der  saiten  zu 
Sparta  bestraft  worden  sei,  aber  jene  forderung  doppelten  lohnes 
von  Schülern  anderer  lehrer  wird  nirgends  sonst  erwähnt  auszer  bei 
Quintilian.  nun  wäre  es  allerdings  möglich,  dasz  diese  anekdote 
noch  an  einer  andern  stelle  der  antiken  litteratur,  die  mir  bis  jetzt 
unbekannt  geblieben  wäre,  erwähnt  sei,  aber  auch  abgesehen  da- 
von beweist  der  vorliegende  Sachverhalt  noch  nicht  einmal  eine  un- 
mittelbare herübernahme  durch  Vergerio.  gerade  weil  die  stelle 
eine  anekdote  enthält,  konnte  sie  leicht  von  ihrem  ursprünglichen 
platze  losgelöst  werden,  in  umlauf  kommen  und  mittelbar,  auf 
mündlichem  oder  schriftlichem  wege,  Vergerio  bekannt  werden, 
damit  stimmt  aufs  beste,  dasz  die  sprachliche  fassung  der  stelle  bei 
den  beiden  autoren  kaum  eine  leise  Übereinstimmung  zeigt,  es 
bleibt  also  dabei:  eine  einwirkung  Quintilians  auf  Vergerio  läszt 
sich  nicht  nachweisen,  ja  sie  ist  in  hohem  grade  unwahrscheinlich,'*® 

"ä  beiläufig  sei  noch  eines  umstandes  gedacht,  der  scheinbar  die 
vorliegende  frage  berührt,  in  der  später  zu  besprechenden  schrift 
Guarinos  'de  modo  et  ordine  docendi  ac  discendi'  heiszt  es  fol,  9": 
'nam   ut  ait  Quintilianus   optimum  proficiendi   genus   esse   docere  quae 


A.Messer:  Quintilian  als  didaktiker.  283 

Zeitlich  am  nächsten  liegt  der  schrift  Vergerios  die  des  päpst- 
lichen Sekretärs  und  späteren  florentinischen  staatscanzlers  L  i  o  n  a r  d  o 
B  runi  aus  Arezzo  (daher  häufig  Leonardas  Aretinus  genannt,  1369 
— 1444).  schon  der  titel  de  studiis  et  literis^""  besagt,  dasz  der 
Inhalt  lange  nicht  so  umfassend  ist,  wie  der  von  Vergerios  schrift.  es 
ist  keine  allgemeine  Unterrichts-  und  erziehungslehre ,  sondern  es 
handelt  sich  lediglich  um  die  —  höhere  —  intellectuelle  bildung 
einer  auszergewöhnlich  begabten  jungen  dame  aus  fürstlichem  ge- 
schlecht, der  Prinzessin  Baptista  de  Malatesta.^"'  die  abfassungs- 
zeit  vermittelst  äuszerer  gründe  genauer  zu  fixieren,  ist  mir 
nicht  gelungen,  nur  soviel  läszt  sich  sagen,  dasz  sie  zwischen  die 
jähre  1409  und  1429  fällt,  denn  der  in  der  schrift  (s.  487)  als 
lebend  erwähnte  princeps  familiae  vestrae,  mit  dem  Bruni  lebhaft 
über  bestimmte  fragen  disputiert  haben  will,  ist  Carlo  Malatesta  von 
Eimini^"^,  dessen  bekanntschaft  er  in  den  jähren  1408  und  9  machte, 

didiceris.  nuu  lesen  wir  aber  bei  Vergerio  fol.  19*:  sed  et  alios  quoque 
docendo,  quod  scimus,  non  parum  et  ipsi  iuvabimur.  Optimum  namque 
proficiendi  genus  est  docere,  quod  didiceris.  das  wäre  in  der  tliat  ein 
beweis  für  die  benutzuug  Quintilians  durch  Vergerio  — ,  wenn  die 
stelle  wirklich  aus  Quintilian  stammte ,  allein  sie  findet  sich  in  der  in- 
stitutio  oratoria  nicht,  es  liegt  also  ein  irrtum  Guarinos  vor.  er  ist 
leicht  erklärlich,  zweifellos  arbeitete  Guarino  mit  hilfe  seiner  citaten- 
sammlung.  dabei  konnte  leicht  durch  ein  versehen  eine  Verwechslung 
des  autorenuamens  eintreten,  was  die  sitte,  citatensammlungen  anzu. 
legen  betrifft,  so  gibt  Guarino  in  der  genannten  schrift  (fol.  9")  selbst 
Vorschriften  darüber,  die  anweisungen  zu  excerpierendem  lesen  und 
zur  anlegung  von  Sammlungen  der  lesefrüchte  unter  bestimmten  rubriken 
wiederholen  sich  in  den  didaktischen  Schriften  der  humanisteu  so  häufig, 
dasz  man  hier  wohl  von  einer  feststehenden  sitte  reden  darf,  interes- 
sante belege  dafür  finden  sich  bei  Max  Herrmann,  Albrecht  von  Eyb 
und  die  frühzeit  des  deutschen  humanismus  (Berlin  1893)  s.  84  ff.  s.  92 
(woraus  man  sieht,  dasz  man  solche  citatsammlungen  kaufen  konnte). 
Eyb  selbst  gibt  in  seiner  margarita  poetica  auch  eine  rhetorische 
phrasensammlung  (a.  u.  o.  s.  184  ff,),  er  hatte  übrigens  u.  a.  an  Johann 
Lamola  (c.  1400—1449)  in  Bologna  einen  schüler  Guarinos  zum  lehrer 
gehabt  (a.  a.  o.  s.  76), 

^O"  ich  benutze  den  abdruck  der  schrift  in  der  Sammlung  von 
Th.  Crenius:  consilia  et  methodi  aureae  studiorum  optime  instituen- 
dorum.  Rotterodami  1692,  s.  470—495.  der  name  der  prinzessin  lautet 
hier  irrigerweise  Isabella,  den  richtigen  namen  gibt  Mehus,  Leonardi 
Bruni  Arretini  epistolae  (Florenz  1741)  I  s.  LX,  der  auch  weitere  aus- 
gaben nennt,  wozu  noch  Voigt  a.  a.  o.  II  s.  481  eine  Liptzik  1469  hin- 
zufügt. 

3"'  Jöcher  im  'allgemeinen  gelehrtenlexikon' sagt  über  sie:  Baptista 
Malatesta,  eine  gemahlin  Guidonis,  des  grafen  von  Urbino  und  tochter 
Galeatii  Älalatestae,  fürsten  von  Pesaro,  hat  mit  den  gelehrtesten 
leuten  disputieret,  orationem  in  laudera  Martini  V,  von  der  wahren 
religion,  von  der  menschlichen  gebrechlichkeit  und  briefe  geschrieben, 
ist  auch  1447,  nachdem  sie  zwei  Jahre  vorher  eine  nonne  des  ordens 
S.  Clara   worden,   und   den  namen  Hieronyma  angenommen,   gestorben. 

^"^  dasz  dieser  gemeint  ist,  beweist  zur  genüge  ein  brief,  den  Bruni, 
allerdings  erst  nach  dem  tode  Carlos,  an  einen  der  hofleute  seiner  nach- 
folger  schrieb,  es  ist  brief  7  des  sechsten  buches  in  der  oben  citierten 
Sammlung    von    Mehus.     darin    heiszt    es    (Mehus  a.  a.  o,   II    s.  51  f.): 


284  A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

als  er  sich  mit  Gi'egor  XII  bei  jenem  fürsten  aufhielt'"',  und  der 
1429  starb. '"^  diese  daten  reichen  aber  nicht  einmal  aus,  um  zu  be- 
stimmen, ob  die  abfassung  der  schrift  vor  oder  nach  der  auf  findung 
des  vollständigen  Quintiliantextes  staltgefunden  hat.  wir  müssen 
auch  hier,  bei  dem  fehlen  äuszerer  beweisgründe,  hauptsächlich  auf 
den  Inhalt  der  schrift  unsere  Untersuchung  richten.  Quintilian 
wird  darin  nirgends  genannt,  auch  eine  anlehnung  an  ihn  im  ganzen 
oder  im  einzelnen  ist  nicht  erkennbar,  auch  nicht  an  solchen  stellen, 
wo  eine  solche  nahe  gelegen  hätte ,  z.  b.  bei  empfehlung  der  lectüre 
der  bistoriker  (c.  VII  s.  482  f.,  verglichen  mit  Quint.  X  1,  34)  und 
der  dichter  (c.  VIII  s.  483—94,  verglichen  mit  Quint.  I  8 ;  X  1,  27  ff.), 
bei  der  besprechung  des  rhythmus  in  der  prosaischen  rede  stellt  er 
im  anschlusz  an  Cicero '^"^  peinlichere  forderungen '"'  als  Quintilian, 
der  die  berücksichtigung  der  versfüsze  in  der  prosa  verständig  ein- 
schränkt (IX  4,  112  ff.)  und  die  gänzliche  Vermeidung  gewisser 
füsze  für  nicht  durchführbar  erklärt  (IX  4,  87).  gelegentlich""' 
führt  er  aus,  dasz  sich  die  prinzessin  in  rhetorische  subtilitäten  nicht 
zu  vertiefen  brauche,  dabei  nennt  er  als  für  sie  wertlos  eine  anzahl 
termini  technici  der  rhetorik,  die  sich  zum  teil  bei  Quintilian  nicht 
finden,  so  die  hypocrisis  (==  pronunciatio),  die  interrogationes  bici- 
pites ,  die  responsiones  veteratoriae.  alles  dies  dürfte  die  annähme 
einer  benützung  Quintilians  verbieten.'"-  bedenken  wir  nun,  mit 
welcher  begeisterung  Bruni  den  fund  Poggios  begrüszte,  mit  welchem 
eifer  er  sich  selbst  an  der  herstellung  des  textes  beteiligte,  so  wird 
sich  doch  zunächst  wohl  das  mit  völliger  gewisheit  behaupten  lassen, 
dasz  die  abfa&sung  unserer  schrift  vor  das  jähr  1415/16  zu  verlegen 
ist.  —  Wir  dürfen  aber  hierauf  noch  eine  weitere  schluszfolgerung 
aufbauen,  dasz  Vergerio  den  unvollständigen  Quintiliantext  kannte, 
erschien  möglich,  dasz  Bruni  ihn  kannte,  musz  als  wahrschein- 
lich bezeichnet  werden,  da  er  enger  als  jener  dem  kreise  Salutatos 
angehörte  —  er  war  ein  besonderer  liebling  und  Schützling  des  alten 


equidem  tanto  ardore  generosam  inclitamque  Malatestarum  familiam 
colui,  ut  non  alienum  proceres  illi  me  existimarent,  sed  unum  de  ipsis. 
ut  enim  ceteros  omittam ,  cum  inclitae  memoriae  Carolo,  principe 
illius  familiae  ita  aliqnaiido  vixi,  ut  neque  mensa,  neque  venatio, 
neqne  studia  litterarnm  ipsum  ab  eo  sequestrarent,  qui  peractis  ad 
occasum  venationibus  ita  redire  Ariminum  solebamus,  ut  duobus  vel 
tribus  passuum  milibus  disputando  summis  interdum  contentionibus  ac 
desperatis  prope  clamoribus  certaremus.  fuit  enim  ...  ita  pertinax 
in  disputando,  ut  quod  semel  dixisset  semper  defenderet  etc. 

203  Mehus  a.  a.  o.  I  s.  XXXVII.  Leo,  gesch.  d.  ital.  Staaten  IV 
s.  562.     Voigt  a.  a.  o.  1'  s.  572. 

80*  Leo  a.  a.  o.  IV  s.  572. 

30=  inbezug  auf  Verwendung  des  dactylus  und  iambua  vgl.  Cicero, 
or.  57,  192,  des  päon:  or.  64,  218;  58,  196,  des  ditrochaeus  und  creticus: 
or.  63,  213  und  64,  215. 

306  c.  IV  (bei  Crenius  s.  478  f.). 

807  c,  V  (bei  Crenius  s.  479  f.). 

SOS  Voigt  a.  a.  o.  I'  s,  304—312. 


A.Messer:  Quintiliaa  als  didaktiker.  285 

canzlers^"^  —  und  sein  besonderes  interesse  für  Quintilian  so  un- 
zweideutig hervortritt,  auch  kann  man  es  aus  der  oben  citierten 
briefstelle  in  nostro  vetusto  codice  ersühlieszen.  wenn  nun  trotzdem 
bei  ihm  eine  benutzung  der  (unvollständigen)  institutio  nicht  nach- 
weisbar ist,  so  darf  das  gleiche  bei  Vergerio  um  so  weniger  auf- 
fallen, für  letzteren  aber  diese  thatsache  festzustellen,  erscheint  aus 
dem  gründe  wichtiger,  weil  seine  schrift  diejenige  Brunis  durch  die 
reichhaltigkeit  ihres  Inhalts  weit  überragt. 

Damit  scheiden  also  die  abhandlungen  Vergerios  und  Brunis 
aus  der  reihe  der  Schriften,  auf  die  ein  einflusz  Quintilians  statt- 
gefunden hat  und  die  den  gegenständ  dieser  Untersuchung  bilden, 
aus,  aber  gleichzeitig  gewinnen  sie  eben  dadurch  doch  wieder  für 
uns  ein  erhöhtes  interesse.  wir  werden  sie  nämlich  zu  vergleichen 
haben  mit  denjenigen,  deren  Verfasser  zweifellos  aus  Quintilian 
schöpfen,  wir  werden  dabei  die  frage  aufwerfen  :  sind  durch  die  auf- 
findung  und  Verbreitung  des  vollständigen  Quintiliantextes  neue 
momente  in  die  entwicklung  der  pädagogisch  -  didaktischen  theorie 
des  humanismus  gekommen?  entspricht  der  —  wie  sich  ergeben 
wird  —  sehr  ins  breite  gehenden  benutzung  Quintilians  eine  ebenso 
tiefe  einwirkung?  zur  beantwortung  solcher  fragen  wird  uns  die 
beabsichtigte  vergleichung  stoff  bieten,  wir  können  sie  aber  erst 
anstellen,  wenn  wir  die  einwirkung  Quintilians  auf  die  späteren 
humanisten  näher  untersucht  haben,  wir  bedürfen  aber  zu  jener 
vergleichung  einer  eingehenderen  kenntnis  der  schriften  Vergerios 
und  Brunis,  und  dies  macht  es  wünschenswert,  eine  Übersicht  über 
ihren  Inhalt  hier  folgen  zu  lassen. 

A.  Vergerio. 

I.  Prooemium.    wert  und  wesen  der  erziehung  undbildung. 
(fol.  2»  — 3"  z.  21.) 

Gute  erziehung  und  bildung,  die  möglichst  früh  beginnen 
musz,  ist  das  wertvollste,  was  die  eitern  den  kindern  hinter- 
lassen können,  besonders  notwendig  ist  sie  für  hochstehende. 
Der  mensch  besteht  aus  leib  und  seele:  glücklich,  wer 
in  bezug  auf  beide  von  der  natur  gut  ausgestattet  ist ;  der  ge- 
bührende dank  gegen  die  natur  besteht  in  der  ausbildung 
ihrer  gaben. ^'^ 


309  auf  dieselbe  annähme  leitet  ein  anderer  umstand,  ende  december 
1406  schreibt  Bruni  an  Niccoli,  den  bekannten  litterarischen  ratgeber 
Cosimos  von  Medici,  einen  brief,  in  dem  er  die  frage:  quando  narra- 
tione  opus  sit,  behandelt,  wie  nahe  hätte  es  dabei  gelegen  auf  Quin- 
tilian, der  diese  frage  IV  2,  4  —  23  ausführlich  bespricht,  hinzuweisen 
(die  stelle  war  auch  in  der  unvollständigen  handschrift  vorhanden),  ein 
solcher  hinweis  erfolgt  aber  nicht. 

^"'  fol.  3'':  quom  enim  sit  homo  ex  anima  corporeque  constitutus, 
magnum  quoddam  ab  natura  consecuti  mihi  videntur,  quibus  est  datum, 
ut  et  corporis  viribus  et  ingenii  valerent.  nam  qnom  plurimos  videa- 
mua,  quibus  sine  culpa  evenit,  ut  et  ingenio  essent  tardo  et  corpore 
imbecilli,  quantas  gratias  haberi  naturae  convenit,  si  secuudum  utraque 
haec    et   integri  sumus   et   validi.     ita   autem   referetur    digna   naturae 


286  A.Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

(Also  der  gedanke  einer  harmonischen  ausbil- 
dung  von  geist  und  körper  maszgebend  für  erziehung  und 
bildung.) 

II.  Psychologische   einsieht   als  grundlage  der  erziehungs- 
und  bildungsarbeit.     (fol.  B^  z.  21—4"  z.  20.) 

Ein  jeder  musz  sein  eignes  ingenium  zu  erkennen  suchen; 
das  kind  kann  das  noch  nicht,  deshalb  müssen  hier  eitern 
und  lehrer  stellvertretend  es  thun,  und  in  quas  res  natura 
proni  aptique  fuerimus,  eo  potissimum  studia  nostra  conferri 
et  in  eis  totos  versari  conveniet.  besonders  diejenigen,  welche 
ein  liberale  ingenium  von  natur  haben,  dürfen  es  nicht  brach 
liegen  lassen,  oder  illiberalibus  implicari  negotiis. 
Kennzeichen  des  liberale  ingenium  (die  nähere  ausführung 
der  einzelnen  'kennzeichen'  ist  hier  weggelassen). 

1)  studio  laudis  excitari  incendique  amore  gloriae. 

2)  parere  libenter  maioribus. 

3)  ut  gloriae  laudisque  studio  ad  optima  conari  velint. 

4)  qui  sunt  in  actionibus  prompti,  fugientes  otium  amantque  semper 
aliquid  recte   agere. 

5)  si  comminationes  ac  uerbera  metuant,  magis  autem  si  dedecus 
atque  ignominiam. 

6)  disciplinam  (resp.  praeceptores)  amari  iudicio  est. 

7)  qui  natura  benigni  ac  facile  placabiles  (ac  multa  in  hunc  modum 
sumi  a  maioribus  argumenta  possunt).  dazu  körperliche  kenn- 
zeichen: 

8)  moUes  carne  aptos  esse  mente  (scripsit  Aristoteles,  über  solche 
zeichen  seien  die  zu  befragen,  qui  per  phisonomiam  [sie!]  de- 
prehendi  posse  unius  cuiusque  ingenium  nativosque  mores  pro- 
fitentur;   quam  nos  hie  rationem  totam  relinquamus). 

Ex  cur  8  über  den  wert  des  beispiels  in  erziehung  und  Unter- 
richt, ^h     (fol.  4'»  z.  20  —  5»  z.   13.) 

III.  Die  erziehung.     (fol.  5»  z.  13  —  8''  z.  25.) 

A.  die  im  jugendlichen  alter  liegenden  neigungen. 

(a,  gute    [sie   sind   usu  et  praeceptis  confirmandi  et  iuvandi], 
b.  schlechte     [sie    überwiegen;     sie    stammen    teils    von    der 
natur,    teils    von    der    mangelnden    erfahrung,    teils    von 
beiden.  —  die  'erbsünde'  wird  nicht  erwähnt!]). 

1)  largi  ac  liberales  (geiz  ein  schlechtes  zeichen;  solche  werden 
auch  die  Wissenschaft  zum  zwecke  des  gewinnes  betreiben, 
quae  quidem  res  est  ab  ingenuis  mentibus  prorsus  aliena). 

2)  sie  sind  bonae  .spei  et  magna  facile  sibi  promittunt. 

3)  arrogantes,  monitoribus  asperi,  contumeliosi  aliis  (Horaz. 
ars  p.  163). 


gratia,  si  non  neglexerimus  eius  munera,  sed  ea  rectis  studiis  bonisque 
artibus  excolere  curaverimus. 

'"  er  bemerkt,  dasz  auch  äuszerlich  nicht  viel  versprechende  kinder 
treffliche  menschen  werden  können.  Socrates  habe  gesagt,  die  Jüng- 
linge sollten  sich  im  Spiegel  betrachten:  die  schönen,  damit  sie  ihre 
Schönheit  durch  ihr  benehmen  nicht  schändeten;  die  häszlichen,  damit 
sie  sich  geistige  Schönheit  erwürben,  ein  noch  besserer  Spiegel  seien 
die  Sitten  der  mitmenschen:  ad  omnem  doctrinam  ut  viva  vox,  ita  et 
vivi  hominis  mores  plus  valent.  deshalb  mögen  sich  die  Jünglinge  an 
erprobte,  ältere  männer  anschlieszen,  und  die  älteren  müssen  bei  den 
jungen  sich  würdig  aufführen,  iuvenum  enim  aetas  prona  est  ad 
peccandum,  ac  nisi  maiorum  exemplis  contineatur,  facile  semper  in 
deteriora  prolabitur  (fol.  5"). 


A.Messer:  Quintilian  als  didaktiker.  287 

4)  prahlerisch  und  dadurch  oft  lügenhaft  (ab  hac  mentiendi  va- 
nitate  deterrendi  sunt  maxime;  ebenso  von  foedi  und  in- 
honesti  sermones). 

5)  zu  schüchtern  (aus  ängstlicher  ehrliebe). 

6)  faciie  mutant  opiniones  (quum  sunt  eorum  humores  in  motu 
propter  augmentum  corporis  et  abundat  calor  —  wie  über- 
haupt öfter  eine  physiologische  begründung  seelischer  eigen- 
schaften  und  Vorgänge  von  Vergerio  zn  geben  gesucht  wird). 

7)  sehr  leidenschaftlich  (neque  vigent  ratione  et  prudentia,  qua 
illas  (concupiscentias)  moderari  possint. 

8)  miserativi  nee  maligni  moris. 

9)  maxime  gaudent  amicitiis  (et  sodalitates  amant,  quas  ple- 
rumque  eadem  die  et  ineunt  et  dirimunt). 

Die    aus    den    ethischen    anlagen    der    Jugend    sich    er- 
gebenden folgerungen  für  die  erziehung. 

1)  die  erziehliche  einwirkung  hat  sich  nach  den  ethischen  an- 
lagen zu  richten.  2'* 

2)  die  domestica  disciplina  reicht  nicht  aus;  der  staat  musz 
hier  regelnd  eingreifen. ^'^ 

3)  die  erziehlichen  einwirkungen  sind  teils  negativer,  teils  posi- 
tiver art: 

a,  negative  maszregeln.  sie  bezwecken  besonders,  dasz 
die  Jünglinge  möglichst  lange  integri  bleiben.^'*  (deshalb 
sie  fernhalten  von  choreae,  von  jeder  muliebris  frequentia, 
von  erregenden  gesprächeu,  von  einsamkeit.  gut  ist  stete 
körperliche  und  geistige  thätigkeit  und  die  gesellschaft 
sittlich  erprobter,  älterer  begleiten  keine  zu  reichliche 
nahrung;  besonders  kein  wein! 

b.  positive  einwirkungen. 

a.  gewöhnung  an  achtung  vor  der  religion^'^  und  vor 
dem  alter. 

ß.  gewöhnung  an  höflichkeit  im  Umgang  (was  mit  beson- 
derer bezugnahme  auf  die  Stellung  eines  prinzen  und 
fürsten  näher  ausgeführt  wird). 

4)  allzu  grosze  indulgentia  der  eitern  bei  der  erziehung  ist  verderb- 
lich, deshalb  die  mehrfach  bestehende  sitte,  die  kinder  auswärts 
bei  verwandten  oder  freunden  erziehen  zu  lassen,  billigenswert). 


'**  fol.  6^.  iuxta  has  igitur  animadversiones  erit  adhibenda  doc- 
trina  et  boni  quidem  mores  addiscendi,  mali  vero  aut  minuendi  aut 
prorsus  eradicandi  erunt. 

^'ä  fol.  6''.  et  cura  iuvenum  cum  plurimum  domesticae  disciplinae 
permissum  est,  nonnulla  tamen  solent  legibus  diffiniri,  deberent  autem, 
ut  fere  dixerim,  omnia;  denn  das  Interesse  des  Staates  an  einer  rich- 
tigen erziehung  sei  grosz. 

^'■^  imniatura  namque  venus  et  animi  et  corporis  vires  enervat. 

3'^  fol.  1^:  ante  omnia  vero  decet  et  bene  institutum  adolescentem 
rei  divinae  curam  respectumque  non  negligere,  nam  quid  erit  illi  inter 
homines  sanctum,  cui  divinitas  despecta  sit.  besonders  sind  sie  zu  er- 
mahnen non  execrari  divina  nee  sacra  nomina  irrisioni  habere  neque 
sponte  faciie  iurare.  es  wird  also  im  gründe  nur  ein  wohlanständiges 
verhalten  gegenüber  religiösen  gegenständen  angestrebt,  nicht  aber  die 
religion  als  grundlage  der  Sittlichkeit  und  die  lebendige  anteilnahme 
am  kirchlichen  leben  mit  seinen  gnadenmitteln  als  mächtiger  hebel  für 
die  ausbildung  der  sittlichen  persönlichkeit  gefaszt  und  verwertet,  be- 
merkenswert ist  auch  folgende  stelle:  nee  vero  usque  ad  aniles  decet 
superstitiones  provehi,  quod  in  ea  aetate  damnari  plurimum  solet  et 
irrisioni  patere,  sed  ad  certum  modum,  quamquam  quis  modus  adhiberi 
in  ea  re  potest,  in  qua  omne,  quod  possimus,  infra  modum  est? 


288  A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

IV.   Die  intellectuelle  ausbildung.     (fol.  S^  z.  25  — lO»'  z.  21.) 

1)  wesen  und  zweck  der  liberalia  studia  (liberalia  studia 
vocamus,  quae  sunt  homine  libero  digna.  ea  sunt,  quibus  virtus 
ac  sapientia  aut  exercetur  aut  quaeritur).^*^ 

2)  zeitiger  beginn  (dura  faciles  animi  iuvenum,  dum  mobilis 
aetas.     Verg.  Georg.  III  165). 

3)  behandlung  der  schüIer  (milde  und  strenge  müssen  wechseln 
und  sich  gegenseitig  mäszigen). 

4)  für  die  Studien  fördernde  und  hindernde  äuszere  um- 
stände (Vermögensumstände,  wünsch  und  beruf  der  eitern, 
landessitte). 

5)  die  berufswahl  mit  einem  an  Ubertinus  gerichteten  excnrs 
über  den  doppelten  weg  ad  excolendam  virtutem  et  ad  gloriam 
parandam:  armorum  et  litterarum  discipiina  und  näherer 
Schilderung  beider. 

6)  die  bildungsstof fe. 

a.  die  moralphilosophie. '"' 

b.  die  geschichte. 

(.'..  das    zeichnen ^'^    (desiguativa    oder   protractiva,    quantum    ad 

scripturam  attinet). 
d.  grammatik,  dialektik,  rhetorik  (in  einem  excurs  weist  er  nach, 

dasz    für   die    antike    rhetorik    in    der    gegenwart    sozusagen 

keine  stelle  mehr  sei).^'^ 


"^  er  fährt  fort:  quibusque  corpus  aut  animus  ad  optima  quaeqne 
disponitur  unde  honor  et  gloria  hominibus  quaeri  solet,  quae  sunt  sa- 
pienti  prima  post  virtutem  proposita  praemia,  nam  ut  illiberalibus 
ingenüs  luctus  et  voluptas  pro  fine  statuitur,  ita  ingenuis  virtus  et  gloria. 
das  könnte  auch  Cicero  geschrieben  haben,  überhaupt  ist  von  der 
ewigen  bestimmung  des  menschen  nach  christlicher  auffassung  in  der 
ganzen  schrift  nicht  die  rede. 

^'^  fol.  14^.  ceterae  quidem  enim  artium  liberales  dicuntur,  quia 
liberos  homines  deceant,  pliilosophia  vero  idcirco  est  liberalis,  quod  eius 
Studium  liheros  homines  efficit. 

3'8  die  Griechen,  bemerkt  er  (fol.  14''),  unterrichteten  ihre  kinder 
in  vier  gegenständen,  es  waren  dies  1)  litterae,  2)  luctativa,  3)  musica, 
4)  designativa.  zu  letzterer  äuszert  er  sich  also:  designativa  nunc  in 
usu  non  est  pro  liberali,  nisi  quantum  forsitan  ad  scripturam  attinet 
.  .  .  quoad  reliqua  vero  penes  pictores  resedit  (diese  treiben 
also  keine  'liberale'  beschäftigung!).  die  Griechen  hätten  sie  betrieben 
zur  schärfutig  des  kunstverständnisses,  denn  sie  hätten  ja  freude  an 
vasa,  tabulae  und  statuae  gehabt,  diese  stelle  ist  culturhistorisch 
interessant. 

3"  die  stelle  kennzeichnet  so  treffend  das  unbefangene  und  scharfe 
urteil  Vergerios  wie  die  innere  hohlheit  der  in  bälde  so  üppig  wuchern- 
den humanistischen  rhetorik,  dasz  sie  vollständig  hier  folgen  mag.  sie 
lautet  (fol.  15^):  rhetorica  vero  tertia  est  inter  rationales  disciplinas, 
per  quam  artificiosa  quaeritur  eloquentia,  quam  et  tertiam  posuimus 
inter  praecipuas  civilitatis  partes,  verum  ea  cum  nobilium  hominum 
studiis  celebrari  diu  consuevisset,  nunc  pene  prorsus  obsolevit. 
nam  a  iudiciis  quidem  eiecta  penitus  est,  ubi  non  perpetua  ora- 
tione,  sed  invicem  dialectico  more  adductis  in  causam  legibus  conteu- 
ditur.  in  quo  genere  plerique  quondam  ex  liomanis  adolesceutibus 
magnam  gloriam  sunt  assecuti  aut  deferendis  sontibus  reis,  aut  defen- 
dendis  insontibus.  in  deliberativo  vero  genere  iam  apud  prin- 
cipe s,  rerum  dominos,  nullus  est  ei  locus,  quum  paucis  expediri 
verbis  sententiam  volunt  et  nudas  afferri  in  consilium  rationes.  in 
populis    qui    vel   sine    arte   copiose   dicere   possunt,    clari   habentur. 


A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker.  289 

e.  poesie.^20 

f.  musik  (auch  theoretische  kenntnis  derselben). 

g.  mathematik  (arithmetik  und  geometrie). 
h.  naturwissenschaft.^^' 

i.  medicin.222 

k.  Jurisprudenz. '2' 
1.  theologie.^24 

(Diese  Wissenschaften  sind  nicht  alle  mit  der  gleichen 
gründlichkeit  zu  betreiben,  sondern  eine  ist  nach  der  indi- 
viduellen neigung  und  beanlagung  als  hauptstudium  zu  wählen, 
aber  ihr  Zusammenhang  ist  so  eng,  dasz  keine  bei  völliger 
Unkenntnis  der  andern  erfaszt  werden  kann,  fol.  16'').^*^ 
7)  einzelne  Studienregeln. 

a.  sogleich  die  besten  lehrer. 

b.  keine  überbürdung. 

c.  Ordnung  beim  Studium. 

d.  abendliche  repetition. 

e.  disputierübungen. 

f.  Zeiteinteilung  und  zeitausnützung. 

demonstrativum  (fol.  lö*")  genus  restat,  quod  ut  nusquam  est  usu 
sublatura,  ita  vix  usquam  ratione  invenitur.  nam  in  faciendis 
orationibus  his  artibus  utuntur  fere  omnes,  quae  contra  artem  bene  di- 
cendi  sunt,  quae  cum  ita  sint,  elaborandum  est  tamen  ei  quem 
volumus  bene  institutum,  ut  in  omni  genere  causarum  Or- 
nate copioseque  possit  ex  arte  dicere.  also  doch  rednerische 
ausbildung  —  mehr  zur  ausstattung  der  persönlichkeit,  als  weil  das 
leben  und  die  allgemeinheit  sie  brauchte,  der  subjective  bildungsfactor 
überwiegt  also. 

^2°  fol.  Ib^.  proxima  huic  (der  rhetorik)  est  poetica,  cuius  Studium 
etsi  conferre  plurimum  et  ad  vitam  et  ad  orationem  potest,  ad  delec- 
tationem  tamen  videtur  magis  accommodata.  ein  unbefangenes 
urteil,  wie  es  bei  den  humanistischen  pädagogen  in  diesem  punkte  selten 
ist,  da  sie  stets  vorwiegend  den  ethischen  und  rhetorischen  nutzen  der 
poesie  betouen. 

^*'  fol.  16^.  maxime  vero  scientia  de  natura  intellectui  humano 
consona  atque  confoimis  est,  per  quam  naturalem  (es  ist  wohl  naturalia 
zu  lesen)  rerum  animatarum  inanimatarumve  principia  passionesque 
eorum,  quae  caelo  et  mundo  continentur,  motuum  ac  transmutationum 
causas  effectusque  cognoscimus  ac  multorum  quidem  possumus 
causas  reddere,  quae  vulgo  miranda  videri  solent.  auch  hier 
ein  aufklärerischer  zug,  wie  er  schon  in  der  oben  citierten  bemerkung 
über  die  religiöse  Unterweisung  hervortritt. 

^^^  fol.  16^.  medicina  igitur  est  et  cognitu  pulcherrima  et  ad  sa- 
lutem  corporis  commodissima,  verum  exercitium  habet  minime 
liberale. 

^*3  fol.  J6''.  leg  um  peritia  publice  privatimque  utilis  est  et 
magno  ubique  honori  habetur,  et  ipsa  quidem  a  morali  philosophia 
derivata  est,  quemadmodum  ab  naturali  medicina;  aber  auch  hier  ist 
es  nicht  ehrenvoll,  seine  mühewaltung  sich  bezahlen  zu  lassen,  die 
letztere  bemerkung  ist  für  Vergerios  antik  gefärbte  anschauungen  ebenso 
charakteristisch,  wie  das  vorausgehende  für  seine  klare  einsieht  in  den 
inneren  Zusammenhang  der  Wissenschaften. 

^^*  fol.  16.^  scientia  vero  divina  est  de  causis  altissimis  et  rebus, 
quae  sunt  semotae  a  nostris  sensibus,  quas  intelligentia  tamen  attin- 
gimus.     das  ist  alles,  was  er  darüber  sagt. 

^^'  er    schlieszt    hieran    eine    Schilderung    der    verschiedenen  bean- 
lagungen  und  der  ihnen  passenden  beschäftigungen  (fol.  16 *> — 11^). 
N.  Jahrb.  f.  phil.  u.  päd.  II.  abt.  1897  hfl.  6.  19 


290  A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

V.  Die  körperliche  ausbildung.     (fol.  19^  z.  21  — 25»'  incl.) 

A.  körperliche  Übungen. 

1)  ihre  Verbindung  mit  dem  Studium'*®  und  ihr  ethischer  und 
gesundheitlicher  wert^"  (hinweis  auf  die  spartanische  er- 
ziehung  nach  Plutarchs  Lycurg). 

2)  auswahl  und  zweck  der  Übungen  (es  sind  solche  zu  wählen, 
welche  die  gesnndheit  fördern  und  die  glieder  kräftigen,  end- 
zweck  ist  kriegerische  tüchtigkeit.  hinsichtlich  der  art  und 
schwere  der  Übungen  ist  auf  die  körperliche  Constitution  und 
das  verschiedene  alter  zu  achten). 

Waflfenübungen  (mit  gladius,  ensis,  fustis,  lancea,  clipeus). 
laufen,  springen,  ringen,  faustkampf,  schleudern,  bogen- 
schieszen,  Speerwerfen,  Steinschleudern,  reiten,  zu  pferd  und 
zu  fusz  kämpfen,  schwimmen. 

Excurs  über  die  entwicklung  des  kriegswesens.  das- 
selbe ist  auch  theoretisch  zu  studieren. 

B.  erholungen. 

1)  spiele  (grundsatz  nuUus  turpis  aut  noxius  ludus)  besonders 
ballspiel  (pila  ludere). 

2)  jagd  (auch  Vogelfang  und  fischen). 

3)  völlige  ruhe,  auch  kleine  Spaziergänge  oder  ausreiten. 

4)  scherzhafte,    witzige   Unterhaltung   (nach    Plutarchs   Lycurg). 
6)  gesang  und  saitenspiel. '** 

6)  tanz  (zwar  gut  für  die  ausbildung  der  gewandtheit  [dexteritas], 
aber  sittlich  bedenklich). 

7)  brettspiele,  wie  überhaupt  alle  kampfspiele,  in  denen  mehr 
kunst  als  zufall  entscheidet,  sind  empfehlenswert,  Würfelspiel 
dagegen  verwerflich.  ^^ 

VI.  Schluszbemerkungen.     (fol.  26^  —  26'».) 

1)  man  hat  vorgeschlagen,  8  stunden  dem  schlaf,  8  stunden  der 
erholung,  8  stunden  dem  Studium  zu  widmen,  er  will  das  weder 
billigen  noch  verwerfen. 

2)  corporis  cultus  sit  decens  neque  nimium  exqUisitus  neque 
prorsus  neglectus,  sed  cum  rei,  loco,  tempori,  tum  maxime  per- 
sonae  conveniat. 

3)  indulgenda  sunt  tamen  adolescentibus  quaedam  neque  omnia 
eorum  peccata  severa  sunt  animadverslone  punienda.  nisi  enim 
ex  parte  aliqua  iuventutem  expleverit,  'aetatis  illius  vitia  con- 
feret  in  senectutem  (also  dem  grundsatz,  dasz  die  Jugend  sich 
austoben   müsse,    wird   eine   gewisse  berechtigung  zugestanden). 

4)  mahnung  an  den  prinzen,  die  auf  ihn  gesetzten  hoffnungen  zu 
erfüllen,    thut  er  es,  so  ist  Unsterblichkeit  des  namens  (also  die 

^**  denen  freilich,  deren  geist  mehr  für  die  Wissenschaften  geeignet 
ist  als  der  körper  für  den  kriegsdienst,  wird  geraten  sich  um  so  eifriger 
jenen  zuzuwenden:  quibus  vero  et  Ingenium  viget  et  corpus  est  validum , 
eos  oportet  utriusque  curam  habere  et  animum  quidem  ita  formare ,  ut 
vere  possit  decernere  et  ratione  velit  imperare  (fol.  19 1').  also  geistige 
und  sittliche  Selbständigkeit  als  ziel,  auch  hier  ist  wie  in  der  oben 
citierten  stelle  (fol.  3^)  die  ausgestaltung  der  menschlichen  Persönlich- 
keit, der  subjective  factor  der  bildung,  allein  ins  äuge  gefaszt. 

*2^  fol.  20''.  nam  deliciae  quidem  animos  hominum  corporaque 
dissolvunt,  labor  vero  confirmat  et  indurat. 

■'"8  fül.  25*.  die  Siculi  modi  dienen  mehr  der  remissio,  die  Gallici 
der  exercitatio  und  dem  motus,  die  Itali  halten  die  mitte,  et  item  quae 
pulsu  aut  cantu  fit  melodia  decentior  est,  quae  vero  spiritu  atque 
ore  minus  videtur  ingenuis  convenire  (von  culturhistorischem  Interesse!). 

323  fol.  2.5'.  aleae  vero  usus  aut  cupiditatem  habet  minime  libe- 
ralem, aut  indecentem  viro  mollitiem. 


A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker.  291 

heidnische,  nicht  die  christliche  Unsterblichkeit!)  sein  lohn, 
andernfalls  triflft  niemand  sonst  als  ihn  selbst  die  schuld  (also 
die  notwendigkeit  der  eignen  mitwirkung  des  zöglings,  seines 
guten  willens  nicht  verkannt,  die  bedeutung  von  lehre  und  lehrer 
nicht  überschätzt). 

B.  Lionardo  Bruni. 

I.  Prooemium.     c.  1  (1.  c.  s.  473—76). 

Hinweis  auf  Cornelia,  Sappho,  Aspasia  als  vorbild.  Baptistas 
rühm  (dieser  auch  hier  das  ziel!)  wird  um  so  herlicher  sein, 
als  die  Studien  jetzt  so  daruiederliegen ,  dasz  es  beinahe  ein 
wunder  ist,  wenn  man  bei  einem  manne,  geschweige  denn 
bei  einer  frau,  wahre  bildung  (eruditio)  findet,  eruditionem 
non  intelligo  vulgarem  istam  et  protritam,  quali  utuntur  hi,  qui 
nunc  theologiam  profitentur,  sed  legitimam  illam  et  ingenuam, 
quae  litterarum  peritiam  cum  rerum  scientia  coniungit. 
II.  Peritia  litterarum.     c.  2—4  (1.  c.  s.  476—79). 

1)  um  sie  zu  erlangen  ist  dienlich  der  Unterricht  (praeceptio) , 
aber  in  weit  höherem  grade  eigne  Sorgfalt  und  fleisz  (dili- 
gentia atqne  cura).ä^o 

2)  auf  den  grammatischen  Jugendunterricht,  den  wir  quasi 
somniantes  aufnehmen,  will  er  nicht  näher  eingehen:  eigne, 
gründlichere  grammatische  Studien  nach  Servius,  Donat,  Priscian 
müssen  folgen. ^^' 

3)  lectüre. 

a.  nur  solche  autoren  lesen,  welche  mustergültiges  latein 
schreiben.^^2 

b.  acri  iudicio  lesen  (videat  legens,  quo  quidque  loco  sit  positum, 
quid  designent  singula  et  quid  valeant,  nee  maiora  tantum, 
sed  minutiora  discutiat). 

c.  christliche  autoren:  Augustinus,  Hieronymus ,  Ambrosius, 
Cyprianus,  besonders  Lactantius  (vir  omnium  Christianorum 
procul  dubio  eloquentissimus)  oder  eine  (gute!)  Übersetzung  des 
Gregor  v.  Nazianz,  des  Johannes  Chrysostomus  und  ßasilius. 
heidnische:  Cicero ^^3,  Vergil,  Livius,  Sallust  (et  alii  poetae 
ac  scriptores  suo  ordine  subsequuntur). 

4)  schreib-  und  Sprechübungen,  dabei  peinliche  Sorgfalt  auf 
Sprachreinheit.  32* 


"°  denselben  gedanken  hat  Vergerio  in  den  schluszworten  seiner 
abhandlung  ausgesprochen. 

^''  es  wird  also  ein  doppelter  grammatischer  cursus  vorausgesetzt, 
was  uns  auch  später  z.  b.  bei  Guarino  begegnen  wird. 

^^^  die  hoclisehätzung  der  'Sprachreinheit'  tritt  bei  Bruni  viel 
schärfer  hervor  als  bei  Vergerio.  der  mahnung  nur  zu  lesen,  quae 
ab  optimis  probatissimisque  latinae  linguae  auctoribus  scripta  sunt  — 
einer  mahnung  die  in  den  schluszworten  mit  besonderem  nachdruck  wieder- 
holt wird  —  fügt  er  die  Warnung  bei:  ab  imperitis  vero  ineleganterque 
scriptis  ita  caveamus,  quasi  a  calamitate  quadara  et  labe  in- 
genii  nostri  (a.  a.  o.  s.  477). 

333  quem  virum!  deus  immortalis!  quanta  facundia,  quanta  copia! 
quam  perfectum  in  litteris,  in  omni  genere  laudis  singularem!  —  Vergil 
wird  genant  decus  ac  deliciae  litterarum  nostrarum  (p.  477). 

334  ipsa  vero  curabit  quam  diligenter,  ut  quotiens  ei  vel  loquendum 
Sit,  vel  scribendum,  nullura  ponat  verbum,  quod  non  antea  in  aliquo 
ipsorum  (d,  h.  der  mustergültigen  autoren)  repererit.  —  Man  denkt  un- 
willkürlich an  den  Nosobulos  im  Ciceronianus  des  Erasmus  und  an  seine 
unendlichen  register. 

19* 


292  A,  Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

5)  kenntnis  der  Orthographie,  der  quantität,  des  poetischen 
und  prosaischen  rhythmus.'^^ 

III.  Scientia  rerum.     c.  5—8  (1,  c.  s.  479—494). 

A.  disciplinen,  von  denen  nur  eine  übersichtliche  kenntnis 
notwendig'  ist. 

1)  geometrie  und  arithmetik. 

2)  astrologie. 

3)  rhetorik  (wenigstens  braucht  eine  frau  derselben  kein  ein- 
gehenderes Studium  zu  widmen:  totam  fori  asperitatem  viris 
relinquet).  ^^"^ 

B.  disciplinen,  die  gründlich  zu  betreiben  sind. ^37 

1)  sacrarum  litterarura  cognitio.^^'* 

2)  Philosophie  (er  meint,  wie  der  Zusammenhang ^^^  zeigt,  vor- 
nehmlich moralpbilosophie). 

3)  historiae  cognitio  (sie  ist  geziemend,  belehrend,  leicht  zu 
fassen  und  zu  behalten  und  bietet  beispiele  zum  schmuck 
der  eignen  productionen. 

4)  lectüre  der  redner  (sie  wirken  in  ethischer  hinsieht  mächtiger 
als  die  philosophen  durch  erregung  und  sänftigung  der  aflfecte, 
und  sie  geben  seutentiarum  verborumque  ornamenta). 

5)  lectüre  der  dichter  (sie  wird  ausführlich  verteidigt  und  warm 
empfohlen,  eine  frau  allerdings  mag  die  komiker  und  Satiriker 
ungelesen  lassen,  aber  einen  Vergil ,  Statins,  Seneca  u.  a. 
musz  auch  sie  studieren).-'^" 

IV.  Schlusz.     c.  9  (1.  c.  s.  494  f.). 

1)  die  sprachliche  und  sachliche  bildung  vereinigen!  (et 
litterae  sine  rerum  scientia  steriles  sunt  et  inanes:  et  scientia 
rerum,  quamvis  ingens,  si  splendore  careat  litterarum,  abdita 
quidem  obscuraque  videtur.) 

2)  religionis  denique  et  bene  vivendi  studia  mihi  prae- 
cipua  sunt,  cetera  vero  omnia,  tamquam  adminicula  quae- 
dam  ad  ista  referri  debent  vel  adiuvanda  vel  illustranda,  eaque 
de    causa  poetis  et  oratoribus  et  scriptoribus  aliis  inhaerendum. 

3)  zum  Schlüsse  nochmals  die  mahnung:  nee  umquam  nisi  optima 
probatissimaque  (natürlich  in  sprachli  eher  hinsieht!)  legamusl 


33»  auch  die  anforderungen  in  diesem  punkte  gehen  recht  weit. 

"•*  er  bemerkt  zur  ars  rhetorica:  mitius  vero  de  hac  postrema  dixi, 
quoniam  si  quisquam  viventium  illi  adfectus  fuit,  me  unum  ex  hoc  nu- 
mero  esse  profiteor. 

3"  est  enini  decorum,  tum  propriae  gentis  originem  et  pro- 
gressus,  tum  liberorum  populorum  regumque  maximorum  et  hello  et  pace 
res  gestas  cognoscere. 

33S  natürlich  nur  die  alten  autoren  lesen!  novos  istos,  si  boni 
sint  viri,  honoret  quidem  ac  veneretur,  ceterum  eorum  scripta  non  un- 
quam  attingat  (s.  481). 

339  haec  igitur  duo ,  quorum  alterum  ad  religionem ,  alterum  (näm- 
lich die  Philosophie)  ad  bene  vivendum  spectat,  reliquis  praeferenda 
sunt,     charakteristisch  ist  die  trennung  von  religion  und  Sittlichkeit. 

340  die  Stelle  tritt  durch  fülle  und  wärme  der  darstellung  hervor, 
man  merkt,  dasz  der  Verfasser  hier  über  eine  gerade  lebhaft  umstrittene 
frage  spricht.  —  Ansprechend  vermutet  Rösler  (a.  a.  o.  s.  180),  dasz 
Bruni  hier  polemisiert  gegen  des  cardinal  Johannes  Dominicis  Schrift 
lucula  noctis  (eine  inhaltsangabe  derselben  gibt  Rösler  s.  7  ff.  sie  war 
1405  erschienen,  nimmt  Bruni  wirklich  darauf  bezug,  so  wäre  dies  ein 
weiterer  grund,  seine  schrift  nicht  allzu  lange  nachher  anzusetzen). 

(fortsetzung  folgt.) 
GiESzEN,  August  Messer. 


E.  Plaumann:  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich.     293 

(17.) 

DER  MYTHOS  VON  ADMET  UND  ALKESTIS  UND  DIE  SAGE 
VOM  ARMEN  HEINRICH. 

(fortsetzung:.) 


Wielands  Alceste,  Singspiel,  von  A.  Schweitzer  in  musik 
gesetzt  und  1773  und  1774  auf  dem  damaligen  Weimarischen  hof- 
theater  aufgeführt.  Ellinger  zollt  dem  dramatischen  fortschritt,  den 
dies  drama  gegenüber  von  Wielands  Jugendarbeiten  bekunde,  bei- 
fall;  derselbe  erkläre  sich  aus  dem  Studium  Shakespeares  und 
Lessings.  die  dramatische  technik  ist  besser,  die  spräche  lebendiger, 
und  in  der  feinen  psychologischen  motivierung  offenbart  W.  die 
meisterschaft,  welche  er  durch  die  ausbildung  der  poetischen  er- 
zählung  sich  angeeignet  hat.  E.  rühmt  den  ersten  und  noch  mehr 
den  zweiten  act  als  vortrefflich  entworfen  und  mit  geschick  aus- 
geführt; tadelt  dagegen  den  dritten  und  vierten,  weil,  besonders  im 
vierten,  die  handlung  still  stehe,  und  auch  der  fünfte  ist  trotz 
einiger  schönen  stellen  nicht  unbedingt  zu  loben,  den  Personen- 
stand betreffend  fehlt,  wie  bei  Calsabigi,  der  Pheres;  dafür  aber  ist 
eingetreten  Alcestens  Schwester  Parthenia  (E.  s.  32  ff,). 

Wieland  trat  mit  dieser  dichtung  nach  seinen  eignen  Worten 
(Hempelsche  ausg. ,  Berlin,  bd.  29  s.  37  ff.)  ausdrücklich  mit  dem 
classischen  dichter  in  die  schranken,  besonders  nachdem  dieselbe 
von  dem  Deutschen  Schweitzer  in  musik  gesetzt  war,  dessen  com- 
position  er  mit  dem  höchsten  lobe  belegt,  da  er  es  verstanden  habe, 
so  ganz  in  die  idee  des  dichters  und  der  handelnden  personen  sich 
hineinzuversetzen  selbst  da ,  wo  es  dem  dichter  nicht  gelungen  sei, 
seine  gedanken  in  die  rechten  worte  zu  kleiden."*  'nur  noch  etliche 
meisterstücke',  fährt  W.  wörtlich  fort,  'wie  seine  Alceste,  so  wird 
dieser  mann  der  nachweit  gewis  so  ehrwürdig  sein,  als  gewis  mir 
seine  Alceste  für  die  Unsterblichkeit  der  meinigen  bürge  ist'. 

Schon  aus  diesen  werten  ist  ersichtlich,  dasz  W.  auf  seine 
Alceste  nicht  wenig  stolz  war;  ja  er  gieng  bekanntlich  so  weit,  sie 
für  wesentlich  besser  zu  halten  als  das  Schauspiel  des  Euripides. 
über  seine  Veränderungen  und  Verbesserungen  hat  er  sich,  wie  be- 
kannt, ausgesprochen  im  deutschen  Merkur  in  den  'briefen  an  einen 
freund'^  über  das  deutsche  Singspiel  Alceste  (W.s  werke,  Hempel 
Berlin,  bd.  29  s.  37—73). 

Fassen  wir  es  mit  wenigen  worten  zusammen,  worin  Wieland 
den  Euripides  übertroffen  zu  haben  meint,  so  ist  es  im  gründe  nicht 

**  vgl.  damit,  was  Lessing  'Hamb.  dramat.  ankündigung'  von  dem 
Schauspieler  und  seiner  aufgäbe  sagt:  'er  musz  überall  mit  dem  dichter 
denken;  er  musz  da,  wo  dem  dichter  etwas  menschliches  widerfahren 
ist,  für  ihn  denken.' 

*^  Joh.  Georg  Jacobi. 


294     E.  Plaumann:  Admet  uüd  Alkestis  und  der  arme  Heinrich. 

weniger  als  alles:  da  bat  er  zunächst  die  zahl  der  personen  zum 
vorteil  des  stücks  gemindert:  Apollo,  Pheres,  die  chöre  musten 
fallen,  eine  person  '^  freilich  trat  hinzu ,  doch  durch  die  nahe  be- 
ziehung  zu  den  bauptpersonen  wurde  sie  ein  angenehmer  ersatz  für 
andere  personen  des  Euripides.  dann  ist  der  i^lan  des  ganzen  und 
seine  ausführung  vereinfacht,  dazu  kommt  drittens  die  art,  wie 
Hercules  in  die  handlung  verflochten  ist,  ebenso  wie  sein  Charakter, 
in  welchem  Wieland  sich  an  die  darstellung  des  Prodicus  gehalten, 
wiewohl  er  sich  entschuldigen  musz,  dasz  der  charakter  nicht  durch- 
weg aus  einem  gusse  sei.  und  scblieszlich  sind  die  Charaktere  der 
andern  personen  geändert  und  —  gebessert,  der  Alcestens  und  der 
des  Admet,  und  letzteren  rühmt  er  sich  besonders  gelungen  dar- 
gestellt zu  haben ,  weil  nur  so  durch  mehrere  acte  unser  Interesse 
für  ihn  nach  dem  tode  der  liebenswürdigen  Alceste  wach  zu  ein- 
halten möglich  gewesen  sei.  und  ganz  zum  schlusz  ist  auch  die 
Wiedererweckung  Alcestens  besser  gestaltet  und  die  etwa  ent- 
stehende frage  nach  dem  'wie?'  treffender  beantwortet. 

Ellinger  (a.  a.  o.  s.  36  ff.)  hebt  hiervon  drei  punkte  als  haupt- 
sächlich charakteristisch  für  die  moderne  Alceste-behandlung  heraus 
im  unterschiede  zu  der  Learbeitung  des  Euripides,  gegen  die  auch 
Wielands  tadel  in  dem  stück  des  Euripides  sich  richtet:  1)  das  ge- 
spräch  des  Admet  mit  seinem  vater  Pheros;  2)  die  thatsache,  dasz 
Alceste  sich  mit  Zustimmung  des  Admet  opfert,  und  3)  das  burschi- 
kose auftreten  des  Hercules,  unbedingt  beistimmen  kann  Ellinger 
—  und  auch  ich  bin  der  ansieht  —  nur  dem  ersten  tadel,  weniger 
dem  zweiten  und  am  wenigsten  dem  dritten,  man  hat  dabei  einen 
zu  modernen  maszstab  angelegt. 

Ergrimmt  über  das  Singspiel  und  die  fünf  briefe  darüber, 
welche  Wieland  im  januar  und  märz  1773  in  den  ersten  heften 
des  von  ihm  eben  begründeten  'deutschen  Merkur'  herausgegeben 
hatte,  machte  ihn  Goethe  in  einer  farce  (satire)  'götter,  beiden 
und  Wieland' "  lächerlich  (Goethes  werke  herausgeg.  von  Strehlke, 
Berlin,  Hempel,  bd.  8  s.  253 — 74).  die  ganze  scene  spielt  in 
der  unterweit,  wohin  Merkur  eben  einige  seelen  geleitet  hat  und 
auch  Wieland  im  schlafe  citiert  wird.  Merkur  erhebt  darin  gegen 
Wieland  die  anklage,  dasz  er  seinen  namen  gemisbraucht,  ihn  pro- 
stituiert habe;  Admet  und  Alceste,  dasz  er  ihre  Charaktere  ver- 
hunzt, aus  ihnen  abgeschmackte,  gezierte,  hagere,  blasse  püppchen 
gemacht,  die  beide  für  einander  sterben  wollten;  zumal  habe  er 
keine  ahnung  von  den  gründen  für  Admets  liebe  zum  leben; 
Euripides,  Wieland  habe  keine  ader  griechischen  blutes  im  leibe 
und  kein  Verständnis  für  die  idee  von  des  Euripides  stück,  von  den 
Charakteren,  von  dem  gründe,  auf  dem  das  stück  aufgebaut  sei, 
auch  nicht  von  der  griechischen  gastfreundschaft  u.  dgl.;   ebenso 


"  Parthenia,  Alcestens  Schwester. 

"  form  und  einkleidung  betreflfend  s.  Ellinger  s.  39. 


E.  Plaumann:  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich.     295 

keine  Vorstellung  von  dem  werte  des  prologs  und  von  der  persön- 
lichkeit, die  ihn  spreche,  von  Apollo,  und  von  der  bedeutung  des 
chors.  Hera  des  spricht  ihm  schlieszlich  überhaupt  die  Fähigkeit 
der  Phantasie  ab,  um  gestalten,  wie  er,  auch  nur  sich  vorzustellen, 
geschweige  denn  darzustellen,  den  gestalten  Wielands  wird  hier- 
gegen der  Vorwurf  gemacht,  dasz  dieselben  alle  aus  einer  familie 
stammten,  sie  sähen  einander  ähnlich ,  wie  ein  ei  dem  andern,  und 
der  dichter  habe  sie  zu  einem  unbedeutenden  brei  zusammengerührt : 
da  sei  eine  frau,  die  für  ihren  mann  sterben  wolle,  ein  mann,  der 
für  seine  frau  sterben  wolle,  ein  held,  der  für  beide  sterben  wolle, 
so  dasz  nichts  weiter  übrig  bleibe,  als  das  langweilige  stück  Parthenia, 
die  man  am  liebsten  beseitigte. 

Ist  nun  früher  die  ansieht  geäuszert  worden  (Rosenkranz, 
Goethe  u,  s.  werke,  2e  aufl.  s.  173),  dasz  das  ganze  mehr  gegen  den 
deutschen  Merkur  als  gegen  die  Alceste  gerichtet  gewesen  sei;  oder 
(H.  Koepert,  über  'götter,  beiden  und  Wieland',  progr.  d.  gyranas. 
zu  Eisleben  1864),  dasz  Goethe  unter  anderm  auch  beweisen  wolle, 
Wieland  habe  keinen  beruf  zum  dramatiker,  so  ist  jetzt  wohl  die 
ansieht  herschend,  dasz  vielmehr  einzig  oder  überwiegend  das  Sing- 
spiel und  die  briefe  es  sind,  welche  Goethe  angreift '\  vgl.  Strehlke, 
vorrede  zu  Goethes  werken,  bd.  8  s.  255  ff.  und  Foerster  in  der  ein- 
leitung  dazu,  ebenso  Ellinger  a.  a.  o.  s.  36,  der  sogar  behauptet,  und 
das  scheint  mir  auch  richtig,  dasz  weniger  die  Alceste  selbst,  trotz- 
dem Goethe  an  dei'selben  die  modernisierung  der  alten  helden- 
gestalten'^  abstiesz,  als  vielmehr  die  briefe  über  das  Singspiel  das 
ziel  von  Goethes  satire  sind. 

Da  möchte  es  sich  denn  doch  zunächst  fragen,  —  und  dieser 
frage  Strehlkes  musz  man  sich  anschlieszen  —  ob  Wieland  wirklich 
in  seiner  darstellung  der  Alceste  einen  so  furchtbaren  misgriff  gethan 
hat.  man  hat  seit  Goethes  satire  dies  fast  allgemein  angenommen, 
und  es  ist  dem  gegenüber  schon  auffallend ,  wenn  F.  H.  Jacobi  in 
einem  briefe  an  Heinse  vom  24  october  1780  ein  urteil  Lessings  an- 
führt, welches  ganz  anders  lautet:  'mir  fällt  bei  dieser  gelegenheit 
ein',  schreibt  Jacobi,  'dasz  Lessing  von  der  farce  «götter,  beiden 
und  Wieland»  sagte,  Goethe  hätte  darin  bewiesen,  dasz  er  noch  viel 
weiter  als  Wieland  entfernt  sei,  den  Euripides  zu  verstehen.  Goethes 
ideen  darüber  seien  der  klarste  unsinn,  wahres  tolles  zeug,  es  sei 
unverantwortlich  von  Wieland,  dasz  er  dies  damals  nicht  ans  licht 
gestellt  habe.'   allerdings  stammt  dieser  brief  aus  einer  zeit,  in  der, 

'*  schon  Kehrein,  die  dramatische  poesie  der  Deutschen,  Leipzig 
1840  I  s.  279  sagt:  'gegen  die  allzu  modern  gehaltene  Alceste  war 
Goethes  jugendlich-kühne  satire  «götter  usw.»  besonders  gerichtet.' 

'ä  schreibt  Goethe  doch  selbst  in  einem  briefe  an  seinen  freund, 
den  consul  Schoenborn  in  Algier,  vom  1  juni  1774  in  bezug  auf  dieses 
stück:  'auf  Wieland  habe  ich  ein  schändlich  ding  drucken  lassen, 
unterm  titel  «götter,  beiden  und  Wieland,  eine  farce».  ich  turlupiniere 
ihn  auf  eine  garstige  weise  über  seine  moderne  mattherzigkeit  in  dar- 
stellung jener  liesengestalten  einer  markigen  fabelweit'  (Str.). 


296     E.  Plaumann:  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich. 

wie  aus  dem  übrigen  inhalt  desselben  hervorgeht,  Jacobi  wegen  der 
kreuzerhöhung  des  Woldemar^"  noch  höchst  entrüstet  war,  so  dasz 
er  Lessings  urteil  etwas  herb  darstellen  mochte;  aber  so  viel  ist 
wenigstens  darnach  sicher,  dasz  Zelter  (Goethe- Zelterscher  brief- 
wechsel  V  55)  bedeutend  irrt,  wenn  er  meint,  Goethes  farce  habe 
Lessing  bei  ihrem  erscheinen  groszen  spasz  gemacht  usw.  die 
Alkestis  des  Euripides  ist  keineswegs  eine  tragödie  im  eigentlichen 
sinne  des  worts.  das  beweist  nicht  allein  die  katastrophe,  sondern 
vor  allem  der  durchaus  mit  komischen  elementen  versetzte  Charakter 
des  Hercules,  der  sich  wesentlich  von  dem  in  der  tragödie  z.  b.  in 
den  'Trachinierinnen'  des  Sophokles  oder  in  dem  'rasenden  Heracles' 
des  Euripides  selber  unterscheidet.^'  ja  auch  der  Hercules  des 
Prodicus  hat  in  gewissem  sinne  seine  berechtigung.  war  es  nun 
Wieland  zu  verargen,  dasz  er  von  diesem  vielgestalteten  charakter 
diejenige  auffassung  wählte,  welche  seinen  zwecken  am  angemessen- 
sten erschien?  es  handelte  sich  für  ihn  um  ein  rührendes  Singspiel 
—  und  wir  glauben  nicht,  dasz  er  einen  Heracles  in  anderer  gestalt 
als  in  der  von  ihm  gewählten  hätte  brauchen  können,  kann  sich 
doch  überhaupt  das  singspiel  und  die  oper  nicht  auf  eine  allzu 
specielle  Zeichnung  der  Charaktere  einlassen ,  sondern  musz  all- 
gemeine typen  festhalten,  ebenso,  scheint  es,  geschieht  Wieland 
unrecht,  wenn  Goethe  ihn  tadelt,  dasz  er  den  Admet  nicht  ohne 
das  gröste  sträuben  das  opfer  der  Alkestis  annehmen  läszt.  dem 
modernen  sinn  widerstrebt  das  verfahren  des  Admet,  der  bei  Euri- 
pides seinen  vater  und  seine  mutter  hat  bewegen  wollen ,  für  ihn  zu 
sterben,  und  als  diese  nicht  darauf  eingehen,  ohne  weiteres  das 
opfer  seiner  gattin  annimmt.  Wieland  muste  der  sache  eine  andere 
Wendung  geben,  wenn  er  sie  moderner  anschauung  näher  bringen 
wollte,  das  hat  Goethe  selbst  in  seiner  Iphigenie  gethan ,  die  in- 
dessen nur  in  diesem  punkte  mit  der  Alkestis  verglichen  werden 
soll,  aber  wenn  auch  Wieland  in  diesen  beiden  punkten  gerecht- 
fertigt werden  kann,  so  wird  darum  nicht  behauptet,  dasz  sein 
Singspiel  nicht  in  vieler  beziehung  ein  schwaches  product  ist,  das 
in  handlung  und  Charakteristik  zu  den  wesentlichsten  ausstellungen 
veranlassung  gibt,  dazu  kam  ferner,  dasz  Wieland,  namentlich 
nachdem  Schweitzer  sein  stück  in  musik  gesetzt  hatte  und  dasselbe 

20  yg]^  Foerster,  einleitung  zu  Goethes  leben  und  werken,  Berlin, 
Hempel,  1868,  ausg.  v.  Strehlke.  mit  F.  H.  Jacobi  trat  eine  etwas 
längere  Spannung  ein.  an  dieser  trug  Goethe  selbst  die  schuld,  in 
übermütiger  laune  und  heiterer  gesellschaft  hatte  er  dessen  roman 
Woldemar  (1779)  an  einen  baura  genagelt,  war  dann  selbst  auf  diesen 
hinaufgestiegen  und  hatte  über  den  armen  sünder  eine  komische  stand- 
rede gehalten,  es  dauerte  einige  jähre,  bis  Jacobi  sich  wieder  ver- 
söhnlich zeigte,  vermittelungen  durch  Knebel,  durcli  frau  von  La  Roche, 
durcli  frau  Schlosser  in  Emmendingen  (vgl.  briefwechsel  zwischen  Goethe 
und  F.  H.  Jacobi  s.  57)  erwiesen  sich  als  erfolglos;  aber  am  2  october 
1782  schreibt  Goethe  usw. 

"  vgl.  Ellinger  a.  a.  o.  s.  1:  'Euripides  liesz  bekanntlich  die  Alkestis 
als  viertes  stück  an  stelle  des  satyrdramas  aufführen.' 


E.  Plaumann:  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich.     297 

in  Weimar  aufgeführt  war,  allzu  groszes  gefallen  an  seinem  eignen 
werke  fand  und  sich  sogar  berufen  fühlte ,  wozu  für  ihn  nicht  die 
mindeste  veranlassung  vorlag,  die  behandlung  des  Euripides  in  den 
oben  erwähnten  briefen  gegen  die  seinige  herabzusetzen.^'*  das 
reizte  Goethe,  und  die  satire  wurde  ebenso  schnell  verfaszt  wie 
herausgegeben.  —  Die  durchaus  gemäszigten  entgegnungen  Wielands 
finden  sich  in  dem  juliheft  des  Merkur  von  1774.  in  einer  derselben 
beiszt  es:  'wir  empfehlen  diese  kleine  schrift  allen  liebhabern  der 
pasquinischen  manier  als  ein  meisterstück  von  persiflage  und  sophisti- 
schem witz ,  der  sich  aus  allen  möglichen  Standpunkten  sorgfältig 
denjenigen  aussucht,  aus  dem  ihm  der  gegenständ  schief  vorkommen 
musz  ,  und  sich  dann  recht  herzlich  lustig  darüber  macht,  dasz  das 
ding  so  schief  ist'  (Str.).  übrigens  wüste  Goethe ,  entweder  weil  er 
sich  überzeugte,  dasz  Wielands  ansieht  vom  ästhetischen  gesichts- 
punkte  aus  wohl  motiviert  sei,  oder  weil  es  ihm  leid  that,  den  sonst 
hochverehrten  mann  gekränkt  zu  haben ,  der  noch  dazu  seine  ent- 
gegnungen in  sehr  gemäszigter  weise  aussprach,  ihn,  noch  ehe  sich 
die  Verhältnisse  mit  Weimar  zu  bilden  begannen,  durch  einen  offen- 
herzigen bi'ief  zu  versöhnen  (Foerster). 

'Allerdings  ist  die  satire',  sagt  auch  Ellinger  a.  a.  o.  s.  39  ff., 
'in  hohem  grade  ungerecht ;  denn  so  erbärmlich ,  wie  Goethe  es 
schildert,  ist  Wielands  stück  nicht;  diesen  schonungslosen  spott  hat 
es  keineswegs  verdient,  allein  man  musz  immer  erwägen,  dasz  es 
Goethes  absieht  in  allen  dingen  war,  Wieland  wegen  der  briefe  im 
deutschen  Merkur  zu  strafen,  wenn  Goethe  später  in  die  bahn, 
welche  Wieland  in  der  Alceste  eingeschlagen,  mit  der  Iphigenie 
wieder  einlenkte  (vgl.  auch  E.  s.  35  ff.),  so  kann  man  darin  viel- 
leicht ein  zeichen  sehen,  dasz  er  die  Ungerechtigkeit  seines  Urteils 
erkannte  und  dasselbe  durch  die  that  wieder  gut  zu  machen  suchte.' 
ein  mündliches  oder  schriftliches  eingeständnis  dessen  liegt  sicher- 
lich doch  schon  in  dem  oben  angeführten  briefe  an  Schoenborn  und 
speciell  in  der  bezeichnung  'schändlich  ding'  für  seine  eigne  dichtung 
und  'garstige  weise'  für  sein  verfahren,  aber  auch  in  einem  andern 
briefe,  an  Kestner,  schreibt  Goethe:  'mein  garstig  zeug  gegen  Wieland 
macht  mehr  lärm  als  ich  dachte,  er  führt  sich  gut  dabei  auf,  und 
so  bin  ich  im  tort.'  in  einem  andern  briefe  spricht  er  von  einem 
gewissen  schand-  und  frevelstück  'götter,  beiden  und  Wieland', 
'hatte  man  früher  die  Alceste  Wielands  nur  wenig  beachtet  und 
sich  besonders  infolge  der  Verspottung  Goethes  daran  gewöhnt,  sie 
als  verfehlt  zu  betrachten ,  so  gerät  man  jetzt  in  die  gefahr ,  sie  zu 
überschätzen'  (E.  s.  35). ^^^ 

"  vgl.  auch  Ellinger:  'was  uns  an  dem  ganzen  aufsatz  von  Wieland 
am  unangenehmsten  auffällt,  ist  die  Selbstgefälligkeit  und  eitelkeit, 
mit  welcher  er  seine  Alceste  der  des  Euripides  als  voUkommneres  werk 
gegenüberstellte.' 

23  sicherlich  wäre  es  nun  von  groszem  Interesse  zuzusehen,  ob 
nicht  vielleicht  in  der  Weimarischen  ausgäbe  Goethes,  in  briefen  usw. 


298     E.  Plaumann:  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich. 

Auch  Bacine  (1639  —  99)  hat  den  plan  gehabt,  den  Alceste- 
stoff  in  moderner  form  auf  die  bühne  zu  bringen,  bat  ihn  aber  nicht 
ausgeführt  (E.  s.  40). 

Saint- Foix  'Alceste'.  divertissement  1752.  nicht  behand- 
lung  der  antiken  sage,  sondern  eine  frostige  allegorie,  ein  ganz 
klägliches  machwerk;  eine  fade,  platte  Schmeichelei  gegen  den 
französischen  dauphin  und  dessen  gattin  (E.  s.  40  f.). 

Alfieri,  der  gröste  italienische  tragiker  des  18n  Jahrhunderts 
'Alcesta  seconda';  eine  mystification,  als  wäre  auch  dieses  die  Über- 
setzung eines  zweiten  Stückes  des  Euripides  (thatsächlich  hat  A. 
die  Alkestis  des  Euripides  übersetzt),  deshalb  am  Schlüsse  jeden 
actes  ein  chorgesang;  nüchtern  und  banal,  die  hellenischen  helden- 
gestalten  sind  aller  grösze  entkleidet  und  zu  ganz  gewohnlichen 
menschen  gemacht,  doch  fehlen  auch  die  sonstigen  poetischen 
Schönheiten;  die  handlung  matt,  motivierung  schwach,  spräche 
schablonenhaft;  Alcestens  edelmut  eindruckslos,  weil  auch  Pheres 
desselben  teilhaftig  ist  (E.  s.  42). 

Jean  Fran9ois  Ducis  'Oedipe  chez  Admöte  1778.'  Ver- 
bindung der  Alceste-sage  mit  den  vergangen  des  Oedipus  auf 
Kolonos;  wunderlicher  mischmasch;  Admet  und  Alceste,  Polynices 
und  Oedipus  wetteifern  in  Opfermut  (unnatürlich!),  dabei  jedoch 
auszerordentliches  theatralisches  geschick  und  reichliche  theater- 
effecte,  aber  die  spräche  frostig,  hohles  pathos  und  ungehörige  Ver- 
mischung zweier  sich  ganz  fremder  sagen,  im  ganzen  ist  das  stück 
ungenieszbar  (E.  s.  45  fl".). 

Cornelius  von  Ayrenhoff,  Wiener  poet.  Satire  auf  die 
Alceste-sage  'Alceste',  ein  lustspiel  des  Aristophanes,  aus  dem 
griechischen  übersetzt  (zuerst  gedruckt  in  Ayrenhofifs  sämtl.  werken, 
Wien  1803).  hauptangrifiF  gegen  Calsabigi  gerichtet,  in  seiner  vor- 
rede bezeichnet  er  die  sage  als  abgeschmackt  und  für  einen  Christen 
gefährlich,  im  stück  erscheint  Alceste  als  gemeine  buhlerin.  arm- 
selige erfindung,  klägliche  ausführung,  gewürzt  mit  platten,  faden 
scherzen  und  niedrig  gemeinen,  obscönen  witzen:  ein  erbärmliches 
und  albernes,  ja  ekelhaftes  machwerk  (E.  s.  47  ff.). 

Herder  'Admetus'  haus  oder  der  tausch  des  Schicksals',  ein 
drama  mit  gesängen,  1802  —  3:  in  einzelnen  zügen  durch  Calsa- 
bigi beeinfluszt.  nicht  durchweg  gelungen  und  hinter  Wielands 
Alceste  zurückstehend ;  es  fehlt  die  belebende  dramatische  kraft, 
zerbröckelt  in  einzelne  lyrische  scenen;  auch  Verletzung  der  Stim- 
mung z.  b.  der  tod  als  knochenmann  in  einem  antiken  drama! 
(E.  s.  50  flf.). 


vor  allem  im  Goethejahrbuch  etwas  neues  über  'götter,  beiden  und 
Wieland'  steht;  auch  inwieweit  die  Alceste  Wielands  in  aufsätzen  und 
reeensionen  wapen  ihres  etwaigen  einflusses  auf  Goethes  oder  Glucks 
Iphigenie  besprochen  worden  ist.  doch  die  umstände  verbieten  mir 
dies,     auch  kann  für  meinen  zweck  obiges  genügen. 


E.  Plaumann:  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich.     299 

Mit  Herders  stück  schlieszt  die  entwicklungsgeschichte  der 
Alceste  in  der  modernen  litteratur  vorläufig  ab  (E.  s.  53). 

Einen  dem  mythos  von  der  Alkestis  vielfach  ähnlichen  stofE" 
hat  Hartmann  von  Aue  behandelt  in  der  sage  'der  arme  Heinrich', 
einer  poetischen  erzählung,  zu  der  er  den  stoff  einer  lateinisch  auf- 
gezeichneten einheimischen  sage  entlehnte,  einer  geschlechtssage 
seiner  lehnsherren,  der  schwäbischen  herren  von  Aue.^'  hierbei 
musz  ich  verweisen  auf  ein  buch  von  P.  Cassel :  'die  Symbolik  des 
blutes  und  der  arme  Heinrich  von  Hartmann  von  Aue  (Berlin, 
A.  Hofmann  &  co.,  1882).*  im  besonderen  kommen  hier  in  betracht 
die  abschnitte  'jungfrauenopfer'  s.  138  ff.,  'kinderopfer  und  blut' 
s.  147  flF. ,  'von  der  heilung  des  aussatzes  durch  blut'  s.  158  ff.  und 
für  den  armen  Heinrich  der  abschnitt:  'die  dichtung  und  ihre 
deutung'  s.  124  —  223.  es  ist  dies  buch  nach  des  Verfassers  eignen 
werten  eine  in  gröszerem  maszstabe  angelegte  fortführung  eines 
aufsatzes  von  ihm  in  dem  Weimarischen  Jahrbuch  des  jahres  1854, 

Der  Stoff  knüpft  an  bekannte  zeitvorstellungen  an  (rittertum, 
bauernstand,  aussatz,  Salernos  medicinischer  ruf),  behandelt  ein 
tiefes  Seelenproblem  und  ist  im  besten  sinne  geistlich  und  fromm -^ 
rührend  und  erhebend,  der  plötzliche  Umschlag  des  geschicks  ist 
ebenso  wahr  als  ergreifend  geschildert  (Frick)^®: 

Im  lande  der  Schwaben  lebt  ein  ritter,  der  bei  jugendlichem 
alter  reich  an  macht  und  weltlicher  fügend  und  deshalb  weit  und 
breit  berühmt  ist.  doch  bei  diesem  weltlichen  reichtum  geistlich 
arm  wird  er  in  dem  voUgenusz  irdischer  guter  von  gott  mit  einer 
schweren  prüfung  heimgesucht  und  beweist  an  sich,  dasz  der  mensch 
gerade  dann  dem  tode  am  nächsten  ist,  wenn  er  am  besten  zu  leben 
glaubt":  er  wird  von  dem  aussatz  (miselsucht)^^  befallen,  infolge 
dessen  die  menschen  voll  ekel  sich  von  ihm  abwenden,  alle  ärzte,  die 
er  befragt,  erklären  ihn  für  unheilbar,  zu  Salerno  schlieszlich  er- 
hält er  die  rätselhafte  antwort,  dasz  er  zwar  heilbar  sei  und  doch 


*»  eine  nachdichtung  des  liedes  besitzen  wir  von  Chamisso. 

*■'  vgl.  Eggert,  über  die  erzählenden  dichtungen  Hartmanns  von 
Aue,  Schwerin  1874  (Calvary  u.  co.,  Berlin),  s.  8. 

*6  vgl.  Frick,  aus  deutsch.  Ibb.  4r  bd.;  auch  über  das  dichterische 
motiv. 

27  vgl.  C.  a.  a.  0.  8.  198. 

2^  der  aussatz  wurde  als  strafe  gottes  angesehen,  der  damit  be- 
haftete wurde  aus  der  gesellschaft  ausgestoszen,  durfte  nicht  den  öffent- 
lichen gottesdienst  besuchen  usw.  galt  der  aussatz  als  durch  natür- 
liche mittel  unheilbar  und  begnügte  man  sich  eben  darum  mit  der 
Absonderung  der  kranken,  so  war  das  mittelalter  von  der  heilkraft 
übernatürlicher  mittel  überzeugt,  dazu  gehörte  in  erster  linie  das  un- 
mittelbare eingreifen  gottes,  —  'weil  vom  aussatze  heil  zu  werden, 
wunderbar  war  und  selten  in  jener  zeit,  so  ist  an  eine  göttliche  gnade 
dabei  zu  denken,  ganz  natürlich'  (C.  a.  a.  o.  s.  219)  —  dann  schlangen 
und  besonders  das  blut  unschuldiger  kinder;  höchste  reinheit  sollte 
höchste  Unreinheit  heilen;  auch  thau  vom  himmel  kommt  vor.  Goetzinger, 
reallexikon. 


300     E.  Plaumann :  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich. 

nicht  genesen  könne";  denn  schlechterdings  könne  er  nur  gerettet 
werden,  wenn  eine  reine  Jungfrau  freiwillig  für  ihn  ihr  herzblut 
hingebe,  'die  reichen  und  groszen  denken  nun  allerdings,  sie 
können  alles  mit  ihrem  gelde  erkaufen ;  aber  können  sie  denn  Un- 
schuld und  freie  liebe  erzwingen?  welcher  mensch,  ob  auch  noch  so 
reich,  kann  denn  freiwillige  liebe  in  dem  masze  nötigen,  dasz  sie 
sich  ihm  ohne  ein  Wölkchen  von  trübsinn  opfert?  wer  kann  Un- 
schuld erzwingen,  die  durch  ihr  blut  nur  dann  heilt,  wenn  auch 
nicht  ein  gran  von  geheimen  sündigen  gedanken  daran  hängen  ge- 
blieben?'^" da  sinkt  denn  Heinrichs  letzter  trost,  und  betrübnis 
bis  zum  lebensüberdrusz  ergreift  ihn.^'  so  kehrt  er  heim  und  ver- 
schenkt alle  seine  habe,  nur  einen  einsamen  meierhof  am  waldes- 
rand  behält  er  für  sich,  um  dort  sein  leid  zu  beklagen  und  seine 
tage  zu  beschlieszen.  der  Verwalter  dieses  hofes  nimmt  aus  dank- 
barkeit  für  die  rücksichtsvolle  behandlung,  die  er  genossen,  den 
herrn  bei  sich  auf  und  pflegt  ihn  mit  liebe  und  treue.  ^^  zumal  seine 
achtjährige  tochter,  ein  irdisch  armes,  aber  geistlich  desto  reicheres 
kind'^  bringt  dem  herrn  besonders  zärtliche  Zuneigung  entgegen, 
weicht  nicht  von  seiner  seite  und  'weisz  gefällig,  spielend,  kosend 
ihm  des  bittern  grames  wölken  von  der  stirne  zu  verscheuchen', 
so  gehen  drei  jähre  der  quäl  für  den  dulder  dahin:  da  erfährt  das 
mädchen  durch  einen  zufall,  durch  welches  mittel  allein  der  kranke 
geheilt  werden  könne,  und  sofort  sagt  es  ihr  eine  stimme  im  innern, 
dasz  sie  berufen  sei,  den  herrn  zu  retten;  und  ihr  entschlusz  ist  ge- 
faszt.  ^'*  vergebens  versucht  der  vater  mit  der  Versicherung,  dasz  sie 
'thöricht  überschwengliches  verspreche,  wie  es  kinder  zu  thun 
pflegten,  weil  sie  den  herben  tod  noch  nicht  geschauet',  von  ihrem 
vorhaben  abzubringen^^;  vergebens  die  mutter  mit  dem  hinweis 
darauf,  dasz  ihr  entschlusz  eine  Verletzung  des  vierten  gebots  sei; 
vergebens  Heinrich  selbst  damit,  dasz  ihr  anerbieten  ein  kindischer 
einfall  sei,  den  sie  bald  bereuen  werde. '^  sie  aber  schätzt  ihr  leben 
eben  gering,  wenn  sie  ihm  nicht  helfen  kann."  so  zieht  sie  denn 
mit  ihrem  herrn  nach  Salerno  und  wird  bei  dem  arzte  eingeführt, 
der  zunächst  unter  vier  äugen  ein  strenges  verhör  mit  ihr  abhält, 
ob  sie  auch  nicht  etwa  durch  drohungen  ihres  herrn  zu  ihrem  ent- 
schlusse  veranlaszt  sei ,  und  ihr  eröffnet,  dasz  sie  dann  ohne  nutzen 


29  vgl.  C.  a.  a.  0.  s.  198. 

30  vgl.  C.  a.  a.  0.  s.  199. 
"  vgl.  C.  a.  a.  o.  s.  202. 

32  vgl.  C.  a.  a.  o.  s.  203. 

33  vgl.  C.  a.  a.  0.  s.  205. 

3<  über  die  darin  sich  bekundende  tiefe  philosophische  auffassung- 
des  weiblichen  wesens  und  unvergleichliche  feinsinnigkeit  Hartmanns 
s.  C.  a.  a.  o.  s.  207  f. 

35  Vgl.  C.  a.  a.  o.  s.  209  ff. 

36  Über  den  einflusz  der  öffentlichen  meinung  auf  Heinrichs  ent- 
schlusz s    C.  a.  a.  o.  s.  221. 

37  vgl.  C.  a.  a.  0.  s.  218. 


E.  Plaumann:  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrieb.     301 

für  ihren  herrn  den  tod  erleiden  würde;  auch  dasz  er  ihr  das  herz 
bei  lebendigem  leibe  herausschneiden  müsse,  doch  die  quälen  des 
todes  schrecken  sie  nicht;  sie  bleibt  fest  in  ihrem  entschlusz.  schon 
will  nun  der  meister  das  messer,  das  er  in  ihrer  gegenwart  gewetzt 
hat,  an  sie  legen:  da  ergreift  den  Heini'ich  reue  darüber,  dasz  er  um 
sein  lästerliches  leben  diese  Unschuld  opfern  und  schreiend  blut  auf 
seine  seele  laden  wolle;  'es  überkommt  ihn  mit  einem  neuen  wesen; 
ihm  wird  das  unrecht,  das  er  begehen  will,  auf  einmal  klar,  und 
wie  von  einer  neuen  herzensgewalt  ergriffen,  mag  er  jetzt  ihren  tod 
um  keinen  preis;  ihn  erweicht  nicht  ihr  bitten,  ihn  erweicht  nicht 
ihr  spott'.^®  er  ist  entschlossen,  sein  siechtum  in  demut  und  geduld 
zu  tragen,  so  bleibt  sie  am  leben,  und  Heinrich  zieht  mit  ihr  heim 
auch  ohne  die  hofifnung,  gesund  zu  werden,  und  selbst  auf  die  ge- 
fahr  hin,  dort  spott  zu  ernten,  den  er  nun  nicht  mehr  fürchtet,  der 
lohn  aber  solcher  treue  bleibt  nicht  aus;  denn  er,  der  herzen  und 
nieren  des  menschen  prüft  und  durchschaut,  hat  ir  triuwe  unde  ir 
not  erkannt,  nimmt  den  aussatz  von  ihm  und  macht  ihn  gesund  und 
frisch  wie  vor  zwanzig  jähren.  Heinrich  aber  hat  jetzt  keine  andere 
gedanken^*  als  den  des  dankes  und  der  liebe  zu  dem  opferfreudigen 
mädchen,  dem  er  ehre  und  leben  schuldet,  und  nimmt  sie  deshalb 
zur  gattin.  'so  endet  die  überstandene  prüfung  im  lohne  ver- 
borgener treuer  liebe  vor  gottes  altar'  (C).  nach  einem  langen 
schönen  leben  aber  erwerben  sie  das  reich  gottes.  —  Die  erzählung 
lag  dem  dichter  vor;  ihm  aber  gehört  die  feine  psychologische  aus- 
führung;  er  schafft  aus  der  geschichte  die  schönste  und  reinste 
Sittenlehre  für  seine  Zeitgenossen;  man  könne  das  leben  genieszen, 
aber  nicht  ohne  gott;  mau  brauche  nicht  die  guter  der  weit,  die 
Schönheit,  den  rühm,  den  beifall  zu  verwerfen,  aber  nicht  auf  sie 
allein  das  heil  zu  stellen,  ist  eines  mannes  würdig,  er  lehrt  die 
süsze  gewalt  einer  keusch  verborgenen  neigung,  er  lehrt,  dasz  treue 
durch  gottes  huld  zum  ziele  gelange;  dasz  rücksichtslos  nach  besse- 
rung  der  irdischen  Verhältnisse  gegen  gottes  willen  zu  streben 
sündig  ist,  dasz  aber  ein  liebevolles,  minnigliches  wesen  selbst  die 
unterschiede  ausgleicht,  welche  stand  und  reichtum  sonst  darstellen. 
an  herrn  Heinrich  und  an  dem  mägdlein  bezeugt  er  die  Wahrheit 
des  alten  Spruchs: 

wer  reht  tuot  der  ist  wol  geborn: 

äne  tugent  ist  adel  gar  verlorn.'**^ 

die  erzählung  ist  eine  asketische  erinnerung  an  die  in  Jugend  und 
kraft  blühenden  ritter,  voll  reichtum  und  behaglichkeit,  kühn  in 
thaten  und  durch  erfolge,  dasz  sie  vor  den  armen  und  dürftigen  bei 
gott  keinen  vorzug  haben.*'  die  ergreifenden  gegensätze  aber  in 
dem    innigen,    frommen   gedichte    sind    die    Zerbrechlichkeit    des 


38  vgl.  C.  a.  a.  o.  s.  213. 

39  vgl.  C.  a.  a.  o.  s.  214. 
^0  vgl.  C.  a.  a.  o.  s.  219. 
"'  vgl.  C.  a.  a.  0.  s.  197. 


302     E.  Plaumann:  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich. 

menschlichen  glückes  und  die  Stetigkeit  der  treue,  der  zarteste 
weibliche  Opfermut  und  die  tiefgewurzelte  Selbstsucht  in  dem 
mannesherzen,  die  Überwindung  dieses  schlimmsten  inneren  feindes 
und  damit  die  äuszere  genesung  und  die  Wiederherstellung  des 
glückes. "' 

Was  die  Charaktere  betrifft,  so  sehen  wir  in  Heinrich 
einen  mann  von  edler  geburt  v.  42  f. 

sin  burt  unwandelbaere 

und  wol  den  fürsten  gelich  usw. 
Vgl.  V.  39.  45. 

Er  ist  jung,  schön,  heiter:  v.  60  'er  was  ein  bluome  der 
jugent'  und  78  'und  froellches  muotes',  und  erfreut  sich  bedeuten- 
den reich  tum  s  V.  38  f.  er  het  ze  sinen  banden  geburt  und  dar 
zuo  richeit  (vgl.  v.  41.  76  ff.),  so  dasz  er  auf  denselben  stolz  sein 
kann  und  mit  demselben  die  kunst  des  arztes  zu  gewinnen  hoffen 
darf,  um  sich  aus  seiner  traurigen  läge  zu  retten  v.  207 — 13 : 

ja  hän  ich  guotes  wol  die  kraft: 
ir  enwellet  iwer  meisterschaft 
und  iwer  reht  ouch  brechen 
und  dar  zuo  versprechen 
beidiu  min  silber  und  min  golt, 
ich  mache  iuch  mir  also  holt, 
daz  ir  mich  harte  gern  ernert 

sagt  er  zu  dem  meister  der  heilkunst  in  Montpellier,  dazu  besitzt  er 
edlen  sinn  (v.  46)  und  ist  wohlthätig;  er  ist  eine  Zuflucht 
der  verwandten  und  armen  und  höchst  gerecht  v.  64  —  67: 

er  was  der  nothaften  fluht, 

ein  schilt  siner  mäge, 

der  milte  ein  glichiu  wäge: 

im  enwart  üher  noch  gebrest. 

besonders  beweist  er  diesen  edlen,  wohlthätigen  sinn  dem  bauern 
gegenüber;  derselbe  ist  vor  seinesgleichen  besonders  gut  gestellt; 
er  wird  nicht  mit  zins  und  steuern  gedrückt  (v.  267 — 82),  steht  im 
schütze  des  herrn  vor  jedem  leid  und  gibt  nur  so  viel,  als  er  frei- 
willig und  gern  gibt  v.  267  f.  : 

swaz  dirre  gehöre  gerne  tete 

des  dühte  sinen  herren  genuoc 

(vgl.  927 — 30).  dabei  ist  der  herr  selbst  nicht  müszig;  denn  ehre 
und  rühm  werden  nur  durch  eifer  und  anstrengung  gewonnen 
(v.  68  f.);  und  er  ist  deshalb  reich  an  weltlichen  ehren  und 
freuden  v.  54 — 59: 

an  alle  missewende 

stuont  sin  ere  und  sin  leben. 

im  was  der  rehte  wünsch  gegeben 

ze  werltlichen  eren; 

die  künde  er  wol  gemeren 

mit  aller  hande  reiner  tugent; 


**  vgl.  Frick 


E.  Plaumann:  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich.     303 

im  V.  61  wird  er  genannt  'der  werlte  fröude  ein  Spiegelglas'  und 
v.  76 — 81  heiszt  es  von  ihm: 

der  herre  Heinrich 

also  geniete  sich 

eren  unde  guotes 

und  froeliches  muotes 

und  werltlicher  wünne 

und  was  für  al  sin  künne 

gepriset  unde  geeret. 

er  gesteht  es  später  selbst,  dasz  all  sein  streben  auf  irdischen  genusz 
gerichtet  war  (v.  385—89). 

Dabei  ist  er  ohne  falsch,  gerade,  offen  (v.  507)  ein  mann 
von  feiner  sitte  (v.  51.  63.  74),  zuverlässig  und  treu,  ein 
mann  von  wort  (v.  50, —  53),  heiszt  er  doch:  staeter  triuwe  ein 
adamas  (v.  62);  verständigen  rates  kundig:  er  was  des  rätes 
bruecke  (v.  70  vgl.  74);  ein  Sänger  der  liebe  (v.  71),  kurzum  er 
besitzt  jede  weltliche  tugend,  die  ein  ritter  in  seiner  jugend 
haben  kann  v.  32—37: 

an  im  enwas  verge33en 

deheiner  der  tugent, 

die  ein  ritter  in  siner  jugent 

ze  vollem  lobe  haben  sol. 

man  sprach  do  nieman  also  wol 

in  allen  den  landen. 

Vgl.  V.  59.  1340  f.  deshalb  ist  er  allbekannt  (v.  47)  und  beliebt 
(v.  127),  und  sein  späteres  tragisches  Schicksal  findet  allgemeine 
teilnähme  selbst  da,  wo  man  ihn  nicht  persönlich  kennt  (v.  263 
—  66),  ebenso  wie  das  gerücht  von  seiner  genesung  freudige  auf- 
regung  in  seiner  ganzen  heimat  schafi"t,  welche  die  leute  nicht  zu 
hause  duldet,  so  dasz  sie  ihm  meilenweit  entgegenziehen,  um  sich 
möglichst  bald  von  der  Wahrheit  selbst  zu  tiberzeugen  (v.  387—91). 
Das  ist  doch  wohl,  meine  ich,  eine  ganze  reihe  der  schönsten 
tugenden,  die  unsern  ritter  zieren!  und  doch  befällt  ihn  eine  so 
schreckliche  plage,  trifft  ihn  eine  so  peinliche  strafe,  nun,  der 
dichter  gibt  uns  aufschlusz  darüber  und  betont  es  ausdrücklich,  dasz 
nur  weltliche  ehren  und  tugenden  ihn  zieren,  und  weist 
darauf  hin,  dasz  an  ihnen  allein  der  mensch  sich  nicht  genügen 
lassen  dürfe;  es  gebe  noch  höhere,  die  er  besitzen  müsse,  um  vor 
leid  bewahrt  zu  sein,  so  vergi:5zt  auch  unser  ritter  in  dem  genusz 
der  guter,  freuden  und  ehren  dieser  weit  ganz,  dasz  ihr  besitz  nicht 
allein  sein  verdienst  sei,  und  dasz  es  auch  einmal  anders  werden 
könnte,  und  bereitet  sich  nicht  nur  nicht  auf  einen  Wechsel  vor, 
sondern  wird  hochmütig  und  vergisztgott,  von  dem  alle  gute 
und  vollkommene  gäbe  kommt,  so  trifft  ihn  das  Unglück  unvor- 
bereitet V.  153—56 : 

ein  swinde  finster  donerslac 

zebracb  im  sinen  mitten  tac, 

ein  trüebe3  wölken  unde  die 

bedaht  im  siner  sunnen  blic. 


304     E.  Plaumann:  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrieb. 

V.  82  f.: 

sin  hochmuot  wart  verkeret 
in  ein  leben  gar  geneiget. 

(vgl.  150  f.  404).    traurig  gesteht  er  v.  400  flf.: 

sus  troug  ouch  mich  min  tumber  wän, 
wan  ich  in  lützel  ane  sach, 
von  des  genäden  mir  geschach 
vil  eren  unde  guotes. 

Auch  P.  Cassel  a.  a.  o.  s,  198  äuszert  sich  in  ähnlicher  weise: 
'Heinrich  war  eine  blume  der  ritterschaft ,  ein  musterbild  in  treue 
und  in  gute:  'er  sang  viel  von  minne,  darum  konnte  er  von  der  weit 
lob  und  preis  gewinnen,  er  war  hövesch  und  darzuo  wls.'  aber 
nach  Hartmanns  auch  in  seinen  liedern  vorgetragener  ansieht  reicht 
das  nicht  aus,  der  weit  lohn  zu  haben;  man  musz  ein  'gottesritter' 
sein;  das  war  der  herr  Heinrich  nicht;  er  wüste  nicht,  dasz  wer  in 
der  höchsten  würde  vor  gott  lebt,  vor  gott  am  wenigsten  gelte,  wenn 
er  die  demut  nicht  besitzt;  darum  wird  'sein  hochmut  bald  ver- 
kehret in  ein  sehr  niedriges  leben'  usw. 

Je  unerwarteter  der  schlag  ihn  trifft,  desto  schneller  verliert 
er  die  geduld  (v.  137),  und  er  wird  trürec  und  unfrö  (v.  148);  ja  er 
geht  sogar  so  weit,  dasz  er  wiederholt  den  tag  seiner  geburt  ver- 
flucht (v.  57 — 62).  und  doch  wird  ihm  noch  der  trost  zu  teil,  dasz 
diese  krankheit  verschieden  auftrete  und  vielleicht  noch  heilbar  sei. 
als  aber  gar  zu  Montpellier  und  dann  zu  Salerno  von  ärztlichen 
autoritäten  auf  sein  befragen  die  unheilbarkeit  des  leidens  ihm  er- 
öffnet wird,  da  versinkt  er  in  tiefe  trostlosigkeit  (v.  223 — 36).  es 
ist  also  wohl  hauptsächlich  als  ein  act  der  Verzweiflung  zu  betrachten, 
dasz  er  nun  auf  sein  ganzes  besitztum  verzichtet,  es  an  arme  und  an 
die  kirche  verschenkt,  damit  gott  sich  seiner  armen  seele  erbarme 
(v.  242—60): 

daz  sich  got  erbarmen 

geruochte  über  der  sele  heil 

(254  f.).  hierin  scheint  schon  ein  anfang  zur  besserung  zu  liegen; 
allein  die  rechte  ergebung  in  gott  fehlt  ihm  noch;  er  ist 
noch  nicht  fähig,  sein  Schicksal  ganz  in  gottes  band  zu  legen  und 
mit  ergebung  zu  tragen,  doch  zieht  er  sich  aus  scheu  vor  der  weit 
in  die  einsamkeit  zurück  auf  ein  einsames  gereute,  dessen  pächter 
aus  dankbarkeit  ihn  bei  sich  aufnimmt  (v.  208 — 60.  283 — 94).  wie 
denn  überhaupt  edle  gesinnung  Heinrich  eigen  ist,  so  zeigt  er  sich  tief 
dankbar  gegenüber  dem  bauern  und  seiner  familie,  zumal  da  dessen 
tochter  sich  seiner  pflege  so  treulich  annimmt  (v.  328  —  41),  dasz 
auch  er  für  das  kind  eine  herzliche  Zuneigung  faszt.  doch  lehnt  er 
das  angebot  des  mädchens,  für  ihn  zu  sterben,  ab,  weil  er  es  (v.  927 
— 30)  für  einen  kindischen  einfall  hält,  von  dem  er  fürchtet,  dasz 
er  doch  nicht  zur  ausführung  komme  und  sein  leben  nicht  werde 
gerettet  werden  (937 — 48),  also  entschieden  aus  einem  selbstischen 


E.  Plaumann:  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich.     305 

gründe,  wie  es  auch  der  umstand  beweist,  dasz  er  schlieszlich,  nach- 
dem er  sich  von  dem  ernst  der  Willigkeit  des  mädchens  überzeugt 
hat  und  auch  die  eitern  ihre  einwilligung  gegeben,  doch  das  an- 
erbieten annimmt;  und  so  ist  der  'centralpunkt  seines  gefühls  die 
bewahrung  des  selbst  ohne  achtung  fremden  wohls'.  allerdings  ge- 
schieht dies  nicht  ohne  thränen  und  trauer  und  bedenken  (v.  998 
— 1019),  wie  wir  es  von  seinem  edlen  sinn  erwarten,  allein  es 
siegt  doch  die  Selbstsucht  über  den  edelmut,  und  des 
mädchens  leben  scheint  verloren,  als  dasselbe  aber  bereits  zum 
tode  gefesselt  ist  und  das  messer  zum  schnitt  ins  herz  geschärft 
wird  und  Heinrich  das  wetzen  desselben  hört,  da  gibt  ihm  dies 
jedesmal  einen  stich  ins  herz  und  (v.  1234  ff,): 

da  er  stuont  vor  der  tür, 
und  erbarmete  in  vil  s^re 
dag  er  si  niemer  mere 
lebende  solte  gesehen, 

und  er  geht  in  sich  und  ergibt  sich  in  gottes  willen  (1242 — 46).  die 
reine  Selbstlosigkeit  des  mädchens  hat  endlich  seiner  bessern  empfin- 
dung  zum  siege  über  seine  Selbstsucht  verholfen.  er  thut  die 
liebe  zum  leben  gegen  gottes  willen  ab  (v.  280),  erbittet  dringend 
ihr  leben  von  dem  arzte;  und  es  ist  dies  keine  flüchtige  regung  mehr 
in  ihm,  sondern  nachdem  er  sich  zu  diesem  entschlusse  durch- 
gerungen hat,  bleibt  er  trotz  des  Widerspruchs  des  mädchens  dabei 
(v.  1333  —  41),  selbst  als  sie  dies  als  einen  act  der  schwäche  und 
feigheit  seinerseits  auslegt,  und  der  lohn  des  himmels  bleibt  nicht  aus 
für  beide;  ihr  wille  wird  für  die  that  angesehen  und  seine  ergebung 
in  gottes  willen  der  höchsten  belohnung  gewürdigt;  er  wird  geheilt 
und  dadurch  werden  sie  beide  aufs  höchste  erfreut  (v.  1341).  —  So 
ist  er  nun  endlich  zur  gottergebenheit  und  gottesfurcht  durch- 
gedrungen, welche  als  die  kröne  aller  tugenden  ihm  gefehlt  hat. 
allein  auch  die  liebe,  die  reinste  entwicklung  des  gefühls,  das  gegen- 
teil  von  Selbstsucht ,  wo  die  Opferung  für  fremdes  wohl  der  central- 
punkt  ist,  ist  nun  in  sein  herz  gezogen,  und  er  begehrt  und  nimmt 
das  wesen  zum  weibe,  dessen  völlige  Selbstlosigkeit  diesen  wandel 
in  ihm  gezeitigt  hat,  und  kann  er  damit  auch  gleichzeitig  ihr  und 
den  ihrigen  den  dankestribut  abtragen ,  den  er  ihnen  schuldig  ist : 
so  führen  sie  auf  erden  ein  glückliches  leben  bis  ans  ende  und  gehen 
ein  zur  ewigen  freude  nach  dem  tode. 

Wahr  und  tief  erfaszt  ist  es,  sagt  auch  Frick,  dasz  der  unglück- 
liche mann,  der  seine  guter  weggegeben,  auf  alles  glück  verzichtet 
und  sich  auf  den  tod  gefaszt  gemacht  hat,  doch  nicht  frei  ist  von 
einer  gewissen  Selbstsucht,  die  das  eigne  dem  tode  geweihte  leben 
retten  will,  die  trübsal  ist  strafe,  erziehung,  läuterung;  aber  sie 
hatte  bei  dem  elenden  manne  noch  nicht  ganz  ihren  zweck  erreicht, 
erst  nachdem  er  durch  den  anblick  einer  völlig  uneigennützigen 
liebe  herr  über  seine  eigennützige  regung  geworden ,  sein  geschick 
und   seine  hoffnung  ganz  in  gottes  band  ergeben  hatte,   war  die 

N.jnhrb.  f.  phil.u.  päd.  II.  abt.  1897  hft.6.  20 


306     E.  Plaumann :  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich. 

innerliche  reinigung    (v.  303)   vollbracht  und   die   Würdigkeit  zu 
neuem,  erhöhtem  lebensgltick  gewonnen. 

Das  mädchen  steht  noch  in  ganz  jugendlichem  alter, 
sie  zählt  erst  acht  jähre  zu  der  zeit,  wo  Heinrich  sich  aufdenmeier- 
hof  zurückzieht;  und  auch  als  sie  den  entschlusz  faszt,  für  ihren 
herm  sich  zu  opfern,  ist  sie  erst  drei  jähre  älter  (v.  694),  also  eigent- 
lich noch  ein  kind ,  und  zwar  ein  schönes,  anmutiges  kind,  dessen 
sich  auch  der  kaiser  nicht  hätte  schämen  dürfen,    v.  311  — 14: 

si  was  ouch  so  genaeme 

da3  si  vvol  gezaeme 

ze  kinde  dem  riebe 

an  ir  waetliche. 

V.  1197—1200: 

dö  si  der  meister  ane  sach 
in  sime  herzen  er  des  jach, 
das  schoener  creatiure 
al  der  werlte  waere  tiure  usw. 

Vgl.  V.  673  ff.: 

alle  die  mich  sehende  sint, 
sprechent,  ich  si  daz  schoenste  kint, 
das  si  zer  werlte  haben  gesehen. 

Vgl.  V.  1233:  *ir  lip  der  was  vil  minneclich',  und  derselbe  ausdruck 
V.  1273. 

Zu  der  Schönheit  des  leibes  hat  sich  auch  eine  schöne  seele 
gesellt.''^  dieses  schöne,  anmutige  kind  ist  voll  des  zartesten 
mitleids  für  seinen  herm,  das  um  so  wunderbarer  ist,  als  die 
andern  leute  sich  von  ihm  fern  halten,    v.  315 — 25: 

die  andern  beten  den  sin 

dag  si  ze  rehter  mäje  in 

wol  gemiden  künden: 

do  floh  si  zallen  stunden 

zuo  im  und  iiiender  anders  war. 

si  was  sin  kurzewile  gar. 

si  bete  gar  ir  gemüete 

mit  reiner  kindes  güete 

an  ir  berren  gewant, 

das  ™**"  ä^  zallen  stunden  vant 

undr  ir  berren  füege. 

Schwere  seufz  er  entringen  sich  des  nachts  ihrem  um  den 
herm  besorgten  herzen  (v.  74 — 79)  und  mit  heiszen  thränen 
benetzt  sie  ihrer  eitern  füsze.  denn  sie  sagt  es  sich  und  den  eitern, 
sie  könnten  keinen  gleich  guten  herrn  finden,  wenn  sie  diesen  ver- 
lieren sollten  (490 — 99,  vgl.  520 — 24).  daher  auch  ihre  aus  reiner 
herzensgute  entspringende  dienstwilligkeit  ihm  gegenüber 
(305  ff.  342  ff,),  er  gilt  ihr  eben  nicht  als  unrein  (er  dühte  sl  vil 
reine);  pflegte  sie  doch  ihres  herrn  füsze  in  ihrem  schosze  zu  halten 
V.  461  ff.: 


^'  über  die  entwicklung  der  neigung  des  mädchens  zu  ihrem  herrn 
8.  die  feinsinnigen  gedanken  Cassels  a.  a.  o.  207  f. 


E.  Plaumann:  Adniet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinricli.     307 

wan  eg  hete  diu  vil  süe3e 
ir  lieben  Herren  füege 
stände  in  ir  8ch63en. 

Vgl.  oben  324  f.  sobald  sie  dann  in  erfahrung  gebracht,  auf  welche 
weise  ihm  noch  und  nur  allein  zu  helfen  sei,  da  zeigt  sie  einen  zumal 
für  ihr  alter  erstaunlichen  mut  und  eine  mehr  als  kindliche 
freudige  entschlossenheit.    v.  525—31: 

des  einen  si  sich  gar  verwac 

gelabtes  morne  den  tac, 

da3  sx  benamen  ir  leben 

umbe  ir  herren  wolte  geben. 

von  dem  gedanke  wart  si  dö 

vil  singes  muotes  unde  fro. 

und  nicht  insgeheim  vor  den  eitern  will  sie  es  thun,  sondern  sie  er- 
klärt es  ihnen  offen  am  nächsten  tage.    v.  557  ff.: 

ich  bin  ein  maget  und  bän  den  muot: 
e  ich  in  sibe  verderben, 
ich  wil  e  für  in  sterben. 

und  zwar  in  völliger  Selbstlosigkeit  und  uneigennützigkeit  und  ohne 
äuszere  veranlassung,  lediglich  aus  eignem  inneren  dränge,  vgl. 
840—42.  1069  —  71.  1071-1107. 

Nun  ist  es  wohl  natürlich,  dasz  die  eitern  und  dann  ihr  herr 
selbst  sich  diesem  ihrem  entschlusse  widersetzen,  allein  mit  er- 
staunlicher klugheit,  die  weit  über  ihr  kindesalter  hinausgeht, 
weisz  sie  alle  gegengründe  zu  entkräften,  vgl.  467 — 70.  593 — 627. 
wie  überzeugend  spricht  sie,  dasz  es  jedes  menschen  erste  pflicht 
sei,  sich  vor  der  weit  zu  bewahren,  um  rein  zu  gott  einzugehen,  und 
diese  pflicht  stehe  höher  als  das  von  der  mutter  angeführte  gebot 
von  den  pflichten  der  kinder  gegen  ihre  eitern ;  und  sie  danke  gott, 
dasz  er  ihr  jenen  gedanken  eingegeben  habe.    v.  605  — 10: 

ist  im  (dem  menschen)  die  sele  danne  verlorn, 

so  waer  er  be33er  ungeborn. 

63  ist  mir  komen  üf  da3  zil 

(des  ich  got  iemer  loben  wil), 

da3  ich  den  jungen  lip  mac  geben 

umbe  da3  ewige  leben. 

wie  rührend  und  eindringlich  weisz  sie  zu  bitten,  v.  681 — 740: 

muoter,  saeligez  wip, 

sit  ich  nü  slle  unde  lip 

von  iuwern  genäden  hän, 

so  länt3  an  iuwern  hulden  stän, 

da3  ich  ouch  die  beide 

von  dem  tiuvel  scheide 

und  mich  gote  müe3e  geben  usw. 

vgl.  801-37.  1168-70.  1016  f.  1107—10.  1146-70.  1289-1304. 
Da  gewinnen  die  eitern  die  übei'zeugung ,  dasz  ihr  entschlusz 
ein  von  gott  eingegebener  gedanke  sein  müsse,  v.  347  f. : 

iedoch  geliebte  ir3  aller  meist 
von  gottes  gebe  ein  süe3e  geist. 

20* 


308     E.  Plaumann:  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich. 

damit  hat  sie  auch  deutlich  ausgesprochen,  dasz  die  liebe  zu  ihrem 
herrn  nicht  das  einzige  motiv  zu  ihrer  selbstlosen  Opferung  ist, 
sondern  dasz  frömmigkeit  und  gottergebenheit  und  der 
wünsch,  die  kröne  des  ewigen  lebens  zu  erwerben,  bei 
ihr  mitwirken,  'alles  ist',  sagt  Wackernagel  (LG.  s.  165),  'mit 
anmutig  lebendiger  leichtigkeit  und  mit  feinster  seelenkunde  vor- 
getragen ,  namentlich  in  den  reden  des  mädchens ,  das  mit  dem  un- 
gestüm seiner  Sehnsucht  nach  dem  bimmel  die  erste  und  eigentliche 
Ursache  seines  entschlusses,  die  liebe  zu  Heinrich  ""^  vor  sich  selbst 
verbergen  will*,  mit  der  festigkeit  des  willens  weisz  sie  auch 
Heinrichs  Widerspruch  zu  beseitigen,  wie  sie  solchen  neben  ihrer 
klugheit  auch  schon  vorher  den  eitern  gegenüber  gezeigt,  wenn  es 
V.  589  —  92  von  ihrem  vater  heiszt: 

alsus  so  wände  er  si  do 

beidiu  mit  bite  und  mit  drö 

gesweigen;  do  enmohter. 
und  V.  628: 

nu  gunnet  mirs,  wan  ej  muoj  wesen. 

und  V.  841—43: 

wan  mir  mac  daz  nieman  erwern 
zewäre ,  ich  enwelle  ernern 
minen  herren  unde  mich. 

dieselbe  festigkeit  bewährt  sie  auch  nachher  dem  arzte  gegenüber, 
der  durch  die  Vorhaltung  der  einzelheiten  der  section  sie  auf  die 
probe  stellt;  und  sie  erklärt  sein  zögern  geradezu  wie  vorher 
Heinrichs  Weigerung  (1071  — 1107)  für  einen  act  der  feigheit 
V.  1124  ff.: 

iwer  angest  ist  ein  teil  ze  grö^ 

dar  umbe  das  i*^^  sterben  sei. 

deswär,  ir  handelt  63  niht  wol 

mit  iwer  grojen  meisterschaft. 

ich  bin  ein  wip  und  hän  diu  kraft: 

geturret  ir  mich  sniden 

ich  getar  ez  wol  erliden  usw. 

und  V.  1134  ff.:  (vgl.  v.  1171-96) 

zwar,  ich  enwaere  her  niht  komen, 

wan  das  i^^  mich  weste 

des  muotes  also  veste 

das  ^^^  ^3  ^^^  '"^^  dulden  usw. 

und  wie  aufrichtig  sie  es  gemeint  hat,  wie  ernstlich  sie  es  zu  thun 
gewillt  gewesen  ist,  geht  auch  daraus  hervor,  dasz  als  die  section 
unterbleibt  (v.  1269  ff.),  sie  aufs  höchste  enttäuscht  ist  und  unsäg- 
lichen schmerz  darüber  empfindet  v.  1281  ff.: 


"  über  die  art  dieser  liebe ,  ihr  entstehen  und  ihr  ziel  s.  Cassel 
a.  a.  o.  s.  207.  doch  sagt  er  an  anderer  stelle  (s.  217  f.) :  'der  grund, 
um  welchen  das  mädchen  sein  leben  opfert,  hat  ja  einen  irdischen  bei- 
gescbmack.' 


E.  Plaumann:  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich.     309 

do  diu  maget  rehte  ersach 

da3  ir  ze  sterben  niht  geschach, 

da  war  ir  muot  beswaeret  mite. 

si  brach  ir  zuht  unde  ir  site: 

st  gram  unde  roufte  sich; 

ir  gebaerde  wart  so  jaemerlich 

da3  si  nieman  hete  gesehen, 

im  waere  ze  weinenne  geschehen. 

vil  bitterlichen  si  schre: 

we  mir  vil  armen  unde  owe! 

wie  sol  e3  mir  nu  ergän? 

muo3  ich  alsus  verlorn  hän 

die  riehen  himelkrone? 

diu  waere  mir  ze  löne 

gegeben  umbe  dise  not. 

nu  bin  ich  alrest  tot  usw. 

Vgl.  1305—41.  1473—1516. 

Kurzum  'vortrefflich  geschildert  ist  die  Willigkeit  des  mägdleins, 
ihr  junges  leben  für  den  geliebten  herrn  zu  opfern,  ihre  innige  Sehn- 
sucht, dem  kranken  zu  helfen,  die  reinheit  und  Selbstlosigkeit  ihrer 
absieht,  die  festigkeit  ihres  willens,  die  klugheit  und  eindringlich- 
keit  ihrer  rede,  mit  der  sie  den  widerstand  der  schmerzerfüllten 
eitern  und  des  unglücklichen  kranken  besiegt,  das  fromme  verlangen 
nach  der  kröne  des  himmels  und  die  freudige  erhebung  über  lust 
und  leid  der  erde,  nie  ist  eine  selbstlose,  ganz  sich  hingebende, 
tiefe  liebe  eines  edlen,  reinen  weiblichen  herzens  ansprechender, 
wahrer  und  ergreifender  dargestellt,  als  von  Hartmann  im  'armen 
Heinrich'  (Prick). 

Die  letzte  persönlichkeit,  die  wir  zu  betrachten  haben,  ist  der 
bau  er;  denn  seine  frau  tritt  zu  wenig  hervor  und  zeigt  sich  eben 
nur  als  zärtliche,  besorgte  mutter.  in  ihm  sehen  wir  einen  mit 
gesundheit  und  kraft  ausgestatteten  (v.  295 — 98),  fleiszigen 
(267),  heiteren  und  zufriedenen  (270  f.)  mann  (vgl.  1414), 
der  sich  im  Wohlstände  befindet  (280  —  82).  letzteren  hat  er  der 
liebens Würdigkeit  seines  herrn  zu  verdanken,  und  er  beweist  seine 
dankbarkeit  durch  die  that,  indem  er  allein  den  herrn  bei  sich 
aufnimmt  (278 — 84),  um  so  das  genossene  gute  ihm  zu  vergelten 
und  sein  mitleid  und  seine  treue  dem  herrn  zu  bekunden,  der  sonst 
von  den  menschen  verlassen  ist  (278  ff.  354  ff.  370  ff.  417  ff.  972  ff. 
1015  ff.). 

Trotz  dieser  anhänglichkeit  und  treue  gegen  seinen  herrn  bleibt 
er  doch  ein  zärtlich  liebender  vater,  und  tief  und  innig  ist 
der  schmerz  und  die  sorge  um  sein  kind,  als  die  gefahr  droht  es  zu 
verlieren  (549  ff.  573.  875  ff.  987  ff.  1027  ff.),  doch  schlieszlich 
überwindet  er  dem  herrn  zu  liebe  diesen  schmerz  und  gestattet  das 
Opfer  der  tochter,  und  diese  Überwindung  trägt  ja  dann  reiche 
frucht  (855  ff.  972  ff.  1396  ff.  1437  ff.).  —  'Der  gedanke,  der  in 
der  lieblichen  erzählung  ausgedrückt  ist,  ermangelt  nicht  in  man- 
chen seiner  einzelnen  züge  der  analogien  mit  dichtungen 
früherer  zeit,    auf  Hiob  verweist  Hartmann   selbst   einigemal, 


310     E.  Plaumann:  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich. 

aber  im  Hiob  ist  eben  nur  das  plötzlich  eintretende,  scheinbar  un- 
verschuldete elend  und  die  lange  duldung  des  frommen  mannes  ein 
gegenständ  des  Vergleichs,  der  sehr  nahe  lag;  sonst  fehlte  ja  der 
biblischen  theodicee  die  active  liebe  und  der  romantische  schmelz 
unserer  kleinen  erzählung,  auf  die  eben  der  dichter  den  eigentlichen 
poetischen  nachdruck  legt  (Cassel  a.  a.  o.  s.  215)."'  auf  die  geschichte 
vom  Hiob,  sagt  auch  Frick,  nimmt  der  dichter  selbst  bezug,  ohne 
jedoch  mit  seinem  vergleich  vollkommen  recht  zu  haben,  wie  es  die 
geschichte  desselben  lehrt:  wie  das  leiden  eu  tragen  sei,  so  dasz  auf 
dem  herzensboden  der  geduld  und  ergebung  die  rechte  segensfrucht 
des  kreuzes  wächst  und  reift,  das  zeigt  uns  das  geschick  Hiobs.  er 
war  ein  knecht  gottes,  untadelig  in  seinen  wegen,  gesegnet  mit 
allerlei  glücksgütern.  schlag  auf  schlag  traf  ihn  wie  blitz  aus 
heiterm  himmel  unglück.  er  verlor  alles,  sogar  seine  gesundheit. 
mit  bösen  schwären  bedeckt  und  von  schmerzen  gepeinigt,  war  er 
ein  spott  der  leute  und  Verachtung  des  volks.  mit  gottergebenheit 
und  frommer  geduld  ertrug  er  anfangs  das  schwere,  unverschuldete 
geschick.  als  aber  der  schmerz  allzu  grosz  ward,  da  verfluchte  er 
den  tag  seiner  geburt,  murrte  gegen  gott  und  suchte  auf  seine 
gerechtigkeit  zu  pochen,  der  herr  aber  wies  ihn  zurecht;  er  er- 
kannte gottes  Weisheit  und  seine  thorheit,  'schuldigte  sich  und  that 
busze  im  staube  und  in  der  asche'.  mit  der  inneren  läuterung 
wandte  sich  seine  äuszere  plage,  gott  segnete  ihn  aufs  neue  und 
gab  ihm  zwiefältig  so  viel  als  er  gehabt  hatte.  Hiob  42,  11:  *da 
kamen  zu  ihm  alle  seine  brüder  und  alle  seine  Schwestern  und  alle, 
die  ihn  vorhin  kannten,  aszen  mit  ihm  in  seinem  hause  und  kehrten 
sich  zu  ihm  und  trösteten  ihn  über  alles  unglück,  das  der  horr  über 
ihn  hatte  kommen  lassen.' 

So  erschwerte,  sagt  eben  derselbe,  Parzival  sein  leid  und  ver- 
längerte seine  friedlose  Irrfahrt  dadurch,  dasz  er  sich  für  unschuldig, 
gott  für  hart  und  ungerecht  hielt ,  dasz  er  murrte  und  klagte ,  ja 
gott  absagte,  nach  schwerer  prüfung  folgte  endlich  das  höchste 
glück,  die  Seligkeit. 

Vergleich  kann  angestellt  werden,  heiszt  es  ebenfalls  bei  Frick, 
auch  zwischen  Heinrich  und  Anfortas  in  Wolframs  von  Eschenbach 
Parzival.  Anfortas  erfreute  sich  eines  vollkommenen  glucks,  im 
werben  um  irdische  liebe  vergasz  er  seines  gottes.  der  stich  eines 
vergifteten  Speers  brachte  ihn  in  qualvolles  Siechtum,  alle  heil- 
versuche erweisen  sich  als  erfolglos,  in  der  stille  der  abgeschiedenen 
Gralsburg  verseufzte  er  seine  tage,  der  aufenthalt  am  einsamen  see 
erleichterte  auf  stunden  seine  quäl,  die  treue  der  templaisen  wankte 
nicht;  ihre  teilnähme  half  das  weh  des  königs  tragen,  fern  winkte 
die  hofifnung  auf  erlösung,  wenn  ein  fremder  ritter  zum  Gral  kommen 
und  die  erlösende  frage  thun  würde,  der  ritter  kam,  aber  die  frage 
unterblieb,  die  quäl  blieb  ungestillt,    nachdem  das  lange  leid  den 


i'eitere  analogien  s.  ebenda  s.  215  ff. 


J.  Vollert:  anz.  v.  G.  Schnell  die  volkstümlicheu  Übungen  des  turnens.   31 1 

Anfortas  innerlich  geläutert  und  von  allem  weltsinn  befreit»  hatte, 
erlöste  ihn  die  frage  der  teilnehmenden  liebe  von  seiner  krankheit. 
er  gewann  neue  kraft  und  jugendschöne :  sein  neugeschenktes  leben 
stellte  er  in  den  dienst  gottes. 

Man  hat  auch,  fügt  oben  Cassel  hinzu,  an  die  ähnlichkeit  mit 
Alkestis  gedacht,  die  für  ihren  gemahl  sich  opfert  und  von  Hercules 
der  unterweit  entrissen  wird,  aber  hier  ist  das  oijfer  wirklich  an- 
genommen, es  fehlt  die  romantische  zuthat  der  jungfräulichen  liebe, 
die  rettung  geschieht  auch  nur  der  Alkestis  wegen, 
(fortsetzung  folgt.) 

Danzig.  E.  Plaumann. 


22. 

DIE  VOLKSTÜMLICHEN  ÜBUNGEN  DES  DEUTSCHEN  TURNENS  VON  DR. 

G.  Schnell.    Leipzig,  Voigtländer.    1897. 

Der  fleiszige  mitherausgeber  der  Zeitschrift  für  turnen  und 
jugendspiel  hat  unter  dem  genannten  titel  ein  büchlein  veröffent- 
licht, das  es  sehr  verdient,  weiter  bekannt  zu  werden,  und  nicht  zum 
wenigsten  in  den  kreisen  der  turnlehrer  an  den  höheren  schulen, 
weil  es  von  einem  manne  herrührt,  der  selber  den  turnunterricht  an 
einer  höheren  schule  erteilt  und  darum  aus  eigner  erfahrung  viele 
praktische  winke  für  die  erlernung  und  durchführung  volkstümlicher 
Übungen  geben  kann  und  in  der  that  gibt,  die  schrift  führt  den 
Untertitel  'eine  anleitung  zur  erlernung  volkstümlicher  wettübungn'; 
er  würde  vielleicht  dem  gesamtinhalt  mehr  entsprochen  haben,  weil 
einmal  nicht  alle  volkstümlichen  Übungen  aufgeführt,  dann  nicht 
allein  das  deutsche  turnen  berücksichtigt  und  endlich  alle  Übungen 
nur  als  wettübungen  besprochen  sind,  aber  das  iat  eine  kleinig- 
keit,  über  die  wir  mit  dem  verdienten  Verfasser  nicht  rechten  wollen.  — 
Behandelt  sind:  wettlauf,  Stafettenlauf,  flachrennen  mit  graben, 
Hürdenrennen,  schnellgehen,  hoch-,  weit-  und  dreisprung,  stabvveit- 
sprung,  tauziehen,  gerwerfen,  kugelstoszen  (ob  nicht  besser  'kugel- 
werfen' zu  nennen?  das  gewicht  von  5  kgr.  gestattet  wohl  noch 
das  werfen),  weitwurf  mit  kleinem,  groszem  und  stoszball ,  faust- 
ballweitschlagen,  fuszballweitstoszen,  schlagballweitschlagen,  ziel- 
werfen mit  dem  kleinen  ball,  fuszballzielstoszen ;  angehängt  sind 
etliche  nützliche  bemerkungen  über  das  trainieren. 

Wer  selber  im  Unterricht  steht,  wird  sehen,  wie  viel  aus  dem 
büchlein  zu  lernen  ist.  wettübungen  zu  veranstalten  und  so  zu 
leiten,  dasz  sie  für  teilnehmer  wie  Zuschauer  fesselnd  bleiben,  ist 
schwer,  und  darum  ist,  besonders  heute,  wo  auf  körperliche  aus- 
bildung  nicht  blosz  durch  turnen  mit  recht  so  groszer  wert  gelegt 
wird,  wo  die  einstige  feindschaft  zwischen  deutschem  turnen  und  (in 
der  hauptsache  doch)  englischem  sport  sich  glücklicherweise  in  ein 


312  J.Vollert:  anz.v.G.  Schnell  die  volkstümlichen  Übungen  des  turnens. 

friedliches  zusammenarbeiten  verwandelt ,  jeder  gute  rat ,  jede  sach- 
kundige angäbe  in  solchen  dingen  sehr  willkommen. 

Besonders  gelungen  erscheinen  mir  die  abschnitte  über  den 
lauf,  das  schnellgehen  und  den  hoch-,  weit-  und  dreisprung.  wohl 
den  meisten  fachgenossen  werden  ferner  die  trefflichen  angaben  neu 
sein,  die  Schnell  über  den  besten  ablauf  vom  mal,  das  flachrennen 
mit  graben  und  hürdenrennen,  den  schottischen  sprung,  das  tau- 
ziehen  mit  anlauf,  das  englisch-amerikanische  kugelstoszen  macht, 
von  groszem  wert  ist  hier  sowohl  seine  klare  ausdrucksweise,  die 
misdeutungen  ausschlieszt ,  wie  die  beifügung  der  zwölf  guten  ab- 
bildungen. 

Nur  noch  ein  paar  bemerkungen.  dasz  bei  manchen  der  an- 
geführten Übungen  dem  Schönheitsgefühl  in  das  gesiebt  geschlagen 
wird,  wie  z.  b.  bei  dem  schottischen  sprung,  ist  nicht  zu  verwundern, 
handelt  es  sich  doch  bei  dem  sport  und  ebenso  auch  bei  den  volks- 
tümlichen Übungen,  die  dem  sport  ganz  nahe  stehen,  nur  um  die 
gröstmögliche  leistungsfähigkeit.  wenn  aber  einmal  die  rücksicht 
auf  schönes  aussehen,  auf  tadellose  ausführung  der  Übung  wegfällt 
(wie  z.  b.  bei  dem  sprung  nach  Sch.s  ansieht  die  schnür  gestreift 
werden  dürfte,  wenn  sie  nur  nicht  herabfällt),  ist  wohl  schwer  ein- 
zusehen, warum  ein  fallen  nach  glücklich  übersprungener  schnür  als 
grobe  Sünde,  welche  die  wertung  der  Übung  vereitelt,  gelten  soll.  — 
Bei  dem  Weitsprung  musz  die  absprungstelle  deutlich  bezeichnet 
sein :  das  hochspringen  könnte  für  sich  mit  einem  gewissen  recht 
dasselbe  verlangen.  —  Die  haltung  der  Engländer  beim  kugelstoszen 
erinnert  lebhaft  an  den  Myronischen  diskobolos,  der,  anders  als  wir 
beim  steinstoszen  oder  kegeln  gewohnt  sind ,  an  dem  vorgesetzten 
rechten  fusz  vorbei  mit  dem  rechten  arm  die  eherne  Scheibe  zu 
schleudern  im  begriff  ist.  —  Dasz  auch  Seh.  dem  undeutschen  ge- 
bahren  der  deutschen  sportweit  entgegentritt,  ist  sehr  erfreulich: 
nützte  es  doch  bei  jenen  pharaonisch  verstockten,  thörichten  menschen 
endlich  etwas!  —  Sollte  es  sich  nicht  empfehlen,  in  den  Zusammen- 
setzungen wie  'sportsweit,  sportsfest'  usw.  das  aus  dem  plattdeutschen 
in  das  hochdeutsche  zu  unrecht  eingedrungene  s  gerade  so  wegzu- 
lassen wie  in  'sportzeitung'  ? 

Zum  schlusz:  möge  das  buch  in  die  bände  recht  vieler  fach- 
genossen kommen  und  ausgibig  benutzt  werden! 

ScHLEiz.  Johannes  Vollert. 


ZWEITE  ABTEILUNG 

FÜR  GYMNASIALPÄDAGOGIK  UND  DIE  ÜBRIGEN 

LEHRFÄCHER 

MIT    ADSSCHLÜSZ    DER    CLASSISCHEN    PHILOLOGIE 

HERAUSGEGEBEN   VON   PROF.    DR.    RiCHARD   RiCHTER. 


23. 

ERWÄGUNGEN  DIE  BENÜTZUNG  DES  GRIECHISCHEN 
NEUEN   TESTAMENTS    IM   UNTERRICHTE    BETREFFEND. 


Dem  religionsunterrichte  in  den  oberclassen  der  gymnasien 
stehen  wohl  überall  in  Deutschland  nur  je  zwei  wochenstunden  zur 
Verfügung,  wie  viel  an  verschiedenartigem,  schwerwiegendem  stoffe 
in  diesen  je  zwei  stunden  zu  bewältigen  ist,  weisz  jeder  kundige, 
kein  wunder  daher,  dasz  die  lectüre  des  neuen  testaments  im  urtexte, 
die  zur  zeit  unserer  groszväter  und  urgroszväter  in  den  gymnasien 
eine  so  bedeutende  rolle  spielte,  neuerdings  in  immer  bescheidnerem 
umfange  betrieben  wird,  die  neuen  preuszischen  lehrpläne  stellen 
es  dem  lehrer  anheim,  'wenigstens  abschnittweise  den  griechischen 
text  heranzuziehen',  eine  wesentlich  andere  Stellung  nimmt  auch 
H.Schiller  nicht  ein  in  seinem  handbuche  der  praktischen  pädagogik. 

Sehr  mit  recht  weist  dieser  auf  die  völlige  Veränderung  der 
läge  seit  der  reformationszeit  hin.  er  für  seine  person  bezeichnet  es 
danach  als  ausreichend  für  die  allgemeine  bildung,  wenn  einzelne 
*für  die  glaubens-  oder  Sittenlehre  besonders  ergibige  und  charakte- 
ristische capitel'  in  der  Ursprache  gelesen  werden,  manche  werden 
nicht  einmal  das  nötig  finden',  andere  eine  weitergehende  herbei- 
ziehung des  Originals  geboten  erachten,  alle  einigen  sich  wohl  aber 
heutzutage  in  der  Verurteilung  der  früheren  Unterrichtsmethode,  die 
den  religionsunterricht  der  oberclassen  wesentlich  in  einer  halb  aka- 
demischen theologisch-philologischen  behandlung  einzelner  im  ur- 
texte gelesener  Schriften  des  neuen  testaments  aufgehen  liesz. 

Können  gymnasiasten  in  das  'heilige  original',  mit  Faust  zu 
reden,  nur  so  eingeführt  werden,  dasz  sie  dabei  einen  bailast  von 

*  erstaunlich  ist,  zu  welchen  verzichten  sich  neuerdings  manche 
Vertreter  der  griechisch-lateinischen  Studien  unaufgefordert  bereit  er- 
klären, als  lebten  wir  schon  ganz  im  Americanismus. 

N.  jahrb.  f.  phil.  u.  päd.  II.  abt.  1897  hft.  7.  21 


314  Th.Vogel:  die  benutzung  des  griech.  neuen  testaments  im  unterrichte. 

Philologie  mit  in  kauf  nehmen  müssen,  so  bleiben  sie  besser  unein- 
geführt.  das  ist  sicher  der  sinn  des  betreffenden  passus  in  den 
preuszischen  lehrplänen,  der  mehr  abratend  als  auffordernd  klingt, 
aber  neben  dem  misbrauch  ist  doch  ein  verständiger,  zweckmäsziger 
gebrauch  wohl  denkbar. 

Die  —  heutzutage  wohl  nur  noch  vereinzelt  vorkommende  — 
durchnähme  mehi-erer  gröszeren  neutestamentlichen  Schriften  im  Ur- 
texte raubt  dem  religionsunterrichte  zeit,  die  er  für  wesentlicheres 
braucht,  ganz  cursorisch  betrieben  hat  eine  solche  wenig  sinn,  bei 
gründlicher  behandlung  aber  wird  sie  nicht  nur  sehr  aufhältlich 
sein,  sondern  auch  philologisch- antiquarische  erörterungen  nötig 
machen,  die  den  religionslehrer  nur  zu  leicht  verleiten  können, 
den  theologen  hinter  dem  philologen  zurückzustellen,  welcher  an- 
strengung  würde  es  allein  bedürfen,  um  gymnasiasten  in  die  spräche 
eines  Lukas,  Paulus,  Johannes  einzuführen,  die  sich  so  wesentlich 
von  der  der  schulschriftsteller  unterscheidet! 

Mit  recht  begnügt  man  sich  daher  neuerdings  fast  allgemein 
mit  der  durchnähme  ausgewählter  längerer  oder  kürzerer  abschnitte, 
naturgemäsz  wird  der  lehrer  bei  seiner  auswahl  überwiegend  sich 
durch  theologische  gesichtspunkte  leiten  lassen,  er  wird  den  urtext 
vornehmlich  bei  solchen  stellen  heranziehen,  die  für  jeden  christen- 
menschen  eine  classische  bedeutung  haben,  nächstdem  bei  besonders 
schwierigen,  für  deren  völlig  klares  erfassen  das  zurückgehen  auf 
den  Wortlaut  des  Originals  von  Wesenheit  ist. 

Innerhalb  gewisser  eng  gezogenen  grenzen  darf  daneben  aber 
wohl  auch  das  litterarisch-philologische  element  zur  geltung  kommen, 
ja  möchte  es  im  hinblick  auf  die  gesamtaufgabe  des  gymnasiums. 

Zahlreiche  stellen  des  neuen  testaments  sind  durchaus  geeignet, 
ältere  gymnasiasten  —  vorausgesetzt,  dasz  durch  eingestreute  lako- 
nische bemerkungen  sprachliche  anstösze  für  sie  aus  dem  wege  ge- 
räumt werden  —  im  original  auch  ästhetisch  tiefer  anzuregen,  die 
volkstümliche  Schlichtheit  der  erzählung  in  den  evangelien,  die 
tiefe,  weihevolle  Innerlichkeit  des  Johannes,  die  machtvoll-geniale 
Vortragsweise  des  Paulus,  die  feinsinnige  detailmalerei  des  Lukas 
müssen  auf  jeden  gymnasiasten,  der  für  hellenische  auffassungs- 
und  ausdrucksweise  ein  gewisses  sensorium  gewonnen  hat,  bei  liebe- 
voller beschäftigung  mit  dem  original  einen  gewissen  zauber  ausüben, 
vielleicht  verlohnt  es  sich ,  bei  diesem  den  theologen  minder  nahe 
liegenden  gesichtspunkte  etwas  länger  zu  verweilen,  wenn  er  auch 
bei  der  zu  treffenden  auswahl  nur  nebenbei  für  sie  in  betracht 
kommen  kann. 

Was  zunächst  die  neutestamentliche  spräche  anbelangt,  so 
mutet  sie  jeden  gymnasiasten,  der  in  seinem  Xenophon,  Plato  und 
Demosthenes  zwar  leidlich  zu  hause  ist,  von  der  langen  reihe  be- 
deutender Prosaiker  aber  von  Polybios  bis  auf  Plutarch,  Arrian  und 
Lucian  hinab  auszer  einzelnen  proben  so  gut  wie  nichts  kennt ,  zu- 
nächst recht  fremdartig  an  wegen  lexikalischer  und  syntaktischer 


Th.Vogel:  die  benutzuug  des  griech.  neuen  testaments  im  unterrichte.  315 

eigenheiten  aller  art,  vornehmlich  aber  wegen  des  starken  einflusses, 
den  alttestaraentliche  auffassungs-  und  ausdrucksweise  auf  sie  aus- 
geübt hat.  manches  einzelne  wirkt  anfangs  schier  barbarisch  auf 
den,  dem  die  KOivn  völlig  fremd  ist.  selbst  blöden  äugen  musz  sich 
aber  daneben  die  Vertiefung  und  verinnerlichung  bemerklich  machen, 
welche  die  darstellungsmittel  des  Hellenismus  durch  die  eigenartige 
gedankenweit  und  gedankenarbeit  des  Judenvolks  erfahren  haben, 
während  eine  ganze  reihe  ehedem  gangbarster  ausdrücke  ganz  ver- 
schwindet, tauchen,  wie  in  der  Septuaginta,  so  noch  mehr  im  N.  T. 
neue  in  groszer  zahl  auf,  darunter  viele  geistvollsten  und  eigen- 
artigsten gepräges;  andere,  wie  aYaTTr),  ttictic,  cXttic,  xotpic,  eiprivr), 
buvajaic,  biKttiocuvri,  böEa,  cdpH,  Gdvaioc,  erhalten  eine  engere, 
vertieftere  bedeutung.  dxaipoc,  dbeXcpöc,  cuvep^öc,  eTTiCKOTTOC, 
KiipÜTteiV,  eKKXrjcia  —  alles  gangbare  ausdrücke  der  classischen 
prosa  und  doch  wie  ganz  eigenartig  anders  werden  sie  im  N.  T. 
verwendet! 

Und  der  stil!  von  dem  für  die  classische  ausdrucksweise  so 
charakteristischen  partikelreichtum  haben  sich  nur  bescheidene  reste 
erhalten;  im  gebrauche  des  artikels,  der  modi,  tempora,  genera 
verbi,  der  präpositionen  machen  sich  Verwitterungen'  aller  art  be- 
merklich, die  unsägliche  eintönigkeit  der  satzanfänge  mit  Ktti  in 
der  apokalypse  wirkt  ebenso  ungriechisch  wie  anderwärts  die  zahl- 
reichen asyndeta  (insbesondere  partikellose  antithesen).  dort  macht 
sich  hebräischer,  hier  römischer  einflusz  geltend,  der  den  Attikern 
so  geläufige  optativ  mit  dv  fängt  an  zu  verschwinden,  ja  für  Johannes 
ist  dieser  modus  so  gut  wie  nicht  mehr  vorhanden,  nach  Immers 
hoi'meneutik  des  neuen  testaments,  Wittenberg  1873,  s.  101  über- 
haupt nicht.- 

Für  den  sprach-  und  geschichtskundigen  ist  es  in  hohem  grade 
reizvoll,  im  N.  T.  die  verschiedentlichen  bestandteile  zu  verfolgen, 
die  auf  die  heilige  spräche  der  Juden,  semitische  volksdialekte, 
macedonischen,  ägyptischen,  syrischen  Hellenismus  usw.  hinweisen, 
so  dasz  man  oft  an  das  eiepaic  Y^iuccaic  gemahnt  wird,  gymna- 
siasten  im  religionsunterrichte  mit  derartigen  erörterungen  zu  be- 
helligen ,  wäre  unverantwortlich,  anderseits  gehört  es  doch  mit  zu 
den  heilsveranstaltungen  unseres  gottes,  dasz  das,  was  der  herr  und 
seine  jünger  ai-amäisch  zu  einem  engen  kreise  geredet  hatten,  durch 
das  medium  einer  spräche,  die  aus  griechischem,  semitischem  und 
römischem,  wenn  auch  in  ungleichem  Verhältnisse,  bestandteile  auf- 
genommen hatte,  über  die  grenzen  des  Römerreiches  hinaus  ver- 
breitet wurde. 

Erbaulich  musz  es  auf  jeden  humanistisch  gebildeten  christen- 
menschen  wirken,  zu  verfolgen,  wie  gewisse  plane  ausdrücke  des 
classischen  griechisch  durch  die  einwirkung  jüdischer  und  christ- 
licher anschauungen  sich  vertieft  haben  und  aus  dem  bereiche  des 


2  doch  s.  den  text  ev.  Jo.  13,  24. 

21' 


316  Th. Vogel:  die benutzung des  griech. neuen  testaments im  unterrichte. 

alltäglichen  in  eine  heilige  Sphäre  erhoben  worden  sind,  warum 
soll  dies  und  ähnliches  nicht  gelegentlich  durch  bedachtsam  aus- 
gewählte bei  spiele  den  schillern  nahegeführt  werden?  geschieht 
das  geschickt,  so  läszt  sich  sicher  eine  tiefer  gehende  anregung  er- 
zielen ohne  merklichen  Zeitverlust,  nur  musz  man  die  sache  mög- 
lichst durch  sich  selbst  wirken  lassen,  mit  ein  paar  TTUKvd  änt]  zu 
ihr  sich  begnügend. 

Eine  noch  gröszere  Zurückhaltung  als  geboten  erscheint  der 
neutestamentlichen  spi-ache  überhaupt  gegenüber,  wird  einzuhalten 
sein  bezüglich  des  usus  der  einzelnen  Verfasser,  dasz  jeder  gymnasial- 
abiturient  wenigstens  von  Paulus,  Johannes  und  Lukas  einen  ent- 
schiedenen eindruck  auch  nach  der  schriftstellerischen  Seite  erhalten 
habe,  erscheint  geboten;  dazu  genügt  aber  im  wesentlichen  eine 
ernst  betriebene  lectüre  der  deutschen  bibel.  ein  frevel  wäre  es, 
bei  dieser  das  volle  erfassen  des  wesentlichen  zu  beeinträchtigen 
durch  hinweisung  auf  stilistisch-grammatische  quisquilien  im  ori- 
ginal, dasz  TTopeiiecBai  ein  lieblingswort  des  Lukas  ist,  TÖT€  bei 
Matthäus,  eu6uc  bei  Markus,  dju^v,  djnfiv  Xexiu  im  ev.  des  Johannes 
auffällig  oft  vorkommt  u.  dgl.,  darf  schülern  völlig  gleichgültig  sein 
und  bleiben,  wozu  sollte  es  ihnen  dienen?  keine  eindringende 
Unterweisung  wird  dagegen  unterlassen  dürfen,  sicher  auch  nicht 
unterlassen,  darauf  hinzudeuten,  welche  prägnante  bedeutung 
gewisse  an  sich  meist  wenig  gehaltvolle  griechische  ausdrücke  im 
sprachgebrauehe  des  Johannes,  Paulus,  Petrus  und  der  pastoral- 
briefe  angenommen  und  für  alle  folgezeit  im  kirchlichen  usus  be- 
halten haben,  es  ist  das  um  so  unerläszlicher,  weil  die  ihnen  zu 
gründe  liegende  auffassung  in  der  deutschen  Übertragung  nicht  immer 
voll  wiedergegeben  ist  oder  von  uns  spätgebornen  aus  Luthers  Über- 
setzung nicht  mehr  recht  herausgehört  wird,  so  deckt  sich  z.  b.  das 
wort  glaube  als  neudeutscher  religiöser  t.  t.  durchaus  nicht  mit 
TTICTIC,  ist  unser  wort  'liebe'  entschieden  zu  weit  im  Verhältnis  zu 
dxdTTri. 

Auch  von  der  zai'theit,  herzigkeit,  grazie  und  dialektischen 
schärfe  des  Originals  geht  in  jeder  Übersetzung  naturgemäsz  ein  teil 
verloren.  Luthers  meisterübertragung  überbietet,  möchte  man  sagen, 
an  manchen  stellen  die  Urschrift  im  punkte  der  körnigkeit,  wucht, 
lapidaren  bestimmtheit,  an  andern  wirkt  sie  auf  das  deutsche  gemüt 
noch  inniger  als  jene,  zahlreiche  feinheiten  des  gedankenausdrucks, 
namentlich  aber  der  gedankenverknüpfung  gehen  in  ihr  verloren  schon 
wegen  der  Unübertragbarkeit  gewisser  partikeln,  constructionen,  der 
im  genus  verbi,  in  der  Unterscheidung  halbsynonymer  präpositionen 
begründeten  feinheiten;  daher  wirkt  vielfach  das  original  milder, 
einschmeichelnder,  im  einzelnen  auch  nach  seite  der  gedaukenverbin- 
dungen  klarer,    beispiele  anzuführen  erscheint  unnötig. 

Dasz  die  Verfasser  der  apokalypse,  des  ev.  Jo. ,  des  ersten 
Johannesbriefes  und  Markus  (unter  denen  ja  auch  wieder  zu  unter- 
scheiden ist)  mit  weltlicher  bildung  wenig  ausgerüstet  waren  und 


Th. Vogel :  die  benutzung  des  griech.  neuen  testaments  im  unterrichte.  317 

das  griechische  idiom  mangelhaft  beherschten,  wird  der  leser  der 
deutschen  bibel  höchstens  aus  der  Wiederholung  derselben  werte 
kurz  nach  einander  und  der  eintönigkeit  der  anknüpfungen  ent- 
nehmen, falls  er  überhaupt  darauf  achtet,  da^z  Lukas  ein  fein- 
gebildeter (jedenfalls  geborener)  Grieche  war,  an  schriftstelle- 
rischer beanlagung  und  gewandtheit  beträchtlich  über  dem  zunächst 
mit  ihm  zu  vergleichenden  Matthäus  und  hoch  über  Markus  und 
Johannes  stehend,  tritt  in  der  Übersetzung  ungleich  weniger  hervor 
als  in  der  Urschrift,  noch  weniger,  dasz  die  unzweifelhaft  echten 
Paulinischen  Sendschreiben,  der  erste  Petrus-  und  die  pastoralbriefe 
neben  einem  beträchtlichen  nicht  abzuleugnenden  gemeingut  unter 
einander  stilistisch -lexikalische  Verschiedenheiten  von  belang  auf- 
weisen. 

Dasz  dem  so  ist,  hat  für  die  christliche  gemeinde  sein  gutes, 
je  mehr  diese  alle  neutestamentlichen  Schriftsteller  unterschiedslos 
als  gottesmänner  auffaszt  und  danach  würdigt,  um  so  besser  für  sie. 
in  die  seele  des  gymnasialprimaners  möchten  aber  doch  die  für  die 
Christenheit  wichtigsten  heiligen  schriftsteiler  des  N.  T.  bei  aller 
hochhaltung  ihres  gemeinsamen  Verdienstes  auch  eingeprägt  sein 
als  einzelpersönlichkeiten  mit  besonderer  artung  und  ausrüstung. 
ist  nun  auch  das  bekannte  wort  'der  stil  ist  der  mensch'  als  eine 
Übertreibung  abzuweisen,  so  bekundet  sich  diese  einzelpersönlich- 
keit  unleugbar  nicht  zum  geringsten  im  stile,  das  wort  im  weitesten 
sinne  gefaszt. 

Lassen  sich  nicht  auch  dahin  gehende  winke  beim  unterrichte 
gelegentlich  einstreuen,  ohne  dasz  der  verdacht  'philologischen  be- 
triebes'  dabei  aufkommen  kann?  wir  meinen:  ja.  aber  beileibe 
keine  zusammenhängenden  erörterungen  dieser  art  more  academico, 
sondern  nur  hinlenkung  der  aufmerksamkeit  auf  diesen  punkt  bei 
gegebenem  einzelanlasz! 

Man  braucht  den  eingang  des  Lukasevangeliums,  der  apostel- 
geschichte  und  des  Hebräerbriefes  geweckten  primanern  nur  grie- 
chisch laut  vorzulesen,  so  wird  jeder  von  ihnen  von  selbst  urteilen  : 
das  ist  echtes  griechisch  mit  rhythmus  und  einer  an  profane  muster 
gemahnenden  färbung:  eTT€ibr|7Tep  —  in ex^i()r\cav  dvaidHacBai  — 
eboEev  Kdjuoi  —  otKpißüuc  KaGeEfjc  Ypdu^ai  —  töv  |nev  TrpujTOV 
XÖTOV  eTTOiricd.uriv  usw.  das  gemahnt  an  die  besten  classiker,  in- 
dem es  zugleich  vom  neuteslamentlichen  sprachgebrauche  sich  kennt- 
lich abhebt,  jedes  capitel  der  apostelgeschichte  verrät  in  einer  reihe 
von  Zügen  den  mit  hellenischen  Staats-,  Verkehrs-  und  bildungs- 
verhältnissen  wohl  bekannten  schriftsteiler,  in  so  zahlreichen  ganz 
charakteristischen  Wendungen  berühren  die  acta  sich  mit  Xenophon, 
Polybius,  Philo,  vornehmlich  mitJosephus,  dasz  eine  beacht- 
liche profanbildung  bei  deren  Verfasser  nicht  in  zweifei  gezogen 
werden  kann,  liest  man  mit  älteren  schülern  die  Schilderung  des 
apostelconvents,  des  aufenthalts  in  Athen,  der  groszen  verhörein 
Cäsarea  und  Jerusalem,  der  Seereise  griechisch,  so  wird  man  daher 


318  Th.Vogel:  die  benutzung  desgriech.  neuen  testaments  im  unterrichte. 

kaum  umbin  können,  auf  die  profangräcität  hier  und  da  bezug  zu 
nebmen.  —  Bei  der  lectüre  eines  der  groszen  Pauliniseben  briefe 
im  original  möcbte  jeder  achtsame  schüler  von  selbst  mit  bewunde- 
rung  erfüllt  werden  1)  vor  der  hohen  genialität,  mit  der  der  Gamaliels- 
schüler  die  mittel  der  von  ihm  nicht  voll  beherschten  griechischen 
spräche  seinen  machtvollen  und  eigenartigen  gedanken  dienstbar 
macht,  nicht  minder  2)  vor  der  anpassungsgabe,  die  es  ihm  möglich 
gemacht  hat,  bis  zu  einem  hohen  grade  auch  in  rhetorisch-dialekti- 
scher beziehung  'den  Gi'iechen  ein  Grieche  zu  werden*,  ihm,  dem 
ibiUJTric  TUJ  XÖYiu,  einem  Lukas  und  dem  verf.  des  Hebräerbriefes 
gegenüber,  warum  sollte  nicht  auch  der  lebrer  auf  derartiges  ge- 
legentlich noch  hinweisen?    ist  er  das  nicht  der  sache  schuldig? 

Unter  allen  Paulinischen  briefen  ragen  als  grosz  angelegt, 
sorgfältigst  ausgefeilt  und  rhetorisch  ausgeschmückt  der  Römer- 
und  erste  Korintherbrief  hervor,  in  diesen  stücken  auch  den  zweiten 
Korinther-  und  Galaterbrief  merklich  überbietend,  gleichviel,  ob 
bei  der  niederschrift  jener  beiden  Sendschreiben  geborene  Griechen 
wie  Timotheus  redactionelle  beihilfe  geleistet  haben  oder  nicht, 
jedenfalls  tritt  die  reiche  gedankenweit  Pauli  in  ihnen  uns  am 
classischsten  in  der  form  entgegen,  sein  höchstes  können  ist  in 
ihnen  zusammengefaszt  behufs  einer  eindringlichen  Wirkung  auch 
auf  höher  gebildete  freunde  des  evangeliums  an  den  culturstätten 
Rom  und  Korinth.  der  Jugendunterricht  hat  keinen  anlasz,  darzu- 
thun,  wie  sehr  2  Thess.,  Eph.  und  Col.  dagegen  abfallen,  um  so 
mehr  unseres  erachten«  aber  die  Verpflichtung,  die  besondere  bedeu- 
tung  von  Rom.  und  1  Cor.  auch  nach  seite  der  form  gebührend  her- 
vorzuheben, belebung  der  rede  durch  fragen ,  apostrophen,  selbst- 
einwürfe usw.  gehört  ja  zum  Paulinischen  stile  überhaupt,  aber 
das  fragende  r\  und  }xr]  ou,  das  Ti  ouv  epoOjuev  (cpri)Lii,  üjuiv  eiTTUü), 
das  dXXd  XeYiw,  epei  Tic  u.  dgl.  ist  fast  nur  den  genannten  beiden 
briefen  eigen.  ^ 

Zur  Charakteristik  des  Schriftstellers  Paulus  gehört  auch  ganz 
wesentlich  1)  bei  aller  ideenfülle  die  geflissentliche  Wiederholung  ge- 
wisser stereotyper,  zum  teil  ihm  allein  eigner  formein  (der  widmung, 
der  eingangsbenediction,  der  doxologie,  des  schluszsegens  usw.), 
2)  das  starke  hervortreten  des  persönlichen  (bes.  2  Cor.,  Gal.,  Phil, 
und  Philemon).    auch  das  ist  wohl  des  hinweises  wert. 

Von  einem  'aufbau',  einer  'stoffgruppierung'  mit  bewustsein 
wird  man  im  ernste  wohl  nur  sprechen  können  bei  dem  ev.  Mt.,  Jo., 
Luc.  und  den  actis,    warum  erzählt  jeder  der  genannten  drei  evan- 

3  so  kleinlich  es  erscheinen  mag,  bei  heiligen  Schriften  auf  minutien 
wie  }J.iv  —  bi  zu  achten,  so  geschehe  es  doch  beiläufig,  in  sieben  Schriften 
des  N.  T.  fehlt  diese  echt  griechische  form  der  gegenüberstellung  ganz, 
in  andern  tritt  sie  sehr  spärlich  auf,  unverhältnismäszig  oft  in  den 
actis  (seltener  ev.  Luc.),  ziemlich  häufig  bei  Mt.,  Ilebr.,  Rom.  und  1  Cor.  — 
Der  kenner  wird  das  nicht  als  zufällig  ansehen,  der  gebrauch  von 
|Liev  gehörte  damals  zu  den  kennzeichen  des  gebildeten,  ausgefeilten 
Stils,  völlig  fremd  ist  er  daher  der  apokalypse. 


Th.Vogel :  die  benutzung  des  griech.  neuen  testaments  im  unterrichte.  319 

gellsten  manches  nicht,  was  andere  bieten,  warum  manches  in 
anderem  zusammenhange,  anders  motiviert  oder  ausgeschmückt, 
daneben  auch  völlig  neues?  die  annähme  verschiedener  quellen  er- 
klärt ungezwungen  nur  einen  teil  dieser  erscheinung.  ein  weiterer 
erklärungsgrund  möchte  in  des  erzählers  art  und  plan  zu  suchen 
sein,  für  Johannes  kam  es  darauf  an,  das  Christusbild  nach  ge- 
wissen Seiten  neu  zu  beleuchten,  für  Matthäus,  1)  Judenchristen  voll 
zu  befriedigen  und  2)  nach  gewissen  Symmetrierücksichten  seinen 
Stoff  zu  verarbeiten,  im  ev.  Luc.  und  den  actis  sind  unverkennbar 
bei  der  stoffgruppierung  neben  theologischen  —  bewust  oder  un- 
bewust  —  auch  ästhetische  rücksichten  im  spiele  gewesen,  die 
eintönigkeit  wird  vermieden,  schlichte  hebraisierend-einfache  er- 
zählungen,  gleichnisse,  reden  wechseln  ab  mit  fein  ausgearbeiteten 
bildern  aus  der  heiligen  geschichte  und  (besonders  in  den  act.)  der 
Vorführung  ergreifender  scenen.  das  lehrhafte  wird  verteilt,  man- 
ches räumlich  und  zeitlich  nicht  genau  fixierbare  wird  in  den  'reise- 
bericht'  des  ev.  eingewoben,  gern  läszt  Lukas  auch  gleichgültiges 
oder  erfreuliches  auf  entsetzliches  folgen  zur  erholung  des  lesers. 
auf  eine  gewisse  Symmetrie  im  aufbau  des  evangeliums  und  der 
apostelgeschichte  ist  öfters  schon  hingewiesen  worden,  eine  ver- 
gleichung  im  einzelnen  wäre  ja  nur  Spielerei,  aber  die  beiden  rrpö- 
Xofoi  ev.  1 — 3  und  act.  1 — 4  haben  nach  Stimmung  und  klangfarbe 
etwas  verwandtes;  erst  nach  ihnen  setzt  der  'gegenspieler'  ein,  welt- 
lich zu  reden,  wirken  unter  dem  volke  der  verheiszung,  wirken  unter 
ungläubigen,  Verleumdungen,  Verfolgungen,  verhör  auf  leben  und 
tod  hier  wie  dort;  beide  Schriften  hoffnungsvoll  und  getrost  aus- 
klingend im  vertrauen  auf  die  verhieszene  oder  bereits  erschienene 
*kraft  aus  der  höhe',  die  ähnlichkeit  wird  noch  dadurch  erhöht,  dasz 
der  stoff  der  sogenannten  apostelgeschichte  sich  um  Paulus  gruppiert 
wie  der  des  evangeliums  um  den  herrn.  Luc.  24,50 — 52  wirken  dazu 
fast  wie  eine  auf  act.  1,  9  ff.  2,  46  ff.  hinweisende  'verzahnung'  auf 
den  beuiepoc  Xötoc  hin,  oder  umgekehrt. 

Die  thatsache,  dasz  der  haupterzähler  des  neuen  bundes  mit 
den  feineren  kunstmitteln  gi'iechischer  geschichtschreibung  vertraut 
und  so  beanlagt  war,  dasz  auch  gebildete  Griechen  seiner  darstel- 
lung  sich  erfreuen  konnten,  möchte  auch  der  Jugend  nahegeführt 
.werden  als  eine  der  gnadenveranstaltungen  anseres  gottes  neben 
andern,  die  nötig  waren,  um  das  N.  T.  so  sich  gestalten  zu  lassen, 
wie  es  geschehen  ist. 

Die  frage,  wie  das  neue  testament  im  unterrichte  zu  behandeln 
sein  möchte,  getraut  der  verf.  sich  in  ihrer  allgemeinheit  nicht 
zu  beantworten,  wie  auch  die  Überschrift  derartiges  nicht  in  aussieht 
stellt,  als  philolog  hat  er  sich  begnügt,  das  beizubringen,  was  ihm 
als  solchem  nahe  lag.  als  pädagog  und  christenmensch  könnte  er  es 
nur  beklagen,  wenn  die  mit  mühe  aus  den  oberclassen  hinaus- 
gewiesene 'neutestamentliche  philologie'  in  anderer  form  sich  wieder 
einschliche,    bestimmt  genug  vermeint  er  es  ausgesprochen  zu  haben, 


320  Th.Vogel:  die  benutzung  des  griech.neuen  testaraents  im  unterrichte. 

dasz  das  von  ihm  angeregte  neben  ungleicb  wichtigerem  nur 
ganz  bescheiden  auftreten  dürfte,  wie  etwa  bemerkungen  über  antike 
plastik  und  architektur  im  altclassischen  unterrichte. 

Wir  Germanen  müssen  nur  der  uns  angeerbten  unart  uns  mehr 
und  mehr  entäuszern,  alles,  was  überhaupt  im  unterrichte  vor- 
kommen soll,  breitspurig  via  et  ratione  zu  behandeln,  die  schule 
soll  doch  nicht  nur  auf  einen  sicheren  besitz  abfragbaren  wissens 
hinarbeiten;  das  wertvollste,  was  sie  überhaupt  bieten  kann,  sind 
rechtzeitig  ausgestreute  Samenkörner,  geeignet,  in  der  stille  wurzel 
zu  fassen  und  zu  keimen,  in  diesem  sinne  wünsche  ich  die  und  jene 
der  gegebenen  andeutungen  aufgefaszt  zu  sehen. 

Wird  nur  die  wünschenswerte  beschränkung  auf  dann  und  wann 
eingestreute  winke  grundsätzlich  geübt,  so  halte  ich  es  auch  um  der 
*concentration'  willen  für  sehr  empfehlenswert,  dasz  der  religions- 
unterricht  der  oberclassen  fühlung  mit  dem  altclassischen  unter- 
richte sucht,  wo  sie  von  selbst  sich  ihm  darbietet,  die  Juden  spielen 
eine  wenn  auch  bescheidene  rolle  bei  Horaz,  Christen  bei  Plinius 
dem  jüngeren  undTacitus,  anklänge  an  christliche  anschauungen 
finden  sich  bei  Seneca,  die  innere  Zerrissenheit  und  haltungslosig- 
keit  der  herschenden  römischen  kreise  um  Christi  geburt  und  danach 
deutet  auf  ein  unbefriedigtes  tiefinnerstes  sehnen  hin.  anderseits 
spielen  römische  Statthalter  und  legionen  in  Palästina  eine  rolle  zur 
zeit  Jesu  und  seiner  apostel,  desgleichen  heidnisches  Staats-  und  ge- 
richtswesen.  heidnische  philosophen  und  rhetoren,  heidnische  lebens- 
gewohnheiten,  gröbere  und  feinere  lebensgenüsse  usw.  treten  den 
boten  der  neuen  lehre  an  den  hauptculturstätten  der  alten  weit  ent- 
gegen, gleich  zwei  verschiedenartigen  Strömungen  flutet  in  der 
apostelgeschichte  jüdisch-christliches  und  hellenisches  neben  ein- 
ander und  im  christlichen  Hellenismus  zusammen. 

Die  verschiedentlichen  zusammenhänge,  die  zwischen  Rom  und 
Jerusalem  thatsächlich  bestanden,  läszt  natürlich  kein  Unterricht  un- 
beachtet, ersprieszlich  ist  es  aber  wohl,  wenn  dann  und  wann  auch 
auf  verborgenere  fäden  hingewiesen  wird ,  die  herüber  und  hinüber 
flössen,  so  liegt  es  nicht  fern ,  meine  ich ,  bei  der  erwähnung  von 
Forum  Appii  (act.  28,  15)  an  den  reiseaufenthalt  des  Horaz  daselbst 
zu  denken,  wie  anders  die  Stimmung  der  reisenden,  das  ganze  lebens- 
bild  in  dem  und  jenem  falle !  dasz  der  proconsul  Gallio,  der  Paulum 
(act.  18,  12)  zu  verhören  hatte,  ein  bruder  des  philosophen  Seneca 
war,  gibt  gewis  zu  denken,  wie  nicht  minder  die  Phil.  4,  22  er- 
wähnten ÖTioi  €K  Tf]c  Kaicapoc  okiac  usw. 

Zum  Schlüsse  noch  ein  gesichtspunkt.  der  wünsch  der  schule, 
dasz  ihre  entlassenen  zöglinge  dem  griechischen  Homer,  Sophokles 
und  Plato  auch  in  späteren  jähren  stille  stunden  widmen  möchten, 
erfüllt  sich  in  unserer  von  so  vielen  interessen  hin  und  her  gezogenen 
zeit  wohl  selten  genug,  anders  möchte  es,  kann  es  sein  mit  dem 
griechischen  testament.  am  wenigsten  wird  dieses  wohl  mit  andern 
Schulbüchern  bei  seite  geschoben  werden,  wenn  es  im  unterrichte 


A.Messer:  Quintilian  als  didaktiker.  321 

nicht  überwiegend  als  quellenbuch  für  dogmatik  und  dogmen- 
geschichte  behandelt  worden  ist,  sondern  als  ein  heiliges  buch, 
dem  verstand,  gemüt,  -wille  fruchtbarste  anregung  entnehmen 
können,  das  auch  einer  hohen  anziehungskraft  nach  der  mensch- 
lichen Seite  nicht  entbehrt  für  alle,  die  dem  einzelnen  liebevoll 
nachgehen,  den  einen  schüler  mag  das  evangelium  Jobannis,  den 
andern  die  apokalyjDse  am  tiefsten  packen,  im  allgemeinen  möchten 
das  evangelium  des  Lukas,  die  apostelgeschichte  und  der  erste 
Korintherbrief  eines  nachhaltigen  eindrucks  auf  primanerherzen  nicht 
verfehlen ,  zumal  wenn  deren  auslegung  neben  dem  uuerläszlichen 
theologischen  ernst  etwas  von  dem  zugleich  humanen  und  ästheti- 
schen anhauche  verspüren  läszt,  der  den  beiden  Schriften  des  ge- 
treuen gehilfen  und  arztes  Lukas  für  alle  zeit  die  herzen  mehr  philo- 
logisch beanlagter  naturen  leichter  erschlieszen  wird,  als  es  mancher 
dogmatisch  bedeutenderen  des  N.  T.  bei  ihnen  gelingt. 

Dresden.  Th.  Vogel. 


(16). 

QUINTILIAN     ALS     DIDAKTIKER    UND    SEIN    EINFLUSZ 

AUF    DIE    DIDAKTISCH- PÄDAGOGISCHE    THEORIE    DES 

HUMANISMUS. 

(Fortsetzung.) 


Dritter  abschnitt. 

Der   einflusz    Quintilians    auf  die    didaktisch-pädagogische 
theorie  des  humanismus. 

In  den  nunmehr  zu  besprechenden  Schriften  zeigt  sich  neben  dem 
einflusz  Quintilians  vielfach  auch  der  der  kleinen  unter  Flu  tarchs 
namen  gehenden  abhandlung  TT€pi  TTaibuüV  dfuuTfic.  Guarino  hat 
dieselbe  ins  lateinische  übertragen,  und  in  seiner  Übersetzung  wurde 
sie  auch,  wie  ich  gelegentlich  zeigen  werde,  meist  benutzt. ^^'  sie 
tritt  vielfach  ergänzend  neben  die  institutio;  denn  sie  richtet  ihr 
hauptaugenmerk  auf  die  körperliche  ausbildung  und  die  erziehung, 
gebiete,  die  bei  Quintilian  nur  gestreift  sind,  ein  kurzer  überblick 
über  den  inhalt  mag  hier  folgen:  eine  klare,  durchgreifende  dis- 
position  ist  nicht  vorhanden;  die  einzelnen  gedanken,  die  meist  durch 
eine  fülle  von  anekdoten  und  aussprüchen  belegt  sind,  reihen  sich 
nur  lose  aneinander. 


341  ich  bediene  mich  der  ausgäbe  Brixiae  1485.  dieselbe  enthält 
auch,  wie  schon  erwähnt,  die  abhandlung  Vergerios  und  die  Übersetzung 
der  kleinen  schrift  des  Basilius  über  das  Studium  der  heidnischen  litte- 
ratur,  die  Bruni  ende  1405  übersetzte  (Voigt  II''  s.  104  anm.  1).  auf 
sie  sei  auch  mit  einem  werte  hingewiesen,  da  sie  in  der  damaligen 
pädagogischen   litteratur  nicht   gerade   selten  herangezogen   wird,     sie 


322  A.Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

1)  hj'gienische  Vorschriften  über  die  ehe  (c.  1 — 3). 

2)  die  drei  factoren  der  bildung  uud  erziehung  qpücic,  XÖYOC  (|bid9r|Cic), 
l9oc  (ctCKTicic,  laeXerri)  (c.  4). 

3)  die  erste  pflege  (die  mutter  soll  selbst  stillen,  nötigenfalls  sorg- 
fältige wähl  der  amme)  und  die  anfange  der  erziehung  (c.  5). 

4)  sorgfältige  wähl  der  kinder,  die  mit  den  eignen  erzogen  werden 
(c.  6). 

5)  über  die  wähl  der  pädagogen  und  lehrer  (c.  7). 

6)  wert  einer  tüchtigen  bildung  und  erziehung  (c.  8). 

7)  Warnung  vor  dem  zu  frühzeitigen  aus  dem  Stegreif  reden  und 
einige  positive  ratschlage  über  ausbildung  der  redefertigkeit  (c.  9). 

8)  die  ^ykOkXio  iraiöeüjuaTa,  die  ^k  7Tapa6po|af|C  und  Y^üiuaxoc 
2veKev  zu  betreiben  sind,  finden  ihr  centrum  und  ihr  ziel  in  der 
Philosophie,  deren  versittlichende  Wirkung  betont  wird. 

eine  erörterung  der  drei  möglichen  lebensführungen,  des  irpaKTlKÖC, 
öeuupriTiKÖc  und  dircXaucTiKÖc  ßioc  leitet  zu  der  empfehlung,  das 
theoretische  und  das  praktische  leben  zu  verbinden  (c.    10). 

9)  die  körperliche  ausbildung.  ihre  Wirkung:  eupu9|Uia  und  jiü))ari ; 
ihr  endzweck:  die  kriegerische  tüchtigkeit  (c.  11). 

10)  behandlung  der  schüler.     Verwerfung  der  schlage  (c.  12). 

11)  Warnung  vor  überbürdung:  notwendigkeit  der  erholung  (c.  13). 

12)  einzelne  Vorschriften  über  die  sittliche  erziehung  (auch  die  frage, 
ob  epojVTec  zuzulassen  sind,  wird  erörtert)  (c.   14.   15). 

13)  behandlung  der  erwachsenen  söhne  (sie  sind  besonders  vor  bösem 
Umgang  und  vor  Schmeichlern  zu  behüten)  (c.  16.  17). 

14)  die  eitern  müssen  strenge  und  nachgibigkeit  vereinigen  (sie  müssen 
bisweilen  touToüc  äva|ii)avncK€iv,  ÖTi  ifivovTO  veoi).  fehler  müssen 
sie  bisweilen  übersehen  (c.   18). 

15)  die  allzu  vergnügungssüchtigen  söhne  bald  verheiraten  (c.  19). 

16)  wert  des  väterlichen  beispiels  (c.  20). 

I.    Die  italienischen  humauisten  Corraro,  Yegio,  Enea  Silyio, 
Guariuo  und  Filelfo. 

Ehe  wir  zur  behandlung  derjenigen  theoretischen  leistungen 
des  italienischen  humanismus  auf  dem  gebiete  der  pädagogik  und 
dialektik  übergeben,  die  im  laufe  des  15n  Jahrhunderts  den  sehriften 
Vergerios  und  Brunis  folgten,  sei  hier  des  mannes  gedacht,  der  sich 


bespricht  zunächst  die  intellectuelle  ausbildung,  empfiehlt  die  —  aus- 
wählende —  benutzung  der  antiken  prosaischen  und  poetischen 
litteratur,  die  aber  nur  propädeutischen  wert  hat,  gedenkt  der  behand- 
lung des  körpers:  er  musz  sich  dem  geist  völlig  unterordnen,  das 
ewige  ziel  musz  immer  im  äuge  behalten  werden;  darauf  lenkt  auch 
die  erziehung  bin,  die  auf  gewöhnung  und  einsieht  beruht.  —  Endlich 
sei  auch  noch  erwähnt,  dasz  in  den  unter  Galens  namen  überlieferten 
Schriften  einzelnes  pädagogischen  Inhalts  ist,  so  der  irpoxpeTTTiKÖc  XÖYOC 
(Cl.  Galeni  opp.  omnia  ed.  Kühn,  Lipsiae  1821 — 33,  I— XX)  in  vol.  I, 
worin  über  den  wert  der  bildung,  über  den  des  gehurtsadels,  über  artes 
liberales  und  illiberales  —  maierei  und  bildhauerkunst  zählen  hier,  im 
gegensatz  zu  Vergerio,  zu  den  ersteren  —  ansichten  vorgetragen  wer- 
den, die  auch  unter  den  humanisten  gang  und  gäbe  sind,  und  worin 
namentlich  die  ausführliche  Verurteilung  der  athletik  interessant  ist; 
ferner  uepi  äpicxric  KaxacKeufiC  xoö  dJÜjuaxoc  i'tihüüv  (aufzeigung  des  ein- 
flusses  des  körperlichen  factors  auf  die  psyche)  in  vol.  IV,  irepi  biOYVuü- 
ceujc  Kai  GepaTreiac  xojv  ev  xrj  ^kcxcxou  vpoxTl  Ibiwv  iraOinv  und  itepl 
ILiiKpäc  cqpaipac  in  vol.  V;  endlich  noch  irepi  cucxdceaic  iaxpiKf|c  (de 
constitutione  artis  medicae)  in  v.  I. 


A.Messer:  Quintilian  als  didaktiker.  323 

wie  eine  lichtgestalt  von  dem  oft  dunklen  und  frivolen  treiben  der 
humanisten  abhebt,  des  lebrers  und  erziehers  von  gottes  gnaden: 
Vittorinos  da  Feltre.  auf  ihn  hat  ja  sicherlich  auch  Quintilian'" 
und  vermutlich  auch  Vergerio  eingewirkt,  jedenfalls  war  es  ganz 
im  sinne  Vergerios,  wenn  er  neben  gründlicher  wissenschaftlicher 
bildung  auch  der  erziehung  und  der  körperlichen  entwicklung  hohen 
wert  beilegte. 

Einer  der  schüler  dieses  Vittorino  hat  eine  schrift  gesehrieben, 
deren  wir  in  diesem  Zusammenhang  gedenken  müssen;  denn  sie  will 
nicht  lediglich  erzählen,  wie  es  bei  Vittorino  gewesen  ist,  sondern 
sie  will  lehren:  quomodo  educari  debeant  pueri.  der 
Venetianer  Gregorio  Corraro  ist  ihr  Verfasser,  er  hat  sie  seinem 
bruder  Andreas  am  hochzeitstage  geschenkt  1430^'^;  dem  anlasse  ent- 
sprechend ist  sie  in  hexametern  abgefaszt  —  es  sind  im  ganzen  293.'" 
die  einleitenden  verse  lauten: 

haec  tibi  de  libris  veterum,   germane ,  relegi, 
1  quaeque  super  pueris  docuit  pater  optimus  olim 

Victorinus:  et  hie  aliquid  quod  discere  possit, 
si  quem  digna  manet  studiorum  cura,  docebo. 

ich  gebe  im  folgenden  in  kürze  den  inhalt  der  einzelnen  versgruppen 
an  und  stelle  die  zugehörigen  Quintiliancitate  sogleich  daneben. 

V.  5 — 26.     sorgfältige   wähl   der    amme.     rücksicht   auf  ihre  sitten  und 

ihre  spräche.     Quint.  I  4,  5. 

(für  den  rat,   dasz  die  mutter  ihr  kind  eigentlich  selbst  stillen  solle 

[v.  18  f.],  vgl.  Plutarch  a.  a.  o.  c.  5.) 
V.  27 — 32.     gewissenhafte  auswahl  des  lebrers.     Quint.  I  1,  8. 
V.  33—40.     rat  schon  vor  dem  7u  jähr  mit  dem  Unterricht  zu  beginnen 

unter  ausdrücklicher  berufung  auf  Quint.  I  1,  15 — 19. 
V.  41  —  43.     das    spielende    lesenlernen    mit    hilfe    elfenbeinerner   buch- 

staben.     Quint.  I  1,  26. 
V.  44 — 45.     dasz    das    spiel    den    charakter   der   kinder   erkennen   lasse. 

Quint.  I  3,   11. 
V.  46 — 53.     zur   besten   naturanlage   musz  arbeit  hinzukommen.     Quint. 

pr.  z.  I  §  27  u.   ö. 
V.  54 — 74.     excurs  über  die  klägliche  Stellung  der  lehrer  und  über  die 

corrumpierende    Wirkung    eines    sittenlosen    elternhauses    (für    das 

letztere  bietet  ein  vorbild  Quint.  I  2,  6 — 8). 
V.  75—83.     der  lehrer  musz  sein  von  tadellosen  sitten,  von  väterlicher 

gesinnung    gegen    seine    schüler;    er   musz   das  lernen  möglichst  er- 
leichtern und  über  die  sitten  wachen.     Quint.  II  2. 


2*2  wir  werden  den  beweis  dafür  unten  bei  besprechung  der  schrift 
Corraros  erbringen,  in  einer  handschrift  Vergerios  steht:  'scriptus 
Mantuae  apud  praeclarum  magistrum  Victorinum  Feltrensem  Marcus 
Guardus.'     Schmid,  encyclopädie  IX  s.  761  ff. 

3'3  Voigt  a.   a.  o.  I^  s.  416  anm. 

^*^  sie  ist  abgedruckt  in  dem  werke  Karl  Rosminis:  idea  dell'  ottimo 
precettore  nella  vlta  e  disciplina  di  Vittorino  da  Feltre  e  de  suoi  discepoli, 
libri  IV,  Bassano  1801,  s.  477—87  (deutsch  von  Orelli).  einen  neuen  ab- 
druck,  den  ieh  hier  benutze,  gibt  Wilh.  Krampe  in  einem  anhang  seines 
buches:  die  italienischen  humanisten  und  ihre  Wirksamkeit  für  die  Wieder- 
belebung gymnastischer  pädagogik  (Breslau  1895). 


324  A.Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

V.  84 — 88.  die  jüng^ereu  Zöglinge  sollen  nicht  mit  den  älteren  vermischt 
sitzen.     Quint.  II  2,   14. 

V.  89 — 96.  notweudigkeit  der  körperlichen  erholung  und  des  Spiels 
(mit  medicinischer  begriindung).     Quint.  I  3,  8  — 10. 

V.  97—102.  nachträgliche  bemerkung  über  den  lehrer:  höheres  alter 
ist  bei  ihm  kein  nachteil;  er  soll  nicht  zu  zahlreiche  Schüler  an- 
nehmen (für  letzteres  Quint.  I  2,  15). 

V.  103 — 110.  über  die  körperliche  Züchtigung,  nur  bei  gröszeren  scheint 
er  sie  völlig  ausschlieszen  zu  wollen,  die  praxis  Vittorinos,  der 
davon,  allerdings  nur  in  ausnahmefällen,  gebrauch  machte,  scheint 
Corraro  hier  bestimmt  zu  haben  die  ansieht  Quintilians,  der  sie  gänz- 
lich verwirft  (I  3,  13 — 18),  mit  einer  kleinen  modification 
aufzunehmen. 

V.  111 — 131.  die  Verschiedenheit  der  Individualitäten  und  ihre  be- 
rücksichtigung.     Quint.  I  3,  1 — 7;  ohne  engen  anschlusz. 

V.  131 — 143.  die  erwähnung  des  Simonides  und  seiner  ars  memoriae 
(vgl.  Quint.  XI  2,  11)  leitet  hinüber  zur  lectüre,  die  ja  zum  teil 
wie  z.  b.  Vergil  dem  gedächtnis  einzuprägen  ist;  neben  Vergil  wird 
Cicero  genannt. 

V.  143 — 157.  über  die  eignen  productionen  der  schüler;  zum  teil 
im  anschlusz  an  Quint.  II  4  (speciell  für  die  bemerkung  nee  mihi 
displiceant  pueri,  quibus  exuberat  vis  usw.  vgl.  II  4,  5). 

V.  157—158.     kenntnis  der  metrik.     Quint.  I  8,  13. 

V.  159-179.     musik.     Quint.  I  10,  9—25. 

V.  180—183.  dazu  auch  corporis  actus  et  decorus  motug  qui  dicitur 
ei)pu9|u(a,  wie  es  bei  Quint.  I  10,  26  heiszt. 

V.  184 — 191.  der  Unterricht  im  griechischen  (begründet  wird  er  mit 
der  bemerkung,  dasz  die  abwechslung  dem  jugendlichen  geiste  not- 
wendig und  dasz  er  dabei  doch  sehr  leistungsfähig  sei:  Quint.  I  12). 

V.  192 — 194.     Warnung  vor  gänzlich  zurückgezogenem  gelehrtenleben. 

V.  195—203.  die  ehrliebe,  der  mächtigste  sporn  für  die  Studien.  Quint. 
I  2,  21-25. 

v.  204 — 228.  klage  über  den  durchaus  auf  gewinn  und  materiellen  ge- 
nu.sz   gerichteten  sinn  der  Venetianer. 

V.  229 — 260.  beredsamkeit  in  Verbindung  mit  Weisheit  als  begründerin 
der  Staaten.     Cicero  de  or.  I  8,  33. 

V.  261  —  288.     über  die  dichtkunst;  meist  im  anschlusz  an  Horaz. 

V.  288—293.  schluszwort.  bitte,  das  gedieht  dem  Vittorino  zu  lesen 
zu  geben. 

Die  Übereinstimmungen  mit  Quintilian  sind,  wie  schon  ihre 
zahl  und  wie  an  mehreren  stellen  der  Wortlaut  unwiderleglich  zeigt, 
bei  Corraro  durch  entlehnung  der  einzelnen  stellen  aus  der  institutio 
zu  erklären,  sein  gedieht  besteht  also  zum  grösten  teil  aus  gedanken 
Quintilians,  die  er  lediglich  in  verse  gebracht  hat.  von  den  andern 
libri  veterum ,  die  er  als  quelle  angibt,  merken  wir  wenig:  an  je 
einer  stelle  ist  anlehnung  anPlutarch,  Cicero  und  Horaz  zu  erkennen, 
wenn  er  auszerdem  auf  die  lehre  Vittorinos  hinweist,  so  zeigt  das 
deutlich,  wie  eng  dieser  selbst  in  seinen  ansichten  und  in  seiner 
Wirksamkeit  sich  an  Quintilian  anschlosz. 

Etwa  gerade  in  die  mitte  des  Jahrhunderts  gehören  die  beiden 
umfangreichsten  der  hier  zu  besprechenden  Schriften,  deren  Verfasser 
Maffeo  Vegio  und  Enea  Silvio  sind,  die  erstere  ist  betitelt 
de  educatione  liberorum  et  eorum  claris  moribus  1.  VI; 


J 


A.Messer:  Quintilian  als  didaktiker.  325 

sie  wird  in  den  ausgaben  meist  dem  Francesco  Filelfo  beigelegt, 
doch  steht  die  autorschaft  Vegios  fest.^*°  ihre  abfassung  fällt  in 
die  zweite  periode  seines  lebens ,  da  erst  während  seines  aufentbalts 
und  seiner  thätigkeit  an  der  römischen  curie  'der  einst  sorglose  und 
selbst  lascive  dichter  ein  mann  von  wahrer  und  tiefer  frömmig- 
keit'^"  geworden  war.  er  war  wohl  nicht  vor  1441  datarius  ge- 
worden und  1458  ist  er  gestorben,  in  diese  zeit  fällt  also  die  ab- 
fassung. da  in  der  schrift  durchweg  der  gereifte  mann  spricht,  so 
wird  sie  wohl  —  mit  rücksicht  auf  sein  geburtsjahr  1406  —  etwa 
um  1450  anzusetzen  sein. 

Vegio  hat  nicht  wie  Vergerio  auf  allen  gebieten  des  wissens 
Studien  gemacht;  er  steht  auch  nicht  so  frei  über  seinem  stoff  wie 
jener,  aber  durch  fleisziges  zusammentragen  von  belegen,  durch 
streben  nach  systematischer  Vollständigkeit  zeichnet  er  sich  aus. 
dabei  ist  er  kein  gedankenloser  compilator ,  sondern  er  zeigt  be- 
sonnenes urteil ;  auch  hat  er  nicht  lediglich  aus  büchern  geschöpft, 
sondern  er  verwertet  mehrfach  glücklich  die  erfahrungen,  die  er 
selbst  während  seiner  Schulzeit  gemacht  hat. 

Die  institutio  (und  zwar  I  6,  32 — 38)^"  citiert  er  nur  einmal 
II  c.  14  (s.  91)  ausdrücklich,  wenn  er  hinzufügt,  dasz  er  auf 
Quintilians  urteil  in  allen  fragen  groszes  gewicht  legt,. so  will  er 
damit  wohl  andeuten,  dasz  er  ihn  nicht  nur  an  dieser  einen  stelle, 
sondern  wo  immer  sich  gelegenheit  bot,  zu  rate  gezogen  hat.  er  be- 
wahrt aber  seine  Selbständigkeit  in  der  anordnung  des  stoflFes  und  in 
der  fassung  und  einkleidung  der  gedanken  in  worte,  er  bringt  ferner 
gern  eine  ganze  fülle  von  belegen  bei:  so  tritt  denn  bei  ihm  die  an- 
lehnung  nicht  so  ofifen  hervor  wie  etwa  bei  Corraro  und  Enea  Silvio. 

Die  folgende  Zusammenstellung  soll  ein  urteil  über  die  art 
seiner  benutzung  ermöglichen;  auch  soll  darin  zugleich  der  nach- 
weis  erbracht  werden,  dasz  er  auch  aus  der  schrift  rrepi  TraibuJV 
äYUUYfjc  und  aus  Vei-gerios  tractat^^®  geschöpft  hat. 

Der  Inhalt  des  werkes  gliedert  sich  übersichtlich  in  drei 
hauptteile: 


^*^  ich  benutze  die  ausgäbe:  Francisci  Philelphi  et  poetae  et  ora- 
toris  darissimi  de  educatione  liberorum  aurei  libri  sex.  Parisiis.  apud 
lohannem  Gonrmont  (auf  die  zeit  der  ausgäbe  weist  die  ihr  vorgedruckte,': 
Guilelrai  Houueti  Carnotensis  oratio  habita  in  exordio  operis  Philelphici 
de  educatione  1507  ad  kal.  Mains),  ich  habe  den  titel  ausführlich  an- 
gegeben, weil  diese  ausgäbe  unter  den  16  verschiedenen  editionen,  die 
Kopp  in  der  einleitung  seiner  Übersetzung  (bibliothek  der  katholischen 
Pädagogik  II  s.  11  f.)  zusammenstellt,  nicht  angeführt  ist.  ich  gebe 
nach  ihrer  capiteleinteilung  —  paginiert  ist  sie  nicht  —  die  citate;  die 
in  klammern  beigefügte  Seitenzahl  bezieht  sich  auf  die  Übersetzung 
Kopps. 

^«  Voigt  a.  a.  o.  II ^  .s.  41. 

^*~  das  Quintiliancitat  III  7,  25  bei  Kopp  s.  91  ist  unrichtig. 

^^*  der  hinweis  auf  diese  beiden  quellen  fehlt  in  der  Übersetzung 
Kopps,  die  im  übrigen  in  sehr  dankenswerter  weise  die  fundstätten  der 
einzelnen  citate  angibt. 


326  A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

I.  pflichten  der  eitern  in  bezug  auf  körperliche  pflege  und 

erziehung  der  kinder  (Is  buch). 
II.  Unterricht  der  kinder  (2s  buch)  und  der  reiferen  Jugend 

(3s  buch). 
III.  pflichten  der  kinder  (Sittenlehre  für  die  Jugend  4s  —  6s 
buch), 
in  den  drei  letzten  büchern  ist  —  was  bei  ihrem  rein  ethischen  in- 
halt  erklärlich  ist  —  eine  benutzung  Quintilians  nicht  bemerkbar. 

Buch  I. 

1)  bedeutung  des  beispiels  und  der  gewöhnung  für  die  er- 
ziehung c.  1  (s.  25—36).     Quint.  II  5,  15.  XII  2,  30.   Plut.  c.  20. 

[der  ausfall  gegen  die  eitern,  die  die  kinder  durch  ihre  schlechten 
Sitten  schädigen  (s.  30  f.),  scheint  sein  Forbild  zu  haben  in 
Qiiint.  I  2,  6—8.] 

2)  grundlegung  eines  gesunden  leibes-  und  Seelenlebens 
durch  ein  sittliches  und  rationelles  eheliches  leben 
c.  3—5  (s.  39-47). 

[pflichten  des  ehemanns  (s.  37).     Plut.  2.  3  (wo  auch  die  anecdote 

von  Diogenes  sich  findet). 
pflicht  der  mutter  die  kinder  selbst  zu  stillen  (s.  39 — 43).    Plut.  c.  5. 
verbot  des  weingenusses  für  kinder  (s.  45  f.).     Vergerio  fol.  7'.] 

3)  sittliche  erziehung  c.  6—9  (s.  47—52). 

[Verwerfung  der  turpes  aut  inanes  anilesque  fabellae  (s.  47).    Plut. 

c.  5. 
keine   abgeschmackten  kosenamen,   die  leicht  fürs  leben  bleiben 

(s.  47).     Vergerio  fol.  2«. 
bekämpfung  des  hangs  zum  leichtsinnigen  schwören  und  lügen 

(s.  49).     Vergerio  fol.  ob  7"». 
vorsieht    in    der    wähl    der    Spielkameraden.      Quint.   I   1,   7. 

Plut.  c.  6. 
Umgang  mit  älteren,  trefflichen  männern  (s.  52). 
(hinnähme   von   ermahnnng  zeichen  einer  guten  charakteranlage. 

Vergerio  fol.  7^  8».) 
Zuchtmittel    (anweudung    der   körperlichen    Züchtigung:    bei 

der  häuslichen  erziehung  s.  52 — 58;  in  der  schule  s.  77.    Vegius 

ist   zu   völliger   Verwerfung   derselben  geneigt,    wie  Quint.  I  3, 

13 — 17.  Plut.  c.  12.    nur  die  aussprüche  der  hl.  schrift  bestimmen 

ihn,  sie  in  ausnähme  fällen  zuzulassen  s.  56  u.). 
positive    ratscbUige    für  die   behandluug  der  kinder   s.  54.     Plut. 

c.  12. 
Verschiedenheit    der    ethischen    beanlagung    und    deren 

behandlung   c.  12   (s.  58  —  60).     Quint.   I  8,  1  —  7   (ohne   engen 

anschlusz). 
abmahnung    vor    allzu   groszer  milde   und   nachsieht  bei   der 

erziehung  c.  13  (s.  61—64).     Quint.  I  2,  6.  Plut.  c.  20.  Vergerio 

fol.  8".] 

Buch  II. 

1)  wert  der  bildung  c.  1  (s.  66—68).     Plut.  c.  8. 

2)  zeitiger  beginn  des  Unterrichts  c.  2  (s.  69). 

[nicht  nach  dem  7n  jähr.     Quint.  I  1,  15 — 19  will  ihn  sogar  noch 

früher  beginnen, 
der  vergleich  von  den  eindrücken  in  dem  jugendlichen  geist  mit 

dem  abdruck  des  siegeis  im  wachs.     Plut.  c.  5. 
nicht  sogleich  den  kindlichen  geist  mit  arbeit  überladen.     Quint. 

I   1,  20,] 


A.Messer:  Quintilian  als  didaktiker,  327 

3)  Unterricht   in  öffentlichen  schulen  c.  2  (s.  69).     Qnint.  I  2. 

4)  wähl  des  studienortes  c.  3  (s.   70  f.). 

[die  Vaterstadt  in  der  rege!  vorzuziehen,  doch  bei  gefahr  der  Ver- 
zärtelung durch  die  eitern  besser  eine  fremde  Stadt.  Vergerio 
fol.  8".] 

5)  not  wendigkeit  der  hofmeister  (paedagogi)  und  vorsieht  bei 
deren  auswalil  c.  3  (s.  71  f.).  Quint.  I  1,  8  (Leonidas,  lehrer 
Alexanders,  Veg-,  s.  71  u.).   Plut.   c.  7. 

6)  auswahl  der  iehrer  c.  4  (s.  73  f.).     Quint.  II  3.    Plut.  c.  7. 

[nicht  mittelmäszige  lehrer  für  die  elemente,     Quint.  I  1,  21 — 24.] 

7)  Verhältnis  zwischen  eitern  und  lehrer  c.  5  (s.  74 — 76). 
Plut.  c.  7. 

8)  Verhältnis  zwischen  lehrer  und  schul  er  c.  6  (s.  76—78). 

[väterliches  Verhältnis.     Quint.  II  2,  4. 

berücksichtigung    der   altersstufen    und    der    anlagen    bei    den    an- 

forderungen;  keine  überbürdung.     Quint.  I  1,  20.  I  2,  27.    Plut. 

c.   13.] 

9)  benutzung  des  ehr-  und  Schamgefühls  beim  Unterricht 
c.  7  (s.  78—80).     Quint.  I  2,  22—27.    Plut.  c.  12. 

[rangordnung  der  scliüler  c.  8  (s.  80-83).     Quint.  I  2,  23. 
das  richtige  masz  im  lob  e.   9  (s.  83  f.).     Plut.  c.  12. 
Übersicht  über  das  verhalten  des  lehrers  (s.  84).    Quint.  II  2,  5—8.] 
10)    der  Unterricht  c.   10. 

[die    drei   bedingungen   des   Unterrichts   natura,    disciplina, 
exercitatio  (s.  84  f.)  mit  ausdrücklichem  hinweis  auf  Plut.  c.  4. 
schriftliche  Übungen  c.   10  (s.  85  f.).     Quint.  I  9. 

auch  in  versen.     Quint.  X  6,  15  f. 
behandlung  der  correctur.     Quint.  II  4,   10 — 14. 
Übung    des    gedächtnisses    c.   11    (s.  86  f.).     Quint.   XI   c.  2. 
bes.  §  3  u.  4. 

die    empfehlung   der  disputierübungen ,    des  eignen  lehrens  und 
der  abendlichen  repetition.     Vergerio  fol.  18''  f. 
Verwerfung   des   unvorbereiteten   Sprechens    c.  12  (s.  87  f.). 

Plut.  c.  9. 
form  der  darstellung.     Quint.  I  5  u.  6.  VIII  1 — 3. 

consuetudo    und    ratio    (die    sich    in    analogia    und    etymologia 
zeigt)  als  zuverlässigste  führer  bei  der  Wortwahl.     Quint.  I  6. 
bes.  §  1.  3.  43  fif. 
Verschiedenheit   der  darstellung   bei   den   verschiedenen  materien 

c.  14  (s.  92  f.).     Quint.  II  4,  3—9.  20.    XII  c.   10. 
öffentliches    auftreten    der    knaben,    Übungen   im    ver- 
trag.    Quint.  I  2.  I  10. 
lectüre  c.   15  (s.  34—102). 

Verlegung    der    komikerlectüre     in     das    reifere    alter    (s.   95). 

Quint.  I  8.  7. 
beginn  mit  den   epikern   Homer   und  Vergil   (s.  97) J-*^     Quint. 
I  8,  5. 
abwechslung    im    Unterrichtsstoff    c.   16    (s.   103).      Quint. 
I  10—12.    Plut.  c.  10.] 


ä^^  wenn  er  bei  dieser  bevorzugung  der  epiker  auf  das  urteil 
'unserer  vorfahren'  verweist,  und  ebenso  wenn  er  (s.  96)  bemerkt: 
•■unsere  vorfahren  verlangten,  dasz  der  Unterricht  im  lateinischen  und 
griechischen  gleichzeitig  betrieben  werde',  so  meint  er  mit  den  'vor- 
fahren', der  damaligen  redeweise  entsprechend,  die  alten  Kömer.  beide 
bemerkungen  gehen  wohl  auf  Quintilian  zurück;  die  an  zweiter  stelle 
genannte  auf  I  1,  12 — 14. 


328 


A.Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 


Buch  III. 

1)  berufswahl  und  berü  cksichtigung  der  Individualität 
dabei  c.  1.  2  (s.  104—113).     Vergerio  fol.   16"  f. 

2)  weitere  unt err ich tsg^egenstände  c.  3 — 5  (s.  114 — 117). 

musik.     Quint.  I  c.  10. 

zeichnen.     Vergerio  fol.  14h  3r.o 

gymnastik.     Quint.  I  11,  15—19.    Plut.  c.  11.    Yergerio  fol.  22'>  S. 

3)  spiele    c.  6  (s.   117—119).     Quint.  I  3,  8—13.    Vergerio  fol.  24»»  ff. 

[Vegio  verwirft,  abweichend  von  Vergerio  (fol.  25^),  das  Schach- 
spiel (s.  118  f.)  und  den  Vogelfang,  wenigstens  den  von  raub- 
vögeln  (non  decet!  s.  118  f.).     Vergerio  fol.  24''.] 

4)  Studium  der  (inoral-)phi  losop  hie  c.  9  (s.  119  f.).  Quint.  X 
1,  35  f.  XII  c.  2  (in  anderem  Zusammenhang).  Plut.  c.  10.  Vergerio 
fol.   14^ 

5)  die  (nichtwissenschaftlichen)  lebensberufe  c.  8  (s.  120  f.). 

6)  beaufsichtigung  der  reiferen  Jugend  c.  9  (s.  121  — 126).  Plut. 
c.  16.  17. 

7)  erziehung  der  töchter  (s.  127—131). 

8)  gebet  für  die  kinder  (s.  131  f.). 

Eigentlich  nirgends  sind  ganze  stellen  aus  Quintilian  herüber- 
genommen,   dies  spricht  ebenso  für  Selbständigkeit  der  arbeit  Vegios 

350  da  Vergerio  von  Vegio  nirgends  genannt  wird,  so  mögen  hier 
stellen,  an  denen  sich  die  benutzung  nicht  nur  durch  den  gleichen 
inhalt,  sondern  noch  deutlicher  durch  die  form  zu  erkennen  gibt, 
folgen. 

Vergerio  fol.  M*»  designativa  Vegius  III  c.  3  quod  ad  figura- 
vero  nunc  in  usu  non  est  pro  liberali,  tivam  vero  pertinet,  non  multum 
nisi  quantum  forsitan  ad  scripturam  instamus,  quod  nee  multum  nunc 
attinet.  scribere  namque  et  ipsum  inter  liberales  artes  habeatur.  picto- 
est  protrahere  ac  designare,  quoad  res  enim  ea  magis  utuntur,  nisi 
reliqua  vero  penes  pictores  resedit.  forte  ad  formandos  literarum  cha- 
erat  autem  non  solum  utile,  sed  racteres  referatur,  cuius  peritia 
etiam  lionestum  quoque  huiusce-  cuique  etiam  literatissimo  non 
modi  negotium  apud  eos,  ut  Aristo-  pravae  cedit  dignitati  atque  orna- 
teles  inquit;  nam  in  emptionibus  mento.  quare  in  ea  erunt  pueri 
vasorum  tabularumque  acstatuarum,  exercendi,  quae  vero  pictorum  pro- 
quibus  Graecia  maxime  delectata  pria  est,  non  tarn  honesta  quam 
est,  succurrebat,  ne  facile  decipi  utilis  etiam  antiquis  esse  videba- 
pretio  possent  et  plurimum  con-  tur,  quod  ad  habendum  de  vasis  ac 
ferebat  ad  depreheudendam  reruni  tabulis  statuisque  emendis  iudicium 
quaenaturaconstantautartepulchri-  (quibus  plurime  illi  delectabantur) 
tudinem  ac  venustatem,  quibus  de  maximum  eins  artis  ne  a  venditori- 
rebns  pertinet  ad  magnos  viros  et  bus  deciperentur  adiumentum  prae- 
loqui  iiiter  se  et  indicare  posse.  stabat. 

Vergerio  fol.  4''  namque  si  P.  Vegius  I  c.  1  nam  si  P.  Scipio- 
Scipio  et  Qu.  Fabius,  quort  Omnibus  nem  et  Qu.  Fabium  accipimus  )(id 
fere  generosis  mentibus  usu  evenit,  quol  praestantissimo  etiam  cuique 
illustrium  virorura  contemplandis  contingit),  dum  magnorum  virorum 
imaginibus  excitari  se  magnopere  imaginibus  inspiciendis  animum  in- 
dicebant,  quae  res  lulium  quoque  tenderent,^quam  maxime  ad  virtutem 
Caesarem  visa  magni  Alexandri  excitari  inflammarique  solito.s  esse, 
imagine  ad  summam  rerum  accendit,  si  et  lulius  Caesar,  inspecta  Alexan- 
dri iraagine  plurimum  et  ipse  magna- 
rum  rerum  gloria  ineensus  est,  quod 
esse  poterit  efficacius  exemplura 
quam  viva  spiransque  vox  simul  et 
facies  parentum? 


quid  consentaneum  est  evenire,  quom 
ipsam  vivam  et'figiem  et  adhuc  Spi- 
rans  exemplum   intueri  (possimus)? 


I 


A.Messer:  Quintilian  als  didaktiker.  329 

wie  die  ganz  unabhängig  von  Quintilian,  Plutarch  und  Vergerio  er- 
folgte anordnung  des  stoflfes  (die  allerdings  bisweilen,  besonders  im 
3n  buch,  zu  wünschen  übrig  iHszt).  man  wird  wohl  vermuten  dürfen, 
dasz  Vegio  in  allen  punkten,  in  denen  der  Stoffes  zuliesz,  die  insti- 
tutio  um  rat  angegangen  hat  —  es  findet  sich  keine  stelle ,  an  der 
seine  ansieht  nicht  mit  der  Quintilians  im  einklang  stünde  —  aber 
seine  benutzung  ist,  entsprechend  der  gründlichkeit  seiner  arbeit 
und  der  heranziehung  auch  zahlreicher  andei'er  quellen,  eine  durchaus 
■würdige. 

Nicht  dasselbe  kann  über  die  des  Enea  Silvio-^'  gesagt  wer- 
den, es  mag  dies  mit  dem  charakter  seiner  abhandlung  zusammen- 
hängen: sie  ist  eine  gelegenheitsschrift.  auf  aufforderung  Kaspar 
Wendeis,  des  lehrersdes  damals  10jährigen  Ladislaus  (Postumus), 
hat  er  sie  zu  ostern  1450  dem  prinzen  dargebracht. ^^^  eine  Über- 
sicht über  den  inhalt  mag  auch  hier  für  die  aufzeigung  seiner  ab- 
bängigkeit  von  Quintilian  und  Plutarch  den  rahmen  abgeben,  die 
wörtlich  oder  fast  wörtlich  herübergenommenen  stellen  sind  durch 
ein  Sternchen  kenntlich  gemacht. 

I.  Einleitende  bemerkungen  s.  244 — 247. 

1)  die  drei  factoreu  der  bildung  natura,  disciplina  (ars),  exer- 
citatio  s.  244.     *Quint.  I  1,  1   f.   *Plut.  c.  4. 

2)  die    erzieh ung    musz    sieh    auf    den    körper   und    den    geist 
richten  s.  245. 

3)  die  erfordernisse  des  lehrers  s.  245—247. 

[die  anekdote  von  Leonidas,  dem  lehrer  Alexanders.     *Quint. 

I  1,  9. 
die   Warnung   vor  den   halbgebildeten  lehrern.     *Quint.  I  1,  8 

(in  bezug  auf  die  paedagogi). 

Phoenix  als  lehrer  des  Achill.     *Plut.  c.  7. 
die   folgenden   mahnungen   an   den   lehrer    s.  246.      *Quint.   II 

2,    5.353 

(von  z.  15  an  wieder  *Plut.  c.  7.) 
die    bemerkung  über  die  körperliche  Züchtigung  mit  ausdrück- 
lichem hinweis  auf  Quint.  I  3,   13 — 17.   Plut.  c.  12.] 


3^'  ich  benutze  eine  ausgäbe  mit  der  Überschrift:  incipit  tractatulus 
per  Eneam  Silvium  editus  ad  regem  Bohemie  Ladislaum.  s.  1.  et.  a. 
(Hain,  repertorium  bibliographicum  nr.  205).  daneben  citiere  ich  nach 
der  Übersetzung  von  Galliker  in  der  bibliothek  der  katholischen  päda- 
gogik  bd.  II  (Freibnrg  1889)  s.  223  fif..  der  Verfasser  bemerkt  selbst 
in  der  vorrede  (s.  240):  'die  zahllosen  incorrectheiten,  welche  dem  latei- 
nischen texte  anhaften,  haben  die  arbeit  sehr  erschwert  und  eine  voll- 
ständige correcte  eruierung  des  sinnes  bisweilen  sogar  verunmöglicht.' 
die  heranziehung  Quintilians  und  Plutarchs  hätte  diesem  Übelstande  ab- 
geholfen. 

3=2  vgl.  die  vorrede  Eneas  (s.  243  f.)  und   Voigt  a.  a.  o.  II ^  s.  315. 

35'  Enea,  der  selbst  kein  griechisch  verstand,  hat  die  abhandlung 
•rrepl  uaiötjuv  äyu^Yflc  in  der  Übersetzung  Guarinos  benutzt,  was  die  ver- 
gleichung  einiger  stellen  beweisen  mag  (Guarino  ist  nach  der  früher 
erwähnten  ausgäbe  citiert). 

Gu.  fol.  31*    qualis  Achillis  pae-        Aen.   fol.  4*   reete    etiam   Peleus 
dagogus  Phoenix  erat,  quem  idcirco    Achillis  curae  Phoenicem  praefecit, 
N.  jahrb.  f.  phil.  u.  päd.  U.  abt.  1897  hft.  7.  22 


330  A.  Messer :  Quintilian  als  didaktiker. 

II.  Die  pflege  und  ausbildung  des  körpers  s.  247 — 254. 

[die    bemerkung    über   die   xcipovo|aia  s.  248.     *Quint.  I  11,  17.^^'' 
notwendigkeit  der  erholung  s.  248  f.     *Plut,  c.  13.  ^^^^ 
die    ratschlage    über    die    bezähmung    der    körperlichen    gelüste 
s.  253  f.     Basilius  a.  a.  o.  fol.  52  M 

III.  Die  geistige  ausbildung  s.  254—298. 

1)  wert  der  geistigen  guter  s.  254 — 256.     Plut.  c.  8. 

2)  zeitiger  beginn  des  Unterrichts  s.  257  f.     'Quint.  I  1,15 — 20. '^^ 

3)  bedeutung  der  reinen  spräche  der  mütter  und  ammen  (s.  258). 
Quint.  I  1,  3  ff. 

4)  religiöse  Unterweisung,    die  lectüre  der  profanschriftsteller, 
auch  der  dichter,  musz  ihr  dienen  (s.  259).    Basilius  fol.  46''  f. 

5)  sorgfältige  auswahl  der  ges  ellschaft  des  knaben    (s.  261   f.). 
Quint.  I  1,  7.    Plut.  c.  6. 

(für  die  bemerkung  über  die  Schmeichler  vgl.   Plut.  c.  17.) 


Peleus,  utestapudHomerum,  Achillis    ut   ei   dicendi  pariter  atque  agendi 
curae  praefecisse  dicitur,  ut  ei  di-    ductor  foret  ac  magister. 
cendi  pariter  ac  faciendi  ductor  foret 
atque  magister. 

kurz  darauf  heiszt  es  im  griechischen  text  des  cap.  7:  6i&aCKCtXouc  Y^P 
ZriTriT^ov  ToTc  t^kvoic,  oi  Kai  toIc  ßioic  elclv  äöidßXTiToi  koI  toTc  rpöiroic 
dveniXriTCTOi  koI  raic  ^inTreipiaic  öpicToi.  Guarino  übersetzt  (fol.  31«): 
inquirendi  filiis  praeceptores ,  quorum  vita  nullis  obnoxia  criminibus, 
irreprehensi  mores  et  optimum  experimentura.  er  hat  offenbar  die  worte 
Koi  ToTc  ^liireipiaic  äpicxoi  nicht  verstanden;  vielleicht  war  der  text 
seiner  vorläge  hier  corrupt.  Enea  versucht  nun  der  stelle  durch  einen 
znsatz  aufzuhelfen,  er  schreibt  (fol.  4°):  oportet  autem  praeceptorum 
vitam  nullis  obnoxiam  esse  criminibus,  irreprehensos  mores,  Optimum 
experimentum,  ut  nee  habeant  vitia,  quae  vetant. 

^•°"'  Enea  bat  hier  seine  vorläge  nicht  verstanden: 

Quint.  I  11,  17  et  certe,  quod  Aen.  fol.  5''  servandus  est  igitur 
facere  oporteat  non  indignandum  in  motu  omnique  statu  decorum. 
est  discere,  cum  praesertim  haec  in  qua  re  tarn  curiosi  Graeci  fuerunt, 
chironomia,  quae  est,  ut  nomine  ut  gestus  legem  perscripserun t 
ipso  declaratur,  lex  gestus  et  ab  (sie!)  quam  Cironomia  (sie!)  voca- 
illis  temporibus  heroicis  orta  sit,  et  verunt ;  eam  Socrates  probavit, 
a  sumniis  Graeciae  viris  et  ab  ipso  Plato  in  parte  civilium  actionum 
etiam  Socrate,  a  Piatone  quoque  in  posuit,  Crisippus  in  praeceptis  de 
parte  civilium  posita  virtutum  et  a  educatione  liberorum  omisit. 
Chrysippo  in  praeceptis  de  liberorum 
educatione  compositis  non  omissa. 

355  Plut.  c.  13  in  der  Übersetzung  Aen.  fol.  6^  Plantae  namque  cum 
Guarinos  fol.  36^:  Plantae  enim  cum  raodicis  aluntur  aquis,  multis  suf- 
modicis  aluntur  aquis,  multis  suf-  focantur.  nosse  oportet  vitam 
focantur.  reminisei  enim  oportet  nostram  in  duas  partes  esse  divi- 
nostram  omnem  vitam  in  remissio-  sam,  in  Studium  ac  remissionem. 
nem  ac  sturiinm  esse  divisam.  quo-  sie  vigiliae  somnus,  pa.x  bellum, 
circa  non  vigiliara  modo,  verum  aestas  hiems,  operosi  festique  dies, 
etiam  somnum  esse  repertum,  non  laboris  condimentum  est  otiura; 
bellum  solum,  sed  etiam  pacem,  non  bestes  enim  disciplinarum ,  ut  a 
hiemem,  sed  et  tranquillitatem,  non  Piatone  dictum  est,  labores  atque 
operosos,  sed  festos  etiam  dies,  et  somni. 
ut  generatim  loquar,  laboris  con- 
dimentum est  otium. 

356   an  der  stelle  (s.  257)  ist,    wie  Quintilian  zeigt,    im  texte  Eneas 
statt  Theodosio  Hesiodo  zu  lesen. 


A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker,  331 

6)   die  sprachliche  aushildung  (s.  262 — 292). 

a.  spräche,   das   den   menschen   vom   tier  unterscheidende  merk- 
mal  (s.  262).     Quint.  II  16,  12. 

b.  gegen  das  voreilige  reden  aus  dem  Stegreif  (s.  263).    Plut.  c.  9. 

c.  einige  regeln  über  die  ausspräche  (s.  264).     *Quint.  I  11,  1.  8. 
I  1,  37. 

d.  Verwendung  des  ehrgeizes  als  sporn  (s.  264).     *  Quint.  II  2,  22. 
I  3,  7. 

e.  Vermeidung  unehrbarer  reden  (s.  264  f.).     Plut.   c.   14. 

f.  gegen  das  hartnäckige  disputieren  (s.  265).     Plut.  c.  14  i.  f. 

g.  die  ausbildung  des  gedächtnisses  (s.  265  f.). 

dessen  dreifache  fähigkeit.     *  Quint.  I  3,   1. 
auswendiglernen  von  aussprüchen.     Quint.  I  1,  36. 
h.  grammatik. 

a.  einleitende  bemerkungen. 

nur  das  überflüssige  in  der  grammatik  schadet.     *  Quint, 

I  7,  30. 
Caesar  schreibt  über  analogie.     Quint.  I  7,   34, 
die  Schreibung  calidus  statt   caldus.     *  Quint.  I,  6,  19. 
die  grammatik  das  fundaraent.     *  Quint.  I  4,  5. 
ß.  die  drei  hauptteile  der  grammatik  (s.  267).     *  Quint.  I  4,  1. 
die  nun   folgenden  einzelheiten  aus  dem  ersten  haupt- 
teil   der    grammatik,    der   recte   loquendi    scientia, 
die   in    der   Übersetzung    10   Seiten    (s.  267—276)  füllen, 
sind    mit   ganz    unbedeutenden    abänderungen   und    Zu- 
sätzen aus  Quintilian  zusammengeschrieben.^^' 
bezüglich  des  zweiten  hauptteils  der  grammatik, 
der  lectüre  (s.  277—286),  wird  bemerkt: 
sie   musz    sich    auf   dichter,   historiker   und    redner  er- 
strecken (s.  277).     *  Quint.  I  4,  4. 
sie    soll    mit   Homer^^^    und    Vergil    beginnen    (s.  277), 
*  Quint.   I  8,  5. 
in    dem    nun    folgenden    excurs    über    die    dichterleetüre 
(s.  277—284)  ist  mehrfach  (s.  281  f.)  Basilius  (fol.  46  b. 
47  ä)  benutzt, 
in  der  besprechung  des  dritten  hauptteils  der  gram- 
matik, der  ratio  scribendi  (s.  286 — 292),  sind  nur  einige 
einzelheiten  aus  Quintilian  entnommen: 
ethisch  wertvoller  stoff  für  die  Schreibübungen  (s.  287), 

*Quint.  I   1,  34  f. 
über    die    Schreibung    von    optimus    (s.    288).      *  Quint. 
I  7,  7  (von  Enea  misverstanden). 


ä"  die  belege  für  dieses  umfangreiche  plagiat  mögen  hier,  nach 
den  Seiten  der  Übersetzung  geordnet,  folgen:  zu  s.  267  Q.  I  5,  3.  57. 
58.  60;  zu  s.  268  Q.  I  5,  61.  68.  71.  70.  VIII  6,  4.  5.  6;  zu  s.  269 
Q.  VIII  6,  7.  14.  15.  I  5,  71.  72.  VIII  3.  34;  zu  s.  270  Q.  VIII  3,  37.  35. 
I  5,  3.  4,  I  4,  11.  I  6,  10,  11;  zu  s.  271  Q.  I  6,  5.  I  5,  46,  51.  I  5,  8. 
9.  12.  15.  18;  zu  s.  272  Q.  I  5,  34.  35.  36.  46,  50.  I  6,  1 ;  zu  s,  273 
Q.  I  6,  17.  3.  4.  8.  28.  32.  34;  zu  s.  274  Q.  I  6,  37.  32.  30.  1.  39.  40; 
zu  s.  275  Q.  I  6,  2.  42.  41.  3.  43;  zu  s.  276  Macrobius  I  15,  17.  Q.  I 
6,  43.  44.  45. 

^^8  es  macht  fast  den  eindruck,  als  habe  er  den  rat  Quintilians, 
mit  Homer  und  Vergil  zu  beginnen,  einfach  herübergenommen  und  dann 
sei  ihm  erst  eingefallen,  dasz  es  ja  dafür  dem  prinzen  gänzlich  an 
einem  lehrer  des  griechischen  fehle,  übrigens  rät  Vegius  ebenfalls  mit 
Homer  und  Vergil  zu  beginnen,  während  er  sich  sonst  über  das  grie- 
chische ganz  ausschweigt:  also  handelt  es  sich  bei  ihm  doch  offenbar 
auch  um  einfache  herübernahme  der  stelle  aus  Quintilian. 


332  A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

über  cum  und  quum  (s.  270).     *Quint,  I  7,  5. 

über  Gaius  und  Caius   (s.  270).     *Quint.  I  7,  28  (mis- 

verstanden). 
über  den  buchstaben  k  (s.  290).     *Quint.  I  7,  10. 

7)  rhetorik  s.  292  f. 

als  lehrer  derselben  wird  neben  Cicero  und  Aristoteles  Quin- 
tilian  genannt, 

8)  dialektik  s.  292. 

die  Vermeidung  unnützer  Spitzfindigkeiten. 

anekdote  von  Alexander  s.  293.     *Quint.  II  20,  3. 

9)  musik  s.  293  f. 

die  anekdote  von  Themistokles  (s.  194).  Quint.  I  10,  19. 
die  stelle  über  Jopas^^s  (Verg.  I  746).  *Quint.  I  10,  10. 
die  bemerkung  über  die  Pythagoreer.     Quint.  IX  4,  12. 

10)  geometrie     und     arithmetik     s.    294   f.       *Quint.   I   10,    34. 
48,  39—44. 

11)  astronomie  s.  295—297.     *Quint.  I  10,  47.  48.  I  4,  4.  I  12,  1. 
2.  4.  5.  7.  9. 

(die  anderthalb  selten  sind  ganz  aus  der  institutio  entnommen.) 

12)  Philosophie  s.  297  f. 

der  name  'philosoph'.     Quint.  XII  1,  19. 

die  drei  teile  der  philosophie.     Quint.  XII  2,  8.  10. 

Die  Übersicht  spricht  für  sich  selbst:  sie  zeigt  unwiderleglich, 
dasz  die  abhandlung  Eneas  vermutlich  mit  einer  gewissen  eilfertig- 
keit  —  man  denke  an  die  falsche  auffassung  von  Quintilianstellen 
und  an  die  bemerkung  über  das  griechische  —  hauptsächlich  aus 
Quintilian,  Plutarch  und  Basilius  zusammengeschrieben  ist.  am 
peinlichsten  tritt  dies  hervor  in  dem  abschnitt  über  die  grammatik, 
der  doch  wohl  nur  eingelegt  ist,  um  mit  gelehrsamkeit  zu  prunken. 
Enea  mochte  ein  solches  verfahren,  welches  bekanntlich  die  an- 
sehauungen  seiner  zeit  weniger  hart  beurteilten ,  den  nordischen 
barbaren  gegenüber,  für  die  ja  die  schrift  zunächst  bestimmt  war, 
als  ganz  unverfänglich  ansehen. 

In  einem  wohlthuenden  gegensatz  zu  der  schrift  Eneas  steht 
durch  ihre  gründlichkeit  die  abhandlung  Guarinos  de  modo  et 
ordine  docendi  ac  dicendi^""  (um  1458  geschrieben^^'),  wir 
haben  darin  theoretische  anweisungen ,  die  aber  durchaus  auf  dem 
nährenden  und  haltgebenden  boden  der  praxis  erwachsen  sind;  denn 
Baptisto  Guarino ,  der  liebling  und  nachfolger  seines  berühmteren 

'59  zur  ehrenrettung  Eneas  sei  bemerkt,  dasz  nicht  er  aus  dem 
Jopas  einen  'schüler  Virgils'  macht,  wie  es  in  der  oben  erwähnten 
Übersetzung  heiszt.  der  lateinische  text  bietet  wie  auch  Quintilian: 
ille  Vergilianus. 

3«"  ich  benutze  eine  ausgäbe  mit  dem  titel:  Baptista  Guarinus 
de  modo  et  ordine  docendi  et  disceiidi.  am  Schlüsse  heiszt  es:  finit 
modus  .  .  .  impressus  Heydelberge  per  Henricum  Knoblochtzcr  impressorie 
artis  magistrum  anno  salntis  nostre  Millesimo  quadringent  esim  o 
octogesimo  nono.  sie  umfaszt  11  blätter  in  8"  (Hain  nr.  8131).  aus 
der  angäbe  des  druckjahres  ergibt  sich,  dasz  die  angäbe  Röslers  (a.  a.  o. 
s.  142  a.  4),  Beatns  habe  die  schrift  zu  Straszburg  1514  zuerst  im 
drucke  herausgegeben,  unrichtig  ist. 

3ß'  Voigt  a.  a.  0.  P  s.  551  a.  3. 


A.  Messer:  Quintiliau  als  didaktiker.  333 

Vaters,  gibt  hier,  wie  er  im  widmungsbrief  betont  (fol.  2*  f.),  nur 
solche  Vorschriften,  die  in  der  schule  seines  vaters  zu  Ferrara  in 
langer  anwendung  sich  erprobt  haben,  so  konnte  denn  auch  der 
alte  Guarino  in  dem  der  abhandlung  vorgedruckten  briefe  mit  recht 
darüber  sagen:  iuvenilis  fertilitas  cum  senili  maturitate  contendit. 

Die  Schrift  zerfällt,  abgesehen  von  einer  kurzen  einleitung,  in 
drei  teile:  der  erste  bespricht  das  Verhältnis  zwischen  lehrer  und 
Schüler  (fol.  2** — S**),  der  zweite  beschreibt  den  gang  des  Unter- 
richts (fol.  3'' — 8^),  der  dritte  gibt  anleitung  zum  selbständigen 
weiterarbeiten  (fol.  S'' — 11^).  bei  dem  Charakter  der  schrift,  die 
nicht  aus  einigen  büchern  zusammengeschrieben  ist,  sondern  mehr 
einen  bericht  über  bestehende  einrichtungen  darstellt,  ist  es  begreif- 
lich, dasz  der  einflusz  Quintilians  weniger  hervortritt;  er  zeigt  sich 
aber  gleichwohl,  besonders  im  ersten  teil,  das  Verhältnis  zwischen 
lehrer  und  schüler  ist  ganz  so  gefaszt,  wie  es  Quintilian  als  wünschens- 
wert bezeichnet,  die  schüler  sollen  sich  gelehrig  zeigen  ^^^  und  den 
lehrer  wie  einen  vater  achten  und  lieben  (fol.  2^  i.  Quint.  II  9. 
II  2,  4  —  8).  man  möge  sich  nicht  für  den  anfangsunterricht  mit 
schlechten  lehrern  begnügen  (fol.  3^),  eine  mahnung,  die  wie  bei 
Quintilian  (II  3,  1 — 3)  durch  die  anekdote  von  dem  musiker  Timo- 
theus  illustriert  wird,  die  schüler  sollen  nicht  (propter  literarum 
disciplinam!)  geschlagen  werden,  wofür  dieselben  gründe,  wie  sie 
Quintilian  (I  3,  13  — 17)  und  Plutarch  (c.  12)  geben  —  wenn  auch 
nicht  alle  —  angeführt  werden.  ^'^^  die  etwas  älteren  schüler  musz 
der  lehrer  durch  ehrgeiz  und  Wetteifer  anzuregen  versuchen  (fol.  3  **), 
wozu  auch  Quintilian  (I  2,26)  rät.  bei  dem  Unterricht  in  den  ersten 
elementen  soll  die  schülerzahl  nur  klein  sein,  bei  dem  höheren  Unter- 
richt ist  eine  gröszere  zahl  eher  von  nutzen,  nam  quo  maior  erit 
turba  eo  diligentius  praeceptor  ipse  legere  conabitur.  bei  Quintilian 
heiszt  es  (I  2,  9) :  nam  optimus  quisque  praeceptor  frequentia  gaudet 
ac  maiore  se  theatro  dignum  putat  (ähnlich  I  2,  29.  31).  die  vorher- 
gehende bemerkung  ergab  sich  wohl  aus  der  praxis  des  älteren 
Guarino,  der  für  den  ersten  elementarunterricht  unterlehrer  heran- 
zog, bei  Quintilian  ist  sie  überflüssig,  da  er  voraussetzt,  dasz  die 
ersten  elemente  durch  die  paedagogi  beigebracht  werden  (I  1). 

Seltener  sind  die  anlehnungen  an  Quintilian  im  zweiten  teil, 

3^2  als  motiv  dafür  wird  dargeleg^t,  dasz  kein  besitz  honestins  sei 
als  die  doctrina  —  unverkennbar  in  anlehnung'  an  Plutarch  Ttepl  iraibuiv 
ÖYUJT'nc  c.  8.  die  bemerkung  über  den  einflusz  von  reichtum  und  armut 
auf  die  Studien  scheint  auf  Vergerio  bezug  zu  nehmen,  auf  dessen  be- 
nutzung  auch  noch  andere  stellen  hindeuten,  bei  Vergerio  heiszt  es 
(fol.  10^):  magis  profusa  rerum  copia  quam  summa  inopia  bonis  in- 
geniis  nocere  consuevit;  tametsi  per  extremas  difficultates  generosa 
natura  solet  in  altum  emergere,  bei  Guarino  (fol.  ä**)  in  extrema  inopia 
positum  haud  facile  est  emergere. 

^^^  dazu  wird  noch  ein  neuer,  so  recht  mitten  aus  der  praxis  ge- 
schöpfter, gefügt:  adde  quod  raetu  verberum  declamationes  eis  pro- 
positas  non  ingenio  proprio,  sed  ab  aliis  occulte  compositas  afFerunt, 
quod  capitale  et  perniciosura  est. 


334  A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

der  den  gang  des  Unterrichts  schildert,  aber  sie  finden  sich  auch 
hier,  gleich  die  forderung,  dasz  ein  gründlicher  Unterricht  in  der 
grammatik  das  fundament  bilden  müsse ,  und  dasz  vor  allem  die 
fiexionslehre  sicher  einzuprägen  sei,  wird  fast  in  denselben  worten 
ausgesprochen  wie  bei  Quintilian. ^^*  der  grammatische  Unterricht 
wird  in  zwei  bestandteile,  die  recte  loquendi  scientia  und  die  poeta- 
rum  enarratio ,  welche  auch  als  methodice  und  historice  bezeichnet 
werden  (fol.  4^*),  genau  so,  wie  es  in  der  institutio  (I  9,  1)  heiszt: 
et  finitae  quidem  sunt  partes  duae,  quas  haec  professio  pollicetur, 
id  est  ratio  loquendi  et  enarratio  auctorum,  quarum  illam  metho- 
dicen ,  hanc  historicen  vocant.  —  Dasz  er  Quintilian  mit  selbstän- 
digem urteil  benutzt,  zeigen  seine  bemerkungen  über  den  griechi- 
schen Unterricht  (fol.  5''  f.).'^^  mehrei-e  gründe  werden  für  denselben 
angeführt,  einer  derselben  wird  ausdrücklich  aus  Quintilian  (I  1, 12) 
entlehnt:  er  lautet:  simul  quia  disciplinis  quoque  Graecis  prius  in- 
stituendus  est,  unde  et  nostrae  fluxerunt.  wenn  aber  Quintilian 
(I  1,  12)  rate  mit  dem  griechischen  zu  beginnen,  so  habe  er  dies  — 
wie  Guarino  treffend  bemerkt  —  doch  wohl  nur  deshalb  gethan, 
quod  suis  temporibus  latinam  linguam  omnes  haberent,  nee  in  ea 
tanta  elaboratione  opus  esset  (fol.  6*).  auch  darin  zeigt  sich  seine 
auf  praktische  erfahrung  gegründete  Selbständigkeit,  dasz  er  den  an- 
fang  der  lectüi-e  nicht  mit  Homer  (so  Quintilian  I  8,  5),  sondern  mit 
leichteren  prosaikern  zu  machen  rät  (fol.  6^).  —  Bei  der  erörterung 
der  für  die  lectüre  in  betracht  kommenden  autoren  beruft  er  sich 
nur  bezüglich  Lucans  aul  Quintilians  urteil  (X  1,  90):  eum  oratori- 
bus  magis,  quam  poetis  imitandum  esse  (fol.  7^);  das  Studium  der 
institutio  aelbst  empfiehlt  er  dringend  (fol.  8^). 

In  dem  dritten  teil,  der  anluitung  zum  selbständigen  weiter- 
arbeiten ,  findet  sich  (fol.  9 '')  die  schon  in  anderem  Zusammenhang 
erwähnte  stelle:  nam,  ut.  aitQuintilianus,  optimum  proficiendi  genus 
esse  docere,  quae  didiceris.  dieselbe  steht,  wie  schon  bemerkt,  nicht 
in  der  institutio,  wohl  aber  wörtlich  bei  Vergerio  (fol.  19"),  woraus 
folgen  dürfte,  dasz  er  diesen  gekannt  und  benutzt  hat.  wie  Vergerio 
(fol.  18^  ff.),  so  mahnt  auch  Guarino  (fol.  10'')  zur  Ordnung  beim 
studieren,  zu  sorgfältiger  Zeiteinteilung  und  zu  regelmäsziger  abend- 
licher repetition  des  am  tage  gelesenen,  in  den  schluszworten  end- 
lich verwertet  er  einen  gedanken  Quintilians  (I  1,  1),  wenn  er  aus- 
führt, der  Wissensdurst  und  die  bethätigung  in  der  Wissenschaft  sei 


36*  bei  Guarino  heiszt  es,  die  Schüler  müsten  vor  allem  gründlich 
lernen  nomina  et  verba  declinare,  sine  qulbus  nullo  modo  pervenire  ad 
intellectum  sequentium  possuut  (fol.  4^).  Quintilian  {l  4,  22):  nomina 
declinare  et  verba  inprimis  pueri  sciant,  neque  enim  aliter  pervenire 
ad  intellectum  sequentium  possunt. 

^^•^  Guarino  ist,  beiläufig  bemerkt,  der  erste,  der  dem  griechischen 
eine  eingehende  erörterung-  widmet;  bei  Corraro  und  Enea  ist  es  nur 
gestreift,  bei  den  andern  mit  stillschweigen  übergangen  —  auch  ein 
beweis  dafür,  wie  verhältnismäszig  spät  dieses  fach  im  schulbetrieb 
sich  eine  sichere  Stellung  eroberte. 


A.Messer:  Quintiliau  als  didaktiker.  33& 

dem  menschen  so  natürlich,  wie  dem  vogel  das  fliegen,  dem  pferde 
das  laufen;  daher  denn  der  name  humanitatis  studia  wohl  be- 
gründet sei. 

In  diesen  letzten  werten  ist  denn  auch  leise  angedeutet,  was 
Ouarino  als  die  eigentlich  erstrebenswerte  daseinserfüllung  ansieht : 
■das  stille,  von  der  weit  abgekehrte  gelehrtenleben.'^*  es  ist  also 
wohl  auch  nicht  ganz  zufällig,  wenn  Guarino  in  seiner  schrift  ledig- 
lich den  eigentlichen  Unterrichtsbetrieb  ins  äuge  gefaszt  hat. 
•ofiFenbar  interessierte  ihn  dieser  mehr  als  die  körperliche  ausbildung 
und  die  erziehung.  damit  steht  ganz  im  einklang,  dasz  wir  auch  in 
der  schule  seines  vaters  ein  überwiegen  des  philosophischen 
«lements  wahrnehmen.^" 

Wenn  wir  für  unsere  schrift  ein  gegenstück  suchen,  so  bietet 
sich  nicht  sowohl  die  abhandlung  Vergerios  —  obwohl  diese  wahr- 
scheinlich benutzt  ist  —  sondern  die  Lionardo  Brunis,  in  welchem 
zusammenhange  darauf  hingewiesen  werden  mag,  dasz  der  ältere 
Guarino  zu  jenem  in  naher  beziehung  gestanden  hat.'®^  —  Was  uns 
aber  hier  besonders  interessiert:  dieses  dem  Guarino  vorschwebende 
bildungsziel  harmoniert  nicht  mit  dem  Quintilians;  immer  wieder 
eifert  dieser  gegen  ein  von  dem  leben  abgekehrtes  schulgetriebe, 
immer  wieder  weist  er  auf  die  praktische  bethätigung  als  das  eigent- 
liche ziel  hin.  in  dieser  beziehung  zeigt  sich  kein  einflusz  Quintilians 
auf  die  schrift  des  Jüngern  Guarino,  ebensowenig  wie  auf  die  schule 
des  älteren.'«^ 

Filelfos  kleine  abhandlung  über  die  erziehung""  (1475)  ent- 
hält trotz  ihrer  kürze  fast  alle  bezeichnenden  züge  humanistischer 

ä^6  an  andern  stellen  tritt  dies  noch  deutlicher  hervor,  so  mahnt  er 
(fol.  11^)  die  Jünglinge:  nihil  hoc  litterato  otio  dulcius  esse  arbitrentur. 

3"  Rösler  a.  a.  o.  s.  161  f. 

3^^  es  soll  übrigens  nicht  verschwiegen  werden,  was  Voigt  (P  s.  308) 
über  Bruni  bemerkt:  ''überliaupt  widerstrebte  seine  männliche  natur 
dem  gedanken,  als  liege  das  letzte  ziel  des  menschen-  oder  auch  nur 
des  gelehrtenlebens  in  der  arbeit  des  Studierzimmers  und  der  medi- 
tation,  in  der  einsamkeit  und  musze,  deren  lobpreisung  zu  seinem  ärger 
«eit  Petrarca  mode  und  selbst  von  Salutato  nicht  ganz  abgestreift  wor- 
den war  .  .  .  schwerlich  hätte  ein  anderer  der  humanisten  es  über  sich 
gebracht,  den  feldherrn  über  den  philosophen  zu  stellen.'  in  seiner 
schrift  tritt  dieser  zug  entschieden  nicht  hervor;  allerdings  ist  sie  an 
eine  frau  gerichtet,  aber  doch  auch  dieser  war  nicht  jedes  fehl  prakti- 
scher bethätigung  verschlossen:  man  denke  an  christliche  charitas. 

^^"^  übrigens  sind  uns  auch  von  dem  älteren  Guarino  ein  paar  kurze 
Studienregeln  erhalten,  die  er  von  Chrysoloras  empfangen  haben  will 
und  die  er  in  einem  brief  an  seinen  zögling  Lionello  mitteilt.  sie 
stehen  in  deutscher  Übersetzung  bei  Kösler  a.  a.  o.  s.  138.  eine  ver- 
gleichung  zeigt,  dasz  sie  Guarino  der  söhn  fast  alle  in  seine  schrift 
aufgenommen  hat. 

^'0  es  ist  eigentlich  ein  brief  an  Mathias  Trivianus,  den  erzieher 
des  damals  sechsjährigen  prinzen  Giangaleazzo  Sforza,  er  ist  abge- 
druckt bei_  Rosmini  (vita  di  Francesco  Filelfo,  Milano  1808,  I.  II) 
II  s.  463 — 78,   wonach  ich  eitlere. 


336  A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

Pädagogik,  wie  denn  auch  ihr  Verfasser  eine  der  charakteristischsten 
gestalten  des  humanismus  ist.  in  trefflicher  weise  hat  dies  Voigt 
durch  seine  humorvolle  Schilderung  Filelfos  gezeigt.  —  Auch  unter 
den  hecatostichen  Filelfos  (satirarum  hecatostichon  decades  decem, 
Mailand  1476)  findet  sich  eine  (die  erste  des  6n  buches)  de  modo 
et  ordine  totius  vitae.  Wimpheling  hat  sie  in  den  lesestoff  seiner 
adolescentia  aufgenommen,  sie  enthält  nur  anweisungen  über  die 
sittliche  lebensführung  und  die  körperliche  ausbildung,  bietet  dem- 
nach keine  gelegenheit  zur  anlehnung  an  Quintilian."'  dagegen 
zeigt  eine  solche  die  an  erster  stelle  genannte  schrift.  die  forde- 
rung,  dasz  der  erzieher  die  geistige  und  sittliche  Veranlagung  seines 
Zöglings  zu  erkennen  suche  (s.  465) ,  dasz  er  durch  sein  beispiel 
wirke,  dasz  man  auf  die  früheren  eindrücke,  weil  sie  am  festesten 
hafteten,  besonders  sorgsam  achten  müsse,  ist  uns  aus  Quintilian  wohl 
bekannt."^  ebenso  wird  mit  Quintilian  (I  2,  22)  die  aemulatio  mit 
altersgenossen  als  ein  wünschenswerter  sporn  für  die  Studien  be- 
zeichnet, vor  allzu  groszer  strenge  aber  gewarnt  (s.  467),  ferner  das 
spielende  lesenlernen  mit  hilfe  elfenbeinerner  buchstaben  empfohlen 
(s.  467  vgl.  Quint,  I  1,  26).  in  den  weiteren  ausführungen,  welche 
die  körperliche  bildung  und  den  höheren  wissenschaftlichen  Unter- 
richt betreffen,  ist  eine  einwirkung  Quintilians  nicht  bemerkbar. 


^'''  ein  anderes  ziemlich  umfangreiches  werk  Filelfos  wird  von  ihm 
selbst  wiederholt  als  'sehr  nützlich  für  die  Jugend'  bezeichnet,  es  sind 
das  seine  in  den  letzten  lebensjahren  abgefaszten  fünf  bücher  de  morali 
philosophia,  vor  deren  Vollendung  er  gestorben  ist  (am  31  juli  1481). 
das  werk  enthält  aber  keine  erziehungslehre ,  sondern  eine  erörterung 
der  ethischen  grundbegriflfe,  wobei  eine  kritik  der  ansichten  der  antiken 
moralphilosophio  gegeben  wird,  das  werk  wurde  ediert  von  Franciscus 
Kobortellus,  Mailand  1552.  infolge  irriger  identificierung  mit  dem  werke 
Vegios,  das  ja,  wie  erwähnt,  vielfach  unter  dem  namen  Filelfos  gieng, 
ist  es  in  der  neueren  litteratur  meist  übersehen  worden,  so  auch  bei 
Voigt  a.  a.  o.  I^  s.  365.  ich  habe  darauf  aufmerksam  gemacht  im  archiv 
für  geschichte  der  philosophie  jalirg.   1896,  heft  3. 

37*  dasz  er  sie  auch  thatsächlich  aus  Quintilian  herübernimmt,  darauf 
deutet  der  gebrauch  derselben  beispiele:  Aristoteles  und  Leonidas  als 
erzieher  Alexanders  (Quint.  I  1,  23.  9). 

(fortsetzung  folgt.) 
GiESzEN.  August  Messer. 


E.  Plaumann:  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich.      337 

(17.) 

DER  MYTHOS  VON  ADMET  UND  ALKESTIS  UND  DIE  SAGE 
VOM  ARMEN  HEINRICH. 

(fortsetzung  und  sclilusz.) 


Wie  ich  über  die  ähnlichkeit  zwischen  Alkestis  und  dem  armen 
Heinrich  denke,  geht  aus  den  von  mir  gegebenen  Charakteristiken 
und  der  nun  folgenden  eingehenden  parallele  hervor,  denn 
es  lassen  sich  jener  griechische  mytbos  und  diese  deutsche  sage  in 
verschiedenen  punkten  in  parallele  stellen. 

In  Admet  sehen  wir  einen  mann,  der  sich  der  gunst  der  götter 
überhaupt,  besonders  aber  des  Apollo  und  Heracles  erfreuen  darf, 
von  ihnen  geschätzt  wird  und  mit  glücksgütern  aller  art  gesegnet  ist. 

Auch  Heinrich  bei  Hartmann  ist  durch  gottes  gnade  ausgestattet 
mit  allen  irdischen  gütern  und  hohen  weltlichen  tugenden  und  er- 
scheint so  als  ein  echter  weltlicher  ritter  nach  dem  ideal,  wie  es  dem 
dichter  vorschwebte.  —  In  seinem  glücke  versäumt  es  Admet,  einer 
bedeutungsvollen  gottheit  ein  ihr  gebührendes  opfer  darzubringen. 
denn  diese  gottheit  ist  Artemis,  die  schwester  Apollos,  der  zu  Admet 
in  einem  recht  nahen,  man  möchte  sagen,  intimen  Verhältnis  steht; 
und  es  soll  doch  wohl  dadurch  das  vergehen  des  Admet  als  besonders 
schwerwiegend  erscheinen.  Euripides  thut  dieser  misachtung  gött- 
licher ansprüche  und  der  Versäumnis  des  Admet  nicht  besonders 
erwähnung,  da  aber  ein  grund  für  Admets  strafe ,  zumal  im  drama, 
verlangt  wird,  so  müssen  wir  doch  wohl  den  bekannten  annehmen. 

Heinrich  hat  seinen  sinn  ebenfalls  nur  aufs  irdische  gerichtet; 
denn  er  denkt  nicht  daran,  dasz  schlieszlicb  sein  reicbtum  und  sein 
glück  nicht  sein  verdienst  seien ,  sondern  dasz  er  es  einem  höheren 
zu  verdanken  hat,  dem  es  zu  danken  er  jedoch  versäumt,  es  fehlt 
diesem  ideal  des  ritters  also  die  religiöse  seite  des  rittertums. 

Die  strafe  bleibt  in  beiden  fällen  nicht  aus:  Artemis  rächt  sich 
dadurch,  dasz  sie  dem  Admet  ein  Schlangenknäuel  in  das  braut- 
gemach sendet,  um  so  seinen  tod  herbeizuführen,  nach  einer  Variante 
der  sage  —  und  dieser  folgt  Euripides  —  haben  die  götter  in  ihrer 
gesamtheit  die  räche  für  Admets  Verletzung  göttlicher  ansprüche 
übernommen  und  haben  ihm  den  vorzeitigen  tod  bestimmt. 

Über  Heinrich  ist  dafür,  dasz  er  gottes  vergessen,  zwar  nicht 
gleich  der  tod,  aber  wohl  eine  krankheit  verhängt,  die  nach  da- 
maliger anschauung  und  dem  damaligen  stände  ärztlicher  kunst  als 
unheilbar  galt  und  also  nach  einem  traurigen,  einsamen  leben  sicher 
zum  vorzeitigen  tode  führen  muste. 

Allein  Admets  gönner  Apollo,  der  vater  des  Asklepios,  des 
arztes  unter  den  göttern,  erwirkt  von  den  Mören  —  nach  Euripides 
allerdings  durch  täuschung  —  dasz  für  jenes  tod  der  eines  andern 
angenommen  werden  solle,  falls  jemand  ihn  freiwillig  auf  sich 
nehme,    wenn  aber  Admet  geneigt  ist,  ein  solches  opfer  von  einem 


338      E.  Plaumann:  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich. 

andern  anzunehmen,  so  zeigt  sich  darin  seine  dem  menschen  über- 
haupt, besonders  aber  dem  Griechen  eigentümliche  liebe  zum  leben, 
zumal  er  noch  in  blühendem  alter  steht  und  blühender  gesundheit 
sich  erfreut. 

Auch  Heinrich  soll  nach  dem  ausspruch  eines  gelehrten  arztes 
von  seiner  sonst  unheilbaren  krankheit  befreit  werden,  wenn  ein 
anderer  sich  entschlieszen  könne,  freiwillig  für  ihn  dem  leben  zu 
entsagen;  allein  nach  mittelalterlicher  anschauung  genügt  nicht 
eines  beliebigen  tod,  sondern  es  musz  eine  reine  Jungfrau  sein." 
auch  Heinrich  liebt  bei  seiner  Jugend  das  leben,  trotzdem  dasz  er  von 
krankheit  heimgesucht  ist  und  von  den  menschen  gemieden  wird; 
und  auch  er  würde  geneigt  sein,  ein  solches  opfer  anzunehmen.  — 
Anfangs  müssen  beide,  Admet  und  Heinrich,  wie  es  den  anschein 
hat,  auf  rettung  verzichten,  zwar  hat  Admet  noch  eitern,  die  hoch 
betagt  sind,  und  manchen  freund;  allein  sein  leben  will  niemand 
für  ihn  opfern.  Heinrich  aber  steht  sozusagen  allein  da.  es  wäre 
deshalb  wohl  an  ihm  gewesen,  sich  in  das  vom  hiramel  verhängte 
los  zu  fügen  und  abzuwarten ,  ob  gott  nicht  gnade  üben  wolle,  im 
gegenteil;  es  verlieren  beide  die  fassung  und  besonnenheit,  so  dasz 
Admet  nur  die  heftigsten  vorwürfe  für  seine  eitern  hat,  weil  sie 
dem  leben  nicht  in  seinem  Interesse  entsagen  wollen,  während 
Heinrich  sich  in  Verzweiflung  seiner  guter  entäuszert,  um  sich  in 
die  einsamkeit  zurückzuziehen. 

Einen  interessanten  gegensatz  zu  dem  pietätlosen  benehmen 
Admets  seinen  eitern  gegenüber  bildet  übrigens  das  des  mägdleins 
in  Hartmanns  erzählung,  indem  es  die  doch  gewis  von  deren  Stand- 
punkt aus  berechtigten  vorwürfe  der  mutter,  dasz  das  kind  gegen 
das  vierte  gebot  verstosze,  wenn  es  seine  eitern  durch  freiwilligen 
und  vorzeitigen  tod  betrübe,  pietätvoll  mit  den  verständigsten 
gründen  widerlegt. 

Endlich  entschlieszt  sich  für  beide  je  ein  weibliches  wesen,  für 
Admet  seine  jugendliche  gattin,  für  Heinrich  ein  liebevolles  kind, 
eine  unschuldige  Jungfrau ^^,  das  leben  zu  opfern,  jene  zu  ihres 
gatten  und  ihrer  kinder,  diese  zu  ihrer  eitern  tiefem  schmerz;  und 
beide  männer  nehmen  das  anerbieten  an ,  wenn  auch  anfangs  mit 
erklärlichem  widerstreben  und  nach  anfänglicher  Weigerung,  und 
bekunden  dadurch  ihre  Selbstsucht^,  die  allerdings  bei  Admet  er- 
klärlicher und  entschuldbarer  ist;  denn  mit  seinem  tode  wäi-e  nicht 
nur  die  gattin  ihres  mannes,  sondern  auch  die  eitern  ihres  sohnes, 
die  kinder  ihres  vaters,  das  volk  seines  fürsten  beraubt  worden. 


^*  vgl.  P.  Cassel,   die   Symbolik   des  blutes  s.  138  39  u.  bes.  200  ff. 

■*'  vgl.  Cassel  a.  a.  o.  8.  217  u. 

*^  herr  Heinrich  war  nämlicli  nach  dem  anerbieten  des  mädchens 
und  nach  langen  kämpfen  wieder  von  der  weltlust  überwältigt  worden; 
er  wollte  gesund  werden  durch  des  arztes  kunst  und  das  opler  an- 
nehmen, das  ihm  geboten  ward.     C.  a.  a.  o.  s.  212. 

«  vgl,  C.  a.  a.  o.  s.  221. 


E.  Plaumann:  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich.     339 

Beide  männer  machen  sich  auf  höhn  und  spott  gefaszt  darüber, 
dasz  sie  das  opfer  eines  weibes  angenommen,  Heinrich  auch  noch 
deswegen ,  dasz  er  schlieszlich ,  wie  es  schien ,  unverrichteter  sache 
von  Salerno  nach  hause  zurückkehren  sollte. 

Das  motiv  zu  so  mutvoller  that  ist  bei  beiden  weiblichen  wesen 
innige  liebe  zu  dem  dem  tode  geweihten ;  doch  tritt  bei  beiden  noch 
ein  anderer  grund  hinzu:  bei  Alkestis  die  sucht  nach  unsterblichem 
rühm  bei  der  nachweit;  bei  dem  mädchen  aber  die  Sehnsucht  nach 
der  kröne  des  ewigen  lebens. 

In  beiden  fällen  scheint  für  das  opfer  rettung  ausgeschlossen; 
dort  bat  Thanatos  bereits  die  Alkestis  in  empfang  genommen,  hier 
ist  der  arzt  in  ein  besonderes  zimmer  zur  section  getreten ,  und  die 
verschlossene  thür  bildet  gleichsam  die  scheide  zwischen  leben  und 
tod.  —  Jene  innige  liebe  seiner  gattin  rettet  den  Admet  und  seine 
von  den  göttex-n  hochgeschätzte  gastlichkeit  ihm  die  gattin,  indem 
ein  Vertreter  der  götter,  der  vielfach  der  weit  zum  retter  gesandt 
ward,  sie  dem  tode  abringt,  anderseits  rettet  die  opferfreudigkeit 
des  mägdleins  ihren  herrn.  dort  wird  die  vom  tode  bereits  in 
empfang  genommene  Alkestis  am  grabmal  ihm  wieder  abgerungen  ; 
hier  ringt  Heinrich  mit  aller  kraft  seiner  beredsamkeit,  die  ihm 
durch  das  göttliche  in  ihm ,  nämlich  die  aufrichtige  reue  und 
demütigung  und  den  festen  entschlusz,  sein  los  in  geduld  und  er- 
gebung  tragen  und  nicht  mehr  wie  früher  leidenschaftlich  nach 
heilung  streben  zu  wollen,  eingegeben  wird,  sie  dem  arzte  ab, 
dessen  messer  sie  eben  opfern  soll,  durch  die  reine,  selbstlose  gute 
des  mägdleins,  die  sich  freiwillig  dem  tode  hingibt,  ist  das  herz  des 
kranken  von  aller  Selbstsucht  befreit,  in  beiden  fällen  erwirkt  ein 
göttliches  oder  ein  gott  die  rettung  des  opfers. 

So  werden  dort  die  getrennten  gatten  in  unerwarteter  v/eise 
zu  einem  glücklichen  leben  wieder  vereinigt,  dessen  genusz  darum 
um  so  schöner  ist.  auch  hier  findet  schlieszlich  eine  innige  Ver- 
einigung der  beiden  als  gatten  statt,  nachdem  in  beiden  fällen  das 
noch  bestehende  hindernis  beseitigt  ist:  dort  musz  erst  die  toten- 
weihe  von  Alkestis  genommen  und  sie  so  völlig  der  oberweit  wieder- 
gegeben werden ;  hier  musz  erst  der  bauer,  des  mädchens  vater,  aus 
seiner  unterthänigkeit  entlassen  und  freigesprochen  und  so  seine 
tochter  nach  der  anschauung  des  mittelalters  dem  Heinrich  eben- 
bürtig gemacht  werden.  —  In  beiden  fällen  findet  also  ein  Über- 
gang von  tiefster  trauer  zu  höchster  freude  statt. 

Auch  die  sage  vom  armen  Heinrich  ist  dramatisch 
behandelt  worden  von  dem  Österreicher  Joseph  (ritter  von) 
Weilen  (1830 — 89)  in  dem  vieractigen  Schauspiel  'Heinrich  von 
der  Aue'  (1874).  es  spielt  in  Schwaben  gegen  ende  des  groszen 
deutschen  Interregnums  (1250 — 73),  wo  gegenkönige  waren  Richard 
von  Cornwall  und  Alfons  X  von  Castilien. 

Auf  seiner  Stammburg  residiert  Heinrich  von  der  Aue  in  un- 
getrübtem glück  und  sorglos  in  reichem  besitz  und  vollem  lebens- 


340     E.  Plaumann:  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich. 

genusz,  umgeben  von  einer  groszen  zahl  von  freunden,  die  infolge 
seines  urgastlichen  sinnes  dort  stets  gern  gesehen  sind  und  gern 
dorthin  kommen,  mit  scheelen  äugen  sieht  Heinrichs  jüngerer  halb- 
bruder  Hadmar,  wie  hab  und  gut  der  familie  vergeudet  wird,  in 
dessen  besitze,  wie  er  meint,  er  selbst  sein  müste.  in  ihrer  jugend 
ist  nämlich  Heinrich  als  schwächlicher  knabe  von  seinem  lehrer,  dem 
kräuterkundigen  arzte  Hieronymus  in  der  einsamkeit,  Hadmar  aber 
unter  der  scharfen  zucht  des  vaters  erzogen,  der  deshalb  auch  ge- 
wünscht hat,  dasz  Hadmar  einst  das  besitztum  verwalte,  plötzlich 
ist  der  vater  gestorben,  ohne  seinen  nachfolger  im  besitze  testa- 
mentarisch festgesetzt  zu  haben,  und  so  hat  Heinrich  als  der  ältere  das 
erbe  als  lehen  von  könig  Richard  angetreten,  das  er  nun  zu  Hadmars 
schwerem  verdrusz  maszlos  vergeudet  trotz  der  wiederholten  Warnung 
des  alten  hausvogts  Walther  und  seines  früheren  lehrers  Hieronymus, 
der  bei  beginn  des  Stücks  deshalb  mit  schwerem  herzen  von  ihm 
scheidet,  um  seine  andern  kranken  zu  besuchen.  Hadmar  hat,  wie 
schon  öfter,  die  bürg  verlassen,  diesmal,  um  einen  entscheidenden 
schritt  bei  könig  Richard  zu  thun,  damit  das  besitztum  ihm  zu- 
gesprochen werde,  zumal  da  Heinrich  ein  unzuverlässiger  freund  sei, 
der  auch  anhänger  des  gegenkönigs  Alfons  bewirte,  so  dasz  dort, 
vermöge  seiner  gastlichkeit,  milde  und  freigebigkeit  die  feindlichen 
ritter  zu  friedlichem  furnier  sich  vereinigen,  nun  kehrt  Hadmar  zu- 
rück, und  aus  seinen  Worten  entnehmen  wir,  dasz  wirklich  jener  ent- 
scheidende schritt  von  ihm  gethan  worden  ist.  sobald  das  furnier 
beendigt  ist  und  Heinrich  seinen  bruder  freundlich  begrüszt  hat, 
wird  ein  höriger  bauer  namens  Konrad  mit  seiner  tochter  Elsbeth 
gemeldet,  der  um  entlassung  aus  der  hörigkeit  bittet,  dafür  aber 
alle  seine  ersparnisse  und  zinsung  für  lange  zeit  verspricht,  sofort 
erklärt  ihn  Heinrich  für  den  eigentümer  seines  grundstücks;  das 
geld  aber  bestimmt  er  zur  künftigen  aussteuer  für  Elsbeth,  die  einen 
besonders  tiefen  eindruck  auf  ihn  gemacht  hat.  dankerfüllt  erklärt 
sie  sich  dafür  bereit,  wenn  zu  dem  glücke  ihres  gütigen  herrn  ein- 
mal auch  nur  eine  kleinigkeit  fehlen  sollte,  ihr  leben  gern  für  ihn 
opfern  zu  wollen,  ein  gedanke,  der  bei  Heinrich  eine  besonders  senti- 
mentale Stimmung  hervorruft,  während  er  diese  seinen  freunden 
und  seinem  bruder  gegenüber  äuszert,  erscheint  ein  herold  deskönigs 
Richard  mit  einer  Urkunde,  durch  welche  Heinrich  auf  die  klage 
Hadmars  hin,  dasz  er  auch  Richards  feinde  bei  sich  aufnehme  und 
sein  besitztum  vergeude,  seines  lehens  für  verlustig  und  Hadmar 
von  Aue  als  der  rechtmäszige  lehnsherr  erklärt  wird,  da  Hadmar  es 
offen  zugibt,  geklagt  zu  haben,  so  gerät  Heinrich  in  eine  auszer- 
gewöhnliche  seelische  aufregung,  die  ihm  das  augenlicht  raubt,  so 
dasz  er  blind  in  Walthers  arme  sinkt  (act  I). 

So  ist  Hadmar  nun  im  besitz  der  bürg;  doch  im  Innern  der- 
selben brechen  bereits  beim  mahle  Streitigkeiten  zwischen  den  rittern 
der  beiden  parteien  aus  und  setzen  sich  nach  auszen  fort  trotz  des 
friedensgebots  Hadmars.    auch  der  erblindete  Heinrich  tastet  sich 


E.  Plaumann:  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich.     341 

heraus,  und  Hadmar  bittet  ihn,  von  seinen  falschen  freunden  abzu- 
lassen und  zu  ihm  ins  haus  zu  treten,  da  Heinrich  dies  höhnisch 
ablehnt,  entschlieszt  sich  ersterer  in  gegenwart  der  ritter  und  teil- 
weise unter  ihrem  beifall,  sich  —  durch  die  oben  berichtete  Vor- 
geschichte —  zu  rechtfertigen,  doch  Heinrich  bezeichnet  sein  ver- 
fahren als  verrat  und  fordert  trotz  Hadmars  warnung  seine  freunde 
auf,  das  mit  list  ihm  entrissene  mit  gewalt  v?iederzuerobern.  mit 
tiefem  schmerz  erkennt  der  eben  jetzt  zurückkehrende  Hieronymus 
die  von  ihm  mit  besorgnis  geahnte  läge  der  dinge  und,  musz  er  zvrar 
Hadmars  früheres  störrisches  wesen  tadeln,  so  musz  er  leider  doch 
auch  bemerken,  dasz  Heinrich  ganz  von  räche  und  hasz  erfüllt  ist; 
und  um  diese  zu  stillen,  fordert  Heinrich  sogar  von  Hieronymus, 
dem  er  wegen  seiner  erziehung  alle  schuld  an  der  gegenwärtigen 
läge  beimiszt,  die  wiedergäbe  des  augenlichtes.  da  derselbe  aber  zu 
diesem  zwecke  seine  hilfe  versagt,  vielmehr  seinen  zögling  auffordert, 
in  frieden  in  die  bürg  zurückzukehren  und  die  heilung  seines  leidens 
und  Wiederherstellung  seines  rechts  abzuwarten,  ohne  den  Heinrich 
überreden  zu  können,  sagt  er  sich  von  ihm  los.  nun  erklärt  Eisbeth, 
die  unterdessen  schon  bei  Hieronymus  für  ihren  herrn,  jedoch  ver- 
geblich und  unter  des  letzteren  eignem  Widerspruch ,  fürbitte  ein- 
gelegt und  sich  selbst  und  ihr  leben  zum  opfer  angeboten  hat,  leise 
ihrem  vater,  dasz  sie  den  herrn  durch  wunderthätigen,  unter  be- 
sondern umständen  und  zu  bestimmter  zeit  aufgefangenen  thau  des 
himmels  retten  wolle  —  ein  moment,  das  übrigens  der  dichter  nach- 
her ganz  fallen  läszt.  Heinrich  ruft  jetzt  laut  seine  freunde  zum 
kämpfe  auf;  wenn  er  sich  an  räche  gesättigt  haben  werde,  dann 
möge  ewige  blindheit  sein  loos  sein  (act  II). 

Hadmar  wartet,  während  seine  freunde  in  der  bürg  sichs  wohl 
sein  lassen  und  auszerhalb  derselben  bereits  dörfer  und  hütten  von 
den  feinden  in  brand  gesteckt  sind,  sehnsüchtig  auf  hilfe  von  aus- 
wärts, wiewohl  er  selbst  wenig  Zuversicht  mehr  hat  —  wie  ein  blick 
in  sein  inneres  zeigt,  den  er  uns  III  2  thun  läszt  — ,  wenn  er  seinen 
mit  trug  betretenen  weg  betrachtet.  Heinrich  hat  inzwischen  in 
Konrads  hause  aufnähme  und  in  Eisbeth  eine  treue  pfiegerin  gefunden. 

Da  erweckt  neue  hoffnung  in  Hadmar  die  ankunft  des  ritters 
Helferstein,  leider  bringt  dieser  aber  die  nachricht,  dasz  könig  Richard 
tot  sei  und  die  fürsten  zur  neuwahl  sich  bereits  in  Frankfurt  a.  M. 
versammelten;  auch  sei  Hadmars  recht  nichtig,  da  der  verstorbene 
könig  Richard  die  entscheidung  über  Heinrichs  leben  eigenmächtig 
getroffen  habe,  ohne  die  fürsten  zu  befragen,  als  inzwischen  auch 
die  meidung  eintrifft,  dasz  die  feinde  auf  drei  straszen  gegen  die 
bürg  heranrückten,  so  tritt  Helferstein  mit  seiner  eigentlichen  ab- 
sieht hervor  und  fordert  für  seine  und  seiner  freunde  hilfe  ein  dritt- 
teil von  Hadmars  besitz,  eine  forderung,  die  letzterer  selbstverständ- 
lich ablehnt ,  weil  er  ja  gerade  des  vaters  erbe  unverkürzt  erhalten 
möchte,  er  sich  durch  erfüllung  jener  forderung  auch  selbst  um  den 
preis  seines  Verrats  bringen  würde,    auf  seine  aufforderung  musz 


342     E.  Plaumann :  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich. 

Helferstein  vielmehr  mit  seinen  freunden  die  bürg  räumen;  Hadmar 
selbst  aber  stürzt  ohne  rüstung  mit  seinen  freunden  durch  die  ge- 
öffneten thore  dem  feinde  entgegen  in  dem  bewustsein  seiner  schuld 
statt  des  ursprünglich  gewählten  Wahlspruchs:  *moin  recht  und 
Richard!'  einsetzend:  'weh  dem,  der  mit  recht  und  Ordnung  spielt!' 
(III  1—3). 

Während  dessen  genieszt  Heinrich  die  treueste  und  nach  Konrads 
Überzeugung  geradezu  übertriebene  pflege  von  seiten  Elsbeths  in 
Konrads  hause,  trotzdem  dasz  Heinrich  durch  launenhaftigkeit  sie 
förmlich  plagt,  wofür  er  sie  dann  anderseits  seine  liebe  kleine  frau 
nennt,  zu  des  vaters  erstaunen  fängt  sie  nun  auch  an,  von  ihrem  nahen 
tode  zu  sprechen,  der  ihr  durch  das  eigentümlich  veränderte  wesen 
der  von  ihr  gepflegten  tauben  angedeutet  werde.  Konrad  hält  diesen 
ihren  zustand  für  krankhaft  und  will  Hieronymus  befragen,  im  not- 
falle sogar  nach  Salerno  sich  wenden,  wo  erfahrene  meister  der  heil- 
kunst  seien,  die  jede  krankheit  heilten,  eine  äuszerung  des  vaters, 
welche  die  besondere  aufmerksamkeit  Elsbeths  erregte.  —  Da  bringt 
der  ritter  Urach  die  künde,  dasz  noch  an  diesem  tage  Heinrichs 
bürg  fallen  und  er  wieder  in  dieselbe  einziehen  werde,  dies  sollten 
seine  pfleger  dem  Heinrich  bei  seinem  erwachen  mitteilen,  schmerz- 
voll gedenkt  jetzt  Elsbeth  der  bevorstehenden  trennung  von  ihrem 
herrn;  nun  will  sie  aber  für  ihn  nach  Salerno  wandern,  um  ein  mittel 
zur  erleichterung  seines  leidens  zu  holen,  da  eben  jetzt  Heinrich  aus 
dem  hause  tritt,  wird  ihm  jene  mitteilung  gemacht,  jedoch  kann  ihm 
dabei  Elsbeth  den  Vorwurf  nicht  ersparen,  dasz  die  Zerstörung  der 
hütte  manches  armen  seine  schuld  sei ,  —  was  übrigens  eben  auch 
gegenständ  seines  traumes  gewesen  ist.  gerade  will  er  nun  auch 
selbst  zum  kämpfe  hinaus:  da  ertönt  der  ruf  'sieg!'  und  verschiedene 
ritter  von  Heinrichs  partei  erscheinen  und  führen  seinen  bruder 
Hadmar  gefangen  vor  ihn.  in  der  ersten  aufwallung  des  zorns  will 
ihn  Heinrich  niederstoszen,  wie  es  Hadmars  wünsche  entsprochen 
haben  würde,  aber  als  Elsbeth  sich  ins  mittel  legt,  begnadigt  er  ihn 
und  bezeichnet  die  begnadigung  eben  als  seine  räche  gerade  in  dem 
augenblicke,  in  welchem  Hieronymus  wieder  erscheint  mit  den  pro- 
phetischen Worten:  'das  chaos  endet,  und  licht  wird  es  —  licht!  du 
mein  teurer  Heinrich.' 

Jetzt  bringt  ritter  Frohberg  die  erfreuliche  botschaft,  dasz 
Rudolf  von  Habsbux-g  zum  kaiser  gewählt  sei ,  was  bei  allen ,  auch 
bei  Hadmar,  die  hoö'nung  auf  frieden  und  recht  im  lande  erweckt. 
Hieronymus  führt  nun  den  Heinrich  mit  sich  fort,  und  Elsbeth  ruft 
leuchtenden  auges  aus,  dasz  sie  nach  Salerno  gehe  (III  4  —  schlusz). 

Heinrich  weilt  nun  längere  zeit  bei  Hieronymus,  getragen  von 
der  hofi'nung,  dasz  bald  die  spuren  des  verheerenden  krieges  im  dorfe 
durch  seine  spenden  verwischt  sein  werden,  die  er  durch  Hieronymus 
dort  austeilen  läszt,  und  auch  von  der  hoffnung  auf  genesung  seiner 
äugen,  doch  voll  unruhe  über  Hadmars  und  Elsbeths  ausbleiben; 
letztere  vermiszt  aber  besonders  schmerzlich  ihr  vater  Konrad ,  der 


E.  Plaumann:  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich.     343 

die  schuld  an  ihrem  ausbleiben  Heinrich  zuschiebt,  kaum  aber  hat 
Hieronymus  den  Heinrich  ins  zimmer  geschickt  und  gott  inbrünstig 
um  heilung  seines  herrn  gebeten,  da  erscheint  Elsbeth,  die  in  Salerno 
gewesen  und  von  einem  erfahrenen  arzte  als  heilmittel  die  Weisung 
erhalten  hat,  man  solle  mit  dem  blute  einer  reinen  junfrau  die  äugen 
des  kranken  bestreichen;  davon  würden  sie  gesund  werden;  sie  er- 
klärt sich  auch  gleich  bereit  zu  dem  opfer,  wovon  Hieronymus  dem 
herrn  Heinrich  gleich  mitteilung  zu  machen  verspricht  und  deshalb 
hineingeht.  Heinrich  lehnt  zunächst  ihr  anerbieten  als  thöricht, 
kindisch  und  auch  aussichtslos  ab.  doch  um  so  dringender  bittet 
sie  ihn,  der  jetzt  selbst  vor  die  hütte  getreten  ist,  mit  hinweis  auf 
den  wert  seines ,  die  Wertlosigkeit  ihres  eignen  lebens ,  und  so  sagt 
er  endlich  zu,  bereut  aber  gleich  seinen  entschlusz,  zieht  Elsbeth 
innig  an  sich  als  sein  licht ,  sein  ein  und  alles,  und  wird  so  gerührt, 
dasz  thränen  seinen  äugen  entquellen  und  er  die  binde  von  den- 
selben abgenommen  haben  will,  dies  thut  Hieronymus  nun  endlich 
mit  dem  gebet  an  gott,  sein  äuge  jetzt  zu  erleuchten,  und  wirklich 
fallen  nun  die  ersten  strahlen  des  lichts  in  des  kranken  äugen,  deren 
erster  blick  in  Elsbeths  klares  auge^",  auf  ihre  lieblichen  wangen 
und  purpurlippen  fällt;  sie  aber  ist  ob  des  wunders  ganz  entzückt 
und  glaubt  sich  schon  der  erde  entrückt,  jetzt  erscheint,  vonHadmar 
begleitet,  ein  reichsherold  mit  dem  deutschen  banner ,  das  Heinrich 
mit  patriotisch-prophetischen  worten  begrüszt  (IV  5) ;  und  Hadmar 
berichtet,  dasz  er  in  Frankfurt  bei  der  kaiserkrönung  einen  neuen 
lehnsbrief  für  Heinrich  erbeten  und  sich  selbst  angeklagt  habe. 
Heinrich  aber  schreibt  sich  die  hauptschuld  an  ihrem  Zerwürfnis  zu 
und  bittet  seinen  bruder,  jetzt  das  leben  mit  ihm  zu  teilen;  erklärt 
auch  in  anwesenheit  der  genannten  und  des  inzwischen  auf  die  künde 
von  Elsbeths  rückkehr  herbeigeeilten  Konrad,  dasz  er  gewillt  sei, 
das  liebevolle  mädchen  zum  danke  für  ihre  treue  pflege  und  opfer- 
willigkeit zum  weibe  zu  nehmen,  alle  billigen  seinen  entschlusz, 
und  Hieronymus  segnet  auf  Heinrichs  bitten  ihren  bund  mit  der 
mahnung,  festzuhalten  an  'recht,  Wahrheit  und  treue'. 

Wie  in  Hartmanns  erzählung  sehen  wir  auch  in  Wcilens 
drama  in  Heinrich  einen  im  besten  Wohlstände  sitzenden  ritter  ( I  1), 
■wir  finden  auch  bei  ihm  einen  ihm  unterthänigen  bauer  (I  7)  mit 
seinem  kinde,  bei  dem  er  im  unglück  aufnähme  findet  (IH  4),  und 
von  dessen  tochter  er  trotz  seiner  launenhaftigkeit  treulich  gepflegt 
wird  (III  1),  die  er  dann  dafür  bisweilen  scherzweise  seine  kleine 
frau  nennt  (III 14).  dieselbe  erklärt  sich  auch  aus  dankbarkeit  bereit, 
für  ihren  herrn  alles  zu  thun,  was  zu  seinem  glück  etwa  einmal  fehlen 
sollte  (I  7.  II  3),  und  entschlieszt  sich  deshalb,  als  der  arzt  in  Salerno 
als   das   einzige  heilmittel  für  Heinrichs  erblindete  äugen  das  be- 

*"  vgl.  Chamisso  'der  arme  Heinrich': 

und  der  erste  blick  des  armen  Heinrich 
fiel  ins  aug'  ihr,  das  verklärend  strahlte 
ihres  reinen  herzens  sanften  frieden. 


344     E.  Plaumann :  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich. 

zeichnet  hat,  dasz  dieselben  mit  dem  blut  einer  reinen  Jungfrau  be- 
strichen werden  müssen  (IV  3),  für  ihn  ihr  herzblut  hinzugeben,  ein 
entschlusz,  der  so  fest  bei  ihr  steht,  dasz  sie  gott  inbrünstig  bittet, 
ihren  worten  kraft  zu  verleihen,  um  ihren  herrn  zur  annähme  ihres 
anerbietens  zu  überreden  (IV  3),  auch  bei  Weilen  weigert  sich 
Heinrich  anfangs  der  annähme  ihres  angebots  mit  fast  derselben 
begründung  wie  bei  Hartmann  (IV  4).  auch  hier  läszt  sie  sich 
durch  seine  anfängliche  Weigerung  nicht  gleich  abschrecken,  viel- 
mehr sucht  sie  neue  gründe  in  dem  hinweis  auf  den  wert  von 
Heinrichs  leben,  den  unwert  ihres  eignen  (IV  4).  selbst  die  Ver- 
weisung auf  die  daraus  sich  ergebende  Verlassenheit  ihres  vaters 
(IV  4)  verfängt  bei  ihr  nicht,  auch  hier  erklärt  sich  Heinrich 
schlieszlich  zur  annähme  des  opfers  bereit  (IV  4),  freilich  um  seinen 
entschlusz,  wie  dort,  gleich  wieder  zu  bereuen,  auch  hier  wählt 
Heinrich  schlieszlich  aus  demselben  gründe  Elsbeth  zur  gattin  (IV  6) 
und  findet  seine  wähl  allgemeine  billigung. 

Doch  mancherlei  momente  hat  der  dramatische  dichter 
seinen  zwecken  entsprechend  verändert. 

Der  bauer  und  hörige  knecht  Heinrichs  hat  ein  vermögen  sich 
gespart  und  will  sich  deshalb  zu  langjähriger  zinsung  verpflichten 
(I  7)  für  den  fall,  dasz  er  aus  der  börigkeit  entlassen  und  zum  selb- 
ständigen besitzer  seines  grundstücks  gemacht  werde,  auch  bittet 
er  hier  selbst  gleich  am  anfang  des  dramas  darum,  und  die  ge- 
währung dieser  bitte  dient  gleich  dazu,  um  den  kern  von  Heinrichs 
Charakter  festzustellen,  die  fürsorge  Elsbeths  für  ihren  heiTn  tritt 
hier  zunächst  hervor  in  einer  fürbitte,  die  sie  bei  Hieronymus  für 
ihn  einlegt,  er  möge  dessen  augenleiden  heilen  (II  5).  Elsbeths 
weitere  mühe  und  pflege  des  herrn  wird  hier  als  geradezu  über- 
trieben und  ihre  eigne  gesundheit  schädigend  (III  4)  dargestellt, 
wenigstens  von  selten  ihres  vaters,  dessen  einziges  kind  sie  ist,  und 
der  in  sich  die  sorge  von  vater  und  mutter  für  sie  vereinigt,  es 
erinnert  dies  an  die  schlaflosen  und  tbränenvollen  nachte,  welche 
bei  Hartmann  das  mädchen  in  ihrer  sorge  um  die  zukunft  des  herrn 
zubringt,  die  Sehnsucht  des  mädcbens  nach  dem  tode  bei  Hartmann 
erscheint  hier  als  eine  todesahnung  (III  4),  die  dem  glauben  des 
mittelalters  entspricht,  und  die  bei  Konrad  die  befürchtung  einer 
krankheit  seiner  tochter  erweckt,  gegen  die  er  ärztlichen  rat  ein- 
holen will  (III  4).  so  macht  hier  Konrad  selbst  auf  Salerno  auf- 
merksam,  was  dann  Elsbeths  entschlusz  dortbin  zu  pilgern  erzeugt 
(III  4),  den  sie  auch  ausführt,  doch  allein  und  ohne  jemandes  wissen 
(III  7) ,  während  Heinrich  in  der  zeit  durch  wohltbaten  die  spuren 
des  bruderkrieges  (IV  1)  zu  verwischen  bemüht  ist.  bei  Hartmann 
schenkt  er  seine  ganze  habe  an  arme  oder  die  kirche.  Elsbeths  ver- 
schwinden veranlaszt  dann  Konrads  vorwürfe  für  Heinrich,  dasz  er 
daran  und  damit  wahrscheinlich  an  ihrem  tode  die  schuld  trage 
(IV  1),  wie  denn  Konrads  benehmen  jetzt  im  gegensatz  zu  der 
früheren  zeit  und  auch  zur  epischen  dichtung  steht,  wo  die  eitern 


E.  Plaumann:  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich.     345 

ihre  tochter  nur  mit  sehr  schwerem  herzen  und  unter  heiszen  thränen 
mit  Heinrich  nach  Salerno  ziehen  lassen;  auch  Heinrichs  gesinnung 
gegen  Konrad  ist  freilich  ganz  anders,  weil  er  sich  schuldig  fühlt. 
Elsbeth  kehrt  auch  im  drama  von  Salerno  zurück  nach  beschwer- 
licher Wanderung  (IV  3),  aber  um  erst  das  opfer  für  ihren  herrn  zu 
übernehmen,  endlich  werden  auch  hier  beide  mit  einander  ver- 
bunden und  ihr  bund ,  wie  dort  durch  priester,  so  hier  durch  Hiero- 
nymus  gesegnet  (IV  6).  in  Heinrichs  Charakter  ist  beim  dramatiker 
die  cardinaltugend  seine  gastlichkeit,  die  dort  mehr  als  milde  er- 
scheint (I  1—3). 

Allein  in  einer  summe  von  momenten  ist  der  drama- 
tische dichter  seine  eignen  wege  gegangen. 

Gleich  im  titel  des  dramas  ist  Heinrich  als  mitglied  eines  be- 
stimmten ritterlichen  geschlechts  bezeichnet.  —  Eine  der  personen 
des  epos  ist  weggelassen ,  weil  sie  auch  dort  wenig  hervortritt  und 
durch  ihre  beseitigung  eine  erhebliche  lücke  nicht  entstand,  die 
mutter  des  mädchens;  ja,  es  wäre  für  sie  kaum  eine  rolle  im  drama 
übrig,  auch  ist  hier  Elsbeth  das  einzige  kind  des  bauern ,  während 
dort  noch  von  andern  kindern  die  rede  ist.  —  Dafür  hat  Weilen  aber 
eine  ganze  summe  anderer  pei'sonen  eingeführt,  so  einen  jüngeren 
Stiefbruder  Heinrichs,  namens  Hadmar  (I  2),  der  zu  der  action  des 
ersteren  die  gegenaction  leitet,  dazu  kommt  der  hausvogt  Walther, 
der  vermöge  seines  alters  eine  art  Vertrauensstellung  einnimmt 
(I  1),  so  dasz  er  den  jugendlichen  herrn  zu  warnen  sich  erlauben 
darf,  dann  kommt  hinzu  eine  ganze  anzahl  von  rittern ,  weil  der 
dramatiker  seinem  Schauspiel  einen  politischen  hintergrund  gegeben 
und  es  in  die  zeit  des  groszen  deutschen  Interregnums  verlegt  hat. 

Ganz  eigentümlich  ist  dem  dramatiker  die  art,  wie  er  Heinrich 
von  gott  bestrafen  läszt,  die  erblindung  (I  8).  geschah  dies  aus 
ästhetischen  gründen  oder  weil  jener  blind  genieszt  und  seine  freunde 
blind  genieszen  läszt;  weil  er  blind  ist  in  liebe  und  hasz?  denn 
weniger  wunderbar  als  die  heilung  des  aussatzes  ist  auch  die  des 
augenleidens  nicht;  in  übernatürlicher  weise  erfolgt  sie  in  beiden 
fällen,  auf  diese  abw.eichung  von  der  überlieferten  sage  vom  armen 
Heinrich  sucht  uns  der  dramatiker  übrigens  recht  früh  vorzubereiten, 
gleich  II  1  scheidet  Hieronymus  von  Heinrich  mit  den  worten: 
noch  einen  blick  in  deine  armen  aug'en 
und  meine  bände  segnend  auf  dein  haupt, 

WO  uns  der  grund  für  die  bezeichnung  'arme  äugen'  zunächst  nicht 
ersichtlich  ist,  selbst  nach  den  unmittelbar  voraufgehenden  worten : 

o  fürchte,  dasz  ein  dunkler  Vorhang  plötzlich 
verhüllend  falle  um  die  sonn'ge  weit, 
nach  der  du,  allzu  lebensfreudig,  schaust. 

deutlicher  wird  es  schon  I  2 ,  wo  die  plötzliche  Vorstellung  der  er- 
blindung durch  den  starken  weingenusz  bei  Heinrich  erweckt  wird, 
wie  es  nach  seiner  aussage  auch  nach  scharfem  ritt  der  fall  sei,  dann 
deuten  darauf  seine  worte  I  7,  die  er  in  bezug  auf  Elsbeth  sagt: 

N.  Jahrb.  f.  phil.  u.  päd.  II.  abl.  1897  hft.  7.  23 


346     E.  Plaumann :  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich. 

mein  krankes  äuge  trinkt  genesungstrank 
aus  dieser  züge  wunderbarem  born, 

WOZU  er  nach  einigen  zeilen  hinzufügt: 

o  herr  der  gnaden,  willst  du  mich  bestrafen 
um  meiner  sünden  willen,  nimm  mir  alles, 
erhalt'  mir  nur  dein  köstlichstes  geschenk, 
den  könig  in  der  sinne  reich:  das  ange! 

und  wirklich  tritt  seine  erblindung  nach  heftiger  gemütsbewegung 
ein  (I  8).  wenn  der  dichter  ihn  nachher  eine  binde  um  die  äugen 
tragen  läszt,  so  geschah  das  wohl  zur  erleichterung  für  die  darstel- 
lung  und  zur  bequemeren  Vorstellung  der  blindheit  für  den  Zu- 
schauer, zumal  da  seine  blindheit  längere  zeit  und  auch  dann  noch 
fortdauert,  nachdem  Heinrichs  äuszere  Verhältnisse  sich  zum  guten  ge- 
wandt haben  und  seine  bürg  für  ihn  wieder  erobert  ist,  durch  seine 
blindheit  wird  seine  hilflosigkeit  veranlaszt ,  in  der  er  ein  schützen- 
des plätzchen  in  Konrads  hause  findet  (III  4) ,  und  der  entschlusz 
Elsbeths,  nach  Salerno  zu  wandern,  um  für  ihren  herrn  ein  heilmittel 
zu  schaffen,  eine  Wanderung,  die  sie  ohne  jemandes  wissen  unter- 
nimmt, so  dasz  sie  als  verschollen  oder  gar  tot  gilt,  bis  ihre  plötz- 
liche rückkehr  (IV  2)  erfolgt,  neu  ist  auch  die  genaue  Schilderung 
ihrer  Wanderung  nach  Italien  (IV  3),  die  übrigens  ein  wenig  an- 
klingt an  die  angäbe  des  weges  dorthin,  wie  wir  sie  in  Schillers 
Teil  V  2  lesen,  mit  dieser  ihrer  gesinnung  gegen  ihren  herrn  hängt 
es  auch  zusammen,  dasz  ihr  bei  der  nachricht  des  ritters  Urach, 
Heinrich  werde  bald  in  seine  bürg  wieder  als  herr  einziehen,  der  ge- 
danke  der  trennung  von  demselben  so  tief  schmerzlich  ist  (IV  4).'^' 
vermöge  ihres  vertrauten  Verhältnisses  zu  Heinrich  darf  sie  es  auch 
wagen  (III  4) ,  dem  herrn  den  Vorwurf  der  schuld  an  dem  unglück 
des  krieges  zu  machen,  auf  die  in  aussieht  stehende  heilung  des 
kranken  deutet  die  prophezeiung  des  Hieron^mus,  der  gerade  in  dem 
augenblicke  zurückkehrt,  als  Heinrich  gegen  Hadmar  statt  räche 
gnade  übt  III  6:  'das  chaos  endet,  und  licht  wird  es,  —  licht!  o  du 
mein  teurer  Heinrich !'  ist  doch  mit  dieser  that  der  anfang  seiner 
völligen  umkehr  von  seinem  bruderhasse  und  die  ergebung  in  sein 
Schicksal  erfolgt,  wie  sie  nachher  zu  tage  tritt,  wo  thränen  der  reue 
und  rührung  (III  4)  seinem  äuge  entquellen,  das  dadurch  für  licht 
wieder  empfänglich  wird,  so  dasz  ihm  die  binde  abgenommen  wer- 
den und,  nachdem  des  Hieronymus  brünstiges  gebet  um  licht  für 
seines  zöglings  äuge  erhört  worden  ist,  sein  blick  in  Elsbeths  äuge 
fallen  kann  (IV  4),  ein  blick,  der  ihm  den  schätz  erst  ganz  entdeckt, 
der  in  dieses  mädchens  herzen  ruht,  und  den  sein  eigen  zu  nennen 
jetzt  sein  einziger  wünsch  wird,  der  wünsch  findet  denn  auch  bald 
erfüllung,  nachdem  seine  absieht  von  allen  anwesenden,  auch  von 
Elsbeths  vater,  billigung  erhalten  hat  (IV  6). 


*•   vgl.    damit   in    der   erzählung  Hartmanns    ihren    schmerz   um  die 
nicht  erfolgende  Opferung  v.  1281  ff. 


E,  Plaumann:  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich.     347 

In  dem  Charakter  des  haupthelden  sind  die  grundeigen- 
schaften  die  gastlichkeit,  milde,  Freigebigkeit,  als  deren 
Urbild  ^^  er  gilt  (I  2.  I  3.),  eigenschaften ,  welche  im  mittelalter  an 
den  fürsten  und  rittern  besonders  gern  gesehen  und ,  wo  sie  vor- 
handen waren,  gerühmt  wurden,  wie  es  die  gleichzeitigen  dichter 
und  Sänger  so  vielfach  thun,  ebenso  wie  das  gegenteil  scharf  getadelt 
wird,  es  wird  ausdrücklich  betont  (I  3),  dasz  bei  ihm  nur  die  königin 
freude  hersche,  dasz  sein  besitz  nur  für  seine  freunde  vorhanden  sei, 
wie  es  z.  b.  I  7  zeigt: 

Heinrich:  Freund  Helferstein,  ich  weisz,  mein  rapp'  gefällt  dir, 
der  von  arab'scher  zucht,  er  ist  mir  lieb, 
mach'  mir  ihn  werter  noch,  nimm  ihn  von  mir! 

Helferstein:  Was  fällt  dir  ein? 

Heinrich:  Du  nimmst  ihn?  —  Ja?  ja?  —  Dankl^^ 

sein  haus  ist  ein  ofifenes,  und  festlich  werden  stets  darin  die  gaste 
empfangen  und  die  tafel  für  sie  hergerichtet  (I  1.  I  3),  was  sich  hier 
besonders  darin  zeigt,  dasz  er  nicht  nur  die  ritter  von  seiner  und 
könig  Richards  partei ,  sondern  auch  von  der  gegenpartei  bei  sich 
aufnimmt  (I  2 — 4)  und  zu  friedlichem  turnier  vereinigt;  ist  er  doch 
selbst  ein  wackerer  ritter  im  turnier  (15).  —  Seine  band 
ist  auch  für  andere  stets  offen,  ja  zu  offen,  wie  es  die  scene 
mit  dem  bauern  Konrad  zeigt,  den  er  auf  dessen  erste  bitte  und 
ohne  bedenken  aus  der  hörigkeit  entläszt;  denn,  sagt  er  I  6: 

das  wörtchen  bitte  ist  ein  Schlüssel,  der 

zu  allen  stunden  alle  pforten  öffnet 

in  meinem  schlösse; 

und  ebenso  die  scene  mit  dem  diener  (I  2),  dem  er  den  goldenen 
becher,  aus  welchem  derselbe  seinem  herrn  den  wohlschmeckenden 
willkommentrunk  credenzt  hat,  schenkt,  da  ist  denn  wohl  am  platze 
des  Hieronymus  warnung  an  Heinrich  (1 1),  'masz  zu  halten  in  lieb' 
und  hasz,  mit  geld  und  gut';  und  ebenso  die  des  hausvogts  Walther 
(I  1).  Heinrich  beachtet  sie  nicht,  und  so  musz  eine  fügend  für  ihn 
zum  fallstrick  werden. 


^*  vgl.  dazu  in  Goethes  satire  'götter,  helden  und  Wieland'  die  idee 
der  persönlichkeit  des  Admet  nach  Euripides:  'ein  junger,  ganz  glück- 
licher, wohlbehaglicher  fürst,  der  von  seinem  vater  reich  und  erbe  und 
herde  und  guter  empfangen  hatte  und  darinnen  sasz  mit  genüglichkeit  und 
genosz,    und    ganz   war  und  nichts  bedurfte,    als  leute,   die  mit  ihm  ge- 
nossen, und  sie,  wie  natürlich,  fand,  und  des  hergebens  nicht  satt  wurde, 
und  alle  liebte,   dasz  sie  ihn  liehen  sollten,  und  sich  götter  und  menschen 
so  zu  freunden  gemacht  hatte  und  Apollo  den  himmel  an  seinem  tisch 
vergasz  —  der  sollte  nicht  ewig  zu  leben  wünschen?' 
'"^  vgl.  damit  Schiller,  braut  von  Messina  I  5: 
Don  Cesar:  Du  nahmst  die  pferde  von  arab'scher  zucht 
in  anspruch  aus  dem  marstall  unsers  vaters. 
den  rittern,  die  du  schicktest,   schlug  ichs  ab. 

Don  Manuel:  Sie  sind  dir  lieb,. ich  denke  nicht  mehr  dran, 
Don  Cesar:  Nein,  nimm  die  rosse,  nimm  den  wagen  auch 
des  vaters,  nimm  sie,  ich  beschwöre  dich, 
und  so  an  andern  stellen. 

23* 


348     E.  Plaumann:  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich. 

Sein  Verhältnis  zu  seinem  bruder  Hadraar  ist  sehr 
zärtlich,  ohne  dasz  jedoch  von  dessen  seite  seine  Zärtlichkeit 
erwidert  wird,  so  wird  Hadmar,  als  er  nach  längerer  abwesenheit 
wieder  im  stammschlosse  erscheint,  von  Heinrich  als  sein  allerbester, 
ihm  angeborener  freund  begrüszt  I  5 : 

du  kennst  die  freunde  doch,  die  du  hier  siehst? 

sie  sind  recht  sehr  mir  lieh,  du  aber  bleibst 

mein  allererster,  allerbester  freund. 

die  freunde,   die  im  leben  wir  erwerben, 

sind  Zufalls  gaben,  doch  der  bruder  ist 

der  angeborne  freund,  ein  teil  von  uns.     usw.-^ 

Diese  seine  bruder  liebe  tritt  ins  hellste  licht  (I  7),  als  er  es 
durchaus  nicht  glauben  will,  dasz  Hadmar  gegen  ihn  geklagt  habe, 
trotzdem  er  es  aus  dessen  eignem  mund  hört,  er  hätte,  so  behauptet 
er  II  4  —  und  wir  sind  nicht  abgeneigt,  es  zu  glauben  —  wenn  sein 
bruder  je  den  wünsch  ernstlich  geäuszert  hätte  ,  statt  seiner  das  be- 
sitztum  zu  gewinnen,  es  aus  liebe  zu  ihm  abgetreten,  da  wird  er 
denn  also  in  seinen  heiligsten  empfindungen  verletzt,  als  er  sich 
überzeugen  musz,  dasz  wirklich  sein  bruder,  den  er  für  seinen  aller- 
besten freund  gehalten,  als  sein  feind  sich  betragen  (I  5)  und  gegen 
ihn  geklagt  habe,  wie  er  aus  der  botschaft  des  herolds  ersieht 
(I  7.  8),  durch  welche  er  gewaltsam  und  durch  list  des  besitzes  be- 
raubt wird,  den  er  aus  liebe  zum  bruder  gern  freiwillig  hingegeben 
hätte,  deshalb  findet  denn  bei  ihm  scheinbar  ein  völliger  abfall  von 
seinem  eigentlichen  Charakter  statt,  aus  zärtlichster  liebe  wird 
grimmiger,  wütender  hasz  (18),  in  welchem  er  den  bruder 
mit  dem  Schwerte  durchbohrt  hätte,  wenn  er  nicht  durch  sein  er- 
blinden daran  verhindert  worden  wäre  (I  8).  deshalb  wünscht  er 
auch  den  krieg  mit  seinen  zerstörenden  folgen,  weil  darin,  so  hofft 
er,  auch  sein  erbe  zu  gründe  gehen  werde,  damit  der  bruder  sich 
dessen  nicht  freue,  weil  dieser  um  des  besitzes  willen  an  ihm  zum 
Schurken  geworden  (II  4).  er  wird  also  scheinbar  aller  bruderliebe 
bar  (II  5),  wie  Hieronymus  mit  schmerz  bemerken  musz;  ja  er  reizt 
jetzt  selbst  die  seinigen  zum  rachekampfe  (II  5).  dieser  hasz  wäre 
schlieszlich,  als  Hadmar  unterlegen  und  gefangen  vor  Heinrich  ge- 
führt wird,  für  jenen  tödlich  geworden  (III  4),  wenn  nicht  allmäh- 
lich in  Heinrich  eine  rückkehr  zu  seiner  eigentlichen  natur  ein- 
getreten wäre,  geleitet  durch  seinen  guten  genius  in  der  person 
Elsbeths,  die,  als  Heinrich  seinen  bruder  durchbohren  will,  da- 
zwischentritt. 

Sein  durch  den  bruder  getäuschtes  vertrauen  macht  ihn  auch 


'gl.  dazu  Schiller,  braut  von  Messina  I  4: 

die  neigung  gibt 
den  freund,   es  gibt  der  vorteil  den  gcfährten; 
wohl  dem,  dem  die  gehurt  den  bruder  gab! 
ihn  kann  das  glück  nicht  geben!     anerschafifen 
ist  ihm  der  freund,  und  gegen  eine  weit 
voll  kriegs  und  truges  steht  er  zwiefach  da! 


E.  Plaumann:  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich.      349 

gegen  andere  schroff  und  ungerecht,  so  gegen  seinen 
treuen  leiter,  erzieher  und  arzt  Hieronymus,  dessen  erziehung  er 
die  schuld  an  allem  beimiszt  (II  5);  auch  gegen  seinen  treuen  haus- 
vogt  Walther  (III  1);  selbst  sein  launenhaftes  betragen  seiner 
treuen  pflegerin  Elsbeth  gegenüber  ist  aufsein  dadurch  gereiztes 
wesen  zurückzuführen,  ja,  trotz  seiner  blindheit  wäre  er  schlieszlich 
selbst  zum  kämpfe  hinausgeeilt  (III  4),  wenn  nicht  der  inzwischen 
errungene  sieg  (III  5)  die  ausführang  seiner  unüberlegten  absiebt 
unnötig  gemacht  hätte. 

So  zeigt  sich  seit  jenem  acte  seines  bruders  überall  ein  über- 
masz  des  hasses,  in  das  sich  das  übermasz  der  liebe  verwandelt  hat. 
doch  wir  sollen  auch  die  rückkehr  zu  seiner  eigentlichen  natur  sehen, 
als  Hadmar  gefangen  vor  ihn  geführt  wird,  übermannt  ihn  zwar 
noch  einmal  der  hasz,  er  läszt  ihn  dann  aber  vorElsbeths  dazwischen- 
treten fahren  (III  5)  und  gewährt  Verzeihung,  so  findet  er  sich 
gleichsam  wieder  in  der  ihm  angeborenen  liebe  zum  bruder,  den  er 
nun  auch  wieder  stets  um  sich  sehen  möchte,  wie  es  seine  sehnsuchts- 
volle frage  nach  dem  abwesenden  beweist  IV  1 :  'wo  mag  doch 
Hadmar  hingeraten  sein?'  schlieszlich  schiebt  er,  als  der  bruder  ihm 
eröffnet,  dasz  er  sich  vor  kaiser  Rudolf  verklagt  habe,  vielmehr  sich 
selbst  die  schuld  zu  an  allem ,  was  vorgefallen.  —  Und  er  hat  seine 
liebe  nicht  an  einen  unwürdigen  verschwendet,  freilich  hat  ja 
Hadmar  an  ihm  wie  ein  feind  gehandelt,  wie  es  Heinrich,  wie  es 
Elsbeth  behauptet,  und  wie  es  Hadmar  selbst  eingesteht  —  III  3 
nennt  er  seine  handlungsvveise  selbst  'verrat'  — ;  allein  er  sieht 
eben  in  seiner  Verblendung  kein  anderes  mittel,  den  für  ihn  un- 
erträglichen zustand  zu  ändern ;  sehen  zu  müssen,  wie  seines  vaters 
erbe  vergeudet  wird,  ohne  dasz  der  besitzer  sich  warnen  läszt,  ist 
auf  die  dauer  für  ihn  unerträglich,  und  er  thut  den  verwerflichen 
schritt,  allein  schon  die  bereitwilligkeit,  vor  dem  bruder  und  dessen 
anhängern  sich  zu  rechtfertigen  (II  4),  und  deren  ausführungj  sein 
wünsch,  es  möchte  nicht  zum  kriege  kommen,  und  die  Warnung  da- 
vor, ja  die  mahnung  zum  frieden  (II  1.  2.  4)  und  die  darin  sich  be- 
kundende friedensliebe;  seine  aufrichtige  i'eue  (III  2),  die  er  nur 
mit  mühe  und  auch  nur  für  kurze  zeit  mit  gewalt  zurückdrängen 
kann,  indem  er  künstlich  das  be wustsein  in  sich  schafft,  dasz  er  im 
recht  sei,  zeigen,  dasz  auch  bei  ihm  nur  ein  vorübergehender  ab- 
fall  von  seiner  eigentlichen  natur  erfolgt  ist.  denn  wenn  er  dem 
ritter  Helferstein  gegenüber  die  kenntnis  davon  leugnet,  dasz  könig 
Richard  nicht,  ohne  die  fürsten  zu  befragen,  Heinrichs  leben  auf 
Hadmar  übertragen  durfte,  so  thut  er  das  wider  besseres  wissen 
(III  3).  im  Innern  ist  er  sich  sehr  wohl  bewust,  dasz  sein  recht  auf 
thönernen  füszen  steht,  und  er  wundert  sich  kaum,  dasz  er  so  wenig 
Unterstützung  findet,  ohne  jedoch  bereits  so  viel  sittliche  kraft  ge- 
wonnen zu  haben ,  um  sein  unrecht  jetzt  schon  offen  einzugestehen, 
zuletzt  ersehen  wir  es  noch  aus  seinem  mangelhaften  vertrauen  zu 
seinem  recht  (III  3)  und  dem  entscheidungskampf ;  dieser  ist  nur  ein 


350     E,  Plaumann:  Admet  und  Alkestis  und  der  arme  Heinrich. 

Verzweiflungskampf  (III  3) ,  in  welchem  er  gern  den  tod  gefunden 
hätte,  doch  leider  trotz  tapferster  gegenwehr  gefangen  genommen 
wird  (in  7).  was  ihm  nun  das  peinlichste  ist,  er  wird  vor  Heinrich 
geführt,  dessen  äuge  er  trotz  seiner  erblindung  mit  seinem  bösen  ge- 
wissen fürchtet,  willkommen  wäre  ihm  daher  der  todesstosz  ge- 
wesen, den  sein  bruder  auch  gegen  ihn  führen  will,  den  aber  Elsbeth 
durch  ihre  bitten  unmöglich  macht  (III  5).  wie  vernichtet  steht  er 
nun  da;  denn  statt  des  todes  gnade  und  Verzeihung  zu  finden,  darauf 
ist  er  nicht  gefaszt.  jetzt  ist  aber  auch  gleich  sein  ganzes  sinnen 
daraufgerichtet,  wie  er  wohl  sein  unrecht  tilgen  könne,  als  daher 
die  künde  gebracht  wird  (III  7),  dasz  Rudolf  von  Habsburg  zum 
deutschen  kaiser  gewählt  sei,  ist  auch  sein  entschlusz  sofort  gefaszt; 
denn  dieser  name  erweckt  in  ihm,  ebenso  wie  in  den  andern,  die 
hoffnung,  dasz  nun  endlich  wieder  eine  zeit  des  rechts  und  friedens 
eintreten  werde,  weil  nun  wieder  ein  richter  im  reiche  sei.  vor  dem 
throne  also  bei  der  krönung  zu  Aachen  will  er  sein  unrecht  be- 
kennen und  des  bruders  altes  recht  von  neuem  bestätigen  lassen 
(IV  5).  so  geschieht  auch,  und  nun  ist  sein  erster  gang  zum  bruder, 
um  vor  ihm  zu  knien  und  in  begleitung  des  deutschen  reichsheroldes 
diesen  schritt  kund  zu  thun.  —  So  hat  also  auch  Hadmar  sich  selbst 
überwunden  und  sich  seinem  bruder  in  edler  gesinnung  als  eben- 
bürtig gezeigt,  jetzt  wollen  sie  alles  gemeinsam  besitzen  und  ihr 
Wetteifer  soll  nur  aufs  wohlthun  an  andern  gerichtet  sein  (IV  5). 

Elsbeth,  des  bauern  tochter,  ist  betreffs  des  Charakters  im 
allgemeinen  so  gehalten,  wie  im  epos;  sie  ist  das  liebevolle,  opfer- 
freudige, selbstlose  wesen  wie  dort,  dasz  schon  früh  eine  besondere 
Zuneigung  zu  ihrem  herrn  bei  ihr  ohne  ihren  willen  sich  eingeschlichen 
hat,  ersehen  wir  schon  aus  I  6,  wo  Konrad  berichtet,  dasz  sie  schon 
den  tritt  seines  rosses  kenne,  und  als  er  neulich  eine  schleife  ver- 
loren, sie  dieselbe  wie  eine  reliquie  aufbewahrt  habe. 

Der  bauer  Kon r ad  erscheint  insofern  etwas  anders,  als  zwi- 
schen ihm  und  seinem  herrn  eine  entfremdung  dadurch  eintritt,  dasz 
er  die  schuld  an  dem  verschwinden  seiner  tochter,  die  sein  ganzes 
glück,  sein  höchster  schätz  ist,  seinem  herrn  zuschiebt,  weil  er  nicht 
weisz,  dasz  jener  schritt  allein  und  selbständig  von  ihr  gethan  ist.  aus 
der  eile,  mit  der  er  auf  die  künde  von  ihrer  rückkehr  herbeistürzt, 
können  wir  es  ersehen  und  verstehen,  wie  er  gegen  denjenigen  ein- 
genommen sein  muste,  den  er  als  verantwortlich  für  ihr  verschwinden 
ansah. 

Hieronymus  endlich  ist  der  ruhige,  besonnene,  welterfahrene 
lehrer,  arzt  und  freund  Heinrichs,  dessen  herz  für  seinen  zögling 
aufs  wärmste  schlägt;  und  mag  auch  dieser  sein  herz  von  ihm  ab- 
wenden,  er  lebt,  so  schmerzlich  das  ist,  doch  der  hoffnung,  dasz 
derselbe  schlieszlich  doch  wieder  auf  den  rechten  weg  zurückkehren 
werde,  kennt  er  doch  des  Jünglings  herz,  dessen  knabenjahre  er  ge- 
leitet, in  den  er  das  bewustsein  eingepflanzt  hat,  dasz  man  den 
menschen  vertrauen  schenken  dürfe;  sollte  er  da  nicht  selbst  von 


C. Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen.  351 

solchem  vertrauen  erfüllt  sein?  und  er  behält  recht,  denn  aller 
streit,  aller  neid  und  alle  misgunst  löst  sich  in  vertrauen,  liebe  und 
frieden  auf  in  der  familie  und  im  staate;  und  mit  freuden  und  be- 
wustsein  stimmen  wir  ein  in  den  patriotischen  grusz  und  wünsch 
Heinrichs,  den  er  dem  deutschen  reichsbanner  entgegenruft  (IV  5) : 
gegrüszt,  du  kaiserlicher  aar! 

wie  dich  mein  aug',  das  kaum  dem  licht  erschlossen, 
mit  stolz  begrüszt,  so  mögen  künftige 
noch  ungeborene  geschlechter  dich, 
o  deutsches  banner,  stolz  und  freudig  griiszen, 
und  wo  du  wehst,  sollst  du  zum  siege  wehn! 

Danzig.  E.  Plaumann. 

(18.) 

EIN  VERSUCH   DIE    LEHRE  VOM  GEBRAUCH  DER  ZEIT- 
FORMEN,   BESONDERS    IM    FRANZÖSISCHEN,    ZU    VER- 
VOLLSTÄNDIGEN,   ZU    BERICHTIGEN    UND    AUF    IHREN 
GRUND  ZURÜCKZUFÜHREN. 

(fortsetzxing.) 

C.  Einzelne  fälle,  in  denen  der  unterschied  zwischen 
imparfait  und  pass6  döfini  im  deutschen  auf  eine  be- 
sondere weise  wiedergegeben  werden  musz.  wir  haben 
für  das  imp.  und  pass6  defini  nur  ein  imperfectum  und  geben  den 
unterschied  entweder  gar  nicht  wieder,  wie  in:  'gott  war',  'die 
Römer  waren  tapfer',  oder  durch  zusätze  und  indem  wir  uns  anderer 
ausdrücke  bedienen,  einige  dieser  änderungen  und  zusätze  muste  ich 
schon  besprechen ,  um  den  unterschied  zwischen  den  zwei  sprachen, 
wie  zwischen  den  zwei  französischen  Zeitformen  klar  zu  machen,  so 
bei  devait,  fallait  und  dut,  fallut,  und  bei  s'il  en  fut.^'  einige  andere, 
die  mir  aufgefallen  sind,  werde  ich  hier  noch  berühren. 

1.  Vecut=  blieb  am  leben:  eile  eut"  un  second  fils,  qui  fut 
baptise  aussi  et  tomba  malade,  l'enfant  gu6rit  et  v6cut.  Clovis 
s'apaisa  et  fut  un  peu  moins  incredule  ä  Christ,  übersetze:  'und 
war  von  jetzt  an  weniger  ungläubig.'  das  pass6  d6fini  gibt  6tre 
hier  die  bedeutung  von  devenlr."*^  aber  v6cut?  es  heiszthier:  'blieb 
am  leben.'  da  das  kind  schon  lebte,  kann  von  einem  anfang  des 
lebens  in  gewöhnlichem  sinn  nicht  die  rede  sein,  wohl  aber  in  einem 
andern,  man  denkt  sich  den  knaben  schon  als  beute  des  todes:  da 
tritt  auf  einmal,  nach  der  die  entscheidung  bringenden  krisis,  wieder 
das  leben  ein." 

■**  ebenso  bei  donna ,  fit  (von  nun  an)  und  ne  purent  plus  (ver- 
lernten) in  den  zwei  sätzen  aus  Montesquieu). 

*^  eut  =  'bekam'  ward  auch  schon  besprochen. 

■*'  darüber  später. 

**  in  demselben  sinn  das  futur:  rassurez-vous,  lui  dit-il,  eile  vivra 
(Mole-Gentilhomme,  Tora  Frick  VIII). 


352  C,  Humbert  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen. 

2.  Je  fus  =  je  devins  =  ich  ward  oder  wurde,  wie 
das  pass6  d6f.  von  avoir  'ich  erhielt'  bedeuten  kann  =  'ich  fieng  an 
zu  haben',  so  das  von  6tre  'ich  ward'  =  ich  fieng  an  zu  sein,  wie 
je  devins;  doch  ist  es  nicht  ganz  dasselbe,  dies  zeigt  sich  besonders 
in  einer  noch  nicht  angeführten  Übersetzung  der  bibelstelle  'es  werde 
licht  und  es  ward  licht':  Dieu  dit:  que  la  lumiöre  soit  et  la  lumiöre 
f  ut.  devenir  heiszt  'werden';  sein  pass6  d6fini  bezeichnet  daher  nur, 
dasz  dies  werden,  fut  hingegen,  dasz  das  sein  anßeng  und  aus- 
geführt ward;  in  demselben  augenblick,  wo  es  anfieng  licht  zu 
sein,  war  es  auch  schon,  in  devint  tritt,  wegen  seiner  ursprüng- 
lichen bedeutung,  das  allmähliche  immer  noch  hervor,  in  fut  ist  es 
verschwunden,  so  auch  in  dem  satze:  'ce  jour  consacr6  au  plaisir 
fut  le  plus  penible  qu'  Alix  eüt  encore  pas;6  de  sa  vie  (Ancelot,  une 
demoiselle  de  compagnie)',  wo  es  dem  devint  am  nächsten  kommt 
und  'ward  schlieszlich'  übersetzt  werden  kann,  ähnlich :  je  fus 
stup6fait  .  .  .  qui  ne  l'eüt  pas  6t  6  ä  cette  singuliöre  r6v6lation? 
(J.  d'Hervilly,  le  trou  de  vrille,  am  schlusz).  das  plötzliche  der  Um- 
wandlung gibt  die  grösze  der  Überraschung  wieder:  'ich  ward  ganz 
verblüfi't.'  wir  würden  hier  meist  'war'  sagen,  wie  von  einer 
vollendeten  thatsache.  im  gegensatz  zu  dieser  ruhe  und  bewegungs- 
losigkeit  macht  das  lebendige  fut  in  einem  augenblick  den 
Sprung  vom  anfangs-  zum  endpunkt.  in  folgendem  satze  wäre  daher 
fut  nicht  angebracht  gewesen:  l'homme  qui  partout  ailleurs  eüt  6t6 
signal6  comrae  un  vagabond  redoutable,  devint,  dans  ce  lieu 
maritime,  k  demi  sauvage,  l'objet  d'une  sorte  de  culte  et  d'attrac- 
tion  (Desbordes-Valmore,  le  smogler  eh.  1). 

Um  so  mehr  aber  in  folgender  stelle  von  Eugöne  Sue^^:  Nar- 
cisse  dit  ä  son  pöre  Bernard  Gelin:  'je  serai  podte  ...  je  suis 
poöte'.  —  'Sois  donc  poöte'  dit  Bernard  .  .  .  'd'autant  plus', 
ajouta-t  il,  'que  9a  vexera  Jamot  l'6picier,  dont  le  fils  n'est  qu'un 
homme  de  lettres.' 

Et  voilä  comment  Narcisse  fut  poöte.  du  jour,  oü  Narcisse 
fut  poöte,  il  allait  en  coucou  chercher  la  po6sie  aux  Batignolles  etc. 

Das  fut  ist  hier  ebenso  komisch,  wie  in  der  angeführten  bibel- 
stelle erhaben,  und  diese  komik  wird  noch  durch  die  Wiederholung, 
durch  die  vorhergehenden:  serai,  suis  und  sois  gesteigert;  vater  und 
söhn  glauben,  man  könne  im  handuradrehen  dichter  werden;  und 
diese  komik  passt  zu  dem  inhalt  der  ganzen  erzählung.^^ 

Auf  der  suche  nach  poesie  in  der  Wirklichkeit  geht  der  arme 
Narcisse  zur  see;  sein  schiff  wird  eine  beute  der  korsaren,  diese 
werden  von  einem  englischen  kriegsschiff  gekapert  und  er  'mit  ge- 
fangen, mit  gehangen'. 

In  derselben  weise  unterscheidet  sich  fut  von  dem  passe  d6f.  von 
aller  und  arriver,  wo  es  mit  diesem  gleichbedeutend  gebraucht  wird. 


*^  les  Charmes  de  la  poesie  pratique.     chapitre  1. 

•*6  mau  achte  auch  auf  das  dem  fut.  folgende  imparfait:  allait. 


C.  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen.  353 

3.  Je  fus,  je  m'en  fus  =  j'allai,  je  m'en  allai,  j'ar- 
rivai,  ich  gieng  etc.  das  pass6  d6f.  gibt  6tre  oft  die  bedeutung 
von  aller:  11  n'alla  pas  ce  jour-lä  ä  Kensington j  11  s'en  fut  dans  la 
Cit6  remettre  au  courant  ses  livres  de  commerce  en  arriöre  (Mad. 
Desbordes-Valmore,  le  nez  rouge,  am  schlusz).  11  paya  sa  note  et 
s'en  fut  ä  la  gare  (Revue  d.  d,  m.  1/5,  93  s.  80). 

Le  baron,  plein  de  confiance,  fut  au  rendez-vous.  il  fut  re- 
marqu6,  suivi,  assassin6  (histoire  du  manteau  von  einem  anonymus). 

Je  me  levai  et  fus  m'asseoir,  ä  quelque  distance,  sur  une  racine 
qui  se  trouvait  au  bord  du  ruisseau  (une  nuit  chez  les  sauvages, 
anonymus).  je  fus  hier  aux  invalides  (Montesquieu),  je  fus  frapper 
du  m6me  pas  ä  la  porte  d'une  hötellerie  (J.  Janin,  mon  voyage 
ä  Brindes). 

Narcisse,  arrivant  ä  Brest,  fut  droit  chez  le  cousin  (E.  Sue,  les 
Charmes  de  la  po6sie  pi-atique  eh.  l).  eile  repliqua:  ^la  tasse  n'est 
pas  cassee',  et  il  s'en  fut  (=  s'en  alla^',  ohne  weiteren  zusatz). 
(Revue  d.  d.  m.  1/2  s.  646.) 

Et  je  m'en  fus''®,  car  je  n'y  tenais  plus  =  und  fort  war  ich, 
denn  ich  hielt's  nicht  mehr  aus  (6vasion  du  capitalne  Castöla  des 
pontons  anglais). 

In  Voltaires  Charles  12,  livre  4:  'quand  11  fut  vers  le  bourg 
de  Lesno,  le  czar  parut  ä  la  töte  de  40000  hommes'  tritt  mit  dem 
anfangspunkt  zugleich  der  endpunkt  der  bewegung  kräftig  hervor  = 
als  er  anlangte;  fut  ist  viel  energischer,  bebt  die  Schnelligkeit  mehr 
hervor,  als  arriva,  weil  6tre  keine  bewegung  ausdrückt:  er  war  so 
zu  sagen  da,  ohne  gegangen  zu  sein. 

Vergleiche  noch:  sa  peine  fut  perdue  =  gleng  verloren, 

4.  Fut  ==k am  dazu,  erreich  te,  fiel  aus.  I'arm6e  prit  son 
chemin  par  Ferrare  et  Bologne;  eile  fut  sur  le  point,  d'entrer  en 
Toscane,  et  les  Espagnols  ne  juraient  que  par  le  sac  glorleux  de 
Florence;  mais  une  Impulsion  plus  forte  entralnait  les  Allemands 
vers  Rome,  comme  autrefols  les  Goths  leurs  a'ieux  (Michelet, 
Pr6cis  de  l'histolre  moderne:  L6on  X,  Fran9ois  I"^'',  et  Charles-Quint). 
das  beer  gieng  nicht  wirklich  nach  Toskana;  ^fut  sur  le  point' 
drückt  nur  aus,  dasz  man  nahe  an  die  ausführung  des  gedankens 
herankam  und  dies  fieng  an  und  ward  zu  ende  geführt,  übersetze: 
'das  beer  kam  fast  dazu  .  .  .'  dies  war  schon  etwas  bildlich,  rein 
bildlich:  'ma  surprise  fut  au  comble  (=  stieg  auf,  erreichte 
den   höchsten  grad)    lorsque  mr.  de  Pauny  entra'   (Mad.  la  com- 


•"  an  der  stelle:  il  s'eu  alla.  quand  il  fut  parti  .  .  .  können  wir 
fut  nur  mit  'war'  übersetzen  (simple  histoire,  von  d'Arpentigny). 

'^^  von  fus  =  allai  könnte  ich  noc-h  eine  unmasse  beispiele  an- 
führen, ebenso  j'ai  e'te'  =  je  suis  alle';  da  ist  aber  ein  groszer  unter- 
schied, j'ai,  il  a  ^te  deuten  zugleich  an,  dasz  man  zurückgekommen 
oder  von  dem  orte  wieder  fortgegangen,  il  est  alle  wenigstens  nicht' 
(bei  je  suis  alle  kann  man  es  schlieszen  aus  dem  gegensatz  zwischen 
aller  und  venir,  weil  der  redende  zugleich  subject  ist). 


354  C.  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen. 

tesse  d'Ash,  Sorcellerie).  —  Ebenso:  'la  rfeponse  fut  favorable  au 
Genevois  (=  fiel  aus)'  (Mad.  Thierry,  le  souper  de  l'escalade). 

5.  Je  fus  =  ich  blieb,  zeigte  mich  jetzt  oder  von 
nun  an,  und  zeigte  mich  im  allgemeinen,  in  Voltaires 
Charles  XII  livre  4  heiszt  es:  'mais  le  cosaque  fut  fidöle  ä  son 
nouvel  alli6.'  die  Versuchung  zum  abfall  trat  an  ihn  heran  und  ihr 
gegenüber  ward  er  treu  erfunden,  fieng  er  an  seine  treue  zu  zeigen 
bis  ans  ende,  weil  er  es  nun  auch  vorher  gevpesen  war,  deshalb  => 
blieb;  wäre  er  es  nicht  schon  gewesen,  dann  =  zeigte  sich  jetzt 
oder  von  nun  an.  6tait  aber  gienge  nur  auf  die  innere  gesinnung, 
die  als  ein  grund  des  nicbtabfallens  angeführt  würde,  der  schon 
in  seiner  mittleren  dauer  war.'*^  ebenso  bei  Michaud,  P  ci'oisade, 
eh. VI:  'leurs  pr6dications  ne  füren t  pas  inutiles  ==  blieben  nicht 
fruchtlos,  d.  h.  die  Wirkung,  die  noch  kommen,  anfangen  muste, 
blieb  nicht  aus. 

6.  J'eus  la  force==es  gelang  mir,  il  y  eut  =  es  folgte, 
il  eut  ==  er  begieng,  es  wurde(n)  ihm  (=  er  bekam),  es 
wurde  ihm  zu  teil,  je  pris  le  coftret  d'une  main  tremblante, 
j'eus  ä  peine  la  force  de  l'ouvrir  (Mad.  Tastu,  le  bracelet  maure,  in 
der  mitte),  auch  hier  nicht  der  blosze  zustand,  sondern  in  handlung 
umgesetzt,  wie  er  sich  durch  diese  offenbarte;  der  raangel  an  kraft 
fieng  an  sich  äuszerlich  zu  zeigen  und  führte  dies  aus:  'nur  mit 
mühe  gelang  es  mir  ihn  zu  öffnen.' 

II  y  eut  une  minute  affreuse,  pendant  laquelle  nous  n'enten- 
dimes  et  ne  vlmes  rien  =  es  folgte  eine  .  .  .  (Mad.  la  comtesse 
d'Ash,  Sorcellerie). 

Bernadotte  eut  le  tort,  de  vouloir  s'opposer  ä  cette  f6te,  en 
disant  que  c'6tait  une  offense  pour  la  France.  Bernadotte  begieng 
das  unrecht,  oder  versehen,  den  fehler,  sich  diesem  feste  widersetzen 
zu  wollen,  fieng  an  es  zu  thun  und  führte  es  aus  (Thiers).  Condö 
eut  trois  chevaux  tu6s  sous  lui  (Voltaire,  Louis  XIV,  eh.  12).  wieder: 
er  fieng  an,  sie  als  getötete  zu  haben  und  führte  dies  aus,  sie  wurden 
ihm  getötet. 

Nous  eümes  le  plaisir  de  faire  une  centaine  de  pas,  ayant  un 
pied  en  France  et  l'autre  en  Espagne  (Viennet,  voyage  dans  les 
Pyr6n6es  orientales).    wir  hatten  =  es  wurde  uns  zu  teil. 

7.  Je  crus  devoir  =  ich  beschlosz(?).  il  demanda  ä 
M.  Lacombe  un  moment  d'entretien  pendant  la  soir6e.  le  pöre  ne 
c  r  ut  point  devoir  refuser(J.  d'Hervilly,  le  trou  de  vrille,  am  schlusz). 
*ne  croyait  point  devoir'  hiesze,  dasz  zu  der  zeit,  in  die  der  satz 
uns  versetzen  soll,  jene  ansieht  als  solche  schon  und  noch  in  ihrer 
mittleren  dauer  begriffen  war,  'crut'  zieht  den  anfangs-  und  endpunkt 
desselben  in  eins  zusammen,    der  vater  fieng  an  zu  glauben,  er 

*^  in  dem  satz:  'pendant  quelque  temps  eile  fut  fidele  k  .son  excuse' 
blieb  sie  dem  getreu,  hielt  sie  sieh  an  das,  was  sie  als  entschuldigiing 
vorgebracht  hatte  (Charles  de  Bernard,  l'anneau  d'argeut,  IV)  ist  das 
fut  durch  die  Zeitbestimmung  eingeschränkt. 


C.  Hunibert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen.  355 

dürfe  sich  nicht  weigern  und  beschlosz  sich  nicht  zu  weigern,  es 
könnte  sogar  heiszen:  'er  weigerte  sich  wirklich  nicht,  setzte  den 
gedanken  in  that  um.'    doch  darüber  später. 

8.  Je  voulus  =  ich  beschlosz  (mit  dem  infinitiv).  das 
d6fini  von  vouloir  zieht  oft  den  anfangs-  und  endpunkt  des  inneren 
wollens  in  einen  punkt  zusammen,  dann  heiszt  auch  voulut:  'be- 
schlosz'. so  in  den  sätzen:  'Stanislas  voulut  aller  lui  mßme  flechir 
Charles'  (Charles  XII,  livre  7). 

Le  roi  voulut  camper  auprös  de  Bender  (Charles  XII,  livre  5). 

II  voulut  accoutumer  ses  Moscovites  ä  ne  point  connaitre  de 
Saisons'"  et  les  rendre  un  jour  pour  le  moins  6gaux  aux  Su6dois^' 
(Charles  XII,  livre  7). 

9.  Je  voulus  von  der  äuszerlichen  Verwirklichung 
des  wollens  (mit  dem  infinitiv).  fast  eben  so  oft  zieht  voulus  den 
anfangs-  und  endpunkt  des  Versuches  zusammen,  seinem  wollen  aus- 
druck  zu  geben,  sei  es  nur  durch  gebärde,  mienenspiel,  worte  oder 
thaten.  dann  heiszt  es,  wenn  der  nebensatz  dasselbe  subject  hat, 
d.  h.  wenn  ein  bloszer  infinitiv  davon  abhängt:  'ich  sprach  den 
wünsch  aus,  versuchte,  liesz  es  mir  nicht  nehmen,  liesz  mich  dazu 
bewegen;  und  wenn  eine  Verneinung  hinzukommt:  ich  weigerte 
mich.  'M.  Lacombe  voulut  me  reconduire  jusque  sur  le  pallier; 
il  6tait  deux  heures  de  l'aprös-midi;  le  voisin  6tait  sorti  et  (auf  dem 
pallier)  nous  vimes  la  cl6  ä  la  serrure'  (J.  d'Herville,  le  trou  de 
vrille,  am  schlusz).  hier  wird  die  äuszerliche  betbätigung,  Verwirk- 
lichung vom  anfangs-  bis  zum  endpunkt  in  eins  zusammengezogen, 
ebenso  in  den  folgenden  sätzen:  il  n'y  eut  que  le  pape  qui  voulut 
attendre  pour  le  reconnaltre  que  le  temps  eüt  affermi  sur  sa  töte 
cette  couronne  qu'une  disgräce  pouvait  faire  tomber  (Cbai-les  XII, 
livre  4).  er  erklärte,  er  wolle  warten,  bis  .  .  .  =  er  weigerte  sich 
anzuerkennen,  voulut-il?  ==  liesz  er  sich  dazu  bewegen? 
Descartes  voulut-il  jamais  changer  une  ligne  ä  ce  qu'il  avait  6crit? 
(Revue  15/2  93  s.  359)  ==  fieng  er  jemals  an,  ein  solches  wollen  zu 
bethätigen? 

Der  unterschied  zwischen  diesem  voulut  und  voulait  zeigt  sich 
klar  in  folgenden  versen  aus  Racines  Bajazet  I  1 : 
II  se  souvient  toujours  que  son  inimitie 
voulut ^^  de  ce  graiid   corps^^  retranclier  la  moitie', 
lorsque,  pour  affermir  sa  puissance  nouvelle, 
il  voulait^*,  disait-il,  sortir  de  leur  tutelle. 

der  kritiker  GeoflFroy  nannte  daher  dies  'voulut  lorsqu'il  voulait'  mit 
unrecht  une  espöce  de  galimatias.  vergleiche  noch  'le  marquis  la 
pria  d'examiner  avec  attention  s'il  se  trompait.    eile  le  voulut  bien' 

*"  im  ertragen  der  kälte. 
^'  den  Soldaten  Karls  XII. 
"^  'beschlosz'  oder  'versuchte'. 
^■^  der  janitscharen. 

^*  beabsichtigte,   wünschte,     dieser  wünsch  war  schon  vorhanden, 
dann  kamen  jener  entschlusz  und  der  versuch  der  ausführung. 


356  C.  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen. 

=  sie  willigte  ein  (Madame  Riceoboni,  Ernas tine).  'il  voulut 
rester  seul  avec  lui ;  mais  le  vieillard  ayant  d6clar6  qu'il  n'avait  pas 
de  secret  pour  moi,  ce  fut  devant  nous  denx  que  le  jeune  hemme 
s'expliqua  et  nous  sümes  toute  son  histoire  (J.  d'Herville,  le  trou  de 
vrille,  am  schlusz).  'der  junge  mann  wünschte,  sprach  den  wünsch 
aus,  mit  dem  greis  allein  zu  sein.'  da  er  aber  nicht  mit  ihm  allein 
blieb,  dies  nicht  ausführte,  scheint  es  meiner  ansieht  zu  wider- 
sprechen; doch  steht  nicht  rester,  bleiben  selbst,  im  defini,  son- 
dern nur  das  'bleiben  w  ollen'  und  dieses  setzt  sich  wieder  in  that 
um.  der  wille,  ein  wünsch  kann  sich  durch  bloszes  mienenspiel, 
durch  eine  geringe  bewegung  oder  durch  die  spräche  zu  erkennen 
geben;  und  letzteres  liegt  hier  vor. 

Zwischen  dem  bloszen  mienenspiel  und  der  vollständigen  that 
gibt  es  noch  viele  andere  mittelstufen,  in  denen  sich  der  wille  oder 
wünsch  äuszerlich  offenbart  und  die  man  alle  als  'versuch' auffassen 
könnte,  in  dem  satze:  'il  voulut  la  remercier:  mais  sa  voix  se  noya 
dans  les  larmes  (M0I6  Gentilhomme,  Tom-Frick  IX)  läszt  sich  voulut 
geradezu  mit  'versuchte'  wiedergeben. 

Ebenso  vielleicht  in  Michauds  premiöre  croisade  chap.  3: 
'l'empereur  voulut  voir  l'homme  extiaordinaire',  wo  man  voulut 
auch  'verlangte'  übersetzen  kann. 

10.  Voulut  mit  que  =  verlangte,  befahl.  Charles 
voulut  que  le  trait6  s'achevät  aussi  rapidement  qu'il  6tait  descendu 
en  Z6eland  (als  er  seine  landung  bewerkstelligt  hatte).  (Charles  XII, 
livre  2.)  hier  heiszt  voulut  verlangte  oder  befahl,  weil  der  inhalt 
des  nebensatzes  von  andern  ausgeführt  werden  soll,  dasselbe  haben 
wir  in  den  folgenden  beispielen : 

11.  Voulut  mit  que  =  bewirkte,  ebenfalls  umsetzen  des 
gedankens  in  that:  le  hasard  voulut  que  mr.  Morley  eüt  ä  pr6sider, 
le  lendemain,  au  banquet  du  'club  des  quatre- vingts'  (Revue  d.  d. 
m.  1/11  91  s.  183). 

12.  Voulut  mit  que  =  bestimm  te  (vom  letzten  willen, 
testament).  mon  grand-oncle  conserva  son  tralneau  jusqu'  ä  sa 
mort  et  voulut  (bestimmte)  dans  ses  derniers  moments,  qu'il  füt 
remis  ä  ma  mdre,  sa  niöce  ch6rie,  comme  un  souvenir  de  l'heureuse 
Inspiration  de  son  fils  (J.  N.  Bouilly,  le  traineau  aus  'mes  röcapitu- 
lations').  er  fi  eng  an,  seinem  wollen  mündlich  oder  schriftlich 
ausdruck  zu  geben  und  führte  es  aus;  wie  oben  le  hasard,  durch  die 
ereignisse  selbst.'^    und  ebenso  bei  manchen  andern  verben: 


'"^  ebenso  wie  voulut  bezeichnet  manchmal  auch  aima  mieux  das 
umsetzen  des  bloszen  gedankens  in  that.  so  aller  Wahrscheinlichkeit 
nach  in  folgender  stelle  aus  Duruys  histoire  de  France:  'les  ge'n^raux, 
appelcs  au  conseil,  proposaient  de  marcher  sans  retard  sur  cette  ville; 
Louvois  aima  mieux  laisser  des  garnisons  dans  les  places:  l'arme'e 
s'en  trouva  aflfaiblie  et  ses  Operations  retardees.'  der  zusatz:  'das 
beer  ward  dadurch  geschwächt  usw.'  setzt  voraus,  dasz  er  es  nicht 
blosz    in    gedankeu    vorzog,    sondern   wirklich   that.      übersetze    daher: 


C.  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen,  357 

13.  Möritörent  (valurent)  =  verschafften:  l'oraison 
funöbre  de  la  reine  möre  qu'il  pronon^a  en  1667  lui  valut  r6v6ch6 
de  Condom  (Voltaire,  Louis  XIV  über  Bossuet).  les  cheveux  blancs 
de  Sim6on  lui  meriterent  (=  valurent^*')  toute  la  confiance  de 
Pierre  (Michaud  I  croisade  eh.  2).  sie  fiengen  das  thatsächliche 
verdienen  und  wertsein  an  und  führten  dies  aus. 

14.  On  put  faire^man  that  wirklich,  es  gelang,  erst 
mit  der  ausführung  der  thätigkeit  gelangt  auch  das  können  zu 
seinem  endpunkt.  mais  la  nation,  dont  Föducation  n'6tait  pas  faite 
encore,  ne  les  soutint  pas;  la  cour  put  les  chasser  impun6ment  de 
leur  salle  (Duruy,  histoire  de  France  II  133  Hachette).  im  gegen- 
satz  zu  pouvait  drückt  hier  put  aus,  dasz  dieses  durch  die  Verhält- 
nisse ermöglichte  können  (pouvait)  anfieng  sich  äuszerlich  zu 
bethätigen  und  es  ausführte  =  und  so  konnte  man  nun."  ce  fut  ä 
peine  s'il  put  b6gayer  un  nom  .  .  .  (Mol6-Gentilhomme,  Tom-Frick) 
==  nur  mit  mühe  gelang  es  ihm. 

15.  Ils  jugörent  que.  so  kamen  sie  auf  den  gedanken 
(das  vorher  gesagte  brachte  sie  darauf):  ils  jugörent  qu'il  fallait 
donner  aux  soldats  de  la  16gion  des  armes  plus  pesantes  que  Celles 
de  quelque  peuple  que  ce  füt  (Montesquieu,  consid6rations  eh.  2). 
vgl,  je  crus.  aprös  y  avoir  mis  toute  son  application  (auf  die  ver- 
gleichung  eines  bildes  mit  dem  original)  Ernestine  jugea  la  copie 
parfaite  =  erklärte  sie,  es  stimme  ganz  mit  dem  original  überein 
(Madame  Riccoboni,  Ernestine). 

16.  Je  connus  =  ich  erkannte:  k  sa  maniöre  de  me  saluer,  je 
connus  qu'il  avait  6t6  soldat  (d'Arpentigny,  trös  simple  histoire). 

17.  Onvit  =  man  sah  aufkommen,  entstehen:  onvit 
un  nouvel  art  chez  les  Romains,  mais  les  travaux  ne  furent  pas 
(wurden  nicht)  moindres  (Montesquieu  consid6rations  eh.  1).  zu- 
weilen kann  man  sich  nur  helfen,  indem  man  ein  adverbium  hin- 
zufügt.-® 

18.  II  fracassa  =  er  zerschmetterte  infolge  dessen.  Me 
prince  (Cond6)',  erzählt  Duruy  in  seiner  histoire  de  France  'par  un 
mouvement,  detourna  le  coup,  qui  lui  fracassa  le  poignet'.  man 
hielt  ihm  eine  pistole  an  den  köpf;  infolge  seiner  bewegung  aber 
zerschmetterte  man  ihm  nur  das  handgelenk. 

19.  Jenesus==da  wüste  ich  nicht  mehr  (im  gegensatz  zu 
früher),  je  ne  sus  que  penser  de  lui,  lorsqu'il  me  röpondit:  ce  sont 
des  miracles  (Viennet,  voyage  dans  les  Pyr6n6es  orientales).  das 
nichtwissen  fieng  erst  an  und  ward  zugleich  vollendet  infolge  seiner 


Louvois  aber  wollte  es  nicht  oder  weigerte  sich,  er  liesz  besatzungen 
in  den  festen  platzen. 

^^  das  imparf.  würde  heiszen:  hatten  verschafft;  dann  hatte  es 
schon  angefangen. 

"  ebenso  je  crus  =  und  so  glaubte  ich  nun  als  eine  erst  ein- 
tretende folge, 

'*  einige  solche  fälle  haben  wir  schon  erwähnt. 


358  C.  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen. 

antwort.  in  der  bedeutung  'wir  erfuhren'  haben  wir  schon  nous 
sümes  gehabt  {=  wir  fiengen  an  zu  wissen). 

20.  Am  kräftigsten  zeigt  sich  der  unterschied  zwischen  impar- 
fait  und  pass6  d6fini,  wo  ein  imp.  und  ein  p.  d6f.  desselben 
verbums  einander  folgen,  da  w  ird  jenes  ein  deutsches 
plusquampe  rfectum  mit  'früher,  ehemals'  und  dieses 
ein  imperfectum  mit  'nun'  oder  'von  jetzt  an'. 

'Madame  Saint- Omer  occupa  la  mansarde  donnant  sur  la 
cour,  afin  de  n'avoir  pas  sans  cesse  devant  las  yeux  les  crois6es  du 
somptueux  appartement  qu'elle  occupait  en  face,  et  dont^^  on 
faisait  justement  la  vente  du  mobilier  (J.  N.  Bouilly,  les  jeunes 
filles  de  Paris).'  occupait  hier  =  avait  occup6e,  früher  nämlich, 
als  sie  noch  reich  war;  nun  aber  verkaufte  man  ihre  möbel  in  dem 
üppigen  appartement  (auch  imp.),  und  sie  fieng  an  in  die  mansarde 
zu  ziehen  und  führte  dies  aus,  sie  zog  wirklich  in  die  mansarde. 
die  mittlere  dauer  des  occupait  wurde  durch  das  beginnende 
occupa  unterbrochen,  während  das  faisait  la  vente  immer  noch  in 
seiner  mittleren  dauer  war.  'puis,  il  pria,  lui  qui  ne  priait  pas, 
n'ayant  gu§re  su  appr6cier  dans  la  religion  que  sa  force  sociale 
(Revue  d.  d.  m.  lö/lO  92  s.  731).'  er,  der  nicht  zu  beten  pflegte, 
früher  nie  gebetet  hatte,  jetzt  betete  er,  fieng  er  an  zu  beten, 
das  pass6  d6fini  bezieht  sich  hier  nur  auf  den  einzelnen  fall,  es 
könnte  aber  ebenso  vom  beginn  einer  ganz  neuen  lebensweise  gesagt 
werden,  dann  wäre  es  'von  nun  an  betete  er'  zu  übersetzen,  be- 
achte noch  n'ayant  guöre  su  =  da  er  kaum,  infolge  seiner  er- 
ziehung,  gelernt  hatte,  vgl.  das  schon  früher  über  avoir  eu,  su, 
und  connu  bemerkte,  auch  der  imp6ratif  von  savoir  bedeutet  'er- 
fahren', insofern  das  wissen  noch  erst  anfangen  soll:  sachez, 

^'■^  hier  ist  ein  grober  Schnitzer;  der  genitiv  dont  kann  nicht  regiert 
werden    von    einem    subst.  mit  einer  prJiposition  wie  du  mobilier.     über 
dem  accusativ  la  vente  war  dies  wohl  vergessen, 
(fortsetzung  folgt.) 
Bielefeld.  C.  Hümbert. 


24. 

LATEINISCH-DEUTSCHES  SCHULWÖRTERBUCH  VON  F.  A.  HeINICHEN. 
SECHSTE  VERBESSERTE  AUFLAGE,  BEARBEITET  VON  C.  W AGENER. 

Leipzig  1897.    B.  G.  Teubner. 

Auf  das  an  sich  gut  eingeführte  Schulwörterbuch  von  Heinichen 
jetzt,  wo  es  zum  sechsten  male  aufgelegt  ist,  von  neuem  hinzuweisen, 
liegt  genügender  anlasz  vor.  nachdem  nemlich  die  vierte  und  fünfte 
aufläge  von  A.  Draeger  besorgt  waren,  der  in  der  vorrede  zur 
vierten  aufläge  von  sich  rühmen  konnte,  er  habe  mehr  als  50000  Ver- 
besserungen an  dem  buche  vorgenommen,  ist  das  buch  nunmehr  in 
die  pflege  Carl  Wageners  in  Bremen  gekommen,  es  wird  bei  ihm 


F.  Fügner:  anz.  v.  Heinicheu- Wagener  latein.  Wörterbuch.      359 

gut  aufgehoben  sein,  er  widmet  ihm  seine  reiche  belesenheit  in  der 
römischen  litteratur,  seine  gründlichen  kenntnisse  auf  dem  gebiete 
der  formenlehre,  seine  erstaunliche  arbeitskraft  und  arbeitsfreudig- 
keit.  die  sind  auch  dem  buche  zugute  gekommen,  so  dasz  es  in  der 
tliat  in  verbesserter  aufläge  vorliegt. 

Die  neuarbeit  des  herausgebers  besteht  in  folgendem,  voraus- 
geschickt ist  dem  eigentlichen  wörterbuche  ein  'kurzer  abrisz  der 
römischen  litteratur  und  Stilistik',  ähnlich,  aber  kür/er  als  bei 
Stowasser.  diese  einleitung  ist  programmgemäsz  und  sorgfältig 
gearbeitet,  s.  XI — XXVII  in  je  zwei  spalten  und  in  84  paragraphen. 
nicht  jeder  wird  von  einem  Schulwörterbuch  solche  beigäbe  ver- 
langen, aber  sie  sich  gefallen  lassen,  wenn  sie  so  anspruchslos  und 
vorsichtig  auftritt,  wie  die  gäbe  Wageners.  da  die  schüler  ein- 
leitendes über  die  autoren  jetzt  wohl  überall  in  ihren  ausgaben 
finden  und  einen  überblick  über  die  wichtigsten  stilistischen  dinge 
in  ihren  grammatiken,  so  bedürfen  diese  einer  solchen  einleitung 
kaum,  wohl  aber  solche,  die  latein  für  sich  treiben,  erfordernis  wäre 
blosz  eine  einigermaszen  gesprächige  deutung  der  abkürzungen,  und 
soweit  solche  auf  litterargeschichtliche  und  grammatisch-stilistische 
dinge  eingehen  müste,  wäre  dann  auch  von  diesen  zu  sprechen,  wie 
gesagt,  man  würde  wohl  den  'kurzen  abrisz'  nicht  vermissen,  wenn 
er  fehlte,  da  er  aber  gebracht  ist,  nimmt  man  ihn  ganz  gern  mit  in 
den  kauf. 

Das  Wörterbuch  selbst  ist  nur  um  wenige  selten  vermehrt,  aber 
im  einzelnen  sorgfältig  revidiert,  neue  schriftsteiler  sind  nicht  heran- 
gezogen, aber  auch  keiner,  selbst  Plautus  nicht,  gestrichen,  für  die 
beibehaltung  dieses  dichters  spricht  nicht  allein  der  grund,  den  der 
herausgeber  in  der  vorrede  angibt,  sondern  mehr  wohl  noch  der, 
welchen  Heinichen  zur  ersten  aufläge  aussprach :  die  entwicklung 
der  bedeutungen  und  constructionen  läszt  sich  in  der  that  nur  unter 
berücksichtigung  des  Plautus  annähernd  genau  darstellen,  gerade 
auf  die  logische  oder  psychologische  abfolge  der  bedeutungen  hat 
W.  sorgsam  geachtet  und  manches  in  diesem  stücke  verbessert,  viele 
belege  hat  er  offenbar  nachgeprüft,  manchen  gestrichen,  der  minder 
lehrreich  war,  andere  nach  den  besten  kritischen  ausgaben  ver- 
bessert, was  Wortlaut  und  Orthographie  anlangt,  ferner  ist  das 
wichtigste  aus  der  formenlehre  hinzugefügt,  was  dankbar  zu  be- 
grüszen  ist.  auszerdem  sind  die  artikel  über  eigennamen  vermehrt, 
so  dasz  der  schüler  nun  die  allererste  künde  über  die  namen,  die  bei 
der  präparation  aufstoszen,  schon  im  lexikon  finden  kann.  Voll- 
ständigkeit ist  hier  wohl  nicht  beabsichtigt,  sonst  wäre  bei  aller 
schon  vorgenommenen  Vermehrung  doch  nocb  manches  nachzutragen, 
beschränkung  in  diesen  mehr  abseits  liegenden  dingen  ist  gewis  heil- 
sam und  notwendig,  wenn  die  schriftstellerausgaben  zweckmäszige 
namenverzeichnisse  führen,  nicht  blosze  namen  mit  einigen  stellen- 
angaben, so  braucht  der  schüler  auch  solche  aufschlüsse  nicht  im 
lexikon  zu  suchen,  wo  sie  streng  genommen  nicht  vermutet  werden. 


360      F.  Fügner:  anz.  v.  Heinichen-Wagener  latein.  Wörterbuch. 

Sehr  zu  billigen  ist  die  Zurückhaltung  des  herausgebers  in 
fragen  der  etymologie  und  Semasiologie,  die  schule  hat  gesichertes 
zu  bieten ,  aber  nicht  auf  fragliches  einzugehen,  der  herausgeber 
hoflft,  und  wir  mit  ihm,  dasz  die  nähere  Zukunft  auf  beiden  gebieten 
feste  ergebnisse  zeitigen  werde,  von  denen  auch  ein  Schulwörterbuch 
nutzen  ziehen  dürfe,  an  Stowassers  Wörterbuch  ist  die  Verwertung 
der  etymologie  bekanntlich  nicht  seine  stärkste  seite.  dasz  übrigens 
Wagener  semasiologischen  erwägungen  durchaus  nicht  abhold  ist 
und  spuren  seiner  Vertrautheit  mit  den  bedingungen,  unter  denen 
sich  der  wortsinn  wandelt,  überall  begegnen,  ist  schon  oben  an- 
gedeutet. 

Entschiedene  billigung  verdient  das  vorgehen  Wageners,  alle 
vocale ,  auch  die  in  positionssilben,  mit  kürzen-  und  längenbezeich- 
nungen  zu  versehen,  auf  die  Orthoepie  ist  der  gröste  wert  zu  legen, 
und  jede  Unterstützung,  die  das  streben  des  lehrers  erfährt,  wirk- 
liches latein  zu  sprechen  und  zu  lehren ,  ist  dankbarst  zu  begrüszen. 
nun  ist  aus  Wageners  angaben  zu  ersehen,  dasz  die  fälle,  in  denen 
wir  nichts  bestimmtes  über  die  quantität  des  vocals  wissen,  nur  noch 
gering  an  zahl  sind,  es  gibt  ja  lehrer,  die  einen  wahren  horror  vor 
quantitätszeichen  haben  und  es  fast  für  ein  crimen  laesae  halten, 
wenn  der  für  die  band  und  das  äuge  des  Schülers  bestimmte  schrift- 
stellertext  solche  zugaben  bekommt,  aber  diese  werden  sich  nach  und 
nach  beruhigen,  wenn  sie  sehen,  dasz  die  gefürchtete  denkfaulheit 
ausbleibt  und  die  ausspräche  des  latein  sich  bessert,  ist  doch  die 
richtige  ausspräche  einer  frcmdsprache  kein  entbehrlicher  schmuck 
des  Unterrichts,  sondern  eine  gewichtige  förderung  des  richtigen 
Verständnisses. 

Auch  die  Übersichtlichkeit  ist  in  der  neuen  aufläge  gestiegen, 
namentlich  durch  anwendung  des  fettdrucks  für  angäbe  der  einzelnen 
abschnitte  der  artikel.  ich  finde  nur  ,  man  müste  die  fetten  ziffern 
und  buchstaben  nicht  auch  für  Verweisungen  gebrauchen ,  denn  da- 
durch werden  leicht  Irrtümer  erweckt,  das  schülerauge  ist  ja  noch  so 
mangelhaft  geschult,  deshalb  wären  auch  öftere  absätze  wünschens- 
wert, z.  b.  contemplatio,  contemplator,  contemplatu  und  contemplor 
müsten  nicht  einen  artikel  bilden,  ist  es  doch  auch  z.b.  bei  ostentatio, 
ostentator,  ostento  nicht  geschehen. 

Wenn  schon  bisher  das  Schulwörterbuch  von  Heinichen  zu  den 
brauchbarsten  gehört  hat,  so  gilt  dies  für  die  neueste  aufläge  noch 
in  höherem  grade,  vielleicht  legt  die  entwicklung  des  lateinunter- 
richts  dem  herausgeber  später  einmal  die  frage  näher,  ob  der  kreis 
der  zu  berücksichtigenden  Schriftsteller  nicht  zu  weit  gezogen  und 
dafür  ein  engerer  kreis  um  so  genauer  darzustellen  sei,  aber  er  kann 
solchen  möglichkeiten  auf  grund  der  jetzigen  gestalt  des  buches  mit 
ruhe  entgegensehen. 

Hannover.  Fkanz  Fügner. 


ZWEITE  ABTEILUNG 

FÜR  GYMNASIALPÄDAGOGIK  UND  DIE  ÜBRICtEN 

LEHEFÄCHEß 

MIT    AUSSCHLÜSZ    DER    CLASSISCHEN    PHILOLOGIE 

HERAUSGEGEBEN   VON   PROF.    DR.    RiCHARD   RiCHTER. 


(16). 

QUINTILIAN     ALS     DIDAKTIKER    UND    SEIN    EINPLUSZ 

AUF    DIE    DIDAKTISCH- PÄDAGOGISCHE    THEORIE    DES 

HUMANISMUS. 

(fortsetznng'.) 


II.   Agricola,  AViniplieliug,  Bebel,  Murmeilius. 

Im  Ciceronianus  urteilt  Erasmus  ül3er  Rudolf  Agricola 
also:  agnosco  virum  divini  pectoris,  eruditionis  reconditae,  stilo 
minime  vulgari,  solidum,  nervosum,  elaboratum,  compositum,  sed 
qui  nonnihil  resipiat  et  Quintilianum  in  eloquendo  et  Isocratem  in 
orationis  structura  utroque  tarnen  sublimior,  Quintiliano  etiam  fusior 
ac  dilucidior.  quod  voluit  praestitit  nee  dubito,  quin  Ciceronis 
figuram  potuisset  effingere,  si  huc  vertisset  omne  Studium,  dieses 
ehrenvolle  urteil  des  bumanistenfürsten  über  Agricola  mag  uns 
einerseits  zum  beleg  dienen  für  dessen  bedeutung,  anderseits  weist 
es  auf  ein  nahes  Verhältnis  Agricolas  zu  Quintilian  hin,  ein  solches 
constatiert  auch  sein  biograph  Johann  von  Plenningen,  wenn  er  be- 
merkt: Quintilianique  lectioni  praecipue,  quem  quidem  dictione  sua 
fere  effingit  atque  exprimit,  animum  applicuit."^  man  wird  von 
vorn  herein  vermuten  dürfen,  dasz  sich  dieser  enge  ansehlusz  an 
Quintilian  nicht  allein  auf  das  formelle  beschränkt  habe.  Agricolas 
Schriften  bestätigen  dies,  vor  allem  sein  bedeutendstes  werk,  die 
drei  bücher  de  inventione  dialectica.  sie  bieten  nach  dem  com- 
petenten    urteile  Prantls"^    'lediglich    eine   Ciceronianisch-Quinti- 

^'•^  ich  entnehme  die  stelle  dem  buche  Hartfelders,  Melanchthon 
als  praeceptor  Germaniae,  s.  329  anm.  3,  der  verweist  auf  Naumanns 
Serapeum  X  1849,  s.  102.  —  Wir  erfahren  auch,  dasz  Agricola  während 
seines  aufenthalts  in  Ferrara  den  ganzen  Quintilian  abschrieb.  G.  Ihm  in 
der  einleitung  der  unten  zu  erwähnenden  Übersetzung  s.  11. 

^'*  geschichte  der  logik,  bd.  IV  s.  167.  doch  wird  dieses  urteil 
dem  buche  vielleicht  nicht  ganz  gerecht,  zunächst  gibt  es  seinem  inhalt 
nach  mehr,  die  topik  ist  lediglich  in  buch  1  (de  locis)  und  buch  2 
N.  Jahrb.  f.  phil.  u.  päd.  II.  abt.  1897  hft.  8.  24 


362  A.  Messer :  Quintilian  als  didaktiker. 

lianische  topik'.  eine  nähere  betrachtung  dieser  schrift  und  ihrer 
abhängigkeit  von  Quintilian  gehört  aber  nicht  in  den  bereich 
unserer  Untersuchung,  die  sich  auf  das  pädagogisch- didaktische  ge- 
biet beschränkt,  uns  interessiert  hier  lediglich  sein  brief  de  for- 
mando  studio"'  (1484).  der  anlehnungen  an  Quintilian  sind  hier 
nicht  gerade  viele,  er  spricht  im  ersten  teil  (s.  53 — 58)  von  den 
zielen  und  Stoffen  der  bildung.  durchaus  im  mittelpunkt  steht  ihm 
die  Philosophie,  sowohl  die  moralphilosophie ,  die  in  der  hl.  schrift 
ihre  norm  findet,  als  auch  die  naturphilosophie,  der  sich  alsdann  die 
verschiedensten  Wissensgebiete:  geographie,  botanik,  kriegswesen, 
architektur,  maierei  usw.  angliedern  können  (s.  56).  gleichzeitig 
aber  musz  erworben  werden  die  gäbe  schöner  darstellung,  die  er  'in 
zweiter  linie  als  das  wichtigste  erachtet'"*  (s.  57).  allerdings  wird 
die  eloquentia  in  den  schluszbemerkungen  (s.  62  f.)  sehr  in  den 
Vordergrund  gestellt,  er  spricht  es  hier  geradezu  aus,  dasz  er  in  den 
alten  Sophisten  mit  ihrer  fertigkeit  über  jegliches  thema  in  beliebiger 
ausdehnung  zu  reden,  sein  bildungsideal  sehe."'    das  stimmt  nun 


(de  locorum  usu)  behandelt,  dienen  diese  beiden  bücher  mehr  dem 
hauptzwecke  des  redners,  dem  docere,  so  faszt  das  dritte  buch  zunächst 
die  beiden  andern  zwecke,  das  movere  und  delectare,  ins  aug^e  und 
handelt  deshalb  de  affectibus,  de  copia  et  brevitate,  ferner  erörtert  es 
die  dispositionsichre.  —  Auch  ist  das  urteil  Prantls  nicht  so  zu  ver- 
stehen, als  ob  Agricola  dem  Quintilian  sklavisch  folge,  vielmehr  be- 
währt er  vielfach  ihm  gegenüber  sein  selbständiges  urteil,  über  Quin- 
tilians  behandlung  der  loci  (in  buch  5)  urteilt  er  (I  c.  3):  Quintilianus 
deinde  in  V.  Institutionis  tradidit  eos,  magis  (quantum  videtur)  ut  ob- 
servatum  aliis  sequeretur  morem,  quam  quia  putaret  ad  institutum  suum 
magnopere  pertinere.  itaque  est  videre  ab  dialecticis  rhetoribusque 
acceptoa  locos  permixtos  ab  eo  et  in  unum  confusos  acervum. 
b.  II  c.  25  zieht  er  die  grenzlinie  zwischen  rhetorik  und  philosophie 
(oder  dialektik)  und  weist  nur  die  elocutio  der  rhetorik  zu,  polemisiert 
gegen  die  auffassung:  oratorem  vel  rhetora  esse,  qui  de  qualibet  re 
posset  apte  ornateque  dicere,  und  meint,  Cicero  und  Quintilian  redeten 
zwar  anders,  seien  im  gründe  aber  derselben  ansieht  wie  Aristoteles 
und  Hermogenes,  die  die  rhetorik  auf  die  civiles  quaestiones  be- 
schränkten; b.  I  c.  2  lanterscheidet  er  in  der  dialektik  von  der  inventio 
das  iudicium  gegen  die  ansieht  Quintilians  VI  5.  b.  III  c.  8  betont 
er  in  ausdrücklichem  gegensatz  zu  Quintilian  (VII  pr.),  dasz  sich 
auch  für  die  dispositio  allgemeine  regeln  aufstellen  lieszen.  —  Bei- 
läufig sei  bemerkt,  dasz  das  schluszcapitel  des  dritten  buches  auch 
manche  didaktische  winke  enthält,  die  sich  zum  teil  an  Quint.  VII  10 
anlehnen. 

^'^  ich  benutze  den  abdruck  in:  Rodolphi  Agricolae  Phrysii  non- 
nuUa  opuscula.  Anuerpiae  1511.  die  citate  beziehen  sich  auf  die  Über- 
setzung von  G.  Ihm  in  dem  15n  band  der  'Sammlung  der  bedeutendsten 
pädagogischeu  schritten'  (Paderborn  bei  Schöningh). 

3'6  ut  una  opera  et  rerum  noticia  tibi  et  quod  post  eam  proxi- 
mum  feci  commode  eloquendi   ratio  contingat, 

3^'  die  stelle  ist  um  so  auffallender  als  sonst  bei  den  humanisten 
die  bezeichuung  'sophisteu'  für  die  Scholastiker  gewissermaszen  stehend 
ist,  es  zeigt  Agricolas  klares  urteil,  wenn  er  hier  —  freilich  ohne  es 
eigentlich  zu  wollen  —  der  sache  den  richtigen  namen  gegeben  hat. 
denn    in    der    that    ähneln    die    Sophisten   (allerdings   in   noch   höherem 


A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker.  363 

allerdings  nicht  überein  mit  dem  bildungsideale  Quintilians,  dem 
vir  ille  vere  civilis  et  publicarum  privatarumque  rerum  administra- 
tioni  accommodatus,  qui  regere  consiliis  urbes,  fundare  legibus,  emen- 
dare  iudiciis  possit  (I  pr.  §  10).  ebenso  wenig  harmoniert  die  cen- 
trale Stellung,  die  Agricola  (und  mit  ihm  die  meisten  humanisten) 
der  Philosophie  (natürlich  nicht  der  scholastischen!)  zuweisen, 
mit  der  ansieht  Quintilians,  der  in  ihr  nur  eine  hilfswissenschaft  der 
rhetorik  sieht.  "^ 

Durchaus  originell  ist,  was  Agricola  bei  dieser  gelegenheit  über 
die  Verwendung  der  muttersprache  zum  zwecke  der  (lateinischen) 
eloquentia  sagt  (s.  57).  wenn  er  ebenda  betont,  dasz  man  zunächst 
das  recte  latineque,  dann  erst  das  ornate  dicei'e  lernen  müsse,  so  ist 
das  eine  so  oft  ausgesprochene  mahnung,  dasz  er  sie  nicht  erst  aus 
Quintilian  (etwa  VIII  pr.  §  18.  19  u.  ö.)   zu  entnehmen  brauchte. 

Der  erste  teil  der  schrift  enthält  also  keinen  gedanken,  den  wir 
notwendig  auf  Quintilian  zurückführen  müsten,  dagegen  zeigt  der 
zweite,  die  erörterung  des  Verfahrens  beim  studium,  an  einzelnen 
stellen  anlehnung  an  jenen,  zugleich  bezeugt  er  aber  auch  wieder 
Agricolas  selbständiges  urteil. 

Hatte  z.  b.  Guarino^'^  in  seiner  philologischen  genauigkeit  ge- 
fordert, über  keine  stelle,  die  man  nicht  völlig  verstanden  hinweg- 
zugehen, so  rät  Agricola  (s.  58)  gerade,  zunächst  darüber  hinweg- 
zulesen, oft  komme  die  aufklärung  aus  einem  andern  buche  oder 
sonstwie  gelegentlich,  sie  stelle  sich  unter  umständen  auch  bei  einer 
spätem  nochmaligen  lectüre  ein.  schlieszlich  sei  es  aber  auch  kein 
Unglück  eine  stelle  einmal  nicht  zu  verstehen;  wobei  er  an  Quin- 
tilians witziges  wort  erinnert:  ex  quo  mihi  inter  virtutes  gramma- 
tici  habebitur  aliqua  nescire  (I  8,  2).  in  diesem  punkte  zeigt  sich 
Agricola  als  der  echte,  geistesverwandte  schüler  Quintilians, 
nicht  Guar  in  0.  was  er  (s.  59  f.)  über  die  ausbildung  des  ge- 
dächtnisses  und  speciell  über  den  wert  der  mnemotechnik  sagt,  deckt 
sich  mit  den  ausführungen  Quintilians  XI  2,  auf  den  (XI  2,  40)  er 
auch  ausdrücklich  hinweist,  dagegen  ist  eine  kleine  abweichung  von 
demselben  zu  constatieren  in  der  kurz  vorhergehenden  erörterung 
(s.  58),  wo  er  als  die  drei  hauptmomente  der  wissenschaftlichen  be- 

grade  die  Vertreter  der  sogenannten  jüngeren  sophistik  in  der  römi- 
schen kaiserzeit)  den  humanisten  weit  mehr  als  den  Scholastikern, 
s.  Paulsen,  geschichte  des  gelehrten  Unterrichts,  2e  aufl.  (1896)  I  s.  69. 

^^^  ich  erwähne  von  den  zahlreichen  hierher  gehörigen  stellen  nur 
eine,  die  sich  gerade  an  die  vorher  citierte  anschlieszt  (I  pr.  §  11): 
quare  tametsi  me  fateor  usurum  quibusdam,  quae  philosophorum  libris 
continentur,  tarnen  ea  iure  vereque  contenderim  esse  operis  nostri 
proprieque  ad  artem  oratoriam  pertinere. 

^^ä  fol.  10^.  Guarino  entnahm  dies  den  früher  erwähnten  studien- 
regeln  seines  vaters.  vgl.  Rösler  a.  a.  o.  s.  138.  übrigens  mochten 
der  dunklen  stellen  damals  mehr  auftreten  als  in  einer  mit  commen- 
taren  reich  ausgestatteten  zeit.  —  Auch  Sturm  hat  sich  über  die  vor- 
liegende frage  einmal  ausgesprochen  (in  der  schrift  nobilitas  litterata 
c.  15). 

24* 


364  A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

thätigung  hervorhebt:  richtig  auffassen,  treu  bewahren,  selbständig 
producieren,  er  fährt  fort;  primum  diligentis  lectionis  est  opus, 
secundum  fidae  memoriae,  tertium  assiduae  exercitationis. 

Quintilian  schreibt  sowohl  das  auffassen  als  auch  das  behalten 
dem  gedächtnis  zu^''"  und  für  das  eigne  producieren  fordert  er  — 
die  entsprechende  naturanlage  vorausgesetzt  —  auszer  der  exer- 
citatio  die  ars,  welche  noch  die  imitatio  in  sich  begreift. 

Die  besprechung  der  vorher  bezeichneten  drei  stufen :  auffassen, 
behalten,  producieren  bildet  übrigens  den  zweiten  teil  der  scbrift; 
besonders  der  letzte  punkt  wird  ausführlicher  erörtert  (s.  60 — 63). 
es  sind  dazu  umfangreiche  Sammlungen  unter  bestimmten  rubriken 
anzulegen  (eine  forderung,  die  uns  z.  b.  auch  bei  Guarino  entgegen- 
tritt) und  dieselben  sind  oft  durchzugehen,  um  ein  präsentes  wissen 
zu  erzielen,  ferner  ist ,  um  das  eigne  denken  und  die  eigne  produc- 
tion  anzuregen,  der  aufgenommene  stoff  allseitig  zu  erwägen,  dia- 
lektisch zu  verarbeiten  (was  an  einem  beispiele  gezeigt  wird),  die 
eigne  production  nämlich  —  und  zwar  in  erster  linie  die  schrift- 
stellerische —  wird  im  verlaufe  dieses  gedankenganges  (s.  60)  als 
das  eigentliche  ziel  der  bildungsarbeit  hingestellt.^^'  dieser  zug 
musz  also  noch  in  das  oben  bezeichnete  bildungsideal  Agricolas  ein- 
gefügt werden,  das  sich  demnach  jetzt  darstellt  als  der  rastlos 
Wissensstoff  (aus  büchern!)  in  sich  aufnehmende  und  ihn  (ledig- 
lich dialektisch!)  verarbeitende  gelehrte,  der  im  stände  ist,  sein 
wissen  jederzeit  durch  rede  und  schrift  zur  darstellung  zu  bringen 
und  der  darin  seine  eigentliche  lebensaufgabe  erblickt, 

Agricolas  brief  will,  abgesehen  von  der  aufstellung  dieses 
bildungszieles^'^*,  den  dahin  führenden  weg  nur  in  den  letzten 
Stadien  selbständigen  Studiums  schildern,  wie  die  sittlich -religiöse 
und  körperliche  ausbildung,  so  bleibt  auch  der  schulmäszige  Unter- 
richt —  der  ja  bekanntermaszen  Agricola  ein  greuel  war  —  un- 
berücksichtigt, so  boten  denn  gerade  die  partien  Quintilians,  in 
denen  er  sonst  stark  benutzt  wurde  —  man  denke  z.  b.  an  seine  er- 


•''80  I  3,  1  eius  (sc.  memoi-iae)  duplex  est  virtus,  facile  perclpere 
et  fideliter  continere. 

äßi  er  will  zeigen,  quo  pacto  ex  iis  quae  discendo  percepimus  ipsi 
excudere  aliquid  proferreque  valeamus.  hie  praecipuus  esse  videtur 
laboris  soUicitudiuisque  in  studia  collatae  fr  actus,  quodsi  nihil  ipsi 
ad  posteros  mandare  poterimus  nihil  extra  ea  quae  didicimus  ad  prae- 
sentes  proferre,  quid  tandem  inter  librum  et  uos  iutererit,  nisi  quia 
liber  ea,  quae  semel  in  illum  congesta  sunt,  bona  fide  semper  servat 
redditque  ...  er  sieht  also  in  der  aufnähme  des  bildungsstoffes  nur 
ein  —  mühevolles  —  aufhäufen,  dessen  einziger  zweck  darin  besteht 
das  aufgenommene  für  mit-  und  nachweit  wieder  von  sich  zu  geben, 
der  gedanke,  dasz  es  noch  andere  motive  für  die  bildungsarbeit  gibt 
und  dasz  sie  diese  zwecke  verfolge,  die  lediglich  in  der  ausgestal- 
tung  des  subjectes  sich  vollenden  —  tritt  nicht  hervor. 

3*2  für  Agricolas  ansieht  von  der  philosophie  als  der  centralwissen- 
schaft  vgl.  auch  seine  klare  und  schwungvolle  rede  ^über  die  philo- 
sophie', deren  Übersetzung  Ihm  a.  a.  o.  s.  31 — 51  bietet. 


A.Messer:  Quintilian  als  didaktiker.  365 

örterung  des  Verhältnisses  zwischen  lehrer  und  Schüler  —  für  Agricola 
hier  keine  anknüpfungspunkte.  dieser  umstand  mag  mit  zur  er- 
kläi'ung  dienen,  dasz  in  der  vorliegenden  schrift  die  anlehnungen 
an  Quintilian  seltener  sind,  als  sich  bei  der  nahen  beziehungAgricolas 
zu  ihm  an  sich  erwarten  liesze. 

JacobWimpheling^-^  soll  folgendes  gebet  gern  gesprochen 
haben : 

du  mittler  Jesus! 

sei  gnädig  mir  armen  sünder, 

der  ich  des  gemeinen  nutzens, 

der  einigkeit  der  Christen, 

der  heiligen  schrift, 

und  dasz  die  Jugend  recht  auferzogen  werde, 

ein  liebhaber  bin. 

es  sind  darin  deutlich  die  'groszen  gegenstände'  bezeichnet,  denen 
sein  leben  gewidmet  war:  i'eligion,  Vaterland,  Jugenderziehung,  da- 
mit ist  aber  schon  gegeben,  dasz  die  religiös-sittliche  er- 
ziehung  ihm  besonders  am  herzen  liegt,  dabei  war  er  aber  weit 
entfernt  den  wert  der  wissenschaftlichen  bildung  zu  ver- 
kennen, so  legt  er  z.  b.  im  Stylpho^^^  (1480)  dem  Vincentius  die 
Worte  in  den  mund:  tolle  universitates  et  tolles  Romam  et  papam 
opprimes  et  clerum  gregemque  per  devia  coges  aberrare  (s.  9).  in 
den  schluszworten  dieser  schulcomödie  begründet  er  eingehend  die 
mahnung:  tria  vobis  vehementer  amplectenda  sunt:  ars,  imitatio  et 
exercitium  (s.  16) ,  ein  satz,  der  uns  zeigt ,  dasz  er  über  die  bei  bil- 
dung und  erziehung  wirksamen  factoren  gerade  so  dachte  wie  Quin- 
tilian. er  hat  übrigens  auch  über  den  u  nter  rieht  mehrfach  sich 
ausgesprochen  und  vor  allem  auf  Vereinfachung  und  rationellere  ge- 
staltung  desselben  gedrungen,  je  mehr  er  auf  die  bestehenden  Ver- 
hältnisse rücksicht  nimmt  und  wirklich  ins  einzelne  gehende,  prak- 
tisch realisierbare  vorschlage  macht  —  so  gibt  er  z.  b.  im  Isidoneus 
genaue  anweisung,  welche  teile,  ja  welche  verse  des  doctrinale  zu 
behandeln,  welche  zu  überschlagen  seien  —  um  so  weniger  war  ihm 
mit  einfacher  herübernahme  von  gedanken  und  ratschlagen  aus 
älteren  Schriften  gedient,  gleichwohl  können  wir  nachweisen ,  dasz 
er  Quintilian  und  einzelne  der  schon  besprochenen  Schriften  italieni- 
scher humanisten  gekannt  und  benutzt  hat. 

In  dem  Isidoneus ^*^  (1497)   dürfte  lediglich  der  abschnitt 

283  die  meisten  hier  in  betracht  kommenden  Schriften  sind  übersetzt 
von  J.  Freundgen  im  13n  band  der  'sammlung  der  bedeutendsten 
pädagogischen  Schriften  aus  alter  und  neuer  zeit',  die  bei  Schöningh  in 
Paderborn  erscheint. 

3^''  Stylpho,  herausgegeben  von  Hugo  Holstein.  Berlin  1892 
in  der  Sammlung:  'lateinische  litteraturdenkmäler  des  15n  und  16n  Jahr- 
hunderts, herausgegeben  von  Max  Herrraann  und  Siegfried  Szaraatolski, 

2*^  ich  benutze  eine  ausgäbe  mit  dem  titel:  Isidoneus  Germanicus 
ad  R.  P.  D.  Georgium  de  Gemmingen  Spireusem  praepositum  Jacobi 
Vympfelingi  Sletstatini.  Argentorati  1508  per  Henricum  Gran.  —  Die 
citate  mit  angäbe  einer  Seitenzahl  beziehen  sich  auf  die  Übersetzung. 


366  A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

über  die  eigenschaften  eines  guten  lehrers^®^  in  engem  anschlusz  an 
Quintilian  II  2  gearbeitet  sein,  bei  der  besprechung  der  körper- 
lichen Züchtigung  weist  er  ausdrücklich  auf  Quintilian  (I  3,  13 — 18) 
und  Enea  Silvio  hin  (s.  168  f.).  die  mahnungen  an  den  fort- 
geschritteneren Schüler,  Ordnung  zu  halten  im  Studium,  zur  gewin- 
nung gröszerer  Sicherheit  selbst  zu  lehren  (s.  164),  das  tagespensum 
abends  zu  repetieren  (s.  170)  haben  wir  ebenso  bei  Guarino  gefunden, 
dessen  schrift  hat  Wimpheling  sicher  gekannt,  denn  im  schluszwort 
weist  er  zur  ergänzung  seines  buches,  das  unvollständig  und  eilig 
abgefaszt  sei,  auf  Guarino  und  daneben  auf  Basilius'  uns  bekannte 
schrift,  auf  Enea  Silvio  u.  a.  hin  (s.  173).  ebenda  nennt  er  auch 
nochmals  Quintilian  unter  den  heidnischen  Schriftstellern,  die  sich 
besonders  um  erziehung  verdient  gemacht  hätten. 

Die  schrift  Agatha rchia  1498  zeigt  keine  anlehnung  an 
Quintilian,  ebenso  wenig  die  Adolescentia  (1500);  es  ist  das 
schon  darin  begründet,  dasz  der  Inhalt  beider  ethischer  natur  ist.  — 
es  mag  hier  jedoch  daraufhingewiesen  werden,  dasz  die  letztere 
lediglich  eine  weitere  ausführung  dessen  ist,  was  Ver- 
gerio  in  seiner  abhandlung  de  ingenuis  moribus  über 
diesen  gegenständ  gesagt  hatte.  Wimpheling  unterscheidet 
sich  von  Vergerio  hauptsächlich  durch  stärkere  betonung  des  reli- 
giösen Clements,  das  ja  bei  jenem  vollständig  in  den  hintergrund 
getreten  war.  übrigens  sind  ganze  abschnitte  aus  der  vorläge  wört- 
lich herübergenommen.  ^^^ 

Die  schrift  'an  die  ratsherrn  der  freien  stadt  Strasz- 
burg'  (1501)  gibt  auch  zu  einer  benutzung  Quintilians  keine  ge- 
legenheit.  übrigens  wird  hier  Vergerios'  schrift  wegen  ihres  mora- 
lischen Inhalts  zur  lectüre  für  die  schüler  des  zu  gründenden 
gymnasiums  ausdrücklich  empfohlen  (s.  388). 

Auch  die  diatriba  de  proba  institutione  puerorum  in 
trivialibus  et  adolescentium  in  universalibus  gymnasiis  (1514)^®^  die 
ihrem  inhalt  nach  vielfach  mit  dem  Isidoneus  sich  deckt,  zeigt 
keinerlei  anlehnungen  an  Quintilian.  nur  am  Schlüsse  wird  er  ein- 
mal erwähnt  (fol.  14'').  die  stelle  ist  für  Wimphelings  Verhältnis 
zu  ihm,  wie  auch  zu  der  antiken  litteratur  überhaupt  charakteristisch 
und    mag  darum  hier  folgen,    quantus  est  hie  christianus  aflfectus 


386  cap.  30,  s.   165—170. 

387  ich  füo^e  die  nachweise  dafür  bei:  Wimph.  c.  2.  3  (s.  183  f.^; 
Verg.  fol.  2";  W.  c.  4  (s.  184  f.);  V.  fol.  3^  W.  c.  5  (s.  185);  V.  fol.  3''; 
W.  c.  8  (s.  187);  V.  fol.  3"  f.;  W.  c.  11  (s.  188);  V.  fol.  5";  W.  c.  25 
(s.  198);  V.  fol.  b^.  für  die  20  gesetze  des  sittliclien  Verhaltens  c.  32  —  51 
(s.  204—250)  vgl.  Verg.  fol.  7''  — 8''.  dabei  wird  aber  im  allgemeinen 
Vergerio  ;ils  quelle  nicht  genannt,  nur  an  zwei  stellen  der  von  mir 
benutzten  ausgäbe  (fol.  20  und  22;  es  entspricht  dies  s.  243  z.  15 
[von  unten]  und  s.  248  z.  10  [v.  u.]  der  Übersetzung)  ist  der  name 
Vergerius  an  den  rand  gedruckt;  in  dieser  weise  sind  auch  sonst  viel- 
fach die  quellen  bei  Wimpheling  bezeichnet. 

388  ich  citiere  nach  der  ausgäbe:  Hagenaw  per  Henricum  Gran  1514. 


A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker.  367 

praeceptorum  gravia  et  publica  vitia  dissimulantium  in  bonam 
institutionem  adolescentium.  ci'ediderim  Quintilianum,  De- 
mosthenem,  Aul.  Gellium  paganos  maiores  erga  mores  suorum 
discipulorum  virtutesque  sedulitatem  adhibuisse.  crediderim  paganos 
illos  non  minus  ad  litteras  et  ad  naturalem  honestatem  tradendam 
quam  ad  crumenas  aere  alieno  suflfarcinandas  sollicitos  fuisse  atque 
circumspectos.  nee  enim  in  ethnicis  lumenquohonestum 
naturale  cernerent  prorsus  extinctum  fuit.  — 

Gewissermaszen  das  gegenbild  des  würdigen  Wimpheling  ist 
innerhalb  des  oberdeutschen  humanismus  Heinrich  Bebel,  'ein 
typus  des  jungen  humanismus:  emancipiert,  leichtfertig,  zuversicht- 
lich, ruhmredig,  streitlustig  und  unermüdlich  in  der  Verfolgung  der 
gotischen  und  vandalischen  barbarei'/^'  am  bekanntesten  unter  seinen 
zahlreichen  Schriften  sind  seine  facetiae  (1506).  aber  er  verdient 
nicht  nur  in  der  litteraturgeschichte,  sondern  auch  in  der  geschichte 
der  Pädagogik  einen  platz,  von  1497—1516  hat  er  an  der  damals  für 
den  humanismus  so  wichtigen  Universität  Tübingen  die  lectur  für 
eloquenz  und  poesie  innegehabt  und  hat  dort,  wie  er  sich  rühmt, 
'die  Tübinger  Jugend  viel  lateinischer  gemacht  und  die  schauder- 
hafte und  schmutzige  barbarei  abgeputzt'. ^"^  zu  seinen  schülern  ge- 
hören Jacob  Heinrichmann,  Johann  Altensteig,  Johann  Brassicanus, 
Michael  Coccinius  (Köchlin) ,  die  alle  für  die  humanistische  reform 
des  Schulwesens  gewirkt  haben  und  durch  ihre  grammatiken  zum 
teil  wohl  bekannt  sind.  Bebel  selbst  hat  Schulbücher  geschrieben, 
die  recht  stark  benutzt  wurden'^',  aber  auch  die  pädagogisch-didak- 
tische theorie  hat  er  in  den  bereich  seiner  schriftstellerei  gezogen. 

Schon  in  seinen  Schulbüchern,  zumal  in  den  didaktischen 
bemerkungen,  die  er  ihnen  beigefügt,  tritt  die  benutzung  Quintilians 
sehr  in  den  Vordergrund. 

In  der  vorrede  zu  seinem  modus  conficiendarum  episto- 
larum^^-  (1500)  führt  er  ganz  im  anschlusz  an  Quintilian  (I  1,  5 
und  n  3)  aus ,  wie  fest  die  eindrücke  in  der  frühen  jugend  haften 
und  wie  notwendig  deshalb  ein  guter  anfangsunterricht  sei  (fol.  1  ^). 
er  polemisiert  alsdann  (fol.  2  *)  gegen  die  gewöhnlichen  5  partes 
epistolae  (salutatio ,  exordium,  narratio,  petitio,  conclusio):  quod  si 
me  audire  vis,  abstinebis  a  partibus  et  multis  praeceptis  epistolarum, 
hoc  te  docebit  Quintilianus  dicens  (II  13,  1  f.):  nemo  autem  a  me 
exigat  id  praeceptorum  genus  .  .  .  ut  quasi  quasdam  leges  immuta- 


389  Paulsen,  geschichte  des  gelehrten  uuterrichts  I^  s.  138. 

2^"  a.  a.  o. 

3^1  sein  modus  conficiendarum  epistolarum  erlebte  zwischen  1503 
und  1513  mindestens  neun  ausgaben,  seine  ars  versificandi  et  carminum 
condendorum  zwischen   1506  und  1520  zehn,     vgl,  Paulsen  a.  a.  o. 

^'■'^  die  von  mir  benutzte  ausgäbe  hat  den  titel:  commentaria  episto- 
larum conficiendarum  (bei  Schurer  1513).  der  widmungsbrief  an  Ulrich 
von  Würtemberg  ist  aus  dem  jähre  1500. 


368  A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

bili  necessitate  conscriptas  studiosis  dicendi  feram  ...  et  idem :  nam 
in  Omnibus  fere  minus  valent  praecepta  quam  experimenta  (II  5, 16). 
also  zwei  wichtige  grundsätze  Quintilianischer  didaktik  hat  er  hier 
als  maszgebend  für  sein  ganzes  buch  an  den  anfang  gestellt,  für 
die  behandlung  der  spräche  gibt  er  den  rat  (fol.  29^):  at  si  me 
audire  vis,  si  esse  et  haberi  cupis  latinus  in  singulis  intuendum  est, 
ut  dicit  Fabius  de  elocutione  1.  VIII  (1,  1),  ut  sint  latina  quae 
dixeris ,  perspicua,  ornata,  et  ad  id,  quod  efficere  volumus,  accom- 
modata. 

Noch  an  einer  gröszeren  anzahl  von  stellen  beruft  er  sich  auf 
Quintilian;  wir  können  sie  hier,  da  sie  nicht  didaktischen  Inhaltes 
sind,  übergehen. 

Auch  in  seiner  ars  versificandi^''^  (1506)  tritt  der  einflusz 
Quintilians  zu  tage,  unter  den  quellen ,  deren  er  sich  bei  abfassung 
des  buches  bedient  habe,  nennt  er  ausdrücklich  Quintilian.  nach- 
dem er  im  cap.  XV  dargelegt:  qui  auctores  sint  sequendi,  stellt  er 
für  die  Imitation  den  grundsatz  auf:  considerandum  est,  ut  Quin- 
tilianus  (I  6,  42)  testatur,  magni  auctores  non  quid  dixerint,  sed 
quid  persuaserint.  im  cap.  18  gibt  er  Vorschriften  darüber,  wie 
die  dichterischen  versuche  anzustellen  seien:  nicht  mit  leeren  worten 
die  verse  füllen,  nicht  lieblingsausdrücke  überall  anbringen,  nicht 
Worten  nachjagen  und  ihnen  zuliebe  den  gedanken  gewalt  anthun, 
grundsätze,  wie  sie  ebenso  Quintilian  (VII  p,  §  32)  für  die  rede- 
übungen  aufstellt,  dann  mahnt  er  die  schüler  noch,  bei  ihren  poeti- 
schen versuchen  ja  nicht  zu  ängstlich  zu  sein,  facile  enim,  ut  dicit 
Quintilianns  (II  4,  6),  remedium  est  ubertatis,  sterilia  nuUo  labore 
vincuntur;  was  noch  durch  zwei  weitere  Quintiliancitate  belegt  wird. 

Bebeis  theoretisch-didaktische  schrift  führt  den  titel 
de  institutione  puerorum^^*  (1506).  er  will  nur  besprechen 
modum  discendi  et  quibus  artibus  quibusque  praeceptoribus  sint  in- 
stituendi  (fol.  1'^).  die  religiös -sittliche  erziehung  weist  er  in  dem 
Widmungsbrief  dem  vater  zu  und  betont  zugleich  die  notwendigkeit 
der  erholung  und  der  körperlichen  ausbildung  für  einen  gedeihlichen 
fortgang  der  studien.^^^  die  stelle  zeigt  unverkennbare  anlehnung  an 

^^^  benutzt  -wurde  eine  ausgäbe  mit  dem  titel:  ars  versificandi  et 
carminum  condendorum  cum  quantitatibus  syllabarum  .  .  .  denuo  emen- 
data.     Argentinae  1513. 

39*  opusculum  H.  Bebelii  Justingensis  de  institutione  puerorum 
quibus  artibus  et  praeceptoribus  instituendi  et  tradendi  sint  una  cum 
apologia  et  defensione  poetices  contra  aemulos;  mit  einigen  andern 
Schriften  Bebeis  gedruckt.     Argentinae   1513  bei  Scburer. 

^^^  sie  lautet  (fol.  1^):  prius  tarnen  quam  incipiam  de  institutione 
dicere,  persuasum  tibi  velim  pueros  nimium  et  ultra  tempus  in  libris 
non  esse  detinendos  et  scbolis.  quod  enira  (ut  Ovidius  canit)  caret 
alterna  requie  durabile  non  est:  liaec  reparat  vires  fessaque  membra 
levat.  dispensandum  igitur  tempus  est  pro  studio  et  remissione,  animi 
sunt  autem  remittendi  non  somnio  nimio  neque  desidia,  sed  in  ludis, 
qui  ab  honesto  decoroque  non  discedunt  corpusque  exercitatione  robo- 
randum  ludendumque  pila,  arcu,   lucta,  saltatione,  disco,  nee  item  suo 


A.  Messer:  Quintiliau  als  didaktiker.  369 

Quintilian  (I  3,  8—11)  und  weiterhin  an  Vergerio  (fol.  23=»— 25"^), 
den  er  gleich  im  anfang  neben  Plutarch,  Guarino,  Filelfo  (gemeint 
ist  wohl  Vegio,  dessen  buch  1493  in  Straszburg  gedruckt  worden 
war),  Enea  Silvio  als  Vorgänger  nennt. 

Was  im  anfange  der  schrift  selbst  (fol.  2^)  über  den  lehrer  ge- 
sagt wird,  ist  fast  vollständig  aus  Quintilian  (I  1.  II  3)  (der  auch 
wiederholt  citiert  wird)  entnommen,  sogleich  gute  lehrer  wählen; 
denn  die  eindrücke  in  der  kindheit  haften  besonders  fest,  die  ver- 
kehrten noch  zäher  als  die  richtigen,  kann  man  'gute'  lehrer  nicht 
haben,  so  nehme  man  wenigstens  solche,  die  ihres  geringen  wissens 
sich  bewust  sind  und  sich  belehren  lassen:  hoc  te  non  ego,  sed  opti- 
mus  iuventutis  doctor,  Fabius  libro  primo  institutionum  docet  brac- 
teate  propheticoque  oraculoj  worauf  die  bemerkung  Quin- 
tilians  über  die  paedagogi  (1 1,  8)  citiert  wird,  gleichalterige  knaben 
sind  dem  schüler  beizugesellen,  quorum  studio  invideant  laudibusque 
mordeantur,  sociis  enim  moventur  studio  aemulationis  ad  discendum 
(vgl.  Quint.  I  2,  17). 

Es  folgt  nun  (fol.  3** — 6=*)  die  apologia  pro  poetis  contra  bar- 
baros  bestes,  sie  ist  in  verhältnismäszig  maszvollem  tone  gehalten, 
bekundet  reiche  belesenheit  und  zeigt  anlehnung  an  Enea  und 
Guarino,  auf  die  auch  (fol.  6=*)  ausdrücklich  hingewiesen  wird. 

Der  letzte  teil  (fol.  6=» — 8^)  wird  eingeleitet  mit  den  werten: 
tertium  est  et  ultimum,  quod  ad  eruditionem  et  eloquentiam 
(dies  also  das  bildungsziel!)  duxi  necessarium,  quibus  artibus  qui- 
busque  auctoribus  pueri  imbui  debeant.  er  bespricht  zunächst  den 
grammatischen  Unterricht,  die  Verwerfung  der  seither  üblichen 
philosophischen  behandlung  der  grammatik ,  die  für  alle  sprach- 
erscheinungen  Ursachen  angeben  will,  begründet  er  unter  ausdrück- 
licher bezugnahme  auf  Quintilian  (I  6, 1—3)  mit  dem  satze  (fol.  6'') : 
quod  nulla  sit  danda  ratio  in  grammatica,  sed  omnis  eloquendi  vis  et 
observatio  pendeat  ex  auctoritate  historiarum,  oratorum  et  poetarum.. 

Mit  Vergil  rät  er  die  lectüre  zu  beginnen  (fol.  7^),  abermals 
mit  hinweis  auf  Quintilian  (I  8,  5).  er  citiert  ihn  auch  bei  seinem 
rat,  die  poetische  lectüre  besonders  zu  pflegen  und  unter  den 
rednern  Cicero  vor  vollen  zu  tractieren. 

Die  angeführten  belege  werden  genügen,  uns  zu  dem  ergebnis 
zu  führen,  dasz  die  institutio  oratoria  für  Bebel  in  der  didaktik  that- 
sächlich  'ein  orakel',  ein  kanonisches  buch  war,  und  dasz  er  in  ihr 
nicht  nur  hie  und  da  nach  citaten  gesucht,  sondern  dasz  er  sich 
wichtige    grundsätze   Quintilians    wirklich   zu  eigen   gemacht  hat. 

Johannes  Murmellius,  den  wir  nunmehr  als  Vertreter  des 
niederdeutschen  humanismus  zu  besprechen  haben,  steht  von 

tempore  abstinendum  a  cantii  musicisque  organis,  adsit  aut  cythara 
testudinea  aut  lyra  fistula  vel  simile,  quod  sua  sonoritate  animum  ho- 
minis componat  gravesque  meditationes  et  curas  mitiget,  ut  eo  vali- 
dius  Ingenium  possit  redire  ad  labores. 


370  A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

allen  bisher  genannten  deutschen  humanisten  am  meisten  mitten 
im  leben  der  schule  drinnen:  'im  kerne  seines  wesens  ist  er 
immer  bildner  der  jugend  gewesen,  seine  berufsthätigkeit  war  der 
schule  geweiht;  auch  die  meisten  seiner  philologischen  arbeiten 
dienen  der  schule  in  ihren  näheren  oder  entfernteren  zwecken;  und 
viele  seiner  dichtungen  haben  eine  unmittelbare  bedeutung  für  er- 
ziehung  und  Unterricht.'^''*  ebenso  wie  Wimpheling  beharrt  er  un- 
erschütterlich auf  dem  boden  der  christlich  -  kirchlichen  lebens- 
anschauung:  nur  die  erkenntnis  und  Verehrung  gottes  kann  ihm  als 
endzweck  der  studien  gelten,  aber  in  seinem  bestreben,  eine  reform 
des  Schulwesens  im  sinne  des  humanismus  durchzuführen,  geht  er 
einen  schritt  weiter  als  Wimpheling:  er  hat  sich  in  seiner  prakti- 
schen thätigkeit  allmählich  von  der  Unzulänglichkeit  des  doctrinale 
—  das  war  ja  damals  das  hauptkampfobject  —  überzeugt  und 
wirkt  nun  für  dessen  beseitigung,  während  Wimpheling  noch  daran 
festhielt. 

Von  denjenigen  seiner  schriften ,  die  uns  hier  interessieren,  ist 
die  früheste  und  wohl  auch  die  bedeutendste  das  opusculum  de 
discipulorum  officiis,  quod  encheiridion  scholasti- 
corum  inscribitur  (1505).''" 

In  dem  cap.  2  (s.  Ö9  flF.):  quod  pueri  scholae  mancipandi  et  a 
tenera  aetate  instituendi  sunt,  beruft  er  sich  sowohl  für  den  vorzug 
der  schulerziehung  vor  der  privaten  wie  auch  für  die  notwendigkeit 
eines  zeitigen  beginnes  auf  Quintilian  (I  2  oder  11,5  ß.).  er  teilt 
Quintilians  ansieht  (I  1,  1),  dasz  es  nur  wenig  menschen  gebe,  die 
von  natur  ungelehrig  seien ;  denn  wie  die  vögel  zum  fliegen,  die  pferde 
zum  laufen  erschaffen  seien,  so  sei  den  menschen  die  thätigkeit  und 
regsamkeit  des  geistes  eigen,  was  er  im  cap.  7  de  memoria  tenaci 
sagt,  zeigt  keine  anlehnung  an  Quintilian^**®,  obwohl  eine  solche 
nahe  lag.  im  cap.  9:  quod  mediocris  facultas  scholastico  ojjtima  est 
ist  der  ausspruch :  solet  tamen  interdum  per  extremas  difficultates 
generosa  natura  (ad  similitudinem  palmae)  in  altum  emergere  et 
magis  profusa  i^erum  copia,  quam  summa  inopia  bonis  ingeniis 
nocere  consuevit,  wörtlich  ausVergerios  schrift  de  ingenuis  moribus 
(fol.  10^)  entnommen,  nur  die  eingeklammerten  worte  sind  hinzu- 
gefügt. ^^^  die  capitel  14 — 19  die  von  dem  lehrer  und  dem  Verhältnis 


^9ß  J.  Freundgen  in  der  einleitung  der  Übersetzung  der  päda- 
gogischen Schriften,  Paderborn  bei  Schöningh,  18r  band  s.  50. 

^ä'  in  einem  neudrucke  herausgegeben  von  A.  Bömer,  Münster 
1892.  darauf  beziehen  sich  die  citate,  in  klammer  ist  die  Seitenzahl 
der  Übersetzung  von  J.  Freundgen  angegeben. 

5^*  hier  wird  auch  geraten:  capilli  saepe  pectendi  sunt,  non  tarn, 
ut  comptus  puer  conspiciatur,  quam  ut  melius  cellula  memorialis 
valeat  (s.  34). 

39!*  beiläufig  sei  bemerkt,  dasz  die  stelle  über  Plato,  der  für  die 
akademie  absichtlich  einen  ungesunden  ort  gewählt  habe  s.  35  (s.  81  f.) 
aufBasilius'  oben  erwähnte  rede  an  die  Jünglinge  (vgl.  fol.  52 1')  zurück- 
geht, ferner  scheint  das  cap.  12  'von  der  ausnutzung  der  zeit'  (s.  83—85) 


A.Messer:  Quintilian  als  didaktiker,  371 

desselben  zu  den  schülern  handeln,  zeigen,  wie  wir  das  bei  dem- 
selben Stoffe  schon  öfter  constatiert  haben ,  starke  benutzung  Quin- 
tilians.  vor  schlechten  lehrern  wird  gewarnt  (s.  90  f.)  durch  die 
anekdote  von  Leonidas,  dem  erzieher  Alexanders  (Quint.  I  1,  9),  und 
mit  Quintilians  bemerkung  über  die  halbgebildeten  und  ein- 
gebildeten paedagogi  (I  1,  8).  das  capitel  16  qualis  sit  bonus  prae- 
ceptor  et  quae  sint  eins  officia,  enthält  zwei  gröszere  Quintilian- 
citate  I  2,  27  f,  (warnung  vor  überbürdung)  und  11  2,  4 — 8  (ver- 
halten des  lehrers  gegen  die  schüler).  in  dem  nächsten  capitel  17 
probates  magistros  vel  laborioso  itinere  requirendos  esse,  wird  nach 
dem  vorgange  Quintilians  (I  12,  15)  auf  Plato  als  beispiel  hin- 
gewiesen (s,  100).  in  das  capitel  19  quae  sint  discipuli  erga  prae- 
ceptorem  officia,  nimmt  er  das  ganze  neunte  capitel  des  zweiten 
buches  der  institutio  (de  officio  discipulorum)  auf.  bei  der  be- 
siDrechung  des  Verhältnisses  der  mitschüler  zu  einander  (cap.  21 
s.  109 — 111)  eignet  er  sich  Quintilians  wort  an:  licet  ipsa  vitium 
sit  ambitio,  frequenter  tarnen  causa  virtutum  est  und  kurz  darauf 
citiert  er  als  Quintilianisch  den  ausspruch :  Optimum  proficiendi 
genus  est  docere  quae  didiceris,  der,  wie  wir  oben  gesehen  haben, 
von  Guarino  der  schrift  Vergerios  entnommen  und  fälschlich  dem 
Quintilian  zugeschrieben  wurde:  ein  beweis  für  die  benutzung 
Guarinos  durch  Murmellius,  auf  die  auch  andere  momente  hin- 
weisen, im  capitel  23  wird  ganz  in  der  weise  Quintilians  (I  3,  8  flf.) 
über  die  berücksichtigung  des  körperlichen  factors  bei  der  erziehung 
einiges  wenige  gesagt:  die  Studien  sind  bisweilen  durch  ehrbare 
spiele  (nur  davon  ist  die  rede)  zu  unterbrechen,  damit  der  geist 
um  so  frischer  zur  arbeit  zurückkehre. 

Denselben  gegenständ  wie  das  encheiridion  behandelt  auch  die 
1510  abgefaszte  schrift  de  magistri  et  discipulorum  officiis 
•epigrammatum  Über,  nicht  nur  sein  bedürfnis  sich  bisweilen 
in  Versen  auszusprechen  mag  den  Murmellius  zu  der  abfassung  be- 
wegen, sondern  wohl  auch  der  umstand,  dasz  der  stoff  recht  geeignet 
war,  darin  persönliche  spitzen  gegen  seinen  früheren  rector  Timann 
Kemner  anzubringen.''"''  gleich  in  der  praefatio  (s.  17)  schreibt  er 
wieder  —  offenbar  mit  beziehung  auf  Kemner  —  Quintilians  oben  er- 


an  Guarinos  schrift  de  modo  et  ordine  docendi  ac  discendi  (fol.  10^  f.) 
sich  anzuschlieszen,  auch  dort  wird  der  ausspruch  Theophrasts  und  als 
beispiel  Plinius  und  Cato  erwähnt,  auch  die  empfehlung  des  lauten 
lesens  als  förderlich  für  die  gesundheit  am  Schlüsse  des  cap.  20  (s.  108  f.) 
findet  sich  ebenso  bei  Guarino  (fol.  10^). 

*""  A.  Bömer  hat  die  schrift,  die  noch  Reichling  in  seiner  be- 
kannten Murmelliusbiographie  (Freiburg  1880  s.  91)  als  vermutlich 
verloren  bezeichnet,  wieder  herausgegeben  (Münster  1892).  derselbe 
bespricht  in  der  einleitung  (s.  7 — 11)  die  fehde  mit  Kemner  und  findet 
treffend  ihren  grund  'in  der  unglücklichen  fügung  des  Schicksals,  dasz 
Murmellius,  der  conrector  der  domschule,  tüchtiger  als  der  rector 
Kemner,  letzterer  dazu  ein  eiteler,  selbstgefälliger,  fremde  arbeiten 
geringschätzender  mann  war  und  ersterer,  nachdem  er  einmal  an- 
gegriffen worden,  einen  harten  köpf  zeigte'. 


372  A.Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

wähnte  bemerkung  über  die  paedagogi  (11,8)  aus.  die  epigrammelV 
und  V  de  officiis  magistri  et  discipuli  und  qualis  debeat  esse  prae- 
ceptor  lehnen  sich  an  an  Quint.  II  2,  4 — 8.  II  9,  1 — 3,  ebenso 
nr.  XXIV  discipuli  officia,  die  mahnung,  die  Quintilian  I  2,  28  aus- 
spricht, bringt  er  im  gedieht  X  (s.  24)  in  folgende  verse : 

ars  est  tradere  liberalis  artem 
angusto  memor  ore  vasculorura, 
quae  complentur  aqua  influente  sensim; 
quantum  discipuli  rüdes,  videto, 
doctrinae  excipere  et  teuere  possint. 

das  epigramm  XXI  qualis  debet  esse  praeceptorum  vita  klingt  an 
an  Quint.  II  2,  1 — 8,  speciell  v.  9  ist  fast  wörtlich  daraus  ent- 
nommen. 

Ein  wort  noch  über  den  Scoparius  (erschienen  lölS)."'  er 
ist  eine  bunte  Sammlung  von  humanistisch  gefärbten  oder  im  sinne 
des  humanismus  verwertbai'en  stellen  und  abschnitten,  das  von  dem 
Verfasser  selbst  herrührende  bildet  nur  den  allerkleinsten  teil,  als 
capitel  9  (s.  134  f.)  erscheint  wiederum  die  stelle  über  die  paeda- 
gogi (Quint.  I  1,  8)  und  Leonidas  (I  1,  9);  die  erstere  lesen  wir 
nochmals  im  cap.  22  (s.  142  f.)  aus  Murmellius'  anleitung  zur 
verskunst  (tabulae  in  artis  componendorum  versuum  rudimenta 
1515)  entnommen;  das  cap.  10  (s.  135)  bildet  die  stelle  über 
Aristoteles  als  erzieher  Alexanders  (Quint.  I  1,  23);  das  cap.  11, 
die  über  das  feste  haften  der  in  der  kindheit  aufgenommenen  ein- 
drücke (I  1,  5),  die  nochmals  in  zwei  epigrammen  (s.  142)  ver- 
wertet wird.''"'' 

Resümieren  wir:  auch  für  Murmellius  ist  die  institutio  ein  masz- 
gebendes  buch ,  aber  seine  benutzung  beschränkt  sich  auf  ein  enges 
gebiet,  es  sind  im  wesentlichen  nur  die  erörterungen  über  pflichten 
der  lehrer  und  schüler  und  über  das  Verhältnis  zwischen  ihnen,  die 
er  —  zum  teil  wiederholt  —  ausschreibt,  diese  beschränkung  ist 
darin  begründet,  dasz  seine  hier  in  betracht  kommenden  Schriften 
im  allgemeinen  nur  diesen  stoff  behandeln ;  derselbe  mochte  ihm  — 
einer  hauptsächlich  aufs  ethische  gerichteten  natur  —  besonders 
nahe  liegen. 

III.   Erasnius. 

In  dem  encomium  moriae  desErasmus  preist  die  narr- 
beit  auch  ihre  Verdienste  um  den  stand  der  Schulmänner  (gram- 
matici).    was   sind  sie  doch  für  bedauernswerte  geschöpfe!    nicht 


^"1  übersetzt  von  J.  Freundgen  a.  a.  o.  s.  119 — 267. 

^"^  auch  in  dem  s.  126—131  abgedruckten  briefe  des  Aldus  Manu- 
tius  (1507)  wird  die  stelle  über  Leonidas  citiert  und  auszerdem  Quint. 
II  5,  19  f.  gelegentlich  des  rates,  die  lectüre  mit  Cicero  zu  beginnen.  — 
Unter  den  empfehlenswerten  erklärern  der  classischen  autoren  werden 
zu  Quintilian  genannt  (s.  206):  Laurentius  Valla,  Georg  Merula,  Rafael 
Eegius,  Jodocus  Badius. 


A.  Messer:  Quiutiliau  als  didaktiker.  373 

ludi  verdienen  ihre  schulen  zu  heiszen,  sondern  cppovriCTi^pia^"^, 
pistrina  und  carnificinae.  dort  plagen  sie  sich  und  schreien  sie  sich 
ab,  kommen  langsam  um  vor  schmutz  und  gestank  —  und  doch 
dünken  sie  sich,  durch  die  gnade  der  stultitia ,  die  ersten  der  sterb- 
lichen zu  sein,  so  sehr  gefällt  und  schmeichelt  ihnen  ihre  herscher- 
stellung  dem  furchtsamen  schülervolk  gegenüber,  das  sie  mit 
drohender  miene,  wütigem  schreien,  mit  rute,  stock  und  karbatsche 
tyrannisieren  —  esel  in  der  löwenhaut.  noch  mehr  beseligt 
sie  das  frohe  bewustsein  ihrer  gelehrsamkeit,  mit  der  sie  auch  den 
einfältigen  eitern  imponieren,  welche  wonne,  wenn  sie  ein  un- 
bekanntes wort  in  einer  halbvermoderten  handschrift  entdeckt, 
oder  den  namen  der  mutter  des  Anchises  gefunden,  oder  ein  altes 
steinstück  mit  ein  paar  verwitterten  buehstaben  ausgescharrt  haben! 
welcher  triumph  !  man  meint  sie  hätten  Afrika  bezwungen !  —  Dazu 
ihr  Cliquenwesen,  ihre  gegenseitige  lobhudelei:  Hans  kratzt  den 
Kunz,  damit  Kunz  den  Hans  wieder  kratzt.  ^"^ 

Anderseits  ihr  'collegialer'  sinn,  mit  dem  sie  über  einander 
herfallen,  wenn  einer  einmal  einen  kleinen  Schnitzer  gemacht  hat. 
was  für  Zänkereien,  was  für  tragische  kämpfe  entstehen  da  sofort! 
mag  man  das  narrheit  oder  Wahnsinn  nennen,  jedenfalls  ist  es  ihr, 
der  narrheit,  verdienst,  dasz  diese  armseligsten  aller  menschen  sich 
so  glücklich  vorkommen,  dasz  sie  nicht  mit  dem  Perserkönig  tauschen 
möchten. 

S  0  etwa  war  —  ins  komische  verzerrt  —  das  bild ,  das  sich 
Erasmus  von  dem  damaligen  lehrerstand  entworfen  hatte. ''°^  wie 
muste  sich  ihm  dem  gegenüber  die  lehrerpersönlichkeit,  welche  dem 
denkenden  leser  der  institutio  oratoria  vor  das  geistige  äuge  tritt, 
sjmiDathisch  abheben,  sind  es  ja  doch  gerade  die  entgegengesetzten 
tugenden,  die  sie  zieren:  väterliches  Verhältnis  zu  den  Schülern,  ein 
auf  das  wesentliche  in  der  Wissenschaft  und  auf  das  wirkliche  im 
leben  gerichteter  sinn ,  der  sich  frei  zu  halten  bestrebt  von  aller 
pedanterie  und  kleinigkeitskrämerei ,  der  die  billigen  triumphe 
eines  dem  leben  entfremdeten  wissenschafts-  und  schulgetriebes 
verschmäht,  in  der  that  gehört  Quintilian  —  rhetorum 
longe  princeps,  wie  er  ihn  gelegentlich  nennf*"®  —  zu  den 
lieblingsschriftstellern  des  Erasmus:   sein  feiner  ästheti- 


^°^  so  hat  sie  auch  Agricola  genannt  in  seinem  brief  de  formando 
studio,     der  ausdruck  stammt  aus  den  Wolken  des  Aristophanes. 

^"*  at  nihil  omnium  suavius,  quam  cum  ipsi  inter  sese  mutua  talione 
laudant  ac  mirantur,  vicissimque  scabunt. 

*°^  als  gegenstück  dazu  lese  man  die  überaus  drastische  rede 
Melanchthons  de  raiseriis  paedagogorum  (jetzt  leicht  zugänglich  in 
den  lateinischen  litteraturdenkmäleru  des  15n  und  16n  Jahrhunderts, 
herausgegeben  von  M.  Herrmann  und  S.  Szamatolski,  heft  4), 

^°^  an  einer  andern  stelle  urteilt  er  über  ihn:  non  ex  alio  scriptore 
melius  discitur  ßomani  sermonis  puritas,  nee  est  alius  lectu  iueundior  aut 
puerorum  ingeniis  accommodatior.  vgl.  Hartfelder,  Melanchthon 
als  praeceptor  Germaniae  s.  330  anm.  4. 


374  A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker, 

scher  sinn,  sein  kritischer,  von  edlem  Selbstgefühl  getragener  geist 
mochten  ihm  besonders  congenial  sein,  man  darf  behaupten,  dasz 
Quintilian  auf  die  schriftstellerische  thätigkeit  des 
Erasmus  auf  pädagogisch-didaktischem  gebiet  einen 
teils  anregenden,  teils  maszgebenden  einflusz  geübt 
bat.  eine  betrachtung  der  einzelnen  Schriften  wird  dies  erweisen, 
es  kommen  in  betracht:  de  ratione  studii  (1512),  de  duplici  copia 
verborum  ac  rerum  (1512),  institutio  principis  christiani  (1518), 
colloquia  (1519),  de  ratione  conscribendi  epistolas  (1522),  christiani 
matrimonii  institutio  (1526),  Ciceronianus  (1528),  de  pueris  statim 
ac  liberaliter  instituendis  (1529).^"^ 

In  dem  an  Petrus  Viterius  gerichteten  widmungsbrief  zu  der 
kleinen  schrift  de  ratione  studii'*"''  betont  er,  wie  bei  aller 
menschlicher  thätigkeit  das  planmäszige  verfahren  von  nutzen  sei, 
indem  es  arbeit  und  umwege  erspare,  die  abhandlung  selbst  zer- 
fällt in  zwei  teile;  der  zweite,  umfangreichere  führt  den  sondertitel 
de  ratione  instituendi  discipulos.  der  erste  handelt  zunächst  von 
dem  bildungs-  und  Wissensstoff;  er  beginnt  mit  den  oft  citierten 
Worten:  principio  duplex  omnino  videtur  cognitio,  rerum  ac  ver- 
boi'um.  verborum  prior,  rerum  potior.'"'^  wozu  er  sogleich  die 
Warnung  fügt:  sed  nonnulli  dum  dviTTTOic  ut  aiunt  ttociv  ad  res 
discendas  festinant,  sermonis  curam  negligunt,  et  male  affectato 
compendio,  in  maxima  incidunt  dispendia.  —  Die  trennung  der 
verba  und  res,  des  formalen  und  des  materiellen  elements ,  der 
sprachlich -logischen  bildung  und  der  aneignung  des  sachlichen 
Wissens,  lag  schon  der  Scheidung  des  triviums  und  quadriviums  zu 
gründe;  sie  findet  sich  auch  bei  den  früheren  humanisten,  was  leicht 
erklärlich  ist,  denn  sie  ist  naheliegend  und  in  der  natur  des  mensch- 
lichen geistes  wie  seiner  objecto  wohl  begründet,  bei  Quintilian  tritt 
sie  gelegentlich  hervor*'",  wird  aber  nicht  zum  einteilungsprincip 
erhoben. 

Erasmus  schickt  sodann  die  mahnung  voraus,  sogleich  das  beste 
und  zwar  von  den  besten  lehrern  zu  lernen,  das  richtige  sei  auch 
das  leichteste,  anderseits  hafte  das  verkehrte,  einmal  aufgenommen, 
mit  merkwürdiger  Zähigkeit:  alles  ganz  im  sinne  Quintilians.*"' 

Unter  den  formal  bildenden  lehrstoffen  steht  an  erster  stelle 
die  grammatik.  darunter  ist,  wie  bei  Quintilian,  die  im  engei'en 
sinne  grammatische  Spracherlernung  und  die  lectüre  zu  verstehen, 
das   griechische   ist   sofort  mit  dem  lateinischen  zu  verbinden: 


^"^  in  den  ganz  auf  ethischem  gebiet  sich  bewegenden  Schriften 
encheiridion  niilitis  christiani  (1501)  und  de  civilitate  morum 
puerilium  ist  natürlich  ein  einflusz  Quintilians  nicht  zu  erwarten,  ich 
citiere  nach  der  ausgäbe:  opera  omnia  Basileae   1540. 

^"^  opp.  I  s.  444 — 452.  zu  dem  einleitenden  gedanken  vgl.  Quint. 
XII  11,  13:  omnia  breviora  reddet  ordo  et  ratio  et  modus. 

40«  opp.  I  s.  445.         4'"  zb.  X  1,  5.     VIII  prooem.  18  u.  ö. 

4"  II  3. 


A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker.  375 

denn  diese  beiden  sprachen  enthalten  alles  wissenswerte  und  sind 
so  innig  verwandt,  dasz  sie  in  Verbindung  mit  einander  leichter  er- 
faszt  werden  als  einzeln.  Quintilian^'-  habe  geraten,  mit  dem  grie- 
chischen zu  beginnen,  aber  das  lateinische  bald  folgen  zu  lassen  und 
jedenfalls  beide  mit  gleicher  Sorgfalt  zu  behandeln.  Erasmus  sagt 
nicht  geradezu,  dasz  der  rat  Quintilians  genau  zu  befolgen  sei,  aber 
er  verneint  es  auch  nicht,  wie  Guarino  es  gethan,  der  mit  recht 
darauf  hinwies,  dasz  zu  Quintilians  zeit  das  latein  eben  mutter- 
sprache  gewesen  sei.  es  macht  den  eindruck,  als  wolle  Erasmus 
lediglich  anraten ,  mit  beiden  sprachen  möglichst  bald  zu  beginnen 
und  feie  gleich  sorgfältig  zu  betreiben ^'^;  wobei  es  allerdings  auf- 
fallend bleibt,  dasz  er  verkannt  haben  sollte,  welche  Schwierigkeiten 
die  gleichzeitige  einführung  in  zwei  fremde  sprachen  mit  ihrem 
verschiedenen  formen-  und  Wortschatz  den  schillern  bereiten  muste. 
die  praxis  lag  ihm  eben  doch  ferner  als  einem  Guarino. 

Der  grammatische  betrieb  musz  sich  möglichst  vor  einem 
sichverlieren  in  einzelheiten  hüten;  die  reine  spräche  wird  am  besten 
erworben  durch  steten  umgang  mit  solchen,  die  gut  lateinisch 
reden,  und  durch  fleiszige  lectüre.  auch  Quintilian  hatte  in  bezug 
auf  den  grammatischen  Unterricht  geäuszert  (I  8,  33) :  nee  ijpse  ad 
extremam  usque  anxietatem  et  ineptas  cavillationes  descendendum; 
atque  bis  ingenia  concidi  et  comminui  credo.  er  dringt  aber  da- 
neben auf  gründlichkeit:  sed  nihil  ex  grammatica  nocuerit,  nisi  quod 
supervacaneum  est.  er  mochte  zu  seiner  zeit  veranlassung  haben  zu 
dieser  mahnung,  wie  es  anderseits  Erasmus  mit  grund  überflüssig 
erscheinen  konnte  sie  beizufügen,  da  er  ja,  wie  seine  humanistischen 
Vorgänger  alle,  ankämpfte  gegen  einen  Unterricht,  der  mehrere  jähre 
hindurch  damit  beschäftigt  war,  die  schüler  lediglich  grammatisch 
zu  drillen.  —  Quintilian  hatte  (I  1,  6)  darauf  hingewiesen,  wie  sehr 
bei  den  Gracchen  und  bei  den  töchtern  eines  Laelius  und  Hortensius 
die  gewählte  spräche  des  elternhauses  fruchte  getragen  habe, 
wenn  Erasmus  diesen  gedanken  aufnimmt,  so  beachtet  er  doch  auch 
zu  wenig  die  veränderten  Zeitverhältnisse,  wo  waren  damals  die 
familien  zu  finden,  in  denen  das  classische  latein  die  Umgangssprache 
bildete?  —  Bezüglich  der  Würdigung  der  lectüre  in  ihrem  wert 
für  die  sprachliche  Vervollkommnung  genügt  es  auf  das  lOe  buch 
der  institutio  hinzuweisen. 

In  der  auswahl  der  lectüre  bindet  sich  Erasmus  nicht  an 
Quintilian.     auszer   der  reinen   spräche   ist  ihm   hier  der  unter- 

"'2  I  1,  12. 

^'^  damit  der  leser  selbst  urteile,  setze  ich  die  stelle  ganz  hierher. 
sie  lautet:  primum  igitur  locum  grammatica  sibi  vendicat,  eaque 
protinus  duplex  tradenda  pueris,  Graeca  videlicet  ac  Latina  .  .  . 
a  Graecis  auspicari  nos  mavult  Quintilianus ,  sed  ita,  si  bis  literis 
perceptis,  non  longo  iiitervallo  latinae  snccedant,  sane  utrasque  pari 
cura  tuendas  esse  monet,  atqne  ita  futurum,  ut  neutrae  alteris  ofticiant. 
ergo  utriusque  linguae  rudimenta  et  statim  et  ab  optimo  prae- 
ceptore  sunt  haurienda. 


376  A.  Messer :  Quintilian  als  didaktiker. 

haltende  Inhalt  maszgebend.  deshalb  stellt  er  voran  Lucian  und 
AristoiDhanes ,  Terenz  und  Plautus.  diese  nebst  Demosthenes  und 
Herodot,  Homer  und  Euripides,  Vergil,  Horaz,  Cicero,  Caesar  und 
ev.  Sallust  genügen  für  die  sprachliche  bildung;  darum  nicht  zu 
spät  der  Fortschritt  zur  rerum  cognitio.  diese  ist  im  wesent- 
lichen den  Griechen  zu  entnehmen,  doch  darüber  später!  zu- 
nächst noch  einige  bemerkungen  über  das  bei  der  sprachlichen 
ausbildung  zu  beobachtende  verfahren.^'*  die  elegantien  des  Valla 
sind  heranzuziehen  und  durch  eigne  Sammlungen  zu  berichtigen  und 
zu  ergänzen ;  die  grammatischen  und  rhetorischen  figuren,  die  metri- 
schen gesetze  sind  einzuprägen;  auch  studium  der  dialektik  (aber 
nach  Aristoteles)  kann  nichts  schaden  —  auch  Quintilian  hatte  es 
angeraten  (II  4,  41).  mit  Cicero  und  Quintilian  (X  3,  1)  betont  er: 
Optimum  dicendi  magistrum  esse  stilum.  auch  die  ausbildung  des 
gedächtnisses  ist  wichtig:  lectionis  thesaurus  heiszt  es  bei  ihm, 
wie  bei  Quintilian  (XI  2,  1).  über  die  ars  memoriae  urteilt  er  ebenso 
wie  jener  (XI  2,  23  flF.) :  wenn  auch  die  Verbindung  der  zu  behalten- 
den Vorstellungen  mit  gedachten  räumlichen  gebilden  unter  um- 
ständen von  nutzen  sein  kann,  so  besteht  doch  die  sicherste  'ge- 
dächtniskunst'  in  richtigem  verstehen,  geordnetem  lernen,  häufiger 
Übung  und  Wiederholung.  —  Endlich  ist  es  für  die  Studien  über- 
haupt sehr  förderlich,  selbst  zu  lehren. 

Den  zweit  enteil:  de  rationeinstituendidiscipulos"^ 
beginnt  er  mit  der  bemerkung,  Quintilian  habe  über  diesen 
Stoff  so  sorgfältig  gehandelt,  dasz  es  geradezu  eine  an- 
maszung  sei,  nach  ihm  darüber  schreiben  zu  wollen,  er 
scheint  es  denn  auch  in  den  folgenden  ausführungen  absichtlich 
zu  vermeiden,  das,  was  bei  jenem  schon  trefflich  gesagt  war, 
nochmals  zu  sagen,  so  ist  z.  b.  das  Verhältnis  von  lehrer  und  schüler 
nicht  näher  behandelt,  was  ergibt,  ergänzt  teils  Quintilian,  teils 
stellt  es  das  bei  jenem  an  verschiedenen  stellen  behandelte  übersicht- 
lich zusammen  und  modificiert  es  den  Zeitverhältnissen  entsprechend. 

Zunächst  bespricht  er  die  wissenschaftlichen  anforde- 
rungen,  die  an  den  lehrer  zu  stellen  sind,  er  musz  wahrhaft 
encyclopädisch  gebildet  sein  —  wenn  er  auch  nur  die  demente  lehrt, 
(wo  bleibt  auch  da  die  rücksicht  auf  die  Wirklichkeit?!)  er  musz, 
kurz  gesagt,  'alles'  gelesen  haben. '"^  natürlich  denkt  dabei  Eras- 
mus  zunächt  nur  an  die  antike  litteratur,  aber  die  ältere  christliche, 
die  werke  eines  Basilius,  Origenes,  Chrjsostomus,  Ambrosius  und 
Hieronymus  werden  mit  eingeschlossen,  für  die  mythologie  ist  auch 
Boccaccios  genealogia  deorum  heranzuziehen;  die  kenntnis  der  anti- 
quitas  ist  nicht  nur  aus  den  autoren ,  sondern  auch  aus  münzen  und 


*'*  opp.  I  s.  445.         *'s  opp.  I  p.  446  if. 

■"^  opp.  I  s.  446:  erit  igitur  huic  per  omne  seriptorum  genus 
vagandum,  ut  optimum  quemque  primum  legat,  sed  ita,  ut  neminem 
relinquat  ingustatum,  etiam  si  parum  bonus  sit  autor.  welcher  gegen- 
satz  zu  unserem  specialisierten  wissenschaftsbetrieb! 


A.Messer:  Quintilian  als  didaktiker.  377 

Inschriften  zu  gewinnen,  philosopbie  und  theologie,  poesie  und 
kosmographie,  geschichte  und  astrologie  müssen  durchaus  studiert 
werden,  aber  auch  militärwesen  und  ackerbau,  musik  und  archi- 
tectur  müssen  dem  bekannt  sein,  der  die  alten  autoren  erklären 
will,  er  foi^dert  also  eine  ebensolche  allseitige  bildung  von  dem 
lehr  er  (auch  von  dem,  qui  minima  parat  docere)  wie  Quintilian 
von  dem  redner  (dem  perfectus  orator  wohlverstanden!),  ohne 
dasz  dabei  der  blosz  accessorische  charakter  mancher  bildungs- 
stoflfe  hervorgehoben  wird,  was  doch  bei  Quintilian  der  fall  ist 
(I  12,  14).  er  sieht  freilich  ein,  dasz  seine  anforderungen  sehr  hoch 
gehen,  aber  er  entschuldigt  es  mit  den  worten:  onero  sane,  sed 
unum,  ut  quam  plurimos  exonerem.  volo,  ut  unus  evolvat  omnia, 
ne  singulis  universa  sint  evolvenda/'''  der  lehrer  hat  sich  nämlich 
bei  seiner  lectüre  Sammlungen  anzulegen,  aus  denen  er  dann  seine 
Wissenschaft  concentriert  den  schülern  mitteilt,  damit  ist  denn  auch 
das  nötige  über  die  rerum  cognitio  gesagt. 

Es  folgt  die  erörterung  des  lehrverfahr ens.  für  das  'spielende' 
erlernen  der  buchstaben  verweist  er  auf  Quintilian  (1 1,26).  nach 
einprägung  der  ersten  demente  musz  der  knabe  sofort  zum  latein- 
sprechen angehalten  werden,  auch  werden  die  allernotwendigsten 
grammatischen  regeln  gegeben  und  dann  sogleich  lectüre  und 
Schreibübungen  begonnen  und  dabei  die  beispiele  zu  den  zuvor  er- 
lernten regeln  hervorgehoben  und  eingeprägt,  es  beginnen  nunmehr 
die  Übungen  im  lateinischen  aufsatz.  die  einzelnen  arten,  die 
hier  Erasmus  nach  ihrer  zunehmenden  Schwierigkeit  geordnet  vor- 
führt, sind  naturgemäsz  im  allgemeinen  dieselben,  wie  sie  Quintilian 
im  9n  cap.  des  ersten  buches  für  den  gi-ammatiker  und  im  4n  cap. 
des  zweiten  buches  für  den  rhetor  empfiehlt  —  selbstverständlich  im 
anschlusz  an  dis  praxis  der  damaligen  schulen  — ,  nur  ist  Erasmus 
reichhaltiger,  und  er  hält  sich  auch  nicht  ängstlich  an  die  in  der 
institutio  gegebene  reihenfolge. 

Ähnlich  wie  Quintilian  (II  6)  fordert  auch  Erasmus,  dasz  der 
lehrer  zu  diesen  arbeiten  anfangs  genaue  anleitung  gebe  und  dasz 
er  eine  sorgfältige  correctur  und  besprechung  den  gelieferten  auf- 
sätzen  widme.  ^'^  auch  hier  geht  Erasmus  mehr  ins  einzelne,  so  er- 
gänzt auch  das,  was  er  über  die  Interpretation  der  schrift- 
steiler ausführt^'"  in  vielen  punkten  die  bemerkungen  Quintilians 
darüber  (I  8.  II  5).  für  die  beurteilung  der  Schriftsteller,  die  dabei 
auch  zu  erfolgen  hat,  wird  dabei  ausdrücklich  u.  a.  auch  auf 
die  litteraturübersicht  im  In  cap.  des  lOn  buches  der  institutio 
hingewiesen. 


*"  opp.  I  s.  447.  erklärlich  werden  diese  forderungen  dadurch,  dasz 
es  damals  noch  nicht  möglich  war,  diese  kenntnisse  aus  systemati- 
schen darstellungen  der  einzelnen  disciplinen  oder  aus  coramentaren 
zu  entnehmen. 

*"  opp.  I  s.  449. 

^'ä  opp.  I  s.  450  — 452. 
N.j.nhrb.  f.  phil.  u.  päd.  II.  abt.  1897  lift.8.  25 


378  A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

Die  Schrift  de  duplici  copia  v  erborum  ac  rer  um^^"  hat 
Erasmus  ausdrücklieh  für  die  schule  bestimmt,  zunächst  für  die 
seines  englischen  freundes  Colet:  opus  videlicet  quum  aptum 
pueritiae  tum  non  infrugiferum  (ni  fallor)  futurum  nennt  er  sie 
in  dem  widmungsbrief.  in  welcher  hinsieht  soll  nun  diese  schrift 
die  Jugend  fördern,  welches  Unterrichtsziel  erreichen  helfen?  gleich 
die  einleitungsworte  geben  uns  aufschlusz :  .  .  .  non  est  aliud  vel 
admirabilius,  vel  magnificentius  quam  oratio,  divite  quadam  senten- 
tiarum  verborumque  copia  aurei  fluminis  instar  exuberans.  es  handelt 
sich  also  darum,  der  rede  durch  wort-  und  gedankenreiehtum  eine 
gewisse  fülle  zu  verleihen,  näher  wird  dies  ausgeführt  im  7n  cap.^^' 
unter  der  copia  verborum  ist  die  souveräne  beherschung  des  Wort- 
schatzes zu  verstehen;  die  fähigkeit  einen  gedanken  durch  figuren 
aller  art:  synonymie,  heterosis,  enallage,  metaphora  u.  a.  zu 
variieren;  bei  der  copia  rerum  handelt  es  sich  darum,  den  gegen- 
ständ der  rede  durch  eine  fülle  von  gedanken:  beweisen,  beispielen, 
vergleichungen,  ähnlichkeiten,  unähnlichkeiten,  contrasten  u.  a.  all- 
seitig zu  beleuchten;  natüx'lich  musz  auch  das  vermögen  vorhanden 
sein,  wenn  nötig,  die  gröste  kürze  walten  zu  lassen. 

Für  die  Zweiteilung  in  eine  copia  verborum  und  rerum  beruft 
Erasmus  sich  ausdrücklich  auf  Quintilian,  der  (X  1,  61)  in  bezug 
auf  Pindar  bemerkt :  novem  vero  lyricorum  longe  Pindarus  princeps, 
Spiritus  magnificentia,  sententiis,  figuris,  beatissima  rerum  ver- 
borumque copia,  velut  quodam  flumine  eloquentiae.  aber  noch 
mehr:  Erasmus  bezeichnet  seine  ganze  schrift  gewisser- 
maszen  als  eine  weitere  ausführung  Quintilianischer 
gedanken.  er  bemerkt  gleich  im  anfang  (c.  2),  Quintilian  habe 
diese  materie  mehrfach  kurz  berührt  —  er  meint  wohl  stellen  wie 
18,8.  X  1 , 5  —  si  quod  a  d  m  o  n  u  i  t  Fabius,  fährt  er  fort,  ad  plenum 
tradere  voluisset,  non  admodum  futurum  erat  opus  iis  meis  prae- 
ceptiunculis.  er  fand  aber  nicht  nur  die  anregung  zur  inangriff- 
nahme  seiner  arbeit  bei  jenem ,  sondern  die  institutio  bot  ihm  auch 
für  die  ausführung  vieles  und  er  hat  fleiszig  davon  gebrauch  ge- 
macht, und  zwar  meist  mit  ausdrücklichem  hinweis  auf  seine  quelle. 

Schon  zur  begründung  der  thatsache,  dasE  er  die 
copia  verborum  ac  rerum  als  Unterrichtsziel  aufstellt, 
beruft  er  sich  auf  Quintilian"^,  der  beispielsweise  an  Homer  das 
vermögen,  in  gröster  fülle  und  in  gröster  kürze  zu  reden,  be- 
wunderungswürdig gefunden  hat.  er  übei-sieht  nicht,  dasz  die  dahin 
zielenden  Übungen  für  die  Schüler  auch  gefahren  in  sich  schlieszen, 
dasz  sie  zu  ungesunder  fülle  und  schwulst  veranlassen  können,  was 
Quintilian  an  Stesichorus  getadelt  habe.  *'^ 

Aber  auch  darüber  tröstet  er  sich  mit  einer  erwägung,  die  ihm 
Quintilian  an  die  band  gibt:  adolescentiam  instruo,  in  qua  Fabio 

«0  opp.  I  s.  1—95.        *2i  opp.  I  s_  4 

«2  cap.  3.     opp.  I  s.  2  und  Quint.  X  1,  46. 

«3  cap.  4.     opp.  I  s.  3  und  Quint.  X  1,  62. 


A.Messer:  Quintilian  als  didaktiker.  379 

non  displicet  orationis  luxuries,  propterea  quod  facile,  quae  super- 
sunt,  iudicio  resecentui',  quaedam  etiam  aetas  ipsa  deterat,  quum 
interim  tenuitati  atque  inopiae  nulla  ratione  mederi  queat.  ferner 
ist,  ebenfalls  nach  Quintilians  ansieht,  ein  besonders  schwerer  fehler 
der  rede  die  OjuoioXoYia  'quae  nulla  varietatis  gratia  levat  taedium, 
estque  tota  coloris  unius'.*^' 

Unter  den  Übungen,  welche  zu  der  hier  erstrebten  fertigkeit 
hinleiten  sollen,  nennt  er  an  erster  stelle,  ebenfalls  nait  ausdrück- 
licher berufung  auf  Quintilian  :  saepius  'ex  industria  sententias  quas- 
dam  sumamus  easque  versemus  quam  numerosissime  velut  eadem 
cera  aliae  atque  aliae  formae  duci  solent'.^^^  auch  das  übersetzen 
aus  dem  griechischen,  das  auflösen  von  gedichten  in  prosa,  die 
fleiszige  lectüre  mit  Observation  und  Imitation  hat  schon  Quintilian 
angeraten  J-^ 

Die  behandlung  der  einzelnen  variandi  formulae  kann  hier 
nicht  verfolgt  werden,  nur  so  viel  sei  bemerkt,  dasz  Erasmus  dabei 
das  reiche  material,  das  die  behandlung  der  elocutio  im  8n  buch 
der  institutio  bot,  gewissenhaft  benutzt  hat.  besonders  ergibig  war 
das  6e  capitel,  die  behandlung  der  tropen  für  sein  erstes  buch  (die 
copia  verborum),  das  3e  und  4e  capitel  für  das  zweite  (die  copia 
rerum). 

Die  institutio  principis  christiani  (1518)'"  erörtert 
nicht,  wie  etwa  die  dem  Ladislaus  Postumus  gewidmete  schrift  des 
Enea  Silvio,  nur  die  eigentliche  bildung  und  erziehung  der  fürsten, 
sondern  der  weitaus  gröste  teil  ist  ratschlagen  gewidmet,  die  den 
fürsten  anleiten  sollen,  den  zahlreichen  und  schweren  pflichten  seiner 
Stellung  gerecht  zu  werden,  was  aber  hier  über  die  sorgfältige  wähl 
des  lehrers ,  die  ihm  nötigen  eigenschaften ,  über  ammen  und  Spiel- 
kameraden, über  zeitigen  beginn  der  bildung  und  erziehung,  über 
die  behandlung  des  Zöglings  gesagt  wird^^^,  das  sind  meist  gedanken, 
wie  wir  sie  auch  bei  Quintilian  finden  und  wie  sie  uns  in  den  seither 
betrachteten  Schriften  so  häufig  entgegengetreten  sind ;  womit  nicht 
behauptet  werden  soll,  dasz  sie  Erasmus  einfach  aus  der  institutio 
herübergenommen  habe:  das  war  für  ihn,  der  den  inhalt  des  buches 
so  sehr  in  sich  aufgenommen  hatte ,  wirklich  nicht  nötig  —  zumal 
bei  dieser  materie. 

Die  familiaria  colloquia'"  (1519;  in  ihrer  jetzigen  gestalt 
1530)  bieten  bei  ihrem  reichen  und  bunten  inhalt  doch  verhältnis- 
mäszig  wenige  erörterungen,  bei  denen  sich  der  einflusz  Quintilians 
zeigen  konnte,  doch  wo  derselbe,  dem  stoff'e  nach,  möglich  ist,  da 
können  wir  ihn  auch  thatsächlich  constatieren.  in  dem  gespräch 
de   lusu  redet  der  eine  schüler  den  lehrer  an:    seit  tua  prudentia 


^2*  cap.  8.     opp.  I  s.  4.     das  Quintiliancitat  steht  VIII  3,  52. 

^^^  cap.  9.     opp.  I  s.  4  und  Quint.  X  5,  9. 

*^^  Quint.  X  5,  2  flf.   X  5,  4.   X  1,  8  ff. 

*"  opp.  IV  s.  431—73.         42^  opp.  IV  s.  433—36. 

*29  opp.  I  s.  526—756. 

25* 


380  A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

vigorem  ingeniorum  excitari  moderato  lusu,  quemadmodum  nos 
docuisti  ex  Quintiliano."^"  das  gespräch  brevis  de  copia  praeceptio "" 
berührt  kurz  den  in  dem  buche  de  duplici  copia  behandelten  stoff. 
bei  der  besprechung  desselben  haben  wir  bereits  gezeigt,  wie  eng 
sich  in  dieser  materie  Erasmus  an  Quintilian  anlehnt,  in  dem  reizen- 
den Virtuosenstückchen,  dem  gespräch  echo,  klingt  bereits  der  grund- 
gedanke  des  Ciceronianus  an.  das  Verhältnis  dieser  schrift  zu  Quin- 
tilian werden  wir  noch  aufzuweisen  haben,  in  dem  ars  notoria 
überschriebenen  gespräch ''^^  macht  er  sich  lustig  über  diese  kunst, 
quae  hoc  praestet,  ut  homo  minimo  negotio  perdiscat  omnes  dis- 
ciplinas  liberales,  wenn  er  dem  gegenüber  liebe  zu  den  Studien, 
richtiges  Verständnis,  häufige  Wiederholung  und  Übung  als  die  beste 
'gedächtniskunst'  bezeichnet,  so  befindet  er  sich  im  völligen  ein- 
klang  mit  den  von  Quintilian  besonders  im  2n  capitel  des  llnbuches 
entwickelten  gedanken. 

Viel  durchgreifender  als  in  den  coUoquien  macht  sich  der  ein- 
flusz  Quintilians  in  dem  buche  de  conscribendis  epistolis^'^ 
(das  1522  seine  endgültige  gestalt  erhielt)  bemerkbar,  wie  in  der 
schrift  de  duplici  copia,  so  erörtert  er  auch  hier  eine  wichtige  seite 
des  damaligen  Unterrichts;  wie  dort,  so  bot  ihm  auch  hier  die 
institutio  für  die  behandlung  des  Stoffes  selbst  ein  reiches  mate- 
rial,  das  von  ihm  nach  gebühr  benutzt  wird,  dies  im  einzelnen  nach- 
zuweisen, würde  auch  hier  über  den  rahmen  unserer  Untersuchung 
hinausführen''^':  wir  müssen  uns  auf  die  allgemeinen  didakti- 
schen Vorschriften,  die  er  für  diesen  Unterrichtsgegenstand  gibt, 


"°  opp.  I  s.  540.  er  spielt  an  auf  die  stelle  Quint.  II  3,  8—13.  — 
In  dem  unmittelbar  vorausgehenden  kleinen  gespräch  monitoria  paeda- 
gogica  sind  nur  anstands-  und  Sittenregeln  enthalten,  wofür  Quintilian 
keine  beziehungspunkte  bot. 

431  opp.  I  s.  462-64.         ^32  opp_  I  s_  721  f. 

^33  opp.  I  s.  296—419. 

"•3'  nur  kurz  sei  hier  aufgezeigt,  inwiefern  ihm  die  institutio  für 
das  technische  zahlreiche  anknüpfungspunkte"  bot.  zunächst  sind 
schon  an  sich  rhetorik  und  epistolographie  durch  ihren  gegenständ  aufs 
engste  mit  einander  verwandt,  in  der  mittelalterlichen  schule  war  die 
rhetorik  allmählich  ganz  zu  der  ars  dictandi  et  epistolaudi  zusammen- 
geschrumpft (vgl.  M.  Herrmann,  Albrecht  von  Eyb  s.  174  ff.),  es  lag 
nahe,  dasz  man  nunmehr  auch  diese  seite  des  schulbetriebs  durch  her- 
beiziehen der  jetzt  weit  genauer  bekannt  gewordenen  rhetorik  der  alten 
neu  belebte.  —  Erasmus  unterscheidet  bei  den  briefen  das  suasorium 
genus  (s.  333 — 92)  und  das  genus  demonstrativum  (s.  394 — 404,  darunter 
auch  ein  genus  indiciale);  was  sich  in  diesen  beiden  classen  nicht  unter- 
bringen läszt,  faszt  er  unter  der  aufschrift  de  extraordinariis  generibus 
(s.  404 — 19)  zusammen,  er  konnte  dabei  das,  was  Quintilian  über  die 
drei  genera  der  rede  ausführt,  mit  geringen  modificationen  für  die 
Charakterisierung  der  einzelnen  briefgattungen  verwenden,  ebenso  boten 
zu  entlehnungen  gelegenheit  die  erörterung  über  die  erregung  der  affecte 
(s.  333 — 47),  über  den  gebrauch  der  beispiele,  der  fabulae,  der  obtestatio 
(s.  333 — 35),  über  den  passenden  stil,  die  amplificatio  und  die  figurae 
(s.  338  ff.),  bezüglich  der  inventio  verweist  er  geradezu  auf  die  vor- 
Bchriften  der  rhetorik  (z.  b.  s.  393). 


A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker.  381 

beschränken,  diese  sind  hier  besonders  reichhaltig;  denn  wenn  er 
auch  gelegentlich"'"  bemerkt,  das  buch  sei  für  die  schüler  selbst 
bestimmt,  so  betont  er  doch  auch  mehrfach  ^^^  dasz  er  dem  lehr  er 
darin  anweisungen  geben  will,  der  'gute  lehrer'  freilich,  so  läszt  er 
durchblicken,  bedürfte  dessen  nicht,  aber  da  man  solche  zur  zeit 
nicht  habe ,  so  wolle  er  vorläufig  die  mediocriter  literati  didascali 
unterstützen,  gerade  die  didaktischen  ratschlage,  die  er  in  diesem 
buche  gibt,  zeigen  recht  deutlich  das  nahe  Verhältnis  wirklicher 
geistesverwandtscbaft,  in  dem  Erasmus  zu  Quintilian  steht: 
er  begnügt  sich  nicht,  hier  und  da  an  der  Oberfläche  zu  schöpfen, 
sondern  er  hat  wirklich  den  tiefsten  gehalt  der  institutio,  ihre 
groszen  leitenden  grundsätze  sich  zu  eigen  gemacht. 

Gleich  in  dem  einleitungscapitel:  quis  epistolae  character,  klagt 
er  über  die  pedanterie  der  Schulmeister,  hoc  indoctum  doctorum 
genus  et  illiterata  literatorum  turba,  die  alles  in  feste  regeln  schnüren 
wollen  und  z.  b.  jeden  brief,  der  mehr  als  12  zeilen  lang  ist,  ver- 
dammen, er  fährt  fort:  recte  Fabius  (VI  1,  36)  scribit  absurdum 
fore,  si  quis  Herculis  personam  et  cothurnos  infanti  tribuat  —  verum 
multo  videtur  absurdius,  si  infantis  fasciolas  calceolosque  Herculi 
coneris  accommodare.  also  gerade  das,  was  ein  grundzug  Quintiliani- 
scher  didaktik  ist,  die  ab  Weisung  alles  pedantischen  und  starren 
regelkrams,  hat  er  hier  an  den  anfang  gestellt,  kurz  darauf 
(s.  302)  macht  er  sich  lustig  über  die,  welche  quasdam  compendiarias 
recte  scribendi  leges  verlangen ,  quas  et  ita  breves  esse  volunt ,  ut 
tertiam  paginam  non  totam  impleant:  et  ita  efficaces,  ut  intra  men- 
sem  non  totum,  e  muta  pecude  reddant  oratorem  eloquentem,  ebenso 
hatte  Quintilian  (II  13,  15)  erklärt:  Interim  nolo  se  iuvenes  satis 
instructos,  si  quem  ex  his,  qui  plerumque  cii'cumferuntur,  artis  libel- 
lum  edidicerint,  et  velut  decretis  technicorum  tutos  putent.  multo 
labore,  assiduo  studio,  varia  exercitatione,  plurimis  experimentis, 
altissima  prudentia,  praesentissimo  consilio  constat  ars  dicendi. 
genau  dieselbe  anschauung  über  den  nur  begrenzten  wert  theore- 
tischer Vorschriften,  wie  sie  die  schluszworte  an  den  tag  legen, 
spricht  auch  Erasmus  nachdrücklich  aus.  theoretische  anweisungen, 
heiszt  es  bei  ihm,  würden  geradezu  schaden,  wenn  sie  den  lernenden 
zu  der  meinung  verleiteten,  dasz  die  kunst  recht  zu  schreiben  ohne 
eifrige  Übung,  hingebenden  fleisz  und  allseitige  wissenschaftliche 
ausbildung  erworben  werden  könne.  ^" 

Quintilian  hatte  immer  und  immer  wieder  betont,  nicht  die 
kenntnis  der  regeln  allein  mache  den  künstler,  sondern  vor  allem 
das  eigne  urteil  (consilium),  das  taktgefühl,  das  die  theoretischen 
Vorschriften  im  einzelnen  fall  den  gegebenen  Verhältnissen  anzu- 
passen  wisse ^'^;   auch  Erasmus   erklärt  (s.  300):  non  damnabilis 

"'  z.  b.  opp.  I  s.  340.         ^38  s.  310.  303.  33.         ^"  g.  303. 

*^^  ich  erinnere  nur  an  die  eine  stelle  V  5,  11:  illud  dicere  satis 
habeo,  nihil  esse  non  modo  in  orando,  sed  in  omni  vita  prius  consilio 
frustraque  sine  eo  tradi  ceteras  artes  usw. 


382  A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

libertas,  si  non  destituat  nos  consilium,  cui  decet  ai-tem  ubique 
cedere;  und  die  erörterung  der  frage,  ob  das  genus  Rhodiense 
oder  Atticum  das  richtige  sei,  lehnt  er  ab  mit  der  bemerkung 
(s.  300) :  at  Fabius  existimat  eum  Optimum  dicendi  genus  sequi, 
qui  pro  re,  pro  loco,  pro  tempore,  pro  qualitate  auditorum  quam 
appositissime  dicit*^^  ut  inepte  faciant,  qui  dictionem  ad  certas  leges 
adstringunt. 

Wie  sehr  aber  auch  Erasmus  die  notwendigkeit  eignen  denkens 
und  eigner  tüchtiger  arbeit  betont,  so  übersieht  er,  ebenso  wie 
Quintilian*^",  durchaus  nicht,  dasz  die  theoretische  an  Weisung,  und 
zwar  durch  einen  urteilsfähigen  lehrer,  viele  mühe  und  viele  um- 
wege  erspare  (s.  303).  was  den  lehrer  selbst  betrifft,  so  wünscht 
er:  modo  ne  sit  ex  horum  numero,  qui  falsa  persuasione  doctrinae 
turgidi,  magna  (ut  inquit  Fabius  [I  1,8])  confidentia  stultitiam  suam 
perdocent,  illiteratiores  quam  ut  alios  docere  possint,  elatiores  quam 
ut  ab  aliis  doceri  se  patiantur. 

Ein  grundsatz  Quintilians  ist:  in  Omnibus  fere  minus  valent 
praecepta,  quam  experimenta  (II  5,  16).  Erasmus  hat  in 
seinem  buche  diesen  grundsatz  durchgeführt,  indem  er  alle  ein- 
zelnen gattungen  durch  musterbriefe  vor  äugen  führt. 

Was  Erasmus  in  den  capiteln  exercitatio  et  imitatio ,  quomodo 
proponendamateria,  de  emendando  (s.  302  — 14)  über  das  Unterrichts- 
verfahren in  diesem  fache  sagt,  erinnert  vielfach  an  die  erörterung 
der  schriftlichen  Übungen  in  der  schrift  de  ratione  studii  und  zeigt 
wie  jene  auf  schritt  und  tritt  den  einflusz  Quintilians.  nur  einzelnes 
sei  hervorgehoben:  der  lehrer  musz  bei  der  aufgabenstellung 
zunächst  ausführliche  anleitung  geben ,  wie  das  Quintilian  II  c.  6 
näher  dargelegt  hat;  die  correctur  soll  nicht  erfolgen  his  verbis, 
60  vultu,  quasi  discipulum  oderis  (vgl.  Quint.  II  4,  10  ff.);  über- 
haupt ist  zu  grosze  strenge  und  vor  allem  die  körperliche 
Züchtigung  verwerflich  (s.  312  mit  hinweis  auf  Quint.  I  3, 14  ff.), 
dagegen  ist  der  Wetteifer  zu  erregen  (s.  312);  der  lehrer  soll 
nicht  nur  stets  docieren,  sondern  auch  öfter  fragen  (s.311),  wofür 
die  begründung  von  Quintilian  (II  5,  13)  entlehnt  wird,  so  könnten 
noch  viele  hinweise  auf  Quintilian  aufgezeigt  werden:  schon  durch 
ihre  zahl  beweisen  sie,  wie  dem  Erasmus  die  institutio  aufs  innigste 
vertraut  und  nach  ihrem  Inhalt  gegenwärtig  war. 

Von  der  schrift  christiani  matrimonii  institutio  (1526) 
verdient  der  letzte,  von  der  educatio  handelnde  teil*^'  hier  eine  kurze 
erwähnung.  die  erörteruugen  über  zeugung,  Schwangerschaft  und 
erste  pflege  des  kindes  schlieszen  sich  an  Plutarch  an.  dieser  wii'd 
auch  namentlich  citiert,  wo  er  rät,  dasz  die  mutter  ihr  kind  selbst 
stillen  solle.  **^  mit  Aristoteles,  Plutarch  und  Quintilian  scheidet  er 
die  drei  factoren:  natura,  ratio,  usus  (sive  exercitatio).'*'"   über  die 


439  Quint.  XII  10,  67  ff.         ^^o  vgl.  II  13,  16  u. 
opp.  V  s.  590—602.         ■*<2  opp.  V  s.  592. 


443 


a.  a.  0. 


A.  Messer:  Quintiliau  als  didaktiker.  383 

zeit,  wann  und  die  art,  wie  die  bildungsarbeit  zu  beginnen  sei, 
spricht  er  sich  ganz  wie  Quintilian  (I  1,  15 — 20)  aus:  auch  die  zeit 
vor  dem  siebeuten  jähr  schon  ausnutzen,  aber  spielendes  lernen! 
vor  allem  abneigung  gegen  die  Studien  verhüten!"^  wie  wichtig 
die  eindrücke  des  frühen  kindesalters  sind  und  wie  fest  sie  haften, 
wird  wie  bei  Quintilian  (I  1,  5)  hervorgehoben  (s.  594).  über  die 
auswahl  des  lehrers  und  paedagogus,  bei  der  eruditio  und  noch  weit 
mehr  morum  integritas  zu  berücksichtigen  ist,  spricht  er  (s.  595) 
mit  unverkennbarer  anlehnung  an  Quintilian  (I  1,  8.  II  2)  und 
Plutarch  (c.  7). 

In  der  frage,  ob  Schulunterricht  oder  häusliche  Unterweisung 
den  Vorzug  verdiene,  entscheidet  er  sich  für  letztere,  abweichend 
von  Quintilian  (I  2).  allerdings  behandelt  er  diese  frage  nicht  rein 
theoretisch,  sondern  nur  mit  rücksicht  auf  die  bestehenden  schulen, 
die  er  samt  und  sonders  verwirft,  er  empfiehlt  einen  mittel  weg: 
5  oder  6  knaben  zu  hause  zusammen  unterrichten  zu  lassen,  oder 
solchen,  die  einer  öffentlichen  schule  angehören,  noch  einen  privat- 
lehrer  beizugeben  (s.  596). 

Auch  die  anwendung  körperlicher  Züchtigung  verwirft  er  in 
dieser  schrift  nicht  so  unbedingt  wie  Quintilian  (I  3,  13  — 18):  est 
aetas  cui  virgae  sunt  utiles:  est,  cui  pro  virgis  sufficit  obiurgatio 
(s.  601).  freilich  gedenkt  er  ihrer  nicht  gelegentlich  des  Schulunter- 
richts ,  sondern  bei  der  erziehung  durch  den  vater. 

Der  Ciceronianus''^^  (1528)  gehört  zu  den  Schriften  des 
Erasmus,  in  denen  sich  seine  ei  gen  art  im  glänzendsten  lichte 
zeigt:  die  freiheit  seines  geistes,  die  übersprudelnde,  originale  kraft, 
die  mit  urkräftigem  behagen  über  alle  die  geistig  armen  sich  erhebt, 
die  im  engsten  anschlusz  an  abgöttisch  verehrte  Vorbilder  mühselig 
nach  versagter  grösze  streben,  dennoch  darf  man  sagen,  dasz  der 
grundgedanke  dieser  schrift:  der  begriff  der  echten  nach- 
ahmung,  genau  der  ist,  den  Quintilian  im  zweiten  capitel 
des  zehnten  buches  (de  imitatione)  entwickelt,  wenn 
diese  ideengemeinschaft  in  einer  schrift,  die  so  den  ureigensten  geist 
des  Erasmus  widerspiegelt,  hervortritt,  so  beweist  das,  wie  nahe 
ihm  Quintilian  steht,  und  es  schmälert  den  rühm  des  Erasmus 
nicht  im  mindesten,  dasz  ein  anderer  dieselben  gedanken  anderthalb 
tausend  jähre  vor  ihm  gedacht  und  ausgesprochen  hat.  er  hat  sie, 
wenn  auch  mit  häufigen  beziehungen  auf  Quintilian,  so  doch  weit 
reicher  ausgeführt  und  originell  eingekleidet;  und  dann:  auch  in  der 
gedankenweit  ist,  zwar  nicht  alles,  aber  das  meiste  schon  einmal  da- 
gewesen, allein  im  wandel  der  geschlechter  kommt  es  darauf  an, 
dasz  das,  was  in  büchern  und  papier  vergraben  ruht,  vom  geiste  der 
nachfahren  erfaszt  werde  und  wiederbelebt  wirke  —  vernünftige  ge- 
danken verlieren  nicht  deshalb  ihren  wert,  weil  sie  nicht  originell  sind. 

Die  hauptgedanken  also,  die  Erasmus  über  falsche  und  wahre 


s.  593.         "5  opp.  I  s.  813-862. 


384  A.Messer:  Quintilian  als  didaktiker, 

nachahmuüg  entwickelt,  finden  sich  auch  bei  Quintilian,  der  dabei 
zumeist  auch  namentlich  citiert  wird,  nicht  einer  ist  nachzuahmen, 
sondern  die  besten'*^®;  nicht  äuszerlichkeiten  sind  nachzuahmen: 
mit  recht  verspottet  Quintilian  die,  die  durch  reichlichen  gebrauch 
des  periodenschlusses  esse  videatur  ihre  Cicero-ähnlichkeit  documen- 
tieren  wollen.  ^^'  die  sklavischen  nachahmer  machen  geradezu  ihrem 
vorbilde  unehre,  wie  das  Quintilian  an  den  nachäffern  Senecas 
nachweist.  ^^®  die  nachahmung  genügt  als  solche  gar  nicht  zur  pro- 
duction,  vieles  ist  schlechterdings  nicht  nachzuahmen,  nicht  immer 
folgen  wollen  musz  man  dem  vorbilde,  sondern  es  zu  über- 
treffen trachten.'*''^  endlich  ist  doch  das  apte  dicere  ein  haupt- 
vorzug  des  redners  —  virtus  meo  quidem  iudicio  maxime  necessaria 
nennt  es  Quintilian  (XI  1,  2)  —  wie  kann  der,  der  im  16n  Jahr- 
hundert nach  Christus  genau  so  redet  wie  Cicero  im  ersten  vor 
Christus,  apte  dicere?  so  ergibt  sich  geradezu:  res  ipsa  clamitat 
neminem  posse  bene  dicere  nisi  prudens  recedat  ab  exemplo  Cice- 
ronis  und:  Ciceroni  simillimus,  qui  de  quacunque  re  optima  dicit 
—  aus  demselben  geiste  heraus  hat  Quintilian  gesagt:  Attice  dicere 
est  optime  dicere. '"'" 

Was  gehört  nun  zur  echten  nachahmung  Ciceros?  vor  allem 
dienatur  und  das  Ingenium  Ciceros;  das  kann  man  aber  nur 
wünschen,  nicht  sich  durch  arbeit  anquälen ^^':  Cicero  nasci 
fortassis  potest  aliquis,  fieri  nemo.^^'"^  ferner,  dasz  man  die  wesent- 
lichen  Vorzüge  Ciceros  erreicht,  diese  liegen  aber,  wie  Quintilian 
bemerkt ,  nicht  in  den  verba  und  numeri ,  sondern  in  rebus  ac  sen- 
tentiis,  in  ingenio  consilioque.^^^ 

Diese  erreicht  aber  nur  der,  der  seine  eigne  Individua- 
lität in  seinen  Schriften  zum  ausdruck  bringt,  wie  Cicero  es  ge- 
than'*^*,  und  der  damit  in  lebendiger  beziehung  zu  der  gegen  wart 
bleibt,  wie  ja  auch  Cicero  ganz  in  seiner  gegenwart  gelebt  haf^'^: 
ego  non  agnoscam  Tullianum  nisi  qui  res  n ostras  Ciceroniana 
tractet  felicitate.  diese  letzte  Wendung  mag  zeigen,  wie  Ei'asmus 
aus  dem  grundgedanken  die  consequenzen  in  gröszerer  schärfe  und 
Vollständigkeit  zieht  als  Quintilian. 


"«  opp.  I  s.  822.     Quint.  X  1,  .39  ff. 

•»"  s.  826.     Quint.  X  2,  18.         "**  s.  827.     Quint.  X  1,  127. 

4"  s.  8-29.     Quint.  X  2,  9. 

4«  Quint.  XII  10,  27.  iihnlich  vor  ihm  Cicero  Brut,  c,  84.  —  Hier 
macht  auch  Erasmns  ein  für  sein  klares,  objeetives  urteil  sehr  be- 
zeichnendes zugestänflnis:  mirum  quo  supercilio  Thomas,  Scoti,  Durand! 
similiumque  harbariera  exsecrentur:  et  tamen  si  res  vocetur  ad  exactum 
iudicium,  illi  cum  se  nee  eloquentes,  nee  Ciceronianos  iactitent,  magis 
Ciceroniani  sunt,  quam  isti  qui  postulant  haberi  non  iam  Ciceroniani, 
sed  ipsi  Cicerones  (s.  833).  monstri  simile  narras,  lautet  die  antwort 
auf  diese  bemeikung. 

"^i  s.  839.     Quint.  X  2,  19  f.         ^''^  s.  829. 

"53  s.  839  und  862.     Quint.  X  2,   16. 

"^^  s.  839.         455  s.  856.. 


A.Messer:  Quintilian  als  didaktiker.  385 

Auch  in  den  anschauungen,  die  Erasmus  gelegentlich  über 
den  redner  und  den  rednerischen  bildungsgang  verrät, 
herscht  vollständige  Übereinstimmung  mit  Quintilian.  der  redner 
musz  sein  ein  vir  bonus■'^^  die  eloquentia  musz  sich  gründen  auf 
eine  allseitige  ausbildung''^^;  die  theoretischen  regeln  sind  nützlich 
und  wichtig,  aber  wichtiger  ist  die  eigne  Urteilsfähigkeit,  der  takt 
(consilium) -^^j  nur  der  künstler  selbst  vermag  an  den  werken  die 
kunst  nachzuweisen '^^^;  die  Übungsreden  dürfen  sich  nicht  von  der 
Wirklichkeit  und  dem  leben  entfernen''*''  u.  a.  erwähnt  werden  mag 
hier  auch,  dasz  Erasmus  in  dieser  schrift  den  Quintilian  als  einen 
geeigneteren  lehrer  der  rhetorik  bezeichnet  als  Cicero,  auf  die  frage 
des  Nosobulus:  et  artem  unde  petes  rectius  quam  a  Cicerone?  ent- 
gegnet Bulephorus :  fateor,  nemo  tradidit  felicius,  nemo  usus  est 
absolutius,  sed  tamen  accuratius  i^raecepit  Quintilianus,  atque  etiam 
copiosius,  qui  non  praecepta  modo  proponit,  verum  etiam  elementa, 
progressuum  rationem,  usum ,  exercitationem  ponit  ob  oculos,  non 
pauca  adiiciens ,  quae  M.  Tullius  vel  praetermisit,  vel  obiter  attigit. 
quod  genus  sunt  de  ratione  concitandorum  aflfectuum  usw.  '^'* 

Im  höchsten  masze  endlich  tritt  die  anlehnungan  Quin- 
tilian hervor  in  der  schrift:  pueros  ad  virtutem  aclitteras 
liberaliter  instituendos  idque  protinus  a  nativitate 
(1529)."'®-  wie  er  in  dem  widmungsbriefe  erzählt,  hat  er  die  schrift 
schon  während  seines  aufenthalts  in  Italien  (also  vor  1510)  als  ein 
beispiel  zu  dem  ersten  entAvurf  seiner  abhandlung  de  copia  con- 
cipiert.  er  will  darin  zeigen ,  wie  man  ein  gegebenes  thema  in 
gröster  kürze  und  in  aller  ausführlichkeit  behandeln  könne,  bei 
einem  solchen  musterbeispiel  für  Übungsarbeiten,  bei  dem  es  am 
meisten  auf  die  form  ankam,  ist  es  erklärlich  und  verzeihlich, 
dasz  Erasmus  die  gedanken ,  an  denen  er  seine  Virtuosität  in  der 
Variation  und  amplification  zeigen  wollte,  einfach  aus  einem  andern 
Schriftsteller  herübernahm,  sie  stehen  in  der  that  alle,  zum 
teil  in  denselben  Worten,  bei  Quintilian  I  1,  1.  15 — 20 
und  I  12,  8 — 11.''*^  es  sind  folgende:  der  Unterricht  musz  nach 
dem  rat  des  Chrysippus  möglichst  früh  beginnen,  so  lange  die 
kindesseele  noch  frei  ist  von  sorgen  und  fehlem,  noch  bildsam  ein- 
drücke aufnimmt  und  zäh  festhält,  der  einwand,  dies  alter  fasse 
noch  nicht  den  Unterricht  und  ertrage  noch  nicht  seine  beschwerde, 
ist  hinfällig;  denn  1)  der  elementarunterricht  nimmt  lediglich  das 
gedächtnis  in  anspruch  und  das  ist  jetzt  am  kräftigsten;  2)  wir  sind 
zur  erkenntnis  geschaffen,  darum  kann  diese  nicht  früh  genug  be- 

*=ß  s.  824.  825.     Quint.  XII  1. 
'*"  s.  822.     Quint.  I  10. 

«5  s.  841.     Quint.  II  13,  14.   XI  2,  27.  44.   XII  10,  67  u.  ö. 
^5^  s.  841.     Quint.  II  5,  7. 
''*"'  s.  855.     Quint.  II  10.         «i  s.  841. 
«2  opp.  I  s.  420-444. 

463  Quintilian    wird  übrigens  in  der  kurzen  fassung  der  declamatio 
nicht  genannt,  nur  in  der  erweiterten  wird  er  gelegentlich  citiert. 


386  A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

ginnen;  3)  man  braucht  in  dem  späteren  alter  die  dinge,  die  man 
jetzt  am  leichtesten  lernt;  4)  die  sittliche  bildung  beginnt  ja  auch 
schon;  5)  wenn  das  gelernte  auch  wenig  ist,  so  braucht  dies  wenige 
doch  später  nicht  mehr  gelernt  zu  werden;  6)  der  Unterricht  füllt 
am  besten  die  zeit  und  verhütet  moralische  fehler;  7)  sollte  er  die 
köi'perliche  kraft  etwas  beeinträchtigen,  so  gewinnt  dafür  der  geist: 
Sorgfalt  vermeidet  übrigens  etwaige  gefahren  für  die  gesundheit; 
8)  das  lernen  musz  jetzt  noch  ein  spiel  sein;  9)  das  jugendliche 
alter  ist  thatsächlich  gar  nicht  so  schwach  und  schon  deshalb  recht 
leistungsfähig,  weil  es  sich  der  mühe  nicht  bewust  wird. 

In  der  erweiterten  fassung  hat  sich  Erasmus  nicht  völlig 
auf  die  allseitige  beleuchtung  dieser  grundgedanken  beschränkt;  in 
einer  ziemlich  langen  einleitung  (s.  421 — 30)  bespricht  er  einige 
in  beziehung  dazu  stehende  punkte,  aber  ebenfalls  mit  anlehnung  an 
Quintilian  (und  Plutarch).  die  erziehung  und  bildung  verdient  die 
gröste  Sorgfalt,  sie  ist  das  wertvollste  besitztum,  das  wir  den  kindern 
hinterlassen ^*\  aber  es  gibt  eitern,  die  ihre  kinder  geradezu  selbst 
verderben  ^^°;  drei  factoren  kommen  besonders  in  betracht:  natura, 
ratio,  exercitatio.  *^^ 

Es  folgt  als  behandlung  des  eigentlichen  themas  die  Wider- 
legung der  gegen  den  frühzeitigen  beginn  des  Unterrichts  vor- 
gebrachten einwände:  1)  das  kind  fasse  ihn  noch  nicht;  2)  es  habe 
noch  nicht  die  nötige  körperliche  Widerstandsfähigkeit;  3)  das,  was 
in  jener  frühen  zeit  gelernt  werde,  sei  so  gering,  dasz  es  gar  nicht 
in  betracht  komme.  ^"  im  zweiten  abschnitt  knüpft  er  an  den  ge- 
danken,  dasz  der  anfangsunterricht  möglichst  leicht  und  angenehm 
gemacht  werden  müsse,  nähere  erörterungen  über  das  Verhältnis 
von  lehrer  und  schüler  und  über  die  anwendung  körperlicher  Züchti- 
gung, für  die  ihm  auch  Quintilian  vorbildlich  ist.  "^^ 

Nicht  im  einklang  mit  Quintilian  befindet  er  sich,  wenn  er 
schon  für  die  früheren  Stadien  des  Unterrichts  mit  berufung  auf 
eigne  erfahrung  den  grundsatz  aufstellt  in  eam  igitur  partem  est 
adiuvanda  natura,  in  quam  suapte  sponte  prona  est,  ^"^  Quintilian 
hatte  ausdrücklich  diesen  satz ,  den  er  übrigens  als  allgemein  ver- 
breitet bezeichnet,  bekämpft  und  eine  mehr  allseitige  ausbildung 
empfohlen,  die  auch  die  selten  des  geistes,  die  von  der  natur 
weniger  entwickelt  sind,  berücksichtigt;  nur  für  die  eigne  pro- 
duction  empfiehlt  er  berücksichtigung  der  persönlichen  Indivi- 
dualität.^"   dieser  punkt  mag  als  beleg  dafür  dienen,  dasz  Erasmus 

*"  s.  422—25.     Plut.  c.  8. 

46*  s.  426  mit  wörtlichem  anschlusz  an  Quint.  I  2,  6—8. 

466  s.  427—30.  Plut.  c.  4.  Quint.  I  2,  20.  11,  2  u.  ö.  in  der  näheren 
besprechung  der  natura  (s.  429)  anlehnung  an  Plut.  c.  2.  3. 

4"  s.  430—33.  4.33—42.  422—44. 

^es  s.  434—39.     Quint.  II  2  und  I  3,  13—18.         ^69  g,  439 

4'"  Quint.  II  8  und  X  2,  14  ff,  —  So  stimmt  er  auch  nicht  iibereia 
mit  Quintilians  erörterungen  über  den  groszen  wohllaut  der  griechischen 
spräche  im   vergleich   zu  der   lateinischen,     er   sagt   über   einen   seiner 


E.  Schwabe:  zur  geschicMe  der  deutschen  Horazübersetzungen.    387 

auch  Quintilian  gegenüber  seine  geistige  freiheit  bewahrt,  vieles 
hat  er  aus  ihm  entlehnt ,  aber  er  hat  es  gethan ,  weil  es  ihm  aus  der 
seele  gesprochen  war;  für  einzelne  seiner  Schriften  hat  er  gei'adezu 
die  grundgedanken  bei  Quintilian  gefunden  —  oder  vielleicht,  rich- 
tiger gesagt:  wiedergefunden,  aber  er  hat  sie  mit  der  fülle  seines 
geistes  und  der  Schönheit  seiner  spräche  umkleidet,  er  hat  sie  mit 
klarem  urteil  auf  seine  eigne  zeit  angewendet  und  allseitig  ihi'e  con- 
sequenzen  gezogen. 

beweise  geradezu:  ridiculum  est  quod  Fabius  hoc  argumento  persuadere 
conatur  nos  Graecis  inferiores  esse  vocum  suavitate.  die  stelle  findet 
sich  in  dem  dialogus  de  recta  latini  graecique  sermonis  pronunciatione. 
opp.  I  s.  801;  vgl.  Quint.  XII  10,  27  ff. 

(fortsetzung  folgt.) 
GiESZEN.  August  Messer. 


25. 

ZUR  GESCHICHTE  DER  DEUTSCHEN  HORAZ- 
ÜBERSETZUNGEN.* 


3.    Die   Dresdner    Übersetzung    der    vier   odenbüeher   (von 
M.  Johannes  Bohemus). 

Die  zeitlich  nächste  Übersetzung,  die  in  den  kreis  unserer  be- 
trachtungen  zu  ziehen  ist,  rührt  aus  Dresden  her  und  ist  unter  den 
auspicien  des  damaligen  Kreuzschulrectors  M.  Johannes  Bohemus 
(Boehme,  amtierte  1639  — 1676)  entstanden. 

Über  das  leben  und  die  wissenschaftliche,  pädagogische  und 
dichterische  thätigkeit  dieses  sächsischen  schulmannes,  der  zugleich 
kaiserlicher  gekrönter  poet  war,  ist  von  0.  Meltzer  in  diesen  jahrb. 
bd.  112,  s.  190  —  225.  265—287  erschöpfend  gehandelt  worden, 
von  ihm  erfahren  wir,  dasz  ein  anhänger  und  hauptvertreter  der 
Opitzschen  richtung,  der  professor  der  eloquenz  August  Buchner* 
zu  Wittenberg,  der  zugleich  als  der  'genossene'  seit  1641  dem  ver- 
bände der  fruchtbringenden  gesellschaft  angehörte ,  auf  Bohemus, 
der  ebenda  studierte  (ao.  194),  groszen  einflusz  gewann,  es  gelang 
ihm  (ähnlich  wie  bei  Bucholtz,  der  auch  in  Wittenberg  sich  für 
Horaz  hatte  begeistern  lassen)  den  begabten  jungen  schulmann  an 
die  Opitzsche  tradition  zu  fesseln  und  auf  Horaz  hinzuleiten. 


'  vgl.  jahrb.  bd,  154  s.  305—333.  s,  545—574. 

2  prof,  poeseos  et  orator.  in  acad.  Witeberg.  *  1591,  f  1661.  vgl. 
Palm  in  der  allg.  d,  biographie  III  s.  485  ff.  Bursian,  gesch.  der  class. 
philol.  in  Deutschland  s.  215  anm.  1  und  bes.  s.  298.  Cholevius,  gesch. 
der  deutschen  poesie  in  ihren  antik,  dementen  I  323.  Gervinus,  gesch. 
der  deutschen  dichtung  III  300  ff.  die  litteratur  bei  Goedeke,  grund- 
risz  III 'ä  s,  52—54. 


388    E.  Sch-wabe:  zur  geschichte  der  deutschen  Horazübersetzuugeu. 

Im  jähre  1639  wurde  Bohemus  als  nachfolger  Hausmanns  an 
die  Kreuzschule  zu  Dresden  als  rector  berufen  und  setzte  dort  bald 
die  in  Wittenberg  gewonnenen  anschauungen  in  thatsachen  um. 
nach  der  cbursächsischen  Schulordnung^  von  1580  war,  allerdings 
zunächst  nur  für  die  drei  fürst enschulen,  nicht  für  die  sogenannten 
'partikularschulen',  verlangt  worden,  dasz  auch  des  Horatii  Odae  in 
der  obersten  classe  gelesen  werden  sollten,  begeistert  stimmte  der 
neue  rector  dieser  anordnung  der  behörde  zu.  der  neue  aufschwung 
der  deutschen  lyrik  unter  Opitz  hatte  auch  ihn  mit  fortgerissen, 
und  mit  bezugnahme  auf  ein  wort  seines  lehrers  Buchner:  quocirca 
nunquam  satis  laudari  posse  statuo  illos,  qui  Horatii  libros  intro- 
duxerunt  in  scholas  eorumque  lectione  formari  potissimum  foverique 
adolescentum  studia  voluerunt.  id  enim  sensisse  ipsos  arbitrandum 
eum  esse  auctorem  Horatium,  qui  et  pulcherrimo  sermonis  genere 
linguam  instrueret  et  aureis  praeterea  monitis  imbueret  animura  ac 
induendae  verae  virtuti  praepararet  usw.  machte  er  sich  an  die 
schöne  und  dankbare  aufgäbe,  mit  einer  Schnelligkeit,  die  uns  heute 
unbegreiflich  vorkommt,  wurde  ein  ganzes  odenbuch  in  vier  wochen 
bewältigt,  und  dem  Unterricht  in  diesem  stoffe  und  den  gleich- 
zeitigen dichterischen  be.strebungen  des  federgewandten  mannes 
verdanken  wir  die  eigentümliche  Übersetzung  der  'dreiszig  Dresdner 
Schüler',  über  deren  wirklicher  autorschaft  bis  jetzt  ein  gewisses 
dunkel  liegt,  das  sich  wenigstens  einigermaszen,  wie  wir  hoffen,  auf- 
hellen läszt. 

Über  seine  absiebten  bei  abfassung  dieser  Übersetzung  sagt 
Bohemus  in  der  vorrede  der  ersten  ausgäbe  (A)  vom  jähre  1643,  die 
sich  an  den  damaligen  regierenden  bürgermeister  'der  churfürstl. 
S.  Haupt-  vnd  Residentz  Vestung  Dressden',  den  'Ehrenvesten  usw. 
Herrn  Elias  Gentzsch,  Ictum'  richtet,  etwa  folgendes:  'Weil  ich 
neben  andren  vnterschiedliche  Authores  in  den  fürnehmsten  Sprachen 
vnd  insonderheit  die  herrliche  Bücher  Julii  Caesaris  zu  Ende  bracht, 
als  habe  ich  meine  Discipulos  auch  in  diesem  fürtrefflichen  Poeten 
(d.  h.  Horaz)  in  Etwas  anführen  wollen.  —  Vnd  damit  sie  zu 
weiterem  Fleiss  erwecket  würden,  hab  ich  das  Erste  Buch,  nachdem 
es  innerhalb  Vier  Wochen  fruchtbarlich  absolvieret,  nicht  allein 
durch  andere  Parodias,  mehrenteils  sacras^)  imitiren  lassen,  sondern 
auch  etlichen  Geschicktem  vnd  Fleissigern  anbefohlen  (wozu  auch 
vnser  Herr  Opitius  in  seinem  Lob  vom  Ackerbaw^  eben  auss  diesem 
Poeten  Vrsach  gegeben)  ein  oder  zwo  Odas  in  teutscbe  Verse  zu 
besserer  Vbung  zu  vbersetzen.  Welches,  weyl  es  den  Meisten 
ziemlich  abgangen,  vnd  nur  etlichen  wenigen  zu  helffen  gewesen, 
hab  ich  so  fort  fahren  lassen ,  vnd  ist  entlichen  geschehen ,  das  für 


3  Vormbaum,  evang.  schulorclnun'jen  I  s.  230  und  bes.  281. 

^  dies  war  das  hergebrachte,  zahlreiche  beispiele  finden  sich  in 
der  bekannten  Sammlung  der  delitiae  poet.  Germ.     Frankfurt  1614. 

5  vgl.  Opitz'  gedichte,  herausgeg.  von  Triller  bd.  I  s.  139  — 144. 
Lehnert,  Königsb.  programm  des  FriedrichscoUegs  1882  s.  2. 


E.Schwabe:  zur  geschiebte  der  deutscheu  Horazübersetzungeu.    389 

gut  angesehen  worden,  das  Erste  Buch  zu  publiciren,  füi-nehmlich, 
das  die  Discipuli  hierdurch  zu  mehrern  Pleiss  Anlass  bekemen. 
Hoffe,  es  werde  usw.'  ganz  ähnlich  äuszert  er  sich  zehn  jähre  später 
in  der  vorrede  (der  ausgäbe  A  von  1654)  zum  dritten  buche:  'In 
diesem  aller  Welt  bekanden  Poeten  habe  ich  ferner  mit  meinen 
Discipulis,  ihn  in  deutsche  Pöesi  zu  bringen,  fortgefahren  und  damit 
sie  zu  mehrern  Fleiss ,  wohin  alles  eintzig  und  allein  angesehen,  er- 
muntert würden,  solche  auf  Begehren  zu  publiciren,  geschehen 
lassen.  —  Wo  was  geirret,  oder  ein  und  der  andre  Vers  was  harte 
und  genötigt  zu  sein  scheinet,  so  wisse  man,  dass  Anfahende  zur 
Vollkommenheit  noch  nicht  gelanget,  und  dass  diese  art  zu  über- 
tragen schwerer  sey,  als  mancher  glaubet,  der  von  andern  urtheilet 
und  weder  Vrtheil  noch  Verstand  selber  davon  hat.' 

Wir  haben  es  also  mit  einem  teils  pädagogischen,  teils  poeti- 
schen unternehmen  zu  thun.  getreu  der  Opitzschen  Vorschrift,  dasz 
metrische  Übersetzungen  notwendig  seien ,  weil  sie  am  meisten  den 
sinn  für  das  formale  schärften  (und  darauf  legte  man  damals  den 
höchsten  wert) ,  leitete  also  Bohemus  bei  seiner  Horazlectüre  seine 
Schüler  vornehmlich  zu  eigner  reproduction  nach  dem  antiken  vor- 
bilde an  und  gieng  sogar  so  weit,  diese  erzeugnisse  der  musa  scbo- 
lastica  dem  publicum  gedruckt  darzubieten,  verwenden  liesz  er,  den 
Opitzschen  ansichten  entsprechend,  lauter  neue  einfache  metra  in 
reimen,  bisweilen  auch  Alexandriner,  und  liesz  sogar,  hierin  seinem 
lebrer  Buchner  folgend,  den  weiteren  schritt  zu,  dasz  auch  ana- 
pästische masze  verwendet  werden  durften,  mit  stolz  erklärt  er  in 
der  vorrede  zum  vierten  buch  der  zweiten  ausgäbe  (B)  vom  jähre 
1656:  'Denn  auff  solche  Masse  anjetzt  ein  Junger  Knabe  denHoratium 
innerhalb  wenig  Tagen  verstehen  lernen  kann,  da  er  sonst  hiebevor, 
sonderlich  wenn  er  dazu  noch  mit  dem  schedlichen  Diktieren^  auff- 
gehalten  wurde,  etliche  Jahr  damit  zubringen  muste,  Deme  diese 
Übertragung  missgefällt,  der  mache  sie  besser,  es  soll  mich  zu  nichts 
bewegen ,  als  zur  Nachfolge,  kein  Werck  hat  weder  auff  eine  Zeit, 
noch  von  einer  Hand  seine  Vollkommenheit  jemals  erlanget.' 

Diese  Übertragung  der  Kreuzschüler  liegt  uns  in  einer  doppelten 


®  in  seinen  programmen  (2  bde.  gedruckt  von  Melchior  Bergen  in 
Dresden  1665.  1666)  spricht  sich  Bohemus  öfters  gegen  diese  den  eigent- 
lichen Unterricht  erstickende  weise  vieler  lehrer  aus,  vgl.  Meltzer  ao. 
ß.  214  note  36.  ja  er  geht  sogar  so  weit,  den  anhänger  dieser  ver- 
alteten methode  als  infrunitus  Eruditionis  vespillo  zu  bezeichnen,  ähn- 
lich in  der  vorrede  der  ausgäbe  A  vom  zweiten  odeubuch:  -Noch  ist 
zu  betauern  und  zu  beklagen,  das  in  vielen  Schuelen  das  vnnötige, 
sehr  beschwerliche,  weitläufüge  vnd  schädliche  Diktiren  also  ein- 
gerissen, das  die  Jugend  so  lang  gehindert  vnd  aufifgehalten  wird,  da 
doch  dieselbe,  wenn  man  den  modum  Instituendi  recht  verstehet  vnd 
gebrauchen  kann,  in  einem  Jahr  mit  weniger  Mühe  vnd  weit  mehrem 
Nutz  viel  weiter,  wie  aus  der  Erfahrung  bewust,  angeführet  vnd  ge- 
bracht werden  kann,  als  durch  das  hochhinderliche  Diktiren  in  fünfif 
vnd  mehr  Jahren  nicht  geschehen  kann',  vgl.  Paulsen,  gesch.  d.  ge- 
lehrten Unterrichts,  bd.  I*  s.  547. 


390    E.  Schwabe:  zur  geschichte  der  deutschen  Horazübersetzungen. 

fassung  vor:  ausgäbe  A  in  vier  einzelnen  heften^  mit  besonderen 
vorreden,  herausgegeben  unter  dem  titel:  1)  Des  Hochberübmten 
Lateinischen  Poetens  Q.  Horatii  Flacci  Erstes  Buch  Odarum  oder 
Gesänge,  in  teutsche  Poesi  vbersetzt,  Dressden,  Gedruckt  vnd  ver- 
legt durch  Gimel  Bergens  Sei.  Erben.  1643.  mit  widmung  an  den 
obengenannten  Bürgermeister  Gentzsch.  2)  Des  —  Ander  Buch  — 
1643.  3)  Des  —  Drittes  Buch.  —  Dressden,  verlegts  Andreas 
Löffler,  Vnd  druckts  Melchior  Bergen,  Im  Jahr  1655.  4)  Des  — 
Viertes  Buch.  —  Mit  Churfürstlicher  Sächsischer  Freyheit  nicht 
nachzudrucken.  Dressden  in  Verlegung  Andreas  Löfflers ,  druckts 
Melchior  Bergen,  Im  Jahre  1655.  —  Und  daneben  finden  wir  B) 
eine  gesamtausgabe  '  des  hochberühmten  Lateinischen  Poetens 
Q.  Horatii  Flacci  Vier  Bücher  Odarum  oder  Gesänge  in  Teutsche 
Poesie  übersetzet  mit  Churfürstlicher  S.  Freyheit  nicht  nachzu- 
drucken, Dressden.  In  Verlegung  Andreas  Löfflers.  Druckts 
Melchior  Bergen,  Anno  1656.' 

Die  beiden  ausgaben  decken  sich  in  ihrem  Inhalt  keineswegs, 
am  meisten  entfernen  sich  A  und  B  im  texte  der  ersten  beiden 
odenbücber  von  einander,  aber  auch  die  beiden  letzten  sind  (wie 
Meltzer  ao.  s.  281  anzunehmen  scheint)  keineswegs  identisch,  sogar 
die  dedicationen  der  einzelnen  bücher^  sind  an  verschiedene  per- 
sonen  gerichtet. 

Der  anteil  der  einzelnen  schüler  an  dieser  Sammelübertragung 
ist  nun  in  ausgäbe  A  so  gekennzeichnet,  dasz  jeder  der  jugendlichen 

^  diese  erste  ausgäbe  scheint  wenig  Verbreitung  gefunden  zu  haben. 
vgl.  ÄJeltzer  ao.  s.  281  note  84.  die  angaben  bei  Degen  I  s.  168  sind 
so  verworren,  dasz  man  auf  den  gedanken  kommen  musz,  dasz  er  weder 
ausgäbe  A  noch  B  selbst  gesehen  hat.  aus  den  notizen  bei  Ro.senheyn 
bd.  I  s.  XXII  könnte  man  fast  schlieszen,  dasz  noch  eine  dritte  aus- 
gäbe vorhanden  gewesen  wäre,  zu  gesicht  ist  mir  eine  solche  aber 
nicht  gekommen.  —  Ein  exemplar  der  seltenen  ersten  ausgäbe  in  der 
kgl.  bibliothek  zu  Dresden  (poet.  vet.  lat.  1025^).  diesem  exemplar 
ist  angebunden  1)  eine  sonst  unbekannte  schrift:  Die  fünfF  Lustigen 
Brüder  —  Mit  lustiger  Feder  bescinieben  durch  Aulandern  von  Hoff- 
mannswalde.  1672  (Pfeiffer  bei  Goed.  grundrisz  IIP  s.  267?  ?).  sie  enthält 
aus  Philander  v.  Sittewalds  gesiebten  die  (auch  aus  Grimm ,  märchen 
nr.  23)  bekannte  geschichte  vom  vogel,  maus  und  bratwurst.  2)  Bohemi 
Homeriani  operis  Analysis  dichotomica  (also  nach  damals  allgemein 
geübter  methode).     Dresden,  Bergen  1664. 

*  buch  I.  1643  an  Elias  Gentzsch.  1656  (übrigens  mit  fast  unver- 
änderter vorrede)  an:  'Herrn  Johann  Georgen,  dises  hochfürstlichen 
Namens  dem  Andern',  also  den  damaligen  kurprinzen.  —  Buch  II.  1643 
an  Nikolaus  Helifreich  'Churfürstl.  Hoflf-  vnd  Justitien  Rath'  (datiert 
vom  12  februar).  1656  (datiert  vom  24  april)  an  Haubold  von  Miltitz 
'hochlöbl.  Ober  Cousi.storii  Praesidenteu'  und  an  den  hofprediger  Jacob 
Weller  von  Molsdorff.  —  Buch  III.  1655  (datiert  vom  26  dec.  1654)  an 
sechs  verschiedene  verwandte  und  gönner.  1656  erscheinen  deren  nur 
noch  zwei.  —  Buch  IV.  1655  (ohne  datum)  den  drei  damaligen  bürger- 
meistern  von  Dresden.  1656  deren  nur  noch  zwei,  dafür  der  für  den 
autor  gewis  sehr  notwendige  und  nützliche  inspector  der  kurfürstl. 
sächsischen  bibliothek,  Christian  Brehme,  der  nebenher  'Geheimter 
Kammerdiener  (!)  vnd  vornehmer  des  Rahts  in  Dressden'  war. 


E.Schwabe:  zur  geschichte  der  deutschen  Horazübersetzungen.    391 

autoren  seinen  naraen  und  geburtsort  unter  die  von  ihm  über- 
tragenen öden  setzte,  und  zwar  geht  dies  durch  alle  vier  odenbücher 
hindurch  (nicht,  vpie  Degen  a.  a.  o.  und  Rosenheyn  a.  a,  o.  angeben, 
blosz  in  buch  III  und  IV,  oder  wie  Meltzer  meint,  nur  in  buch  I 
und  II).  in  der  ausgäbe  B  von  1656  ist  dagegen  ein  Verzeichnis 
sämtlicher  beteiligten  vorangedruckt,  ohne  den  einzelnen  ihren  an- 
teil  besonders  zuzuweisen,  es  sind  ihrer  im  ganzen  31  (die  'berüch- 
tigten dreiszig  Dresdner  schüler'  bei  Obbarius  s.  VIII)  genannt, 
doch  fehlen  sechs  namen  aus  der  ersten  ausgäbe:  Mauritius  Striebel 
und  Christoph  Faber  aus  Dresden,  Gregor  Harnisch  aus  Scheiben- 
berg, Tobias  Zimmermann  aus  Wölffen  (?)  in  Thüringen,  David 
Schmid  aus  Nossen  und  Sigismund  Richter  aus  Radeberg,  wie  wir 
weiter  unten  sehen  werden,  sind  die  Übersetzungen  der  vier  letzt- 
genannten in  der  ausgäbe  B  ausgemerzt  und  durch  andere  producta, 
wahrscheinlich  aus  Bohemus  eigner  band,  ersetzt  worden,  einen 
grund  dafür  können  wir  nicht  angeben,  denn  in  dem  alphabetischen 
Verzeichnis  seiner  schüler,  das  Bohemus  im  programm  von  1657 
(progr.  II  s.  111 — 120)  gibt,  und  in  dem  er  aufzeichnet,  wozu  es 
die  einzelnen  gebracht  haben,  wird  wenigstens  Zimmermann  als 
schulrector  in  Glucksberg  (Thüringen)  genannt,  Mauritius  Striebel 
wurde  pastor  in  Roszwein,  Gregor  Harnisch  pastor  zum  'Durren- 
lintz'  (?)  und  Christoph  Faber  (der  einer  jüngeren  generation  an- 
gehörte) war  wenigstens  schon  magister.  wir  haben  es  also  bei 
ihnen  keineswegs  mit  lauter  verunglückten  existenzen  zu  thun,  deren 
sich  Bohemus  später  hätte  schämen  müssen,  auffällig  ist,  dasz  zwei 
der  im  Verzeichnis  von  B  weggelassenen,  David  Schmid  und  Sigis- 
mund Richter,  die  bei  der  abfassung  der  ersten  ausgäbe  mit  7,  resp. 
2  öden  beteiligt  waren,  in  der  Sammlung  der  programme  des  Bohemus 
nirgends  vorkommen,  obgleich  die  namen  der  einzelnen  schüler,  die 
bekanntlich  bei  solennen  redeacten  reichlich  auftraten  oder  auch 
nur  bei  der  Verteilung  der  strenae^  beteiligt  waren,  sehr  häufig  er- 
wähnt werden. 

Die  übrigen  Übersetzer  teilen  sich  scharf  in  zwei  abteilungen, 
von  denen  die  ältere  hälfte  die  bücher  I  und  II,  die  jüngere  die 
bücher  III  und  IV  bearbeitete,  da  keine  abteilung  in  das  gebiet  der 
andern  übergreift,  so  werden  es  also  die  primaner  der  Jahrgänge 
1642  und  1654  gewesen  sein,  die  meisten  von  ihnen  sind  nur  ein- 
mal zu  Worte  gekommen;  einzelne  jedoch ,  die  dem  herausgeber  be- 
sonders wohlgelungene  producte  zu  tage  geföi'dert  zu  haben  schienen, 
sind  bis  zu  10  öden  vertreten,  so  übersetzte  z.  b.  Johann  Andreas 
Lucius,  der  spätere  hofprediger  zu  Dresden  (vgl.  progr.  bd.  I,  vorr. 
8.  V),  ein  auch  sonst  häufig  als  redner  auftretender  Vorkämpfer 
seiner  mitschüler,  die  öden  I  1.  7.  35.  36,  37;  II  1.  16.  19.  ein 
anderer,    Fridericus  Bürger  (später  pastor  in  Somsdorf),    der  bei 

^  d.  h.  fingierter  weihnachts-  oder  neujahrsg-eschenke  (meist  Edel- 
steine), die  den  fautores  oder  angeseheneren  schülervätern  mit  einem 
darauf  bezüglichen  lat.  epigramm  überreicht  zu  werden  pflegten. 


392    E.  Schwabe :  zur  geschichte  der  deutschen  Horazübersetzungen. 

seinem  abgange  1645  nach  Wittenberg  als  discipulus  probus  pius 
diligens  eruditus  bezeichnet  wird,  hat  noch  mehr  geliefert,  und 
etwa  das  gleiche  quantum  leisteten  bei  dem  zweiten  jahrgange  1654 
die  primaner  Elias  Conrad  und  Esaias  Hickmann, 

Jedoch,  keiner  von  den  genannten,  auch  wenn  sie  sonst  von 
Bohemus  mit  hohem  lobe  gepriesen  werden ,  hat  sich  nur  irgendwie 
später  als  dichter  einen  namen  gemacht.  Jöcher,  Adelung,  Goedeke 
kennen  sie  nicht,  und  doch  sind  manche  ihrer  producte,  nach 
historischem  maszstabe  gemessen,  auch  nicht  schlechter  als  viele 
gedichte  des  17d  Jahrhunderts,  die  heute  noch  allbekannt  sind,  und 
das  musz  auffallen,  schon  Meltzer  ao.  s.  282  hat  daraufhingewiesen, 
dasz  es  ein  sehr  bedenkliches  experiment  gewesen  wäre,  mit  den 
dichterischen  produeten  von  schülern  auf  den  öffentlichen  markt  zu 
treten ;  zumal  da  es  sich  (wie  Bohemus  selbst  meinte ,  da  er  die 
arbeiten  Bucholtzens  nicht  kannte)  um  die  erste  Übertragung  des 
Horaz  ins  deutsche  handelte,  und  so  musz  man  denn  auf  die  schon 
von  Meltzer  ausgesprochene  Vermutung  kommen,  dasz  der  anteil  des 
Bohemus  an  dieser  Übersetzung  gleich  von  anfang  an  ziemlich  be- 
deutend war,  und  wenngleich  sein  name  auf  den  titelblättern  als 
autor  fehlt,  werden  wir  ihn  wohl  nicht  mit  unrecht  als  den  Ur- 
heber der  ganzen  Übersetzung  wenigstens  in  ihrer  anläge  anzusehen 
haben :  ja  es  ist  sogar  wahrscheinlich ,  dasz  auch  der  text  der  Über- 
setzung zum  guten  teil  von  ihm  herrührt. 

Dasz  schon  seine  Zeitgenossen  solches  annahmen,  beweist  ein 
cpigramm  des  damaligen  oberhofpredigers  David  Hoe  von  Hohenegg, 
das  der  ausgäbe  von  1643  vorgedruckt  ist,  und  das  Bohemus  in  der 
andern  ausgäbe  wiederholen  liesz: 

Non  est  cuiusvis  trausferie  poemata  Flacci: 
Tu  potes  artificem  teque,  Boheme,  probas. 

Testatur  specimen,  quod  iam  prodiie  iubetur: 
Completum   fac  sis  mox  videatur  opus! 
unterzeichnet:   auTOCXebiUJC  (d.  h.  nach  damaliger  redeweise:   aus 
dem   Stegreif)   D.  Hoe.    ähnliches   sagt  Jacob  Weller  und   ebenso 
spricht  sich  der  Freiberger  Superintendent  Sebastian  Gottfried  Starck 
aus  (vorrede  zum  vierten  buch  der  ausgäbe  A): 

Quantae  molis  erat  Veneres  didicisse  Latinas 
Pindarum  et  ad  Flacci  concinuisse  chelyn, 

Tantae  molis  erit  Germanos  discere  flores 

Flaccum  atque  ad  numeros  ire,  Boheme,  tuos. 

und  auf  eine  solche,  von  Bohemus  wenigstens  zu  erwartende,  leistung 
scheint  hinzuweisen  die  mahnung,  die  sein  alter  lehrer  Buchner  an 
ihn  richtete  (vorrede  zu  buch  11  in  ausgäbe  A) : 
Qui  Latio  non  eloquio  patrii  oris  honorem 
Copulat,  ille,  Boheme,  mihi 
Nee  doctus  satis  et  parum  disertus. 
das  interessanteste  beweisstück  aber  (das  leider  zu  lang  ist,  um  ver- 
öffentlicht zu  werden:  scheint  auch  sonst  unbekannt)  ist  das  'dem 
Mag.  Johann  Böhmen,  keyserlich  gekrönten  Poeten  und  in  der  Kur- 


E.  Schwabe:  zur  geschiohte  der  deutschen  Horazübersetzungen.    393 

fürstlichen  Residentz  Stadt  Dx'esden  Wolverdienten  Rektorem,  als 
derselbe  die  allernutzbarste  Bücher,  des  fürtreflichen  Lyrischen 
Poeten,  Q.  Horatii  Flacci  in  unsere  adele  teutsche  Haubt-  und 
Muttersprache  versetzete  gewidmete  'Ehrenlied',  aus  wohlmeinendem 
teutschen  Hertzen  und  Gemühte  Abgesungen  von  Johann  Rist, 
Zwantzig-Jährigem  Prediger  zu  Wedel  an  der  Elbe.'  es  ist  dies  der 
aus  unserm  gesangbuch  wohlbekannte  geistliche  poet,  der  seit  1633 
zu  Wedel  in  Holstein  pfarrer  war  (demnach  ist  unser  gedieht  auf 
1653  zu  datieren),  vgl.  Goedeke,  grundrisz  III'^  s.  79  ff.  deutsche 
nationallitt.  bd.  27  s.  380  ff.  (ed.  Oesterlej). 

Es  bedarf  weiterer  beweise,  die  sich  leicht  herbeischaffen  lieszen, 
da  der  'keyserlich  gekrönte  Poet'  freigebig  die  ihm  gewidmeten  an- 
erkennungsgedichte  mit  abdruckt,  wohl  kaum,  denn  dasz  sich  die 
Sache  so  verhält,  wie  wir  vermuteten,  läszt  sich  auch  anderweit 
wahrscheinlich  machen. 

Wenn  man  nämlich  die  erste  ausgäbe  (A)  der  ersten  beiden 
odenbücher  mit  der  zweiten  vergleicht,  so  ergibt  sich  eine  fast 
überall  grundstürzende  Umarbeitung,  ganz  neu  geformt  erscheinen 
I  8.  10.  19.  31.  34;  II  5.  8.  18  (früher  von  D.  Schmid);  I  11.  33 
(früher  von  S.  Richter);  I  15.  16;  II  8  (früher  von  T.  Zimmer- 
mann); I  30;  II  9  (früher  von  M.  Striebel).  die  kurzen  gereimten 
inhaltsangaben  sind  durchgängig  geändert,  die  einzelnen  gedichte 
sind  stark  überarbeitet,  so  dasz  bisweilen  sogar  ganz  andere  strophen- 
formen  angewendet  worden  sind,  nur  in  wenigen  fällen  ist  es  so, 
dasz  man  das  ursprüngliche  in  der  retouchierung  nach  wieder- 
erkennt, ganz  selten  aber  ist  etwas  ohne  alle  Veränderung  stehen 
geblieben,  da  man  nun  nicht  wohl  annehmen  kann ,  dasz  die  be- 
treffenden autoren  14  jähre  nach  ihrem  abgange  von  der  schule  ihre 
poetischen  Jugendsünden  wieder  vorgenommen  haben  (schon  aus 
localen  gründen  ist  das  unwahrscheinlich) ,  so  haben  wir  es  in  den 
ganz  umgearbeiteten,  resp.  neu  gedichteten  Übersetzungen  von 
buch  I.  II  der  ausgäbe  B  mit  einem  product  der  ßöhmeschen  muse 
zu  thun,  und  danach  ist  das  urteil  über  sie  abzumessen. 

Weit  anders  steht  es  mit  der  zweiten  hälfte  (buch  III.  IV).  im 
dritten  buche  finden  sich  gröszere  Veränderungen  in  B  nur  in  ode  4. 
11.  19.  27.  29.  sonst  sind  nur  einzelne  Wörter  und  ausdrücke  um- 
gesetzt worden,  im  vierten  buche  sind  die  Veränderungen  ganz  un- 
bedeutend, ein  starkes  stück  freilich  ist  es,  dasz  Bohemus  in  seiner 
Verehrung  für  Opitz  so  weit  geht,  dasz  er  (nb.  ohne  irgend  wie 
und  wo  dies  kenntlich  zu  machen)  diesem  die  Übersetzung  von 
III  30  wörtlich  entlehnt,  wie  der  text  bei  Triller,  bd.  II  s.  418, 
Lehnerdt,  progr.  des  Königsberger  Friedrichscollegs  1882,  s.  7  lehrt. 

Wenn  wir  also  von  diesen  Schülerübertragungen  ein  klares  bild 
gewinnen  wollen,  müssen  wir  von  der  betrachtung  der  letzten  beiden 
odenbücher  ausgehen,  da  in  ihnen,  wenigstens  scheinbar,  noch  mehr 
eignes  steckt  als  in  den  ersten  beiden,  im  tone  unterscheiden  sich 
die   beiden   Schülergenerationen   kaum  von  einander,  und  deshalb 

N.jahrb.f.phil.u.päd.  Il.abt.  1897  hft.S.  26 


394    E.  Schwabe:  zur  geschiebte  der  deutschen  Horazübersetzungen. 

kann  man  sie  auch  mit  einander  beurteilen,  bei  aller  nachsieht  für 
das  jugendliche  alter  der  Übersetzer  und  bei  berücksichtigung  des 
hier  allein  richtigen  und  lediglich  anzuwendenden  historischen 
maszstabes  bleibt  es  doch  bei  dem  urteil  von  Rosenheyn  (ao.  bd.  I 
s.  XXIII).  'der  wert  dieser  Übersetzungen  ist  unbedeutend:  sie 
stehen  den  Bucholtzschen  nach',  d.  h.  sie  teilen  in  reichem  masze 
die  an  diesem  gerügten  fehler,  ohne  seine  Vorzüge  zu  erreichen, 
sie  sind  breit,  platt  und  wirken  trotz  manigfacher  rhytbmen  und 
verhältnismäszig  leidlicher  vers-  und  reimtechnik  ermüdend,  um 
den  ungeschmack,  den  sie  mit  ihrer  ganzen  zeit  teilen,  zu  discredi- 
tieren,  brauchte  man  nur  das  unbeholfene  gestammel  herzusetzen, 
mit  dem  der  Dresdner  schüler  dem  Horaz'°  sein  Donec  gratus  eram 
tibi  nachstümpert,  aber  es  ist  wohl  kaum  billig,  gerade  die  schönste 
perle  der  Horazschen  lyrik  herauszulesen,  um  die  weltenweite  ent- 
fernung  zwischen  dichter  und  Übersetzer  darzulegen,  als  beispiel 
sei  ein  weniger  bedeutendes  gedieht  gewählt,  die  ode  III  20  non 
vides,  quanto  moveas  periclo  |  Pyrrhe,  Gaetulae  catulos  leaenae? 
dessen  Übertragung  dem  Elias  Conrad  entstammt,  den,  wenn  wir 
nach  der  menge  der  erzeugnisse  abmessen  dürfen,  Bohemus  für  einen 
der  glücklichsten  Übersetzer  hielt. 

An  den  Pyrrhus. 
Mit  was  Gefahr  du  nimmst  den  Löwen  ihre  Jungen 
Mit  solcher  wird  Nearch  von  seiner  Braut  vertrungen. 

Weist  Du,  wie  die  Löwen  schnauben. 
Wenn  Du  wilt  die  Jungen  rauben 
Vnd  was  für  Gefahr  drauff  steht? 
Bälde  wirst  Du  gar  aussreissen, 
Pyrrhe,  von  dem  Kampf  vnd  Baissen, 
Wie  ein  feiger  Rjiuber  geht. 

Wenn  sie  durch  den  dicken  Hauffen 
Junger  Bursche  schnell  wird  lauffen 
Auss  ergrimmter  Liebsbegier, 
Ihren  Liebsten  zu  erlangen, 
Da  wird  sich  ein  Streit  anfangen 
Ob  er  Dir  bleyb  oder  ihr? 

Vnd  indem  Du  raussgezogen 
Deine  schnelle  Pfeyl  vnd  Bogen 
Sie  die  grimmen  Zähne  wetzt. 
Vnd  man  sagt,  dass  dieses  Kriegen 
Auch,  wer  drinnen  sollte  siegen, 
Sey  in  seine  Macht  gesetzt. 

Vnd  dass  er  in  kühlen  Winden 
Wolle  jetzt  Erquickung  finden 
Indem  sein  gepudert  Haar 
Ihme  auf  die  Schulter  hange 
Vnd  er  wie  der  Nireus  prange 
Vnd  wie  Ganymedes  war. 


">  charakteristische  Sammlung  von  allerhand  Übersetzungen  dieses 
gedichts  bei  Rosenheyn  I  s.  227—239.  die  beste  von  E.  von  Kleist  (vgl. 
auch:  gedichte  vom  Verfasser  des  frühlings.  Berlin,  Voss,  1756,  s.  144). 


E.  Schwabe:  zur  geschichte  der  deutschen  Horazübersetzungeu.    395 

die  pointe  des  ganzen  Gedichtes  liegt  bekanntlich  darin,  dasz,  wäh- 
rend Pyrrhus  und  das  liebende  mädchen  um  den  holden  knaben 
Nearchus  streiten,  dieser,  ohne  auf  sie  zu  achten,  den  fusz  auf  den 
palmenzweig  gesetzt  hat,  den  er  dem  sieger  überreichen  soll,  und 
sich  gleichgültig  kühlung  zufächelt,  es  dürfte  schwer  sein,  dies  aus 
dem  gedieht  des  Elias  Conrad  herauszulesen ,  und  man  kann  sich 
kaum  des  gedankens  entschlagen,  dasz  der  Übersetzer  in  Wirklichkeit 
seinen  autor  nicht  so  recht  verstand,  sonst  ist  die  form  ziemlich  be- 
friedigend :  die  Übertragung  entbehrt  der  lästigen  zusätze,  mit  denen 
Bucholtz  so  oft  seine  Übersetzungen  verunzierte,  und  ist  in  der  vers- 
technik,  wie  bei  der  Opitzschen  Schulung  auch  nicht  anders  zu  er- 
warten steht,  sorgfältig,  der  ausdruck  freilich  ist  unbeholfen  und 
wenig  gewählt ,  und  das  'gepudert  Haar'  ein  störender  anachronis- 
mus.  das  gleiche  geht  auch  durch  alle  die  andern  gedichte  hindurch, 
schwere  Übersetzungsfehler  sind,  da  Bobemus  ein  gelehrter  schul- 
mann  war,  natürlich  vermieden,  aber  häufig  hat  man  das  gefühl,  als 
wenn  der  autor  nur  tastend  nach  dem  sinn  des  ganzen  hasche, 
selten  ist  ein  gedieht  so  geformt,  dasz  man  es,  ohne  das  original  zu 
hilfe  zu  nehmen,  ohne  weiteres  verstehen  könnte,  bei  den  Römer- 
oden mit  ihrem  zusammengedrängten  Inhalt  wird  man  das  ent- 
schuldigen und  begreiflich  finden ,  aber  bei  den  der  jugend  so  nahe 
liegenden  liebes-  und  trinkliedern  erkennt  man  die  ohnmacht.  dazu 
kommt  breite  im  ausdruck,  unangemessenheit  der  Strophenformen 
und  nicht  seltene  geschmacklosigkeiten  und  anachronismen.  "  auch 
die  spräche  ist  nicht  tadellos,  formen  wie:  nichtes  (IV  8)  täubelein 
(IV  4) ,  abe,  adeler,  redener,  die  dem  rhythmus  ihre  misgestalt  ver- 
danken, sind  nicht  selten,  lyr  (IV  3)  und  hier  müssen  sich  reimen, 
daneben  finden  sich  auch  eigenheiten  des  Meisznischen  dialektes*^ 
und  altertümliche  formen.'^  dasz  der  ausdruck  oft  zu  matt  ist,  läszt 

"  z.  b.  IV  12 

In  des  Galba  frischem  Keller 

Von  dem  besten  Muskateller 
und  ebenda  (nardi  parvus  onyx  eliciet  cadum) 

Von  der  besten  Art  Zibeth^ 

Den  der  Ruch  sehr  hoch  erhöbt. 
^2  freilich  nicht  in  dem  sinne,  wie  E.  Lange  in  diesen  jahrb.  152 
s.  139  ff.  wollte;  dieser  meinte,  man  erkenne  den  sächsischen  Ursprung 
der  Übersetzung  in  der  Verwechslung  von  Tenuis  und  Media  (pusch, 
prausen,  pUtz).  derartige  Schreibungen  sind  aber  bekanntlich  gemein- 
gut  der  Orthographie  des  17n  Jahrhunderts,  z.  b.  bei  Opitz  passim. 
aber  bestimmte  indicien  sind  z.  b.  III  4.  Pirithus  steht  dort  und 
krechset  (reimt  sich  auf  wachset:  mundartl.  krexen),  III  29  duppelt 
(mundartl.  ausspräche),  umb  (mundartl.  um)  reimt  sich  III  4  auf  Grimm, 
scheinen  mit  bloszem  infinitiv  I  2,  25  (ohne  zu,  wie  brauchen  in 
Oberlausitzer  mundart),  gezuschel  I  9,  erniemen  (=  praedicare) 
I  12,  vgl.  beniemt  (=  appellatus).  erbrembsen  (=  quatere)  I  16,  5. 
forberg  (:=  pracdium,  Vorwerk)  I  17  u.  a.  m. 

*^  der  wolck  III  1.  der  sud  (südwind)  I  3.  III  3.  ziegel  (habenae) 
ib.  scheussen  ib.  und  sonst  sehr  häufig,  heint  17.  III  8  (mundartl. 
hinte  =  heute  nacht):  eingetrungen  (für  eingedrängt)  III  15  und  auch 

26* 


396    E.  Schwabe:  zur  geschiebte  der  deutschen  Horazübersetzungen. 

sich  bei  der  breite  der  Übersetzung  von  vorn  berein  annehmen,  bis- 
weilen ist  er  aber  auch  zu  stark;  z.  b.  ut  mater  iuvenem  —  votis 
ominibusque  et  precibus  voeat,  und 

Wie  seuffzet,  wie  wartet,  wie  traget  Verlangen 
Die  Mutter,  dasz  ihr  Sohn  mög  kommen  gegangen 
Wie  nach  ihm  sie  rufifet,  sie  winselt  vnd  fleht  usw. 

ein  ähnlicher  fall  findet  sich  III  25 : 

Audiat  Lyde  scelus  atque  notas 

virginum  poenas  et  inane  lymphae 
dolium  fundo  pereuntis  imo 
und 

Lyde  mag  nun  auch  bedencken 

Dieser  Sünde  Strafif'  vnd  Pein, 

Wie  sie  in  das  Fass  hinein, 

Welches  ohne  Boden,  müssen 

Ohn'  Auffhören  Wasser  giessen. 

die  letzten  drei  zeilen  sind  übrigens  in  der  ausgäbe  B  folgender- 
maszen  abgeändert: 

Wie  sie  müssen  spat  vnd  frühe 

Mit  dem  durchgebohrten  Siebe 

Wasser  schöpfen  ohne  Liebe. 

Die  änderung  stammt,   wenn  unsere  oben  (s.  393)  gemachte 
annähme  richtig  ist,  von  Bohemus  selbst  her  und  wirft  kein  günstiges 
licht  auf  ihn,  da  er  zwei  überflüssige  zusätze  macht  und  die  bilder 
von  fasz  und  sieb  ohne  jeden  grund  mit  einander  vertauscht,    auch 
sonstige   änderungen  Böhmes  sind  nicht  glücklich,    doch  lohnt  es 
nicht  dies  mit  beispielen  zu  erhärten,    überhaupt  macht  die  ganze 
ausgäbe  B ,  die  offenbar  zu  einem  bestimmten  termine  (wahrschein- 
lich der  thronbesteigung  Johann  Georgs  II,  dem  das  buch  gewidmet 
war,  und  die  im  j.  1656  erfolgte)  hatte  fei'tig  werden  müssen,  mit 
ihren  vielen  versehen  und  den  weit  zahlreicheren  druckfehlern  (als 
in  A),  den  eindruck  einer  etwas  überhasteten  arbeit,  daraus  erklärt 
sich  auch,  dasz  Bohemus,  wenn  es  sich  wirklich  um  schülerleistungen 
handelt,  eine  menge  dinge  hat  durchgehen  lassen,  die  Schiefheiten 
des  ausdrucks  enthalten  und  den  schlusz  nahe  legen,  dasz  wir  es  mit 
mangel  an  Verständnis  zu  thun  haben,    man  vgl.  z.  b.  III  21,  13: 
tu  (seil,  vinum)  lene  tormentum  ingenio  admoves 
plerumque  duro ,  tu  sapientium 
curas  et  arcanum  iocoso 
consilium  retegis  Lyaeo. 

zu  welcher  strophe  Bohemus  anstandslos  folgende  Übertragung 
passieren  läszt: 

Du  bist  dem,  der  sonst  verschwiegen, 

Eine  sanffte  Marterbanck, 

Offenbarest  manchen  Eanck  (!) 

sonst,  mit  grüner  rosmari  (fem.)  III  23  zu-schmeissen,  -reissen 
(für  zer-)  III  24.  lauchte  (leuchtete)  III  26.  III  29.  der  eckel- 
machen  menge  (für  ekelerregend),  trüge  IV  9  (für  trug),  gediegen 
IV  4  (für  gediehen),  das  armut  III  16.  geheyen  16  (=  warten),  die 
bursch  (fem.  sing.)  I  7  u.  a.  m. 


E.  Schwabe:  zur  geschichte  der  deutschen  Horazübersetzungen.    397 

Dinge,  so  niemand  thut  rügen, 
Vnd  der  Weisen  klugen  Raht 
Offt  Wein  offenbaret  hat. 

das  durfte  ein  rector  der  Kreuzschule,  wenn  er  richtig  zusah,  un- 
möglich durchgehen  lassen,  und  beispiele  für  alle  die  gerügten 
fehler,  die  sich  aufzuzählen  nicht  lohnt,  sind  nicht  etwa  selten,  son- 
dern finden  sich  auf  jeder  seite.  man  kann  auch  das  nicht  für 
Bohemus  als  entschuldigung  anführen  wollen,  dasz  er  blosz  aus  Zeit- 
mangel nicht  dazu  gekommen  sei,  das  auszumerzen,  was  auszumerzen 
war.  denn  es  fehlte  ihm  selbst  an  poetischem  gefühl  und  feinerem 
formensinn,  und  vor  allem  an  dem  fleisz,  den  keine  mühe  bleichet, 
dafür  war  ihm  eigen  ein  naives  vertrauen  auf  die  eigne  reimkunst, 
gepaart  mit  einem  bedauerlichen,  oft  sehr  komischen  mangel  an 
geschmack. 

Dasz  dieses  urteil  nicht  ungerecht  ist,  erweist  sich  aus  der  ver- 
gleichung  der  Übersetzung  von  buch  I.  II  in  den  ausgaben  A  und  B. 

I)enn,  wenn  wir  oben  richtig  geschlossen  haben  (s.  393),  haben 
wir  in  B  zum  guten  teil  des  Bohemus  eigne  arbeit  zu  sehen ,  ganz 
und  gar  aber  dort,  wo  er  die  Übersetzungen  von  D.  Schmid  und  ge- 
nossen ausgemerzt  hat.  die  schon  früher  vorhandenen  fehler  sind 
stehen  geblieben,  so  z.  b.  I  17,  18  fide  Teia 
in  A: 

Mit  des  von  Theios  Spiel 
inB: 

AufF  Teius  (!)  Saitenspiel. 

I  31,  4  kehrt  aus  A  in  B  die  insel  Sardina  wieder  usw.    ebenso  der 
anachronismus  aus  I  1 : 
in  A: 

die  starken  Heerposaunen 
Der  Stücken  trübe  Gluth,  vnd  Donner  der  Carthaunen. 
in  B: 

Er  freut  sich  ob  dem  Schall  der  hellen  heerposaunen 
der  Stücken  Gluth,  der  Plitz  vnd  Donner  der  Carthaunen. 
Bohemus  hat  offenbar  das  bestreben  gehabt,  die  Übersetzung  von 
1643,  die  an  auslassungen  litt,  zu  vervollständigen;  z.  b.  I  19  mater 
saeva  cupidinum  lautet  in  A : 

Mich  bezwingt  als  ihren  Sklaven 

Venus,  mich  Cupido  bind. 

Auch  der  Mutter  Semeis  Kind 

Treibt  mich  in  den  Liebeshafen: 

Hafen,  so  zuvor  mein  Sinn 

In  den  Wind  geschlagen  hin.     (von  D.  Schmid.) 
dies  wird  von  Bohemus,  um  das  ausgelassene  lasciva  licentia  nach- 
zuholen, in  folgende  ungestalt  umgeformt: 

Mich  die  Mutter  schwerer  Sclimertzen 

Heisset  vnd  des  Bacchus  Zwang, 

Auch  der  geile  Müssiggang  (!), 

Wieder  meinen  Muht  auffs  Hertzen 

Eichten,   der  ich  gute  Nacht 

Gab  der  Lieb,  sie  nicht  mehr  achtt. 


398    E.  Schwabe:  zur  geschiclite  der  deutschen  Horazübersetzungen, 

In  seinen  Zusätzen  kannte  Bohemus  kein  masz.  ode  I  1  waren 
in  A  13  vierzeilige  Alexandriner,  in  B  sind  es  24!  —  I  18  nullam, 
Vare,  saci*a  (im  ganzen  16  verse)  sind  in  A  9,  in  B  11  sechszeiler, 
und  so  fast  überall,  wäre  nun  damit  gröszere  Sauberkeit  und  ge- 
schmackvollerer ausdruck  erlangt,  so  liesze  man  sich  das,  trotz  der 
ermüdenden  breite,  noch  gefallen,  aber  bei  einer  genaueren  ver- 
gleichung  der  Schülerübertragung  mit  des  Bohemus  eignen  zuthaten 
und  abänderungen  ergibt  sich,  dasz  die  letzteren  durchaus  geringeren 
wert  haben  als  die  erste  fassung,  und  dasz  in  ihnen  an  stelle  einer 
Verbesserung  oft  nur  eine  vergröberung  getreten  ist.  wir  beschränken 
unsere  beispiele  auf  das  erste  buch ,  schon  darum ,  weil  sich  so  auch 
eine  vergleichung  mit  der  Bucholtzschen  Übertragung  ermöglicht, 
so  heiszt  es  z.  b.  von  Glycera  I  5,  4  (vgl.  jahrb.  bd.  154  s.  327) : 

Cui  flavam  religas  comam  Simplex  munditiis. 
der  Schüler  (Friedrich  Bürger)  übersetzte: 

Wem  zu  Gefallen  nun  zierst  Du  der  Haare  Gold 

Und  stellst  Dich  als  wärst  Du  der  stillen  Einfalt  hold? 

Bohemus  bessert: 

Wem  zu  Gefallen  butzst  Du  Dein  goldgelbes  Haar 
Und  stellest  Dich  doch  sonst,  als  wärst  Du  simpel  gar. 

also,  wenn  nicht  gar  falsch,  so  doch  mindestens  schief,    ebd.  v.  12 

miseri,  quibus  Intemptata  nites. 
der  Schüler  schreibt: 

Der  seheint  vnselig  mir, 

Dem  du,  noch  unerkandt,  kömmst  fromm  vnd  lieblich  für. 

Bohemus  setzt  dafür  ein: 

Der  kommt  mir  elend  für 
Dem  du  getreue  scheinst  vnd  fromm,  du  freches  Thier! 

Ein    bei  der  erwähnung  '^  von  Bohemus  dichterischen  thaten 
öfters  verwendetes  ciiat,  die  Übersetzung  von  I  13,  9  uror  seu  tibi 
candidos  Turparunt  umeros  immodicae  mero  Rixae  usw.  lautet: 
Ich  zerspringe,  wenn  beim  Trinckeu 
Dir  der  grämsche  Telephus 

Gar  vnhöfflich  darf  zuwincken 
Zancket  sich,   macht  Dir  Verdruss 
Oder  wenn  der  grobe  KnoU 
Dich  ins  Maul  beisst  als  wie  toll. 

aber  die  grenzenlose  geschmacklosigkeit  kommt  nicht  auf  rechnung 
der  'berüchtigten  dreiszig  Dresdner  schüler',  wie  Obbarius  ao.  will, 
sondern  gehört  dem  Bohemus  selbst  an,  wenngleich  jene  selbst 
nicht  viel  besser  in  A  sagen: 

Oder  wenn  der  tolle  Hund. 

Dich  gebissen  in   den  Mund. 
Wahre  cabinettsstücke  von  geschmacklosigkeit  liefert  die  von 
Bohemus  für  die  Zimmermannsche  arbeit  (vgl.  s.  397)  eingesetzte 
Übertragung  der  15n  ode.    so  z.  b.  v.  13 

'*  Cholevius  ao.  Obbarius,  Horazübersetznng  s.  VIII. 


E.  Schwabe:  zur  geschichte  der  deutschen  Horazübersetzungen.    399 

Nequiquam  Veneris  praesidio  ferox 
Pectes  caesariem  .  .  . 

in  der  ausgäbe  A : 

Recht  verj^eblich   wirst  Du  setzen 

Deines  Hauptes  Überzug 

In  der  Hoheit  stoltzen  Schmuck. 

also  auch  geringwertig,  aber  glänzend  neben  des  Bohemus: 

Wie  vergeblich  wirst  Du  butzen 

Dann  dein  gelbes  Haar  nach  Kunst, 

Trotzende  auf  Venus  Gunst 

Und  auf  Alamode- Stutzen  (!) 
ebenso  v.  19 

Tarnen  heu  serus  adulteros 

Crines  pulvere  collines  (sc.  Paris). 

in  A  ziemlich  frei,  aber  leidlich  im  tone  getroffen 

Ob  du  gleich  dein  Haar  wirst  schmücken, 
Wirst  Du  doch  im  Koth  ersticken. 

bei  Bohemus  aber: 

Da  wird,  wenn  er  (sc.  Ajax)  Dich  wird  kriegen. 

Dein  Baruck  (!)  im  Staube  liegen. 
ebd.  V.  26 

Merionen  tu  quoque 

Nosces.     ecce  furit  te  reperire  atrox 

Tydides  melior  patre. 

in  A  heiszt  es  wiederum  leidlich  gut  und  genau : 
Merion  wird  Dich  nicht  schonen, 
Diomedes  wird  Dir  lohnen. 

in  B  wiederum  gröber  und  mit  garstigem  anachronismus: 
Du  wirst  kennen  lernen  hier 
Merion,  der  kein  Quartier 

Gib  et  (!).     Schawe,  wie  durchreisset 

Diomedes,  tobet,  schmeisset. 

dieselbe  roheit  und  geschmacklosigkeit  bethätigt  Bohemus  bei  dem 
zarten  I  23,  12  tempestiva  sequi  viro,  was  sein  schiiler  übersetzte 

Endlich  lass  die  Mutter  doch, 

Reiff  zum  süssen  Liebesjoch. 

er  aber  gibt  es  so  deutlich ,  dasz  man  es  mit  bänden  greifen  kann 
Lass  die    Mutter  stehen  an 
Du  bist  reiff  genug  zum  Mann  (vgl.  jahrb.  154  s.  331). 

Die  beispiele  lieszen  lieh  leicht  vermehren,  zum  teil  sogar  mit 
solchen,  die  unsere  äugen  nicht  mehr  vertragen  wollen,  doch  genug 
davon !  denn  es  handelt  sich  um  die  geschichte  der  deutschen  Horaz- 
übersetzungen und  nicht  der  curiositäten  des  17n  Jahrhunderts, 
neben  diesen  monstren  von  roher  geschmacklosigkeit  verschwindet 
alles  andere,  was  etwa  noch  zu  gunsten  dieser  arbeit  vorgebracht 
werden  könnte,  die  reinliche  verstechnik,  das  ziemlich  gute  deutsch 
und  die  verhältnismäszig  geringe  zahl  von  fehlem,  es  bewährt  sich 
an  Bohemus  wiederum  die  alte  schon  dem  Anakreon  bekannte  Wahr- 
heit, dasz  lyrische  poesie  nichts  für  die  tage  des  alters  ist,  und  dasz 


400  C.  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen. 

die  verrostete  leier  nur  dissonanzen  gibt,  dasz  freilich  die  mistöne 
so  schrill  sind  und  dasz  sich  solches  dunkel  über  die  Böhmesche 
dichtkunst  ausgebreitet  hat,  ist  nicht  seine  schuld  allein  (und  das 
mag  ihm  zur  entschuldigung  dienen)  sondern  es  sind  die  breiten 
schatten ,  die  die  zweite  schlesische  dichterschule  vor  sich  her  wirft, 
es  ist  charakteristisch,  dasz  für  die  nächsten  fünfzig  jähre  sich  keine 
einzige  metrische  Übertragung  des  Horaz  ins  deutsche  findet,  nur 
ein  paar  prosabearbeitungen,  die  zum  teil  für  schukwecke  bestimmt 
waren,  sind  zu  unserer  kenntnis  gekommen,  erst,  nachdem  der 
bombast  und  die  schwülstigkeit  von  HoflPraann  v.  Hoffmannswaldau 
und  Lohenstein  wieder  überwunden  waren,  ertönten  des  Yenusiners 
weisen  wieder  in  deutschen  klängen. 

Von  der  mitteilung  von  proben  sehen  wir  ab,  da  die  zweite 
bearbeitung  (B),  im  gegensatz  zu  den  Bucholtzschen  arbeiten,  sich 
häufiger  findet  und  verhältnismäszig  leicht  erreichbar  ist. 

Meiszen.  Ernst  Schwabe. 


(18.) 

EIN  VERSUCH    DIE   LEHRE  VOM   GEBRAUCH   DER  ZEIT- 
FORMEN,   BESONDERS    IM    FRANZÖSISCHEN,    ZU    VER- 
VOLLSTÄNDIGEN,   ZU    BERICHTIGEN    UND    AUF    IHREN 
GRUND  ZURÜCKZUFÜHREN. 

(fortsetzung.) 


D.  Von  welchem  Standpunkt  man  in  jedem  ein- 
zelnen fall  die  frage  zu  beantworten  hat,  ob  etwas  an- 
fieng  und  vollendet  ward  oder  schon  und  noch  in  seiner 
mittleren  dauer  begriffen  war,  sowie  das  imparfait  von 
dire,  raconter,  r6pondre,  6crire,  stipuler  und  porter. 
die  angeführten  beispiele  haben  wohl  zur  genüge  gezeigt,  dasz  man 
beim  imparfait  und  d6fini  nicht  zu  fragen  hat,  ob  etwas  an  sich, 
sondern  ob  es  zu  der  zeit,  in  die  man  den  leser  versetzt  hat,  an- 
fieng  und  vollendet  ward  oder  schon  und  noch  in  der  mittleren 
dauer  begrififen  war.  die  beantwortung  dieser  frage  ist  aber  nicht 
immer  so  leicht,  wie  sie  aussieht,  wenigstens  für  die  schüler;  man 
musz  sie  ihnen  an  einer  unmasse  von  Sätzen,  bei  jedem  von  neuem, 
ohne  scheu  vor  Wiederholung  (repetitio  est  mater  studiorum)  klar 
machen,  oder  vielmehr,  nachdem  man  es  ihnen  vorgemacht  hat,  sich 
selber  klar  machen  lassen,  darf  ich  mir  erlauben*',  an  einigen  Sätzen 
aus  der  an  unserer  schule  gebrauchten  Plötzschen  graramatik  zu 
zeigen,  in  welcher  weise  dies  geschehen  kann? 


^^  ich  erlaube  es  mir,  weil  einige  meiner  schüler,  die  selber  lehrer 
geworden,  mir  gesagt,  dasz  auch  sie  die  von  mir  befolgte  methode  bei 
ihren  schülern  mit  besonderem  erfolg  anwenden. 


C.  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  zeitformeu.  401 

'Charlemagne  et  les  Saxons.  le  roi  P6pin  mourut  en  768. 
Cbarlemagne,  son  fils,  lui  succ6da;  il  etait  fort  de  corps  et  grand 
d'esprit,  il  avait  une  activite  surprenaiite  qui  embrassait  aussi 
bien  les  affaires  politiques  d'un  grand  empire  que  les  details  de  son 
manage,  tous  les  jours  on  lui  faisait  parvenir  des  rapports  des 
differentes  parties  de  son  royaume;  les  ordres  necessaires  6taient 
ensuite  exp6dies  sur  tous  les  points.  ce  prince  s  out  int  pendant 
plus  de  trente  ans  une  guerre  avec  les  Saxons,  qui  faisaient  des 
incursions  continuelles  dans  le  pays  des  Francs,  eette  puissante 
tribu  germanique  persistait  a  rester  dans  le  paganisme.  la  guerre 
commen9a  en  772.  Charles  entra  dans  leur  pays,  les  battit  ä 
plusieurs  rej^rises  et  d6truisit  leur  principal  sanctuaire.  il  les 
for9a  ainsi  ä  la  paix  et  exigea  des  otages.  mais  pendant  que 
Charles,  en  774,  d6truisait  le  royaume  des  Lombards  dans  la 
Haute-Italie,  les  Saxons  se  r6voltörent  et  p  6n6trörent  de  nou- 
veau  dans  son  territoire. 

Nach  seiner  rückkehr  aus  Italien  im  jähre  775  unternahm  Karl 
seinen  zweiten  zug  gegen  die  Sachsen,  er  überschritt  den  Rhein, 
zerstörte  die  festung  (de)  Sigiburg,  gieng  über  die  Weser  und  unter- 
warf den  grösteu  teil  der  Sachsen ,  welche  an  dem  rechten  und  dem 
linken  ufer  (la  rive  droite  et  la  rive  gauche)  dieses  flusses  wohnten, 
aber  bald  riefen  neue  Unruhen  den  könig  nach  Italien,  während  er 
dort  war,  empörten  sich  die  Sachsen  von  neuem  unter  ihrem  an- 
führer  Wittekind,  im  jähre  776  muste  Karl  seinen  dritten  feldzug 
gegen  sie  unternehmen,  er  drang  zum  zweiten  mal  bis  an  die  Weser 
vor,  im  folgenden  frühjahr  hielt  er  bei  Paderborn  das  erste  maifeld 
auf  dem  gebiete  der  Sachsen,  viele  sächsische  edle  erschienen  in 
dieser  Versammlung  und  lieszen  sich  taufen,  allein  ihr  erster  an- 
führer  Wittekind  kam  nicht;  er  hatte  sich  zu  dem  könige  der  Dänen 
zurückgezogen ,  welcher  ihm  einen  Zufluchtsort  in  seinem  lande  ge- 
währte, bald  benutzte  dieser  unerschrockene  Verteidiger  der  frei- 
heiten  seines  Stammes  die  abwesenheit  Karls,  welcher  in  Spanien 
war,  und  erregte  neue  aufstände,  im  folgenden  jähre  muste  Karl 
noch  mehrere  züge  gegen  die  Sachsen  unternehmen,  wütend  über 
(de)  diese  fortwährenden  aufstände,  liesz  der  könig  im  jähre  782 
fünftausend  vierhundert  Sachsen  an  der  Aller  hinrichten,  diese 
grausamkeit  hatte  nicht  den  erfolg,  welchen  er  davon  erwartete,  im 
gegenteil  veranlaszte  sie  einen  neuen  furchtbaren  kämpf,  welcher 
drei  jähre  dauerte,  endlich  im  jähre  786  unterwarf  sich  Wittekind 
und  empfieng  die  heilige  taufe.  Karl,  welcher  seine  tapferkeit  ehrte, 
gab  ihm  das  herzogtum  (de)  Sachsen  als  leben  der  fränkischen  könige.' 

Vorher  noch  eine,  für  den  schüler  unentbehrliche  bemerkung. 
den  ersten  satz  einer  erzählung  musz  er  ganz  besonders  beachten, 
entweder  faszt  dieser  das  ganze  mit  anfangs-  und  endpunkt,  wie  aus 
der  Vogelschau,  in  einen  punkt  zusammen,  z.  b.:  'im  jähre  1835®' 

"*  die  Jahreszahl  g^ibt  hier  den  Zeitpunkt  an  von  dem  wir  das 
folgende  betrachten  sollen,    sie  vertritt  einen  satz  wie:  e'e'tait  en  1835 


402  C.  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen. 

trug  sich  an  der  küste  von  Spitzbergen  ein  merkwürdiges  ereignis 
zu',  dann  steht  das  defini;  oder  er  führt  schon  in  die  geschichte 
selbst  ein,  und  in  diesem  fall  sagt  er  uns  entweder  gleich  etwas, 
das  geschah,  d.  h.  anfieng  und  zu  ende  geführt  ward,  wie:  'vier 
norwegische  matrosen  wurden  im  jähre  1835  an  der  küste  von 
Spitzbergen  ans  land  geschickt,  um  die  bucht  zu  erforschen,  in 
welcher  ihr  schiff  vor  anker  lag';  dann  gleichfalls  ein  d6fini;  oder 
etwas ,  das  schon  in  seiner  mittleren  dauer  begriffen  war,  als  etwas 
anderes  zu  geschehen  anfieng  und  wirklich  geschah ,  z.  b. :  'ein  nor- 
wegisches schiff  lag  in  einer  bucht  Spitzbergens  vor  anker  und,  um 
sie  zu  erforschen,  wurden  vier  matrosen  ans  land  geschickt',  dann 
musz  natürlich  das  erste  im  imparfait^^,  das  zweite  im  pass6  döfini 
stehen,  will  man  aber  sagen,  dasz  auch  das  'ans-land-schicken'  erst 
in  irgend  welcher  weise  angefangen  oder  vorbereitet  worden  war, 
als  ein  drittes  anfieng  und  zu  ende  geführt  ward,  so  kommt  ei'st 
dies  letzte  ins  d6fini.  in  jedem  einzelnen  fall  fragt  es  sich,  mit  wel- 
chem Satz  die  eigentliche  geschichte  beginnen  soll,  aus  ereig- 
nissen,  die  in  ihrer  mittleren  dauer  begriffen  waren  und  blieben, 
läszt  sich  keine  geschichte  aufbauen,  dies  ist  der,  soviel  ich  weisz, 
noch  von  keinem  angegebene  vernünftige  grund  für  die,  einem 
jeden  bekannte  mechanische  regel,  dasz  die  hauptereignisse  einer 
erzählung  im  d6fini  oder  perfectum  historicum  stehen;  ich  sage  nicht 
'die  ereignisse  überhaupt',  denn  nebenumstände,  die,  nach  der 
andern  ebenso  bekannten  und  ebenso  mechanischen  regel  im  impar- 
fait  stehen  müssen,  können  ebenso  gut  ereignisse  sein;  auch  sage 
ich  nicht  'die  hauptereignisse  überhaupt',  sondern  die  haupt- 
ereignisse  einer  erzählung,  die  für  diese  erzählung  selbst  wichtig- 
sten ;  dies  aber  sind  ohne  rücksicht  auf  ihre  sonstige  Wichtigkeit 
nur  solche,  die  wirklich  zum  abschlusz  gelangten,  und  so  setzt  man 
denn  auch  gleich  beim  beginn  diejenige  thatsache,  mit  der  das  eigent- 
liche geschehen  erst  beginnen  soll,  die  erste,  von  der  man  sagen  will, 
dasz  sie  anfieng  und  ausgeführt  ward,  ins  perfectum  historicum  oder 
pass6  d6fini,  und  jedes  vorher  gehende  imparfait,  das  uns  mitteilt, 
was  schon  und  noch  in  seiner  mittleren  dauer  begriffen  war,  er- 
scheint dem  gefühl  nur  als  bestimmung  des  punktes ,  auf  dem  wir 
festen  fusz  fassen  sollen,  und  weckt  in  uns  das  verlangen  nach  einem 
defini,  das  uns  berichte,  was  denn  zu  der  zeit  eigentlich  zu  geschehen 
anfieng  und  auch  wirklich  geschah,  d.h.  zu  ende  geführt  ward. 
Die  frage  nach  der  relativen  Wichtigkeit  jedes  besonderen 
ereignisses,  wie  während  des  ganzen  Verlaufs,  so  auch  am  beginn 

sur  la  cote  de  Spitzberg,  der  gegebene  punkt  braucht  aber  an  sich 
kein  bestimmter  zu  sein;  auch  un  jour  würde  genügen,  wie  in  den 
märchen. 

'''^  hier  wird  jede  Jahreszahl  usw.  überflüssig,  der  satz  mit  dem 
imparfait  gibt  selbst  den  festen  punkt  an,  von  dem  man  das  hinaus- 
schicken zu  betrachten  hat  und  dieser  feste  punkt  war  wie  gewöhn- 
lich schon  und  noch  in  seiner  mittleren  dauer  (daher  iniparf.),  als  das 
eigentliche  ereignis  anfieng. 


C.  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen.  403 

einer  erzäblung,  läszt  sich  nun  manchmal  verschieden  beantworten 
und  dann  musz  man  es  dem  gefühl  eines  jeden  überlassen ,  v^elches 
verbum  er  zuerst  ins  defini  setzen  will;  z.  b.  in  folgenden  Sätzen 
über  die  entdeckung  Amerikas. 

'Während  die  Portugiesen  Indien  zu  erreichen  suchten,  indem 
sie  ihre  entdeckungen  an  den  küsten  Afrikas  fortsetzten,  glaubte 
der  Genuese  Christoph  Columbus,  dasz  man  nach  diesem  lande  ge- 
langen würde,  wenn  man  nach  westen  zu  schiffte,  zuerst  machte 
er  seinem  Vaterland  vorschlage,  aber  er  sah  sich  zurückgewiesen.' 
dasz  'machte  .  .  .'  im  defini  stehen  musz,  ist  zweifellos;  'glaubte' 
aber,  bei  dem  Plötz  das  imparfait  vorschi'eibt,  liesze  sich,  seiner 
Wichtigkeit  wegen,  und  zugleich  wegen  seines  Verhält- 
nisses zu  dem  vorhergehenden,  auch  schon  als  ein  solches 
vorwärtstreibendes  ereignis  auffassen.  Columbus  fieng  an  zu  glauben 
und  glaubte  wirklich;  dieser  glaube  erscheint  selbst  als  etwas  neues, 
und  mit  diesem  festen  glauben  fieng  die  ganze  entdeckung  an. 

Bei  den  später  folgenden  hauptäätzen  fragt  man  einfach  nach 
ihrem  zeitlichen  Verhältnis  zu  dem  vorhergehenden  hauptsatz,  und 
bei  den  nebensätzen  nach  ihrem  Verhältnis  zu  dem  hauptsatz,  mit 
dem  sie  in  Verbindung  gebracht  sind,  in  dem  stück  über  Charle- 
magne  et  les  Saxons  läszt  sich  nur  ein  teil  des  letzten  satzes  ver- 
schieden auffassen. 

Vor  beginn  des  stücks  ist  Pipin  noch  am  leben,  nachdem  er 
so  oder  so  lange  regiert  hatte,  fieng  er  an  zu  sterben*^  und  führte 
dies  aus  (mourut).  am  ende  des  ersten  satzes  stehen  wir  also  in  der 
zeit  nach  seinem  tode.  nachdem  er  nun  gestorben,  fieng  sein 
söhn  an,  ihm  in  der  regierung  zu  folgen  und  führte  dies  wirklich 
aus  (succ6da).  dieser  sitzt  jetzt  auf  dem  throne,  die  dann  er- 
wähnten eigenschaften  fieng  er  jetzt  nicht  erst  an  zu  besitzen,  sie 
waren  schon  und  noch  in  der  mittleren  dauer  begriffen ,  daher  not- 
wendig 6tait;  und,  weil  er  nun  schon  könig  geworden,  kann 
auch  ihre  gewohnheitsmäszige  betbätigung  auf  dem  throne  in  ihrer 
mittleren  dauer  gedacht  werden,  man  beachte,  dasz  der  satz  mit 
6tait  zuerst  kommt,  nur  durch  ein  semicolon  von  succeda  getrennt, 
und  dann  erst  folgt  il  avait  nach  einem  punkte;  die  verschiedenen 
einzelnen  handlungen ,  in  denen  sich  jene  eigenschaften  bethätigen 
und  die  in  ihrem  Verhältnis  zu  einander  im  defini  stehen  müsten, 
weil  erst  die  eine  anfieng  und  ausgeführt  ward  und  dann  der  an- 
fang  und  die  ausführung  der  andern  folgte,  stehen  auch  deshalb  im 
imparfait  als  Verkörperung  der  einen,  in  ihrer  mittleren  dauer  ge- 
dachten, sie  alle  umfassenden  gewohnheit. 

Als  nun  diese  schon  und  noch  in  ihrer  mittleren  dauer  begriffen 
war,  fieng  Karl  an,  und  führte  es  aus,  den  mehr  als  30jährigen 
krieg  gegen  die  Sachsen  zu  führen ,  deren  heidnischer  sinn  und  ein- 


^3  mourait    oder    vielmehr    se    inourait    hiesze:    er   lag   schon    und 
noch  im  sterben,    die  Jahreszahl  gibt  wieder  die  nötige  Zeitbestimmung. 


404  C.  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen. 

fälle  in  sein  land  gleichfalls  eine  schon  und  noch  in  ihrer  mittleren 
dauer  begriffene  gewohnheit  waren,  dann  kommt  eine  Zerlegung 
des  krieges  in  seine  hauptteile,  an  fang  und  ausführung  der 
ersten  feindseligkeit  (commen9a *''*),  vielleicht  gleichzeitig  mit  entra^^; 
nachdem  dies  geschehen,  fieng  das  mehrmalige*^  schlagen  an  und 
ward  ausgeführt  (battit) ;  ebenso  nachdem  dies  geschehen,  dötruisit, 
darauf  forga  und  exigea,  nun  folgte  friede  und  auf  diesen  anfang 
und  ausführung  der  empörung  und  neuer  einfalle,  zu  einer  zeit,  wo 
Karl  schon  angefangen  hatte  und  noch  damit  beschäftigt  war,  das 
reich  der  Longobarden  zu  zerstöi'en. 

Nun  fieng  er  an  seinen  zweiten  zug  zu  unternehmen  und  führte 
dies  aus.  dann  kommen  wieder  die  einzelnen  handlungen,  die  wie 
punkte  auf  einander  folgten,  nach  einander  anfiengen  und  aus- 
geführt wurden  (erst  traversa,  dann  detruisit,  darauf  soumit).  als 
er  aber  das  soumettre  anfieng  und  ausführte,  war  das  wohnen  schon 
und  noch  in  seiner  mittleren  dauer  begriffen;  hiervon  darf  also  jetzt 
der  anfangspunkt  nicht  mehr,  der  endpunkt  noch  nicht  aus- 
gedrückt werden  (demeuraient).  dann  fiengen  die  Unruhen  in  Italien 
an,  Karl  dahin  zu  rufen  und  führten  es  aus,  d.  h.  er  gieng  wirk- 
lich hin  (rappelörent").  im  folgenden  satz  ist  er  also  in  Italien ; 
und ,  während  dieser  aufenthalt  schon  und  noch  in  seiner  mittleren 
dauer  begriffen  war  (etait),  fiengen  die  Sachsen  wieder  eine  em- 
pörung an,  die  sie  ausführten  (rövoltörent).  so  muste  er  denn  seinen 
dritten  zug  unternehmen,  und,  da  er  auch  dies  anfieng  und  ausführte 
und  somit  auch  das  müssen  durch  die  ausführung  sein  ende  erreichte, 
steht  dut  und  nicht  devait.  nun  wieder  die  einzelnen  ereignisse  dieses 
zuges,  die  wie  punkte  auf  einander  folgten  (erst  p6n6tra,  darauf 
tint,  dann  parurent  und  laissörent  und  endlich  vint).  dann  aber: 
Vitikind  6tait  und  accordait;  denn  sein  aufenthalt  in  Dänemark  und 
die  erlaubnis  dazu  fiengen  nicht  erst  an,  sondern  waren,  als  er  sich 
schon  dorthin  zurückgezogen  hatte,  schon  und  noch  in  ihrer  mittleren 
dauer.  hierauf  anfang  und  ausführung  einer  neuen  empörung  (profita) 
während  eines  schon  angefangenen  aufenthalts  Kai'ls  in  Spanien 
(etait),  und  als  folge  davon,  wieder  nach  einander:  dut  entre- 


^*  über  coinmen^a  und  commen9ait  vgl.  das  früher  bemerkte:  er 
fieng  das  beginnen  an  und  führte  das  beginnen  aus. 

*^  wenn  von  zwei  gleichzeitigen  handlungen  die  erste  im  de'fini 
steht,  kann  auch  die  zweite  wohl  im  detini  folgen,  wenn  die  gleich- 
zeitigkeit  durch  eine  conjuuctiou  oder  eine  adverbiale  bestimmung  aus- 
gedrückt ist  oder  als  selbstverständlich  aus  dem  sinn  hervorgeht,  so 
dasz  sie  nicht  ausgedrückt  zu  werden  braucht,  wie  hier,  ebenso  nach 
dem  gerade  vorher  die  ganze  dauer  des  krieges  umfassenden  soutint, 
die  einzelnen  hauptereignisse  des  krieges. 

^*^  das  wiederholte  schlagen  wird  als  ein  angefangenes  und 
zugleich  vollendetes  moment  des  krieges  zu  einem  punkte  zusammen- 
gefaszt,  trotz  der  Wiederholung;  ebenso  wie  vorher  der  ganze  krieg  mit 
anfangs-  und  endpunkt.  das  impaifait  würde  sie  als  damals  schon  und 
noch  in  ihrer  mittleren  dauer  begriffen  hinstellen. 

•"'7  durch  rappelaient  wäre  dies  nicht  ausgedrückt. 


C.  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen.  405 

prendre  (nicht  devait)  und  fit.  die  folge  hiervon  nun  negativ :  n'eut 
pas  l'effet  und  positiv :  causa,  als  aber  diese  üble  Wirkung  anfieng  sich 
zu  zeigen  und  es  auch  ausführte,  da  war  die  erwartung  einer  besseren 
anderen  schon  und  noch  in  ihi-er  mittleren  dauer  begriifen ;  sie  gieng 
nicht  blosz  dem  wirklichen  erfolg,  sondern  sogar,  als  ihre  Ursache, 
schon  der  grausamkeit  selber  voran;  dann  dura  trois  ans;  der 
anfangs-  und  endpunkt  der  drei  jähre  bilden  zugleich  den  der  lutte. 
dann  nach  einander  anfang  und  ausführung  des  soumettre ,  recevoir 
und  donner,  während  das  ehren  der  tapferkeit  sich  verschieden  auf- 
fassen läszt;  als  blosz  inneres  gefühl  müste  es  im  imp.  stehen,  denn 
dieses  war  gewis  schon  in  seiner  mittleren  dauer,  als  Karl  ihm  das 
lehn  gab;  als  dessen  bethätigung  aber  im  d6fini,  denn  diese  war 
gleichzeitig  mit  dem  geben. 

Noch  einige  andere  besonders  interessante  oder  wich- 
tige fälle: 

Le  voyant  si  heureux  (über  den  von  der  geliebten  ihm  zu  teil 
gewordenen  empfang)  je  ne  doutai  point  (zweifelte  ich  nicht 
mehr)  que  le  soir  m6me  il  ne  fit  connaitre  une  fois  de  plus  ä  sa 
möre  son  irrövocable  rösolution  de  la  demander  en  mariage  et  il  ne 
me  semblait  pas  impossible  qu'elle  finit  par  capituler  (Eevue  d.  d. 
m.  15/1  93  s.  242). 

Das  verbum  des  denkens  douter  steht  hier  im  defini,  weil  es 
nicht  als  eine  schon  in  der  mittleren  dauer  begriffene  Ursache ,  son- 
dern umgekehrt  als  eine  erst  eintretende  folge  erscheint,  aber 
semblait  bleibt  im  imp. ,  weil  es  nicht  als  eine  folge  seiner  Zu- 
friedenheit hingestellt  werden  soll ;  auch  sind  wir  schon  durch  das 
pass6  d6fini  doutai  in  eine  zeit  versetzt  worden,  wo  das  sembler  in 
seiner  mittleren  dauer  gedacht  werden  kann. 

Je  distinguai  une  forme  qui  venait  ämoi (Revue  d.d.m.  1/3  93 
s.  20).  wenn  von  einem  verbum  des  sehens,  hörens,  fühlens,  denkens, 
glaubens  ein  satz,  z.  b,  mit  qui  oder  que  abhängt,  der  eine  thätig- 
keit^^  ausdrückt,  die  an  sich  offenbar  anfieng  und  ausgeführt  ward, 
setzt  der  schüler  leicht  das  pass6  d6fini.  so  in  dem  obigen  satz, 
und ,  um  einen  mit  que  hinzuzufügen ,  in :  je  vis  oder  crus ,  voyais, 
croyais  qu'un  homme  entrait  dans  ma  chambre.  an  solchen  fällen 
kann  man  ihm  am  besten  klar  machen,  dasz  es  nicht  auf  die  thätig- 
keit  an  sich  ankommt,  sondern  auf  das  zeitliche  Verhältnis  ihres 
anfangs  und  ihrer  Vollendung  zu  dem  übergeordneten  satze;  und 
dieses  erfordert  hier  das  imparfait.  in  dem  augenblich  wo  das  sehen, 
hören  usw.  anfieng  und  ausgeführt  ward,  muste  das  zu  gründe 
liegende  ereignis  schon  angefangen  haben,  es  ist  auch  hier  das  Ver- 
hältnis von  Ursache  und  Wirkung,  der  gegenständ  der  Wahrnehmung 
geht  der  Wahrnehmung  selber,  und  wäre  es  auch  nur  um  eine 
secunde,  voran;  lehrt  doch  schon  die  physik,  dasz  er  die  luftwellen 

^■^  die  Verneinung  hat  nichts  mit  der  sache  zu  thun,  ebenso  wenig 
wie  vorher  bei  ne  vint  pas. 

^^  es  kann  natürlich  auch  eine  eigenschaft  sein,  ein  zustand. 


406  C.  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen. 

in  bewegung  gesetzt  haben  musz,  um  wahrgenommen  zu  werden, 
so  war  denn  auch  hier  das  venir  und  entrer  schon  in  seiner  mittleren 
dauer,  als  das  dadurch  hervorgerufene  distinguer,  voir,  croire  an- 
fieng  und  ausgeführt  ward. 

Das  umgekehrte  Verhältnis,  dasz  der  gegenständ  der  Wahr- 
nehmung später  anBeng,  ist  bei  der  äuszeren  Wahrnehmung  nicht 
denkbar,  und  bei  der  inneren  nur  da,  wo  er  der  zukunft  angehört, 
dann  aber  kann  er  überhaupt  nicht  durch  ein  tempus  der  Vergangen- 
heit ausgedrückt  werden;  z,  b.  nach  croire,  penser  u.  a.  also  ent- 
weder: je  croyais  (glaubte  schon,  oder  crus,  fieng  an  zu  glauben) 
qu'il  venait  oder  qu'il  viendrait  ä  moi.  ob  das  wahrgenommene 
der  inneren  oder  der  äuszeren  weit  angehört,  ist  dabei  gleichgültig : 
je  croyais  (crus)  qu'il  me  haissait,  m'aimait  oder  ha'irait,  aimerait: 
croire  qua  steht  mit  dem  döfini  in  Picards  vorrede  zu  seinen  marion- 
nettes: je  m'obstinai,  malgre  le  conseil  de  plusieurs  amis ,  ä  donner 
un  moment  d'6blouissement  ä  Georgette,  je  persiste  ä  croire  que 
j'eus  raison.^"  hier  denkt  aber  Picard  nicht  an  ein  blosz  inneres 
rechthaben,  sondern  an  rechtbandeln:  'ich  that  wohl  daran.'  dies 
thun  ist  aber,  gleichzeitig  mit  dem  'je  m'obstinai',  von  seinem  an- 
fangs- bis  zu  seinem  endpunkt  zu  denken,  an  einer  höchst  auf- 
fälligen stelle  von  Vignjs  Cinq-Mars:  'eile  vit  que  ce  personnage, 
s'emparant  du  de  de  la  conversation,  le  tint  avec  un  sang-froid  im- 
perturbable  pendant  tout  le  repas"'  soll  gleichfalls  das  d6fini  die 
ganze  dauer  hervorheben  mit  einschlusz  des  anfangs-  und  des  end- 
punkts.  ebenda  s.  28:  'il  regarda  encore  quelque  temps  tous  les 
feux  du  chäteau,  qui  s'6teignirent  successivement  aprös  avoir  ser- 
pentö  dans  les  ogives  des  escaliers  et  rode  dans  les  cours  et  les 
6curies.'  als  er  an  fieng  die  lichter  zu  betrachten,  schlängelten 
sie  sich  noch  durchs  haus,  die  höfe  und  die  stalle;  anfangs  sah  und 
betrachtete  er  nur  die  lichter  an  sich;  da  war  das  erlöschen  noch 
nicht  in  seiner  mittleren  dauer  begriffen;  darum  musz  hier  aus- 
gedrückt werden ,  dasz  sie  es  später  nach  einander  anfiengen  und 
ausführten,  in  'il  vit  que  les  feux  s'eteignaien t'  hätte  man  das 
umgekehrte  Verhältnis. 

In  Plötz  grammatik  findet  sich  ein  in  beziehung  auf  die  tem- 
pora  bedenklicher  satz:  'als  ich  aus  dem  hause  des  bürgermeisters 
hinausgieng,  bemerkte  ich  jemand,  der  mir  folgte.'  unser  imperfectum 
läszt  das  Verhältnis  unklar,  und  so  mag  es  als  deutsche  Unklarheit 
durchgehen,  im  französischen  aber  weisz  ich  nicht ,  was  ich  damit 
machen  soll,  lorsque  je  sortis  de  chez  le  bourgmestre,  j'aper^us  un 
homme  qui  rae  suivait?  der  sinn  soll  doch  wohl  sein,  dasz  das 
folgen  dem  bemerken  vorangieng.  dann  müste  man  aber  dem  reden- 
den schon  in  dem  hause  gefolgt  sein  und  das  wollte  Plötz  schwer- 
lich sagen,    das  passe  döfini  'suivit'  hingegen  würde  andeuten,  dasz 


™  Picard,  Oeuvres  V  226  Paris,  Barba  1821. 
■"i  ausgäbe  Charpentier,  Paris  1855,  s.  16. 


C.  Humbevt:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen.  407 

der  mann  erst  anfieng  zu  folgen,  nachdem  man  ihn  schon  bemerkt 
hatte:  erst  bemerkte  ich  ihn,  da  aber  folgte  er  mir  noch  nicht, 
später  fieng  erst  das  folgen  an,  und  dann  hat  die  Verbindung  von 
apercevoir  mit  suivre  keinen  sinn. 

Noch  ein  anderer  Satz,  der  mir,  so  wenigstens,  ohne  Zu- 
sammenhang mit  andern,  w^underlich  vorkommt:  'die  äugen 
aller  Römer  hatten  sich  auf  den  Pompejus  gerichtet,  als  es  sich 
darum  handelte,  einen  anführer  gegen  die  Seeräuber  zu  wählen.'  das 
Verhältnis  ist  wohl  ganz  umgekehrt:  ''die  äugen  richteten  sich,fiengen 
an  sich  ...  zu  richten,  sobald',  oder  'als  es  sich  . . .'  se  dirigörent .  . . 
dös  qu'il  s'agit. 

Gegen  meine  bemerkungen  über  das  imparf.  und  pass6  defini, 
besonders  über  das  defini  von  etre,  könnte  man  einwenden:  in  Ver- 
bindung mit  einem  part.  pass6  sei  auch  das  imparfait  dieses  verbums 
gleichbedeutend  mit  'werden';  darum  könne  auch  diesem  der  begriff 
des  fortschritts  nicht  abgesprochen  werden,  und  das  gelte  gar  von 
allen  formen  des  mit  seiner  hilfe  gebildeten  passif. 

Aber  gerade  dies  musz  stutzig  machen,  um  so  mehr,  als  in  Ver- 
bindung mit  einem  adjectiv  oder  subst.  nur  dem  defini  eine  solche 
bedeutung  zu  teil  wird,  ich  möchte  daraus  schlieszen,  dasz  alle" 
formen  von  etre  nur  dem  mit  ihnen  verbundenen  participe  diese 
bedeutung  verdanken,  etre,  'sein',  läszt  sich  nicht  ohne  weiteres 
in  'werden'  verwandeln,  nur  beim  pass6  döfini  ist  eine  solche  Um- 
wandlung denkbar;  da  erklärt  sich  der  auch  sonst  bei  ihm  nach- 
gewiesene begriff  des  fortschritts,  beim  imparf.  aber  musz  ich  mich 
ans  participe  halten. 

Was  bezeichnet  puni?  ich  denke,  im  gegensatz  zur  thätigkeit, 
das  leiden,  ob  dieses  aber  der  Vergangenheit  oder  der  gegenwart  an- 
gehört, darüber  sagt  es  mir  gar  nichts,  daher  hat  'je  suis  puni'  zwei 
bedeutungen:  ich  bin  einer  'der  bestraft  wird'  und  'der  bestraft 
w  orden',  und  in  dem  letzten  fall:  'ich  bin  ein  schon  bestrafter' 
oder:  'ich  bin',  in  dem  ersten  aber:  'ich  bin  ein  bestraft 
werdender'  oder:  'ich  werde'  bestraft. 

Die  englische  syntax  hat  manche  berührungspunkte  mit  der 
französischen,  schon  beim  imparfait  wies  ich  auf  das  umschreibende 
'I  was  writing'  hin,  das  in  so  auffälliger  aber  um  so  klarerer  weise 
'j'6crivais'  wieder  gibt,  auch  hier  möchte  ich  an  etwas  englisches 
erinnern:  I  have  a  house  built  und  built  a  house.  mit  dem  partic. 
hinter  dem  object  heiszt  es:  'ich  lasse  mir  ein  haus  bauen'  d.  h.: 
'ich  habe  ein  haus  als  ein  solches,  das  gebaut  wird';  und,  vor  dem 
object:  'ich  habe  ein  haus  gebaut',  wo  es  schon  gebaut  ist.  und 
nur  diese  zwei  bedeutungen  des  participe  geben  auch  dem  damit 
verbundenen  etre  die  verschiedene  bedeutung,  so  dasz  j'etais  puni 
ich  'war'  und  'ich  wurde  bestraft'  übersetzt  werden  kann.^^    da- 


natürlich  mit  ausnähme  des  passe  de'fiai. 

ebenso   bekanntlich    das   englische   to  be  mit  dem  particip.  pass. 


408  R.  Richter:  anz.  v.  0.  Kohl  griechischer  Unterricht. 

bei  bleibt  der  unterschied  zwischen  6tais  und  fus  auch  in  dem 
'wurde'  bestehen,  ist  unabhängig  vom  participe.  im  imparfait  ist 
das  bestraftwerden  schon  und  noch  in  seiner  mittleren  dauer  be- 
griffen, in  einem  Zeitraum  oder  -punkt  zwischen  dem  anfangs-  und 
endpunkt,  ohne  fortschritt;  im  d6fini  werden  diese  beide  und  somit 
das  ganze  leiden  in  eins  zusammen  gezogen,  so  dasz  man  vom  an- 
fang  bis  zum  ende  des  leidens  fortschreitet  und  sich  die  mitte  den 
blicken  entzieht. 

(Fortsetzung  folgt.) 
Bielefeld.  C.  Hümbert. 


26. 

DR.  0.  Kohl,  griechischer  Unterricht,    aus  Reins  encyclo- 
PÄDISCHEM  HANDBUCH  DER  PÄDAGOGIK.    Langensalza  1896. 

Ein  sehr  reichhaltiger  artikel:  viel  geschichtlicher  stoff,  viel 
bibliographisches,  eine  fülle  methodischer  anweisungen,  dazu  in 
knapper  fassung  wohlerwogene  eigne  urteile  über  streitige  fragen, 
wer  zum  griechischen  unterrichte  irgendwie  in  beziebung  steht,  mag 
sich  das  Studium  dieser  vielseitig  anregenden  und  belehrenden  arbeit 
dringend  empfohlen  sein  lassen,  in  einzelheiten  wird  natürlich  jeder 
gräcist  seine  abweichenden  auslebten  haben,  mir  gilt  Lysias  als  gute 
lectüre  für  obersecunda:  leicht  zu  bewältigende  und  leicht  zu  über- 
sehende abgeschlossene  stücke,  anschauliche  bilder  aus  dem  Privat- 
leben, vorteilhafte  Vorbereitung  auf  Demosthenes.  Isokr.  panegyr. 
erste  hälfte  ist  in  oberprima  dankbar,  rasch  vom  blatte  gelesen  und 
culturhistorisch  und  nicht  ohne  kritik  der  rhetorischen  methode  des 
Verfassers  behandelt,  dasz  zu  Herodots  erzählung  von  der  schlacht 
bei  Salamis  die  Perser  in  der  Übersetzung  ganz  vorgelesen  werden, 
sollen ,  halte  ich  für  ein  falsches  Zugeständnis  an  die  sonst  richtige 
forderung,  möglichst  viel  ganze  kunstwerke  zu  bieten,  dagegen 
hat  es  meinen  vollen  beifall,  dasz  Plutarch  wieder  mehr  zu  ehren 
kommen  soll,  vermiszt  habe  ich  einige  hinweise  auf  das  wichtige 
Verhältnis  zwischen  deutsch  und  griechisch  in  den  oberclassen,  wo 
doch  der  deutsche  Unterricht  durch  den  griechischen  die  denkbar 
beste  Unterstützung  erhalten  kann,  manchmal  ist  mir  der  verf.  zu 
zaghaft  und  nachgibig  gegenüber  den  modernen  anfechtungen  des 
griechischen,  z.  b.  am  Schlüsse  seines  geschichtlichen  berichtes  und 
kurz  vorher  bei  erwähnung  der  äuszerungen  des  kaisers  in  der 
Berliner  decemberconferenz.  doch  thut  dergleichen  dem  wissen- 
schaftlichen und  praktischen  werte  der  arbeit,  der  zum  Schlüsse 
nochmals  betont  sei,  keinen  eintrag. 

Leipzig.  Richard  Richter. 


ZWEITE  ABTEILUNG 

FÜR  GYMNASIALPÄDAGOGIK  UND  DIE  ÜBRIGEN 

LEHRFÄCHER 

MIT    ADSSCHLDSZ    DER    CLASSISCHEN    PHILOLOGIE 

HERAUSGEGEBEN  VON  PROF.  DR.  RiCHARD  RiCHTER. 


(16). 

QÜINTILIAN     ALS     DIDAKTIKER    UND    SEIN    EINFLUSZ 

AUF    DIE    DIDAKTISCH- PÄDAGOGISCHE    THEORIE    DES 

HUMANISMUS. 

(Fortsetzung.) 


IV.  Melanclithon  und  Sturm. 

Melanchthon  ist  es,  der  den  humanismus  hinüberleitet  in 
das  protestantische  Schulwesen,  das  in  ihm  mit  recht  seinen  schöpfer 
verehrt,  er  steht  so  gewissermaszen  auf  der  grenzscheide  zwi- 
schen theorie  und  praxis.  gleichwohl  wird  er  auch  in  unserer 
Untersuchung  eine  sorgfältige  beachtung  verdienen,  wenn  anders  die 
theorie  um  der  praxis  willen  da  ist  und  die  Verbindung  beiden  — 
wie  uns  Quintilian  selbst  zeigt  —  zu  gute  kommt. 

Zahlreich  sind  die  einwirkungen,  die  Melanchthon 
schon  von  früh  an  auf  Quintilian  hinlenken  musten. 
bereits  in  seiner  Heidelberger  zeit  (1509  — 12)  beginnen  sie. 
'wenngleich  die  Universität  selbst  kein  sitz  humanistischen  wissens 
geworden,  darin  z.  b.  Erfurt  oder  Wien  sehr  unähnlich,  so  lebte  im 
scholastischen  Heidelberg  doch  eine  stille  humanistische  gemeinde 
lerneifriger  Studenten.' "'  noch  wirkte  also  nach  der  geist  des 
kreises,  dessen  mittelpunkt  Dalberg  war  und  der  mit  Agricola 
unlöslich  verknüpft  ist.  Melanchthons  groszoheim  Reuchlin,  der  ihm 
gern  von  jener  zeit  erzählte  ^^-^  wie  Pallas  Spangel,  Agricolas  schüler, 
Melanchthons  lehrer''",  mögen  in  ihm  die  Verehrung  für  Agricola, 
der  er  oftmals  ausdruck  gegeben  hat"\  erweckt  haben.  Agricola 
aber  muste  ihn  notwendig  auf  Quintilian  hinlenken. 

'''  K.  Hartfelder,  Philipp  Melanchthon  als  praeceptor  Germani.ie, 
Berlin  1889  (monumenta  Germaniae  paedagogica  b.  VII)  s.  25. —  Hart- 
felder hat  das  Verhältnis  Melanchthons  zu  Quintilian  allenthalben  ge- 
bührend gewürdigt. 

«*  a.  a.  o.  s.  15.         ^"  s.  22. 

^■'^  auf  einer  undatierten  ausgäbe  von  Agricolas  de  ratione  studii 
epistola  ist  als  von  Melanchthon  herrührend  hinzugefügt:  ad  formanda 
N.  jahrb.f.  phil.u.päd.  ll.abt.  1897  hft,9.  27 


410  A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

Mit  der  Übersiedlung  nach  Tübingen  trat  er  in  den  kreis 
Beb  eis  ein,  bei  dem  uns  ja  der  einflusz  Quintilians  in  so  greif- 
barer weise  entgegengetreten  ist,  und  der  sicher  wie  in  seinen 
Schriften  so  auch  in  seinen  Vorlesungen  nachdrücklich  auf  Quintilian 
hingewiesen  hat/"  so  ist  es  gewis  nicht  zufällig,  dasz  Melanchthon 
die  herausgäbe  der  ersten  schritt,  die  wir  von  ihm  haben,  mit  einer 
berufung  auf  Quintilian  zu  begründen  sucht,  er  empfiehlt  die  1514 
edierten :  clarorum  virorum  epistolae  ad  loannem  ßeuchlin  als 
musterbeispiele  für  den  stil,  der  nach  der  ansieht  Quintilians  durch 
Übung  und  nachahmung  am  besten  erworben  werde.'*'*  ebenso  nennt 
er  in  seiner  Wittenberger  antrittsrede  (1518),  in  der  er  im 
gründe  'das  programm  für  die  thätigkeit  seines  ganzen  lebens'  ent- 
wickelt, Quintilian  unter  den  besten  quellen  der  Wissenschaft.^" 

Endlich  verdient  unter  denen,  die  ihn  auf  Quintilian  hinführten, 
Erasmus  noch  besondere  er  wähnung.  ihm  hat  er  ja  von  seiner 
Tübinger  zeit  an  stets  pietätvolle  Verehrung  entgegengebracht, 
speciell  auf  didaktischem  gebiet  harmoniert  er  mit 
ihm  vollständig,  seine  kurze  ratio  disceudi,  der  einzige  anlauf 
zu  einer  systematischen  darstellung  dieses  gebietes,  den  er  gemacht 
hat,  'stimmt  in  allen  wesentlichen  punkten  mit  dem  Erasmischen 
commentariolus  de  ratione  discendi  überein,  dessen  wiederholte 
lectüre  er  empfiehlt'.^'®  wie  sehr  aber  Erasmus  den  Quintilian 
schätzt  und  benutzt,  haben  wir  gesehen. 

Dasz  alle  di^^se  einflüsse  nicht  wirkungslos  geblieben  sind,  dasz 
auch  Melanchthon  selbst  zu  Quintilian  in  ein  nahes  Ver- 
hältnis getreten  ist,  das  beweisen  die  wissenschaftlichen 
arbeiten,  in  denen  er  ihn  benutzt,  die  urteile,  die  er  über  ihn 
fällt,  die  bemühungen  ihm  im  Löheren  Unterricht  eine  stelle  an- 
zuweisen und  vor  allem  die  Übereinstimmung  in  den  didak- 
tischen anschauungen. 

studia  eorrigendaque  indicia  vix  aliud  hac  epistola  leges  accommodatius. 
proinde  iuvenis  operam  dabis,  ut.  quam  familiarissiraa  tibi  fiat'  (a.  a.  o. 
s.  16  anm.  4);  1531  gibt  er  die  sclirift  de  formando  studio  heraus  (a.  a.  o. 
s.  589);  1536  feiert  er  den  Agricola  in  einer  lateinischen  rede,  1539 
schreibt  er  die  dedicationsepistel  für  die  neue  ausgäbe  von  Agricolas 
lucubratiönes,    die   Alardus   Aemstelrodamus    besorgte,      a.  a.  o.  s.   15  f. 

*'5  in  Tübingen  lernte  er  auch  Agricolas  werlc  de  inventione  dia- 
lectica,  das  damals  erschien,  kennen;  auch  ist  ihm  bei  seiner  thätig- 
keit als  corrector  in  der  Anshelmschen  druckerei  die  schrift  des 
Mapheus  Vegius,  die  1515  herauskam  und  von  ihm  mit  empfehlenden 
Jamben  begleitet  wurde,  näher  bekannt  geworden,     a.  a.  o.  s.  44  und  59. 

^'«  s.  57. 

*''  er  beglückwünsclt  die  studierenden  zu  dem,  was  ihnen  in  Witten- 
berg geboten  ist:  fontes  ipsos  artium  ex  optimis  auctoribus  hau- 
ritis.  hie  nativum  ac  sincerum  Aristotelem,  ille  Quintilianum  rhe- 
torem,  hie  Plinium  .  .  docet.  Melanchthon  declamationes,  herausgeg. 
von  Hartfelder.  Berlin  1891  (lat.  litteraturdenkmäler  des  15n  und 
16n  jahrh.  h.  4)  s.  22. 

^^^  Hartfelder,  Melanchthon.  s.  339.  abgedruckt  ist  das  erwähnte 
1522  erschienene  schriftchen  CR.  XX  701—704. 


A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker.  411 

Melanchthons  dialektik  ist  direct  und  durch  Vermittlung 
Agricolas  von  Quintilian  beeinfluszt,  ebenso  ist  seine  rhetorik 
von  ihm  abhängig."'  er  bezeichnet  seine  arbeit  geradezu  als  ^ein 
vorbereitungsbuch  für  die  rhetorischen  Schriften  Ciceros  und  Quin- 
tilians',  deren  studium  er  nachdrücklich  empfiehlt:  nulli  enim  exstant 
auctores  nisi  optimi,  Cicero  et  Quintilianus,  qui  quidem  in  hoc 
genere  adeo  excellunt,  ut  longe  Graecos  omnes,  quorum  vidimus 
scripta,  vicerint.  ^^^  er  rechnet  ihn  zu  den  autoren,  die  man  kennen 
musz,  um  'über  die  natur  und  die  figuren  der  darstellung  recht  ur- 
teilen' und  überhaupt  einen  schriftsteiler  richtig  interpretieren  zu 
können.  '*'''  auch  als  s  p  r  a  c  h  1  i  c  h  e  s  m  u  s  t  e  r  empfiehlt  er  ihn  neben 
Cicero  und  seinen  Zeitgenossen,  er  rühmt  besonders  an  ihm  die  an- 
gemessenheit des  ausdrucks,  den  proprius  sermo.'*'^  so  ist  es  be- 
greiflich, dasz  er  ihn  auch  für  die  Jugendbildung  nutzbar  zu 
machen  suchte,  schon  in  den  ersten  jähren  betrieb  er  mit  beson- 
derem eifer  die  einrichtung  einer  Vorlesung  über  Quintilian  an  der 
Universität  Wittenberg.  Camerarius  hat  sie  1522  zum  ersten  mal 
gehalten ^^^  auch  Melanchthon  selbst  hat  ihn  interpretiert^"';  ebenso 
schlägt  er  eine  solche  Vorlesung  in  seinem  gutachten  für  die  Uni- 
versität Leipzig  (1540)  vor  und  seine  lectüre  wird  angeordnet  in 
dem  lehrplan  der  ''oberen  schule'  zu  Nürnberg,  die  unter  leitung 
Melanchthons  gegründet  wurde,  endlich  hat  er  auch  einen  com- 
mentar  zum  zehnten  buch  geschrieben.''^^  mit  gutem  grund  ver- 
mutet Hartfelder,  dasz  Melanchthon  seine  ansichten  über  den 
höheren  Unterricht  nicht  selbst  systematisch  zusammengefaszt  habe, 
weil  er  in  diesem  buche  der  institutio  schon  das  nötige  gesagt  fand  : 
hie  liber  decimus  Quintiliani  est  quasi  quidam  modus  studendi  vel 
ratio  discendi."*® 

In  der  that  zeigt  sich  auf  didaktischem  gebiet  eine 
völlige  Übereinstimmung  in  den  grundbegrif fen  zwi- 
schen Melanchthon  und  Quintilian.  ziel  des  Unterrichts  ist 
bei  beiden  die  eloquentia,  die  beide  mit  dem  ethischen  in  engste 
beziehung  setzen;  wie  Quintilian  lehrt,  dasz  der  orator  ein  vir  bonus 
sein  musz,  so  definiert  Melanchthon  die  vera  eloquentia:  quae  est 


■•'S  a.  a.  0.  s.  211—20  und  s.  220— 29.  auch  in  der  lateinischen 
grammatik  und  in  der  prosodie  wird  Quintilian  citiert  s.  251  und  269 
(mit  anm.  4). 

^'0  CR.  II  543  und  Hartfelder,  Melanchthon,  s.  229. 

^8'  a.  a.  o.  s.  290. 

^^2  a.  a.  0.  s.  344  f. 

*^^  a.  a.  o.  s.  508.  vgl.  den  von  Mel.  herrührenden  Vorschlag  'was 
man  für  lection  in  artibus  musz  in  alleweg  haben'  aus  dem  jähr  1520, 
in  dem  auch  Quintilian  aufgeführt  wird.  Hartfelder,  Melanchthoniana 
paedagogica,  Leipzig  1892,  s.  76  und  78. 

''*'  Hartfelder,  Melanchthon  s.  560  und  564  und  Mel.  paedag.  s.  169. 
170.  174. 

"^  Hartfelder,  Melanchthon  s,  619. 

^^ß  CR.  XVII  s.  653  und  Hartfelder  a.  a.  o.  s,  339  f. 


412  A.Messer:  Quintiliau  als  didaktiker. 

facultas  res  bonas  sapienter  et  perspicue  expouendi.  ^'''  auch  die 
mittel,  die  zur  erreichung  der  eloquentia  empfohlen  werden,  sind 
bei  beiden  die  nämlichen,  legere,  scribere  und  dicere  sind  die  drei 
arten  der  betbätigung  in  der  rhetorenschule  und  bei  den  selb- 
ständigen Studien,  die  Quintilian  im  zehnten  buch  bespricht:  lectio, 
exercitio  stili  und  declamatio  schlieszen  auch  die  gesaratheit  der 
Übungen  ein,  die  Melanchthon  empfiehlt/^^  im  einzelnen  aber  zeigt 
er  Selbständigkeit,  er  läszt  sich  nicht  etwa  durch  die  hohen  an 
forderungen,  die  Quintilian  an  die  belesenbeit  seines  orator  im 
ersten  capitel  des  zehnten  buches  stellt,  bestimmen  den  nachdruck 
auf  die  ausdehn ung  der  lectüre  zu  legen;  er  bleibt  bei  dem 
grundsatz  des  jüngeren  Plinius:  multum  legendum  est,  non  multa.^'^'* 
bei  der  exercitio  stili  hebt  er  die  metrischen  Übungen  weit  stärker 
hervor  als  Quintilian.  dieser  hatte  sie  mehr  um  der  abwechslung 
und  erholung  willen  empfohlen:  ne  carmine  quidem  ludere  con- 
trarium  fuerit,  Melanchthon  dagegen  fürchtet  geradezu  'es  möchte 
um  die  Wissenschaft  überhaupt  geschehen  sein,  wenn  man  die  an- 
fertigung  lateinischer  verse  vernachlässige'.^^"  er  stützt  sich  dabei 
auf  eigne  erfahrung:  video  enim  putidiuscule  dicere,  quotquot 
poeticen  non  attigerunt,  planeque  humi  repere  nee  verborum  pondus 
aut  ullam  figurarum  vim  tenere.  iam  cum  asperas  coufragosasque 
compositiones  multo  sit  facillimum  in  versibus  deprehendere,  fit, 
ut  qui  Carmen  condunt,  de  solutae  orationis  numeris  rectius  iudicent. 
Bei  den  Übungen  in  eigner  production  reicht  aber  die 
kenntnis  der  grammatischen  und  rhetorischen  regeln  nicht  aus,  viel- 
mehr musz  —  darin  sind  beide  einig  —  die  nachahmung  guter 
muster  dazu  kommen:  neque  enim  dubitari  potest,  quin  artis  pars 
magna  contineatur  imitatione."^'  wie  Quintilian  auf  die  bedeutung 
der  nachahmung  in  der  entwicklung  der  musik,  der  raalerei  und  der 
landwirtschaft  hinweist  und  zu  dem  Schlüsse  kommt:  omnis  denique 
disciplinae  initia  ad  propositum  sibi  praescriptum  formari  videmus, 
so  bemerkt  auch  Melanchthon:  imitatio,  si  natura  non  repugnet, 
sicut  aliarum  rerum  artifices,  ita  et  eloquentes  efficit.^"^  als 
muster  für  die  nachahmung  empfiehlt  er  Cicero  und  seine  Zeit- 
genossen, ohne  aber  Terenz,  Livius  und  Quintilian  auszuschlieszen. 

*-'  CR.  XI  s.  714  und  Hartfelder  a.  a.  o.  s.  332.  —  Die  Überein- 
stimmung zeigt  sich  natürlich  auch  in  einzelhei ten,  z.  b.  in  der 
Scheidung  der  beiden  selten  der  eloquentia,  der  form  und  des  Inhalts. 
Melanchthon  sagt  darüber:  saepe  autem  diximus  eloquentiam  rebus 
ac  verbis  contineri,  rerum  autem  inventionem  ac  dispositionem  esse, 
elocutionem  ad  verba  pertinere  CR.  s.  492,  vgl.  Quintilian  (X  1,  4): 
igitur  eum,  qui  res  invenire  et  disponere  seiet,  verba  quoque  et  eli- 
gendi  et  collocandi  rationejn  perceperit  usw. 

"8«  Hartfelder  a.  a.  o.  s.  340  ff. 

489  a.  a.  o.  s.  341. 

^»0  a.  a.  o.  s.  342.  das  folgende  citat  steht  CR.  XI  61;  die  Quin- 
tllianstelle  X  5,  15. 

«1  Quint,  X  2,   1   und  Hartfelder  a.  a.  o.  s.  342  f. 

"92  Quint.  X  2,  2  und  CR.  XIII  492.  497. 


A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker.  413 

eine  ähnlich  freie  Stellung  den  ängstlichen  Ciceronianern  gegen- 
über hatte  ja  Erasraus  vertreten,  und  er  hatte  sich  dabei  auf  das  von 
Quintilian  adoptierte  wort  des  Livius  berufen :  legendos  Demosthenem 
atque  Ciceronem ,  tum  ita,  ut  quisque  esset  Demostheni  et  Ciceroni 
simillimus/®'  dasz  die  nachahmung  nicht  mechanit^ch  sich  an 
äuszerlichkeiten  halten  dürfe,  ist  ebenfalls  im  sinne  des  Quin- 
tilian und  Erasmus.  seine  Selbständigkeit  zeigt  sich  aber  auch 
hier,  indem  er  tadelnd  bemerkt,  Quintilian  habe  die  imitatio  rerum 
und  verborum  vermischt.  ""^^  wie  in  der  römischen  rhetorenschule 
die  declamatio  den  breitesten  räum  einnimmt  und  ihn  nach  Quin- 
tilians  ansieht  auch  einnehmen  soll,  so  legt  auch  Melanchthon  auf 
diese  Übung  den  grösten  vrert.  er  ist  sich  dabei  aber  bewust, 
dasz  er  mit  der  Bezeichnung  declamatio  nicht  mehr  ganz  dasselbe 
meint  wie  Quintilian.  es  zeigt  dies,  dasz  er  sich  mit  eignem  urteil 
den  veränderlichen  Zeitverhältnissen  anzupassen  wüste.  Quintilian 
betont  —  und  er  betont  es  mit  besonderem  nachdruck,  weil  er  sich 
bereits  einer  vielfach  abweichenden  pi-axis  gegenüber  wüste  —  dasz 
die  declamationes  nicht  Selbstzweck  sind,  sondern  dasz  sie  ledig- 
lich Vorübungen  sein  sollen  für  die  wirklichen  reden  im 
Senat  und  vor  gericht,  diesen  müssen  sie  also  möglichst  ähn- 
lich sein  und  wie  diese  vornehmlich  der  gerichtlichen  und  der 
beratenden  gattung  angehören.  ^^^  aber  schon  zu  Quintilians  zeit 
gieng  die  geschichtliche  Strömung  dahin,  der  beredsamkeit  allmäh- 
lich den  boden  im  wirklichen  leben  zu  entziehen,  in  Melanchthons 
zeit  vollends  kam  ihr  —  der  lateinischen  eloquenz  —  eine  ernst- 
liche und  reale  bedeutung  nicht  mehr  zu.  wir  haben  oben  über 
diesen  punkt  eine  äuszerung  des  klar  denkenden  Vergerio  aus  den 
ersten  zeiten  des  humanismus  angeführt :  die  Sachlage  hatte 
sich  nicht  geändert  —  trotz  des  unendlichen  humanistischen  rede- 
stroms,  der  seitdem  während  mehr  als  eines  Jahrhunderts  über  das 
christliche  abendland  hingeplätschert  war.  genau  dasselbe  urteil,  das 
Vergerio  gefällt  hatte,  vernehmen  wir  am  Schlüsse  der  humanistischen 
Periode  aus  dem  munde  des  mannes,  'in  dessen  denken  sich  die  da- 
malige weit  vielleicht  am  objectivsten  spiegelt'  (Paulsen):  des  Eras- 
mus.^^^    und  doch  nahm  die  lateinische  eloquenz  in  dem  geistigen 

^^^  Quint.  X  1,  39.  vg-1.  X  2,  24:  sed  non  qui  maxime  imitandus 
et  solus  imitandus  est  und  Hartfelder  a.  a.  o.  s.  344  f.  348. 

«^'»  CR.  XVII  s.  669  f.  Hartfelder  a.  a.  o.  s.  348. 

^9-^  Quint.  n  10.  IV  2,  29.  X  2,  12  u.  ö.  Melanchthons  auslebten 
über  die  declamatio  bei  Hartfelder  a.  a.  o.  s.  349ff. ,  der  aber  den 
unterschied  von  Quintilian  nur  leise  andeutet. 

"'■"'  im  Ciceronianus  läszt  er  den  Bulephorus,  der  des  Erasmus 
ansichten  vertritt,  also  reden:  eloquentia,  quae  nihil  aliud  quam  de- 
lectat,  non  est  eloquentia,  nimirum  in  aliud  reperta,  quod  nisi  praestat, 
nee  decora  videri  debet  bono  viro.  verum  ut  olim  fuerit  utilis  elo- 
quentia Cieeronis,  hodie  quis  est  illius  usus?  an  in  iudiciis?  ibi 
res  agitur  articulis  ac  formulis,  per  procuratoies  et  advocatos,  quidvis 
potius  quam  Ciceronianos.  apud  iudices?  apud  quos  barbarus  esset 
Cicero,  neque  multo  maior  usus  in  conciliis,  ubi  singuli  paucis  aperiunt 


414  A.  Messer:  Quintihan  als  diclaktiker. 

güterverkehr  dei'  zeit  ihre  stelle  ein:  angebet  und  nachfrage  waren 
in  reichstem  masze  vorhanden,  die  eloquentia  war  eben  —  luxus- 
artikel,  und  zwar  ein  luxusartikel,  der  geradein  mode  war.  'die 
rede  bildete  ein  notwendiges  dement  und  eine  zierde  jedes  erhöhten 
daseins.  sehr  viele  festliche  augenblicke,  die  gegenwärtig  mit  der 
musik  ausgefüllt  werden,  gehörten  damals  der  lateinischen  rede,'^'^ 

Dieser  Sachlage  wurde  Melanchthon  gerecht:  die  declamationen, 
wie  er  sie  empfiehlt  und  wie  er  sie  selbst  in  groszer  anzahl  verfaszt 
hat,  sind  nicht  Vorübungen  auf  wirkliche  'orationes',  durch  die 
der  redner  eingreift  in  das  getriebe  des  lebens  und  der  weit,  son- 
dern sie  tragen  ihren  zweck  in  sich  selbst,  es  sind  ge  legen - 
heitsreden  (meist  dem  genus  demonstrativum  angehörig)  über 
historische,  philosophische,  philologische,  theologische,  naturwissen- 
schaftliche theraen.  das  damalige  akademische  leben  bot  anlasz  zu 
solchen  rhetorischen  acten  in  fülle,  'bei  promotionen  und  nach 
Prüfungen,  bei  leichenfeiern,  beim  antritt  des  lehramts  und  der- 
gleichen'. 

Die  ur teile Melanchthons  über  die  einzelnen  classischen 
Schriftsteller,  die  Hartfelder  mit  groszer  Sorgfalt  zusammen- 
gestellt hat  (s.  355  ff.),  zeigen,  was  ja  in  der  sache  begründet  ist, 
manche  Übereinstimmungen  mit  denen  Quintilians,  aber  sie  zeigen 
noch  deutlicher  Melanchthons  Selbständigkeit,  er  hat  sie  aus  eigner 
eingehender  kenntnis  heraus  gefällt  und  nicht  aus  Quintilian  einfach 
herübergenommen. ■'^**  alles  dies  bestätigt  die  richtigkeit  des  urteils, 


quod  videtur,  idque  G;illice  aut  Germanice.  maxime  vero  res  hodie  per 
consilium ,  quod  arcanum  vocaut,  coiificiuntur:  ad  id  vix  tres  homines 
adhibentur,  illiterati  fere:  reliquis  licet  coiisultare.  iam  etiam  si  res 
aperentur  hodie  Latine,  quis  ferret  Ciceronem  ea  peroraiitem ,  quae 
dixit  in  Verrem ,  in  Catilinam?  ,  .  .  itaque  cui  tandem  usui  para- 
mus  hanc  ope  rosam  Ciceronis  eloquentiam?  num  contionibus? 
vulgus  Ciceronis  linguam  non  intelligit:  et  apud  popuhim  nihil  agitur 
de  re  publica,  sacris  vero  contionibus  minime  congruit  hoc  dicendi 
genus.  quis  igitur  superest  usus,  nisi  forte  in  legationibus,  quae  Roniae 
praesertim  latine  peraguntur.  ex  more  magis  quam  ex  animo,  et 
magnificentiae  causa  potius  quam  utilitatis  gratia.  in  bis 
enim  fere  nihil  agitur  rei  seriae  usw.  auch  wenn  wir  berücksich- 
tigen, dasz  die  stelle  hauptsächlich  auf  Ciceronianische  eloquenz 
sich  bezieht  —  diese  war  übrigens  seit  Petrarca  das  ersehnte  ziel  — 
so  besagt  sie  doch  genug. 

■*"  Burckhardt,  die  cultur  der  renaissance  P  s.  275  bei  Hartfelder 
a.  a.  o.  s.  349. 

*^^  die  belege  im  einzelnen  brauchen  hier  nicht  gegeben  zu  wer- 
den, da  man  die  in  betracht  kommenden  stellen  aus  Quintilian  zum 
allergrösten  teil  bequem  beisammen  findet  in  der  litteraturübersicht 
X  1,  46  — 131.  —  Auch  sonst  ergeben  sich  natürlich  nocli  manche 
Übereinstimmungen  zwischen  beiden  in  einzelnen  didaktischen  grund- 
sätzen.  man  vergleiche  z.  b.  Melanchthons  wort  (Hartfelder  s.  351): 
exempla  plus  faciunt  quam  praecepta  mit  Quintilians  ausspruch:  quantum 
Graeci  praeceptis  valent,  tantuui  Koniani,  quod  est  malus,  exemptis 
XII  2,  70,  vgl.  II  5,  16;  wie  Quintilian  (I  7,  33—35)  schätzt  er  einen 
gründlichen  Unterricht  in  der  grammatik  usw. 


A.Messer:  Quintilian  als  didaktiker.  415 

das  Hartfelder  über  Melanchtbons  Verhältnis  zu  Quintilian  gefällt 
hat  (s.  348  f.):  'Melanchthon  ist  Quintilians  schüler,  wie  ein  tüch- 
tiger mann  der  schüler  des  andern  ist.  frei  von  dem  eiteln  streben, 
auf  kosten  des  gegenständes  originell  sein  zu  wollen,  entleiht  er  die 
maszgebenden  gedanken,  ohne  seine  quelle  zu  verschweigen,  aber 
auch  ohne  kritiklose  hingäbe,  die  in  falsch  verstandener  pietät  auf 
eignes  urteil  verzichtet.' 

Auf  den  ersten  blick  möchte  es  scheinen,  als  müsse  bei  Johannes 
Sturm'®^  der  einfiusz  Quintilians  besonders  stark  sein,  was  ihn 
gegenüber  den  andern  humanistischen  Schulmännern  kennzeichnet, 
ist  ja  gerade  das,  dasz  er  auf  die  rhetorische  ausbildung  das 
gröste  gewicht  legt;  dabei  ist  Cicero  sein  vielbewundertes  vorbild. 
beides  gilt  auch  für  Quintilian:  auch  er  will  redner  bilden,  redner 
wie  Cicero  oder  noch  vollendetere,  was  möchte  näherliegend 
scheinen,  als  dasz  Sturm  den  weg,  den  Qiiintilian  zu  dem  heisz- 
ersehnten  ziele  hin  vorgezeicbnet  hatte,  genau  innehalten  werde? 

Sehen  wir  zu ,  ob  die  thatsachen  diese  Vermutung  bestätigen, 
ist  sie  richtig,  so  darf  man  wohl  zunächst  erwarten,  dasz  Sturm  in 
dem  von  ihm  geschaffenen  Unterrichtsbetrieb  selbst  der  in- 
stitutio  eine  hervorragende  Stellung  zuweisen  w^rde.  allein  gerade 
das  gegenteil  ist  der  fall:  Quintilian  wird  in  der  schule 
Sturms  überhaupt  nicht  als  lehrbuch  benutzt  oder 
auch  nur  zum  gegenständ  der  lectüre  gemacht,  er  er- 
scheint weder  in  dem  grundlegenden  lehrplan,  der  Schrift  de  lite- 
rarum  ludis  recte  aperiendis  (1538),  noch  in  dem  fast30jahre 
später  erstatteten  bericht  über  die  Verhältnisse  der  schule,  wie  sie 
sich  thatsächlich  gestaltet  hatten,  den  epistolae  classicae(1565). 
Ciceros  rhetorische  Schriften,  der  auctor  ad  Herennium,  Hermogenes 
werden  gele&en,  aber  nicht  Quintilian/""  dabei  wollen  wir  uns  er- 
innern, dasz  Erasmus  die  institutio  gerade  wegen  ihrer 
brauchbar  keit  für  den  un  ter  rieh  t  warm  empfohlen  ,  dasz  er 
sie  in  dieser  hinsieht  den  Schriften  Ciceros  und  des  auctor  ad  Her. 
vorgezogen  hatte ^°',  dasz  ebenso  Melanchthon  dem  Quintilian 
im  Unterricht  in  der  eloquenz  eine  mindestens  ebenbürtige  Stellung 
neben  Ciceru  zuweist. 

Die  erklärung  für  Sturms  verhalten  liegt  übrigens  nahe,    es 


"ä  die  wichtipsten  der  hier  in  betraclit  kommenden  Schriften  Sturms 
sind  abgedruckt  bei  Vormbaum,  evani;elische  Schulordnungen  bd,  I, 
nämlich  de  litteraium  ludis  recte  aperiendis  (1538) ,  epistolae  classicae 
(1565),  scbolae  Lauiuganae  (1565),  epistolae  academicae  (1569y.  da  sie 
hier  am  leichtesten  zugänglich  sind,  so  eitlere  ich  sie  auch  nach  dieser 
ausgäbe,  die  übrigen  dagegen  nach  Hallbauer  (Fridericus  Andreas), 
Johannis  Sturmii  de  institutione  scliolastica  opuscuJa  omnia,  Jeiiae  1730. 

=00  Vormbaum  s.  667.  669.  670.  689.  691.  auch  in  den  scholae 
Lauinganae  werden  zur  rhetorischen  ausbildung  nur  herangezogen  der 
auctor  ad  Her.  (s.  739),  Aristoteles,  Hermogenes,  Cicero  (s.  741). 

^0'  Im  Ciceronianus.     opp.  o.  (Basileae  1550)  I  s,  842.  859. 


416  A.  Messer:  Quintilian  als  clidaktiker, 

handelt  sich  hier  ja  um  den  schulmäszigen  Unterricht;  es  ist  be- 
kannt, wie  Sturm  alles  darauf  angelegt  hat,  den  Schülern  mögliebst 
gerade  die  Ciceronianische  latinität  zu  eigen  zu  macben,  wie 
darum  Cicero  in  der  lectüre  überhaupt  weitaus  den  breitesten 
räum  einnimmt,  wie  sich  auch  die  schriftlicben  Übungen  an  ihn  an- 
schlieszen.  den  humanisten  entgieng  es  nun  nicht,  dasz  sich  Quin- 
tilian bei  all  seiner  Verehrung  für  Cicero  in  seiner  latinität  nicht 
unwesentlich  von  ihm  unterscheidet.  Sturm  aber  berücksichtigte 
auch  bei  den  rhetorischen  Schriften,  die  mehr  wegen  des 
inhalts  als  wegen  der  form  behandelt  wurden,  sehr  sorgsam  die 
Sprache,  das  beweist  sein  urteil  über  den  auctor  ad  Her.:  in  quo 
scriptore  non  solum  ipsarum  est  praeceptionum  utilitas,  sed  etiam 
sermonis  puritas.  aus  diesen  beiden  gründen  schreibt  er  ihn 
der  schule  von  Lauingen  vor.  Quintilian  war  also  wohl  dem 
ängstlich  auf  die  sprachreinheit  bedachten  Sturm  nicht  Cicero- 
nianisch  genug,  als  dasz  er  ihn  in  die  schullectüre  auf- 
genommen hätte,  aber  auch  in  dem  freieren  betrieb  der 
Studien  auf  der  academie  gönnt  er  Quintilian  keinen  platz,  in  dem 
brief  an  den  professor  der  rhetorik  in  den  academicae  epistolae 
(1569)  ist  auch  nur  von  Cicero  und  Hermogenes  die  rede■''^  und  in 
der  anleitung  zu  den  studien  während  eines  akademischen  trienniums, 
die  er  in  der  schrift  nobilitas  litte  rata  (1549)  gegeben  hat, 
wird  Quintilian  nicht  einmal  unter  den  zu  lesenden  autoren  ge- 
nannt,^"' Cicero  steht  auch  hier  noch  im  mittelpunkt  der  lectüre^ 
und  das  streben  durch  stilübungen  Ciceronianische  eloquenz  zu  er- 
reichen geht  fort  in  heiszem  bemühen  —  wie  in  der  schule. 

Konnte  die  rücksicht  auf  die  sprachreinheit  Sturm  bestimmen 
Quintilian  aus  dem  Unterricht  auszuschlieszen,  so  brauchte  diese 
rücksicht  ihn  selbst  nicht  zu  hindern,  an  Quintilian  inhaltlich 
sich  anzuschlieszen ,  ihm  in  seinen  rhetorischen  und  didaktischen 
Schriften  zu  folgen,  war  Quintilian  selbst  kein  Cicero  geworden,  so 
war  er  doch  vielleicht  nicht  auszer  stand  zu  zeigen,  wie  man  es  werde, 
allein  auch  in  seinen  rhetorischen  schrift en  schlieszt  sich 
Sturm  viel  weniger  an  Quintilian  —  der  natürlich  auch  benutzt  und 
citiert  wird  —  als  an  Cicero  und  besonders  an  Hermogenes 
an.  dieses  ^rhetorische  Wunderkind'  des  zweiten  christlichen  Jahr- 
hunderts steht  seit  etwa  1555  geradezu  im  vordergrumle  seines 
interesses.  'in  diesem  jähre  gab  er  die  schrift  irepl  ibeüijv,  1570  die- 
selbe zum  zweiten  mal  zugleich  mit  rrepi  eupeceuüv,  rrepi  ctdceouv 
und  Trepi  )Lie6öbou  beivöiriTOC  heraus;  lateinische  Übersetzungen 
waren  beigethan.  die  commentare  sind  die  reichhaltigsten,  die  er 
überhaupt  verfaszt  hat .  .  .  das  umfangreiche  1576  erschienene  werk 
de  universa  ratione  elocutionis  rhetoricae,  welches  man  neben  der 
ratio  linguae  latinae  resolvendae  vom  jähre  1581  als  die  schlusz- 


»02  V.  s.  718  f. 

^03  Hallbauer  s.  45  f. 


A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker.  417 

steine  der  rhetorischer)  entwicklung  Sturms  bezeichnen  kann,  be- 
nutzt in  der  ganzen  methode,  in  der  anordnung  und  ausführung  des 
-tüffes  durchaus  die  kategorien  des  Hermogenes.'^"* 

Was  mochte  Sturm  von  Quintilian  abhalten  und 
ihn  so  sehr  zu  He rmogenes  hinziehen?  kurz  gesagt:  sein 
innerstes  wesen.  'Sturms  wissenschaftliche  gedanken 
und  Studien  gehen  fast  ohne  rest  in  rhetorik  auf.'  ihm 
mochte  Quintilian  nicht  ausschlieszlich  genug  rhetor  sein,  die  Ver- 
schmelzung des  didaktischen  und  ethischen  mit  dem  rhetorischen, 
wie  es  Quintilian  eigentümlich  ist,  mochte  ihm  unwissenschaftlich 
vorkommen,  mochte  ihn  geradezu  abstoszen. 

Dazu  kommt  ein  zweites,  was  nahe  damit  verwandt  ist: 
Sturm  war  ein  etwas  trockener,  pedantischer  geist.  es 
kennzeichnet  ihn,  dasz  er  über  den  dürren  rhetorischen  katechismus, 
Ciceros  partitiones,  urteilt:  omnes  libellos  rhetoricos  superant,  si 
recte  explicentur  et  mandentur  memoriae.""^  er  schwelgt  in  einer 
endlosen  rhetorischen  terminologie,  in  einer  überfülle  von 
regeln,  er  zerfasert  die  Sprachgebilde,  die  er  unter  die 
liipe  nimmt,  bis  ins  kleinste. ^"^  ganz  anders  Quintilian:  ihm 
kommt  es  nicht  auf  die  namen,  sondern  auf  die  sache  an,  er  er- 
klärt: nee  interest  discentium,  quibus  quidque  nominibus  appel- 
letur,  dum  res  ipsa  manifesta  sit'^'^;  er  weisz,  dasz  die  überfülle 
von  namen  und  regeln  viel  eher  verwirrt  als  aufklärt,  er  weisz, 
dasz  die  diligentissimi  artium  scriptores  oft  ab  eloquentia  longissime 
luerint'^'\  denn  res  in  oratore  praecipua  consilium  est:  das  eigne 
denken,  das  eigne  fühlen  vor  allem  macht  den  redner.  aber 
das  läszt  sich  nicht  säuberlich  in  regeln  bringen,  die  man  schülern 
zum  auswendiglernen  aufgibt.  —  Wenn  man  das  geistig  freie ,  ur- 
wüchsige und  ungezwungene  bezeichnen  will ,  so  pflegt  man  dafür 
nicht  das  wort  ^*chulraeisterlich'  zu  wählen,  man  fühlt  vielmehr, 
dasz  diese  begriffe  eher  in  einem  gewissen  gegensatze  dazu  stehen. 
Sturm  war  Schulmeister  (allerdings  in  groszem  stil)  und  er  war 
nicht  die  persönlichkeit  das  beengende  und  verknöchernde,  das  dieser 
beruf  in  der  regel  mit  sich  bringt,  von  seinem  wesen  fern  zu  halten, 
um  so  mehr  da  verwandte  züge  von  anfang  an  in  ihm  vorhanden 
sein  mochten,  so  war  denn  Quintilian  nicht  sein  mann,  vielmehr 
zog  es  ihn  zu  Hermogenes,  der  auch  bei  den  —  Byzantinern 
als  'kanonische  autorität'  gegolten  hatte,  fx'eilich  hatte  er  dieses 
ansehen  'nur  der  beschränktheit  seiner  Verehrer'  verdankt;  'that- 
sächlich  war  er  ein  schwachkopf,  der  nur  die  kunst  besasz,  für 
leute,  welche  sich  nicht  sehr  anstrengen  wollten,  ein  handliches  com- 
pendium  zu  schreiben;  er  hat  nicht  blosz  keine  neuen  ideen  in  die 


5°'  E.  Laas,    die   pädagrogik    des    Joh.  Sturm   (Berlin   1872)    s.  78  f. 
^05  de  lit.  ludis.     V.  s.  667. 

"'^  Laas  a.  a.  o.  s.  96  f.  u.  ö.     Sturms  theorie  der  elocutio  umfaszt 
819  Seiten,  Quintilian  erledigt  sie  auf  106  Seiten. 
»"'  III  6,  '2.         JO«  VIII  pro.  1—3. 


418  A.Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

rhetorik  eingeführt,  sondern  auch  seine  kunst  auf  das  niedere 
niveau  derschulbedürfnisse  herabgedrückt',  ^"^ 

So  wird  es  uns  nicht  mehr  auffällig  sein,  wenn  wir  auch  in  den 
eigentlich  didaktischen  Schriften  Sturms  von  einem  ein- 
flusse  Quintilians  wenig  constatieren  können,  dazu  wirken  übrigens 
noch  einige  andere  momente  mit.  Sturm  ist  ja  nicht  *theo- 
retiker'.  seine  Schriften  sind  unmittelbar  für  die  praxis  be- 
rechnet und  zum  groszen  teil  auch  aus  der  praxis  hervor- 
gegangen, damit  ist  schon  eine  gröszere  Selbständigkeit  von 
vorn  herein  gegeben,  wie  wir  dies  z.  b.  auch  bei  Guarino  und 
Wimpheling  beobachtet  haben,  ferner  übt  Sturm  gegenüber 
seinen  quellen  meist  das  occultare,  das  uns  in  seiner  lehre 
von  der  imitatio  noch  begegnen  wird,  die  citierfreude  der  meisten 
humanisten  teilt  er  nicht,  gerade  auf  unserm  gebiet  kann  aber 
Übereinstimmung  in  den  ansichten  noch  nicht  ohne  weiteres  als  be- 
weis für  entlehnung  angesehen  werden,  zudem  lag  ja  jetzt  bereits 
eine  reichhaltige  litteratur  vor,  die,  in  den  grundzügen  überein- 
stimmend, die  humanistischen  ideen  in  der  pädagogik  und  didaktik 
zur  darstellung  brachte,  sie  ist  Sturm  ohne  zweifei  nicht  fremd  ge- 
blieben, wenn  auch  hier  ausdrückliche  hinweise  bei  ihm  ganz  fehlen, 
wie  viel  er  ihr,  wie  viel  er  Quintilian,  wie  viel  er  eignem  denken 
und  erfahren  im  einzelnen  verdankt,  wird  sich  genau  nicht  feststellen 
lassen,  dennoch  wird  eine  eingehendere  betrachtung  nicht  ganz  er- 
gebnislos bleiben,  zumal  wenn  wir  auch  solche  punkte  ins  äuge 
fassen,  wo  eine  benutzung  Quintilians  hätte  stattfinden  können. 

Der  Schrift  de  litterarum  ludis  recte  aperiendis,  in 
der  er  für  seine  praktische  Wirksamkeit  in  Straszburg  gewisser- 
maszen  erst  das  programm  entwirft,  wird  man  noch  am  ehesten 
einen  gewissen  theoretischen  Charakter  zusprechen  dürfen,  aber 
auch  hier  ist  von  einer  einwirkung  Quintilians  nichts  zu  spüren, 
genannt  wird  er  gar  nicht,  das  capitel,  in  dem  man  Quintilian  viel- 
leicht am  meisten  ausgeschrieben  hat:  das  Verhältnis  von  lehrer  und 
Schüler  ist  von  Sturm  nicht  näher  behandelt ,  schlage  schlieszt  er 
bekanntlich  aus  seiner  anstalt  nicht  aus,  wenn  er  auch  dem  all- 
gemeinen zug  der  zeit  folgend  erklärt:  optandum  est  nunquam  ne- 


^"^  Christ,  cjriechische  litteratiiro-escliiclite  s.  553.  Laas  bemerkt 
bei  dieser  gelegenheit  sehr  treft'end:  'zu  allen  Zeiten  ist  es  die  weise 
oberflächlicher  und  mechanischer  geister  gewesen,  sich  in  erklärliciiem 
pharisäismus  an  der  aberiiläubigen  Vorstellung  zu  delectiercn,  dasz  mit 
der  wachsenden  fülle  von  namen,  titeln  und  notizen  schrittweise  auch 
die  einsiclit  in  die  dinge  und  die  wissensc-iiaftliche  bedeutung  ihrer 
persönlichkeit  zunehme'  s.  104.  —  Es  soll  damit  nicht  gesagt  werden, 
dasz  iSturm  ein  unbedeutender  mensch  gewesen  sei:  sein  sittlich- tüch- 
tiger Charakter,  sein  groszes  Organisationstalent,  seine  reiche  belesen- 
heit, seine  hervorragende  stilistische  gevvandtheit  stehen  auszer  zweifei, 
nur  war  sein  sinn  mehr  auf  das  formale  gerichtet,  und  so  lag  es  für 
ihn  nahe  in  trockenheit  und  pedanterie  zu  verfallen,  obwohl  in  seiner 
beteiligung  an  den  religiös-politischen  fragen  seiner  zeit  ein  gegen- 
gewicht  dagegen  liegen  muste. 


A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker.  419 

cessariam  esse  virgae  et  ferulae  severitatem.  Festes  scholarum 
Orbilii  sunt.^'"  über  das  Verhältnis  zwischen  schule  und  eitern- 
haus, über  die  notwendigkeit  die  individualität  der  schüler  zu  er- 
kennen und  zu  berücksichtigen  ,  über  die  zeit,  wann  man  den  Unter- 
richt am  passendsten  beginnen  solle,  sprechen  beide/'"  Sturm  denkt 
darüber  ungefähr  ebenso  wie  Quintilian,  aber  dasz  er  sich  an  ihn 
anlehne,  ist  weder  in  der  fassung  noch  in  der  begriindung  der  ge- 
danken  zu  erkennen,  das  gleiche  gilt  für  die  erörterung  des  anfangs- 
unterrichts,  der  gestaltung  der  schriftlichen  Übungen  und  der  decla- 
mationen.'-"  bei  der  lectüre  setzt  er  nicht  die  poeten  an  den  anfang, 
wie  das  Quintilian  der  römischen  gewohnheit  entsprechend  empfohlen 
und  wie  das  auchErasmus  und  Melanchthon  geraten,  sondern  Ci  cero 
ist  ihm  hier  anfang,  mitte  und  ende,  er  drängt  alles  andere  in  den 
hintergrund'''^;  auch  im  griechischen  wird  Homer  durch  Demosthenes 
zurückgeschoben,  wenn  Sturm  endlich  das  Verhältnis  des  philo- 
sophus  und  orator  so  bestimmt:  alter  scientiam  rerum,  alter  dic- 
tionem  verumque  ornatum  illorum  ,  quae  sciri  possunt,  policetur, 
so  war,  wie  wir  gesehen  haben,  Quintilian  darüber  ganz  anderer 
meinung. 

Noch  zwei  andere  Schriften  mehr  theoretischen  Charakters  scheinen 
für  eine  benutzung  Quintilians  besondere  gelegenheit  zu  bieten,  de 
educatione  principis (1451)  und  nobilitas  litterata(1549).*" 
die  erstere  handelt  fast  nur  von  den  einem  prinzenlehrer  notwendigen 
eigenschaften.  selbstverständlich  finden  sich  da  manche  Übereinstim- 
mungen mit  Quintilian  ,  aber  Sturm  bleibt  in  der  formulierung  der 
forderungen,  die  er  an  den  lehrer  stellt,  wie  in  der  näheren  aus- 
führung  ganz  selbständig. 

In  der  andern  schrift  gibt  er  zwei  jungen  edelleuten  einen 
studienplan  für  ein  akademisches  triennium,  also  ratschlage  für  die 
mehr  selbständige  bildungsarbeit,  wie  sie  auch  Quintilian  im  zehnten 
buch  erteilt,  der  gegenständ  deckt  sich  sogar  ganz  unmittelbar,  .da 
auch  Sturm  lediglich  die  sprachliche  bildung  behandelt,  er  be- 
zeichnet zwar  im  anfang  rerum  cognitio  und  latinae  linguae  ratio  als 
die  beiden  ziele  des  Studiums,  aber  behandelt  hat  er  nur  die  der 
sprachlichen  ausbildung  dienende  lectüre  und  die  stilübungen, 

='"  in  den  'scliolae  Lauinganae'.     V.  s.  733. 

5«'  Sturm  bei  V.  s.  656— 58.  661.     Quint.  I  2,  15  f.;  I  3;  I  1,  15— -'0. 

*'^  Sturm  bemerkt  über  die  schriftlich  concipierten  declamationen : 
postremum  etiam  ex  scripto  poterit  recitari:  quam  consuetudinem 
non  possum  improbare  usw.  Quintilian  scheint  dies  nirgends  als  ge- 
bräuchlich oder  statthaft  anzunehmen. 

^'^  in  den  scholae  Lauing.  (V.  s.  689)  empfiehlt  er  die  rede  pro  Cluentio 
mit  Hinweis  auf  das  lob  Quintilians  VI  4,  9,  auf  denselben  beruft  er 
sich  auch  dort  für  die  notwendigkeit  die  flexionslehre  gründlich  zu 
lernen  (V.  s.  73!.  Q.  I  4,  22).  dort  hören  wir  auch  (s.  734),  dasz  schon 
den  Schülern  der  unterschied  zwischen  dem  lalein  eines  Varro  und  Cicero 
und   dem   eines  Plinius   und  Quintilian   kenntlich    gemacht  werden  soll. 

^"  beide  sind  abgedruckt  bei  Hallbauer;  die  erstere  iu  der  von 
Sturm  selbst  besorgten  zweiten  ausgäbe  von  1581. 


420  A.  Messer:  Quintiliau  als  didaktiker. 

wobei  er  der  imitatio  eine  besondere  beachtung  schenkt ,  die  zur  er- 
werbung  der  Sachkenntnis  anzustellende  lectüre  ist  ebenso  wenig 
erörtert  wie  die  commentatio  und  declamatio.  er  verspricht  darüber 
ein  andermal  zu  reden.  ^"^ 

In  der  lectüre  nimmt  natürlich  Cicero  eine  ganz  hervorragende 
Stellung  ein :  ihm  sollen  (neben  der  religio)  während  der  drei  jähre 
alle  Vormittagsstunden  gewidmet  werden,  darin  ist  er  aber  auch 
ganz  zu  bewältigen.^'" 

In  den  ratschlagen  über  die  art,  wie  die  lectüre  zu  betreiben 
sei,  zeigt  sich  jene  schon  oben  berührte  tendenz  zur  zerfaserung  der 
sprachlichen  objecte:  eine  unmasse  beobaehtungen ,  eine  unmasse 
notizen  werden  gefordert,  wie  sticht  dagegen  die  weise  Quintilians 
ab,  der  mit  gutem  bedacht  sich  hier  allgemeiner  hält  und  auch  dem 
eignen  ermessen  des  einzelnen  eine  stelle  läszt.^'^ 

Wenn  man  die  allgemeinen  erörterungen  Sturms  über  die 
imitatio  liest,  so  wird  man  eine  Verschiedenheit  von  der  auf- 
fassung  Quintilians  nicht  entdecken,  auch  Sturm  ist  die  imitatio 
nur  mittel  zum  zweck:  eo  contendendum,  ut  nullo  opus  sit  nobis 
exemplo;  Vorbild  ist  Cicero,  aber  es  wird  zugestanden,  dasz  er  allein 
nicht  ausreicht:  primus  labor  Ciceroni  tribuatur  et  quod  hinc  deest, 
id  conquire  aliunde^'®;  die  imitatio  musz  mit  urteil  angestellt  werden  : 
libera  enim,  non  servilis  debet  esse  imitatio;  als  das,  was  nicht  nach- 
ahmbar sei,  bezeichnet  er  mit  berufung  auf  Quintilian  Ingenium,  in- 
ventio,  vis,  facilitas:  nascunlur  enim  ista  nobiscum.^'^  das  sind 
alles  durchaus  maszvolk',  vernünftige  grundsätze.  aber  es  zeigt  sieb 
auch  hier,  dasz  die  nämlichen  grundsätze  in  verschieden  gearteten 
persönlichkeiten  zu  ganz  verschiedener  ausgestaltung  gelangen  und 
zu  fast  entgegengesetzten  Wirkungen  führen  können.  Quintilian 
und  in  seinem  geiste  Erasmus  hatten  auch  Cicero  für  das  beste 
muster  erklärt,  aber  sie  hatten  daneben  betont:  non  qui  maxime 
imitandus  et  s  o  1  u  s  imitandus  est.  was  aber  bei  ihnen  eine  kraft- 
volle forderung  ist,  die  unzweifelhaft  aus  ihrem  thatsäch  liehen 
verfahren  hervorgeht,  das  ist  bei  Sturm  ein  mühsam  abgerungenes, 
theoretisches  Zugeständnis,  das  in  der  praxis  wahrscheinlich 
keine  nachachtung  fand. 

Quintilian  und  vor  ihm  Cicero  hatten  den  redner  wiederholt 
gemahnt  dissimulandam  esse  artem,  damit  der  richter  nicht  in 
ihm  den  rabulisten  fürchte,  damit  der  hörer  überhaupt  nicht  die  ab- 
sieht merke  und  'verstimmt'  werde,  da  man  ja  die  imitatio  zur  ars 
rechnete,  so  konnte  Erasmus  dem  gedanken  die  wendung  geben: 
itaque  si  feliciter  Ciceronem  imitari  volumus  dissimulanda  cum 
primis  est  ipsa  Ciceronis  imitatio. 


»'5  Hallbauer  s.  81.        ^'e  H.  s.  45.  81.        •'■''  X  1,  19  ff. 

5»*  H.  8.  68  f.  Q.  X  2,  12. 

^'ä  H.  s.  62.  diese  stelle,  wie  manche  andere,  erwecken  übrigens 
beim  lesen  den  eiudrucU,  als  nehme  Sturm  in  diesen  erörterungen  über 
die  imitatio  bezug  auf  den  Ciceronianus. 


A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker.  421 

Erasmus  hatte  das  so  hingeworfen,  weil  er  es  gerade  für  seine 
beweisführung  so  brauchte,  wie  tritt  uns  der  gedanke  bei  Sturm 
entgegen?  er  bringt  ihn  in  ein  lehrmäsziges  System,  er  teilt 
sofort  ein  und  dociert  die  einzelnen  arten  und  mittel  der  occultatio : 
occultandi  vero  modus  in  tribus  consistit,  additione,  ablatione,  muta- 
tione:  in  qua  sunt  coniunctio ,  figuratio,  commutatio,  transformatio, 
tum  verborum,  tum  sententiarum ,  tum  membrorum  atque  circum- 
ductionum  usw.  man  sieht,  wir  haben  schon  eine  hübsche  anzahl 
von  teilen  und  unterteilen ;  sie  werden  dann  im  einzelnen  ausgeführt 
und  die  unvermeidlichen  griechischen  termini  noch  beigebracht:  so 
entsteht  sein  berüchtigtes  system  der  'dohlenstreiche'. 

Für  Sturm  war  im  gründe  der  Ciceronianus  doch  vergeblich 
geschrieben,  wenn  wir  ihn  uns  an  der  arbeit  denken  —  ihr  resultat 
liegt  ja  noch  in  seinen  rhetorischen  Schriften  vor  —  so  zeigt  er  doch 
eine  gewisse  familienähnlichkeit  mit  dem  Nosobulos,  in  dessen  figur 
Erasmus  für  alle  zeit  die  dem  gelächter  preisgegeben  hat,  über  die 
das  wort  gesprochen  ist:  o  imitatores,  servum  pecus. 

Also  auch  in  den  didaktischen  Schriften  zeigt  sich,  dasz  eine 
wirkliche  beeinflussung  Sturms  durch  Quintilian  nicht 
stattgefunden  hat.    sie  waren  geistig  zu  verschieden. 

An  zwei  punkten  mag  dies  zum  Schlüsse  nochmals  gezeigt 
werden,  auch  Quintilian  hatte  über  den  oratorischen  numerus 
gehandelt,  er  hatte  aber  dabei  erinnert:  totus  vero  hie  locus  non 
ideo  ti'actatur  a  nobis ,  ut  oratio ,  quae  ferri  debet  ac  fluere ,  d  i  m  e  - 
tiendis  pedibus  ac  perpendendis  sy llabis  conseneseat; 
nam  id  cum  miseri  tum  in  minirais  occupati  est,  neque  enim,  qui  se 
totum  in  hac  cura  consumpserit,  potior ibus  vacabit"'";  er  betont, 
dasz  sich  manches  hier  gar  nicht  lehren  und  nicht  begründen  lasse, 
dasz  die  obren,  das  gefühl  allein  urteilten:  rationem  fortasse  non 
reddam,  sentiam  esse  melius.^-'  ein  wirklich  geistesverwandter 
Schüler  Quintilians,  Melanchthon,  zieht  aus  diesem  Sachverhalt 
den  richtigen  schlusz :  stultum  est,  nunc  de  numeris  praecipere,  cum 
sonus  linguae  latinae  hoc  tempore  non  sit  nativus.^"  Sturm  da- 
gegen quält  sich  ab,  die  versfüsze  in  der  rede  zu  beobachten,  nach 
ihrer  häufigkeit  zu  scheiden ,  gesetze  für  ihre  anwendung  aufzu- 
stellen, er  thut  also  gerade  das,  wovor  Quintilian  gewarnt  hatte: 
dimetiendis  pedibus  ac  perpendendis  syllabis  consenescit  und  noch 
mehr:  er  mutet  das  auch  seinen  schülern  zu.^-^ 

Und  wie  verhält  sich  schlieszlich  Sturms  bildungsideal  zu 
dem  Quintilians?  wir  haben  hier  ein  seltsames  widerspiel:  Quin- 
tilian, dem  redelehrer,  der  wohl  sein  lebtag  nie  politisch  thätig 
war,  ist  die  redekunst  nicht  Selbstzweck,  als  bildungsideal 
schwebt  ihm  vor  der  vir  vere  civilis;  Sturm  dagegen,  der  an  den 
politischen  und  religiösen  wirren  seiner  zeit  mehr  sich  beteiligte  als 


=20  Quint.  IX  4,  112  ff.         »^i  jx  4,  119.         022  Laas  a.  a.  0.  s.  104. 
="  die  belege  bei  Laas  a.  a.  o.  s.  100  ff. 


422  A.  Messer:  Quintiliau  als  didaktiker. 

seinem  amte  zuträglich  war,  sieht  doch  in  der  redekunst  das 
höchste;  er,  der  Strasz  b  urg  er  rector  schreibt  mit  unverkenn- 
barer beziehung  auf  Erwins  wunderbau:  nescio  quanto  magis  Christi 
doctrinam  orationis  amplitudo  deceat,  quam  templorum  im- 
manes  c  on  struc  ti  ones;  und  das  ziel  seiner  unermüdlichen 
bildungsarbeit?  Laas  dtirfte  es  treffend  gekennzeichnet  haben,  wenn 
er  sagt:  'das  ideal  seiner  pädagogik  war,  so  zu  .sagen  — 
er  selbst,  war  ein  Hermogenes  des  sechzehnten  Jahr- 
hunderts, ein  einseitig  rhetorisches  princip,  die  ausschlieszliche 
rücksicht  auf  die  einprägung  lateinischen  stils  und  rhetorischer  dar- 
stellungsformen  erdrückte  fast  gänzlich  jeden  gedanken  an  diezweck- 
mäfzigkeit  und  gesunde  bildungskraft  der  lesestoffe.'^^^  — 

Ein  eigenartiges  beispiel  der  benutzung  Quintilians  bietet  das 
kleine  schriftchen:  institutio  scholae  christianae,  autore 
Gerardo  Geldenhaurio  Noviomagi  1534.'^''  es  bietet  ledig- 
lich eine  anzahl  sätze  aus  Quintilian,  die  näher  erläutert  und  auf  die 
damaligen  Verhältnisse  angewendet  werden,  sie  gruppieren  sich 
unter  folgende  gesichtspunkte:  de  nutricibus:  Quint.  1 1,  1.  3.  4; 
de  parentibus  I  1,  6.  7;  de  docendi  tempore  I  1,  16.  19,  20; 
de  collusoribusl  1,  7;  de  paedagogisl  1,  8;  de  sermone 
Graeco  I  1,  12  (G.  bemerkt  dazu  u.  a.:  mutatis  rebus,  praecipue 
in  Germania,  a  sermone  latino  incipere  consultius  est);  de  exer- 
citatione  I  1,  12;  pro.  I  26.  27;  de  moribus  I  2,  3  (potior  ratio 
vivendi  honesta  quam  vel  optinie  dicendi);  de  praecep toribus 
I  2,  5.  II  2,  4.  1  1,  35.  II  2,  5.  I  3,  14.  II  3,  1;  quae  docenda 
I  8,  4 — 8.  oft  sind  aus  den  erwähnten  paragraphen  nur  einzelne 
Sätze  herausgenommen,  die  Überschriften  bezeichnen  ^o  ziemlich 
alle  die  punkte,  bei  denen  man  gewöhnlich  Quintilian  heranzog,  be- 
sonders charakteristisch  ist  bei  unserem  autor,  dasz  er  die  stelle,  wo 
Quintilian  mit  rücksicht  auf  das  sittlich  anstöszige  eine  vorsichtige 
auswahl  der  lectüre  empfiehlt  (I  8,  639),  benutzt,  um  die  lectüre 
christlicher  dichter,  für  den  anfang  wenigstens,  anzuraten,  er 
fürchtet  dabei  allerdings  starken  Widerspruch,  aber  —  bemerkt 
er  — :  libere  dicemus,  quamquam  sciamus  non  defuturos  semi- 
paganos  literatores  et  veteratores,  qui  haec  aut  in  Universum 
aspernabuntur  aut  novum  monachismum  redolere  conclamabunt. 
Aspernetur  qui  volent.  — 

Ferner  sei  bemerkt,  dasz  auch  in  der  schrift  des  Joachim 
Fortius  Ringelberg  (f  1536)  de  ratione  studii  manche  an- 

52»  a.  a.  o.  s.  80. 

52'  es  ist  gedruckt:  Frankofurti,  apud  CLristianum  Aegenolphuin 
(16  bl.  in  8*J.  icli  verdanke  seine  keiintiiis  dem  freundlichen  Hinweis 
des  hrn.  dr.  Heidenlieimer,  secretärs  der  Mainzer  stadtliibliothek.  — 
Der  Verfasser,  ein  schüler  des  Hegius,  war  ursprünglich  möncli,  trat 
dann  der  neuen  lehre  bei  und  wirkte  später  als  lehrer  der  poesie  am 
St.  Anna-gymnasium  zw  Augsburg,  dann  als  professor  der  theologie  und 
historie  zu  Marburg,     er  starb   1542. 


A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker.  423 

lebnung  an  Quintilian  sich  zeigt"";  ebenso  in  der  catechesis  pue- 
rorum  in  fide,  in  litteris  et  in  moribus  des  OttoBrunfels  (Coloniae 
1532).'" 

Nicht  ist  dies  der  fall  in  den  praeceptiones  pauculae,  quo 
pacto  ingenui  adolescentes  formandi  sint  des  Huldrich 
Zwingli  (152.3)."-    sie  sind  vorwiegend  religiös-sittlichen  inhalts. 

Auch  die  schrift  des  Conrad us  Clauserus  Tigurinus,  de 
educatione  puerorum ■'^^,  läszt  eine  benutzung  Quintilians  nicht 
hervortreten,  es  ist  dies  leicht  erklärlich,  die  schrift  ist  1554  er- 
schienen, damals  mochte  es  bereits  näher  liegen  an  die  jetzt  reich- 
lich vorhandene  didaktisch-pädagogische  litteratur  des  humanismus 
und  an  die  praxis  des  unter  seinem  einflusz  neugestalteten  Schul- 
wesens sich  anzuschlieszen. 


^^^  sie  ist  abgedruckt  bei  Crenius  consilia  et  raethodi  studiorum, 
Rotterdami  1692.  —  Auch  Comenius  hat  ihre  lectüre  empfohlen;  er  that 
dies  wohl  wegen  des  begeisterten  studieneifers,  der  aus  ihr  spricht. 

^2'  über  Brunfels  vgl.  Roth  in  der  Zeitschrift  für  gesch.  d.  ob.  Rheins, 
n.  f.  bd.  9  (1894). 

*28  H.  Zwinglii  opera  von  M.  Schuler  und  J.  Schulthes.  vol.  IV, 
s.  148—158. 

=2^  Ba.'sileae,  per  Joannem  Oporinum  1554  (142  s.  in  8°).  in  dem 
mir  vorliegenden  exemplar  sind  zwei  andere  Schriften  derselben  Ver- 
fasser damit  zusammengedruckt:  ein  methodus  compouendi  epistolas 
(1554)  und  ein  declamandi  methodus  (1554).  beide  enthalten  nach  ganz 
kurzer  angäbe  der  nötigsten  regeln  eine  umfangreiche  Sammlung  von 
musterstücken  mit  darauf  folgender  analyse.  die  vorrede  der  letzt- 
genannten Schrift  verspricht  den  studierenden  eine  leichte  erwerbung 
der  rerum  und  verborum  copia. 

(schlusz  folgt.) 
GiESZEN.  August  Messer. 


27. 

ÜBER  WECHSELBEZIEHUNGEN    ZWISCHEN    DEM   LATEI- 
NISCHEN  UND   DEM   DEUTSCHEN   IN   DER   SEXTA   UND 
QUINTA  DES  GYMNASIUMS. 


Es  ist  mit  genugthuung  zu  begrüszen,  dasz  die  pr  auszischen 
lehrpläne  von  1892  das  übersetzen  aus  dem  lateinischen  ins 
deutsche  auch  für  die  untern  classen  des  gymnasiums  mit  gröszerem 
nachdruck  betonen ,  als  dies  früher  geschehen  ist. '  damit  fällt  eine 
klage  weg,  die  Perthes*  ausgesprochen  hat,  dasz  die  lehrpläne 
'nirgends  eine  Verdeutschung  forderten',    und  trotz  jener  anregung 


'  wir  verweisen  im  allgemeinen  auf  den  abschnitt  'lateinisch',  lehr- 
pläne und  lehraufgaben  für  die  höheren  schulen  s.  18  ff. 

*  Perthes,  die  notwendigkeit  einer  durchgreifenden  reform  unseres 
höheren  Schulwesens  s.  17. 


424     E.  Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta. 

konnte  im  jähre  1895  Baumeister^  darauf  hinweisen,  dasz  be- 
züglich des  übertragens  fremdsprachlicher  geisteswerke  in  unsere 
mutterspraehe  'noch  ein  brachfeld  fast  neu  zu  bestellen'  sei.  dasz 
aber  unsere  gjranasiasten  infolge  des  lateinischen  Unterrichts  viel- 
fach geneigt  sind,  in  ihre  deutschen  Übersetzungen,  ja  sogar  in  ihre 
aufsätze  latinismen  einflieszen  zu  lassen,  weisz  jeder  lehrer,  und  wir 
glauben,  dasz  man  dieser  neigung  so  früh  wie  möglich  entgegen- 
treten musz.  hat  doch  nicht  etwa  ein  deutscher  pädagog,  sondern 
der  römische  rhetorenerzieher  Quintilian^  die  beobachtung  nieder- 
geschrieben ,  dasz  knaben,  die  sich  allzu  einseitig  mit  einer  fremden 
spräche  beschäftigten,  dadurch  im  stil  ihrer  eignen  geschädigt  wür- 
den, und  was  dort  in  bezug  auf  das  lateinische  dem  griechischen 
gegenüber  gesagt  ist,  das  dürfen  wir  doch  nach  dem  vorgange  von 
A.  Waldeck^  wohl  hier  auch  für  unser  geliebtes  deutsch  in  an- 
spruch  nehmen. 

Natürlich  hiesze  es  dem  dilettantismus  und  der  bequemlichkeit 
Vorschub  leisten,  wenn  man  die  schüler  lediglich  zur  Übertragung 
lateinischer  stücke  ins  deutsche  anleiten  wollte,  denn  jeder,  der  eine 
fremde  spräche  lernen  und  wirklich  beberschen  will,  musz  auch  be- 
strebt sein,  in  die  ungewohnte  denk-  und  ausdrucksweise  der  letzteren 

'  Baumeister,  bandbuch  der  erziehnncrs-  und  uuterrichtslehre  für 
höhere  schulen,  1895,  I  s.  XLVI:  'ein  rationeller  und  künstlerischer  be- 
trieb des  heriibersetzens  gehört  also  zu  den  liauptleistungeii  des  fremd- 
sprachlichen Unterrichts;  eine  Sprachvergleichung  iu  höherem  sinne  wird 
hier  zur  geistigen  gymnastik  und  bildet  die  vorbereitende  stufe  zum 
selbständigen  gedankenausdruck.  hier  ist  noch  ein  brachfeld  fast  neu 
zu  bestellen;  und  unsere  übersetzungslitteratur  mag  einer  Verjüngung 
entgegensehen.' 

'  Quint.  inst.  orat.  1,  1:  'a  Graeco  sermone  puerum  incipere  male, 
quia  Latinus,  qiii  pluribus  in  usu  est,  vel  nobis  nolentibus  se  praebet; 
simul  quia  disciplinis  quoque  Graecis  prius  institueudus  est,  unde  et 
nostrae  fluxernnt.  non  tamen  hoc  adeo  superstitiose  velim  tieri,  ut  diu 
tantum  loquatur  Graece  aut  discat,  sicut  plerisque  mos  est.  hinc  enim 
accidunt  et  oris  plurima  vitia  in  peregrinum  sonum  cornipti  et  ser- 
monis;  cui  cum  Graecae  figurae  assidua  consuetudine  haeserint,  in 
diversa  quoque  loquendi  ratione  pertinacissime  durant.  non  longe 
itaque  Latina  subsequi  debent  et  cito  pariter  ire.  ita  fiet,  ut, 
cum  aequali  cura  linguäm  utramque  tueri  coeperimus,  neutra  alteri 
officiet.' 

^  A.  Waldeck,  zeitschr.  f.  gymn.-wesen  1896  (september)  s.  555:  Mann 
(wenn  man  den  liauptwert  aufs  übersetzen  ins  deutsche  legt)  wird  auch 
die  bisher  nur  allzu  begründete  klage  verstummen,  dasz  das  fremd- 
sprachliche übersetzen  den  deutschen  ausdruck  verderbe,  dies  geschieht 
allerdings  einmal  durch  das  mangelhafte,  oflFenbar  nach  dem  lateinischen 
gebildete  deutsch,  das  den  Schülern  besonders  in  den  oberclassen  meist 
zum  übersetzen  vorgelegt  wird  und  das  niclit  selten  nach  form  und  in- 
halt  sich  wie  ein  übersetzter  lateinischer  aufsatz  ausnimmt,  am  aller- 
meisten aber  durch  das  schlechte,  halb  wörtliche,  halb  freie 
übersetzen,  wie  es  meist  üblich  ist  und  auch  in  den  bekannten 
Freundschen  Übersetzungen  sich  findet,  aber  zu  behaupten,  dasz  das 
übertragen  in  wirkliches  echtes  deutsch  den  gebrauch  der  mutterspraehe 
verderbe  und  nicht  vielmehr  eine  vortreffliche  förderung  derselben  sei, 
wäre  doch  ein  unsinn.' 


E.  Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta,      425 

einzudringen,  auch  hierauf  nehmen  bekanntlich  die  neuen  lebr- 
pläne  bedacht",  indem  sie  von  der  untersten  bis  zur  höchsten  classe 
Übersetzungen  aus  dem  deutschen  ins  lateinische  fordern,  wenn  da- 
her Oskar  Jäger^  dieser  art  des  übersetzens  mit  nachdruck  das 
wort  redet,  'eben  weil  es  das  unbequemere  ist',  so  können  wir 
seinen  auseinandersetzungen  nur  zustimmen ,  sind  aber  gleichzeitig 
der  ansieht,  die  Perthes"^  ausspricht,  dasz  man  sich  auch  beim  ver- 
deutschen lateinischer  vorlagen  nicht  mit  dem  halbrichtigen  be- 
gnügen dürfe. 

Es  liegt  in  der  natur  der  sache,  dasz  beim  übersetzen  ins  latei- 
nische mehr  die  sprachliche  form  geübt  wird,  während  der  schüler 
beim  umgekehrten  denkprocess  sein  augenmerk  mehr  auf  den  inhalt 
des  dargebotenen  stotfes  richtet,  beide  aber  müssen  beim  übertragen 
immer  zusammenwirken:  dort  musz  dem  lernenden  auch  stets  der 
inhalt  vorschweben,  hier  darf  er  nicht  allzu  weit  von  der  form  ab- 
gehen, denn  wenn  die  Vernachlässigung  der  sprachlichen  form  und 
des  grammatischen  aufbaues  den  knaben  verleitet,  oberflächlich  ins 
blaue  hinein  zu  übersetzen,  so  birgt  doch  auch  die  gleichgültigkeit 
gegen  den  Inhalt  grosze  gefahren  in  sich,  einerseits  verfällt  er  näm- 
lich in  formfehler,  die  von  einem  völligen  mangel  an  Verständnis  und 
von  auszerordentlieher  gedankenlosigkeit  zeugen^,  anderseits  wird 
sein  gefühl  für  guten  deutschen  stil  und  zusammenhängende  sätze 
und  lesestücke  allmählich  abgestumpft. 

Darüber  herscht  wohl  kein  zweifei,  dasz  das  humanistische 
gyranasium  mit  erfolg  stets  bestrebt  war  und  ist,  seine  zöglinge  in 
die  Schönheiten  der  lateinischen  spräche  einzuführen  und  stilistisch 
darin  auszubilden,  ob  aber  auch  der  deutsche  stil  ebenso  nachdrück- 
lich beim  übersetzen  und  in  deutschen  aufsätzen  betont  wird,  scheint 
uns  wenigstens  nach  gemachten  erfahrungen,  die  uns  durch  die 
lectüre  von   lehrbüchern   und   pädagogischen   Schriften'" 


^  vgl.  lehrpläne  a.  a.  o. 

"^  O,  Jäger,  das  humanistische  gymnasium  s.  33:  'warum  dies?  ich 
könnte  einfach  sagen,  weil  es  das  unbequemere  ist,  will  aber  aus  rück- 
sicht  auf  unser  nervenschwaches  auditorium  lieber  sagen:  weil  diese 
Übung,  einen  deutscheu  satz  lateinisch  wiederzugeben,  den  schüler 
zwingt,  das  schlechthin  richtige,  das  möglichst  gute  zu  finden,  sich 
nicht  mit  dem  halbrichtigen  oder  zur  not  richtigen  zu  begnügen,  denn 
die  muttersprache  läszt  gewissermaszen  mit  sich  reden:  sie  kommt  dem, 
welcher  aus  der  fremden  spräche  in  sie  überträgt,  gleichsam  auf  halbem 
(beim  französischen  und  englisclien  auf  ganzem)  wege  entgegen:  das 
lateinische  aber  richtet  sich  nicht  nach  uns,  woraus  folgt,  dasz  wir 
uns  nach  ihm  richten  müssen,  uns  in  dasselbe,  seine  logik,  seine  auf- 
fassungsweise, den  seinen  ausdrücken  zu  gründe  liegenden  gedauken 
hineindenken  müssen. 

*  Perthes  a.  a.  o.   s.  13. 

ä  man  vergleiche  unter  anderm  die  bekannte  Verwechslung  zwischen 
•der  Übersetzung  des  deutschen  futurums  und  des  passivs,  wovon  unten 
noch  die  rede  sein  wird. 

">  beachtenswert  ist  —  um  nur  ein  beispiel  zu  geben  —  H.v.Treitschke, 
■die  Zukunft  des  deutschen  gymnasiums  s.  21:  'gewis  bleibt  doch,  dasz 
N.  Jahrb.  f.  phil.  u.  päd.  II.  abt.  1897  hfl.  9.  28 


426     E  Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta. 

bestätigt  werden,  nicht  so  ganz  klar,  wenn  aber  sogar  Oskar 
Jäger"  'die  beibehaltung  des  lateinischen  aufsatzes  durchaus  nicht 
für  eine  cabinetsfrage  hält',  und  die  neuen  lehrpläne  diese  geistige 
Übung  nicht  nur  fallen  lassen ,  sondern  auch  an  ihrer  stelle  vielfach 
schriftliche  Übersetzungen  ins  deutsche  verlangen '-,  dann  möchten 
wir  —  unserm  vorgesteckten  ziele  gemäsz  —  für  die  beiden 
unteren  gymnasialclassen  sexta  und  quinta  auszer  dem 
latein  auch  etwas  mehr  deutsch  wünschen. 

Die  lehrpläne  aber  stellen  als  'allgemeines  lehrziel'  für  das 
lateinische  hin:  'Verständnis  der  bedeutenderen  classischen  Schrift- 
steller der  Römer  und  sprachlich-logische  Schulung.'  man  beachte, 
dasz  diese  reihenfolge  mit  recht  in  den  'lehraufgaben'  der  beiden 
unteren  classen  insofern  vertauscht  wird,  als  nunmehr  die  formen- 
lehre  der  behandlung  zusammenhängender  stücke  vorausgeht;  denn 
hier  ist  zunächst  einmal  die  grammatische  ausbildung  hauptsache. 
auch  wir  setzen  daher  für  unsern  zweck  die  sprachlich-logische 
Schulung  an  den  anfang  und  hoffen  zugleich  im  verlauf  unserer 
erörterung  den  beweis  liefern  zu  können,  dasz  nur  dann  form  und 
inhalt  fruchtbringend  zusammenwirken,  wenn  diese  sprachliche  zucht 
nicht  blosz  deutsch-lateinisch,  sondern  auch  lateinisch- 
deutsch ausgeübt  wird,  indem  wir  aber  das  übersetzen  ins 
deutsehe  besonders  hervorheben,  hoffen  wir  die  notwendigkeifc 
darzuthun,  die  Schüler  der  genannten  stufe  schon  von  frühe  an  auf 
die  lectüre  der  schriftsteiler  vorzubereiten. 

Wer  aber  die  ansieht  teilt,  dasz  form  und  inhalt  einander  be- 
dingen'^, der  wird  gleichsam  unwillkürlich  zu  dem  wünsche  geführt, 


I 


der  durchschnitt  unserer  anpjehenden  sttulenten  von  dem  Inhalt  der 
classischen  litteratur  eine  sehr  dürftige  kenntnis  besitzt, 
die  zu  der  aufgewendeten  langjährigen  arbeit  nicht  im  rechten  Ver- 
hältnis steht.' 

"  O.  Jäger,  das  humanistische  gymnasium  s.  30:  'der  eine  dieser 
begriffe  ist  eine  Übertreibung  aus  dem  gymnasialen  lager,  welche  nur 
dem  gegner  nützt:  nämlich  dasz  das  gymnasiiim  mit  dem  lateinischen 
auf  Satz  stehe  und  falle,  dem  gegenüber  wollen  wir,  gestützt  auf  die 
durcharbeitung  von  ca.  5000  solcher  aufsätze,  unsern  stamipunkt  daliin 
nehmen,  dasz  wir  die  beiliehaltung  des  lateinischen  aufsatzes  durchaus 
nicht  für  eine  cabinetsfrage  halten,  er  kann  sehr  fruchtbar  behandelt 
werden,  und  dem  lehrer,  der  sich  das  zutrauen  darf,  sollte  man  nicht 
wehren;  dasz  er  mit  notwendigkeit  zum  phrasenmachen  verführe,  ist 
nicht  wahr,  richtig  ist  nur,  dasz  die  gefahr  eines  solchen  abwegs  vor- 
handen ist. 

»2  s.  lehrpläne  s.  19  f. 

13  vvir  glauben  uns  in  dieser  und  in  der  folgenden  anmerknng  auf 
das  vortreffliche  buch  von  R.  Hildebrand  berufen  zu  dürfen,  vgl. 
E.  Hildebrand,  vom  deutschen  Sprachunterricht  in  der  schule  s.  82: 
'das  gedächtnis  ist  nur  da  in  seiner  naturgemäszen  arbeit,  wo  es  wie 
drauszen  im  leben  das  äuszerliche  eben  als  äuszerliches  erfaszt,  die 
formen  also  im  dienste  eines  lebensvollen  Inhalts  sich  aneignet,  der 
sich  mit  der  form  zugleich  darbietet,  kurz,  wo  das  gedächtnis  im  dienste 
des  lebendigen  inneren  menschen  arbeitet.' 


E.  Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta.     427 

dasz  latein  und  deutsch  '^  schon  auf  der  untersten  stufe  möglichst 
zusammenwirken,  jeder  lehrer  wird  ja  auch  mehr  oder  weniger  in 
seinem  Unterricht  eine  Verbindung  beider  gegenstände  anstreben, 
und  besondei-s  mit  der  bekannten  Vereinigung  von  latein  und  deutsch 
in  einer  hand  geschieht  dieser  forderung  genüge,  natürlich  sind  in 
der  sexta  die  fraglichen  berübrungspunkte  inniger  als  in  der  quinta, 
doch  kann  das  verfahren,  das  wir  einschlagen,  auch  in  der  letzt- 
genannten classe  im  jetzigen  gymnasium  um  so  leichter  ausgebildet 
werden,  als  durch  den  wegfall  des  französischen  für  die  Wechsel- 
beziehungen zwischen  der  alten  und  neuen  cultursprache  mehr  zeit 
als  früher  übrig  bleibt. 

Wie  weit  nun  eine  Verschmelzung  von  latein  und  deutsch  auf 
der  Unterstufe  vor  sich  zu  gehen  habe,  das  mag  die  folgende  ab- 
handlung  im  einzelnen  zeigen,  jedenfalls  sind  hierüber,  so  weit  wir 
mit  der  litteratur  vertraut  sind,  die  ansichten  durchaus  nicht  ge- 
klärt. Lattmann'^  z.  b.  macht  den  Vorschlag,  dem  lateinischen 
unterrichte  einige  wochen  lang  eine  belehrung  in  der  deutschen 
grammatik  vorauszuschicken,  der  verdiente  pädagog  vertritt  also 
die  an  und  für  sich  richtige  ansieht,  dasz  man  bei  der  ersten  Unter- 
weisung des  Sextaners  im  lateinischen  vom  deutschen  ausgehen 
und  ihm  eine  brücke  aus  der  Volksschule  ins  gymnasium  schlagen 
müsse,  ist  es  aber  deshalb  notwendig,  das  lateinische  erst  nach 
Vollendung  des  ersten  abschnittes  der  deutschen  grammatik  zu 
beginnen  oder  mit  Perthes'^  dem  mangelhaften  deutschen  decli- 
nieren  und  conjugieren  'vor  allem  in  den  deutschen  stunden  ab- 
zuhelfen'?   viel   mehr   neigen    wir   der   ansieht  Lehmanns'^  zu, 


"  Hildebrand  a.  a.  o.  s.  189:  'sie  lernen  da  zugleich  im  kleinen 
latein  am  deutschen  und  deutsch  am  latein,  der  einzig  rechte  weg  auch 
fürs  gymnasium.' 

'^  Lattmann,  verirrungen  des  deutschen  und  lateinischen  elementar- 
unterrichts  s.  42:  'man  wird  nicht  in  abrede  stellen,  dasz  der  lateinische 
Unterricht,  wenn  ihm  der  deutsch-grammatische  eingelegt  sein  soll, 
damit  verzögert  werde,  warum  sollte  man  nicht  diese  Verzögerung  aus 
ihm  herausnehmen  und  die  dazu  aufgewendete  zeit  vorab  dem  vor- 
bereitenden deutschen  Unterricht  zulegen;  also  das  lateinische  erst 
nach  absolvierung  des  ersten  abschnittes  der  deutschen  grammatik  be- 
ginnen, hat  man  dazu  sämtliche  lateinische  stunden  zur  Verfügung,  so 
wird  dies  in  wenigen  wochen  geschehen  können.' 

'*  Perthes,  zur  reform  des  lateinischen  Unterrichts  s.  30:  'wo  sich 
aber  beim  lateinischen  Unterricht  herausstellt,  dasz  die  Schüler  noch 
nicht  deutsch  declinieren  oder  conjugieren  können,  ist  offenbar  vor 
allem  in  den  deutschen  stunden  diesem  mangel  abzuhelfen;  in  den 
lateinischen  aber  ist  zu  dem  dabei  nötig  bleibenden  vorläufigen  not- 
behelf  nicht  das  gedruckte  buch,  sondern  ausschlieszlich  die  mündliche 
Unterweisung  zu  benutzen.' 

1'  Lehmann,  der  deutsche  Unterricht  s.  107:  'der  deutsche  Unter- 
richt also  tritt  hier  ganz  in  die  reihe  der  fremdsprachlichen  gramraatik- 
stunden,  die  ja  auch  neben  dem  praktischen  zwecke  die  formale  aus- 
bildung  des  Sprachgefühls  anstreben,  allein  so  wenig  man  sich  auch 
vor   dem   vorwürfe    des   formalismus   grundsätzlich   zu   scheuen  braucht, 

28* 


428      E.  Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta. 

der  davor  warnt,  *die  knapp  bemessenen  deutschen  stunden  mit  der 
erörterung  grammatischer  begriffe  zu  belasten',  ja,  wir  möchten 
sogar  noch  weiter  gehen  als  Lehmann'^,  indem  wir  wenigstens 
in  den  unteren  classen  in  beschränktem  masze  auch  die  deutsche 
flexionsweise  'am  gegen-  oder  vorbild  einer  fremden  spräche  zum  be- 
wustsein  bringen'. 

Da  es  also  unsei'e  aufgäbe  ist,  Wechselbeziehungen  zwi- 
schen latein  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta  des 
gymnasiuras  aufzusuchen,  bleibt  uns  nur  noch  übrig,  unser  ge- 
biet hiermit  genauer  abzugrenzen,  es  liegt  auf  der  band,  dasz  alles, 
was  die  neuen  lehrpläne'^  über  den  lateinischen  Unterricht  der 
betreffenden  classen  vorbringen,  in  den  rahmen  unserer  betrachtung 
fällt,  für  das  deutsche^"  aber  werden  wir  eine  Scheidung  machen: 
die  deutsche  grammatik  und  was  damit  Zusammenhang  hat,  die 
dictate  und  aufsätze,  werden  wir  in  den  kreis  unserer  erörterungen 
ziehen,  wohingegen  wir  die  erklärung  deutscher  prosastücke  und 
gedichte  ganz  aus  dem  spiele  lassen,  weil  sie  weder  zum  lateinischen 
noch  auch  zur  deutschen  grammatik  in  irgend  welcher  beziehung 
stehen.*' 


so  kann  es  doch  unmöglich  angebracht  sein,  die  knapp  bemessenen 
deutseben  stunden  mit  der  erörterung  dessen  zu  belasten,  was  allen 
spraclien  gemeinsam  ist,  sie  zur  Wiederholung  oder  vorhergehenden  ein- 
übung  derjenigen  grammatischen  begriffe  zu  benutzen,  welche  für  den 
fremdsprachlichen  Unterricht,  dem  die  zeit  ja  viel  reichlicher  zugemessen 
ist,  erforderlich  sind.' 

'8  Lehmann  a.  a.  o.  s.  102:  'die  besonderheiten  der  deutschen  flexion, 
die  Unterscheidung  starker  und  schwacher  abwandlungsweise,  die  ab- 
lautreihen können  dem  schüler  nur  unmittelbar,  nicht  etwa  am  gegen- 
bild  oder  vorbild  einer  fremden  spräche,  zum  bewustsein  gebracht 
werden.  und  da  nun  gerade  in  diesen  abschnitten  erfahrungsmäszig 
eine  anzahl  von  Schwierigkeiten  für  den  schüler  und  Schwankungen  im 
allgemeinen  Sprachgebrauch  liegen,  so  wird  es  die  erste  und  wesent- 
lichste aufgäbe  des  grammatischen  elementarunterrichts  sein,  hier  klar- 
heit  und  Sicherheit  zu  verschafifen.' 

'9  lehrplane  s.  18  f. 

20  lehrpläne  s.  13  f. 

21  denn  wir  weisen  ganz  entschieden  die  ansieht  zurück, 
die  sich  noch  neuerdings  ausgesprochen  findet  bei  A.  Hildebrand,  lehr- 
proben und  lehrgäuge  aus  der  praxis  der  gymnasien  und  realschulen, 
1894,  heft  39  s.  40:  'eine  selbständige  grammatik,  gelegentlich  in  die 
deutsehe  lectüre  eingeschoben  und  an  geeignete  stofl'e  derselben  an» 
geschlossen,  wird  genügen,'  —  Der  genannte  Verfasser  will  wenigstens 
keine  gedichte  zu  solchen  zwecken  misbrauchen,  wie  aus  s.  42  a.  a.  o. 
hervorgeht,  dagegen  ist  auch  dieses  fast  unglaubliche  verfahren  schon 
vorgeschlagen  worden,  wie  Lattmann,  verirrungen  des  deutschen  und 
lateinischen  elementarunterrichts  s.  4  mit  recht  tadelt. 


E.  Cornelius :  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta.     429 


Der  lateinische  Unterricht  in  sexta  und  quinta. 
A.    Die  formenlehre. 

1.    Die  declinatiou. 

Wir  haben  oben  betont,  dasz  gleichgültigkeit  gegen  den 
deutschen  stil  auch  gleichgültigkeit  gegen  den  Inhalt  bedingt,  und 
dasz  daher  form  und  Inhalt  immer  zusammenwirken  müssen,  in- 
dem wir  nun  auf  den  ersten  teil  unserer  betrachtungen ,  auf  die 
declination  und  conjugation,  eingehen,  wollen  wir  zunächst 
zwei  allgemeine  bemerkungen  vorausschicken,  wer  mit  zehn- 
bis  zwölfjährigen  gymnasiasten  im  verkehr  steht,  weisz ,  dasz  das 
formengedächtnis  solcher  knaben  sehr  ausgibig  ist,  ja,  dasz  es  ihnen 
leicht  fällt,  die  formen  selbst  dann  mechanisch  auswendig  zu  lernen, 
wenn  ihnen  das  genauere  Verständnis  dafür  mangelt,  mit  diesem 
rasch  auffassenden  gedächtnisse  kann  und  darf  der  lehrer  rechnen, 
nur  möchten  wir  hier  ausdrücklich  hervorheben,  dasz  es  seine  sache 
nun  ist,  dem  empfänglichen  gemüte  der  kinder  auch  den  weg  zum 
Verständnisse  der  erworbenen  sprachformen  anzubahnen, 
das  zweite  betrifft  den  umstand ,  dasz  bei  der  declination  und  con- 
jugation gewisse  formein  angewandt  werden  (z.  b.  amicus,  i,  m.,  der 
freund;  amo,  avi,  atuin,  are  lieben;  amem  ich  möge  lieben  u.  ä.), 
und  es  wird  durch  unsere  darstellung  wohl  gerechtfertigt  erscheinen, 
dasz  wir  vor  einem  erstarren  solcher  formein  hiermit 
entschieden  gewarnt  haben. 

Beginnen  wir  gleich  mit  der  declination  der  substantiva 
und  zwar  zunächst  mit  einer  ausführlicheren  darlegung  über  die 
erste  declination,  die  ja  dem  sextaner  schon  im  anfang  ent- 
gegentritt, mit  freudigem  eifer  lernen  die  kleinen ,  die  soeben  in 
die  unterste  classe  des  gjmnasiums  aufgenommen  sind,  die  abwand- 
lung  von  mensa  ausvv'endig,  und  es  wird  unseres  dafürhaltens  nütz- 
lich sein,  beim  declinieren  jedesmal  das  deutsche  hinzufügen  zu 
lassen,  weil  dadurch  zugleich  die  mutter.sprache  geübt  wird."  denn 
zehnjährige  knaben  besitzen  —  so  scheint  es  uns  —  trotz  ihrer  Vor- 
bildung auf  der  Volksschule  noch  keine  solche  gewalt  über  ihre 
deutsche  spräche,  dasz  sie  ganz  fehlerlos  declinieren  könnten,  ja, 
wir  behaupten  sogar,  im  gegensatze  zu  Perthes",  dasz  eben  diese 
Wechselwirkung  zwischen  latein  und  deutsch,  in  den  lateini- 
schen lehr  stunden  geübt,  unwillkürlich  die  deutsche  mutter- 
sprache  fördert,  aber  man  verzeihe:  wir  haben  etwas  vorgegriffen. 
denn  die  frage  liegt  nahe :  wie  wird  nun  das  Verständnis  für  den 
neuen  geistigen  erwerb  der  schüler  angebahnt?  zur  beantwortung 
darf  der   Verfasser  vielleicht  hier  einflechten,   wie  er  selber  seine 


**  Perthes,  zur  reform  des  lateinischen  Unterrichts  V  26  hält  es 
dagegen  für  unwesentlich,  ot;  man  das  deutsche  beim  declinieren  hinzu- 
fügt oder  wegläszt. 

"  Perthes,  zur  reform  usw.  s.  30. 


430     E.  Cornelius :  lateinisch  uud  deutsch  in  der  sexta  und  quinta. 

Sextaner  in  die  erste  declination  eingeführt  bat.    er  schrieb  nämlich 
vier  Sätze  an  die  tafel,  in  denen  die  casus  von  aquila  vorkamen: 

aquila  habet  alas. 

alae  aquilae  sunt  magnae. 

Silva  placet  aquilae. 

puella  videt  aquilam, 
diese  wurden  nun  übersetzt,  inhaltlich  zum  besitztum  der  schüler 
gemacht  und  von  ihnen  aufgeschrieben,  dasselbe  liesz  sich  dann 
auf  den  plural  von  aquila  anvrenden.  absichtlich  vermied  der  Ver- 
fasser den  vocativ  und  den  für  die  ersten  anfänger  noch  wenig  ver- 
ständlichen ablativ.  an  einem  zweiten  beispiel,  etwa  an  columba, 
nun  genau  denselben  versuch  anzustellen,  wäre  allerdings  vom  übel 
gewesen,  weil  es  nur  dazu  geführt  hätte,  die  obigen  sätzchen  stereo- 
typ zu  machen,  vielmehr  liesz  der  Verfasser  nunmehr  aquila,  aquilae 
usw.  mit  hinzusetzung  des  deutschen  auswendig  hersagen  und  stellte 
alsdann  fragen  wie:  'mir  ist  gestern  ein  adlor  entgegengeflogen', 
antwort:  aquila;  'ich  habe  den  adler  geschossen':  aquilam;  'Jäger 
streifen  oft  umher,  um  den  adlern  aufzulauern':  aquilis  usw.  in 
derselben  weise  lassen  sich  im  lauf  der  zeit  andere  Substantive  der 
verschiedensten  declinationen  behandeln,  z.  b.  'ich  schwinge  das 
Schwert':  gladium;  'ich  steche  mit  dem  seh  arfen  seh  wer  t' : 
gladio  acri ;  'ich  gehe  mit  dem  kühnen  schiffer':  cum  nauta 
audaci.  der  schüler  wird,  wie  uns  scheint,  dadurch  gewöhnt,  die  formen 
aus  dem  Zusammenhang  leicht  verständlicher  sätzchen  aufzufassen, 
und  gleichzeitig  tritt  ihm,  wie  die  obigen  formen  aquilam  und  aquilis 
zeigen,  plastisch  vor  äugen,  ob  bei  den  im  deutschen  ähnlich  klingen- 
den formen  'den  adler'  und  'den  adlern'  ein  adler  oder  viele  adler 
genannt  sind,  was  beim  nennen  der  bloszen  formen  nicht  immer  der 
fall  ist.  wir  gehen  weiter  und  geben  den  Schülern  in  einer  schrift- 
lichen classenarbeit  in  folgender  Umrahmung  die  lateinischen  formen 
herauszufinden:  in  proeliis  acri  bus^' haben  sich  die  Soldaten  aus- 
gezeichnet, einer  der  Soldaten  hat  cum  viro  forti  gekämpft,  er 
hat  virum  fortem  besiegt  und  v  iro  forti  die  waffen  abgenommen 
usw.  man  sieht  leicht,  worauf  wir  hinauswollen:  ein  zusammen- 
hängendes Stückchen  hat  sich  unwillkürlich  gebildet,  und  die  formen 
sind  in  inhaltliche  beziehung  nicht  blosz  zu  einem  einzigen  satz  ge- 
rückt, sondern  zu  einer  kleinen  erzählung. 

Indem  unsere  darstellung  schon  weit  in  das  erste  halbjahr  der 
sextanerarbeit  vorgerückt  ist,  harren  noch  zwei  casus  einer  beson- 
deren besprechung:  der  ablativ  und  der  vocativ.  beim  decli- 
nieren  des  erstgenannten  falles  möge  der  schüler  folgende  zwei 
formein  anwenden:  l)  (bei  Sachen)  Corona  von,  mit  dem  kränze, 
durch  den  kränz,  2)  (bei  personen)  ab  amico  von  dem  freunde, 
cum  amico  m  i  t  dem  freunde,  zugleich  sage  man  ihm,  dasz  von  und 


^'  der  lehrer  sagt  das  ganze  auf  deutsch  uud  die  schüler  schreiben 
nur  das  im  text  lateinisch  angegebene  nieder. 


E.  Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  Bexta  und  quinta.     431 

mit  (insofern  er  in  einem  gerade  vorliegenden  heispiel  nicht  anders 
belehrt  wird)  bei  Sachen  durch  den  bloszen  ablaliv,  bei  personen 
durch  die  präpositionen  a  und  cum  übersetzt  werden,  schon  früh 
erfährt  also  der  scbüler  der  sexta,  dasz  man  den  ablativ  mit  dem 
namen  präposi  tion  scasus  bezeichnen  kann,  bei  der  nächstbesten 
gelegenheit  aber  musz  er  durch  eignes  nachdenken  dazu  gebracht 
werden,  dasz  die  landläufigen  und  formelhaften  Übersetzungen  Won', 
^mit'  und  'durch'  nur  Verlegenheitsübersetzungen  sind,  denn  wenn 
er  etwa  die  worte  vor  sieh  hat:  elephanti  magni  tu  dine  multas 
alias  bestias  superant,  wird  er  zunächst  den  ablativ  wörtlich  wieder- 
geben und  sagen:  'durch  grösze',  nachdem  er  magnitudine  als  ad- 
verbiale bestimmung  der  art  und  weise  oder  nach  schärferem 
nachdenken  als  eine  solche  der  eigenschaft  erklärt  hat.  fordert 
man  ihn  nun  auf,  statt  'durch'  eine  andere  präposition  einzusetzen, 
dann  wird  er  leicht  auf  das  vvörtchen  'an'  verfallen,  der  in  dieser 
weise  geübte  schüler  wird  aber  später  noch  andere  präpositionen 
richtig  einsetzen,  z.  b.  hieme  im  winter,  omnibus  temporibus  zu 
allen  zeiten,  multis  proeliis  in  vielen  schlachten,  ea  condicione  unter 
dieser  bedingung,  parentes  modestia  filii  laetabantur  über  seine  be- 
scheidenheit,  milites  fortitudine  victores  fuerunt  infolge  ihrer 
tapferkeit.  um  so  mehr  ist  es  zu  bedauern,  dasz  die  lehi'bücher 
häufig  im  lateinischen  text  die  entsprechende  präposition  ein- 
klammern und  so  dem  vorgeschritteneren  sextaner  und  gereifteren 
quintaner  die  gelegenheit  zu  eignem  nachdenken  entziehen. '^^  schon 
deswegen  aber  glaul)en  wir,  dasz  man  die  schüler  unterer  classen 
jene  präposilionen  selbst  finden  lassen  möge,  weil  die  schüler  der 
mittleren  und  höheren  stufe  noch  oft  die  präposition  'durch'  ge- 
brauchen, wo  sie  gar  nicht  hingehört. '^^ 

Dasz  man  bei  der  Übersetzung  des  vocativs  nicht  immer  'o' 
schreien  solle,  obgleich  dieses  wörtchen  beim  formelhaften  decli- 
nieren  angewandt  wird ,  läszt  sich  dem  sextaner  zu  dessen  eignem 
vergnügen  leicht  beibringen,  und  es  ist  erfreulich,  dasz  auch  neuere 
lehrbücher  dieses  verfahren  einschlagen,  so  heiszt  amice  nicht  blosz 
'mein  freund'  oder  'lieber  freund',  sondern  auch  'mein  lieber  freund', 
was  dem  lehrer  vielleicht  veranlassung  gibt,  auf  den  unterschied 
zwischen  der  deutschen  gemüts-  und  der  lateinischen  verstandes- 
sprache  hinzuweisen,  wir  hätten  über  den  voeativ  gar  nicht  so 
lange  gesprochen,  wenn  nicht  Cauer"  aus  seiner  erfahrung  im 
griechischen  mitteilte,   dasz  jenes  'o'  noch  bei  tertianern  üblich  ist. 


^^  vgl.  Kothfuchs,  beitrage  zur  methodik  des  altsprachlichen  Unter- 
richts, insbesondere  des  lateinischen  (Marburg  1893j  s.  39,  der  vor  einem 
solchen  verfahren  mit  recht  warnt. 

■^^  siehe  unten  im  abschnitt  iüier  die  aufsatzbesprechung,  wo  wir  auf 
diesen  umstand  noch  einmal  zurückkommen  wollen. 

"  P.  Cauer,  die  kunst  des  Übersetzens  s.  11:  Phalinos  antwortet 
einem  der  Strategen  am  tage  nach  der  schlacht  bei  Kunaxa  (anab.  II 
1,  13):  äWä  qpiXocöqpLu  |u^v  eoiKOC,  tu  veaviCKC,  koI  X^t^ic  ouk  äxcipiCT«. 


432     E.  Cornelius :  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta. 

Wenden  wir  uns  wieder  den  ersten  anfangsstunden  der  kleinen 
sextanerschar  zu,  um  von  da  weiterschreitend  an  einigen  bei- 
spielen  zu  zeigen,  wie  lateinische  und  deutsche  declination 
neben  einander  geübt  nicht  blosz  das  lateinische  fördern, 
sondern  auch  grammatik  und  stil  der  muttersprache  sichern  und 
weiterbilden. 

Einer  der  ersten  unterschiede,  die  dem  knaben  zwischen  den 
beiden  cultursprachen  entgegentreten,  ist  der,  dasz  man  etwa  das 
bekannte  mensa  im  deutschen  mit  zwei  Wörtern  wiedergibt:  'der 
tisch.'  es  genügt  aber,  wie  uns  scheint,  nicht,  dasz  man  auf  diesen 
deutschen  artikel  im  gegensatze  zum  artikellosen  latein*'*  nur  ge- 
legentlich hinweist,  sondern  wir  möchten  empfehlen,  dasz  man  die 
Schüler  neben  mensa  'der  tisch'  auch  mensa  'ein  tisch'  declinieren 
läszt  und  dieses  verfahren  beliebig  mit  haupt-  und  später  auch 
diesen  beigefügten  eigenschaftswörtern  aus  den  verschiedensten 
declinationen  fortsetzt,  dadurch  würde  nicht  immer  in  gleicher 
weise  decliniert  und  etwas  manigfaltigkeit  in  die  Übungen  gebracht. 

Da  es  nun  im  ferneren  verlaufe  des  Unterrichts  für  das  latei- 
nische notwendig  erscheint,  Wörter  aus  verschiedenen  declinationen 
neben  einander  abwandeln  zu  lassen,  so  kann  man  etwa  zusammen- 
stellen rivus  et  pratum  der  bach  und  die  wiese  oder  ein  bach  und 
eine  wiese  und  darauf  aufmerksam  machen,  dasz  bei  gleichem 
artikel  dieser  im  deutschen  nur  einmal  gesetzt  wird:  rivi  et  prata 
die  bäche  und  wiesen,  eine  kleine  Vorbereitung  auf  die  adjective 
scheint  uns  aber  in  der  abwandlung  von  gladius,  hasta,  scutum  zu 
liegen,  wobei  zugleich  die  hinzufügung  des  bindewortes  'und'  zwi- 
schen den  zwei  letzten  gliedern  der  aufzählung  hervortritt:  das 
Schwert,  die  lanze  und  der  schild.  im  verfolg  derartiger  Übungen 
dürfte  die  declination  von  agricola  et  filius  der  bauer  und  sein 
söhn  auch  den  vorteil  bringen,  dasz  deutlich  hervortritt,  wie  das 

man  kann  10  gegen  1  wetten,  dasz  der  tertiauer  sag^en  wird: 
'o  Jüngling';  wenn  er  sehr  verständig  ist,  läszt  er  das  'o'  weg:  erst 
wenn  er  sich  besinnen  soll,  wie  wohl  heute  jemand  in  ähnlicher  läge 
sprechen  würde,  kommt  er  auf  die  anrede  'junger  mann'.  so  ist 
ÖJ  ^eipÜKiov  in  den  worten  des  Perikles  an  Alkibiades  (memor.  I  2,42) 
nicht  'o  knabe',  sondern  'mein  junge'. 

^*  trotz  der  bemerkungen,  die  Kern  in  seiner  Satzlehre  s.  107  ff. 
entwickelt,  hält  der  Verfasser  am  ausdruck  'artikel'  fest,  denn  wenn 
'der,  die,  das'  und  'ein,  eine,  ein'  auch  ursprünglich  fürwörter  oder 
Zahlwörter  sind,  so  erhalten  sie  doch  durch  den  häufigen  gebrauch  ge- 
wissermaszen  das  recht,  eine  eigne  wortclasse,  den  sogenannten  'artikel', 
zu  bilden.  —  Vgl.  zu  dem  im  text  gesagten  auch  R.  Iliidebrand,  vom 
deutschen  Sprachunterricht  s.  187  anm. ,  wo  es  unter  anderem  heiszt: 
'da  lernt  der  sextaner  mensa  der  tisch  usw.  die  junge  seele,  die  doch 
schon  so  scharf  empfindet,  stutzt  bei  dem  fehlen  des  Jirtikels:  wo  hat 
denn  mensa  sein  der  (oder  die)?  .  .  .  das  müste  nun  in  der  realschule, 
nein,  auch  im  gymnasium  gleich  zuerst  mit  gesagt  und  klar  gemacht 
werden:  die  lateinische  spräche  hat  einen  artikel  gar  nicht  entwickelt 
(wohl  aber  die  griechische,  aber  nur  einen,  nicht  zwei,  wie  die  neueren 
sprachen)'  usw. 


E.  Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quiata.      433 

fürwort  'sein'  im  deutschen  hinzugefügt,  im  lateinischen  dagegen 
weggelassen  wird.^* 

Ein  weiterer  schritt,  mit  den  schülern  Stilistik  im  kleinen  zu 
treiben,  möge  der  sein,  sie  zunächst  herausfinden  zu  lassen,  dasz 
z.  b.  gloria  belli  im  deutschen  mit  'kriegsruhm'  und  bellum  civile 
mit  'bürgerkrieg'  übersetzt  wird,  der  knabe  wird  wiederum  auf 
eine  Verschiedenheit  zwischen  der  antiken  und  modernen  spräche 
aufmerksam:  er  sieht,  wie  die  zusammengesetzten  hauptwörter 
seiner  mutterspraehe'"  im  lateinischen  in  der  weise  auseinander- 
fallen, dasz  zu  einem  Substantiv  im  einen  fall  ein  genetivisches,  im 
andern  ein  adjectivattribut  hinzutritt,  nun  fordern  wir  ihn  auf,  gloria 
belli  und  bellum  civile  durchzudeclinieren,  und  er  macht  die  Wahr- 
nehmung, dasz  die  genetivische  beifügung  immer  unverändert  bleibt, 
während  sich  das  adjectiv  auch  bei  der  declination  genau  nach  dem 
zugehörigen  Substantiv  richtet.^'  dasz  aber  die  apposition  in  einem 
ähnlichen  abhängigkeitsverhältnis  zu  ihrem  hauptwort  steht,  wie  das 
adjectivattribut,  und  sich  dadurch  wesentlich  vom  genetivattribut 
unterscheidet,  mögen  weiter  vorgeschrittene  sextaner  oder  quintaner 
erkennen,  wenn  man  ihnen  die  flexionsübung  vorlegt:  Hannibal, 
Imperator  Carthaginiensium,  zu  deutsch:  'der  karthagische  feldherr 
Hannibal."^ 

2.    Die  conjugation. 

Den  ersten  Vorgeschmack  zur  conjugation  der  verba  er- 
hält der  sextaner  bei  der  abwandlung  des  Zeitwortes  sum.  mit 
jugendlicher  freude  macht  er  sich  daran,  die  verbalformen,  die  von 
der  bisher  gelernten  declination  so  sehr  abweichen,  seinem  empfäng- 
lichen gedächtnisse  einzuprägen,  wir  hüten  uns,  dieses  feuer  zu 
dämpfen,  nein,  wir  wollen  es  vielmehr  dadurch  noch  weiter  an- 
fachen, dasz  wir  dem  knaben  einige  winke  geben,  die  ihm  auch  den 
sinn  der  neuen  kenntnisse  näher  bringen,  über  diesen  punkt  können 
wir  uns  jedoch  hier  um  so  kürzer  fassen ,  als  wir  auf  den  nächsten 
abschnitt"  verweisen,  wo  die  behandlung  der  ersten  conjugation  in 
frage  kommt,  soll  doch  der  schüler,  wie  eingangs  bemerkt  ist,  an 
den  formen  von  sum  nur  einen  Vorgeschmack  der  tempora  und  modi 
bekommen,  könnte  man  ihn  nicht,  um  den  abstracten  formen  sum, 
eram  usw.  etwas  lebendigen  inhalt  einzuhauchen,  daran  erinnern, 
dasz  er  jetzt  ein  knabe  ist ,  früher  ein  kleines  kind  war  und  später 

2*  vgl.  Rothfuchs  a.  a.  o.,  s.  oben  anm.  25. 

^°  vgl.  hierzu,  was  im  abschnitt  über  das  deutsche  dictat  gesagt  ist. 

^'  natürlich  wäre  es  sehr  vom  übel,  vveiin  solche  beispiele 
den  schillern  durchdecliniert  zum  auswendiglernen  vorlägen,  denn  gerade 
darin  liegt  der  nutzen  obiger  Übungen,  dasz  sie  aus  dem  unterrichte 
herauswachsen  und  dasz  die  schüler  gezwungen  sind,  diesen  dingen 
durch  eignes  nachdenken  auf  die  spur  zu  kommen. 

^^  vgl.  unten,  wo  wir  uns  wegen  dieser  deutschen  Übersetzung 
rechtfertiojen,  die  vielleiclit  manchem  für  schüler  der  unteren  gymnaslal- 
classen  zu   frei  erscheinen  mag. 

33  s.  unten  s.  4.34  ff. 


434     E.  Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta. 

ein  Jüngling  sein  wird?  er  wird  dann,  ohne  vorläu6g  die  kunst- 
ausdrücke für  die  tempora  zu  kennen,  die  Wahrnehmung  machen, 
dasz  beim  conjugieren  von  puer  sum,  infans  eram  und  adulescens  ero 
die  drei  genannten  hauptwörter  nicht  etwa  decliniert  werden ,  wohl 
aber  nach  dem  numerus  des  verburas  sich  richtend  zuerst  im  singular 
und  dann  im  plural  auftreten,  der  gleiche  Wechsel,  den  das  adjectiv 
diligens  durchzumachen  hat,  fällt  ihm  auf,  wenn  er  conjugiert  :  dili- 
gens  sim  oder  diligens  essem ,  doch  wird  ihm,  auch  wenn  er  noch 
keinen  begritf  vom  conjunctiv  hat,  an  diesen  beispielen  klar,  dasz 
das  'fleiszigsein'  hierbei  nur  in  der  Vorstellung  beruht,  während 
einer,  der  von  sich  sagen  kann:  diligens  sum,  in  Wirklichkeit  fleiszig 
ist,  will  man  noch  ein  übriges  thun,  dann  mag  man  dem  schüler  an 
der  Wortverbindung  in  horto  sum,  eram  usw.  ein  rätselchen  aufgeben, 
damit  er  merkt,  dasz  ich  mich  in  einem  garten  ebenso  gut  allein 
befinden  kann,  wie  in  gesellschaft,  denn  in  horto  bleibt  auch  bei  den 
personen  der  mehrzahl  unverändert. 

Wenn  wir  festhalten,  dasz  das  verbuni  sum  nur  die  ersten  an- 
fange zum  conjugieren  anbahnt,  dann  ist  es  auffallend,  dasz  die 
meisten  lehrbücher  die  composita  von  esse  in  die  lehraufgabe 
der  sexta  aufnehmen,  noch  bevor  also  der  anfänger  die  erste  con- 
jugation  hat  kennen  lernen,  soll  er  schon  abstractionen  machen,  wie 
prosum  'ich  nütze',  adsum  'ich  stehe  bei'  und  intersum  'ich  wohne 
bei'!  dasz  adsum  heiszt  'ich  bin  zugegen'  und  absum  'ich  bin  ab- 
wesend', kann  schon  der  sextaner  verstehen,  doch  erwäge  man,  wie 
fruchtbringend  es  für  den  gereifteren  verstand  des  quintaners  ist, 
wenn  er  sich  beispielsweise  von  prosum  'ich  bin  nützlich'  eine 
brücke  schlägt  zu  'ich  nütze'  und  dies  dann  auf  die  übrigen  tem- 
pora anwendet,  ja,  wir  behaupten  ferner,  dasz  er  dadurch  die 
formen  leichter  bilden  und  sich  vor  manchem  thörichten  fehler 
hüten  wird,  denn  wenn  ihm  der  lehrer  nun  sagt,  dasz  vor  vocalen 
das  regelmäszige  prod,  vor  consonanten  das  verkürzte  pro  steht, 
dann  wird  er  herausfinden,  dasz  'ich  nützte'  =  'ich  war  nützlich' 
mit  prod  er  am  und  nicht  etwa  nach  analogie  der  regelmäszigen  con- 
jugation  mit  der  unform  prodebam  zu  übersetzen  ist.'*  dasselbe 
Verhältnis  zeigt  sich  bei  possum  'ich  bin  im  stände,  ich  kann',  was 
uns  zu  dem  Vorschlag  führt,  die  composita  von  sum  in  das  lehrbuch 
für  quinta  hinüberzunehmen  und  dort  mit  dem  unregelmäszigen  Zeit- 
wort possum  in  Verbindung  zu  bringen. 

Auf  die  besprechung  des  hilfszeitwortes  esse  folgt  bald  die  be- 
handlung  der  regelmäszigen  ersten  conjugation.  der  kleine 


^*  vgl.  Richard  Hildebrand,  Jahrbuch  des  pädaofogiums  zum  kloster 
unserer  lieben  frauen  in  Magdeburg  1892  s.  13:  'was  das  lernen  der 
einfachen  composita  von  sum  betriflft,  so  sind  sie  nicht  ganz  leicht  zu 
lernen.'  —  Der  Verfasser  hätte  hinzufügen  sollen  'für  sextaner',  denn 
für  quintaner  sind  sie  nach  unseru  obigen  angaben  nicht  nur  leicht  zu 
lernen,  sondern  regen  auch  zum  nachdenken  an.  vgl.  auch  die  eigen- 
tümlichen schülerfehler,  die  a.  a.  o.  s.  11   angegeben  sind. 


E.  Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  s^exta  und  c[uinta.     435 

Schüler,  der  an  der  verbalflexion  bereits  ein  wenig  genascht  hat, 
weisz,  dasz  zu  ihr  ein  gröszeres  rüstzeug  gehört,  als  zur  abwand- 
lung  der  noraina.  die  erste  lateinische  conjugation  aber  in  steter 
Verbindung  mit  dem  deutschen  mag  ihm  ein  licht  über  das  wesen 
der  conjugation  überhaupt  aufstecken,  mit  der  gewohnten  leichtig- 
keit  hat  der  knabe  schon  verschiedene  tempusformen  von  laude  aus- 
wendig gelernt,  und  der  lehrer  wird  es  sich  nun  angelegen  sein 
lassen,  die  vielen  neuen  begriffe,  die  auf  den  jungen  geist  ein- 
stürmen ,  allmählich  zu  klären  und  zu  sichten. 

Die  erste  und  faszlichste  belehrung  ist  die  über  die  drei  per- 
sonen,  und  wir  sagen  wohl  nichts  neues,  wenn  wir  sie  zunächst 
durch  die  fingersprache  übermitteln  lassen,  indem  ein  beliebiger 
Schüler  bei  'ich'  auf  sich  selbst,  bei  'du'  auf  seinen  nebenmann,  bei 
*er'  auf  einen  dritten  mitschüler  deutet  usw. 

Schwieriger  sind  schon  die  tempora  auseinanderzuhalten,  und 
es  dürfte  vielleicht  nicht  unangemessen  sein,  bei  erklärung  der 
sogenannten  präsenstempora,  präsens,  imperfectum  und  futurum  I, 
an  den  berühmten  spruch  des  Konfuzius  zu  erinnern,  der  sich  in 
Schillers  gedieh ten  vorfindet: 

zögernd  kommt  die  zukunft  hergezogen, 
pfeilschnell  ist  das  jetzt  entflogen, 
ewig  still  steht  die  Vergangenheit. 

eine  gröszere  fassungsgabe  gehört  dazu ,  das  perfectum  von  den 
beiden  andern  perfectzeiten,  dem  plusquamperfectum  und  dem 
futurum  exaetum,  zu  unterscheiden,  der  versuch  wird  ausgeführt, 
indem  der  lehrer  etwa  folgende  zwei  erwägungen  anstellt:  1)  er 
nimmt  vor  den  äugen  der  schüler  ein  buch  in  die  band  und  liest 
darin,  dann  legt  er  es  wieder  weg  mit  den  werten:  'ich  hatte  (zu- 
erst) das  buch  genommen  und  habe  (nachher)  darin  gelesen';  2)  er 
sagt:  'um  drei  uhr  nachmittags  werde  ich  das  buch  lesen,  hierzu 
brauche  ich  eine  stunde  zeit,  also  werde  ich  es  um  vier  uhr  ge- 
lesen haben.' 

Selbst  die  erklärung  der  m  o  d  i  bietet  für  den  sextaner  keine 
unüberwindliche  Schwierigkeit,  wenn  man  ihn  daran  erinnert,  dasz 
z.  b.  laudem  'ich  möge  loben'  einen  wünsch  ausdrückt,  und  dasz  lau- 
darem  'ich  würde  loben',  wenn  ich  nur  könnte,  die  nicbtwirk- 
lichkeit  meines  lobes  bezeichnet,  während  ich  bei  landabe  'ich  werde 
loben'  mir  als  unumstöszlich  fest  vorgenommen  habe,  in  der  zukunft 
mein  lob  auszusprechen. 

Bleiben  die  beiden  gen  er  a  des  verbums  übrig:  mit  hilfe  des 
geberdenspiels  trete  am  plastischen  unterschied  zwischen  'schlagen' 
und  'geschlagenwerden'  deutlich  hervor,  wer  hammer  und  wer 
ambosz  ist. 

Zwischen  dem  auswendiglernen  von  formen,  wofür  schematische 
ausdrücke  feststehen,  und  dem  Verständnis  derselben,  das  insbesondere 
aus  dem  zusammenhange  des  satzes  erkannt  wird,  waltet  der  früher^'' 
3'  s.  oben  s.  430. 


436     E.  Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta. 

schon  gekennzeichnete  unterschied  ob,  den  wir  hier  nochmals  aus- 
drücklich betonen,  so  prägt  der  schüler  in  Verbindung  mit  ent- 
sprechenden übungäsätzen  das  beispiel  laudo  allmählich  in  formel- 
hafter weise^*  seinem  gedächtnisse  ein,  und  es  wird  ihm  mit  hilfe 
des  lehrers  bald  klar,  dasz  zur  formenbildung  die  bekannte  Zu- 
sammenstellung laudo,  laudavi,  laudatus  sum^^,  laudare  notwendig 
ist.  wir  sind  zu  den  sogenannten  Stammformen  gelangt,  die  dem 
sextaner  und  quintaner  nunmehr  auf  schritt  und  tritt  begegnen,  es 
ist  üblich,  diese  aufzählung  mit  der  kurzen  Übersetzung  'loben'  zu 
beschlieszen,  wir  aber  möchten  für  den  anfänger  wenigstens  die 
gleichzeitige  angäbe  der  deutschen  Stammformen  empfehlen:  'ich 
lobe,  ich  lobte,  ich  habe  gelobt.'  dieses  verfahren  hat,  wie  uns 
dünkt,  den  vorteil,  dasz  der  knabe  bei  jedem  lateinischen  verbum 
unwillkürlich  gezwungen  wird,  darüber  nachzudenken,  ob  es  im 
deutschen  etwa  heiszt:  'ich  dachte'  oder  —  'ich  denkte',  'ich  rief 
oder  —  'ich  rufte',  'ich  fragte'  oder  —  'ich  frug',  'ich  habe  ge- 
bracht' oder  —  'ich  habe  gebrungen'^*,  ferner  wird  er  sich  selber 
darauf  aufmerksam  machen ,  ob  man  sagen  musz :  'ich  bin  gelaufen* 
oder  —  'ich  habe  gelaufen',  er  wird  also  das  richtige  hilfszeitwort 
einzusetzen  haben. 

Verweilen  wir  zunächst  bei  den  lateinischen  Stamm- 
formen, diese  gewähren  dem  schüler  die  handhabe,  selbständig 
verbalformen  zu  bilden,  zu  diesem  zwecke  gewöhne  er  sich,  neben 
dem  conjugieren  nach  der  reihenfolge  der  personen,  was  man  längs- 
conjugation  nennen  könnte,  auch  an  folgendes  schema,  das  wir  mit 
dem  namen  querconjugation  bezeichnen  möchten: 

activ  passiv 

laudajs  laudejs  laudajris  laude|ris 

lauda|bas  laudajres  laudalbaris  lauda|reris 

]auda|bis  laudajberis 

laudav|isti  laudav|eris  laudat|us  es  laudal|us  sis 

laudav  eras  laudav|isses  laudatjus  eras  laudatjus  esses 

laudav|eris  laudatjus  eris. 

Der  sextaner,  der  auch  hierbei  immer  das  deutsche  hinzufügt, 
wird  sich  freuen,  die  stamme  von  den  endungen  'abzutrennen',  wobei 

=^  da  sich  bekanntlich  im  deutschen  die  formen  des  indicativs  und 
conjunctivs  häufig  decken,  möchten  wir  als  formen  zum  auswendig- 
lernen  übersetzt  wissen:  laudem  ich  möge  loben,  laudarem  ich  würde 
loben,  laudaverim  ich  möge  gelobt  haben,  laudavissem  ich  hätte 
gelobt. 

^^  aus  später  noch  erhellenden  gründen  ziehen  wir  diese  form 
laudatus  sum  dem  sogenannten  supinum  iaudatum  vor,  das  ja  nur  eine 
unform  ist.  hat  das  betreffende  verbum  kein  passiv,  z.  b.  migraie,  dana 
behelfe  man  sich  mit  dem  part.  fut.  act.  migraturus. 

^'  und  wie  die  verschiedenen  dialektfehler  alle  heiszen  mögen,  die 
jeder  lehrer  naeh  belieben  beobachten  kann,  man  vergleiche  hierzu 
auch  unsere  bemerkungen  unten  über  das  deutsche  dictat. 


E.  Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  texta  und  quinta.      437 

der  präsensstamm  im  conjunctivus  praesentis  eine  kleine  Verletzung' 
(Verwandlung  des  a  in  e)  erlitten  hat,  und  wird  zu  dem  resultat 
kommen,  dasz  zur  verbalflexion  drei  stamme  gehören:  1)  der 
präsensstamm,  2)  der  p  erfe  ct-activstam  ra  ,  3)  der  per- 
fect-passivstamm.'^  alles  verläuft  nun  vorerst  ganz  glatt,  denn 
sogenannte  unregelmäszigkeiten,  wie  do,  dedi,  datus  sum,  dare,  sind 
ausgeschlossen,  und  das  beispiel  der  zweiten  conjugation:  deleo, 
delevi,  deletus  sum,  delere  wird  mit  ausnähme  des  conjunctivus  prae- 
sentis  genau  nach  analogie  von  laudo  abgewandelt,  nun  folgen  die 
Zeitwörter  der  zweiten  conjugation,  die  man  die  regelmäszigen  verba 
zu  nennen  pflegt;  bei  ihnen  sind  die  beiden  perfectstämme  schon 
abweichend:  an  die  stelle  von  delev-  tritt:  monu-,  an  die  von 
delet-:  monit-.  stellt  der  schüler  die  querconjugation  an,  so  wird 
er  sich  auch  hier  leicht  zurechtfinden,  weshalb  sich  aber  die  lehr- 
bücher  nun  vielfach  scheuen,  auch  häufig  vorkommende  Wörter,  wie 
iubeo,  video  u.  ä.,  vorzuführen,  sehen  wir  nicht  recht  ein.  denn  gar 
nicht  des  umstandes  zu  gedenken,  dasz  es  leicht  ist,  statt  monu-: 
iuss-  oder  vid-  und  statt  monit-:  iuss-  oder  vis-  einzusetzen, 
so  wäre  mit  der  querconjugation  solcher  verba,  die  natürlich  auch 
an  der  Wandtafel  vor  sich  geht,  schon  ein  kleiner  weg  nach  der 
dritten  conjugation  gebahnt,  denn  wer  einmal  so  weit  gelangt 
ist,  kann  die  sogenannten  unregelmäszigen  Stammformen  schon  gar 
nicht  mehr  vermeiden,  während  die  vierte  conjugation  wieder 
ähnlich  wie  die  erste  verläuft  und  deshalb  neuerdings  in  den  lehr- 
büchern  mit  recht  meistens  vor  der  dritten  behandelt  wird,  hält 
man  jedoch  daran  fest,  dasz  wirklich  unregelmäszige  verben  nur 
solche  sind,  deren  stamm  sich  zeitweise  ändert,  wie  velle  u.  ä.,  dann 
wird  der  schüler,  der  sich  gewöhnt  hat,  beim  querconjugieren  in  die 
richtigen  gefächer  zu  greifen,  auch  die  Schwierigkeiten  der  dritten 
und  fünften '"'  conjugation  leichter  lösen  können,  ja  er  wird  im 
verlauf  der  Übungen  bemerken,  dasz  die  conjugationen  nur  in  den 
präsenstempoi'a  des  activs  und  passivs  von  einander  verschieden 
sind,  dasz  dagegen  die  perfecttempora  beider  genera  verbi,  nach  den 
endungen  zu  urteilen,  einer  einzigen  conjugation  angehören. 

Dasz  es  auch  deutsche  Stammformen  gibt,  die  sich  aber 
nach  den  lateinischen  in  keiner  weise  richten,  ist  dem  schüler  aus 
seinen  lateinstunden  schon  bekannt,  und  baldigst  mag  sich  der 
eigentlich  deutsche  Unterricht  dieses  Stoffes  bemächtigen. 
indem  die  deutschen  dictate  in  der  art,  wie  es  ein  späterer  abschnitt 
darlegen  soll,  in  die  mündlichen  belehrungen  miteingreifen,  kommt 
der  unterschied  zwischen  starker,  schwacher  und  gemischter 


3ä  letzteren  nennt  man  sonst  supinstamm.  doch  haben  wir  oben 
anm.  37  schon  angedeutet,  dasz  wir  das  supinum  in  der  üblichen  weise 
verwerfen. 

''*'  so  nennen  wir  die  verba  der  dritten  (misch)conjugation  auf  -io, 
für  die  wir  in  manchen  lehrbüchern  ein  vollständig  abgedrucktes  bei- 
spiel, etwa  capio ,  vermissen. 


438     E.  Cornelius :  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta. 

conjugation  zur  spräche:  die  starke  conjugation  —  so  möge  man 
es  dem  knaben  in  seiner  art  faszlich  machen  —  bringt  im  Präteri- 
tum und  participium  infolge  von  umlaut  und  consonantenverände- 
rung  einen  starken  wandel  hervor,  die  schwache  braucht  als  stütze 
die  buchstaben  -te  oder  -t,  und  die  gemischte  setzt  sich  aus  den 
beiden  andern  flexionsarten  zusammen. 

Die  dritte  deutsche  Stammform  enthält  die  beiden  hilfszeit- 
wörter^'  haben  und  sein,  und  dem  deutschen  Unterricht  bleibe  es 
vorbehalten,  auf  den  in  der  spräche  nicht  immer  durchgeführten  ge- 
brauch (vgl.  'ich  habe  gestanden'  neben  'ich  bin  gestanden)  hin- 
zuweisen, dasz  die  transitiven  verba  in  der  regel  mit  'haben',  die  in- 
transitiven dagegen  mit  'sein'  construiert  werden,  gelegentliche 
Übungen  in  der  vom  lateinischen  losgelösten  deutschen  conjuga- 
tion zeigen  dem  schüler,  dasz  unsere  muttersprache  nur  zwei  tem- 
pora  ausgebildet  hat:  das  präsens  und  das  präteritum,  und  dasz  sie 
sich  im  übrigen  in  umschreibenden  Wendungen  ergeht,  die  durch 
die  hilfszeitwörter  haben,  sein,  werden,  mögen,  können  u.  ä.  ge- 
bildet werden. 

Aber  auch  der  spräche  der  alten  Römer  mangelt  das  hilfszeit- 
wort  nicht  ganz,  da  ja  die  perfecttempora  des  passivs  aus  den  ent- 
sprechenden formen  von  sum  und  dem  participium  laudatus  zu- 
sammengesetzt sind,  wir  legen  wert  darauf,  dasz  dieser  umstand 
den  Schülern  stets  klar  vor  äugen  schwebt,  und  dasz  auch  den 
Stammformen  dieses  'laudatus  sum'  anstatt  des  landesüblichen  supi- 
nums  laudatum  einverleibt  werde. 

Da  wir  aber  gerade  von  dem  hilfszeitwort  'sein'  t^prechen,  so 
erinnern  wir  daran,  dasz  dieses  im  deutschen  die  doppelte  rolle 
spielt,  bei  der  bildung  des  passivs  immer,  bei  der  des  activs  zu- 
weilen verwendet  zu  werden,  so  heiszt  'ich  bin  gelobt  worden': 
laudatus  sum,  'ich  b  i n  verbannt' :  expulsus  sum,  'ich  b  i  n  gekommen' 
dagegen:  veni.  weshalb  aber  gibt  es  schüler,  die  statt  dessen  etwa 
ventus  sum  sagen?  unsere  antwort  hierauf  ist  eine  dreifache: 
1)  solche  knaben  sind  nicht  gewöhnt,  activ  und  passiv,  d.  h.  'thun' 
und  'leiden'  plastisch  von  einander  zu  unterscheiden,  2)  sie  kümmern 
sich  nicht  um  die  deutschen  Stammformen,  und  3)  sie  conjugieren 
das  lateinische  ohne  binzufügung  des  deutschen,  aus  diesen  gründen 
halten  wir  es  für  gut,  schon  bei  gelegenheit  der  ersten  conjugation 
die  schüler  herausfinden  zu  lassen,  dasz,  wenn  ich  sage:  'der  rabe  ist 
in  sein  nest  geflogen',  ich  damit  ausdrücken  will,  dasz  dieser  vogel 
selbst  seine  flügel  in  bewegung  gesetzt  hat  —  daher  die  Über- 
setzung volavit  — ,  oder  dasz  ein  wandersmann,  der  die  äuszerung 


■•'  wenn  Kern  in  seiner  satzleiire  s.  110  ff.  die  hilfszeitwörter  über- 
haupt verwirft,  so  möchten  wir  dem  entgegenhalten,  dasz  sie  thatsäch- 
lieh  zur  conjugation  verhelfen  und  dasz  sie  gerade  in  ihrer  stetigen 
Verbindung  mit  andern  verben  das  gepräge  einer  besondern  classe  von 
Zeitwörtern  tragen,  vgl.  auch,  was  wir  oben  s.  432  anm.  28  über  den 
artikel  gesagt  haben. 


E,  Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta.     43'J 

thut:  'ich  bin  gewandert'  oder  'ich  bin  spazieren  gegangen'  des- 
halb die  raüdigkeit  in  seinen  knochen  spürt,  weil  er  sich  selbst 
körperlich  angestrengt  hat  —  daher  die  Übersetzungen:  migravi  und 
ambulavi.  mit  hilfe  der  querconjugation  aber  erkennen  die  knaben, 
dasz  solche  verba,  die  gar  kein  passiv  entwickeln  konnten,  auch  in 
den  übrigen  perfectzeiten  im  deutschen  mit  'sein'  construiert  werden. 

Die  Unterscheidung  der  beiden  genera  des  verbums  suchten  wir 
oben"*^  den  schülern  am  'schlagen'  und  'geschlagenwerden'  handgreif- 
lich vorzuführen,  sobald  aber  alle  formen  der  ersten  conjugation 
gelernt  sind,  empfiehlt  sich  vielleicht  unter  anderm  auch  folgendes 
verfahren:  bevor  man  die  schüler  etwa  die  längsconjugation  von 
confirmare  'ermutigen'  anstellen  läszt,  erzählt  man  ihnen,  wie  Caesar 
seine  Soldaten  ermutigte ,  als  sie  vor  dem  anblick  der  Germanen  zu- 
rückschraken, und  die  zuhörer  werden  beim  abwandeln  der  einzelnen 
tempora,  die  man  möglichst  durcheinanderwürfelt,  bemerken,  dasz 
das  subject  je  nach  dem  verbalen  genus  wechselt,  indem  zugleich  im 
activ  der  feldherr  mit  dem  hammer,  und  im  passiv  die  Soldaten  mit 
dem  ambosz  sich  vergleichen  lassen,  wer  aber  an  solche  und  ähn- 
liche beobachtungen  gewöhnt  ist,  der  gerät  nicht  so  leicht  in  den 
bekannten  fehler,  laudabo  'ich  werde  loben',  laudor  'ich  werde  ge- 
lobt' und  laudabor  'ich  werde  gelobt  werden'  unter  einander  zu  ver- 
wechseln, und  nicht  nur  dieses :  der  kleine  Sprachforscher  musz  auch 
stets  berücksichtigen,  ob  ich  in  der  Zukunft  mein  lob  erteilen  werde, 
oder  ob  ich  das  lob  von  anderer  seite  im  augenblick  oder  erst  später 
zu  'erleiden'  habe,  der  gedankenlose  und  ungeübte  schüler  dagegen 
überträgt  den  satz  'der  knabe  wird  gelobt'  mit  puer  laudabit ,  denn 
er  macht  sich  ja  den  Inhalt  des  satzes  nicht  klar,  der  besagt,  dasz 
der  knabe  im  gegenwärtigen  augenblick  das  lob  von  auszen 
her  zu  'erdulden'  hat,  er  gibt  also  den  klang  der  worte  durch 
blosze  worte  wieder  und  hat  nur  die  form,  und  diese  noch  unvoll- 
kommen, erkannt  und  übersetzt,  sein  ganzes  bemühen  war  weiter 
nichts  als  eine  Zeitvergeudung. 

Wenn  das  activische  erste  futurum  bezüglich  des  übersetzens 
ins  lateinische  mit  zweierlei  passivformen  in  conflict  geraten  kann, 
so  fordert  das  zweite  futurum  den  schüler  zum  nachdenken  über 
den  deutschen  ausdruck  heraus,  denn  es  gibt  wohl  kaum  ein  tempus, 
das  in  seiner  formelhaften  gestalt:  laudavero  'ich  werde  gelobt  haben' 
so  sehr  der  deutschen  spräche  ins  gesiebt  schlägt,  wie  gerade  dieses. 
von  vorn  herein  musz  also  der  sextaner  erfahren,  dasz  jene  formel, 
die  für  die  Zusammenstellung  mit  den  übrigen  perfectzeiten  not- 
wendig erscheint,  beim  übertragen  lateinischer  Sätze  je  nach  um- 
ständen in  das  präsens,  Präteritum  oder,  wenn  man  bezüglich  des 
deutschen  diesen  ausdruck  gebrauchen  darf,  in  das  erste  futurum 
verwandelt  werden  musz.  soll  der  schüler  also  den  satz  verdeutschen : 
dux  militibus  praemia  donabit,  si  fortes  fuerint,  dann  mag  man 


•1*  s.  oben  s.  435. 


440     E.  Cornelius :  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quiuta. 

es  seinem  eignen  nachdenken  überlassen,  ob  er  fu er  int  mit  dem 
ersten  futurum  oder  dem  präsens  wiedergeben  will;  liegen  ihm  aber 
die  Worte  vor:  si  ui-bem  expugnavero,  vos  omnes  in  servitutem 
abducam,  dann  hat  er  die  wähl,  den  nebensatz  entweder  so  zu  über- 
setzen:  'wenn  ich  die  stadt  erobere',  oder  so:  'sobald  ich  die  Stadt 
erobert  habe.'  wir  glauben  aber,  dasz  man  die  knaben  nicht  früh 
genug  auf  solche  Übertragungen  aufmerksam  machen  könne ,  wenn 
wir  wahrnehmen,  wie  Cauer  in  seinem  buch:  die  kunst  des  über- 
setzens  s.  13"  darüber  klagt,  dasz  tertianer  und  secundaner  nur 
'mühsam'  zum  Verständnis  des  zweiten  futurums  gebracht  werden. 
.'Formeln  sind  vorhanden,  damit  man  sie  auswendig  lernt,  dann 
aber  bei  gelegenheit  sich  davon  frei  macht',  dies  sei  die  losung  des 
kleinen  Übersetzers,  so  hiesz  in  der  grammatischen  reihenfolge  der 
verbalformen  der  conjunctiv  des  präsens:  laudem  'ich  möge  loben' 
und  der  des  imperfects  laudarem  'ich  würde  loben'",  und  doch  wie 
anders  gestaltet  sich  häufig  die  Übersetzung  dieses  modus!  schon 
die  Vorführung  der  starken,  schwachen  und  gemischten  conjugation, 
die  dem  deutschen  Unterricht  zugewiesen  wurde,  belehrte  den  schüler, 
dasz  der  conjunctiv  im  deutschen  nicht  immer  umschrieben  wird, 
denn  die  querconjugation  zeigt,  dasz  unsere  spräche  auszer  den  Um- 
schreibungen mit  hilfszeitwörtern  auch  besondere  formen  für  den 
conjunctiv  entwickelt  hat: 

ich  lobe,  ich  lobe'^;  ich  lobte,  ich  lobte. '^ 
ich  schlage,  ich  schlage ^^;  ich  schlug,  ich  schlüge, 
ich  nenne,  ich  nenne ''^;  ich  nannte,  ich  nennte. 
ein  aufmerksamer  knabe  wird  auch  leicht  merken,  weshalb  die  Zeit- 
wörter  der  schwachen  conjugation  den  conjunctiv  lieber  mit  Um- 
schreibungen  bilden,   als  die  der  starken,   und  weshalb  auch  bei 


'•'  Cauer,  die  kunst  des  Übersetzens  s.  1.3:  mühsam  lernen  die 
Schüler  den  lateinischen  tempusgebrancli  in  Sätzen  wie  ut  sementom 
feceris,  ita  metes,  und  könnten  eigentlich  schon  aus  den  häufig'en  fehlem, 
die  sie  dabei  anfangs  gemacht  haben,  wissen,  dasz  hier  die  deutsche 
redevveise  von  der  lateinischen  abweicht;  trotzdem  übersetzen  sie  Catos 
werte  (Cat.  mai.  6,  18):  de  Carthagine  vereri  non  ante  desinam,  quam 
illam  excisam  esse  cognovero  undeutsch  ^als  ich  erfahren  haben  werde', 
es  ist  dasselbe  beharrungsvermögen,  das  sie  verleitet,  in  Übertra- 
gungen aus  dem  lateinischen  und  dann  auch  in  deutschen  auf- 
s ätzen  'demselben'  statt  'ihm'  und  'desselben'  statt  'sein'  zu  sagen, 
weil  sie  sich  den  sorglosen  gebrauch  von  sibi  und  suus  haben  abge- 
wöhnen müssen.  —  Zur  letzten  bemerkung  Cauers  vgl.  unten. 

*^  so  möchten  wir  die  formelu  für  den  conjunctiv  zum  auswendig- 
lernen  gefaszt  wissen,  und  nicht,  wie  manche  lehrbücher  vorschreiben: 
laudem  ich  lobe  (du  lobest),  laudarem  ich  lobte  (du  lobtest)  und  lauda- 
verim  ich  habe  gelobt  (statt:  ich  möge  gelobt  haben),  was  alles  unserer 
ansieht  nach  die  schüler  zur  Verwechselung  des  conjunctivs  mit  dem 
indicativ  verleiten  musz. 

"•^  natürlich  wird  der  schüler  auch  darüber  belehrt,  dasz  diese  con- 
junctivformen  nur  in  der  dritten  person  singularis  allgemein  gebräuch- 
lich sind. 


E.  Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta.     441 

letzterer  der  einfache  conjunctiv  des  Präteritums,  dem  kein  hilfs- 
zeitvvort  hinzugefügt  ist,  häufiger  angewandt  wird,  als  der  des 
präsens. 

Nun  zur  übex-setzung  des  conjunctivs  aus  der  alten  in  die  moderne 
Sprache!  wenn  manche  lehrbücher  hinter  laudemus  einklammern: 
'laszt  uns  loben',  so  würden  wir  diese  wendung  lieber  dem  eignen 
nachdenken  des  schülers  überlassen,  der  sich  das  formelhafte  'wir 
mögen  loben'  bereits  angeeignet  hat.  etwas  manigfaltiger  gestaltet 
sich  die  Übertragung  des  conjunctivus  imperfecti;  denn  peteret  kann 
man  entweder  einfach  mit  'bäte'  oder  in  phraseologischer  Umschrei- 
bung mit  'bitten  würde  —  sollte  —  könnte  —  möchte'  usw.  in 
unserer  spräche  wiedergeben,  wir  sehen  keinen  grund,  weshalb  man 
nicht  den  sextaner  oder  wenigstens  den  quintaner  dazu  anleiten 
kann ,  aus  dem  zusammenhange  des  jedesmaligen  satzes  das  be- 
treffende hilfszeitwort  herauszufinden;  er  braucht  eben  nur  aus  dem 
unermeszlichen  born  seiner  muttersprache  zu  schöpfen,  dieser  denk- 
process  wird  dem  jungen  forscher  abgeschnitten,  wenn  die  lehrbücher, 
wie  dies  zuweilen  geschieht,  dem  lateinischen  text  die  betreffenden 
bilfszeitwörter  in  klammern  beifügen,  so  wenig  mutet  man  den 
Schülern  beim  übertragen  fremdsprachlicher  sätze  in  deutsche  zu, 
und  doch  wird  es  einem  quintaner  sicher  nicht  schwer  fallen,  etwa 
die  werte:  'Croesus  oraculum  Apollinis  Delphici  interrogavit,  quid 
faceret'  richtig  wiederzugeben  mit:  'Krösus  fragte  das  orakel  des 
delphischen  Apollo,  was  er  thun  solle,' 

Indem  wir  zum  schlusz  dieses  abschnittes  nun  auf  die  übrigen 
modi  des  verbums  übergehen,  wollen  wir  zunächst  den  imperativ 
mit  ein  paar  werten  streifen,  jedenfalls  musz  mit  hilfe  des  geberden- 
spiels  für  den  schüler  gleich  von  vorn  herein  klar  werden,  dasz  man 
sich  in  der  regel  nicht  selbst  etwas  befiehlt,  oder  dasz,  wenn  dies 
geschieht,  der  betreffende  zu  sich  in  der  zweiten  person  i'edet;  daher 
kommt  es  auch  —  merkt  der  knabe  — ,  weshalb  dieser  modus  gleich 
mit  der  zweiten  person  beginnt,  auch  wird  der  Süd-  und  Mittel- 
deutsche bald  die  Wahrnehmung  machen,  dasz  sein  dialekt  fehlgreift, 
wenn  er  statt  'nimm',  'isz',  'gib'  u.a.  die  formen  bildet:  'nehme', 
'esse',  'gebe'  u.  ä.,  denn  —  so  wird  ihm  jetzt  klar  —  die  drei  ge- 
nannten Imperativformen  leiten  sich  von  der  zweiten  person  des 
indicativs  ab ,  von  'du  nimmst',  'du  issest'  und  'du  gibst'. 

Wir  übergehen  ganz  die  misgestalt  des  supinums,  das  manche 
neuere  lehrbücher  mit  recht  weglassen,  und  gelangen  zu  dem  schwie- 
rigen capitel  über  die  Infinitive  und  participien,  das  der 
sextaner  zu  begreifen  versucht,  der  quintaner  zu  verstehen  sich  an- 
schickt, erst  der  Zusammenhang  kleiner  sätze  klärt  den  schüler  dar- 
über auf,  dasz  die  genannten  modi  keine  eigentlichen  verbalformen 
sind,  denn  in  dem  satze:  'errare  humanum  est'  ist  errare  nicht  prä- 
dicat,  sondern  subject,  und  bildet  gerade  das  gegen  teil  des  verbum 
finitum:  daher  der  name  infinitivus,  und  das  participium  in  der 
Wortverbindung  hirundines   migrantes   ist  als   adjectiv  behandelt, 

N  Jahrb.  f.  phil.  u.  päd.  II.  abt.  1897  hft.  9.  29 


442     E.  Cornelius :  lateinisch  und  deutscli  in  der  sexta  und  quinta. 

nimmt  aber  seiner  form  und  seiner  Verwendung  im  satze  nach  am 
verbum  teil,  daher  der  name  participium. 

Wenn  wir  den  infinitiv  für  sich  allein  betrachten,  so  be- 
merken wir,  dasz  neuere  lehrbücher  eine  doppelte  Übersetzung  dafür 
bieten:  esse  sein,  zu  sein;  fuisse  gewesen  sein,  gewesen  zu  sein,  und 
trotzdem  stellt  man  an  die  sextaner  fürs  tibersetzen  ins  deutsche 
allzu  geringe  ansprüche,  wenn  man  bei  gelegenheit  der  Übungssätze 
mittels  klammern  vorschreibt:  esse  (zu  sein)  und  fuisse  (gewesen 
zu  sein). 

Ferner  ist  es  zu  verwundern,  dasz  die  neuesten  auflagen  der 
lehrbücher  zuweilen  nicht  nur  das  g e  r  u  n  d  i  u  m  laudandi  weglassen, 
sondern  dasz  man  auch  neben  laudans  und  laudatus  das  partici- 
pium futuri  laudaturus  und  das  gerundivum  laudandus  ver- 
miszt,  Schwierigkeiten  zum  auswendiglernen  bieten  die  genannten 
sprachformen  ja  nicht,  wohl  aber  wird  man  zu  ihrer  erklärung  bei 
gelegenheit  nicht  etwa  einmal ,  sondern  öfter ,  und  zwar  immer 
wieder  andere  plastische  beispiele  heranziehen,  hier  eins  davon: 
Soldaten,  die  nach  längerer  belagerung  in  eine  stadt  einziehen,  sind 
expugnantes,  liegen  sie  noch  davor,  dann  sind  sie  expugnaturi, 
zu  gleicher  zeit  ist  die  stadt  eine  expugnanda,  und  wenn  die 
Soldaten  mit  ihrem  einzug  zu  ende  sind,  ist  die  stadt  eine  ex- 
pugnata.  man  bemerkt  zugleich  die  trennung  zwischen  den  acti- 
vischen  und  passivischen  participien.  wie  schon  gesagt:  man  stelle 
solche  versuche  auch  an  andern  Zeitwörtern  an,  z.  b.  an  legere,  so 
dasz  deutlich  die  einzelnen  verbalstämme  hervortreten:  legens 
=  präsensstaram,  lecturus  =  perfect-passivstaram,  legendus  = 
präsensstamm  und  endlich  lectus  =  perfect-passivstamm.  indem 
sich  aber  der  schüler  in  der  vorhin  angedeuteten  weise  klar  macht, 
dasz  das  participium  ein  mittelding  zwischen  adjectiv  und  verbum, 
und  das  gerundium  eigentlich  ein  Substantiv  ist,  läszt  man  ihn  etwa 
folgende  Wortverbindungen  declinieren:  ursus  saltans  der  tanzende 
bär,  templum  aedificatum  ein  erbauter  tempel,  ars  saltandi  die 
tanzkunst  u.  ä.  dies  wirkt,  wie  uns  scheint,  zugleich  auf  den 
deutschen  stil  ein."®  so  weit  kann  man  unseres  bedünkens  schon 
in  der  sexta  gehen,  um  so  leichter  wird  es  dem  quintaner  fallen, 
den  weg  zur  sogenannten  conjugatio  periphrastica  einzuschlagen, 
denn  wenn  er  den  satz  vor  sich  hat:  *puer  librum  lecturus  est',  wird 
er  sich  sagen,  dasz  der  knabe  ein  solcher  ist,  der  im  nächsten  augen- 
blicke  das  buch  zur  lectüre  ergreifen  wird ,  dasz  er  'im  begriffe  ist, 
das  buch  zu  lesen',  und  wenn  man  ihm  die  lateinischen  worte  vor- 
sagt: 'liber  legendus  est  (oder  erat)',  wird  er  wissen,  dasz  das  buch 
in  der  nächstbevorstehenden  zukunft  'erleidet',  dasz  es  gelesen  wird, 
dasz  €S  gelesen  werden  soll  (oder  sollte). 

46  s.  oben  s.  433. 

(Fortsetzung  folgt.) 

Saarbrücken.  Emmerich  Cornelius. 


J.  Sievers:  einricbtung  eines  hilfsbucbs  für  arithmetik  und  algebra,    443 

28. 
EINIGE  GEDANKEN  ÜBER  DIE  EINRICHTUNG  EINES  HILFS- 
BUCHS FÜR  DEN  UNTERRICHT  IN  DER  ARITHMETIK  UND 
ALGEBRA  AN  DEN  SECHSCLASSIGEN  HÖHEREN  LEHR- 
ANSTALTEN, NAMENTLICH  AN  DEN  SÄCHSISCHEN  REAL- 
SCHULEN. 


Im  herbst  1895  legte  ich  der  mathematischen  abteilungssitzung- 
der  vierten  hauptversammlung  des  Vereins  sächsischer  realschul- 
lehrer  den  plan  zu  einem  hilfsbuch  der  arithmetik  und  algebra  vor, 
wie  es  sich  für  diese  anstalten  am  besten  eignen  würde,  die  sache 
fand  wenig  anklang,  vielmehr  wurde  beschlossen,  das  lehrbuch  von 
dr.  E.  Bardey  besonders  für  die  zwecke  der  realschulen  umzuarbeiten 
und  hiermit  wurde  dr.  Hartenstein,  Oberlehrer  an  der  realschule  zu 
Dresden- Johannstadt,  betraut,  dieses  werk  liegt  nun  schon  seit 
geraumer  zeit  vor.  es  ist  ein  fortschritt  gegen  das  ursprüngliche; 
doch  leistet  es  keineswegs,  was  man  von  ihm  erwarten  durfte,  und 
was  es,  selbst  auf  Bardeyscher  grundlage,  leisten  konnte;  nament- 
lich la&sen  die  textgleichungen  immer  noch  viel  zu  wünschen  übrig, 
indessen,  nicht  um  eine  besprechung  dieses  buches  handelt  es  sich 
hier,  sondern  vielmehr  um  eine  Wiederholung  der  von  mir  in  jener 
Versammlung  entwickelten  hauptgedanken.  vielleicht  fallen  sie 
andern  orts  auf  fruchtbarem  boden  und  tragen  doch  in  irgend  einer 
weise  zur  gedeihlichen  entwicklung  dieses  unterrichtszweiges  bei. 

Die  algebra  ist  auf  der  schule  nicht  Selbstzweck,  sondern  aus- 
scblieszlich  mittel  zum  zweck;  sie  soll  den  schüler  befähigen,  geeig- 
nete Probleme,  soweit  sie  innerhalb  bestimmter  grenzen  liegen,  zu 
bewältigen,  mögen  sie  im  übrigen  einer  Wissenschaft  entstammen, 
welcher  sie  wollen,  den  Zusammenhang  zwischen  den  lösungen  ver- 
wandter aufgaben  und  die  bedingungen  für  die  lösbarkeit  anderer 
nachzuweisen,  die  zahl  der  vorhandenen,  wie  der  brauchbaren 
lösungen  festzustellen  u.  a.  m. ,  kurz  sie  soll  jedem  einschlägigen 
praktischen  bedürfnis  genügen,  soweit  es  innerhalb  des  lehrziels 
möglich  ist;  mit  der  reinen  theorie  aber  toll  sie  sich  möglichst  wenig 
beschäftigen,  ganz  läszt  diese  sich  freilich  nicht  umgehen;  denn  die 
nun  einmal  doch  notwendig  zu  lehrende  und  einzuübende  arithmetik 
wird  wohl  immer  einen  theoretischen  anstrich  behalten  und  deshalb 
wohl  weder  für  lehrer  noch  für  schüler  zum  lieblingscapitel  werden, 
ausnahmen  bestätigen  natürlich  hier,  wie  allenthalben,  die  regel; 
auch  räume  ich  gern  ein,  dasz  die  allgemeine  arithmetik  der  interes- 
santen Partien  für  die  liebe  jugend  keineswegs  ganz  entbehrt,  es 
sind  und  bleiben  aber  oasen  in  der  wüste,  also  auch  ausnahmen. 

So  vergeht  ein  halbes  jähr  und  wohl  auch  noch  etwas  länger, 
da  erklärt  der  lehrer:  'so  nun  gehen  wir  zu  den  anwendungen  über, 

29* 


444    J.  Sievers :  einrichtung  eines  hilfsbuchs  für  arithmetik  und  algebra.   '' 

den  gleichungen.'  tapfer  bat  der  tertianer  stand  gehalten  und  in 
heiszem  bemühen  versucht,  die  Sätze  und  formein  der  arithmetik  zu 
begreifen,  zu  behalten  des  lieben  fortkommens  halber,  ein  Interesse 
kann  er  der  sache  nicht  abgewinnen;  ja  seine  mathematischen  kame- 
raden  thut  er  im  geheimen  gewis  in  eine  andere  classe  von  menschen, 
nun  soll  er  die  fruchte  seines  fleiszes  ernten,  seine  erworbenen  kennt- 
nisse  anwenden  und  dadurch  immer  mehr  erweitern,  das  freut  ihn; 
denn  fleiszig  war  er  wirklich,  viel  lieisziger  als  die  kameraden,  die 
mit  neigung  und  Verständnis  gearbeitet  haben,  nnd  kenntnisse  hat  er 
sich  auch  erworben,  aber  unfruchtbare,  unerfreuliche  kenntnisse,  die 
bisher  keinen  andern  wert  hatten,  als  dasz  ihr  fehlen  ihm  die  Ver- 
setzung in  die  nächste  classe  nicht  versperrte,  nun  freut  er  sich, 
dasz  sie  noch  einen  andern  zweck  haben  sollen ,  und  mit  den  besten 
Vorsätzen ,  die  je  eines  tertianers  brüst  erfüllt  haben ,  wirft  er  sich 
von  neuem  in  die  arbeit,  gilt  es  doch  nun,  mit  hilfe  des  geheimnis- 
vollen schlüsseis,  den  man  mathematik  nennt,  unerraeszliche  und 
ungeahnte  schätze  zu  heben,  allein  gemach,  junger  freund  ,  so  wohl 
wird  es  dir  nicht;  das  duldet  die  deutsche  gründlichkeit  nicht,  du 
hast  zwar  gelernt,  mit  allgemeinen  gröszen  umzugehen,  du  hast  auch 
so  nebenher  schon  etliche  gleichungen  gelöst,  aber  systematisch  hast 
du  das  doch  noch  nicht  betiüeben.  damit  es  nun  später  keinen 
aufenthalt  gibt,  —  den  gibt  es  schon  so  durch  die  ausätze  leider  oft 
genug  —  lerne  nun  erst  alle  möglichen  gleichungen  lösen,  die  dir 
fertig  gegeben  werden,  dann,  ja  dann  kannst  du  es  auch  versuchen, 
wirkliche  aufgaben  zu  lösen,  so  verlangt's  das  System,  und  dem 
must  du  dich  beugen. 

In  der  that  möchte  man  eine  solche  beweisführung  annehmen, 
wenn  man  sieht,  wie  in  allen  dingen  die  textgleichungen  den  reinen 
gleichungen  nachgestellt  werden,  wie  sie,  denen  nach  der  Schwierig- 
keit ihres  ansatzes  und  nach  dem  nutzen,  den  sie  für  das  praktische 
leben,  wie  für  die  ausbildung  des  geistes  gewähren,  das  allergröste 
gewicht  beigelegt,  der  allerbreiteste  räum  im  lehrbuch  eingeräumt 
werden  sollte,  gleichsam  als  fünftes  rad  am  wagen  behandelt  werden, 
dr.  Hartenstein  z.  b.  bringt  554  reine  gleichungen  des  ersten  grades 
mit  einer  unbekannten  gegen  262  textgleichungen  derselben  art. 
da  nun  jede  textgleichuug  notwendig  die  lösung  einer  reinen  glei- 
chung  erfordert,  so  wächst  die  zahl  dieser  auf  554  -|-  262  =  816, 
während  die  zahl  jener  unverändert  bleibt,  da  das  ansetzen  von  text- 
gleichungen nicht  im  mindesten  durch  das  lösen  reiner  gleichungen 
gefördert  wird,  hier  sind  also  dreimal  so  viel  reine  gleichungen  als 
textgleichungen  vorhanden,  und  ähnlich  ist  es  in  andern  bücheru. 
ich  meine,  der  reinen  gleichungen  könnte  man  füglich  ganz  ent- 
raten,  wenn  dafür  die  zahl  der  textgleichungen  entsprechend  ver- 
stärkt würde,  es  gibt  auch  so  eingerichtete  buchen  so  z.  b.  finde 
ich  in  Leonhard  Eulers  vollständiger  anleitung  zur  niederen  und 
höheren  algebra,  die  ich  allerdings  nur  aus  der  bei  Nauck  in  Berlin 
1796  erschienenen  Grüsonschen  Übersetzung  der  Lagrangeschen  be- 


J.  Sievers:  einrichtung  eines  hilf»baelis  für  arithmetik  und  algebra,    445 

arbeitung  kenne,  nicht  eine  einzige  reine  gleichung;  ebenso  enthält 
Schlotterbecks  Sammlung  algebraischer  aufgaben  für  das  kopf- 
rechnen nur  textaufgaben,  ganz  besonders  aber  gehören  hierher  die 
arithmetischen  aufgaben  von  Fenkner  —  Salle,  Braunschweig  — , 
denen  ich  nur  eine  etwas  reichhaltigere  auswahl,  d.  h.  aufgaben  ver- 
schiedeneren gepräges  oder  Ursprungs,  wünschen  möchte,  und  — 
last,  not  least  —  die  ganz  vortreffliche  buchstabenrechnung  und 
algebra  von  J.  B.  Sass  —  Schlüter,  Altona  — ,  die  in  den  60er  jähren 
die  vorgeschritteneren  Schüler  meines  heimatlichen  dorfes  mächtig 
anzuregen  verstand,  wer  sich  übrigens  durchaus  nicht  von  den 
reinen  gleichungen  trennen  kann,  der  gebe  noch  eine  anzahl  solcher, 
nachdem  die  textgleichungen  genügend  behandelt  worden  sind;  es 
können  ja  solche  vorgezogen  werden,  für  die  sich  eine  textgleichung 
nicht  zwanglos  bilden  läszt,  also  schwierigere  und  verwickeitere 
gleichungen.  nunmehr  wird  der  schüler  auch  eher  verstehen,  warum 
man  ihm  die  lösung  einer  solchen  aufgäbe  zumutet;  er  wird  nicht, 
■wenn  er  eine  gleichung  gelöst  hat,  fragen,  was  nützt  mir  das,  son- 
dern sagen:  'diese  gleichung  ist  der  mathematische  ausdruck  für 
eine  bestimmte  aufgäbe,  die  ich  allerdings  nicht  kenne,  die  aber 
heute  oder  moi'gen  an  mich  herantreten  kann;  hab'  ich  aus  ihr  die 
gleichung  gewonnen,  so  kann  ich  sie  nunmehr  lösen,  weil  ich  die 
gleichung  lösen  kann.'  ich  habe  also  keineswegs  etwas  dagegen  ein- 
zuwenden, dasz  auch  reine  gleichungen  gelöst  werden,  doch  wünsche 
ich,  dasz  die  textgleichungen  den  reinen  vorangestellt  und  mehr  be- 
tont werden  als  bisher.  —  Und  was  spricht  denn  nun  eigentlich 
gegen  eine  solche  einrichtung?  dasz  es  unmöglich  sei,  textglei- 
chungen vor  den  reinen  zu  lösen,  kann  niemand  behaupten,  höch- 
stens kann  man  sagen,  dasz  der  schüler  bei  dieser  anordnung  weniger 
Übung  im  lösen  von  gleichungen  erhalte,  das  mag  wahr  sein,  jeden- 
falls aber  wird  dieser  schaden  glänzend  wett  gemacht  durch  die 
gröszere  gewandtheit  und  Sicherheit,  die  er  dafür  im  ansetzen  von 
gleichungen  eintauscht;  denn  die  lösung  bietet  nur  selten  Schwierig- 
keiten, um  so  mehr  aber  der  ansatz,  auf  den  noch  dazu  alles  an- 
kommt, weitere  nachteile  meines  Vorschlags  kann  ich  mir  nicht 
wohl  denken;  sollten  deren  dennoch  vorhanden  sein,  so  ist  es  ja 
wohl  auch  dann  noch  zeit,  vorteile  und  nachteile  der  einen  gegen 
die  andei'e  anordnung  abzuwägen. 

Hiermit  verlasse  ich  diesen  gegenständ,  um  mich  einem  zweiten 
punkte  zuzuwenden. 

Nicht  allein  betonen  und  voranstellen  möchte  ich  die  text- 
gleichungen, sondern  auch,  und  vielleicht  mehr  noch,  umgestalten. 
oft  klagen  die  lehrer,  dasz  die  ziele  zu  hoch  gesteckt,  den  fächern 
die  stunden  zu  knapp  bemessen  seien,  und  ich  glaube,  dasz  die 
überbürdung  der  schüler,  soweit  sie  vorhanden  ist,  gerade  darin 
ihren  grund  hat,  dasz  man  das  ziel  erreichen  soll  und  musz,  selbst 
wenn  der  durchschnitt  der  classe  unbefähigt  und  das  Schuljahr  kurz 
ist.    da  ist  es  wohl  lohnend,  darauf  hinzuweisen,  dasz  man  in  einem 


446    J.  Sievers:  einrichtung  eines  hilfsbuchs  für  arithmetik  und  algebra. 

punkte  wenigstens  zeit  und  kraft  des  scbülers  ohne  schaden  für 
seine  entwicklung  sparen  kann,  die  algebra  ist ,  wie  gesagt,  nicht 
Selbstzweck,  sondern  nur  ein  hilfsmittel  für  die  andern  Wissen- 
schaften, sie  hat  deswegen  das  recht  und  die  pflicht,  wenn  sie  anders 
ihren  platz  richtig  ausfüllen  will,  sich  die  aufgaben,  wie  sie  sich 
dort  ergeben,  zusammenzustellen,  die  fallgesetze  abzuleiten  und 
experimentell  zu  beweisen ,  ist  z.  b.  sache  des  physikers,  die  manig- 
fachen  aufgaben  aus  diesem  gebiete  aber  gehören,  soweit  ich  sehen 
kann,  ausnahmslos  nicht  der  physik,  sondern  der  algebra  an.  ebenso 
steht  es  in  der  geometrie,  wenn  nicht  noch  schlimmer;  so  gehört 
z.  b.  die  ableitung  der  formein ,  die  den  inhalt  des  dreiecks  und  des 
Sehnenvierecks  durch  die  Seiten  ausdrücken,  nicht  in  die  geometrie, 
und  die  sämtlichen  algebraisch -geometrischen  aufgaben  kann  man 
auch  mit  fug  und  recht  für  die  algebra  in  anspruch  nehmen,  wenig- 
stens ihrer  lösung  nach,  mag  ihre  deutung  sie  auch  zu  geometrischen 
stempeln.  —  Nun  soll  ja  keineswegs  gesagt  sein,  dasz  wir  uns  zunft- 
gemäsz  von  einander  absondern  und  das  übergreifen  von  einem  ge- 
biet ins  andere  untersagen  oder  auch  nur  erschweren  wollten,  der 
lehrer  der  algebra  nimmt  lediglich  solche  aufgaben  als  zu  seinem 
gebiete  gehörig  in  anspruch,  behandelt  sie,  wenn  der  schüler  die 
nötige  Vorbildung  erhalten  hat,  und  überläszt  es  seinen  collegen, 
ob  sie  dieselben  aufgaben  nun  auch  noch  in  ihren  stunden  behan- 
deln wollen,  gewis  werden  die  grundlegenden  aufgaben  dann  eine 
doppelte  behandlung  erfahren,  im  übrigen  aber  werden  einige  fächer 
wohl  recht  bald  durch  die  algebra  von  einem  bestandteil  befreit 
werden,  den  der  lehrer  wenigstens  schon  lange  als  etwas  lästiges, 
nicht  in  das  gebiet  hineingehöriges  empfunden  hat,  und  können  nun 
mit  weit  mehr  ruhe  betrieben  werden,  und  was  das  auch  für  den 
gesamten  andern  Unterricht  bedeutet,  bedarf  wohl  keiner  weiteren 
Husführung. 

Nun  kann  freilich  die  algebra  nicht  neue  lasten  zu  den  alten 
übernehmen,  sie  rausz  sich,  in  der  hauptsache  wenigstens,  der  bis- 
herigen aufgaben  entledigen  und  dafür  wirkliche  anwendungen  aus 
andern  Wissenschaftsgebieten  bearbeiten,  freilich  darf  sie  auch  dann 
dem  schüler  nicht  lauter  knackmandeln  oder,  wie  man  früher  wohl 
gesagt  haben  würde,  mathematisches  sinnenconfect  auftischen,  allein 
diese  befürchtung  dürfte  wohl  nicht  so  nahe  liegen  als  die  andere, 
dasz  sich  eine  genügende  anzahl  in  diesem  sinne  passender  aufgaben 
überhaupt  gar  nicht  oder  wenigstens  nur  sehr  schwer  beschaffen 
lassen  wird,  nun  lä.-zt  sich  allerdings  nicht  leugnen,  dasz  solche 
aufgaben  viel  schwerer  zu  stellen  sind  als  die  bisherigen;  trotzdem 
aber  dürfte  die  obige  befürchtung  doch  kaum  zutreffen,  ja,  ich  meine, 
nötigenfalls  wäre  das  rechnen,  die  planimetrie,  die  Stereometrie  und 
die  physik  wohl  allein  im  stände,  den  bedarf  zu  decken,  namentlich 
wenn  man  die  zahl  der  aufgaben  etwas  einschränkt  und  dafür  von 
den  sich  dazu  eignenden  mehr  als  eine  lösung  geben  liesze.  es  ist 
das  überhaupt  pädagogisch  gewis  gerechtfertigt,   namentlich   aber 


J.  Sievers:  einrichtung  eines  hilfsbuchs  für  arithmetik  und  algebra.    447 

dann,  wenn  es  sich  um  aufgaben  handelt,  deren  lösungen  schon 
sachlich  nicht  ganz  bedeutungslos  sind,  so  z.  b.  läszt  sich  bekannt- 
lich ein  groszer  teil  der  textgleichungen  mit  mehreren  unbekannten 
auch  mit  einer  unbekannten  lösen.  —  Aufgaben,  die  dem  gebiet 
der  algebra  selbst  entnommen  sind,  habe  ich  noch  nirgends  gefunden, 
ich  schliesze  daraus,  dasz  man  sie  aus  irgend  einem  gründe  für  un- 
geeignet hält,  das  ist  auch  meine  ansieht;  denn  es  mag  ja  für  den 
aufgabensteller  z.  b.  ganz  interessant  sein,  die  frage  zu  untersuchen, 
für  welche  speciellen  werte  für  a,  &,  c,  d,  e,  f,  g  und  Ji  die  gleichung: 


j/aa;  +  &  +  ^cx  -\-  d  ==  /ex  +  /"+  Vffx  -j-  h 
auf  eine  gleichung  des  ersten  grades,  des  zweiten  grades  u.  s.  f.  führt; 
für  ihn  mag  diese  Untersuchung  sehr  nützlich  und  wohl  auch  not- 
wendig sein;  der  schüler  ist  eben  kein  aufgabensteiler,  ihn  mag 
man  deshalb  auch  getrost  mit  solchen  sachen  verschonen  und  sich 
darauf  beschränken,  besonders  selbständige  köpfe,  die  gelegent- 
lich auf  solche  probleme  stoszen ,  persönlich  liebevoll  zu  unter- 
stützen. 

Über  die  aufgaben  aus  der  chemie  kann  ich  nicht  recht  zu  einem 
abschlieszenden  urteil  gelangen,  gerechnet  wird  ja  auch  in  der 
stöchiometrie;  die  aufgaben  sind  aber  doch  alle  so  über  einen  leisten 
geschlagen  und  so  wenig  algebraischer  natur,  dasz  sie  mehr  in  ein 
rechenbuch  als  in  ein  lehrbuch  der  algebra  zu  gehören  scheinen; 
doch  würde  mich  die  aufnähme  einiger  solcher  aufgaben ,  wie  man 
sie  z.  b.  bei  Heis  findet,  keineswegs  stören.  —  Ganz  wegfallen  aber 
möchten  alle  aufgaben,  die  keine  realen  Verhältnisse  irgend  welcher 
art  widerspiegeln,  aufgaben,  die  nicht  irgend  welchem  theoretischen 
oder  praktischen  bedürfnis  entsprechen,  es  hat  wenig  sinn,  an- 
gaben zu  berechnen,  die  jeder  vernünftige  mensch  gewissen  jeder- 
mann zugänglichen  tafeln  zu  entnehmen  pflegt,  so  z.  b.  würde  ich  es 
nicht  empfehlen,  die  stromlängen  der  Donau,  des  Rheins  und  der 
Elbe  zum  gegenständ  einer  gleichung  mit  drei  unbekannten  zu 
machen;  die  sind  zu  geben,  wie  die  vocabeln  der  fremdsp rächen, 
ihre  berechnung  hat,  wie  gesagt,  wenig  sinn,  dasz  ich  gegen  die 
berechnung  von  einwohnerzahlen,  die  ja  ihrer  natur  nach  veränder- 
lich sind,  erst  recht  eingenommen  bin,  und  zwar  auch  dann  noch, 
wenn  das  jähr  der  Zählung  mit  angegeben  ist,  versteht  sich  wohl 
von  selbst. 

Es  würde  zu  weit  führen,  alle  die  Verkehrtheiten  —  sit  venia 
verbo  —  auf  diesem  gebiete  zu  beleuchten,  finden  meine  ausstel- 
lungen  und  vorschlage  anklang,  so  wird  es  noch  zeit  genug  sein  zu 
überlegen ,  welche  aufgabenkategorien  auszumerzen  und  welche  bei- 
zubehalten sind,  für  jetzt  erscheint  mir  die  frage  wichtiger,  wie 
denn  eigentlich  die  aufgaben  zusammengestellt  werden  sollen,  es 
ist  ja  zunächst  klar,  dasz  jede  aufgäbe  sowohl  innerhalb  des  Systems, 
als  auch  in  der  sonstigen  ausbildung  des  schülers  an  den  richtigen 
platz  gestellt  werden  musz;  so  z.  b.  dürfen  aufgaben  über  die  fall- 


448    J.  Sievers:  einrichtung  eines  hilfsbuchs  für  arithmetik  und  algebra. 

gesetze  nicht  gelöst  werden,  bevor  der  fachlehrer  für  physik  die  fall- 
gesetze  behandelt  hat,  und  der  matbematiker  selbst  darf  natürlich 
auch  nicht  alle  Sorten  der  gleichungen  durch  einander  wirbeln,  dann 
aber  kommt  man  auf  eine  Schwierigkeit,  bei  der  bisherigen  anord- 
nung  wird  es  nämlicb  schwer  halten,  die  nötige  anzahl  passender 
aufgaben  für  III*  zu  beschaffen,  bekanntlich  werden  nämlich  jetzt 
die  sämtlichen  gleichungen  des  In  grades  vor  denen  des  2n  behan- 
delt, wenn  nun  der  physiker  die  fallgesetze  durchgenommen  hat 
und  in  der  planimetrie  der  pythagoreische  lehrsatz  bewiesen  worden 
ist,  so  wäre  material  genug  für  die  gleichungen  des  2n  grades  vor- 
handen; statt  dessen  aber  musz  der  lehrer  der  algebra  die  glei- 
chungen des  In  grades  mit  mehreren  unbekannten  behandeln,  die 
den  Schülern  nach  meiner  erfahrung  noch  dazu  schwerer  fallen  als 
die  gleichungen  des  2n  grades  mit  einer  unbekannten,  und  für  die 
gleichungen  des  In  grades  mit  mehreren  unbekannten  fehlt  es  aller- 
dings auf  dieser  stufe  an  stoff,  das  bekenne  ich  gern;  aber  ich  sehe 
nicht  ein,  warum  man  diesem  Übelstande  nicht  gründlich  dadurch 
abhelfen  sollte,  dasz  man  diese  beiden  capitel  mit  einander  ver- 
tauscht, sachliche  bedenken  dürften  dagegen  kaum  geltend  gemacht 
werden  können,  und  dasz  das  lehrgebäude  dadurch  geschädigt  wer- 
den sollte,  kann  ich  mir  nicht  gut  vorstellen,  wenn  es  aber  auch 
der  fall  wäre,  so  würde  ich  dem  umstände  auch  nur  wenig  gewicht 
beilegen;  denn  das  lehrgebäude  ist  doch  des  Unterrichts  wegen  da, 
und  nicht  etwa  umgekehrt. 

Über  die  zulässigkeit  der  logarithmen  an  den  sechsclassigen 
anstalten  läszt  sich  vielleicht  streiten;  wo  sie  aber  behandelt  werden 
—  und  ich  möchte  das  allerdings  befürworten  —  da  kann  man  auch 
den  Schülern  getrost  einige  exponentialgleichungen  zumuten,  sonst 
schwärme  ich  keineswegs  für  die  logarithmen  und  möchte  nament- 
lich vor  dem  mit  ihren  resultaten  getriebenen  misbrauch  nachdrück- 
lich warnen,  ihre  Verwendung  z.  b.  ist  in  der  zinseszins-  und  renten- 
rechnung  gewis  am  platz;  wenn  sie  aber  benutzt  werden,  um  zu 
berechnen ,  zu  welcher  summe  ein  bei  Christi  geburt  auf  zinseszins 
gelegter  pfennig  anwächst,  und  wenn  man  für  dieses  resultat  dann 
noch  eine  besondere  genauigkeit  erstrebt,  wie  das  z.  b.  in  Schurigs 
(Brandstetter,  Leipzig)  in  seiner  art  sonst  sehr  gutem  lehrbuch  ge- 
schieht, so  erscheint  mir  das  als  ein  misbrauch  vielleicht  der  ganzen 
aufgäbe,  zu  allererst  aber  des  resultats.  man  überlege  sich  doch 
einmal:  der  pfennig  ist  überhaupt  kein  zinsfähiges  capital,  man  kann 
ihn  also  gar  nicht  auf  zinsen  legen  und,  wenn  man's  thäte,  so  würde 
er  in  alle  ewigkeit  ein  pfennig  bleiben,  somit  gehört  die  aufgäbe 
gar  nicht  in  die  Zinsrechnung,  sie  soll  vielmehr  nur  das  anwachsen 
der  zahlen  in  der  steigenden  geometrischen  reihe  zeigen,  das  aber 
leistet  das  resultat  doch  auch ,  wenn  es  nur  innerhalb  sehr  weiter 
grenzen  richtig  ist,  das  leistet  das  mit  Tstelligen  logarithmen  be- 
rechnete resultat  z.  b.  vollständig,  abgesehen  übrigens  von  dieser 
übertriebenen   genauigkeit  möchte  ich  derartige  ausgeführte  rech- 


J.  Sievers:  einrichtung  eines  hilisbuchs  für  arithmetik  und  algebra.    449 

nungen,  wie  man  sie  bei  Lübsen  und  Schurig  findet,  jedem  lehrbuch 
wünschen;  auch  möchte  ich  die  von  Spieker  und  Wittstein  gegebene 
logarithmenberechnung  durch  wiederholte  quadratwurzelausziehung 
namentlich  als  Übungsaufgabe  nicht  tadeln,  wenn  ich  sie  auch  keines- 
wegs für  notwendig  erachte. 

Nun  bringe  ich  einen  punkt  zur  spräche,  der  zwar  nicht  direct 
hierher  gehört  und  auch  nicht  von  groszem  belang  ist ;  er  ist  aber 
dadurch  von  interesse,  dasz  die  fachleute  über  ihn  geteilter  meinung 
zu  sein  scheinen,  es  ist  wohl  allgemeine  sitte,  dasz  man  beim  an- 
satz  einer  gleichung  die  werte  mit  den  richtigen  zeichen  in  rechnung 
stellt ,  obwohl  das  für  die  lösung  keineswegs  immer  notwendig  ist. 
wenn  man  z.  b.  die  tiefe  eines  brunnens  aus  der  zeit  (t)  berechnen 
will,  die  vergeht,  bis  man  einen  stein  aufschlagen  hört,  den  man 
hat  hineinfallen  lassen,  so  wird  man  die  gleichung  aufstellen 

daraus 

bestimmen  und  dann  nachweisen,  dasz  nur  die  wurzel 


X  =  -  -\-  et  —  7/  -,  -\-  2  — 
g   ^  r    g^   ^        g 

der  aufgäbe  genügt,    die  gleichung 

c         r      g 

hat  genau  dieselben  wurzeln,  würde  aber  doch  wohl  bei  dieser  auf- 
gäbe nicht  als  zulässig,  sondern  als  zu  einer  andern,  auch  leicht  an- 
gebbaren aufgäbe  gehörig  erachtet  werden,  ich  meine,  daraus  geht 
hervor,  dasz  man  beim  ansatz  von  gleichungen  wurzelwerte  stets 
positiv  nimmt,  wenn  es  beim  ansatze  aber  geschieht,  so  sollte  es 
bei  den  gegebenen  reinen  gleichungen  auch  so  gehalten  werden,  was 
aber  keineswegs  immer  der  fall  ist;  die  gleichung 


7—  ^x  —  5  =  9;     a;  =  9z.  b. 
würde  ich  also  vorschlagen  in 


74-j/a;  —  5  =  9;     x=^ 
umzuwandeln. 

Nachdem  nun  hiermit  die  hauptsache  erledigt  ist,  mögen  noch 
einige  minder  wichtige  punkte  aus  der  arithmetik  kurz  berührt 
werden:  grundsätze  sind  sätze,  sagt  dr.  Hartenstein,  die  man  ohne 
weiteres  einsieht,  die  also  keines  beweises  bedürfen,  diese  definition 
halte  ich  für  bedenklich;  denn  ich  glaube,  der  eine  sieht  mehr  ohne 


450    J.  Sievers:  eiDrichtung  eines  hilfsbucbs  für  arithmetik  und  algebra. 

weiteres  ein  als  der  andere,  zum  begriff  des  grundsatzes  gehört  des- 
halb für  mich  auch  die  unbeweisbarkeit,  d.  h.  neben  der  ein- 
leuchtenden richtigkeit.  dann  ist  das  hauptgesetz  der  addition  für 
zwei  Summanden  ein  grundsatz,  während  die  erweiterung  auf  drei 
und  mehr  Summanden  sich  beweisen  läszt  und  deshalb  als  lehrsatz 
angesehen  werden  musz.  ein  gleiches  gilt  für  das  hauptgesetz  der 
multiplicatlon,  wenn  auch  die  sache  hier  viel  weniger  klar  ist.  wenn 
jemand  spricht  : 

3  pfd.  kaffee  -j-  7  pfd.  zucker  =  7  pfd.  zucker  -j-  3  pfd.  kaffee; 

denn  wenn  ich  beide  waren  neben  einander  auf  den  tisch  stelle  und 
sie  einmal  von  dieser,  einmal  von  jener  seite  betrachte,  so  erhalte 
ich  zuerst  die  eine,  dann  die  andere  seite  der  obigen  gleichung; 
wenn  jemand  so  spricht,  so  läszt  sich  dagegen  wohl  nicht  viel  ein- 
wenden, und  hier  sind  wirklich  die  Summanden  vertauscht  worden, 
bei  der  multiplicatlon  aber  verfährt  man  ganz  anders,  zunächst  er- 
klärt man,  benannte  gröszen  können  nicht  mit  einander  multipliciert 
werden,  oder  wenigstens  gibt  es  nur  wenig  werke,  wie  z.  b.  das  von 
Bussler  (Ehlermann,  Dresden),  worin  m  mit  kg  multipliciert  mkg 
ergeben  (m  =  meter,  kg  =  kilogramm,  mkg  =  meterkilogramm 
oder  kilogrammometer).  sodann  erklärt  man  weiter,  wenn  der 
multiplicand  benannt  sei,  so  erstrecke  sich  die  vertauschbarkeit  der 
factoren  nur  auf  die  coefficienten ,  nicht  auf  die  benennung,  und 
identificiert  dadurch  völlig  die  multiplication  mit  der  wiederholten 
addition.  wie  man  complexe  factoren  rechtfertigen  will,  wenn  be- 
nannte beanstandet  werden,  wie  man  es  sich  erklären  will,  dasz  in 
der  potenz  die  basis  sich  nicht  mit  dem  exponenten  vertauschen 
läszt,  wo  sich  doch  in  der  summe  die  Summanden  und  im  product 
die  factoren  vertauschen  lieszen,  das  und  wohl  auch  noch  anderes 
bleibt  unklar,  es  gäbe  wohl  einen  weg,  klarheit  zu  schaffen;  doch 
scheint  er  vorläufig  noch  wenig  bekannt  oder  wenig  beliebt  zu  sein, 
so  liest  man  bei  Stern  (Winter,  Leipzig  u.  Heidelberg) :  das  product 
entsteht  aus  dem  multiplicand,  wie  der  multiplicator  aus  der  ein- 
heit,  und  bei  Wittstein  (Hahn,  Hannover  u.  Leipzig):  das  product 
besteht  aus  multiplicator  und  multiplicand ,  wie  das  rechteck  aus 
seinen  beiden  selten,  beide  definitionen ,  namentlich  aber  die 
Sternsche,  wären  geeignet,  die  multiplication  oder  besser  gesagt  die 
productbildung  von  der  wiederholten  addition  zu  trennen  und  da- 
durch alle  Ungereimtheiten  zu  beseitigen,  es  gäbe  dann  eben  nur 
noch  zwei  rechnungsstufen:  die  summenbildung  (addition)  und  die 
productbildung  (multiplication),  jede  mit  vertauschbaren  gröszen 
und  mit  einer  umkehrung,  deren  gröszen  nicht  vertausch  bar  wären 
u.  s.  f.  dasz  dieses  neue  System  das  bisherige  aus  dem  Unterricht 
zu  verdrängen  im  stände  wäre,  darf  man  wohl  bezweifeln;  eins  aber 
könnte  man  ihm  doch  entnehmen,  nämlich  die  eigentümlichkeit,  dasz 
man,  wie  schon  bisher  zwischen  den  Summanden,  in  zukunft  auch 
zwischen  den  factoren  keinen  unterschied  mehr  machte,   wie  man 


J.  Sievers:  einricbtung  eines  hilfsbuchs  für  aritlimetik  und  algebra.    451 

das  jetzt  schon  z.  b.  bei  Frischauf,  bei  Hengel  (Herder,  Freiburg  i.  B.) 
und  Boymann  (Schwann,  Düsseldorf)  findet,  so  lange  man  sich  aber 
dazu  nicht  entschlieszen  kann,  rausz  man  wohl  oder  übel  auch  Stel- 
lung zu  der  frage  nehmen,  ob  man  im  product  den  multiplicator 
oder  den  multiplicanden  voranstellen  will,  man  stellt  es  als  eine 
forderung  der  logik  dar,  dasz  der  multiplicand  voranstehen  müsse, 
weil  er  eher  gedacht  werde,  und  behauptet,  dasz  nur  der  tyrann 
usus  viele  mathematiker  vom  rechten  wege  ablenke  und  sie  verleite, 
den  multiplicator  voranzustellen,  das  ist  sommerlogik  von  anfang 
bis  zu  ende,  ob  man  genau  genommen  überhaupt  etwas  denken 
kann  ohne  ein  bestimmtes:  wie  oft?  mag  einmal  unerörtert  bleiben, 
dann  aber  kann  man  doch  ebenso  gut  denken:  ich  habe  etwas  3  mal, 
und  zwar  Tpferde,  als:  ich  habe  7  pferde,  und  zwar  3 mal;  aber 
wenn  auch  letzteres  allein  möglich  wäre,  so  würde  doch  aus  der  zeit- 
lichen folge  im  denken  nicht  das  geringste  für  die  räumliche  folge 
in  der  schrift  geschlossen  werden  dürfen;  ja,  die  mathematik  stellt 
sogar  durchweg  im  allgemeinen  das  später  vor  das  früher  gedachte; 
so  z.  b.  ist  in  ^log  cos  293  der  -^93  gegeben,  er  soll  zuerst  ver- 
doppelt werden,  hiervon  ist  dann  der  cos,  davon  der  log  zu  nehmen 
und  aus  diesem  endlich  die  quadratwurzel  zu  ziehen  und  in  der 
schrift  ist  das  gerade  umgekehrt,  unsere  spräche  aber  scheint  die 
hintenanstellung  des  multiplicators  direct  verbieten  zu  wollen,  wenn 
ich  z.  b.  sage,  ich  habe  hundertmal  ein  pferd  gekauft,  so  ist  daran 
nichts  auffälliges;  wenn  ich  aber  sage,  ich  habe  ein  pferd  hundert- 
mal gekauft,  so  werden  sich  wohl  viele  leute  wundern,  dasz  ich  einen 
so  lebhaften  handel  mit  dem  einen  tier  getrieben  habe,  diese  aus- 
führung  ist  aber  von  geringer  bedeutung;  die  hauptsache  ist,  dasz 
der  Sprachgebrauch  die  voranstellung  des  multiplicators  verlangt, 
und  dasz  die  sonstige  mathematische  Schreibweise  dieses  verlangen 
ganz  entschieden  billigt  und  unterstützt,  deshalb  bin  ich  der  an- 
sieht, dasz,  wenn  man  die  factoren  überhaupt  unterscheiden  will, 
der  letzte  als  multiplicand  angesehen  werden  musz. 

Was  nun  endlich  die  zulässigkeit  des  resultatheftes  anbelangt, 
so  scheint  die  meinung,  dasz  der  schüler  gänzlich  von  der  kenntnis 
der  resultate  ausgeschlossen  werden  müsse,  mehr  und  mehr  zu  einem 
widerspruchslosen  dogma  zu  erstarren,  ich  verstehe  das  nicht,  nach 
meiner  ansieht  sollte  man  die  resultathefte  den  Schülern  in  die  bände 
geben ;  denn  erstens  werden  sie  bei  richtigem  gebrauch  weit  mehr 
nützen,  als  ihr  fehlen  und  ihr  misbrauch  je  schaden  können,  und 
zweitens  kann  sich  der  lehrer  dadurch,  dasz  sie  vorhanden  sind,  am 
besten  gegen  die  gefahr  schützen,  betrogen  zu  werden,  z.  b.  durch 
alte  Schülerlösungen,  die  sich  ja  bekanntlich  auch  an  manchen  an- 
stalten  wie  eine  ewige  krankheit  von  einer  Schülergeneration  auf  die 
andere  vererben,  übrigens  braucht  das  resultatheft  nicht  vollständig 
zu  sein,  es  genügt,  wenn  es  die  lösungen  der  schwierigeren  aufgaben, 
also  vielleicht  der  textgleichungen  und  der  aufgaben,  die  nicht  nach 
der  Schablone  gerechnet  werden  können,  enthält,    will  man  dann 


452   J.  Sievers :  einricMung  eines  bilfsbuchs  für  arithmetik  und  algebra. 

einmal  eine  besondere  kraftprobe  machen,  wie  das  ja  bei  jedem 
extemporale  geschieht,  so  sind  passende  aufgaben  dazu  leicht  auf- 
zutreiben. —  Sich  gegen  den  misbrauch  des  resultatheftes  zu  schützen, 
dürfte  keinem  lehrer  schwer  fallen;  denn  er  wird  wohl  bald  erkennen, 
was  er  von  seinen  schülern  in  bezug  auf  ihre  leistungsfähigkeit  und 
Zuverlässigkeit  zu  halten  hat,  und  danach  seine  proben  einrichten, 
manche  schüler  lieben  es  und  sind  auch  wohl  vielleicht  schon  auf 
der  Volksschule  so  gewöhnt  worden,  die  einzelnen  ausrechnungen 
nicht  ins  arbeitsheft,  sondern  auf  besondere  zettel  zu  schreiben,  die 
dann  weggeworfen  werden;  diesem  unfug,  der  jede  controUe  illuso- 
risch macht,  ist  natürlich  zu  steuern,  das  arbeitsheft  kann  auch 
dann  noch  einen  ordentlichen  eindruck  machen,  namentlich  wenn 
der  schüler  es  nicht  gar  so  übertrieben  genau  mit  den  pfennigen 
seines  vaters  nimmt,  dasz  er  glaubt,  15  aufgaben  auf  eine  fläche 
schreiben  zu  müssen ,  wo  mit  anstand  nur  5  hingehen,  —  Ich  bilde 
mir  nicht  ein ,  hiermit  die  frage  erledigt  zu  haben ;  der  hauptgrund 
vielmehr,  weswegen  ich  dem  schüler  das  resultatheft  gern  anver- 
trauen würde,  liegt  vielmehr  in  der  obigen  behauptung,  dasz  das 
antwortheft  dem  schüler  bei  richtigem  gebrauch  weit  mehr  nützen, 
als  sein  misbrauch  und  sein  fehlen  ihm  je  schaden  können,  diese 
behauptung  läszt  sich  nicht  allgemein  beweisen,  sie  ist  auch  je  nach 
der  persönlichkeit  des  lehrers  nur  mehr  oder  minder  wahr,  wer  sich 
z.  b.  zutraut,  jeden  schüler  zum  selbständigen  mathematiker  heran- 
zubilden, der  mit  unfehlbarer  Sicherheit  zu  jeder  aufgäbe  den  ansatz 
und  zu  jeder  gleichung  die  lösung  findet,  ja,  wer  sich  nur  annähernd 
das  zutraut,  der  wird  seinen  Schülern  die  benutzung  des  resultat- 
heftes allerdings  nicht  gestatten  dürfen ;  wer  sich  aber  an  be- 
scheidenere ziele  gewöhnt  hat  und  deshalb  seinen  schülern  gern 
noch  eine  kleine  Unterstützung  angedeihen  lassen  möchte,  in  der 
meinung,  dasz  er  die  trägen  vor  einem  etwaigen  schaden  schützen 
könne,  die  strebsamen  aber  dadurch  gefördert  werden,  dasz  ihnen 
so  noch  manche  lösung  gelingt,  die  ihnen  sonst  nicht  gelungen  wäre, 
der  wird  ihnen  gern  die  resultate  der  schwierigeren  aufgaben  zu- 
gänglich machen,  ich  weisz  es  wohl,  ich  empfehle  damit  scheinbar 
das  sogenannte  rechnen  nach  dem  resultat.  wenn  das  nun  auch  meine 
absieht  keineswegs  ist,  so  wird  es  doch  thatsächlich  oft  genug  vor- 
kommen, dasz  der  schüler  nach  dem  resultat  rechnet,  das  ist  aber 
doch  auch  noch  lange  nicht  so  schlimm,  als  wenn  er  sich  mit  der 
stereotypen  redensart  entschuldigt:  ich  habe  die  aufgäbe  nicht  machen 
können ;  denn  etwas  lernt  er  doch  auch  bei  diesem  rechnen  und ,  da 
er  ja  mittlerweile  auch  geistig  reifer  wird,  so  wird  er  wohl  auch 
nicht  immer  unselbständig  bleiben,  zumal  da  ihm  ja  auch  hier  und 
da  selbständige  leistungen  zugemutet  werden  und  er,  Strebsamkeit 
vorausgesetzt,  die  anlehnung  an  das  resultatheft  auf  die  notfälle  be- 
schränken wird. 

Dem  buche  würde  ich  also  etwa  folgende  einrichtung  geben : 


J.  Sievers:  einrichtung  eines  hilfsbuchs  für  arithmetik  nnd  algebra.    453 

IIP. 
Nach  der  üblichen  allgemeinen  einleitung: 

1)  die  4  species  mit  monomen. 

2)  „    4       „         „    aggregaten. 

3)  textgleichungen  des  In  grades  mit  einer  unbekannten. 

Ul\ 

4)  das  wichtigste  aus  den  capiteln  von  den  potenzen,  wurzeln  und 
logarithmen. 

5)  reine  gleichungen  des  In  grades  mit  einer  unbekannten. 

6)  text-  „  „    In      „        „        „  „ 

7)  „  „  „    2n      „        „        „ 

ll\ 

8)  reine  gleichungen  des  2n  grades  mit  einer  unbekannten. 

9)  text-  „  „    In      „         „     mehreren  unbekannten. 

10)  reine  „  „    In      „         „  „  „ 

11)  text-  „  „    2n      „ 

12)  reine  „  „    2n       „         „  „  „ 

Anhang. 

13)  vermischte  aufgaben. 

Der  lle  und  12e  abschnitt  enthält  nur  gleichungen,  die  sich 
ohne  besondere  kunstgriffe  auf  gleichungen  des  In  und  2n  grades 
mit  einer  unbekannten  zurückführen  lassen ,  und  der  13e  abschnitt 
endlich  mag  einfache  aufgaben  über  maxima  und  minima,  unbe- 
stimmte gleichungen  des  In  grades  mit  2  unbekannten,  reciproke 
gleichungen  und  andere  aufgaben  enthalten,  die  zwar  auszerbalb  des 
lehrziels  liegen,  für  befähigte  Jahrgänge  aber  doch  erreichbar  sind, 
die  Proportionen  lassen  sich  an  den  2n  abschnitt  anhängen,  die 
wurzelausziehung  und  die  rationalmachung  surdischer  nenner  in  den 
4n  abschnitt  einfügen  usw.;  doch  gehört  das  mehr  zur  speciellen  aus- 
führung.  von  allgemeinem  Interesse  dürfte  aber  noch  die  frage  sein, 
wie  weit  die  geschichte  der  mathematik  zu  berücksichtigen  ist.  ich 
freue  mich  allemal,  wenn  ich  eingehende  geschichtliche  anmerkungen, 
wie  z.  b.  bei  Heilermann  und  Diekmann  (Baedecker,  Essen)  finde; 
aber  ein  wirkliches  bedürfnis  dafür  vermag  ich  gerade  in  der  algebra 
nicht  zu  erkennen,  dazu  ist  der  gegenständ  zu  spröde,  in  der  plani- 
metrie  fordern  die  sätze  von  Pythagoras,  Archimedes  u.  a.  förmlich 
dazu  auf,  geschichtliche  angaben  zu  machen;  auch  hält  es  oft  nicht 
schwer,  den  gemachten  fortschritt  nachzuweisen,  in  der  algebra  aber 
treten  uns  zwar  auch  namen  entgegen,  wie  z.  b.  B6zout  und  Diophant ; 
sie  bedeuten  aber  nur  wenig  für  die  Wissenschaft,  die  groszen  er- 
finder  sind  oft  nicht  einmal  dem  namen  nach  bekannt,  ich  erinnere 
nur  an  die  null  und  die  decimalbrüche,  und  den  bekannten  bringt 
der  Schüler  meistens  nur  wenig  Interesse  entgegen,  weil  er  kein  ver- 


454    P.Vogel:  anz.  v.  Tropsch  Flemings  Verhältnis  zur  röm.  dichtung. 

ständnis  für  die  grösze  des  gemachten  fortschritts  hat.  dasz  z.  b. 
Vieta  die  buchstaben  als  allgemeine  Zahlzeichen  eingeführt  hat, 
mag  ihm  allenfalls  noch  bedeutungsvoll  erscheinen ;  der  Engländer 
Eecorde  aber  als  erfinder  unseres  gleichheitszeichens  läszt  ihn  jeden- 
falls kalt,  die  geschichtlichen  anmerkungen  ausmerzen  oder  auch 
nur  beschränken  zu  wollen,  liegt  mir  trotzdem  fern;  ich  lege  ihnen 
aber  für  die  ausbildung  des  scbülers  einen  geringern  wert  bei, 
als  gewöhnlich  geschieht,  und  möchte  deshalb  keinem  lehrer  eine 
eigentliche  pflege  des  geschichtlichen  elements  im  algebra-unterricbt 
zumuten. 

Frankenberg  in  Sachsen.  Jürgen  Sievers. 


29. 

Flemings  Verhältnis  zur  römischen  Dichtung  untersucht  von 
DR.  Stephan  Tropsch  (Grazer  studien  1895). 

Dasz  sich  Paul  Fleming,  durch  Opitzens  lehre  und  beispiel  beein- 
fluszt,  in  seinen  dichtungen  vielfach  an  antike  poeten  angeschlossen 
hat,  ist  allgemein  bekannt  und  in  jeder  litteraturgeschichte  zu 
finden.*  es  war  aber  noch  nicht  eingehend  untersucht,  was  und 
wie  er  entlehnt;  alle  monographien  über  Fleming  behandeln  diese 
fragen  nur  nebenhin  und  unvollständig,  ihre  beantwortung  ist 
aber  grundlegend  für  eine  maszgebende  beurteilung  des  dichters, 
seiner  Originalität  und  seiner  dichterischen  beanlagung.  es  ist  daher 
höchst  dankenswert,  dasz  sich  Tropsch  dieser  mühevollen  arbeit 
unterzogen  und  sie  mit  rühmlicher  genauigkeit  und  ohne  Vorein- 
genommenheit erledigt  hat.  verf.  weist  selbst  daraufhin,  dasz  ein 
abschlieszendes  urteil  über  Fleming  erst  möglich  sein  wird, 
wenn  die  Untersuchung  auch  auf  eine  eventuelle  abhängigkeit  von 
deutschen,  französischen,  holländischen,  italienischen  dichtem  aus- 
gedehnt ist:  die  wichtigste  grundlage  aber  hat  zweifelsohne  Tropsch 
geboten. 

Er  hat  Flemings  gedichte  mit  den  dichtungen  der  Römer  ver- 
glichen, welche  von  Fleming  selbst  erwähnt  werden,  so  mit  allen 
werken  des  Horaz,  Catull,  Tibull,  mit  Ovids  Tristien,  ex  Ponto  I, 
ars  amatoria,  araorum  I,  metamorphosen  I.  II,  Vergils  bucolica  und 
georgicon  I,  mit  Martials  epigr.  liber  und  den  vier  ersten  büchern 
der  epigramme,  mit  Plautus  Captivi  und  Asinaria;  auszerdem  ist 


*  es  sei  bei  dieser  gelegenheit  empfehlend  hingewiesen  auf  das  in 
gelehrtenkreisen  vielleicht  noch  nicht  genügend  bekannte  büchlein  von 
Frietlrich  Straumer,  Paul  Flemings  leben  und  orientalische  reise, 
sächsicher  volksschriftenverlag  I  6,  1892:  dasselbe  fuszt  bei  aller  an- 
spruchslosen Volkstümlichkeit  auf  gründlichen  Studien  und  bietet  in 
engem  rahmen  eine  fülle  von  stoff. 


P.Vogel:  anz.  v.  Tropsch  Flemings  Verhältnis  zur  röm.  dichtimg.    455 

hinzugezogen  der  von  Fleming  nicht  erwähnte  Ausonius,  weil  dieser 
in  Opitzens  zeit  sehr  beliebt  war. 

Das  resultat  der  vergleichung  sind  über  500  belege  für  die  an- 
lebnung  Flemings  an  die  antike,  die  hälfte  davon  bezeichnet  verf. 
selbst  als  die  wichtigeren,  insofern  sie  inhaltlich  und  formal  so  nahe 
zu  Flemings  worten  stehen,  dasz  man  mit  gröster  Wahrscheinlichkeit 
annehmen  musz,  er  habe  sie  gekannt  und  bewuszt  verwertet;  bei 
der  andern  hälfte  ist  nach  Tropschs  ansieht  zwar  Übereinstimmung 
vorhanden,  die  möglichkeit  aber  nicht  ausgeschlossen,  dasz  Fleming 
auch  völlig  unabhängig  sich  so  ausgesprochen  hat.  zeigt  sich  hier- 
nach, dasz  Tropsch  sehr  maszvoll  urteilt  und  nicht  voreilig 
Schlüsse  zieht  (vgl.  s.  59.  84.  97),  so  würde  ich  um  so  mehr  wünschen, 
dasz  manche  stellen  ganz  unerwähnt  blieben,  bei  denen  die  annähme 
einer  entlehnung  für  den  unparteiischen  leser  gar  zu  fern  liegt:  es 
sind  solche  beispiele  nicht  zugkräftig,  können  aber  gerade  den  an- 
schein  erwecken,  als  suche  verf.  seinem  thema  zu  liebe  etwas,  wo 
gar  nichts  zu  finden  ist;  unzweifelhafte  belege  gibt  es  ja  doch  in 
groszer  menge. 

So  erscheint  mir  recht  bedenklich  die  herleitung  (s.  49)  von 
Fleming,  poetische  wälder  III  2  (der  winter  ist  fürbei  usw.)  aus 
Horaz  carm.  I  4  (solvitur  acris  hiems).  zunächst  kann  ich  durchaus 
nicht  finden,  dasz  Fleming  das  gerippe  seines  gedichtes  von  da  ge- 
nommen habe  (s.  52),  und  die  einzelheiten  beweisen  nichts:  Fl.  v.  1 
auen  =  Hör.  v.  4  prata,  Fl.  v.  5  der  angenehme  lenz  =  Hör.  v.  1 
grata  vice  veris,  Fl.  v.  13  grüne  ==  Hör.  v.  9  viridi,  Fl.  v.  14  erden 
=  Her.  V.  10  terrae,  Fl.  v.  15  jetzt  regt  sich  die  natur  =  Hör. 
V.  10  terrae  solutae,  Fl.  v.  17  reifen  =  Hör.  v.  4  pruinis,  Fl.  v.  20 
westenwind  =  Hör.  v.  1  favoni.  alle  ausdrücke  liegen  bei  einem 
frühlingsgedicht  so  nahe,  dasz  kein  anlasz  ist  anzunehmen,  Fleming 
habe  sie  aus  der  Horazode  sozusagen  zusammengestoppelt;  dazu 
kommt,  dasz  gerade  die  stellen,  welche  offenbar  antike  anklänge 
enthalten  (v.  2  was  Juno  kann  beschauen,  v.  18  die  fromme  Cynthia), 
bei  Horaz  sich  nicht  finden,  ebenso  gezwungen  erscheint  es  mir 
(s.  83),  Fl.  od.  II  1,  22  ff.  der  du  deiner  liebe  spur  |  vor  das  traute 
Vaterland  |  machtest  durch  die  faust  bekannt?  |  ja,  du  namest 
dir  auch  für  |  vor  die  deinen  gar  zu  sterben,  zurückzuführen 
auf  Her.  carm.  IV  9,  51  non  ille  pro  caris  amicis  aut  patria 
timidus  perire;  —  oder  Fl.  od.  IV  21,  74  ff.  ihr  seid  unbesorgt, 
das  leben  |  in  fast  nahen  tod  zu  geben  für  das  heiige  Christen- 
reich auf  Her.  carm.  III  19  Codrus  pro  patria  non  timidus  mori. 
und  wenn  s.  128  für  Fl.  od.  24,  11  wie  des  monden  voller  schein  | 
unter  tausend  sternelein  herangezogen  wird  Hör.  carm.  I  12,  46 
micat  inter  omnis  ]  Julium  sidus,  velut  inter  ignis  |  luna 
minores,  so  beweist  schon  das  Nibelungenlied  (sam  der  liebte 
mäne  vor  den  sternen  stät,  Lachm.  282),  dasz  diesen  naheliegenden 
vergleich  der  Deutsche  sich  nicht  aus  Rom  zu  holen  brauchte.  — 
Ähnliche  zweifei  sind  mir  noch  aufgestiegen  s.  55  Fl.  pw.  IV  20, 49  ff. 


456    P.Vogel:  anz,  v.  Tropscli  Flemings  Verhältnis  zur  röm.  dichtung. 

=  Hör.  epod.  2;  s.  91,  wo  verschiedene  stellen  aus  Fleming  mit 
Auson.  Parent.  4,  17  in  berührung  gebracht  werden;  s.  92,  Fl.  od. 
II  4,  81  ff.  =  Hör.  carm.  I  21,  13  ff.;  s.  95,  Fl.  epigr.  XII  11,  7 
=  Martial  IV  60,  5 ;  s.  106,  Catull  21,  2-3  =  Fl.  epigr.  VIII  31, 1  ff. 
son.  IV  18,  8.  pw.  I  17,  1  ff. 

Mit  den  ergebnissea  der  Untersuchungen  des  verf.  kann  ich 
mich  durchaus  einverstanden  erklären,  es  stellt  sich  heraus,  dasz 
der  Jüngling  Fleming,  sich  vor  Opitzens  autorität  beugend ,  dessen 
empfehlung  die  alten  auszuschreiben  folge  gab:  Horaz,  Ovid,  Tibull, 
Catull  haben  am  stärksten  auf  seine  dichtungen  gewirkt,  auf  die 
lateinischen  natürlich  zeitiger  und  stärker  als  auf  die  deutschen,  die 
entlehnungen  früherer  zeit  schlieszen  sich  viel  strenger  an  den 
Wortlaut  der  Vorbilder  an  als  die  jüngeren,  sind  zum  groszen  teil 
äuszerlich,  oft  gespreizt  und  ungelenk,  während  die  letzteren  sich  ge- 
wöhnlich durch  gröszere  Selbständigkeit  und  tiefere  auffassung  aus- 
zeichnen, in  einzelnen  wenigen  fällen  verdankt  er  seinen  mustern 
wohl  die  anregung  zum  ganzen  gedieht,  öfter  noch  einzelne  motive, 
die  er  dann  frei  ausgestaltet  und  selbständig  durchführt,  weitaus 
die  meisten  entlehnungen  sind  aber  ganz  kurz,  äuszerlicher ,  for- 
maler natur,  und  es  handelt  sich  um  entbehrlichen  aufputz  oder  um 
allgemein  geläufige  Vorstellungen  und  erfahrungssätze.  stellt  man 
dazu  in  rechnung ,  dasz  in  zahlreichen  liebes-  und  freundschafts- 
liedern,  patriotischen  und  andern  gedichten  berührungen  mit  latei- 
nischen dichtem  gar  nicht  zu  finden  sind,  so  ergibt  sich  aus  allem, 
dasz  Fleming  'eine  selbständige  dichternatur  war,  fein  und  stark 
genug  begabt,  poetisch  zu  empfinden  und  zu  schaffen,  wenn  er 
ti-otzdem  viel  einzelnes  von  den  Lateinern  borgte,  so  geschah  es, 
weil  meister  Opitz  dies  den  kunstdichtern  vorschrieb,  sicher  meinte 
Fleming  ebenso  wie  er,  auf  diese  weise  die  deutsche  dichtung  der 
classischen  ebenbürtig  zu  machen  .  .  .  nach  damaligem  geschmacke 
hätte  er  ohne  solche  zuthaten  dies  ziel  nicht  erreichen  können'. 
Flemings  technik  hat  sicher  durch  das  nachahmen  der  Römer  ge- 
wonnen; die  natürliche  entfaltung  des  poetischen  genius  ist  aber 
ebenso  sicher  aufgehalten,  das  individuelle  zurückgedrängt  worden, 
jedoch  war  'Flemings  genius  und  eigenart  bedeutend  genug,  dabei 
nicht  erdrückt  zu  werden',  es  wird  also  zugleich  durch  Tropschs 
buch  die  für  feinfühlige  leser  längst  unzweifelhafte  thatsache  wirk- 
lich bewiesen,  dasz  Fleming  den  'schlesischen  Virgil'  an  dich- 
terischer begabung  und  bedeutung  gewaltig  überragt. 

Schneeberg  in  Sachsen.  Paul  Vogel. 


ZWEITE  ABTEILUNG 

FÜK  GYMNASIALPÄDAGOGIK  UND  DIE  ÜBRIGEN 

LEHRFÄCHER 

MIT    AUSSCHLÜSZ    DER    CLASSISCHEN    PHILOLOGIE 

HERAUSGEGEBEN   VON   PROF.    DR.    RiCHARD   RiCHTER. 


(16). 

QÜINTILIAN     ALS     DIDAKTIKER    UND    SEIN    EINFLUSZ 

AUF    DIE    DIDAKTISCH- PÄDAGOGISCHE    THEORIE    DES 

HUMANISMUS. 

(schlusz.) 

V.   ViTes. 

Ludovicus  Vives  läszt  sich  in  seiner  Stellung  auf  didaktisch- 
pädagogischem gebiet  durch  das  bekannte  wort  der  dunkelmänner- 
briefe  über  Erasmus  charakterisieren:  er  ist  ein  mann  für  sich. 
er  allein  überblickt  unser  gebiet  von  dem  hohen  gesichtspunkt 
einer  philosophisch  durchgebildeten,  streng  zusammen- 
hängenden Weltanschauung  aus,  er  allein  erörtert  sie  'im  Zu- 
sammenhang mit  einer  encyclopädisch-kritischen  rundschau  über 
die  Wissenschaften'  überhaupt.  Vives,  Erasmus  und  Budaeus  hat 
man  damals  als  die  triumvirn  in  der  gelehrtenrepublik  bezeichnet, 
man  fand  in  Erasmus  die  beredsamkeit,  in  Budaeus  das  talent  ver- 
körpert, in  Vives  aber  das  urteil,  iudicium.^^"  erinnern 
wir  uns  an  dieser  stelle,  wie  auch  Quintilian  ein  philosophischer 
grundzug  kennzeichnet,  wie  auch  er  die  Urteilskraft  so  hoch 
wertet  und  selbst  trefflich  bethätigt. 

Vives  ist  dabei  —  und  das  unterscheidet  und  scheidet  ihn  von 
Erasmus  —  eine  durchaus  aufs  ethische  und  religiöse  gerichtete 
natur.  'er  ist  erhabener,  positiver  im  glauben,  idealer,  ascetischer 
als  Erasmus';  er  hat  mit  diesem  ja  zeitweise  in  lebhaftem  brief- 
wechsel  gestanden,  aber  'dieser  hat  für  die  ethische  richtung,  die 
Vives  mehr  und  mehr  einschlägt,  kein  Verständnis'.^^'  in  solchen 
ethisch  gestimmten  naturen  macht  sich  vielfach  ein  starker  päda- 

^^°   A.  Lange  in   Schmids   encyclopädie   des   gesamten  erziehunga- 
und  Unterrichtswesens,  2e  aufl.,  IX  s.  786, 
^^'  Lange  a.  a.  o.  s.  784  und  800. 
N.  Jahrb.  f.  phil.  u.  päd.  II.  abt.  1897  hfl.  10  u.  11,  30 


458  A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

gogischer  drang  bemerkbar,  ein  inniges  sehnen,  die  menschen  zu 
bessern  und  zu  bekehren,  so  wiegt  auch  in  Vives  das  pädago- 
gische interesse  vor,  auch  in  seinen  didaktischen  erörterungen 
läszt  er  die  pädagogischen  momente  der  bildungsarbeit  hervor- 
treten, das  bildungsziel  ist  vom  ethischen  und  religiösen  gesichts- 
punkt  aus  bestimmt,  es  ist,  kurz  gesagt,  das  ziel  der  erziehung  und 
bildung,  das  durch  das  katholische  Christentum  überhaupt  notwendig 
gegeben  ist  und  das  nur  in  den  verschiedenen  zeiten  in  verschiedener 
beleuchtung  sich  darstellt,  auch  in  Quintilians  natur  sahen  wir 
tief  begründet  die  richtung  auf  das  sittliche,  auch  er  wertet 
es  höher  als  das  intellectuelle,  auch  er  beachtet  die  ethischen  be- 
ziehungen  in  bildungsarbeit  und  bildungsziel. 

Eng  damit  hieng  zusammen,  dasz  er  auch  in  der  praktischen 
thätigkeit  den  eigentlichen  beruf  des  redners  erblickte,  dasz  er 
in  der  rhetorischen  ausbildung  nur  eine  Schulung  sah  zu  politi- 
scher Wirksamkeit,  dasz  er  gegen  das  weltentfremdete  treiben  der 
rhetorenschule  polemisiert,  genau  dasselbe  sehen  wir  bei  Vives. 
wie  er  selbst  in  seinen  Schriften  auch  praktische  zwecke  ver- 
folgte, so  will  er  auch,  dasz  die  rhetorik  praktisch,  zumal  politisch 
verwendbar  sei.  er  hat  in  den  jähren  1519 — 21  auf  wünsch  des 
Thomas  Morus  declamationen  herausgegeben,  für  deren  form  ihm 
die  sogenannten  Quintilianischen  vorbildlich  waren,  in  dem  Vor- 
wort dazu  stellt  er  dem  künstlichen  und  gesuchten  der  schulrhetorik 
die  wahre  beredsamkeit  gegenüber,  die  auf  Sachkenntnis,  zumal  im 
civil-  und  Staatsrecht,  sich  gründe,  er  erkennt  dabei  freilich, 
hierin  klarer  blickend  als  Quintilian,  dasz  die  beredsamkeit  mit 
dem  untergange  der  republik  ihren  boden  verloren  habe,  er  will 
aber  mit  seinen  declamationes  wenigstens  politisch  belehrend 
wirken."* 

Diese  kurze  vergleichende  betrachtung  dürfte  uns  beweisen, 
dasz  auch  Vives  —  vielleicht  noch  in  höherem  grade  als  Erasmus 
—  mit  Quintilian  in  innerer,  geistiger  Verwandtschaft 
steht,  inwieweit  sich  diese  in  seinen  didaktisch-päda- 
gogischen Schriften  zur  geltung  bringt,  soll  nunmehr  ge- 
prüft werden,  wir  müssen  dabei  zunächst  einiger  kleinerer  arbeiten 
in  kürze  gedenken. 

Die  Schrift  de  institutione  feminaeChristianae  (1523) 
ist  hauptsächlich  ethischen  und  religiösen  Inhalts,  bietet  also  zu  an- 
lehitung  an  Quintilian  kaum  gelegenheit.  wenn  darin  verlangt  wird, 
dasz  auch  in  den  höheren  gesellschaftskreisen  die  mutter  ihr  kind 
selbst  stille,  so  ist  das  eine  forderung,  der  wir  bei  Plutarch  und  dann 
öfter  bei  den  huraanisten  begegnet  sind,  an  Quintilian  erinnert  es, 
wenn  er  bemerkt,  dasz  ungebildete  ammen  nachteilig  auf  die  spräche 
des  kindes  wirkten,  und  wenn  er  rät,  den  kindern  früh  ethisch  wert- 
volle Sprüche  einzuprägen,    dasz  er  mehr  die  strenge  in  der  zucht 


5?2  a.  a.  0.  s.  782. 


A.Messer:  Quintilian  als  didaktiker.  459 

hervorhebt,  auch  schlage  zuläszt,  ist  darin  begründet,  dasz  er  al.s 
Christ  in  dem  glauben  an  die  Wirksamkeit  der  erbsünde  von  der 
menschennatur  vFeoiger  optimistisch  denkt  als  Quintilian.^"  — 
Auch  die  Schriften  satellitium  animi  und  introductio  ad 
sapientiam  (beide  1524)  sind  ganz  moralisch-religiösen  Inhalts, 
die  Schrift  de  ratione  dicendi  (1533)  bestimmt  er  für  solche, 
die  nicht  'rhetorik',  sondern  reden  lernen  wollen;  neben  der  an- 
eignung  weniger  allgemeiner  regeln  komme  es  hauptsächlich  auf 
die  einübung  an;  durch  eine  fülle  von  beispielen  sucht  er  die 
regeln  zu  beleben  —  alles  ganz  im  einklang  mit  Quintilian;  in 
seinem  geiste  ist  es  auch  geschrieben,  wenn  wir  in  der  schrift  de 
conscribendis  epistolis  (1536)  lesen:  initio  illud  praefandum 
est ,  inventionem  omnem  non  solum  epistolae ,  verum  cuiuscunque 
alterius  genei'is  sermonis  orationisve,  ut  etiam  in  bis  quae  loquimur, 
haud  penitus  artis  esse,  sed  prudentiae:  quae  paritur  ex 
ingenio,  memoria,  iudicio  atque  usu  rerum  :  a  nobis  vero  tradendis 
artibus  adiuvatur,  non  perficitur:  admonetur,  non  omnino 
instruitur:  ne  quis  se  vel  hoc  loco,  vel  in  aliis,  aut  a  me  ipso,  aut 
ab  alio  quopiam  scriptore  aut  magistro  plenam  cognitionem  com- 
ponendarum  epistolarum ,  alteriusque  omnino  generis  orationis  ac- 
cepturum  speret.^^' 

Die  beiden  epistolae  de  ratione  studiipuerilis  (1523)"' 
zeigen  Vives  noch  nicht  in  seiner  philosophischen  eigenart.  es 
sind  rasch  hingeworfene  gelegenheitsschriftchen,  die  sich  nicht  wesent- 
lich über  die  zahlreichen  anleitungen  zum  Studium,  die  damals  ent- 
standen, erheben.  Vives  hat  sie  wohl  geschrieben  wie  andere  briefe 
auch,  ohne  litteratur  dabei  zu  benutzen,  die  Übereinstimmungen  mit 
Quintilian  will  ich  in  kürze  hervorheben,  der  ausbildung  des  gedächt- 
nisses  in  früher  jugend  wird  besonderer  wert  beigelegt  ^^^,  ethisch 
wertvoller  Übungsstoff  für  das  auswendiglernen  und  das  schreiben 
empfohlen.^"  der  stilus  ist  natürlich  optimus  magister  atque  effector 


=32  die  belege  bei  Lange  a.  a.  o,  s.  839.  für  Quint.  vgl.  I  1,  5.  36. 
3,  13  ff.;  für  Plutarcb  TT.  TTaiöuuv  dYUJYfjc  c.  5. 

^3'*  ich  eitlere  nach  der  ausgäbe  Coloniae  1537.  die  .stelle  findet 
sicli  dort  8.  6  f.  im  anfang  des  eapitels  de  inventione  epistolae;  man 
vergleiche  damit  etwa  Quint.  II  13  (quis  modus  in  arte?). 

*^^  ich  citiere  nach  dem  abdruck  bei  Tb.  Crenius.  consilia  et 
methodi  studiorum,  Rotterdami  1692.  die  Seitenzahl  in  eckiger  klammer 
bezieht  sich  in  den  Schriften  des  Vives  auf  die  Übersetzung  von  Fr. 
Kayser  in  der  bibliothek  der  kathol.  pädagogik  bd.  VIII.  —  Die  beiden 
briefe  ergänzen  sich  gewissermaszen  gegenseitig,  der  erste  an  die 
königin  von  England,  Katharina,  als  anleitang  für  den  Unterricht  der 
kleinen  prinzessin  Maria  gerichtet,  behandelt  hauptsächlich  den  ele- 
mentarunterricht;  der  andere,  für  den  söhn  des  durch  den  briefvvechsel 
mit  Erasmus  bekannten  lord  Montjoie  bestimmt,  behandelt  auch  das 
Verhältnis  zwischen  lehrer  und  schüIer  und  setzt  in  den  studienanlei- 
tungen  schon  einen  vorgerückteren  sehüler  voraus. 

536  s.  108.   122  [s.  415.  418].     Q.  I  1,  19. 

^"  s.  108  [s.  415].     Q.  I  1,  .30. 

30* 


460  A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

dicendi^^^  aemulatio  und  contentio  unter  den  schülern  wird  als 
förderlich  für  die  studien  betrachtet,  dabei  wird  aber  erinnert:  cum 
melioribus  aut  sapientioribus  te  ne  certes  invidia  aut  malevolentia, 
sed  virtute,  probitate,  studio,  iiuperitiores  te  ne  despice  usw."*  das 
Verhältnis  des  lehrers  zum  schüler  ist  als  ein  väterliches  zu  fassen, 
der  schüler  soll  fragen,  neque  enim  hoc  est  turpe,  sed  ignoratio 
turpis  est ;  von  dem ,  was  bei  andern  getadelt  oder  verbessert  wird, 
soll  er  auch  nutzen  ziehen.  ^^°  über  das  Verhältnis  von  grammatischen 
regeln  und  Sprachgebrauch  wird  im  sinne  Quintilians  bemerkt,  bei 
der  schriftstellerlectüre  solle  der  Sprachgebrauch  beobachtet  werden, 
besonders  ob  er  mit  den  grammatischen  regeln  übereinstimme  oder 
nicht;  nam  in  multis  varius  usus  in  normas  et  praecepta  concludi 
non  potuit:  sequendus  tarnen  potius  quam  ars,  quae  est  usu 
constituta,  non  e  contrario,  neque  vero  despicienda  est  id- 
circo  ars,  modo  ne  sit  superstitiose  anxia.  formulis  est  hoc 
tempore  opus,  quum  populum  non  habemus  et  eruenda  sunt  ex 
scriptoribus  omnia  .  .  .  quid?  quod  ne  tunc  quidem  canonibus 
caruerunt,  quum  esset  in  Latio  et  Graecia  eadem  populi  totius 
quae  eruditorum  lingua.  ^^'  Quintilian  selbst  wird  nur  einmal  citiert 
in  dem  satze:  Graecas  litteras  Q.  simul  disci  cum  Latinis  posse 
putat.^^^  die  anordnung  der  lectüre  zeigt  keine  anlehnung  an  ihn. 
Weit  wichtiger  ist  für  unsere  Untersuchung  das  werk  de  tra- 
dendis  disciplinis.*^^  das  erste  buch  zwar  bietet  für  eine  be- 
nutzung  Quintilians  keine  gelegenheit.  es  gibt  die  philosophische 
grundlegung:  in  einem  überblick  über  die  entwicklung  desmenschen- 
geistes  und  der  cultur  wird  die  ars  (kunst  und  Wissenschaft)  als 
product  des  geistes  erfaszt,  zweck,  Ursprung,  art  der  aneignung, 
Wirkung  der  ars  wird  erörtert,  alsdann  ein  System  der  für  den 
Christen  passenden  artes  entworfen;  eine  eingehende  erörterung 
über  die  Stellung  des  Christen  zur  heidnischen  litteratur  schlieszt 
das  buch,  das  zweite  handelt  von  der  Organisation  des  erziehungs- 
und  Unterrichtswesens,  von  den  dabei  beteiligten  personen;  es  er- 
örtert in  diesem  Zusammenhang  auch  die  frage,  ob  schule  oder  haus 
als  ort  des  Unterrichts  und  der  erziehung  den  vorzug  verdiene,  und 
das  Verhältnis  von  lehrer  und  schüler;  es  streift  die  ersten  Stadien 
der  sittlichen  bijdung  und  die  hierbei  zu  benutzenden  motive  und 
bespricht  sehr  eingehend  die  Verschiedenheit  der  individualiläten 
nach  der  ethischen  und  der  intellectuellen  seite  bin  und  die  kenn- 


538  s.  125  [s.  421].     Q.  X  3,  1. 

639  s.  123  [s.  419].     Q.  I  2,  22. 

5^»  s.  122.  125  [s.  419.  421].     Q.  II  2,  4—6.   I  2,  21. 

5"  s.   135  f.  [s.  423  f.].     Q.  I  6,  43  ff.   III  2. 

s^2  s.  142  [s.  425].  Q.  I  1,  12.  Quintilian  empfiehlt  hier  auch  be- 
kanntlich den  beginn  mit  dem  griechischen,  darin  folgt  ihm  also 
Vives  nicht. 

5^3  (Jen  lateinischen  text  citiere  ich  nach  der  ausgäbe:  lo.  Lud.  Vives 
Valentini,  de  disciplinis  libri  XX.  Coloniae.  apud  loannem  Gymni- 
cum  ]536.    über  die  auf  die  Übersetzung  bezüglichen  citate  s.  o.  535. 


A.Messer:  Quintilian  als  diclaktiker.  461 

zeichen  der  beanlagung  —  alles  materien,  denen  auch  Quintilian 
seine  aufmerksamkeit  widmet,  sehen  wir  zu,  in  welchem  Verhältnis 
Vives  dabei  zu  ihm  steht. 

Das  bild  der  idealen  akademie  ist  von  Vives  ganz  selbständig 
entworfen,  existierte  sie  in  Wirklichkeit,  so  wäre  es  zweifellosz,  dasz 
hier  und  nicht  zu  hause  Unterricht  und  erziehung  etiam  extemplo 
a  lacte  stattzufinden  hätte.'"  also  im  princip  ist  er  wie  Quintilian 
unbedingt  für  die  schule,  den  thatsächlich  bestehenden  Verhält- 
nissen gegenüber  will  er  die  frage  nicht  allgemein  entscheiden,  ist 
der  vater  vermögend  genug,  so  nehme  er  einen  paedagogus,  der  den 
knaben  unteri'ichte ,  aber  mit  mehreren  altersgenossen  zusammen, 
sonst  macht  er,  wie  Quintilian  zeigt,  geringere  fortschritte. *'^  will 
er  ihn  in  eine  der  bestehenden  schulen  schicken,  so  prüfe  ihn  der 
vater,  ob  er  tauglich  ist  zum  Studium  und  ob  seine  ethische  be- 
anlagung annehmen  läszt,  an  eruditione  probe  (sit)  usurus.  nam 
nihil  est  peius  quam  abusus  bonarum  rerum  et  eruditio ,  instrumen- 
tum  rerum  maximarum ,  converteretur  ad  scelera  ingentia  in  animo 
pravo  posita.  merito  Quintilianus  potiorem  sibi  causam  videri  ait 
vivendi  honeste,  quam  vel  optime  discendi.^^^  hier  ist  ein  punkt,  in 
dem  sie  sich  in  ihren  grundanschauungen  berühren,  in  diesem  Zu- 
sammenhang betont  er  auch  wie  Quintilian  die  Wichtigkeit  einer 
recht  frühzeitigen  sittlichen  gewöhnung,  er  läszt  durchblicken,  dasz 
die  kinder  oft  schon  im  eiternhaus  verdorben  werden,  zumal  da  sie 
alles  nachahmen  (sunt  pueri  naturaliter  simii).^"  als  motive ,  die 
bei  erziehung  und  Unterricht  wirken  sollen,  wünscht  er  nicht  zwang 
und  furcht,  sondern  liebe  zu  eitern  und  lehrern^^^;  er  unterscheidet 
sich  von  Quintilian  darin,  dasz  er  die  möglichkeit  zugibt,  dasz  diese 
motive  nicht  ausreichen  und  die  furcht  hinzutreten  musz,  ferner  dasz 
er  über  dem  ehrtrieb  noch  ein  weit  höheres  motiv  kennt,  nämlich 
um  der  Schönheit  der  tugend  selbst  willen  zu  handeln. ^^' 

Von  dem  paedagogus  verlangt  er  wie  Quintilian  neben  der 
nötigen  bildung  vor  allem  sittliche  tüchtigkeit.°^"  derselben  forde- 
rung  musz  natürlich  auch  der  lehr  er  entsprechen,  das  bild,  das  er 
von  diesem  entwirft,  ist  reicher  ausgeführt  als  bei  Quintilian,  be- 
sonders hebt  er,  was  wir  bei  Quintilian  vermissen,  neben  dem  wissen 
das  lehrenkönnen  scharf  hervor:  magistri  non  modo  sint  ea 
doctrina,  ut  possint  bene  instituere,  sed  habeant  tradendi  facul- 
tatem  ac  dexteritatem.'^^'  einen  recht  wichtigen  zug  fügt  er 
auszerdem  noch  hinzu,  den  wir  auch  bei  Quintilian  vermissen,  der 
aber  ganz  im  sinne  Quintilians  dem  bilde  eingefügt  wird:  den  päda- 

*"  s.  266.     Q.  I  2. 

5^=  s.  267.     er  meint  wohl  Q.  I  2,  21.  26. 

5^6  s.  268.  Q.  I  2,  3.  vgl.  XII  1,  32:  facultas  dicemli,  si  in  malos 
incidit,  et  ipsa  iadicanda  est  malum;  peiores  enim  illos  faeit,  qui- 
bus  contigit. 

=47  s.  266  f.     Q.  I  2,  6—8.         ^48  s_  269.  271. 

s«  s.  269.     vgl.  Q.  I  2,  22.  3,  7.   13  ff. 

550  s.  267.     Q.  I  1,  8.         551  3.  260  f. 


462  A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

gogischen  takt.^*-  —  Wie  Quintilian  vom  lehrer  gefordert  hatte: 
sumat  ante  omnia  parentis  erga  discipulos  suos  animum,  so  heiszt 
es  auch  hier  —  aber  ebenfalls  mit  einem  bemerkenswerten  zusatz : 
in  discipulos  affectu  erit  patris,  ut  illi  sint  ei  filiorum  loco,  nee 
quantum  ab  illis  aut  a  profe  ssione  redeat,  spectabit.^^^ 
das  Verhältnis  von  lehrer  und  schiiler  wird  übrigens  nochmals  in 
anderem  Zusammenhang  erörtert,  auch  hier  ist  Vives  viel  reich- 
haltiger als  Quintilian,  von  dem  er  sich  auch  durch  die  religiöse 
weihe,  die  er  dem  Verhältnisse  gibt,  unterscheidet. ^'^^ 

Ein  capitel,  das  er  mit  ausdrücklicher  bezugnahme  auf  Quin- 
tilian, dabei  aber  wiederum  weit  ausführlicher  und  gründlicher  be- 
handelt, ist  das  von  der  erkenntnis  und  der  berücksichtigung  der 
Individualitäten.  Quintilian  begnügt  sich  hier  mit  kurzen  an- 
deutungen,  Vives  gibt  eine  bis  ins  einzelne  ausgeführte  Charakterisie- 
rung der  vorkommenden  ethischen  und  intellectuellen  beanlagungen, 
wobei  er  auch  die  körperliche  beschaffenheit  in  betracht  zieht.*" 
das  was  er  über  die  praecocia  ingenia  sagt,  ist  Quintilian  gegenüber 
ganz  selbständig^''',  auf  ihn  beruft  er  sich  aber  da,  wo  er  den  nach- 
ahmungstrieb,  falls  er  sich  auf  das  gute  richte,  als  zeichen  günstiger 
beanlagung  nennt,  und  ebenso  bei  der  bemerkung  über  das  ge- 
dächtnis  als  signum  ingenii  (quae  duabus  constat  partibus,  facile 
percipere  et  fideliter  continere)  ^^'^ ;  mit  ihm  stimmt  er  überein, 
wenn  er  meint,  dasz  sich  beim  spiel  die  charakteranlage  leicht 
offenbare.  '"^^ 

Am  Schlüsse  des  buches  gibt  er  gewisse  grundzüge  für  das 
didaktische  verfahren,  dabei  heiszt  es  u.  a.:  artes  omnes  .  .  . 
optime  ex  illorum  actionibus  atque  operibus  colliguntur,  qui  natura, 
studio,  usu  fuerint  instructissimi:  ebenso  hatte  Quintilian  es  aus- 
gesprochen, dasz  die  kunstwerke  früher  da  waren  als  die  kunst- 
regeln und  dasz  sie  uns  auch  zur  erlernung  der  kunst  wertvoller 
sind.^'"'  Quintilian  hatte  gefordert,  dasz  der  knabe  von  anfang  an 
optimis   imbui,   ferner  dasz  der  lehrer  sich  der  fassungskraft  des 


^^*  s.  261.  prudentia,  vitae  totius  rectrix,  maximas  validissi- 
masque  habet  vires  et  ad  recte  artes  tradendas  et  ad  vitia  emendanda 
et  ad  repreliensionem  et  castigationem,  quum  est  opus  et  quatenus: 
multum  eiiim  efticiunt  liaec  suo  tempore,  suo  loco,  suo  modo  adhibita: 
intempestiva  autem  omnia  odiosa  atque  inefficacia  suut. 

^^3  Q.  I  2,  4.  Vives  s.  261.  letztere  bemerkung  ist  natürlich  in  Zu- 
sammenhang zu  bringen  mit  seiner  forderung:  omnis  quaestionis  occasio 
(also  auch  privatstunden  verpönt!)  repellatur  ab  scholis.  accipiant 
doctores  salarium  de  publico,  quäle  cupiat  vir  bonus,  fastidiat  malus 
.  .  .  nihil  a  scholasticis  accipiant.     s.  262, 

^5<  s.  281  f. 

555  g.  272—81.     Q.  I  3,  1—7.         556  g    275.     Q.  I  3,  3  f. 

557  s.  276.  278.     Q.  I  3,   1  f.         5ö9  g.  278.     Q.  I  3,  11  f. 

559  s.  282  f.  Q.  III  2.  X  1,  15.  —  Übrigens  macht  hier  Vives  nur 
eine  anwendung  seines  vorher  aufgestellten  grundsatzes:  in  praeceptione 
artium  multa  experimenta  coUigemus,  multorum  usum  observabimus,  ut 
ex  illis  universales  fiant  regulae  (s.  282). 


A.Messer:  Quintiliaa  als  didaktiker.  463 

Schülers  anpassen  müsse;  er  hatte  diese  beiden  Forderungen  be- 
ziehungslos neben  einander  gestellt;  Vives  combiniert  sie  in  origi- 
neller weise  und  läszt  sie  sich  gegenseitig  modificieren:  sed  quam- 
Tis  in  tradenda  arte  perfectissima  seraper  atque  absolutissima  sint 
proponenda,  in  docendo  tarnen  ea  sunt  ex  arte  praebenda  auditoribus, 
quae  illorum  ingeniis  competant;  artifex  enim  summa  contemplari 
debet,  et  ea  in  canones  deducere,  coutendat  unusquisque  assequi ; 
praeceptor  vero  in  schola  auditorium  suum  debet  spectare,  non 
ut  ab  arte  deflectat,  aut  falsa  tradat  pro  veris,  sed  ut  congruentis- 
sima  captui  suorum  ;  utrumque  divinum  illum  artificem  ac  magistrum 
praestitisse  sacra  evangelü  historia  declarat.  ■'^'^  er  scheidet  also  von 
dem  betreiben  der  Wissenschaft  und  der  kunst  viel  schärfer  als  Quin- 
tilian  das  lehren  derselben,  noch  eine  andere  stelle  mag  das 
illustrieren.  Quintilian  hatte  bemerkt,  gute  lehrer  gäben  sich  zum 
Privatunterricht  nicht  her,  nara  optimus  quisque  frequentia  gaudet 
und  praeceptores  ipsos  non  idem  mentis  ac  Spiritus  in  dicendo  posse 
concipere  singulis  tantum  praesentibus  quod  illa  celebritate  audien- 
tium  instinctos.  maxima  enim  pars  eloquentiae  constat  animo. 
Yives  gelaugte  bei  seiner  'prüfung  der  köpfe'  zu  dem  schlusz,  dasz 
es  am  besten  sei,  wenige,  aber  beanlagte  schüler  zu  haben,  er  fügt 
hinzu,  mit  unverkennbarer  beziehung  auf  Quintilian:  non  nego  quin 
ad  diccndum  frequentia  incitetur  animus,  sed  aliud  est  dicere 
quam  docere:  et  in  dicendo  nescio  quibus  nos  a  gloria  video 
stimulis  pungi.  in  der  that  hatte  Quintilian  in  seiner  erörterung, 
die  sich  übrigens  nicht  nur  auf  den  rhetor,  sondern  auch  auf  den 
grammaticus  bezieht,  nicht  sowohl  an  den  lehrer  wie  an  den 
seine  kunst  übenden  rhetor  gedacht,  die  correctur,  die  ihm  Vives 
zu  teil  werden  läszt,  ist  ebenso  bezeichnend  für  seinen  Scharfblick 
wie  für  sein  ethisches  feingefühl.  ''^' 

Das  dritte  buch  behandelt  die  sprachliche  ausbildung, 
nicht  mehr  in  dem  rahmen  der  idealen  akademie,  sondern  im  an- 
schlusz  an  die  wirklichen  Verhältnisse,  wie  Quintilian  beginnt  er 
mit  einer  erörterung  des  ersten  Sprechenlernens  der  kinder.  was 
bei  jenem  über  den  einflusz  der  eitern  und  ammen  gesagt  ist,  wendet 
Vives  ausdrücklich  auf  die  muttersprache  an.^®^  über  den  rat 
Quintilians  mit  dem  griechischen  zu  beginnen  hat  er  sich  hier  am 
treffendsten  von  allen  bisher  betrachteten  didaktikern  ausgesprochen: 
Studium  Graecitatis  Q.  iubet  Latinis  literis  praeponi:  sed  in  pueris, 
quorum  sermo  naturalis  esset  Latinus.  at  quando  is  iam  nobis 
paratur  doctrina,  e  contrario  est  agendum ,  ut  cum  Graecitatis  rudi- 
mentis  exactior  Latinae  linguae  disciplina  procedat:  ut  si  quis 
attentius  insiDiciat,  similes  prorsum  comperiat  esse 
meam  et  Quintiliani  instituendi  rationes,  nam  pueris 
olim,  quum  primum  ad  scholam  venirent,  multa  erant  iam  in  ser- 


=«0  s.  283  f.     Q.  II  3.  2.  7.         »ßi  s.  279.     Q.  I  2,  9.  29  f. 
5«  s.  285  [s.  232].     Q.  I  1,  4. 


464  A.Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

mone  Latino  domi  cognita.^*^  für  den  betrieb  des  sprachlichen  und 
speciell  des  grammatischen  Unterrichts  stellt  er  unter  hinweis  auf 
Quintilian  den  leitenden  grundsatz  auf,  gründlich,  aber  ohne  frucht- 
lose und  pedantische  kleinigkeitskrämerei  zu  verfahren.^"  in  beiden 
spricht  hier  ihr  auf  das  solide  gerichteter  sinn,  dem  es  aber  durch 
seinen  philosophischen  blick  gegeben  ist,  zwischen  dem  wesentlichen 
und  unwesentlichen  zu  unterscheiden,  in  diesem  Zusammenhang 
kommt  er  auch  nochmals  auf  den  lehrer  und  sein  verhalten  gegen 
die  Schüler  (vorzugsweise  im  Unterricht)  zu  sprechen,  dem  rate,  wie 
ein  vater  gegen  die  schüler  zu  sein,  fügt  er  hier  bei:  aber  nicht 
wie  ein  kamerad  —  fast  mit  denselben  werten  hatte  Quintilian 
bemerkt :  non  dissoluta  sit  comitas.  '^^  mit  Quintilian  ist  er  einig, 
dasz  es  in  vielen  dingen  (z.  b.  wer  die  amme  des  Anchises  war? 
u.  ä.)  für  den  lehrer  gut  sei  aliqua  nescire.  ^^^  bei  erörterung  der 
behandlung  der  schüler  scheidet  er,  was  bei  Quintilian  nicht  ge- 
schieht, Unterricht  und  zucht.  beim  unterrichten  und  bei 
der  beurteilung  der  leistungen  der  schüler  fordert  er  wie  jener 
grosze  milde  und  nachsieht,  lieber  anfeuern  und  loben,  als  spotten 
und  schelten,  in  der  zucht  dagegen  ist  strenge  durchaus  am 
platz;  gegen  sittliche  Verfehlungen  musz  eingeschritten  werden 
reprehendendo,  castigando  verbis  et,  quum  opus  est,  verberibus; 
ut  beluarum  more  revocet  eum  dolor,  cui  ratio  non  est  satis;  tametsi 
liberalem  hanc  castigationem,  quantum  fieri  possit,  esse  malim,  non 
asperam,  aut  servilem,  nisi  eiusmodi  sit  Ingenium,  ut  officii  sui 
plagis  sit  tamquam  mancipium  admonendum.^"  bei  der  mahnung, 
dasz  sich  der  lehrer  dem  fassungsvermögen  des  schülers  anpasse, 
erinnert  er  an  den  von  Quintilian  gebrauchten  vergleich  des  kind- 
lichen geistes  mit  einem  gefäsz  mit  engem  hals.^*"  die  andeutung 
Quintilians,  dasz  die  schüler  leichter  vorgeschrittenere  mitschüler 
als  den  lehrer  selbst  nachahmen,  führt  er  weiter  aus,  indem  er  an- 
weisungen  gibt,  wie  die  vorgerückteren  zum  Unterricht  der  anderen 
herbeizuziehen  sind*^'  —  wofür  ihm  bekanntlich  auch  die  damalige 


563  8.  290  [s.  237].     Q.  I  1,   12  f. 

56^  s.  290.  291  [s.  237.  238].     Q.  I  8,  18  f.;  vgl.  I  7,  .33—35. 

5<-'S  s.  292  [s.  239].    Q.  II  2,  5.         ^«ß  s.  293  [s.  240].    Q.  I  8,  21. 

5"  8.  303  [s.  249  f.].  Quintilian  spricht  über  das  verfahren  bei  der 
correctur  II  4,  10  flf.,  über  körperliche  Züchtigung  I  3,  13.  dasz  in  der 
behandlung  der  sittlichen  seite  des  schülers  strenge,  der  intellectuellen 
milde  angebracht  sei,  scheint  übrigens  auch  die  meinung  Quintilians 
gewesen  zu  sein,  wenn  er  dies  auch  nicht  so  klar  ausspricht  wie  Vives. 
man  vergleiche  auszer  den  oben  genannten  stellen  noch  I  2,  5,  wo  er 
eine  disciplina  severa  empfiehlt.  —  In  Vives  erörterung  über  die  körper- 
liche Züchtigung  ist  übrigens  doch  der  einflusz  Quintilians  (und  Plutarchs) 
—  deren  ansieht  hierüber  von  allen  damaligen  theoretikern  mehr  oder 
minder  geteilt  wird  —  merkbar. 

5fi8  s.  295  [s.  242].     Q.  I  2,  28. 

ßß"  s.  298  [s.  244  f.].  Q.  I  2,  26  f.  Cicero  war  derselben  ansieht.  — 
Den  vergleich  mit  den  Schlingpflanzen,  die  erst  den  unteren  teil  des 
baumes  ergreifen,  entlehnt  Vives  auch  Quint.  (a.  a.  o.). 


A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker.  465 

praxis  anhaltspunkte  bot.  über  die  benutzung  des  ehrtriebs  spricht 
er  sich  mit  ähnlicher  einschränkung  aus^^"  wie  an  der  früher  er- 
wähnten stelle. 

Auf  die  ausbildung  des  gedächtnisses  legt  er  auch  hier 
groszes  gewicht;  er  widmet  ihr  eine  nähere  erörterung,  in  der  die 
benutzung  Quintilians  unverkennbar  ist."'  dasselbe  ist  der  fall  in 
seinen  ausführungen  über  erholung  und  spiel,  auch  er  faszt  die 
ausbildung  des  körpers  nicht  als  etwas  neben  der  geistigen  bildung 
selbständig  und  gewissermaszen  gleichwertig  zu  betreibendes,  viel- 
mehr ist  das  körperliche  durchaus  dem  geistigen  unter- 
geordnet und  wird  nur  so  weit  berücksichtigt,  als  dies  nötig  ist, 
um  die  gesundheit  und  leistungsfähigkeit  des  geistes  zu  sichern, 
so  ist  die  principielle  auffassung  die  gleiche. ^'"^  aber  Vives  mit 
seiner  scharfen  beobachtung  für  die  empirische  Wirklichkeit  erkennt 
den  einflusz  des  körperlichen  factors  viel  umfassender  als  jener, 
und  so  geht  er  praktisch  in  der  berücksichtigung  desselben  viel 
weiter,  von  körperlichen  Übungen  als  solchen  ist  bei  Quintilian 
nirgends  die  rede.  Vives  erklärt:  exercitamenta  corporum  crebra 
sint  in  pueris,  nam  aetas  illa  incrementis  indiget  ac  confirmatione 
roboris;  wie  sehr  er  ferner  beachtung  hygienischer  gesichtspunkte 
bei  der  anläge  der  schulgebäude  wünscht  "^  ist  bekannt. 

In  der  auswahl  und  anordnung  der  lectüre  in  beiden  sprachen^^^ 

^'°  s.  301  f.  [s.  248].  wenn  Vives  hier  bis  zu  dem  satze  gelangt: 
coiisultius  est  adolescentes  nihil  scire  quam  ambitionis  et  superbiae  man- 
cipia  fieri,  so  zeigt  sich  darin  eben  der  bevvuste  gegensatz  seiner  christ- 
lichen auffassung  zu  der  durch  Quint.  (I  2,  22)  vertretenen  antiken 
beurteilung  der  ambitio,  die  in  ihr  hauptsächlich  die  guten  Wirkungen 
in  betracht  zog. 

571  s.  297  [s.  244].  Q.  I  3,  1.  XI  2.  über  diesen  stofif  ist  übrigens 
Quintilian  viel  reichhaltiger.  —  Als  belege  für  die  benutzung  mögen 
dienen:  memoria  duabus  constat  partibus,  celeriter  comprehendere  et 
fideliter  continere  V.  s.  297.  Q.  I  3,  1.  (auch  die  vorausgehende  bemer- 
kung  über  das  frühe  knabenalter:  illa  aetas  laborem  non  sentit,  erinnert 
an  Quintilians  äuszerung:  abest  illis  adhuc  etiara  laboris  indicium 
I  12,  11.)  sehr  wichtig  ist  bei  dem  zu  lernenden  die  Ordnung: 
V.  s.  297.  Q.  XI  2,  36  ff.  das  laut  lernen  wird  von  beiden  mit  der- 
selben psychologischen  begründung  (ut  daplici  motu  iuvetur  memoria 
dicendi  et  audiendi)  empfohlen:  V.  s.  297.  Q.  XI  2,  33;  beide  machen  darauf 
aufmerksam,  quantum  nox  interposita  afferat  firmitatis:  V.  s.  297. 
Q.  XI  2,  43. 

5^2  V.  s.  305  f.  [s.  251  f.].  Q.  I  3,  8—13.  gemeinsam  ist  beiden  die 
doppelte  begründung  der  erholung.  1)  V.  (s.  305)  ut  diutius  labori 
sufficiant  Q.  I  3,  8.  2)  V.  ne  studia  odisse  incipiat,  priusquam  amare  . .  . 
mirae  libertatis  est  humanuni  ingenium ,  exerceri  se  patitur,  cogi  non 
patitur:  multa  ab  eo  facile  impetres,  pauca  et  infeliciter  extorqueas. 
Q.  I  1,  20:  nam  id  inprimis  cavere  oportebit,  ne  studia,  qui  amare  non- 
dum  potest,  oderit;  und  I  3,  8:  Studium  discendi  voluntate,  quae  cogi 
non  potest,  constat.  beiden  gemeinsam  ist  auch  die  mahnung,  dasz  das 
spiel  ehrbar  sei  und  dasz  man  darin  ja  masz  halte.  —  Von  den  körper- 
lichen Übungen  der  erwachseneren  spricht  Vives  im  4n  buch  s.  340 
[s.  284]. 

"3  s.  259  [s.  208].  s.  306  [s.  252].  ^"^  s.  306  ff.  [s    252  ff.]. 


466  A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

ist  Vives  ganz  selbständig:  insbesondere  weist  er  der  poetischen 
lectüre  eine  nur  untergeordnete  Stellung  zu"%  er  läszt  auch  mit 
prosa  den  anfang  machen."®  bei  der  beurteilung  einzelner  Schrift- 
steller verweist  er  übrigens  mehrfach  auf  die  von  Quintilian  im 
lOn  buch  abgegebenen  urteile."^  die  stilübungen  werden  wieder 
mit  dem  bekannten  worte  Ciceros  und  Quintilians  empfohlen,  im 
einzelnen  ist  auch  hier  Vives  unabhängig  von  Quintilian,  das  ab- 
zielen auf  das  rhetorische  tritt  bei  ihm  nicht  hervor.^" 

Das  vierte  und  fünfte  buch  behandeln  die  an  die  sprach- 
liche ausbildung  sich  anschlieszenden  wissenschaftlichen  Studien. 
nur  die  erörterungen  über  die  rhetorik,  die  moralphilosophie 
und  die  geschichte  zeigen  bezugnahme  auf  Quintilian. 

Es  entspricht  Vives  klarem  einblick  in  die  gesamtheit  der 
Wissenschaften  und  ihr  Verhältnis  zu  einander,  dasz  er  die  rhetorik 
parallel  mit  grammatik  und  dialektik  lediglich  als  formale  und 
demnach  als  hilf s Wissenschaft  (organum)  faszt,  nicht  wie  Quintilian 
als  universal  Wissenschaft.  ■'*  hatte  Quintilian  bei  aller  Wertschätzung 
des  sittlichen  im  redner  doch  der  antiken  anschauung  gewisse  con- 
cessionen  gemacht  und  die  anwendung  unsittlicher  mittel  zu  gutem 
zwecke  erlaubt,  so  erklärt  sich  Vives  mit  aller  entschiedenheit  gegen 
alle  diese  dinge,  quae  gentilitati  fuerunt  recepta:  maledicere,  con- 
viciari,  pravissimas  suspiciones  inicere,  recta  invertere,  ex  bona  causa 
malam  facere,  ex  mala  bonam:  satius  est  causae  detrimen- 
tum  pati  quam  virtutis.  während  bei  Quintilian  das  iudiciale 
genus  durchaus  im  Vordergrund  steht,  erklärt  er:  iudiciali  genere 
nihil  omnino  indigemus.  litigare  non  satis  decet  Christianum,  quanto 
minus  ex  versutia,  imposturis,  insidiis,  fraude,  quae  in  illis  actionibus 
imprudentibus  atque  etiam  invitis  surrepunt!^** 

Bei  der  erörterung  der  rhetorik  kommt  er  auch  auf  die  imitatio 
zu  sprechen,  und  er  nimmt  in  dem  kämpf  über  die  wahre  nacbahmung 
Ciceros  Stellung,  es  ist  bei  Vives  eigentlich  selbstverständlich,  dasz 
er  auf  seite  des  Erasmus  tritt:  habet  quidem  optima  Cicero,  sed  nee 
omnia  ncc  solus,  und  an  einer  andern  stelle:  quo  plura  exempla 
ostensa  sunt,  hoc  plus  eloquentia  proficitur.  eadem  est  Quintilian! 
sententia,  qui  non  qui  maxime  imitandum  eum  solum  imitandum 
censet.^^' 

Wie  er  schon  für  die  sprachliche  bildung  empfohlen  hat, 
zu  der  mustergültigen  latinität  der  Ciceronianischen  zeit  die  spräche 

*"  8.  315  fs.  261  f.].         570  s.  290  [s.  237]. 

5"  s.  3-20  [s.  2G5].   s.  328  [s.  273  f.].         "«  s.  300  f.  [s.   247  f.]. 

"ä  8.  353  [s.  296].  übrigens  ist  Quintilians  anffassung  sehr  leicht 
zu  verstehen,  wenn  man  bedenkt,  dasz  er  ja  nicht  die  rhetorik  als 
Wissenschaft,  sondern  den  redner,  den  er  bilden  will,  ins  äuge 
faszt.  freilich  tritt  diese  Unterscheidung  bei  ihm  nirgends  klar  hervor, 
ähnlich  verhält  es  sich  bei  Cicero  (besonders  in  de  oratore). 

^'5"  s.  345  f.  [s.  289  f.].  im  folgenden  nimmt  er  übrigens  ausdruck- 
lich bezug  auf  Quint.  "N'Il  1,  60, 

681  8.  348  [s.  292 j. 


A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker.  467 

eines  Seneca,  Quintilian,  Plinius,  Tacitus  u.  a.  zur  bereicherung 
heranzuziehen^'*^,  so  stellt  er  auch  für  die  rhetorische  ausbildung 
nebenCiceroandererauster,  wobei  er  die  für  die  verschiedenen 
gegenstände  passenden  stilgattungen  berücksichtigt,  so  empfiehlt  er 
z.  b.  ad  praecepta  artium  in  rebus,  in  ordine  ac  cuncta  methodo  den 
Aristoteles,  in  verbis  et  dictione  den  Quintilian  und  Agricola. ^"^ 
er  betont,  dasz  man  verschiedene  stufen  der  iraitatio  unterscheiden 
müsse,  im  anfange  sei  es  ja  wohl  gestattet,  auch  wörtlich  zu  ent- 
lehnen, nur  müsse  man  sich  dabei  bewust  bleiben,  dasz  das  'ent- 
lehnen' (suppilare)  nicht  'nachahmen'  (imitari)  sei,  paulatim  autem 
vere  imitabitur,  id  est,  ad  exemplar  effinget,  quae  volet,  non  de 
exemplari  centones  surripiet,  quos  in  opere  suo  consuat.^-*  aber 
man  musz  endlich  auch  einmal  über  das  Studium  der  imitatio  hinaus- 
kommen: puerum  imitari  liberale  est  ac  laudabile,  senem  imitari 
servile  ac  turpe."^  man  sieht,  ein  System  der  occultatio,  eine  theorie 
der  'dohlenstreiche'  wird  hier  nicht  entwickelt,  sondern  der  echte 
begriff  der  imitatio,  wie  ihn  Quintilian  formuliert,  ist  bei  Vives  — 
wie  Erasmus  —  congenial  erfaszt  und  entwickelt.  ^'^  —  Quintilians 
autorität  führt  Vives  auch  an  bei  dem  rat,  zu  den  redeübungen 
Stoffe  zu  wählen,  die  praktisch  verwertbar  sind,  und  ebenso, 
wenn  er  empfiehlt,  die  schriftstellerischen  arbeiten  einige  zeit 
liegen  zu  lassen,  ehe  man  sie  nochmals  durcharbeite  und  publiciere.  ^^^ 
wenn  er  endlich  in  seinen  auseinandersetzungen  über  das  wünschens- 
werte verhalten  der  gelehrten  unter  sich  (gegen  schiusz  des 
5n  buches)  Quintilians  wort  citiert:  mutos  enim  nasci  et  egere  omni 
ratione  satius  fuisset,  quam  providentiae  munera  in  mutuam  per- 
niciem  convertere^*^,  so  beweist  das,  dasz  er  nicht  nur  den  didakti- 
schen und  rhetorischen,  sondern  auch  den  ethischen  gehalt  der 
institutio  zu  schätzen  weisz. 

Bei  erörterung  der  moralphilosophie,  bei  der  er  wie  Quin- 
tilian die  Wichtigkeit  der  bei  spiele  hervorhebt ^®^,  erweist  er  seine 
geistige  Selbständigkeit  jenem  wie  vielen  humanistischen  Vorgängern 
gegenüber  dadurch,  dasz  er  sie  in  die  engste  Verbindung  mit  der 
religion  setzt.  ^^° 

Für  die  behandlung  der  geschichte,  die  übrigens  hauptsäch- 
lich mit  den  res  togatae  sich  beschäftigen  soll,  gibt  er  als  leiten- 
den  grundsatz  den  rat,   den  Quintilian  dem  grammaticus  für  die 


5^2  s.  311  f.  [s.  257  f.].         ^^•■'  s.  349  [s.  293j. 

58*  s.  351   [s.  294].         SS5  s.  352   [s.  296]. 

5^^  wir  brauchen  auf  die  weitere  aust'ührun»  nicht  einzugehen;  nach 
den  verschiedenen  auseinandersetzungen  bei  Quintilian  und  Erasmus 
lieszen  sich  ja  auch  wesentlich  neue  gesichtspunkte  wohl  nicht  mehr 
beibringen.  —  Hier  sei  auch  noch  erwähnt,  dasz  Vives  die  institutio 
als  rhetorisches  lehrbuch  empfiehlt,  z.   b.  s.  344  [s.  287  f.]. 

587  s.  346  [s.  290].   s.  417  [s.  357].     Q.  X  4,  2. 

55«  s.  412  [s.  352].     Q.  XII  1,  2. 

589  s.  389  f.  [s.  329  f.].     Q.  XII  2,  29  ff. 

580  s.  387  [s.  327]. 


468  A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

enarratio  historiarura  bei  der  lectüre  gegeben:  enthaltung  von  allem 
sichverlieren  ins  detail  (und  in  speciallitteratur  —  modern  aus- 
gedrückt).^^' bezeichnend  sind  die  worte,  mit  denen  Vives  dieses 
citat  einleitet:  audiendus  est  prudens  magister  (!)  M.  Fabius, 
qui  in  institutionibus  sie  inquit  de  futuro  utique  oratore,  sed 
nos  ad  prudentem  virum  accommodabimus.  er  scheidet  also 
von  demQuintilianischen  bildungsziel  mit  klarem  bewust- 
sein  sein  eignes,  indem  er  das  rhetorische  element  in  den 
hintergrund  treten  läszt.  es  ist  hier  nicht  der  ort,  Vives'  bildungs- 
ziel des  näheren  zu  erörtern,  am  kürzesten  hat  er  es  vielleicht  im 
ersten  buche  bezeichnet,  wo  er  sagt:  sciat  pater  quem  tandem  existi- 
raare  debet  fructum  laboris  studiosi,  videlicet  non  honorem  aut 
pecuniam ,  sed  animi  culturam,  rem  eximii  atque  incomparabilis 
pretii:  ut  doctior  fiat  iuvenis  et  per  sanam  doctrinam 
melior.^^-  — 

Vives  benutzt  also  Quintilians  werk  mit  durchaus 
selbständigem  kritischen  urteil,  er  zieht  ihn  heran,  nicht 
um  gedanken  von  ihm  zu  entlehnen  —  er  hat  selbst  viel  weitere 
und  ergibigere  gesichtspunkte;  nicht  um  seine  ansichten  durch  ihn 
zu  decken  —  er  ruht  selbst  auf  einer  so  breiten  basis  selbstgewisser 
philosophischer  reflexion,  dasz  er  der  stützen  nicht  bedarf;  aber  er 
zieht  ihn  heran,  weil  er  das  bedürfnis  empfindet,  bei  sich  bietender 
gelegenheit  mit  einer  solchen  autorität  sich  auseinanderzusetzen,  es 
ist  sicher  ein  starker  beweis  für  die  Schätzung  Quintilians  nicht  nur 
bei  Vives,  sondern  in  der  damaligen  gelehrtenwelt  überhaupt,  dasz 
Quintilian  der  einzige  ist,  dem  Vi  vis  diese  Stellung  einräumt, 
die  vorausliegende  didaktisch-pädagogische  litteratur  ist  nirgends 
citiert  und  nirgends  springt  eine  benutzung  derselben  in  die  äugen; 
dasz  Vives  davon  kenntnis  gehabt  hat,  ist  natürlich  nicht  zu  be- 
zweifeln. Vives  bleibt  aber  Quintilian  gegenüber  stets  auf  seinem 
eignen  Standpunkt,  wo  seine  eigne  Weltanschauung,  wo  sein  bildungs- 
ideal, wo  die  veränderten  Zeitverhältnisse  abweichungen  nötig  machen, 
weicht  er  von  ihm  ab;  er  ist  sich  dabei  bewust,  dasz  er  bisweilen 
besser  mit  dem  geiste  Quintilians  im  einklang  steht,  wo  er  von  seinen 
ratschlagen  abweicht,  als  wo  er  ihnen  folgt,  dasz  Vives  in  seiner  um- 
fassenden art  seinen  stoff  zu  betrachten  und  darzustellen  weit  über 
Quintilian  hinausgeht,  braucht  kaum  erst  hervorgehoben  zu  werden. 

Ist  nun  also  Vives  von  Quintilian  beeinfluszt?  der  ausdruck 
dürfte  ihr  Verhältnis  nicht  recht  kennzeichnen,  wie  in  einem  mäch- 
tigen unterirdischen  Sammelbecken,  so  rinnen  die  niederschlage  weit 
ausgebreiteter  beobachtung  und  ungemeiner  belesenheit  in  Vives  zu- 
sammen, und  geklärt  durch  philosophisches  durchdenken,  geläutert 
durch  sein  christliches  bewustsein,  werden  sie  wieder  emporgetrieben 
durch  den  mächtigen  pädagogischen  drang  seiner  ethisch  angelegten 


59«  s.  376  [8.  317  f.]. 
59«  8.  272  [s.  220  f.]. 


A.  Messer:  Quintiliau  als  didaktiker.  469 

persönlichkeit ,  und  sie  treten  hervor ,  sogleich  ein  mächtiger  ström, 
der  majestätisch  seine  bahn  zieht  —  Zuflüsse  vermögen  weder  seinen 
lauf  zu  ändern,  noch  ihn  merklich  zu  vergröszern.  — 

Der  Vollständigkeit  halber  seien  hier  noch  zwei  autoren  er- 
wähnt, die  passend  im  Zusammenhang  mit  Vives  genannt  werden: 
S  ad  ölet  und  Budaeus.  Sadolets  bekannte  schrift  de  liberis 
recte  instituendi  s  (1533)  handelt  hauptsächlich  von  der  religiös- 
sittlichen und  der  körperlichen  ausbildung;  für  die  geistige  aus- 
bildung  wird  nur  ein  überblick  über  die  bildungsstoffe  gegeben. 
Budaeus'  abhandlang  de  studio  literarum  recte  et  com- 
mode  instituendo  (Baslleae  1533)  enthält  mehr  principielle 
erörterungen  über  ziele  und  stoffe  der  bildung,  speciell  auch  über 
die  Vereinigung  des  antiken  und  christlichen  elements.  bei  beiden 
tritt  eine  benutzung  Quintilians  nicht  hervor;  ihr  inhalt  bot  auch 
wenig  gelegenheit  zu  einer  solchen. 

Seliluszbetrachtung. 

Ist  nun  die  didaktisch-i^ädagogische  theorie  des  humanismus 
von Quintilian  in  ihren  grundzügen,  in  dem,  was  ihre  tiefste 
eigenart  ausmacht,  beeinfluszt  worden?    sehen  wir  zu! 

Es  stand  mit  der  wirtschaftlichen  und  socialen  ent- 
wicklung  in  Wechselwirkung,  dasz  im  verlauf  unserer  periode  das 
laienelement  im  höheren  geistesleben  und  zwar  auch  nach  seiner 
wissenschaftlichen  seite  hin  hervortrat,  anregung,  stofif  und  Vor- 
bild für  diese  bethätigung  bot  die  antike  litte  ratur.  Petrarca 
hatte  sie  zum  ersten  mal  wieder  in  anderem  sinne  angeschaut  und 
genossen  als  das  ganze  mittelalter;  in  ihm  war  die  begeisterung 
für  sie  zum  ersten  mal  wieder  in  flammen  aufgeschlagen  und  'zündend 
hatte  die  kraft  der  genialität'  gewirkt,  dieses  laienhafte  element 
—  und  dünkt  uns  nicht  selbst  der  priester  Petrarca  weit  mehr 
ein  laie  als  ein  cleriker  —  und  die  antike  litteratur,  die  sich 
gegenseitig  anzogen  und  in  ihrer  Wirkung  verstärkten,  haben  auch 
den  geist  der  erziehung  und  bildung  manig fach  beein- 
fluszt. zu  einer  offnen  abwendung  vom  Christentum  kommt  es 
zwar  in  der  theorie  derselben  nirgends,  aber  der  neue  geist  und  der 
mittelalterliche,  antike  und  Christentum,  stehen  jetzt  neben  ein- 
ander, wenn  sie  auch  hier,  wie  sonst  ebenfalls,  die  verschieden- 
artigsten Verschmelzungen  eingehen,  derartige  geistige  bewegungen 
nun  wurzeln  zu  tief,  als  dasz  hier  Quintilian  einen  merkbaren 
einflusz  hätte  üben  können. 

Diese  Wandlung  im  geiste  der  erziehung  und  bildung  tritt 
am  greifbarsten  zunächst  darin  zu  tage,  dasz  an  stelle  des  theo- 
logischen bildungsideals  des  mittelalters  ein  mehr  weltlich 
gerichtetes  tritt  —  natürlich  auch  dies  in  einer  groszen  reihe 
von  modificationen,  die  endpunkte  derselben  stellen  etwa  dar: 
das  naturalistische,  völlig  vom  jenseits  absehende  des  Vergerio 


470  A.  Messer:  Quintüian  als  didaktiker. 

und  das  durchaus  aufs  ewige  gerichtete  eines  Wimpheling 
und  Vives.  nirgends  ist  das  bildungsideal  des  Quinti- 
lian,  der  orator  perfectus,  einfach  herübergenommen 
worden,  nirgends  ist  auch  die  rhetorik  als  die  universalwissen- 
schaft  gefaszt,  viel  eher  tritt  die  philosophie  als  solche  auf;  für  das 
humanistische  bildungsideal  (wie  es  sich  in  der  theorie  wenigstens 
darstellt)  passt  besser  die  bezeichnung  philosophusals  orator. 
bei  Quin  tili  an  ist  die  schriftstellerische  thätigkeit  nur  ein 
minderwertiger  ersatz  der  rednerischen  für  den,  der  durch 
mängel  seiner  natur  an  der  ergreifung  des  rednerberufs  gehindert 
ist;  bei  den  humanisten  tritt  die  schrift stellerei,  allerdings 
eine  rhetorisierende  schriftstellerei,  zum  mindesten  ebenbürtig 
neben  die  rednerische  bethätigung,  ja  die  Vorschriften  über  die  aus- 
bildung  der  actio  treten  in  der  theorie  durchaus  zurück. 

Ein  vpeiteres  charakteristisches  merkmal  der  humanistischen 
Pädagogik  ist,  dasz  der  körperlichen  entwicklung  eine  gröszere 
beachtung  geschenkt  wird,  allerdings  zeigt  sich  dies  bei  den  deutschen 
humanisten  in  geringerem  grade,  dafür  bietet  Quintüian  fast  nichts, 
gerade  Vergerio  aber,  der  hier  besonders  auf  Plutarchs  vita  des 
Lycurg  zurückgreift,  darf  in  diesem  punkte  als  bahnbrechend 
angesehen  werden. 

Schwerlich  wird  man  im  mittelalter  auf  die  sittliche  bildung 
einen  geringeren  wert  gelegt  haben  als  im  humanistischen  Zeitalter, 
neu  mag  sein,  dasz  man  mehr  die  philosophie  zu  ihrer  förderung 
und  Vollendung  herbeizog  als  die  religion.  auch  dieser  zug  be- 
gegnet uns  schon  bei  Vergerio  (der  uns  ja,  als  von  Quintilian 
wahrscheinlich  nicht  beeinfluszt,  für  diese  betrachtung  von  be- 
sonderer bedeutung  ist).  Quintilian  mag  nach  der  gleichen  rich- 
tung  hin  gewirkt  haben. 

Eine  encyclopädische  bildung  strebte  schon  das  mittel- 
alterliche trivium  und  quadrivium  an.  diese  richtung  verstärkt  sich. 
Quintilian  konnte  sie  nur  begünstigen  und  sie  zugleich  an  die  not- 
wendigkeit  eines  centrums  erinnern,  auch  die  geschichte  fanh 
man  bei  ihm  empfohlen,  aber  reichhaltiger  als  schon  bei  Vergerio 
ist  das  Verzeichnis  der  bildungsstoffe  kaum  jemals  nachher  auf- 
gestellt worden,  freilich  kommt  bei  ihm  das  Studium  der  griechi- 
schen spräche  noch  nicht  zur  geltung;  aber  dasz  dasselbe  später  in 
der  theorie  warm  empfohlen  wird  und  eine,  wenn  auch  bescheidene, 
Stellung  im  Schulwesen  sich  eroberte,  das  hatte  bekanntlich  all- 
gemeinere und  tiefere  gründe  in  den  Zeitverhältnissen,  als  dasz  die 
empfehlung  eines  einzelnen  Schriftstellers  hierfür  von  entscheiden- 
der bedeutung  hätte  sein  können;  zudem  wies  ja  nicht  nur  Quintilian, 
sondern  die  ganze  römische  litteratur  auf  die  griechische  hin. 

Am  schärfsten  charakterisiert  sich  die  neue  richtung  durch 
die  abwendung  von  der  scholastischen  methode,  von  dem 
dialektisch-logischen  betrieb,  durch  Verdrängung  des  doctrinale 
und  besonders  seiner  unendlichen  commentare  wird  räum  geschafft 


A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker.  471 

für  die  1  e c t ü r e.  da  vereinigt  sich  denn  das  utilitarische  streben 
nach  Fertigkeit  in  der  lateinischen  spräche  mit  der  begeisterung 
für  die  antike  litteratur.  schon  bei  Vergerio  und  Lionardi 
Bruni  steht  die  lectüre  durchaus  im  mittelpunkt. 

Man  kann  aber  nicht  sagen,  dasz  man  die  ansichten  Quintilians 
über  zweckmäszige  auswahl,  anordnung  und  behandlung  der  lectüre 
einfach  herübergenommen  habe,  man  hat  sie  in  erwägung  gezogen, 
aber  man  ist  unter  dem  einüusz  der  anders  gestalteten  Verhältnisse 
—  vor  allem  vrar  ja  latein  nicht  mehr  muttersprache  —  fast  öfter 
von  ihnen  abgewichen,  als  man  ihnen  folgte,  in  höherem  grade 
wirksam,  aber  auch  nicht  unbedingt  maszgebend  waren 
seine  ratschlage  über  den  betrieb  der  mündlichen  und  schriftlichen 
Übungen,  aber  hiervon  abgesehen,  ist  gerade  auf  diesem  ge- 
biete, dem  des  unterri  eh  tsver  fahrens,  der  ein  flusz  Quin- 
tilians am  ausgedehntesten  und  sichtbarsten,  manche 
allgemeine  didaktische  grundsätze  werden  ihm  entlehnt; 
für  das  verfahren  beim  Unterricht  wird  die  psychologie  als  masz- 
gebend herangezogen;  eng  hängt  damit  zusammen,  dasz  das  Ver- 
hältnis zwischen  lehrer  und  schüler  und  die  erforder- 
nisse,  denen  der  lehrer  entsprechenmusz,  einer  genaueren 
betrachtung  unterzogen  werden,  die  freilich  irgendwelche  praktisch 
verwertbare  vorschlage,  über  lehrerbildung  etwa,  nicht  hervor- 
gebracht hat.  ferner  macht  sich  wie  bei  Quintilian  in  den  an- 
weisungen  über  die  behandlung  der  schüler  ein  philanthro- 
pischer zug  stark  bemerkbar,  seine  erkennbarste  Wirkung  ist  die 
Verwerfung  oder  starke  beschränkung  der  körperlichen  Züchtigung, 
auch  die  ratschlage,  die  Quintilian  über  die  mehr  selbständige 
arbeit  an  der  eignen  rednerischen  ausbildung  im  lOn  buche  gibt, 
hat  man  gebührend  gewürdigt;  man  hat  sie  freilich  hauptsäch- 
lich auf  die  Vorbereitung  zur  schriftstellerischen  thätigkeit 
bezogen. 

Wie  stark  aber  auch  auf  diesem  weiten  gebiet  des  Verfahrens 
bei  der  bildungsarbeit  der  einüusz  Quintilians  hervortritt,  so  wird 
man  doch  auch  hier  nicht  behaupten  können,  dasz  die  züge,  welche 
den  humanismus  hier  recht  eigentlich  charakterisieren:  das  sti'eben 
nach  einem  rationelleren  und  abgekürzten  betrieb,  die  psychologische 
betracbtungsweise,  die  hauptsächlich  auch  der  Verschiedenheit  der 
individualitäten  gerecht  zu  werden  sucht,  der  philanthropische  zug 
in  der  behandlung  der  schüler  —  durch  Quintilian  überhaupt  erst 
hervorgerufen  worden  seien,  er  mag  sie  sehr  gefördert  haben,  aber 
ihr  Ursprung  liegt  tiefer. 

Da  in  der  humanistischen  bewegung  im  gründe  doch  eine  ver- 
änderte lebensauffassung  sich  zur  geltung  bringt,  so  war  es  ganz 
natürlich,  dasz  seine  jünger,  in  dem  bestreben  für  die  neue  lebens- 
weisheit  Propaganda  zu  machen,  hauptsächlich  einen  lehrhaften 
ton  anschlugen,  so  wird  denn  seit  Petrarca  der  moralphilosophische 
tractat  besonders   gepflegt,    hiermit  konnte  man  sich  nur  an  er- 


472  A.  Messer:  Quintilian  als  didaktiker. 

wachsene  wenden;  als  noch  wichtiger  mochte  es  erscheinen,  er- 
ziehung  und  bildung  der  jugend  in  dem  neuen  geiste  zu  regene- 
rieren —  zumal  da  der  schulbetrieb  allmählich  eine  gestaltung 
angenommen  hatte,  deren  Unfähigkeit  den  bedürfnissen  des  lebens 
und  der  zeit  zu  genügen  selbst  denen  sich  aufdrängte,  die  vom 
geiste  des  humanismus  nur  wenig  in  sich  aufgenommen  hatten,  so 
bildete  denn  das  problem  der  erziehung  und  bildung  einen  der  be- 
liebtesten und  am  meisten  behandelten  stoffe.  nicht  allzu  viele 
mögen  durch  die  erwägung,  dasz  Quintilian  hierüber  schon  so  treff- 
lich gehandelt  habe,  vom  eignen  schreiben  abgeschreckt  worden 
sein,  im  gegenteil:  das  grosze  muster  weckte  nacheiferung.  auch 
konnte  man  ja  bei  den  veränderten  Zeitverhältnissen  die  institutio 
oratoria  nicht  einfach  als  handbuch  der  didaktik  und  pädagogik  be- 
nutzen, ihre  didaktischen  bestandteile  musten  erst  herausgelöst  und 
zusammengestellt,  vieles  muste  modificiert  werden,  sobald  sich  aber 
einmal  die  reflexion  diesen  gebieten,  zumal  einer  rationelleren  ge- 
staltung des  Unterrichtsverfahrens  zugewandt  hatte,  musten  sich 
fast  mit  notwendigkeit  teils  gewisse  allgemeine  didaktische 
grundsätze,  teils  manche  praktische  forderungen  im  einzelnen 
ergeben,  die  man  zwar  jetzt  bei  Quintilian  vorfand  und  der  einfach- 
heit  und  der  gröszeren  autorität  halber  vielfach  in  seinen  worten 
zum  ausdruck  brachte,  auf  die  man  aber  auch  ohne  ihn  wohl  ge- 
kommen wäre. 

Was  ferner  die  heranziehung  der  psychologie  und  in  Ver- 
bindung damit  die  berücksichtigung  der  Individualitäten  be- 
ti-ifft,  so  findet  sich  beides  ja  schon  bei  V  e  r  g  e  r  i  o  im  ausgedehntesten 
maszstab  —  entsprechend  dem  grundzug  der  zeit  nach  indivi- 
dueller gestaltung  der  Persönlichkeit  und  der  lebensführung. 

Auch  der  philanthropische  Charakter  der  humanistischen 
Pädagogik  ist  wohl  unmittelbar  aus  ihrem  geiste  entsprungen, 
zunächst  liesz  die  allgemeine  Verfeinerung  der  lebensführung  und 
der  Sitten  und  die  unter  dem  einflusz  der  antiken  ansichten  stehende 
ethische  reflexion  die  sittlich  bildende  Wirksamkeit  der  strafen,  zu- 
mal der  körperlichen,  als  zweifelhaft  erscheinen:  ehrliebe,  nicht 
furcht  solle  die  jugend  anspornen  und  lenken;  körperliche  Züchti- 
gung passe  für  'sklaven',  nicht  für  edelgeborene  knaben  — 
und  diese  berücksichtigte  ja  die  humanistische  pädagogik,  beson- 
ders die  der  Italiener ,  hauptsächlich,  je  mehr  ferner  eine  weltauf- 
fassung  lediglich  auf  das  diesseitige  sich  aufbaut,  um  so  mehr 
musz  das  bestreben  sich  geltend  machen,  die  leiden,  die  das  leben 
ohnehin  in  so  reichem  masze  mit  sich  führt,  unter  allen  umständen 
nach  kräften  zu  verringern;  man  wird  es  also  der  jugend  mög- 
lichst leicht  machen  wollen,  verlebt  sie  ja  doch  nach  allgemeiner 
auffassung  die  schönste  zeit  des  lebens. 

Eine  weltauffassung  dagegen,  die  in  dem  diesseits  nur  eine 
kurze  vorbereitungszeit  sieht  für  ein  unendlich  wertvolleres 
jenseits,  schlägt  nicht  nur  die  freuden,  sondern  auch  die  leiden 


A.Messer:  Quintilian  als  didaktiker.  473 

hienieden  weit  geringer  an;  sie  siebt  ferner  in  diesen  nicht  nur 
etwas  betrübendes  und  peinigendes,  sondern  vor  allem  die  erziehende 
und  vom  irdischen  ablösende  Wirksamkeit,  warum  sollte  sie  also 
principiell  darauf  verzichten,  auch  den  körperlichen  schmerz  aus 
höheren  gründen  zum  besten  des  Zöglings  zu  nutzen? 

Durch  diese  erwägung  soll  natürlich  nicht  im  mindesten  in 
Zweifel  gezogen  werden,  dasz  dieses  philanthropische  grundstreben 
des  humanismus,  das  ja  gerade  an  Quintilian  den  beredtesten  anwalt 
fand,  in  der  praxis  jedenfalls  sehr  heilsam  wirken  muste.  denn 
allzu  sehr  war  ja  in  ihr  im  schwänge  das  gedankenlose  prügeln, 
bei  dem  der  stock  als  ein  stets  helfendes  Wundermittel  zur  Verbesse- 
rung des  Verstandes  und  witzes  wie  zur  förderung  der  Sittlichkeit 
erscheint,  ein  mittel,  das  schon  darum  allezeit  in  der  praxis  seine 
stelle  behauptet  hat,  weil  bei  seiner  anwendung  zugleich  alle  ver- 
drieszlichkeit  und  aller  ärger,  den  bei  der  notorischen  'dummheit' 
der  Schüler  das  lehrgeschäft  nun  einmal  mit  sich  bringt,  gemüts- 
befreiend und  herzerquickend  sich  entlädt,  und  dann:  der  lehrer  ist 
ja  auch  herscher,  und  'alles  weltregiment,  musz  er  wissen,  von 
dem  stock  hat  ausgehen  müssen',  allmählich  hat  man  auch  gelernt, 
mit  sanfteren  mittein  zu  regieren,  für  diese  Verwendung  und 
geltung  des  prügelns  in  der  praxis  kann  allerdings  aus  keiner 
Weltauffassung  eine  rechtfertigung  hergeholt  werden,  man  sucht  sie 
auch  nicht  in  einer  solchen. 

Man  wird  nach  alledem  nicht  sagen  können,  dasz  ohne  den  ein- 
fiusz  Quintilians  der  didaktisch-pädagogischen  theorie  des  humanis- 
mus  wesentliche  züge  gefehlt  haben  würden,  anderseits  wird 
man  zugeben  müssen,  dasz  manche  ihrer  grundgedanken  bei 
ihm  eine  fördernde  bestätigung  fanden  und  dasz  er  im  einzelnen 
namentlich  für  die  rationellere  und  psychologisch  richtigere  gestal- 
tung  des  lehrverfahrens  und  des  Verhältnisses  zwischen  lehrer  und 
Schüler  viele,  gern  benutzte  ratschlage  bot. 

Durch  ihren  didaktischen  gehalt  in  der  antiken  litteratur  einzig 
dastehend,  war  die  institutio  oratoria  das  buch,  das  doch  wohl  jeder, 
der  damals  über  die  theorie  der  bildung  und  erziehung  schreiben 
wollte,  mehr  oder  minder  sorgfältig  studierte,  wir  werden  daraus 
schlieszen  dürfen,  dasz  auch  die,  die  über  dieses  gebiet  nicht 
geschrieben,  sondern  nur  praktisch  auf  ihm  gewirkt  haben,  die 
institutio  vielfach  zu  rate  gezogen  haben  und  dasz  so  neben  dem 
einflusz  derselben,  der  in  der  litteratur  offen  zu  tage  tritt,  ein 
anderer  einhergeht,  unseren  blicken  zwar  entzogen,  aber  breiter 
vielleicht  und  tiefer  als  jener  und  mehr  unmittelbar  die  praxis 
wohlthätig  befruchtend. 

GiEszEN.  August  Messer. 


N.  Jahrb.  f.  phil.  u.  päd.  11.  abt.  1897  hlt.  10  u   11.  31 


474     E.  Cornelius:  lateiniscb  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta. 

(27.) 

ÜBER  WECHSELBEZIEHUNGEN   ZWISCHEN    DEM  LATEI- 

NISCHEN   UND   DEM   DEUTSCHEN   IN   DER   SEXTA   UND 

QUINTA  DES  GYMNASIUMS. 

(fortsetzung  und  schlusz.) 


3.    Die  comparation  dei-  adjective  und  adverbien. 

Neben  den  beiden  flexionsarten,  die  wir  bisher  erörtert  haben, 
tritt  dem  kleinen  schüler  auch  die  comparation  entgegen,  und  er 
lernt,  dasz  die  adjective  nicht  nur  decliniert,  sondern  auch  ge- 
steigert werden,  während  bei  den  adverbien  nur  die  Steigerung 
vorkommt,  diese  zwei  wortgruppen  sind  so  nahe  mit  einander  ver- 
wandt, dasz  wir  ihre  besprechung  im  folgenden  verbinden  wollen, 
um  so  auffallender  erscheint  es,  dasz  sieh  die  lehrbücher  diesen  vor- 
teil in  der  regel  entgehen  lassen,  indem  sie  die  eigenschaftswörter 
und  ihre  Steigerung  der  sexta,  die  adverbien  und  ihre  comparation 
dagegen  erst  der  quinta  zuweisen,  uns  will  es  gut  dünken  und  wir 
möchten  vorschlagen,  die  comparation  beider  Wortarten  im  lehr- 
buch  für  sexta  in  der  weise  zusammenzufassen,  dasz  sie  etwa 
hinter  demactiv  der  ersten  conjugation  eingefügt  würde"*': 

rectus,  rectior,  -ius,  rectissimus, 

recte,  rectius,  rectissime; 

pulcher,  pulchrior,  -ius,  pulcherrimus, 

pulchre,  pulchrius,  pulcherrime; 

fortis,  fortior,  -ius,  fortissimus, 

fortiter,  fortius,  fortissime; 

bonus,  melior,  -ius,  optimus, 

bene,  melius,  optime; 

usw.  usw. 
Diejenigen  unserer  leser,  die  der  obigen  erörterung  zustimmen, 
werden  uns  vielleicht  auch  im  folgenden  ihr  geneigtes  ohr  schenken, 
wir  lassen,  um  die  sextanerschar  in  den  unterschied  zwi- 
schen adjectiv  und  adverb  einzuführen,  zuerst  den  kleinsten 
schüler  der  classe  mit  möglichst  groszen  und  gleich  darauf  den 
grösten  schüler  mit  kleinen  buchstaben  irgend  etwas  an  die  tafel 
schreiben,  damit  zeigen  wir  handgreiflich,  dasz  ein  kleiner  knabe 
grosz,  ein  groszer  klein  schreiben  kann,  und  die  jugendlichen  Zu- 
schauer merken  alsbald,  ob  *grosz'  und  'klein'  zum  Substantiv  oder 
zum  verbum  gehören,  und  gewöhnen  sich  an  diesem  wie  weiterhin 
an  andern  beispielen,  die  fraglichen  wortclassen  von  einander  zu 


*'  nebenbei  bemerken  wir,  dasz  es  auszerdem  wünschenswert  er- 
scheint, noch  vor  der  comparation  die  zwei  pronomina  hie  und  ille  zu 
behandeln,  die  zum  vergleich  wie  geschaffen  sind.  vgl.  übrigens 
unten. 


E.  Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta.     475 

trennen,  es  ist  klar,  dasz  sich  dieser  process  vom  deutschen  aufs 
lateinische  übertragen  läszt,  nachdem  die  schüler  darüber  belehrt 
sind,  dasz  die  von  adjectiven  der  ersten  und  zweiten  declination  ab- 
geleiteten adverbien  auf -e,  die  von  solchen  der  dritten  declination 
auf  -ter  gebildet  werden,  die  comparative  und  Superlative  folgen 
natürlich  denselben  gesetzen. 

Aus  zwei  gründen  aber  erscheint  es  uns  notwendig,  dasz  bereits 
in  der  untersten  classe  des  gymnasiums  dieser  unterschied  gelehrt 
wird,  denn  zunächst  macht  man  das  construieren,  das  ja  gerade  auf 
der  sexta  geübt  werden  soll,  manigfaltiger,  und  auszerdera  kann 
man  die  deutsche  grammatik  in  nähere  beziehung  zum  lateinischen 
Unterricht  bringen,  wir  verweisen  hierfür  auf  den  abschnitt  über 
das  construieren,  wo  wir  beide  umstände  näher  beleuchten. 


4.  Die   pronomin a. 

Aus  der  zahl  der  pronomina  wollen  wir  nur  drei  hervor- 
heben, weil  eben  diese  den  schülern  für  das  übersetzen  ins  deutsche 
Schwierigkeiten  machen ,  und  weil  ihre  unrichtige  anwendung  ganz 
besonders  geeignet  ist,  den  stil  der  muttersprache  zu  verderben, 
wir  meinen  is,  idem  und  ille.  auch  hier  unterscheiden  wir  zwi- 
schen dem  formelhaften  ausdruck  und  der  sinnmäszigen  Über- 
tragung, und  indem  wir  mit  den  beiden  erstgenannten  fürwörtern 
beginnen,  halten  wir  uns  an  die  formein  is  =  'derselbe'  und  idem 
=  'der  nämliche',  schlieszen  wir  bei  is  die  zweite  grundbedeutung 
'derjenige'  als  für  unsern  zweck  unwesentlich  ganz  aus,  dann  bleiben 
als  häufig  vorkommende  nebenbedeutungen  zu  'derselbe'  die  wört- 
chen 'er'  und  'dieser',  während  idem  auszer  'der  nämliche'  auch 
heiszen  kann:  'derselbe',  'der  gleiche',  'einer  und  derselbe'. 

Wenn  die  schüler  gerade  statt  'er'  häufig  'derselbe'  sagen, 
so  erklärt  sich  dies  leicht  aus  dem  lateinischen,  denn  der  nominativ 
'er'  fehlt  in  dieser  spräche,  und  wenn  nun  einmal  ausdrucksvoll  ein 
anknüpfender  satz  mit  'is  vero'  u.  ä.  anfängt,  dann  beachten  die 
knaben  nicht,  dasz  sie  hier  sagen  können:  'der  aber',  'dieser  aber' 
oder  'er  aber',  sondern  übersetzen  undeutsch  'derselbe  aber',  ähn- 
lich verhält  sich  die  sache  mit  dem  genetiv  eins,  der  dazu  verleitet, 
z.  b.  puer  modestus  est,  modestia  eins  magna  est  wiederzugeben 
mit:  'der  knabe  ist  bescheiden,  die  bescheidenheit  desselben  ist 
grosz' ,  anstatt  dasz  diese  Übersetzung  nur  die  brücke  dazu  schlüge, 
dasz  die  schüler  nun  durch  eigne  geisteskraft  weitergehen  und 
sagen:  'seine  bescheidenheit  ist  grosz'.  wir  wollen  ja  einräumen, 
dasz  sogar  bedeutende  Schriftsteller  der  neueren  litteratur  —  des 
beispiels  halber  sei  Konrad  Ferdinand  Meyer  erwähnt  —  diesen  ge- 
brauch von  'derselbe*  in  ihren  werken  haben,  doch  glauben  wir 
nicht,  dasz  dies  gerade  förderung  verdient,  sei  dem  aber,  wie 
ihm  wolle,  die  Umgangssprache  verhält  sich  jedenfalls  ablehnend 
dagegen,  und  schon  aus  diesem  gründe  sollte  man  die  schüler  davor 

31* 


476     E.  Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta. 

warnen,  darum  ist  auch  Cauer''®  im  recht,  wenn  er  gegen  die 
allzu  häufige  anwendung  dieses  Sprachgebrauchs  bei  den  schillern 
mittlerer  classen  redet,  den  er  aus  dem  ^sorglosen  gebrauch  von 
suus  und  sibi'  herleitet,  wir  aber  möchten  auch  dem  pronomen  is 
einen  teil  dieser  schuld  beimessen  und  glauben  im  übrigen,  dasz 
man  schon  sextaner,  nötigenfalls  mittels  des  'baues  von  brücken', 
wie  oben  angedeutet,  zu  einer  richtigen  Übersetzung  anleiten  kann. 

Mit  wenigen  werten  schlieszen  wir  das  aus  is  verstärkte  fiir- 
wort  idem  an.  als  formelhafte  Übersetzung  schlugen  wir  vorhin 
'der  nämliche'  vor;  grammatiken  und  lehrbücher,  so  weit  wir  sie 
kennen,  sagen  dafür  'ebenderselbe',  dem  neuerdings  auch  noch  die 
bedeutung  'der  nämliche'  hinzugefügt  wird,  es  herscht  also  hier 
schon  das  gefühl  vor,  dasz  'ebenderselbe'  eigentlich  gar  kein 
deutsches  wort  ist,  und  dasz  es  die  grammatiker  erfunden  haben, 
um  ein  gegenbild  zu  is  'derselbe'  zu  erhalten,  wir  haben  diesem 
wort  in  der  deutschen  litteratur  zwar  nicht  nachgespürt,  aber  es  ist 
uns  doch  einmal  zufällig  begegnet,  und  zwar  bei  Herder,  ideen 
zur  Philosophie  der  geschichte  der  menschheit  1,  6:  'aus  einem  und 
ebendemselben  principium',  und  man  beachte,  dasz  auch  hier  'einem' 
vorausgeht,  und  dasz  wir  nach  unserem  heutigen  Sprachgebrauch 
sagen  würden:  'aus  einem  und  demselben  principium'. ^^  und  bei 
Lessing,  Emilia  Galotti,  erster  aufzug,  sechster  auftritt,  wo  man 
das  fragliche  pronomen  erwarten  könnte,  heiszt  es  nicht  'eben- 
dieselbe', sondern  viermal  hintereinander  läszt  der  dichter  den 
gleisznerischen  Marinelli  das  schwerwiegende  'eben  die'  wieder- 
holen, streichen  wir  also  dieses  Wortungetüm  ganz  aus  den  lehr- 
büchern  und  lassen  wir  die  schüler  der  unteren  classen  bereits 
übersetzen:  eadem  via  auf  dem  nämlichen  wege,  eodem  anno  in 
demselben  oder  in  einem  und  demselben'jabre  und  eodem  tempore 
zu  gleicher  zeit. 

Nun  noch  einige  worte  über  das  hinweisende  fürwort  ille.  mit 
der  formelhaften  grundbedeutung  'jener'  wird  der  schüler  sparsam 
umgehen,  denn  sie  bezieht  sich  im  deutschen  doch  entweder  auf 
ferner  liegende  Wörter,  oder  'jener'  steht  parallel  mit  dem  voran- 
gegangenen 'dieser',  einen  hübschen  gebrauch  von  der  ursprüng- 
lichen bedeutung  aber  wird  der  quintaner  vielleicht  in  einem  zu- 
sammenhängenden lesestück  machen  können,  in  dem  von  den 
berühmten  Senatoren  die  rede  ist,  die  bei  der  eroberung  Roms  durch 
die  Gallier  auf  offener  strasze  sitzen  blieben  und  sich  niedermetzeln 
lieszen,  um  den  Untergang  ihrer  Vaterstadt  nicht  zu  überleben, 
denn  wenn  es  darin  etwa  heiszt:  senes  in  urbe  remanserunt,  und  im 
weiteren  verlauf  der  erzählung  folgt:  illi  senes  in  foro  sedebant, 
so   bezieht    sich   illi  senes  nachdrucksvoll  auf  die  kurz  vorher  ge- 

48  s.  beft  9  s.  440. 

4ä  bemerkenswert  ist  aucb,  dasz  im  deutschen  Wörterbuch 
der  gebrüder  Grimm  'ebenderselbe'  gar  nicht  vorkommt,  wohl 
aber,  jedoch  ohne  belegsteilen:  'ebender'  und  'ebendieser'. 


E.  Cornelius:  lateiuisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta.     477 

nannten  greise  und  läszt  sich  also  im  deutschen  am  besten  mit 
'jene  greise'  wiedergeben,  doch  schon  bei  ausdrücken  wie  11  lo 
tempore  oder  homo  illescelestus  werden  sich  die  schüler  aus 
dem  zusammenhange  entnehmen  müssen,  ob  sie  ille  mit  'jener'  oder 
mit  'dieser'  zu  übersetzen  Laben,  und  vollends  die  worte:  Brutus 
filios  suoö  lictoribus  tradidit,  ut  illos  securi  percuterent,  atque  illi 
proditores  necaverunt,  werden  sie  nicht  umhin  können,  folgender- 
maszen  zu  verdeutschen:  'Brutus  übergab  seine  söhne  den  liktoren, 
um  sie  mit  dem  bell  hinzurichten,  und  diese  töteten  die  Verräter.' 
schlieszlich  sei  noch  darauf  hingewiesen,  dasz  die  schüler  die  worte : 
modo  hi,  modo  illi  victores  fuerunt  nicht  blosz  zu  übersetzen 
brauchen:  'bald  diese,  bald  jene  waren  sieger',  sondern  auch  so: 
'bald  die  einen,  bald  die  anderen  waren  sieger.'  und  warum 
sollte  man  nicht  schon  den  kleinen  anfängern  die  freiheit  gewähren, 
fremd  gedachtes  in  ihrer  muttersprache  auf  verschiedene  weise 
wiederzugeben ;  denn  dadurch  wird  doch  wohl  frühzeitig  das  selb- 
ständige denken  angeregt,  dasz  man  die  knaben  davor  hütet,  den 
geist  in  spanische  stiefel  einzuspannen,  dies  würde  aber  geschehen, 
wenn  man  sie  zwänge,  Übersetzungen,  die  in  einer  lehrstunde  fest- 
gelegt sind,  in  der  folgenden  wörtlich  zu  wiederholen,  und  davor 
möchten  wir  nicht  blosz  die  vorgerückteren,  sondern  schon  die  an- 
fänger  bewahren. 

Wir  beendigen  diesen  abschnitt  mit  dem  hinweis  darauf,  dasz 
wir  der  Verwendung  des  pronomens  ille  in  Verbindung  mit  der 
apposition  im  folgenden  noch  einmal  gedenken  wollen. 

5.  Die  conjunctionen. 
Es  sei  uns  gestattet,  noch  einen  kurzen  blick  auf  die  conjunc- 
tionen zu  werfen,  wir  beginnen  mit  dem  wörtchen  et.  durch 
grammatiken  und  lehrbücher  zieht  sich  die  angäbe,  et  —  et  heisze 
auf  deutsch:  'sowohl  —  als  auch',  und  in  der  regel  lernt  der  Sex- 
taner sehr  bald  diese  schleppende  construction  kennen,  damit  sie 
ihm  ja  nicht  vorenthalten  werde,  natürlich  wird  er  seine  neu  er- 
worbene kenntnis  gleich  anwenden  und  den  satz:  dux  laudat  forti- 
tudinem  et  peditum  et  equitum  folgendermaszen  wiedergeben :  'der 
feldherr  lobt  die  tapferkeit  sowohl  der  fusztruppen  als  auch  der 
reifer',  anstatt  einfach  zu  übersetzen:  'der  feldherr  lobt  die  tapfer- 
keit der  fusztruppen  und  der  reiter.'  wäre  es  da  nicht  besser,  dem 
schüler  zu  sagen,  wenn  zweimal  et  vorkäme,  solle  er  das  eine  davon 
ganz  unübersetzt  lassen?  und  wenn  es  ein  andermal  heiszt  scutum, 
hasta,  gladius  oder  scutum  et  hasta  et  gladius,  musz  er  sich  ja  doch 
die  Übersetzungsregel  abnehmen,  dasz  man  im  lateinischen  entweder 
alle  glieder  der  aufzählung  mit  et  verbindet  oder  et  ganz  wegläszt, 
während  man  im  deutschen  nur  zwischen  die  beiden  letzten  glieder 
das  wörtchen  'und'  einschiebt,  wenn  man  aber  durchaus  dem 
schüler  die  constrwction  mit  'sowohl  —  als  auch'  vorführen  will,  so 
mag  man  ihm  erklären,  dasz  diese  conjunctionen  gewöhnlich  nur 


478     E.  Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  qainta. 

Sätze  verbinden  oder,  zwischen  einzelne  Wörter  gesetzt,  einen  beson- 
deren nachdruck  hervorrufen  wollen. 

Das  gegenteil  von  et  ist  neque,  und  es  ist  bekannt,  dasz  man 
neque  ebenso,  wie  nisi  und  ne,  im  deutschen  in  zwei  Wörter  aus- 
einanderlegt, die  dann  durch  Zwischenglieder  von  einander  getrennt 
bleiben,  wir  sind  überzeugt  davon,  dasz  man  schon  die  sextaner 
daran  gewöhnen  kann,  z.  b.  in  dem  satze:  'frumentum  frustra 
exspectatur,  nisi  agri  arantur  gleich  richtig  deutsch  zu  übersetzen  : 
'das  getreide  wird  vergebens  erwartet,  wenn  die  äcker  nicht  ge- 
pflügt werden.'  es  kommt  eben  nur  darauf  an,  dasz  die  schüler 
beim  übersetzen  jedesmal  auf  diesen  umstand  achten,  und  die  klage, 
die  Cauer^"  gegen  tertianer  und  secundaner  erhebt,  dasz  sie  oube 
und  neque  nur  'mit  mühe'  richtig  übersetzten,  wird,  wie  uns  scheint, 
dann  allmählich  aufhören. 

6,  Bedeutung  der  Wörter. 
Bevor  wir  zum  folgenden  abschnitt  übergehen,  der  die  behand- 
lung  der  sätze  bringt,  wollen  wir  die  formenlehre  mit  einer  erörte- 
rung  über  die  bedeutung  der  Wörter  beschlieszen.  drei  leit- 
sätze,  die  wir  dem  eindringen  in  die  einzelheiten  vorausschicken, 
mögen  dem  leser  unsere  absieht  kundgeben,  erstlich  kläre  man  den 
sextaner  schon  frühzeitig  darüber  auf,  dasz  jedes  lateinische  und 
jedes  deutsche  wort  nicht  blosz  die  eine  oder  zwei  bedeutungen  hat, 
die  ihm  sein  lehrbuch  gerade  vorschreibt,  vielmehr  belehre  man  ihn, 
dasz  es  ein  dickes  Wörterbuch,  auch  lexikon  genannt,  gibt,  worin 
manchmal  über  ein  einziges  wort  vier  bis  fünf  druckseiten  ge- 
schrieben stehen,  die  auswendig  gelernten  vocabeln^'  selbst  aber, 
wie  wir  zweitens  bemerken  wollen,  frage  man  zunächst  einmal  ab, 
überlege  sich  aber  gleichzeitig,  ob  es  nicht  im  gegebenen  fall  die 
umstände  erheischen,  entweder  sachlich  oder  formell  noch  eine  er- 
klärung  daran  anzuknüpfen,  um  aber  drittens  eine  natürliche 
deutsche  Übersetzung^^  zu  erzielen,  lasse  man  den  knaben  in  zweifel- 

^"  Cauer  a.  a.  o.,  s.  87:  ebenso  wenig  sollen  wir  die  negation,  die 
in  neqne  und  o\)b^  steckt,  gewaltsam  an  der  spitze  des  satzes  fest- 
halten, die  Schüler  haben  gerade  hierfür,  so  weit  meine  orfahrung 
reicht,  eine  wahre  leidenschaft  und  übersetzen  i  64  (o06'  dpa  |lioi 
TTpoT^puj  ktX.)  'doch  nicht  fuhren  mir  die  doppelt  geschweiften  schiffe 
weiter',  oder  Sallust,  Catil.  26,  2  (neque  illi  tarnen  ad  cavendum  dolus 
aut  astutiae  deerant):  'auch  nicht  jenem  jedoch  fehlten  .  .  .'  ofifenbar 
meinen  sie,  weil  ovbi  in  der  regel  und  neque  immer  ein  wort  bildet, 
so  müßten  'und  nicht'  oder  'aber  nicht'  auch  im  deutschen  %'ereinigt 
bleiben,  mit  mühe  macht  man  ihnen  klar,  dasz  die  negation  nur 
formell  von  der  satzverbindenden  partikel  bi  oder  que  angezogen  wor- 
den ist,  also  durch  die  Stellung  am  anfange  gar  nicht  hervorgehoben 
werden  soll. 

*'  diese  lernt  der  schüler,  wie  auch  die  lehrpläne  s.  18  betonen, 
am  besten  nicht  als  solche,  sondern  aus  dem  zusammenhange  des 
Satzes  auswendig. 

52  die  betonnng  gerade  dieses  umstandes  halten  wir  nicht  für  über- 
flüssig,   wenn    wir  bemerken,    wie    Cauer,    die   kunst   des   Übersetzens, 


E.  Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  sesta  und  quinta.     479 

haften  fällen  jedesmal  darüber  nachdenken,  ob  er,  nachdem  zuerst 
die  wörtliche  Übertragung  geschehen  ist,  bei  der  Wortbedeutung 
stehen  bleiben  darf,  die  ihm  sein  lehrbuch  vorschreibt,  oder  ob  er 
aus  seinem  eignen  verstand  heraus  nach  einer  andern,  freieren 
wiedergäbe  des  ausdrucks  suchen  musz. 

Es  kann  uns  nicht  darauf  ankommen,  den  vorliegenden  gegen- 
ständ zu  erschöpfen,  und  wir  wollen  nur,  so  weit  es  der  räum  ge- 
stattet, einzelne  beispiele,  wie  sie  uns  gerade  aufgefallen  sind,  vor- 
führen, wobei  wir  zuerst  von  Substantiven  und  adjectiven 
und  dann  von  Zeitwörtern  reden. 

Schon  bei  gelegenheit  der  ersten  declination  wird  es  den 
kleinen  sextanern  freude  bereiten,  beim  wort  agricola  einmal  von 
der  vorgedruckten  bedeutung  'landmann'  abzugehen  und  dafür  das 
ihnen  geläufigere  'bauer'  einzusetzen,  so  dasz  sie  alsdann  etwa  den 
satz:  Agricola  cum  filio  in  urbe  erat  in  der  fassung  wiedergeben: 
der  bauer  war  mit  seinem  söhne  in  der  stadt."  auch  der  hin  weis 
darauf,  dasz  die  zwei  Wörter  fabula  und  historia  im  deutschen  mit 
demselben  ausdruck  'geschichte'  übersetzt  werden  können,  ist  ge- 
eignet, schon  auf  anfänger  geistig  anregend  zu  wirken,  denn  sie 
machen  leicht  die  Wahrnehmung,  dasz  zwischen  der  'geschichte', 
d.  h.  dem  märchen  vom  Dornröschen,  und  der  'geschichte',  die  von 
den  thaten  unserer  vorfahren  redet,  ein  groszer  unterschied  obwaltet. 

Auf  die  dritte  declination  verschieben  sich  sodann  aller- 
hand betrachtungen,  von  denen  wir  hauptsächlich  solche  hervorheben 
wollen,  die  uns  in  den  lehrbüchern  aufgefallen  sind,  greifen  wir  die 
beispiele  auf,  wie  sie  uns  gerade  in  den  wurf  kommen!  so  heiszt 
mulier  nicht  blosz  Veib'  und  uxor  nicht  ausschlieszlich  'gattin', 
sondern  unser  wort  'frau'  hat  eine  bedeutung,  die  beide  begriffe  zu- 
gleich umfaszt,  je  nachdem  ich  auf  meinem  wege  einer  mir  sonst  un- 
bekannten 'frau'  begegnete  oder  mit  'meiner  frau'  spazieren  gieng. 
nach  dieser  auseinandersetzung  können  die  knaben  z.  b.  den  satz: 
agricola  cum  uxore  sua  ambulat  übersetzen:  'der  landmann  geht 
mit  seiner  frau  spazieren',  und  uxor  agricolae  est  mulier  magna 
figura:  'die  gattin  des  landmanns  ist  eine  frau  von  groszer  gestalt.' 


s.  11  in  dieser  heft  9  s.  431  anm.  27  bereits  vorgeführten  stelle  weiter 
fortfährt:  die  schüler  sträuben  sich  erst  etwas,  wenn  ihnen 
zwischen  den  ernsten  wänilen  der  classe  solche  Wendungen  zugemutet 
werden;  aber  bald  merken  sie  doch  mit  vergnügen,  wie  ihnen  dadurch 
der  Stoff,  mit  dem  sie  sich  beschäftigen,  näher  kommt  und  faszbarer 
wird.  Herodot  VI  38  erzählt:  Käi  CriicaYÖpea  KaxeXaße  ÖTToGaveTv 
änaiba,  T:\r\jivxa  ty\v  KecpaXnv  ireXeKei  ev  xuj  irpuTavriiuj  irpöc  dvbpöc 
av)TO|Liö\ou  kt\.  mein  obersecundaner  übersetzte:  'indem  ihm  einer 
mit  dem  beil  den  köpf  spaltete';  aufgefordert,  wörtlich  zu  übersetzen, 
sagte  er  treu  grammatikalisch:  ^geschlagen  in  bezug  auf  den  köpf.' 
das  natürliche  'auf  den  köpf  geschlagen',  das  nun  statt  dessen  ein- 
gesetzt wurde,  machte  ihn  verlegen  lächeln:  er  scheute  sich, 
einen  ausdruck  zu  gebrauchen,  der  im  täglichen  leben  vorkommen 
könnte. 

"  s.  auch  heft  9  s.  432. 


480     E.  Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta. 

für  das  wort  'frau'  weisen  nun  die  lebrbücher  oft  schon  gleich  im 
anfang  auch  noch  die  bedeutung  femina  auf.  wenn  man  aber  davon 
ausgeht,  in  die  Übungsbücher  nur  solche  lateinische  Wörter  auf- 
zunehmen, die  in  der  classischen  Überlieferung  häufig  vorkommen, 
dann  möchte  man  dieses  wort  am  liebsten  vermissen,  denn  während 
es  Caesar  in  seinem  Gallischen  krieg  fast  ganz  vermeidet^*  und 
mulier'^*  dafür  einsetzt,  gebraucht  Cicero  in  seinen  reden,  worin 
mulier  sich  bedeutend  häufiger  findet"^,  femina  gewissermaszen  in 
dem  verklärten  sinne  'weibliches  wesen'."  warum  führt  man  also 
den  Sextanern  gleich  von  vorn  herein  diese  unlateinische  Wortbedeu- 
tung vor,  nur  um,  wie  uns  scheinen  will,  bei  gelegenheit  der  ersten 
declination  ein  wort  für  'frau'  zu  haben? 

Noch  andere  unlateinische  ausdrücke  bieten  die  lehrbücher 
zuweilen  den  schülern  dar,  denn  wenn  man  z.  b.  den  satz  liest: 
modestia  pueros  et  iuvenes  ornat,  dann  können  doch  hier  unmög- 
lich iuvenes,  d.  h.  männer  von  30  bis  45  jähren,  gemeint  sein,  son- 
dern man  erwartet  den  ausdruck  adulescentes,  also  Jünglinge 
von  18  bis  zu  30  jähren,  bei  derartigen  Wörtern  aber  ist  der  lehrer 
versucht,  seinen  sextanern  die  verschiedenen  lebensalter  der  menschen 
vorzuführen,  und  wenn  er  dies  thut,  dann  müssen  Verwechselungen 
wie  die  obigen  nur  Verwirrung  anrichten,  auch  der  häufige  gebrauch 
von  oppidum  statt  urbs  erscheint  uns  stilverderbend,  wiederum 
geschieht  dies,  wie  uns  scheint,  nur  der  zweiten  declination  zu  liebe  ; 
denn  da  der  Verfasser  des  lehrbuchs  das  wort  urbs  nicht  gebrauchen 
kann,  führt  er  den  anfängern,  damit  sich  der  verkehrte  Sprach- 
gebrauch von  vorn  herein  festsetzt,  den  ganz  unlateinischen  satz 
vor:  Roma  est  oppidum.  warum  wartet  er  nicht  bis  zur  dritten 
declination ,  um  die  knaben  alsdann  zu  belehren ,  dasz  Roma  eine 
urbs,  aber  keineswegs  ein  oppidum  ist?  auszerdem  halten  manche 
Übungsbücher  die  begriffe  imperator  und  dux  insofern  nicht 
völlig  auseinander,  als  sie  für  das  erstere  wort  'feldherr'  und  für 


^*  an  den  zwei  einzigen  stellen,  wo  femina  l)ei  Caes.  bell.  Gall. 
vorkommt,  bedeutet  es  das  weihliche  (femina)  im  gegensatz  zum  männ- 
lichen (mas):  6,  21  intra  annum  vero  vicesimum  feminae  notitiam 
habuisse  in  tuipissimis  hahent  rebus,  und  6,  26:  eadem  est  feminae 
marisque  natuia,  eadem   forma  magnitudoque  cornuum. 

5^  Caes.  bell.  Gall.  I  29.  51;  II  13.  16.  28;  IV  14;  VII  28.  47. 

^^  vgl.  Merguets  lexikon  der  reden  Ciceros. 

"  so  steht,  um  nur  einzelne  beispiele  hervorzuheben,  femina  iu 
gutem  sinne  Cic.  Phil.  II  99:  probri  insimulasti  pudicissimam  feminam; 
Mil.  72:  cuius  nefandum  adulterium  in  pulvinaribus  sanctissiniis  nobi- 
lissimae  feminae  comprehenderunt;  Catil.  IV  13  cum  sororis  suae, 
feminae  lectissimae,  virum  praesentem  et  audientem  vita  privandum 
dixit,  und  in  schlechtem  sinne  Verr.  IV  102  (eine  stelle,  die  zugleich 
für  den  unterschied  zwischen  mulier  und  femina  bezeichnend  ist):  at 
ex  bono  viro,  credo,  audieras  et  bono  auctore.  qui  id  potes,  qui  ne 
ex  viro  quidem  audire  potueris?  audisti  igitur  ex  ra ulier e,  quoniam 
id  viri  nee  vidisse  neque  nosse  poterant.  qualem  porro  illam  feminam 
fuisse  putatis,  iudices?    quam  pudicam,  quae  cum  Verre  loqueretur  usw. 


E.  Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta,     481 

das  letztere  'anführet'  vorschreiben,  nun  ist  bekanntlich  imperator 
der  'Oberbefehlshaber*,  der  das  imperium  über  seine  Soldaten  aus- 
übt'^  unser  'feldherr'  aber  wird  mit  dem  lateinischen  ausdruck 
dux  bezeichnet.'^  der  schüler  also,  der  als  sextaner  imperator  in 
der  grundbedeutung  'feldherr'  gelernt  hat,  wird  sich  so  daran  ge- 
wöhnen, dasz  er  in  den  mittleren  classen  dieses  wort  unlateinisch 
auch  dann  mit  imperator  wiedergibt,  wenn,  modern  ausgedrückt, 
nicht  vom  general,  sondern  etwa  vom  hauptmann  die  rede  ist. 

In  kürze  seien  noch  ein  paar  substantivische  und  adjectivische 
ausdrücke  aus  den  lehrbüchern  erwähnt,  die  den  kleinen  schüler  zu 
unnatürlichem  oder  misverstandenem  deutsch  verleiten  könnten, 
so  liest  man:  justitia  est  laus  magna  iudicum,  was  der  sextaner 
nach  der  angegebenen  grundbedeutung  'lob'  übersetzen  wird :  'die 
gerechtigkeit  ist  ein  groszes  lob  der  richter',  während  man  hier 
doch  besser  sagen  würde :  'ein  groszer  rühm  der  richter.'  wir  ge- 
brauchen eben  in  unserer  muttersprache  das  wort  'rühm'  in  zwei- 
facher bedeutung,  entweder  in  dem  abgeschwächten  sinne  des  latei- 
nischen laus,  oder  dem  stärkeren  ausdrucke  gloria  entsprechend, 
dadurch  kommt  aber  das  wort  laus  zu  der  doppelten  bedeutung,  die 
schon  einem  zehnjährigen  knaben  klar  gemacht  werden  kann,  etwas 
gesucht  scheint  es  uns  zu  sein,  wenn  es  z.  b.  heiszt:  'die  treffen 
der  Römer  und  Karthager  sind  oft  heftig  gewesen',  und  wir 
glauben,  dasz  es  der  kindlichen  vorstellungsweise  und  vielleicht 
auch  der  deutschen  spräche  angemessener  wäre,  wenn  statt  dessen 
gesetzt  würde:  'die  gefechte  der  Römer  und  Karthager  sind  oft 
hitzig  gewesen,  ferner:  homines  probi  heiszt  doch  nicht  etwa 
'rechtschaffene  menschen',  sondern  'brave  leute'.  noch 
eins:  der  bekannte  unterschied  zwischen  homo  und  vir  läszt  sich 
leicht  schon  dem  sextaner  zeigen,  und  er  wird  alsdann  vir  fortis 
im  deutschen  wiedergeben  mit:  'der  tapfere  held'  oder  auch  ein- 
fach mit:  'der  held '. 

Schlieszlich  seien  noch  die  zwei  Substantive  animus  und  res 
hier  erwähnt,  beide  haben,  wie  jedermann  weisz,  eine  unzahl  von 
deutschen  bedeutungen,  und  mit  dem  hinweis  auf  das  dickleibige 
lexikon  mag  den  kleinen  schon  ein  licht  darüber  aufgehen,  dasz 
man,  um  in  kindlichem  sinne  zu  reden,  die  genannten  Substantive 
mit  dem  namen  'allerweltsvvörter'  bezeichnen  kann,  dasz  also 
animus  nicht  allein  'das  gemüt',  'die  seele'  heiszt,  sondern  je  nach 


5"^  vgl.  u.  fi.  auszer  Cic,  Mur.  §  30,  wo  der  bekannte  vergleich  zwi- 
schen einem  guten  imperator  (=  'Feldherr'  in  der  bedeutung  von  ''Ober- 
befehlshaber') und  einem  guten  orator  gezogen  wird,  noch  Cic.  Pis.  44: 
ecce,  duo  duces  in  provinciis  populi  Komani  habere  exercitus,  appel- 
lari  imperatores,  und  Caes.  bell.  Gall.  6,8:  praestate  eandem  nobis 
ducibus  virtutem,  quam  saepenumero  imperatori  praestitistis. 

^3  unter  anderm  kann  man  z.  b.  Cic.  Phil.  2,  37:  tu  hodie  egeres, 
nos  liberi  essemus;  res  publica  non  tot  duces  et  exercitus  amisisset, 
das  wort  duces  gar  nicht  anders  als  mit  ''feldherrcn'  (und  nicht  etwa 
mit  'anfuhrer')  übersetzen. 


482     E.  Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta. 

dem  zusammenhange  des  satzes  auch:  'geist',  'mut',  'herz'®"  u.  ä., 
ja,  dasz  es  etwa  in  dem  satze:  dux  animos  militum  confirmavit  ganz 
unübersetzt  bleibt,  dies  alles  können  doch  auch  anfänger  schon 
herausfinden,  ähnlich  verhält  es  sich  mit  dem  worte  res,  das  neben 
den  vorgedruckten  bedeutungen  'die  sache',  'das  ding'  noch  auf 
manigfaltige  weise  verdeutscht  wird,  z.  b.:  'die  angelegenheit',  *das 
Verhältnis'  u.  ä.  besonders  lehrreich  aber  wird  es  für  die  knaben 
sein  zu  erkennen,  dasz  res  publica  eigentlich  heiszt:  'die  öffentliche 
Sache',  was  dann  auf  die  bedeutung  'der  staat'^'  übergeht,  oder  sich 
von  res  secundae  (adversae)  'günstige  (ungünstige)  Verhältnisse' 
einen  weg  zu  bahnen  zu  den  ausdrücken  'glück'  und  'unglück'.  der 
vorgeschrittenere  quintaner  aber  sieht  unschwer  ein,  dasz  man  res 
zuweilen  gar  nicht  mit  einem  hauptworte  übersetzt;  er  wird  von 
qua  re  'durch  diese  sache'  übergehen  zu  'deshalb',  'deswegen', 
'darum',  und  von  nuntius  huius  rei  'die  künde  dieser  sache'  zu :  'die 
künde  hiervon',  das  betonen  solcher  Übertragungen,  insbesondere 
die  Zusammensetzung  des  deutschen  'hier'  und  'da'  mit  suffixen,  er- 
scheint uns  aber  aus  später  zu  erörternden  gründen  doppelt  notwendig. 
Indem  wir  zur  bedeutung  der  verba  übergehen,  wollen  wir 
zunächst  zwei  Zeitwörter  der  ersten  conjugation  zur  spräche 
bringen,  nämlich  bellare  und  necare.  auch  diese  werden  in  den 
lehrbüchern  nur  angewandt,  um  ein  wort  für  die  erste  conjugation 
zu  haben,  ähnlich  wie  wir  dies  für  die  substantivische  flexion  bezüg- 
lich femina  und  oppidum^-  festzustellen  suchten,  so  wird  bellare 
in  den  Wörterverzeichnissen  als:  'krieg  führen,  beki'iegen'  aufgeführt, 
und  es  ist  auch  nicht  zu  leugnen,  dasz  dieses  wort  in  den  besten 
reden  Ciceros"  vorkommt,  doch  ist  der  gebräuchlichere  ausdruck 
für  'krieg  führen'  bekanntlich  bellum  ge*-ei-e,  und  wir  sehen  nicht 
ein,  weshalb  man  den  schülern  zuerst  eine  seltene  wortform  vor- 
führt, zumal  da  gerade  der  erste  eindruck  im  gedächtnis  der  lernen- 
den besonders  fest  haftet,  etwas  anders  liegt  der  fall  bei  necare. 
dieses  verbum  wird,  so  viel  uns  bekannt  ist,  bei  Cicero'"  und 
Caesar*''  meistens   in  dem  sinne  von  'kalt  machen'  oder  'qualvoll 


^o  auch  z.  b.  den  unterschied  zwischen  cor  'herz',  d.  h.  dem  leben- 
bedingeuden  organ  in  des  menschen  brüst,  und  animus  'herz',  s,  V.  a. 
'mut',  begreifen  zehnjährige  knaben  leicht. 

•■1  der  Schüler  wird  auch  die  Wahrnehmung  machen,  dasz  bei  res 
publica  'der  staat'  mehr  die  sache,  bei  civitas  'der  Staat'  mehr  die 
personen  (die  bürger)  gemeint  sind. 

*>*  s.  oben  s.  480. 

«3  nach  Merguets  lexikon  der  reden  Ciceros  findet  sich  bellare  dort 
nur  an  sechs  stellen. 

**  man  vergleiche  unter  anderm  stellen  wie  Cic.  pro  Cluent.  52: 
hominis  in  uxoribus  necandis  exercitati.  pro  Deiot.  15  necare  hospitem. 
Verr.  5,61  veneno  necare.  pro  Pisone  43.  Regulus,  quem  Carthagi- 
nienses  necaverunt.  de  imp.  Pomp.  11  legatum  populi  Komani  omni 
supplicio  excruciatum  necavit. 

6*  bei  Caesar,  der  interficere  und  occidere  häufig  gebraucht,  kommt 
necare    nur    selten    vor,    und   zwar  in   der   obigen   bedeutung,    so  bell. 


E.  Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta.     483 

töten'  gebraucht,  während  für  das  töten  im  kämpf  der  ausdruck 
occidere  gebraucht  wird,  die  lehrbücher  aber  bieten  neben  der  rich- 
tigen Verwendung  dieses  verbums  den  schillern  auch  sätze  dar,  wie: 
in  his  proeliis  maximus  numerus  Persarum  necatus  vel  vulneratus 
est,  oder:  Critias  contra  Thrasjbulum  pugnans  in  proelio  necatus 
est.  wenn  es  also  auch  für  den  Verfasser  eines  lehrbuchs  schwierig 
sein  mag,  die  der  römischen  kriegssprache  angepaszten  ausdrücke 
'bekriegen'  und  'im  kämpfe  töten'  bis  zur  dritten  conjugation  zurück- 
zuhalten, dann  wird  er  sich  doch  wohl  um  des  guten  stiles  willen 
diesen  zwang  anthun  müssen,  in  anknüpfung  hieran  sei  noch  er- 
wähnt, dasz  manche  lehrbücher  —  wiederum  bei  gelegenheit  der 
ersten  conjugation  —  für  'tadeln'  das  weniger  gebräuchliche,  in 
engerem  sinne  auf  einen  besonders  scharfen  tadel  hinweisende 
vituperare  statt  des  gewöhnlichen  und  allgemeineren  repre- 
hendere  vorschreiben,  das  letztgenannte  zeitwort  aber  bezeichnet 
noch  insbesondere  einen  gelinderen  tadel ®^;  trotzdem  scheuen 
sich  die  lehrbücher  nicht,  auch  hierfür  vituperare  einzusetzen,  diese 
verfrühte  anwendung  von  vituperare  veranlaszt,  wie  uns  scheint, 
die  Schüler  später  dazu,  diesem  verbum  in  vielen  fällen,  wo  dies  un- 
thunlich  ist,  den  vorzug  vor  dem  richtigeren  reprehendere  zu  geben. 
Wir  streifen ,  um  auf  einen  andern  punkt  überzugehen ,  hier 
den  umstand,  dasz  man  den  schülern  das  verbum  facere  ganz  ähn- 
lich als  'allerweltswort'  vorführen  kann,  wie  wir  dies  oben"  für  die 
Substantive  res  und  animus  angedeutet  haben,  nur  darauf  wollen 
wir  bei  dieser  gelegenheit  hinweisen,  dasz  die  composita  von  facere 
ebenso,  wie  die  vieler  anderer  verba,  z.  b.  ferre,  dare,  capere  usw. 
geeignet  sind,  die  quintaner  zu  der  zeit,  da  sie  die  vielen  Stamm- 
formen lernen,  in  die  bedeutung  der  verba  einzuführen,  es  ist  doch 
sicherlich  eine  gute  geistige  Übung,  die  wohl  jeder  lehi'er  gelegent- 
lich anstellt,  wenn  die  schüler  etwa  bei  den  composita  von  facere 
nicht  blosz  auf  die  grundbedeutung  der  betreffenden  verba,  sondern 

G<all.  1,  53  utruQi  igni  statim  necaretur  an  in  aliud  tempus  reserva- 
retur.  7,  4  nam  maiore  commisso  delicto  igne  atque  omnibus  tor- 
mentis  necat.  3,  16  itaque  omni  senatu  necato  reiiquos  sub  Corona 
vendidit.  5,  6  id  esse  consilium  Caesaris,  ut,  quos  in  conspectu  Galliae 
interfieere   vereretur,    hos   omnes    in  Britanniam  traductos  necaret. 

ß^  dasz  reprehendere  das  wort  von  aligemeinerer  bedeutung  ist, 
eeht  doch  schon  aus  seinem  häufigeren  gebrauch  hervor  (vgl.  Merguets 
lexicou  der  reden  Ciceros);  für  den  unterschied  zwischen  dem  schärferen 
und  gelinderen  tadel  aber  vergleiche  man  unter  anderm:  Cic.  Phil.  II  11: 
haec  tu  homo  sapiens,  nou  solum  eloquens,  apud  eos,  quorum  consiiio 
sapientiaque  gesta  sunt,  ausus  es  vituperare?  quis  autem  meum 
consulatum  praeter  P.  Clodium,  qui  vituperaret,  inventus  est? 
Cic.  Flacc.  31 :  quod  si  Flacco  praetore  nemo  in  mari  praedo  fuisset, 
tarnen  huius  diligentia  re  prehendenda  non  est.  Caes.  bell.  Gall. 
VII  52:  postero  die  Caesar  contione  advocata  temeritatem  cupidi- 
tatemque  militum  reprehendit,  quod  sibi  ipsi  iudicavissent,  quo 
procedendum  aut  quid  agendum  videretur,  neque  signo  recipiendi  dato 
constitissent   neque    ab    tribunis   militum  legatisque  retineri  potuissent. 

"  s.  oben  s.  482. 


484     E.  Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta. 

auch  auf  die  Zusammensetzung  zurtickgehen.  sie  machen  sich  dann 
im  verlaufe  des  Unterrichts  durch  eignes  nachdenken  klar,  dasz  z.  b. 
deficere  =  wegmachen  je  nach  dem  Inhalt  des  satzes  heiszen 
kann:  'mangeln' oder :  'abfallen',  und  dasz  conficere 'zusammen- 
machen' so  viel  ist  als  'vollenden',  'verfertigen',  ferner  scheint  es 
uns  nicht  überflüssig,  die  schüler  betrachtungen  darüber  anstellen 
zu  lassen,  wie  conferre  'zusammen tragen' zur  bedeutung 'ver- 
gleichen' kommt,  was  eigentlich  bellum  inferre  heiszt,  obgleich 
man  es  im  deutschen  ganz  anders  wiedergibt,  und  wie  sich  bei 
efferre  'hinaustragen'  diese  grundbedeutung  zu  den  unter  sich 
so  verschiedenen  ausdrücken:  'zu  grabe  tragen',  'veröflPentlichen' 
und  'erheben'  (in  bildlichem  sinne)  entwickelt,  wir  könnten  in 
dieser  weise  noch  viele  beispiele  anführen,  wollen  uns  aber,  weil 
jeder  lehrer  sie  nach  willkür  vermehren  kann ,  nur  auf  folgende  be- 
schränken, offendere  und  defendere  stammen  bekanntlich  von 
dem  ungebräuchlichen  simplex  fendere  'stoszen':  'entgegen - 
stoszen',  oder  'von  sich  weg  stoszen'.  hierbei  ist  gelegenheit, 
die  knaben  an  den  unterschied  zwischen  der  gewaltsamen  kriegs- 
sprache  der  Eömer,  die  nur  das  'stoszen'  in  betracht  zieht,  und  der 
friedliebenden  deutschen  spräche  zu  erinnern,  die  bei  'beleidigen* 
nur  an  das  leid  denkt,  das  uns  zugefügt  wird,  und  bei  'ver- 
teidigen' an  den  an w alt,  der  vor  gericht  für  uns  spricht,*^  so 
wird  man  die  schüler  häufig  auf  die  Verschiedenheiten  der  antiken 
und  modernen  cultursprache  aufmerksam  machen,  und  wir  wollen 
hier  nur  noch  kurz  die  beiden  composita  von  sedeo,  nämlich  pos- 
sideo  und  obsideo  erwähnen,  während  der  Deutsche  nur  bei 
possideo  'mächtig  auf  etwas  sitzen',  d.  h.  es  'besitzen'  mit  dem 
Lateiner  übereinstimmt,  macht  er  das  obsideo  'gegen  etwas  sitzen* 
nicht  nach,  sondern  sagt,  indem  er  ein  anderes  bild  gebraucht:  'be- 
lagern.' 

Obgleich  sich  der  vorliegende  abschnitt  noch  viel  weiter  aus- 
dehnen liesze,  müssen  wir  doch  endlich  einen  schlusz  machen  und 
weisen  nur  noch  auf  einen  punkt  hin ,  der  uns  später  noch  zweimal 
beschäftigen  wird,  es  ist  dies  der  umstand,  dasz  die  deutsche  spräche 
die  construction  des  passivs  seltener  anwendet  als  die  lateinische. 
in  den  lehrbüchern  für  quinta  wird  ja  häufig  auf  den  unterschied 
zwischen  veho  'ich  fahre'  (transitiv)  und  vebor  'ich  fahre'  (intran- 
sitiv) aufmerksam  gemacht,  dasz  aber  ein  ähnliches  Verhältnis  zwi- 
schen perterreo  'ich  erschrecke'  (erschreckte,  erschreckt)  und  per- 
terreor  'ich  erschrecke'  (erschrak,  erschrocken)  obwaltet,  wird,  so 
viel  wir  sehen,  weniger  hervorgehoben,  und  doch  liegt  für  die 
schüler  die  gefahr  nahe,  etwa  den  satz:  'milites  adspectu  hostium 
valde  perterrili  sunt'  undeutsch  zu  übersetzen:  'die  Soldaten  wur- 
den durch  den  anblick  der  feinde  sehr  erschreckt',  statt  der 


68  vgl     Weifrand,    deutsches    Wörterbuch,     wo    'verteidigen'    von 
^Theiding'  =  tagedinc,  besprechung,  gericht,  abgeleitet  wird. 


E.  Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta,      485 

richtigen  fassung:  'die  Soldaten  erschraken  sehr  über  den  au- 
blick  der  feinde.'  wir  haben  hier  in  den  beiden  gleichlautenden 
deutschen  verben  einerseits  die  bewegung,  anderseits  die  ruhe  aus- 
gedrückt, und  so  ähnlich  verhält  es  sich,  wie  die  schüler  vielleicht 
herausfinden,  mit:  'setzen  —  sitzen'  (sedere  —  sidere),  'fallen  — 
fällen'  (cadere  —  caedere),  'ertränken  —  ertrinken'  und  wie  sie 
alle  heiszen  mögen. 

B.  Die  Satzlehre. 

1.    Die  satzconstructionen. 

Wir  verlassen  nunmehr  die  formenlehre,  um  das  gebiet  der 
Syntax  zu  betreten,  so  weit  diese  dem  quintaner  bereits  er- 
schlossen wird,  für  unsere  aufgäbe  handelt  es  sich  hierbei  um 
einige  satzconstructionen,  in  deren  gebrauch  die  beiden  cultur- 
sprachen  latein  und  deutsch  wesentlich  von  einander  abweichen, 
die  bekanntesten  lateinischen  rede  Wendungen  mögen  den  an- 
fang  machen,  den  schlusz  aber  vornehmlich  die  besprechung  des 
deutschen  activs. 

Schon  oben®^  lieszen  wir  die  kleinen  schüler  declinieren:  Hanni- 
bal,  imperator  Carthaginiensium ,  'der  karthagische  feldherr  Hanni- 
bal'.  dadurch  glaubten  wir  die  jungen  gymnasiasten  von  vorn  herein 
daran  gewöhnen  zu  können,  die  lateinisch  gedachte  apposition 
mit  einem  der  deutschen  denk  weise  angepassten  substantiv- 
attribut  wiederzugeben,  die  angedeutete  belehrung  scheint  uns 
aber  für  die  schüler  der  unteren  classen  um  so  notwendiger,  als  jene 
undeutsche  redeweise  noch  bei  Schülern  der  obertertia  immerwährend 
bekämpft  werden  musz.  will  nun  der  lehrer  der  quinta  seine  Zög- 
linge die  fragliche  Verwandlung  vornehmen  lassen ,  dann  arbeiten 
selbst  die  neuesten  Übungsbücher  dieser  bemühung  entgegen,  denn 
nachdem  der  knabe  im  lateinischen  stück  Aeneas ,  vir  pius  mit 
'der  tapfere  held  Aeneas'  und  Pausanias,  dux  Lacedaemoniorum  mit 
'der  lacedämonische  feldherr  Pausanias'  übersetzt  hat,  werden  ihm 
im  entsprechenden  deutschen  stück  Wendungen  zugemutet  wie 
'Mardonius,  ein  königlicher  Satrap ,  ist  von  Pausanias,  dem  führer 
der  Lacedämonier,  besiegt  worden',  statt  dasz  es  hiesze:  'der  könig- 
liche Satrap  Mardonius  ist  vom  lacedämonischen  feldherrn  Pausanias 
besiegt  worden.'  und  doch  handelt  es  sich  häufig,  wie  bei  Aeneas, 
vir  pius,  nur  um  die  Wortstellung,  von  da  ist  aber  nur  ein  kleiner 
schritt  zu  Pausanias,  dux  Lacedaemoniorum.  denn  schüler,  die  nach 
unseren  früheren  erörterungen'^"  bellum  civilemit'bürgerkrieg'  über- 
setzt haben,  können  auch  leicht  verstehen,  dasz  im  letztgenannten 
beispiel  das  lateinische  Substantiv  im  deutschen  zu  einem  adjectiv 
wird,  und  ebenso  umgekehrt,  wenn  sie  deutsche  sätze  zum  über- 
tragen in  die  fremdsprache  vor  sich  haben. 

Wer   aber  auf  der  so  vorgezeichneten  bahn  weiter  vorwärts 


s.  heft  9  s.  433.         '"  s.  heft  9  s.  433. 


486     E.  Cornelius :  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta. 

schreiten  will,  der  mag  seine  schüler  den  satz:  Q.  Lutatius,  vir 
fortissimus,  cum  filio  circumvento  subveniret,  ab  hostibus  inter- 
fectus  est  wiedergeben  lassen  mit:  'als  der  tapfere  Q.  Lutatius 
seinem  umzingelten  söhn  zu  hilfe  kam,  wurde  er  von  den  feinden 
getötet.'  darum  möchten  wir  auch  umgekehrt  wünschen,  dasz  die 
in  den  lehrbüchern  beliebte  wendung:  'Leonidas,  ein  sehr  tapferer 
könig,  hat  für  das  Vaterland  gekämpft'  folgendermaszen  geändert 
würde:  'der  tapfere  (könig)  Leonidas',  wobei  man  ja  dem  schüler 
durch  breiten  druck  des  Wortes  'tapfer'  eine  handhabe  zum  über- 
setzen bieten  könnte,  wenn  wir  uns  aber  erinnern,  was  oben^'  über 
das  fürwort  ille  gesagt  ist,  dann  werden  die  knaben  den  satz: 
Alexander  Magnus,  fortissimus  ille  Macedonum  rex  usw.  so 
verdeutschen:  'der  tapfere  (oder  heldenmütige)  Macedonierkönig 
Alexander  der  grosze'  usw.  bei  derartigen  Übersetzungen  wird  sich 
der  lehrer  vielleicht  nicht  die  gelegenheit  entschlüpfen  lassen,  dasz 
er  darauf  hinweist,  wie  der  Römer,  ganz  ähnlich  wie  der  heutige 
Italiener,  gern  in  Superlativen  redet",  die  von  gesten  begleitet  wer- 
den, während  es  der  Deutsche  liebt,  frei  von  jeder  Übertreibung  den 
positiv  zu  gebrauchen,  und  doch  dabei  empfindet,  was  er  ausdrücken 
möchte. 

Vier  satzconstructionen  sind  geeignet,  den  vorgeschritteneren 
quintanern  im  letzten  Vierteljahr  von  ihrem  lehrbuch  zu  besonderer 
Übung  vorgeführt  zu  werden:  der  accusativ  mit  dem  Infinitiv ,  die 
participialconstructionen,  die  conjugatio  periphrastica  und  der  abla- 
tivus  absolutus. 

Zunächst  ein  wort  über  den  accusativ  mit  dem  Infinitiv, 
man  wird  sich  auf  dieser  classenstufe  damit  begnügen  können,  dasz 
die  schüler  aus  dem  lateinischen  diese  construction  erkennen  und 
nachher  beim  umgekehrten  übersetzen  auch  richtig  anwenden, 
schwierig  ist  dies  ja  für  die  gereifteren  quintaner  nicht,  zumal 
da  ihnen  ja  auch  ihre  muttersprache  ähnliche  beispiele  darbietet, 
wie:  'er  hiesz  die  Soldaten  in  die  stadt  einrücken.'  wenn  sie  also 
zunächst  hieran  erinnert  werden,  wird  es  ihnen  um  so  leichter 
fallen,  etwa  den  satz:  Caesar  milites  pontem  facere  iussit  auf 
doppelte  weise  wiederzugeben:  1)  'Caesar  hiesz  die  Soldaten  eine 
brücke  schlagen'  und  2)  'Caesar  befahl,  dasz  die  Soldaten  eine 
brücke  schlügen',  beim  übersetzen  ins  lateinische  aber  werden  sie 
sich,  wie  schon  früher  oft  betont,  den  unterschied  zwischen  activ  und 
passiv,  masculinum  und  femininum,  singular  und  plural  plastisch 
vor  äugen  führen,  dh.  sie  werden  z.  b.  bei  dem  satze:  'es  ist  be- 
kannt, dasz  Hannibal  von  den  Römern  bei  Zama  besiegt  worden 
ist'  daran  denken,  dasz  Hannibal  ein  mann  war,  und  dasz  man 
demnach  sagen  musz:  'notum  est,  Hannibalem  a  Romanis  apud 

'1  s.  oben  s.  476. 

■^2  vgl.  ital.  'felicissima  notte'  und  die  feinsinnigen  bemerkungen, 
die  Goethe  über  diesen  ausdruck  in  seiner  italienischen  reise  s.  77 
macht. 


E.  Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta.     487 

Zamam  victum  esse',  dasz  dagegen  im  satze:  'es  ist  bekannt,  dasz 
die  Römer  von  Hannibal  bei  Cannae  besiegt  worden  sind'  das  um- 
zusetzende subjeet  mehrere  personen  bezeichnet,  weshalb  der  satz 
lateinisch  lautet:  'notum  est,  Romanos  ab  Kannibale  apud  Cannas 
victos  esse.' 

Die  feinen  unterschiede  zwischen  ut  und  dem  accusativus  cum 
infinitivo  braucht,  wie  oben  angedeutet,  der  quintaner  noch  nicht 
zu  erkennen,  wenn  er  nur  im  allgemeinen  weisz,  dasz  diese  con- 
struction  den  verbis  sentiendi  und  dicendi  hinzugefügt  wird;  auch 
ist  eine  aufzählung  dieser  Zeitwörter,  wie  sie  die  lehrbücher  vielfach 
bieten,  als  gedächtnismäsziger  anhaltspunkt  für  die  lateinbeflissenen 
sehr  erwünscht,  im  übrigen  möchten  wir  davor  warnen ,  den  ein- 
schlägigen Übungsstücken  allzu  viele  regeln  vorzudrucken,  damit 
den  knaben  der  weg  zu  eignem  forschen  nicht  versperrt  wird. 

Wenn  der  lehrer  aber  seinen  Zöglingen  zumuten  darf,  deutsche 
dasz-sätze  im  lateinischen  mit  einer  infinitivischen  Wendung  wieder- 
zugeben, dann  kann  er  auch  umgekehrt  von  ihnen  verlangen,  neben- 
sätze,  die  durch  das  lateinische  ut  eingeleitet  werden,  im  deutschen 
in  einen  Infinitiv  zu  verwandeln,  wir  meinen  den  infinitiv  mit 
vorausgehendem  'um  zu',  welche  construction  bekanntlich 
einen  zweck  ausdrückt,  so  wenig  aber  traut  man  den  schülern  zu, 
dasz  sie  ihre  eigne  muttersprache  mit  verstand  brauchen,  dasz  ihnen 
die  lehrbücher,  so  viel  wir  zu  erkennen  vermögen,  die  construction 
mit  'um  zu'  manchmal  ganz  vorenthalten,  indem  sie  hinter  jedes 
finale  ut  die  Übersetzung  'damit'  einklammern,  wenn  aber,  um  ein 
beliebiges  beispiel  zu  bilden,  den  lernenden  folgender  satz  vorgelegt 
wird:  Caesar  Rubiconem  transgressus  est,  ut  cum  Pompeio  de  prin- 
cipatu  dimicaret,  dann  werden  sie,  wenn  hinter  ut  'damit'  ein- 
geklammert ist,  unbedenklich  übersetzen:  'Caesar  überschritt  den 
Rubico,  damit  er  mit  Pompejus  um  die  oberherschaft  kämpfte',  ist 
aber  der  klammerausdruck  weggelassen ,  dann  werden  sie  zunächst 
selber  herausfinden,  dasz  ut  auszer  'dasz'  auch  'damit'  heiszen  kann, 
sich  dann  aber  nicht  eher  beruhigen,  als  bis  die  gut  deutsche  über- 
setzungsform  zu  tage  getreten  ist:  'Caesar  überschritt  den  Rubico, 
um  mit  Pompejus  um  die  oberherschaft  zu  kämpfen.' 

Schon  bei  einer  früheren  gelegenheif^^  nannten  wir  die  lehre 
von  den  participien  ein  schwieriges  capitel.  aber  dem  sextaner 
wurde  bereits  klar,  dasz  er  in  diesen  verbalformen  ein  mittelding 
zwischen  verbum  und  adjectiv  vor  sich  habe,  er  machte  sich  klar, 
dasz  man  hierbei  nicht  conjugiert,  sondern  decliniert,  und  wandelte 
daher  ursus  saltans  und  templum  aedificatum^*  in  den  fünf  nomi- 
nalen casus  ab,  der  schüler  der  nächstfolgenden  classe  aber  wird 
durch  gelegentliche  Übungssätze  belehrt  werden,  dasz  er  das  latei- 
nische participium  nicht  immer  wörtlich  wiedergeben  kann,  ist  er 
nun   bis   zu   dem  punkte  gelangt,   dasz   ihm  die  lateinische  par- 


"  s.  heft  9  s.  442.         ^4  g    j^eft  9   s.  442. 


488     E.  Cornelius:  lateiniscli  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta. 

ticipialconstiuction  systematisch  vor  äugen  steht,  dann  geht 
ihm  ein  licht  darüber  auf,  dasz  auch  hierin  die  beiden  cultursprachen, 
deren  er  sich  befleiszigt,  tiefgreifende  unterschiede  unter  einander 
aufweisen:  mit  hilfe  des  lehrers  wird  er  bemerken,  wie  die  latei- 
nische spräche  in  ihrer  logischen  strenge  das  kurzgefaszte  parti- 
cipium  bevorzugt,  während  sich  das  deutsche  in  seiner  gemütlichen 
breite  lieber  in  nebensätzen  bewegt,  einem  knaben  aber,  der  sich 
hierüber  klar  ist,  wird  es  freude  bereiten,  mit  eigner  geisteskraft 
herauszufinden,  ob  das  betreffende  participium  in  einen  temporal- 
satz,  causalsatz  usw.  aufzulösen  ist,  und  etwa  vorgedruckte  regeln 
bilden  unserer  meinung  nach  nur  einen  bemmschuh  für  diese  geistige 
regsamkcit. 

Eine  specifisch  lateinische  participialconstruction  ist  bekannt- 
lich die  sogenannte  conjugatio  periphrastica.  wir  haben  schon 
oben  gesagt,  dasz  wir  die  participien  laudaturus  und  laudandus  dem 
sextanerlehrbuch  einverleibt  sehen  möchten ''%  und  dort  bereits  aus- 
einandergesetzt, wie  wir  uns  die  behandlung  der  fraglichen  con- 
struction  in  sexta  und  quinta  vorstellen;  es  bleibt  uns  also  nur  noch 
der  wünsch  übrig,  dasz  auch  der  teil  für  quinta  die  conjugatio  peri- 
phrastica in  einem  besondern  abschnitt  vorführt,  zumal  da  der  erste 
Schriftsteller,  der  dem  quartaner  in  die  band  gegeben  wird,  nämlich 
Cornelius  Nepos,  diese  redewendung  häufig  genug  anwendet. 

Mit  dem  ablativus  absolutus  aber  werden  sich  die  schüler 
leicht  abfinden,  die  von  vorn  herein  daran  gewöhnt  sind,  den  ablativ 
als  den  präpositionscasus'*  je  nach  umständen  mit  den  verschieden- 
sten Präpositionen  zu  übersetzen,  wenn  sie  sich  nämlich  gleich- 
zeitig an  die  vorher  geübten  auflösungen  der  participien  erinnern, 
brauchen  sie  jetzt  nur  noch  zu  unterscheiden  zwischen  'Tiberio 
raoriente',  'bei  dem  sterbenden  Tiberius',  d.  h.  'als  Tiberius  starb', 
und  'Tiberio  mortuo',  'nach  dem  gestorbenen  Tiberius',  d.  h.  'nach- 
dem Tiberius  gestorben  war',  so  vorgebildete  schüler  verwandeln 
nun  den  unvollständigen  ablativus  absolutus  'Cicerone  consule'  aus 
'unter  dem  consui  Cicero'  ohne  weiteres  in  den  ausdruck:  'unter 
dem  consulate  des  Cicero.'  die  Übertragung  ins  lateinische  geht 
aber  gerade  umgekehrt  vor  sich,  indem  die  knaben  dem  nebensatz: 
'nachdem  Troja  zerstört  worden  war'  die  fassung  geben:  'nach 
dem  zerstörten  Troja'  und  dann  lateinisch  sagen:  'Troia  capta.' 
natürlich  wird  ihnen  auch  hier,  auf  dieser  classenstufe  vielleicht  un- 
willkürlich, der  unterschied  zwischen  dem  passivischen  Troia  capta 
und  etwa  dem  activischen  sole  Oriente  plastisch  vor  ihrem  geistigen 
äuge  schweben,  dasz  wir  aber  auch  hier  in  den  lehrbüchern  regeln 
lieber  vermissen  als  vorgedruckt  sehen  möchten,  versteht  sich  nach 
unsern  bisherigen  erörterungen  wohl  von  selbst. 

Schlieszlich  sei  noch  mit  ein  paar  worten  die  bekannte  that- 
sacbe  gestreift,  dasz  der  Deutsche  das  activ  häufig  gebraucht,  wo 


"  8.  heft  9  s.  441.         '^^  s.  heft  9  s.  430. 


E.  Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta.     48 J 

der  Lateiner  das  passiv  anwendet,  in  einem  spätem  abschnitt  wer- 
den wir  noch  einmal  auf  diesen  umstand  zurückkommen,  nachdem 
wir  auch  früher  bereits  darauf  hingewiesen  haben. ^^  die  schüler  der 
untersten  gymnasialclasse  übertragen  das  lateinische  passiv  immer 
noch  als  solches  ins  deutsche,  denn  ihnen  soll  klar  werden,  dasz 
dieses  genus  ein  leiden  ausdrückt,  und  zugleich  führt  es  ihnen  die 
conjugation  gewissermaszen  formelhaft  vor,  die  quintaner  aber  kann 
man  schon  darauf  aufmerksam  machen ,  dasz  sich  z.  b.  der  satz : 
Romani  ab  Kannibale  multis  proeliis  victi  sunt  im  deutschen  sowohl 
passivisch  als  auch  activisch  wiedergeben  läszt.  daraus  mögen  sie 
erkennen,  dasz  man  je  nach  umständen  und  Zusammenhang  diese 
Verwandlung  vornehmen  kann  oder  auch  nicht,  in  einem  andern 
satz  aber,  der  etwa  lautet:  T.  Manlius  consul  imperavit,  ut  filius 
suus  securi  necaretur,  quod  contra  edictum  cum  duce  hostium  pugna- 
visset,  werden  die  knaben  auf  anregung  des  lehrers  gezwungen,  das 
passiv  in  die  deutsche  construction  mit  dem  unpersönlichen  fürwort 
*man'  umzuwandeln,  und  werden  in  gegebenen  fällen,  wo  sie  es 
selber  für  gut  halten,  denselben  Übersetzungsversuch  anstellen. 

2.    Art  des  construierens. 

Die  flexionslehre  ist  nur  das  mittel  zu  dem  höheren  zweck, 
Sätze  im  Zusammenhang  ihrer  teile  und  lesestücke  im  aufbau 
ihrer  einzelsätze  in  die  deutsche  oder  in  die  fremdsprache  zu  über- 
tragen, die  kunst  des  Übersetzens  aber  wird  dem  kleinen  schüler 
erst  dann  allmählich  geläufig,  wenn  er  sich  nicht  nur  im  sogenannten 
construieren  beständig  übt,  sondern  auch  den  Inhalt  eines  jeden 
Satzes,  der  ihm  vorgelegt  wird,  deutlich  vor  äugen  hat.  indem  wir 
unsere  ansieht  über  einzelsätze  und  zusammenhängende  stücke  einst- 
weilen aufsparen,  wenden  wir  uns  zur  art  des  construierens, 
immer  den  blick  gerichtet  auf  das  oft  betonte  zusammenwirken 
zwischen  form  und  Inhalt. 

Naturgemäsz  werden  die  knaben  in  ihrem  kindlichen  eifer  vor 
allen  dingen  wissen  wollen,  was  die  lateinischen  sätze  eigentlich  auf 
deutsch  besagen,  was  denn  wohl  faszbares  darin  enthalten  ist,  und 
sicherlich  wird  ihr  feuer  noch  mehr  angefacht,  wenn  die  einzelnen 
Sätze  unter  einander  einen  gewissen  inhaltlichen  Zusammenhang 
haben,  versetzen  wir  uns  im  geiste  in  die  unterste  gymnasialclasse, 
wo  wir  den  neu  eingetretenen  Schülern  in  unserer  eigenschaft  als 
lehrer  die  erste  lateinstunde  zu  erteilen  haben,  gleich  mit  con- 
struieren anzufangen,  wäre  doch  zu  abstract,  gleich  das  beispiel 
mensa  auswendig  lernen  zu  lassen,  würde  auch  noch  keinen  nach- 
haltigen nutzen  gewähren,  aber  wie  wäre  es,  wenn  man  die  drei 
oder  vier  ersten  sätze  aus  dem  lehrbuch  für  sexta  ^*  aufs  gerate  wohl 

■*'  s.  oben  s.  484. 

^8  sie  mögen  etwa  lauten:  Europa  est  terra.  Asia  est  terra.  Europa 
et  Asia  sunt  terrae.  Italia  est  terra.  Graecia  est  terra.  Italia  et  Graecia 
sunt  terrae. 

N.  Jahrb.  f.phil.u.  päd.  II.  abl.  1897  hft.lO  u.  11.  32 


490     E.  Cornelius :  lateiniscli  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta, 

übersetzen  iiesze  und  sich  überzeugte,  ob  die  kleinen  auch  wissen, 
dasz  Europa  und  Asien  zwei  erdteile,  Italien  und  Griechenland  zwei 
länder  in  Südeuropa  sind,  indem  man  beiläufig  erwähnt,  dasz  die 
alten  Römer,  deren  spräche  die  schüler  jetzt  lernen,  in  dem  wie  ein 
Stiefel  gestalteten  land  Italien  zu  hause  gewesen  sind,  es  schadet  ja 
nichts ,  wenn  eine  ganze  stunde  auf  diese  besprechung  verwendet 
wird ,  und  einen  kleineu  Wortschatz  nehmen  die  knaben  auch  schon 
mit  nach  hause:  Europa,  Asia,  Italia,  Graecia,  terra,  est  und  sunt. 

Es  liegt  auf  der  band ,  dasz  man  dieses  verfahren  nicht  in  der- 
selben ausführlichkeit  fortsetzen  kann,  doch  überzeuge  sich  derlehrer 
immerwährend,  ob  seine  Zöglinge  auch  jeden  satz  inhaltlich  ver- 
stehen, und  komme  selbst  in  quinta  noch  da,  wo  es  ihm  notwendig 
erscheint ,  durch  fragen  oder  erklärungen  der  dahin  zielenden  auf- 
fassung  zu  hilfe.  ebenso  wenig  ist  es,  wie  unten  gezeigt  werden 
wird''®,  immer  möglich,  die  sätze  eines  Übungsstückes  jedesmal  so 
zu  wählen ,  dasz  sie  einen  gewissen  Zusammenhang  unter  einander 
haben;  für  schüler,  die  an  richtiges  Verständnis  des  Inhalts  gewöhnt 
sind,  wird  es  jedoch  keine  Schwierigkeit  bieten,  hierbei  ihr  haupt- 
augenmerk  auf  die  sprachliche  form  zu  richten,  ferner  weist  das 
obige  beispiel  daraufhin,  dasz  die  schüler  —  fügen  wir  gleich  hinzu  : 
nicht  nur  der  sexta ,  sondern  auch  der  quinta  —  ihre  Wörter  ledig- 
lich aus  dem  betreffenden  s-atze  heraus  erkennen  und  auswendig 
lernen  mögen.''''  dies  scheint  uns  den  doppelten  vorteil  zu  bringen, 
dasz  die  knaben  sich  dabei  immer  an  den  inhalt  des  fraglichen  satzes 
erinnern  und  dasz  sie  das  selbst  erarbeitete  wort  sich  leichter  ein- 
prägen und  schneller  auswendig  lernen,  und  später,  wenn  sie  einen 
Schriftsteller  lesen,  müssen  sie  ja  mit  hilfe  des  lexikons  auf  dieselbe 
weise  vorgehen. 

Beim  übersetzen  aus  dem  deutsehen  ins  lateinische  wirft  sich 
die  denkkraft  der  schüler  selbstverständlich  mehr  auf  die  sprach- 
form als  auf  den  stofflichen  Inhalt.^'  um  seine  sextaner  aber  zu 
veranlassen,  auch  den  letzteren  nicht  ganz  zu  vernachlässigen,  hat 
der  Verfasser  ihnen  unter  anderm  bei  gelegenheit  der  vierten  decli- 
nation  eine  classenarbeit  gegeben,  deren  Wortlaut  er  sich  vorzuführen 


"  s.  unten  s.  495  und  499.         ^°  s.  oben  s.  479. 

*'  vgl.  Waldeck,  zeitschr.  f.  gymn.-wesen  sept.  1894  s.  540:  'nun  ent- 
steht die  weitere  frage  nach  dem  werte  beider  thätigkeiten  für  die 
sprachlich -logische  Schulung,  worin  besteht  die  geistige  arbeit  des 
Schülers  beim  hiuübersetzen?  doch  wesentlich  darin,  dasz  er  vocabeln, 
formen,  phrasen  und  constructionen  ziemlich  mechanisch  aus  dem  ge- 
dächtnis  hervorholt,  um  sie  zu  lateinischen  sätzen  zusammenzusetzen, 
von  denen  er  dann  selbst  nicht  einmal  beurteilen  kann,  ob  sie  wirklich 
latein  entlialten.  eine  genaue  und  scharfe  Untersuchung  des  inhalts  ist 
dabei  sehr  selten  erforderlich,  denn  die  sätze  in  den  Übungsbüchern 
sind  fast  sämtlich  so  zurecht  gemacht,  dasz  die  Übersetzung  recht  wohl 
ohne  das  möglich  ist,  und  wo  sie  einmal  nötig  wird,  da  werden  regel- 
mäszig  die  fehler  gemacht,  wie  in  der  Verwechslung  von  dum  und  cum 
während,  sie  ist  aber  auch  kaum  möglich,  weil  die  ganze  aufmerksam- 
keit  des  Schülers  durch  die  form  in  ansprach  genommen  ist.' 


E.  Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta.     491 

erlaubt:  fortitudo  exercituum Romanorum  magna  erat,  impetu  vehe- 
menti  cornu  dextrum  exercitus  Romani  hostibus  interitum  paravit. 
fortitudo  exercitui  Romano  saepe  victoriam  et  gloriam  parabat. 
milites  cantu  suo  animum  imperatoris  delectabant.  nautis  motus 
lunae  et  aliorum  siderum  noti  sunt,  in  bonis  portibus  Graeciae 
multae  naves  sunt,  folgende  bemerkungen  mögen  uns  im  anschlusz 
hieran  gestattet  sein,  man  beachte  zunächst,  dasz  die  ersten  sätze 
sich  immer  auf  das  römische  beer  beziehen,  also  dadurch  schon  Zu- 
sammenhang mit  einander  haben,  und  dasz  dann  vom  landheere  auf 
die  Seeleute  und  von  Rom  auf  Griechenland  übergegangen  ist.  auch 
hat  sich  der  Verfasser  nicht  gescheut,  seine  schüler  vor  der  nieder- 
schrift  auf  diesen  Inhalt  der  sätze  aufmerksam  zu  machen,  ja,  er  hielt 
es  sogar  für  zweckmäszig  ihnen  zu  sagen,  sie  sollten  sich  das  vor- 
gesprochene in  ihres  geistes  aug'  einmal  vorstellen,  darauf  wurde 
im  einzelnen  jeder  satz  zuerst  im  ganzen  und  dann  in  seinen  teilen 
noch  einmal  gesagt  und  von  den  Schülern  schriftlich  ins  lateinische 
übertragen. 

Wir  haben  in  der  obigen  auseinandersetzung  statt  vieler  je  ein 
beispiel  gegeben,  um  zu  zeigen,  wie  man  etwa  sowohl  beim  über- 
setzen ins  lateinische  wie  beim  übertragen  ins  deutsche  den  sinn 
der  kleinen  schüler  für  den  Inhalt  des  dargebotenen  lesestoffes  rege 
erhalten  kann,  ein  lehrer  aber,  der  sein  augenmerk  einzig  und  allein 
dem  stofflichen  übersetzen  zuwendete,  würde  seine  schüler  zum 
dilettantismus  und  zur  bequemlichkeit  erziehen,  die  leichte  mühe, 
womit  der  sextaner  seine  allerersten  sätze  ins  deutsche  über- 
tragen durfte,  hört  baldigst  auf,  und  es  wird  dem  kleinen  Sprach- 
forscher klar  gemacht,  dasz  er  sich  jeden  satz  selbständig  heraus- 
zuarbeiten, dasz  er  ihn  zu  construieren  hat,  dasz  er  jedesmal  ein 
gebäude  errichten  musz,  dessen  grundstein  das  prädicat  bildet,  wäh- 
rend das  subject  etwa  das  erdgeschosz,  die  objecte  den  ersten  und 
zweiten  stock,  die  bindewörter  den  mörtel  zwischen  den  einzelnen 
bausteinen  u.  ä.  darstellen,  für  dieses  beständige  'bauen'  bieten  ja 
die  lehrbücher  häufig  eine  recht  gute  handhabe,  doch  sei  es  uns  er- 
laubt, betreffs  der  art  und  weise  des  construierens  noch  ein  wört- 
chen hinzuzufügen,  vielleicht  empfiehlt  es  sich  nämlich,  die  Satz- 
teile nicht  blosz  aus  der  lateinischen  form  .  sondern  auch  einmal 
etwa  beim  satz  'aquila  est  bestia'  zuerst  aus  der  deutschen  Über- 
setzung 'der  adler  ist  ein  tier'  heraus  zu  erklären,  dies  würde 
man  dann  wiederum  auf  die  Römersprache  übertragen,  während 
man  gelegentlich  im  deutschen  Unterricht  ähnliche  beispiele  vor- 
führte oder  auffinden  liesze. 

Wann,  wie  oft  und  wie  lange  man  Übungen  im  construieren 
anstellen  läszt,  dies  hängt  natürlich  vom  Standpunkt  der  classe  ab 
und  ist  dem  jedesmaligen  ermessen  des  lehrers  anheimgegeben,  und 
bekanntlich  empfiehlt  sich  auch  hier,  wie  so  oft  beim  verkehr  mit 
der  knabenschar,  die  manigfaltige  abwechslung.  nur  darauf  möchten 
wir  hinweisen,  dasz  es  während  des  bestanerjahres  zwei  Zeitpunkte 

32* 


492      E.  Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta. 

gibt,  in  denen,  wie  uns  scheint,  das  construieren  mit  besonderem 
nachdruck  zu  betreiben  ist,  zuerst  natürlich  im  anfangshalbjahr  und 
dann  mit  erneuter  kraft  beim  beginn  der  ersten  conjugation,  d.  h. 
der  Verbalflexion.  ®^ 

Jedenfalls  sind  wir  der  ansieht,  dasz  man  nicht,  wie  z.  b. 
Lattmann ®^,  die  kenntnis  der  Satzteile  als  bekannt  voraussetzt, 
sondern  dasz  man  sie  mit  dem  lateinischen  zusammen  noch  einmal 
durch-  und  ins  latein  hineinverarbeiten  müsse,  nur  darf  das  con- 
struieren nicht  in  pedanterie  ausarten ,  und  zu  diesem  zwecke  ist  es 
gut,  dasz  die  lehrbücher  das  subject  nicht  immer  an  den  anfang  des 
Satzes  stellen,  hat  man  also  etwa  in  dem  satz:  'in  Italia  et  Graecia 
sunt  templa  deorum'  construieren  lassen:  sunt  =  prädicat,  templa 
=  subject,  deorum  =  genetiv-attribut  zu  templa,  in  Italia  et  Graecia 
=  zwei  adverbiale  bestimmungen  des  ortes,  dann  braucht  der  schüler 
doch  nicht  ängstlich  zu  übersetzen :  'tempel  der  götter  sind  in  Italien 
und  Griechenland',  sondern  kann  sinn-  und  stilgemäsz  mit  mög- 
lichster beibehaltung  der  lateinischen  Wortstellung 
sagen:  'in  Italien  und  Griechenland  sind  tempel  der  götter  (oder: 
göttertempel).'  uns  will  es  scheinen,  als  ob  auf  diese  weise  das  ge- 
fühl  für  richtige  Wortstellung  und  guten  stil  im  deutschen  ebenso 
wie  in  der  fremdsprache  bei  den  schülern  unwillkürlich  geweckt  und 
zugleich  schon  frühzeitig  dem  umstände  entgegengewirkt  wird,  über 
den  Gau  er®*  in  seinem  schon  mehrfach  erwähnten  buche  klagt. 

Bevor  wir  dazu  übergehen,  auch  das  übersetzen  ins  lateinische 
einer  betrachtung  zu  unterziehen,  wollen  wir,  um  unser  oben  s.  475 
gegebenes  versprechen  einzulösen,  einen  blick  auf  den  teil  des  eigent- 
lich deutschen  Unterrichts  werfen,  der  der  grammatischen  Unter- 
weisung gewidmet  ist.  um  aber  auch  hierbei  die  fühlung  mit  dem 
latein  nicht  ganz  zu  verlieren,  beginnen  wir  mit  dem  lateinischen 
tibungssatz:  milites  magna  fortitudine  urbem  expugnaverunt.  der 
schüler,  dem  wir  diese  worte  zum  construieren  vorlegen,  darf  sich 
nicht  damit  begnügen,  etwa  aus  der  lateinischen  form  heraus  zu 
sagen,  magna  fortitudine  bilde  eine  'adverbiale  bestimmun g', 
nur  weil  der  ablativ  angewandt  ist,  sondern  er  musz  der  sache  tiefer 
auf  den  grund  gehen,  stockt  er  nun  vielleicht  bei  der  form  forti- 
tudine, so  lasse  man  ihn  zunächst  einmal  das  bisher  gefundene  prä- 
dicat, subject  und  object  übersetzen",  dann  wird  er  mit  hilfe  des 


**  s.  unten  s.  494,  wo  der  letztere  umstand  näher  begründet  werden  soll. 

^^  Lattmann,  Übungsbuch  für  sexta. 

®*  Cauer,  die  kunst  des  Übersetzens,  s.  88:  ein  satz  wie  pro  Mur. 
6,  16  zeigt  uns  beim  beginn  und  am  ende  die  absieht  des  Stilisten: 
tempestivi  convivii,  amoeni  loci,  multarum  deliciarum  comes  est  extreraa 
saltatio.  wer  noch  mit  subject  und  prädicat  zu  schaffen  hat, 
übersetzt  bedächtig:  'der  tanz  ist  der  letzte  begleiter  eines  früh  be- 
ginnenden gelages.'  Cicero  meint  etwas  ganz  anderes:  'zu  einem  früh 
beginnenden  gelage,  einem  anmutigen  platz,  einer  fülle  von  genüssen 
gesellt  sich  zuletzt  der  tanz.' 

^^  s.  oben  s.  491. 


E.  Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta.      493 

deutschen  herausfinden,  dasz  er  eine  adverbiale  bestimm ung 
der  art  und  weise  vor  sich  hat. 

Erst  dann,  wenn  sich  der  schüler  auf  ähnlichem  wege  schon 
Öfters  klar  gemacht  hat,  dasz  in  mit  dem  ablativ  oder  accusativ  eine 
Ortsbestimmung  und  der  blosze  ablativ  je  nach  den  gegebenen  Ver- 
hältnissen umstände  der  zeit,  des  mittels,  derart  und  weise  usw. 
bilden,  führt  ihm  der  grammatische  deutsche  Unterricht 
eine  Zusammenstellung  der  adverbialen  bestimmungen 
vor.  man  thut  etwa  die  fragen:  wo,  woher,  wohin,  wann  fliegt  der 
vogel,  läszt  sie  nach  willkür  beantworten  und  stellt  fest,  dasz  die 
betrefiFenden  bestimmungen  formell  entweder  aus  einem  a  d  v  e  r  b  i  u  m 
oder  einer  präposition  mit  ihrem  casus  bestehen,  ferner:  'wie 
erwartet  der  soldat  den  kämpf?'  antwort:  'mit  ruhe';  'wie  singt  der 
vogel?'  antwort:  'der  vogel  singt  schön.'  der  leser  merkt,  dasz  wir 
mit  dem  letzten  fragespiel  auf  den  oben  s.  474  erwähnten  unter- 
schied zwischen  adjectiv  und  adverbium  hinauswollen,  denn  'schön' 
kann  zugleich  adjectiv  und  adverbium  sein,  und  den  sextaner  wird 
die  fragestellung  bald  darüber  aufklären,  dasz  'schön'  im  satz  ent- 
weder eine  adverbiale  bestimmung  oder  ein  adjectiv- attribut  oder 
ein  prädicatsnomen  bildet,  denn  er  sagt  sich:  1)  'wie  singt  der 
vogel?'  'der  vogel  singt  schön',  2)  was  für  ein  vogel  singt?' 
'ein  schöner  vogel  singt*  und  3)  'der  vogel  ist  was  für  ein 
vogel?'  'der  vogel  ist  ein  schöner  vogel',  d.  h.  'der  vogel  ist 
schön',  wenn  aber  der  lehrer,  der  in  der  untersten  classe  deutsch 
und  latein  in  seiner  band  vereinigt,  geneigt  ist,  die  obigen  Übungen 
in  der  muttersprache  anzustellen,  dann  wird  es  ihm  auch  nicht  un- 
willkommen sein,  im  lateinischen  lehrbuch  sätze  zu  finden,  die  ihm 
für  seinen  fremdsprachlichen  Unterricht  eine  dahin  zielende  hand- 
habe gewähren,  dies  ist  jedoch  vielfach  nicht  möglich,  weil  gerade 
in  den  neuen  ausgaben  unserer  lebrbücher  manchmal  die  adverbien 
der  lehraufgabe  für  sexta  gar  nicht  einverleibt  sind,  darum  sei  es 
uns  gestattet,  an  dieser  stelle  noch  einmal  auf  unsere  oben  s.  474  be- 
züglich der  adjective  und  adverbien  gemachten  auseinandersetzungen 
hinzuweisen. 

Während  beim  übersetzen  aus  dem  lateinischen  der  anfänger 
die  Satzteile  blosz  angibt,  wird  er  sich  bei  der  Übertragung  ins 
lateinische  einer  ausführlichen  fragestellung  nach  den 
einzelnen  teilen  des  satzes  befleiszigen,  wobei  die  frage  nach  dem 
grundlegenden  prädicat  jedesmal  die  erste,  die  nach  dem  subject  die 
zweite  ist,  bis  dann  die  übrigen  Satzteile  folgen,  z.  b.  'der  vogel 
fliegt  auf  den  bäum',  was  sagen  wir  vom  vogel  aus?  wer  fliegt? 
wohin  fliegt  der  vogel?  wer  jedoch  die  ansieht  teilt,  die  Kern^® 
über  das  prädicat  äuszert,  der  wird  überhaupt  die  ganze  frage- 
stellung ,  wie  wir  sie  vorschlagen,  verwerfen  müssen,  der  erwähnte 
Verfasser  sagt  in  seiner  Satzlehre  s.  71:  'durch  den  satz:  «Themisto- 


*^  Kern,  Satzlehre  s.  71. 


494     E.  Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta. 

kies  bat  im  jähre  480  bei  Salamis  die  Perser  besiegt»  sollte  ich  in 
der  tbat  nur  etwas  von  Themistokles  aussagen,  nichts  von  den  be- 
siegten Persern,  nichts  von  der  insel,  in  deren  nähe  der  sieg  er- 
fochten wurde,  nichts  von  dem  jähre,  in  welchem  es  geschah?  wo- 
her weisz  ich  denn  durch  diesen  satz,  dasz  die  Perser  damals  bei 
Salamis  besiegt  wurden,  wenn  es  in  ihm  nicht  von  ihnen  ausgesagt 
würde?  es  wäre  ja  überaus  wunderbar,  wenn  der  satz  auch  nur  eine 
einzige  Vorstellung  enthielte,  von  der  gar  nichts  durch  denselben 
ausgesagt  würde,  man  begreift  nicht,  was  diese  eigentlich  in  dem 
satze  soll.'  wenden  wir  jedoch  auf  den  von  Kern  angeführten  satz 
die  ausführliche  fragestellung  an,  so  erkennen  wir,  dasz  trotz  seiner 
auseinandersetzung  eben  nur  vom  subject  'Themistokles'  etwas  aus- 
gesagt wird:  'was  sagen  wir  von  Themistokles  aus?'  antwort:  'dasz 
er  gesiegt  hat.'  nun  fragen  wir  weiter:  was  sagen  wir  vom  jähre 
480  aus?  etwa,  dasz  es  gesiegt  habe?  von  Salamis?  etwa,  dasz 
die  insel  gesiegt  habe?  von  den  Persern?  etwa,  dasz  sie  gesiegt 
haben?  sie  sind  vielmehr  besiegt  worden!  wir  müssen  doch  wohl 
die  fragen  anders  stellen:  wann  hat  Themistokles  die  Perser  be- 
siegt? wo  hat  er  die  Perser  besiegt?  wen  hat  er  besiegt?  dagegen: 
was  wird  von  Themistokles  ausgesagt? 

Wer  aber  die  soeben  ausgesprochene  ansieht  teilt,  der  wird 
wohl  auch  einräumen,  dasz  dem  schüler  infolge  der  fragestellung 
klar  wird,  ob  ein  satzteil  vom  prädicat  oder  von  einem 
Substantiv  abhängig  ist.  denn  wenn  er  z.  b.  fragt:  'wann 
hat  Themistokles  die  Perser  besiegt?'  dann  wird  er  bei  der  frage- 
stellung das  verbum  zu  hilfe  nehmen  und  sehen,  dasz  Mm  jähre  480' 
als  adverbiale  bestimmung  zum  verbum  gehört;  geben  wir  dagegen 
dem  griechischen  Staatsmann  ein  bei  wort,  z.  b.  der  kluge  Themi- 
stokles, dann  fragt  der  schüler:  'was  für  ein  Themistokles  hat 
die  Perser  besiegt?'  und  sieht,  dasz  'klug'  auf  das  Substantiv  'The- 
mistokles' zu  beziehen  ist.  wir  brauchen  nur  noch  einen  schritt 
weiter  zu  gehen  und  den  satz  zu  bilden:  'klug  hat  Themistokles  die 
Perser  besiegt',  und  unsere  leser  erheben  gegen  uns  den  Vorwurf, 
dasz  wir  oben®^  schon  gesagtes  wieder  aufwärmen. 

Es  bleibt  noch  eine  kurze  beraerkung  übrig,  um  uns  dafür  zu 
rechtfertigen,  dasz  wir  früher-®  die  erneuerung  des  construierens 
bei  beginn  der  ersten  conjugation  eingeschärft  haben,  den  sextanern 
treten  vorläufig  verbalformen  nur  in  der  dritten  person  ent- 
gegen, sobald  aber  das  verbum  an  die  reihe  kommt,  lernt  er,  dasz 
dieses  in  seinen  endungen  -m,  -s,  -t  usw.  schon  das  subject  in  sich 
enthält,  und  er  macht  die  bemerkung,  dasz  die  erste  und  zweite,  zu- 
weilen auch  die  dritte  person  ein  eigentliches  subjectswort,  wie  es 
ihm  seine  rauttersprache  in  den  persönlichen  fürwörtern  zeigt®^  gar 

*^  8.  oben  s.  474. 
^^  s.  oben  s.  491. 

89   der   schüler   möge    hiermit  unsern  imperativ  'lobe,  lobet'  ver- 
gleichen, um  zu  sehen,  dasz  auch  im  deutschen  das  persönliche  fürwort 


E.  Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta.     495 

nicht  besitzt,  so  wird  er  etwa  in  dem  batze:  laudamus  probos  horaines, 
non  improbes  neu  herauszufinden  haben,  dasz  laudamus  zugleich  prä- 
dicat  und  subject  ist,  und  dasz  der  letztere  satzteil  in  der  silbe  -mus 
enthalten  ist.  liegt  dem  schüler  nun  in  einer  der  nächsten  wochen- 
stunden  der  satz  vor:  'einen  guten  könig  nennen  wir  den  vater  des 
Vaterlandes',  dann  wird  er  vielleicht  zuerst  'könig'  als  das  subject 
ansehen,  stellt  er  aber  die  ihm  anfangs  sonderbar  klingenden  fragen ; 
'was  sagen  wir  von  uns  aus'  und  'wer  nennt  den  könig  einen  vater 
des  Vaterlandes?'  mit  der  antwort:  'wir  thun  es',  dann  hat  er  sich 
den  richtigen  und  für  seine  vorstellungsgabe  neu  entdeckten  weg 
gebahnt,  und  eine  art  der  construction  zeigt  sich  seinen  blicken,  die 
er  bisher  nicht  gekannt  und  geübt  hatte. 

3.    Einzelsätze  im  lehrbuch. 

Wir  schreiten  nunmehr,  unserer  obigen  andeutung  folgend"', 
zur  besprechung  der  einzelsätze  und  der  zusammenhängen- 
den lesestücke,  die  wichtigste  aufgäbe  für  den  Verfasser  eines 
lebrbuches  aber  scheint  uns  darin  zu  liegen,  dasz  er  zwischen  diesen 
beiden  arten  der  lectüre  einen  gesunden  Wechsel  eintreten  läszt. 
darunter  verstehen  wir,  dasz  bei  der  auswahl  der  lesestücke  und 
ihrer  einschaltung  zwischen  die  Übungsstücke  stetig  auf  das  allmäh- 
liche grammatische  fortschreiten  der  lernenden  rücksicht  genommen 
werde,  ein  lehrbuch  aber,  das  nur  einzelsätze  vorführte,  würde 
ebenso  wenig  dem  vorgesteckten  ziele  entsprechen,  wie  ein  anderes, 
das  von  vorn  herein  nur  zusammenhängenden  Inhalt  darböte,  denn 
das  erstere  verstiesze  gegen  die  auffassung,  dasz  das  Übungsbuch 
der  unteren  classen  eine  Vorstufe  für  den  Schriftsteller  bilden  soll, 
und  das  letztere  wäre  der  formalen  bildung  wenig  förderlich. 

Schon  oben^'  bemerkten  wir,  dasz  es  nicht  immer  möglich  sei, 
den  Schülern  zusammenhängende  stücke  vorzulegen;  dies  gilt  aber 
besonders  dann,  wenn  neue  grammatische  begrifife  eingeführt  wer- 
den, weil  in  diesem  falle  die  form  die  hauptsache  bildet,  wir  haben 
uns  aber  bereits  in  der  einleitung^*  dahin  erklärt,  dasz  in  den  beiden 
unteren  gymnasialclassen  die  grammatische  ausbildung  in  den  Vorder- 
grund zu  treten  habe,  und  dies  bezieht  sich  wiederum  in  höherem 
masze  auf  die  sexta  als  auf  die  nächstfolgende  classe.  darum  musz 
auch  auf  der  untersten  stufe  der  grammatische  lehrstoif  einen 
gröszeren  räum  einnehmen  als  die  lesestücke;  damit  aber  letztere 
auch  zu  ihrem  rechte  kommen,  wird  man  auf  die  auswahl  und  haus- 
hälterische Zusammenstellung  der  grammatischen  stücke  eine  be- 
sondere Sorgfalt  verwenden. 

Es  sei  uns  erlaubt,  eine  solche,  wie  sie  unserer  subjectiven  an- 
sieht etwa  entsprechen  würde,  hier  folgen  zu  lassen: 


eutbehrlich   ist.     vgl.   übrigens    Kerns   Satzlehre   s.  42  ff.,    der   hierüber 
aus  der  deutschen  dichtersprache  auch  noch  andere  beispiele  darbietet. 
»0  s.  oben  s.  489.         «i  s.  oben  s,  490.         "^  g    heft  9  s.  425. 


496      E.  Cornelius :  lateinisch  und  deutsch  in  der  sesta  und  quinta. 

1)  Substantive  der  ersten  und  zweiten  declination. 

2)  adjective  der  ersten  und  zweiten  declination. 

3)  Substantive  der  dritten  declination. 

4)  adjective  der  dritten  declination. 

5)  hie,  ille,  ipse;  unus,  duo,  tres. 

6)  Substantive  der  vierten  und  fünften  declination. 

7)  Zahlwörter. 

8)  veibum  sura. 

9)  activ  der  ersten  conjugation. 

10)  persönliche  fürwörter. 

11)  is,  idem,  qui. 

12)  comparation  der  adjective  und  adverbien. 

13)  passiv  der  ersten  conjugation. 

14)  infinitive,  participien  und  gerundium  der  ersten  conjugation. 

15)  die  zweite  conjugation. 

16)  die  vierte  conjugation. 

17)  die  dritte  conjugation. 

18)  die  verba  der  dritten  conjugation  auf -io  (=  fünfte  conjugation). 

Diese  aufzählung  bedaif,  da  sie  in  manchen  punkten  von  den 
Übungsbüchern  abweicht,  einer  näheren  begründung.  im  allgemeinen 
wird  man  wahrnehmen,  dasz  wir  in  den  ersten  abschnitten  1  bis  7 
die  declination  der  Substantive  und  der  ihnen  verwandten  Wortarten 
zusammenfassen,  dasz  wir  in  den  abschnitten  8  bis  14,  die  mitten 
im  Schuljahr  erledigt  werden,  verschiedene  flexions-  und  Wortarten 
entwickeln  und  dasz  sich  schlieszlich  von  15  bis  18  die  lernenden  wie- 
derum auf  einen  einzigen  gegenständ,  die  conjugation,  beschränken, 
im  besondern  seien  noch  folgende  erörterungen  hinzugefügt,  nach- 
dem die  Schüler  in  den  vier  ersten  abschnitten  die  haupt-  und  eigen- 
Schaftswörter  der  drei  ersten  declinationen  zur  genüge  geübt  haben, 
erfahren  sie,  dasz  fürwörter  und  Zahlwörter  die  stelle  von  adjectiven 
vertreten,  lernen  die  neuen  formen  auswendig  und  üben  sie  haupt- 
sächlich dadurch,  dasz  sie  sie  mit  Substantiven  zusammen  abwandeln, 
dieser  5e  abschnitt  kann  im  lehrbuch  verhältnismäszig  kurz  gefaszt 
sein,  wenn  man  im  6n  abschnitt  über  die  vierte  und  fünfte  declina- 
tion die  formen  von  hie  usw.  gelegentlich  einflieszen  läszt.  die  Zahl- 
wörter aber  fügen  sich,  wie  uns  dünkt,  der  declination  als  vorläufiger 
abschlusz  passend  an.  nach  dem  verbum  sum  (8)  ist  die  erste  conjuga- 
tion in  drei  teile  (9,  13  und  14)  auseinandergelegt,  damit  der  knabe 
gelegenheit  hat,  hieran  das  wesen  der  conjugation  überhaupt  kennen 
zu  lernen,  zwischen  das  activ  (9)  und  das  passiv  (13)  haben  wir  drei 
abschnitte  eingeschoben  (10,  11  und  12),  die  sich  mit  dem  verbum 
leicht  in  bezug  setzen  lassen,  denn  das  persönliche  fürwort  (10)  ist 
wichtig  für  die  demnächstige  Verwandlung  des  activs  ins  passiv 
(vgl.  laude  te:  a  me  laudaris  u.  ä.),  die  pronomina  is,  idem  und 
qui  (11)  treten  im  gegensatz  zu  hie,  ille  und  ipse  (5),  die  dem 
Substantiv  näher  stehen,  mit  verbalformen  in  innigere  beziehung, 
und    die    adverbien,    deren    Verbindung   mit    den    adjectiven   wir 


E,  Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta.     497 

oben'*  schon  an  gedeutet  haben,  sind  ja  ganz  nahe  mit  dem  verbum 
verwandt,  ist  aber  das  vresen  der  ersten  conjugation  erkannt, 
dann  fällt  es  den  schillern  nicht  schwer,  die  übrigen  conjugationen 
(15  bis  18)  zu  verstehen,  und  es  erscheint  gleichzeitig  geboten,  sie 
nicht  durch  sonstige  Wortarten  zu  unterbrechen. 

Man  gestatte  uns  noch  einige  beraerkungen  über  die  haushälte- 
rische einteilung  der  sextanerlehraufgabe.  betrachten  wir  zunächst 
die  abwandlung  der  substantiva!  da  nthmen  wir  wahr,  dasz 
in  den  Übungsbüchern  mit  vollem  rechte  die  vierte  und  fünfte  decli- 
nation  meistens  kürzer  behandelt  sind  als  vorher  die  drei  ersten, 
doch  möchten  wir  wünschen,  dasz  diese  beiden  flexionsarten,  die  wir 
in  unserer  obigen  tabelle  in  den  einzigen  abschnitt  6  verwiesen 
haben,  noch  etwas  rascher  abgemacht  würden,  denn  nachdem  die 
Schüler  einmal  das  wesen  der  declination  überhaupt  verstanden 
haben,  würden  sich  unter  weglassung  solcher  sätze,  die  bereits  ge- 
lernte Wörter  dieser  declinationen  enthalten,  die  stücke  vielleicht 
noch  etwas  mehr  zusammenziehen  lassen,  dazu  kommt  nun  noch 
ein  anderer  umstand,  die  kleinen  schüler,  die  nach  Vollendung  der 
dritten  declination  von  dem  immerwährenden  abwandeln  der  sub- 
stantiva und  adjectiva  ermüdet  sind,  würden  es  als  eine  anregende 
abwechslung  empfinden,  wenn  nach  unserer  obigen  andeutung®*  der 
6e  abschnitt  durch  die  hinweisenden  fürwörter  und  die  zahlen  1, 
2  und  3  unterbrochen  wäre  (5r  abschnitt),  wenn  man  diese  begriffe, 
die  gerade  wegen  ihrer  unregelmäszigen  bildung  den  schülern  einen 
neuen  reiz  darbieten ,  der  vierten  und  fünften  declination  gelegent- 
lich einpasste,  dann  wäre  diesem  abschnitt  eine  neue  zugäbe  ein- 
gefügt, die  vielleicht  für  die  Übung  in  den  betreffenden  Wortarten 
von  nutzen  ist  und  den  grammatischen  stoff  vereinfacht. 

Nun  noch  ein  paar  worte  über  die  verb  alf  lexionl  mit 
groszem  geschick  sind  in  den  lehrbüchern  häufig  die  abschnitte  über 
die  erste  conjugation  gewählt,  denn  indem  activ  und  passiv  rein- 
lich auseinandergehalten  werden,  sind  auch  innerhalb  der  beiden 
genera  des  verbums  die  tempora  und  modi  faszlich  und  angemessen 
gruppiert,  so  werden  hier  die  schüler  in  schön  systematischer  weise 
in  das  wesen  der  conjugation  überhaupt  eingeführt.  ^^  dasz  aber  die 
Übungsbücher  bei  sämtlichen  übrigen  conjugationen  genau  dieselben 
grundsätze  bei  der  einteilung  befolgen,  scheint  uns  der  sache  weniger 
angemessen  zu  sein,  denn  wenn  man,  wie  oben"®  schon  angedeutet, 
die  zweite  conjugation  bereits  zur  ersten  Versuchsstation  für  die 
Verbalstämme  macht,  dann  darf  man  wohl  auch  von  einer  Ver- 
schiebung der  gesichtspunkte  sprechen,  d.h.  der  Verfasser 
eines  lehrbuches  möge  bei  der  zweiten  conjugation  nicht  blosz  die 
vorherige  reihenfolge  der  genera,  tempora  und  modi,  sondern  auch 
die   entwicklung   der  verbalstämme  berücksichtigen,    zum  schlusz 


9'  8.  oben  s.  474.        "  s.  oben  s.  496. 

"  s.  auch  heft  9  s.  434.         »^  s.  heft  9  s.  436. 


498     E.  Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta. 

des  betreffenden  abschnittes  würde  den  schülern  ein  vergleich  zwi- 
schen den  beiden  ersten  conjugationen  zeigen,  dasz  die  perfectformen 
im  activ  und  passiv  ganz  gleich  sind,  und  ein  kurzer  hinweis  des 
lehrers  darauf,  dasz  dies  auch  in  den  andern  conjugationen  der  fall 
ist,  würde  den  schülern  zeigen,  dasz  es  für  diese  formen  nur  eine 
einzige  conjugation  gibt.^*  indem  aber  bei  der  regelrechten  vierten 
conjugation  für  die  knaben  eine  art  ruhepause  einträte,  würde  man 
hier  vielleicht  anfangen  können,  die  genera,  temporaund  modi  mehr 
durcheinanderzuwürfeln,  um  den  schülern  gelegenheit  zu  schwie- 
rigeren Übungen  zu  bieten,  die  dritte  conjugation  könnte  dann 
wieder  anfangs  eine  Scheidung  zwischen  activ  und  passiv  vornehmen, 
würde  aber  später  damit  etwas  freier  schalten,  namentlich  aber 
müste  hier  der  zweite  gesichtspunkt  maszgebend  sein,  dasz  die 
Verbalstämme  wiederholt  geübt  würden,  schlieszlich  wäre  die  misch- 
conjugation  der  verba  auf  -io  nur  anhangsweise  zu  behandeln. 

4.    Zusammenhängende  lesestücke  im  lehrbuch. 

Nachdem  wir  versucht  haben,  den  grammatischen  stoff  haus- 
hälterisch einzuteilen ,  treten  wir  an  die  frage  heran ,  wo  man  den 
einzelsätzen  etwa  zusammenhängende  lesestücke  einfügen 
und  wie  man  diese  im  unterrichte  behandeln  möge,  mit  recht  be- 
tonen die  neuen  lehrpläne'-  den  umstand,  dasz  die  lesestücke 
eine  Vorstufe  für  die  lectüre  der  Schriftsteller  bilden  sollen,  und 
wünschen  dementsprechend,  dasz  ihr  Inhalt  der  alten  sage  und  ge- 
schichte  entnommen  werde,  ob  es  aber  zweckmäszig  ist,  den  sex- 
tanern  bereits  'möglichst  viel  zusammenhängenden  Inhalt'  zu  bieten, 
dies  erscheint  uns  einer  näheren  erörterung  würdig  zu  sein. 

In  früheren  lehrbüchern  waren  den  einzelsätzen,  die  oft  inhaltlich 
sehr  wenige  beziehungen  unter  einander  hatten,  für  den  schlusz  des 
sextanerjahres  einige  fabeln  und  anekdoten  angegliedert,  neuerdings 
läszt  man  die  lesestücke,  die  den  stoff  so  darbieten,  wie  ihn  die  lehr- 
pläne  verlangen,  schon  ziemlich  früh  beginnen,  so  bringen  neuere 
lehrbücher  zuweilen  schon  hinter  den  adjectiven  der  ersten  und 
zweiten  declination  ihren  ersten  zusammenhängenden  lesestoflF.  es 
sei  uns  gestattet,  solche  vorlagen  nach  unseren  beobachtungen  einer 
kleinen  betrachtung  zu  unterziehen,  man  könnte  sie,  so  viel  wir 
sehen,  in  zwei  classen  einteilen,  bei  der  ersten  abteilung  überrascht 
oft  die  fülle  der  eigennamen;  da  wird  dem  unfähigen  köpf,  der  von 
diesen  dingen  noch  keine  klare  Vorstellung  haben  kann,  manchmal 
in  einem  einzigen  stücke  die  griechische  sage  und  geschichte  in 
kurzem  abrisz  enthüllt,  zuerst  kommen  städte,  dann  die  götter,  die 
dichter,  die  gelehrten  männer,  die  kriegshelden,  endlich  die  Perser- 
kriege und  die  kunst.  es  ist  uns  zweifelhaft,  ob  kinder  in  so  jugend- 
lichem alter  von  diesem  langen  namenregister  inhaltlich  einen 
nachhaltigen  nutzen  mit  nach  hause  tragen,    an  der  zweiten  classe 


«'  s.  heft  9  s.  437.         "^  neue  lehrpläne  s.  18. 


E.  Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  sextu  und  quinta.     499 

dieser  Übungsstücke  nehmen  wir  wahr,  wie  der  lateinische  text  mehr- 
fach durch  beigefügte  deutsche  Übersetzungen  unterbrochen  wird, 
und  erinnern  uns  unwillkürlich  an  die  Warnung,  die  Roth  fuchs 
in  der  oben^''  angeführten  stelle  diesem  verfahren  entgegenhält; 
im  übrigen  aber  bemerken  wir,  dasz  die  schüler  aus  einem  der- 
artigen lesestück  sprachlich  wohl  kaum  einen  vorteil  ziehen 
werden. 

ünserm  bekannten  grundsatze,  dasz  inhalt  und  form  in 
lebendiger  Wechselwirkung  zu  einander  stehen  müssen,  entsprechen 
solche  Übungsstücke  keineswegs,  worin  liegt  nun  die  Schwierig- 
keit, dasz  man  den  kleinen  noch  nicht  so  viel  Zusammenhang  dar- 
bieten kann?  zunächst  doch  wohl  darin,  dasz  die  unreifen  köpfe 
den  in  fremder  spräche  dargereichten  inhalt  noch  nicht  überblicken 
können,  denn  die  bewältigung  der  form  legt  ihnen  allzu  viele 
hindernisse  in  den  weg.  auch  scheint  es  unserer  subjectiven  an- 
sieht nach  für  den  Verfasser  von  lehrbüchern  bei  Zusammenstellung 
solcher  lesestücke  wichtig  zu  sein,  dasz  sie  mit  möglichst  vielen 
verbalformen  arbeiten  können,  erst  dann  also,  wenn  die  con- 
jugationen  bereits  begonnen  haben,  wird  es  vielleicht  zeit  sein,  die 
ersten  längeren  lesestücke  dem  grammatischen  stofif  beizufügen,  und 
man  verwende  alsdann  womöglich  inhaltlich  nur  das,  was  auch  nach 
dem  augenblicklichen  stand  der  kenntnisse  zugleich  gramma- 
tisch verstanden  werden  kann,  um  aber  den  knaben  den 
tiberblick  zu  erleichtern  und  sie  allmählich  auf  gröszere  lesestücke 
vorzubereiten,  wäre  es  vielleicht  nicht  unangemessen,  ihnen  anfangs 
in  kleineren  gruppen  Zusammenhang  zu  bieten,  wie  dies  auch  in 
neueren  lehrbüchern  zuweilen  geschieht,  und  es  wäre  nur  zu  wün- 
schen, dasz  namentlich  den  anfängern  öfter  kleine,  ihrem  gramma- 
tischen Verständnis  angepasste  erzählungen  vorgeführt  würden,  auch 
sei  es  uns  gestattet,  an  dieser  stelle  auf  unsere  oben  dargebotene 
Zusammenstellung  inhaltlich  verwandter  sätzchen  ""'  und  auf  das  ver- 
fahren hinzuweisen,  das  wir  bei  gelegenheit  der  declination""  ein- 
zuschlagen wünschten. 

Je  weiter  die  schüler  vorschreiten,  desto  leichter  wird  es  ihnen 
fallen,  gröszere  zusammenhänge  zu  verstehen  und  inhaltlich  aufzu- 
fassen, darum  mögen  die  lesestücke,  die  in  quinta  mit  einzel- 
sätzen  abwechseln,  an  zahl  und  ausdehnung  immer  mehr  zunehmen, 
aber  auch  hier  wird  das  lehrbuch  darauf  bedacht  nehmen,  dasz  form 
und  inhalt  möglichst  ineinandergreifen,  dies  gilt  besonders  für  den 
anfang,  weil  später  die  schüler  schon  so  viel  sprachlich-grammatische 
kenntnisse  besitzen,  dasz  die  auswahl  der  stücke  sich  schon  freier 
gestalten  kann,  für  das  erste  halbjahr  dieser  stufe  besteht  aber  eine 
hauptaufgabe  im  lernen  und  einüben  der  vielen  verba  aus  sämtlichen 
conjugationen,  und  soweit  wir  bemerken  konnten,  sind  neuere  lehr- 


99  s.  heft  9  s.  431  anm.  25.         ""'  s.  oben  s.  491. 
'0'  s.  heft  9  s.  430. 


500     E,  Cornelius :  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta. 

bücber  zuweilen  mit  erfolg  bemüht,  zwischen  den  einzelsätzen  lese- 
stücke einzuschalten,  in  denen  kurz  vorher  gelernte  vcrba  zu  einer 
gröszeren  oder  kleineren  geschichte  verarbeitet  sind,  wenn  andere 
stücke  eines  und  desselben  lehrbuches  in  dieser  beziehung  vielleicht 
weniger  günstig  gestellt  sind,  so  liegt  dies  wohl  hauptsächlich  daran, 
dasz  manchmal  Zeitwörter  verwendet  sind,  die  den  lateinbeflissenen 
vorher  noch  nicht  in  sprachlicher  Übersicht  bekanntgeworden  sind; 
darum  dürfte  es  sich  empfehlen,  solche  an  und  für  sich  gute  stücke 
auf  eine  spätere  stelle  des  betreffenden  lehrbuches  zu  versparen. 

Indem  wir  nunmehr  zur  behandlung  der  zusammen- 
hängenden stücke  in  der  classe  übergehen,  werden  sich 
unsere  leser  erinnern ,  was  wir  oben  '"^  über  die  art  des  con- 
struierens  gesagt  haben;  knaben  aber,  denen  beim  übertragen  eines 
einzelsatzes  dessen  inhalt  jedesmal  plastisch  vor  äugen  schwebt, 
haben  dadurch  schon  einen  anfang  zur  richtigen  auffassung  inhalt- 
lich verwandter  sätze  und  gröszerer  lesestücke  gemacht,  wenn  aber 
einzelsätze  zur  einübung  der  grammatischen  begriffe  vorhanden  sind, 
dann  ergibt  es  sich  von  selbst,  dasz  lesestücke  auf  das  Verständnis 
des  inhalts  lossteuern,  so  sagt  schon  Oskar  Jäger  in  seinem  buche 
über  *das  humanistische  gymnasium'  s.  31  mit  recht:  'zur  lectüre 
kann  man  zwar  nicht  so  früh  wie  der  Perthesianismus  will,  wohl 
aber  ziemlich  früh  schreiten  —  sobald  nämlich  der  scbüler,  zwar  an 
der  band  des  lehrers,  aber  in  eigner  kraftbethätigung  ein  zusammen- 
hängendes lateinisches  stück  ins  deutsche  übersetzen  —  übersetzen, 
nicht  sich  vorübersetzen  lassen  • —  kann;  es  sollte  dann  bei  dieser 
nunmehr  möglich  gewordenen  lectüre  schlechterdings  nichts  gram- 
matisches abgefragt  werden,  auszer  was  ganz  unmittelbar  zum  Ver- 
ständnis des  textes  und  dadurch  zum  richtigen  übersetzen  führt.* 
diesen  vortrefflichen  werten  können  wir  nur  hinzufügen,  wie  wir 
uns  etwa  die  entwicklung  dieses  inhaltlichen  Verständnisses  bei  den 
Schülern  der  zwei  unterclassen  vorstellen,  da  wir  wünschen '"^  dasz 
man  anfängern  inhaltlich  zusammenhängendes  zunächst  nur  in 
kleinen  dosen  reiche,  können  wir  uns  bei  ihnen  um  so  mehr  damit 
begnügen ,  dasz  sie  diese  Stückchen  in  gutes  deutsch  verwandeln, 
dem  quin  tan  er  aber,  dem  im  lauf  der  zeit  immer  mehr  und 
gröszerer  Zusammenhang  geboten  wird,  kann  man  schon  zumuten, 
mit  solchen  lesestücken  ganz  ähnlich  zu  verfahren,  wie  er  dies  bei 
der  lectüre  seines  deutschen  lesebuchs  von  sexta  an  gewöhnt  ist:  der 
lehrer  wird  etwa,  nachdem  das  ganze  übersetzt  ist,  fragen  nach  dem 
inhalt  stellen,  ein  andermal  werden  die  scbüler  das  gelesene  nach- 
erzählen, bei  einer  dritten  gelegenheit  werden  sie  selber  eine  Inhalts- 
angabe machen,  namentlich  aber  scheinen  uns  solche  Übungen  am 
platze  zu  sein,  wenn  gegen  ende  des  letzten  Vierteljahres  in  quinta 
der  grammatische  stoff  einigermaszen  erschöpft  ist.    dies  ist,  wia 


oben  s.  489. 
oben  s.  499. 


E.  Cornelias:  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta,     501 

uns  dünkt,  eine  angemessene  Vorbereitung  auf  die  classikerlectüre, 
denn  der  künftige  quartaner,  mag  ihm  nun  Cornelius  Nepos  selbst 
oder  eine  bearbeitung  dieses  Schriftstellers  vorgelegt  werden,  wird 
doch  wohl  auf  ähnliche  weise  die  Schwierigkeiten  dieser  lectüre  zu 
überwinden  suchen. 

Der  deutsche  Unterricht   in  sexta  und  quinta,   so  weit  er 
für  den  vorliegenden  zweck  in  betracht  kommt. 

1.    Die  deutschen  dictate. 

Es  bleibt  uns  noch  übrig,  dem  eigentlich  deutschen  Unter- 
richt in  den  beiden  unteren  gymnasialclassen,  so  weit  er  nach 
unsern  einleitenden  bemerkungen'"'  in  den  rahmen  unserer  aufgäbe 
fällt,  einen  zweiten  und  letzten  abschnitt  zu  widmen,  und 
so  kehren  wir  denn  nach  der  obigen  abschweifung  in  das  lehrgebiet 
der  quarta  zu  den  jüngsten  schülern  des  gjmnasiums  zurück,  um 
uns  zuvörderst  die  frage  vorzulegen:  wie  mögen  die  deutschen 
dictate  in  sexta  und  quinta  gestaltet  werden,  damit  sie  in  losem 
verband  mit  dem  lateinischen  Unterricht  die  übung  in  der  re cht- 
schreibung  und  interpunction  befördern? 

Der  soeben  aus  der  volks-  oder  Vorschule  in  die  sexta  auf- 
genommene knabe  tritt  plötzlich  in  eine  neue  geistige  weit  ein:  bisher 
hatte  er  es  nur  mit  seiner  muttersprache  zu  thun,  mit  der  er  sich  in 
täglichen  deutschen  stunden  immer  mehr  vertraut  machte,  jetzt  aber 
beschränkt  sich  der  'deutsche'  Unterricht  auf  vier  wochenstunden, 
von  denen  eine  den  geschichtserzählungen  zugewiesen  ist,  während 
er  nunmehr  seine  geistige  Spannkraft  in  hervorragendem  masze  auf 
das  latein  werfen  musz,  das  acht  wochenstunden  in  anspruch  nimmt. 
hierbei  liegt  natürlich  die  gefahr  nahe,  dasz  der  uni-eife  köpf  über 
der  Vervollkommnung  in  der  fremdsprache  rückschritte  in  der 
deutschen  rechtschreibung  macht,  wenn  ihm  in  letzterer  von  vorn 
herein  allzu  schwierige  aufgaben  gestellt  werden,  darum  erscheint 
es  uns  als  ein  gebot  der  billigkeit,  dem  kleinsten  unter  den  gjmna- 
siasten  im  deutsehen  dictat  die  sache  zunächst  zu  erleichtern,  selbst 
wenn  dadurch  die  anforderungen  der  Volksschule  anfangs  etwas 
heruntergeschraubt  werden  sollten,  wenn  man  aber  von  dem  ge- 
danken  ausgeht,  dasz  die  dictate  der  grammatischen  lehraufgabe 
'  einigermaszen  anzupassen  sind,  dann  würde  unser  obiger  Vorschlag 
auch  den  neuen  lehrplänen "'^  entsprechen,  denn  diese  weisen  die 
redeteile  und  den  einfachen  satz  der  sexta  zu,  der  quinta  dagegen 
die  interpunction  und  den  zusammengesetzten  satz. 

Hildebrand  sagt  in  seinem  vortrefflichen  buch  über  den 
deutschen  Sprachunterricht'"®,  dasz  man  mit  der  Orthographie  bei 


10^  8.  heft  9  s.  428.         '«^  s.  neue  lehrpläne  s.  13  f. 

^"^  R.  Hildebrand,  der  deutsche  Sprachunterricht  s.  62:  'man  müste 
mit  der  Orthographie,  die  ja  immer  nur  das  kleid  des  wertes  ist,  die 
äuszerste    muttergeduld    haben,      mit    dem   Schreibunterricht  beginnt  ja 


502     E.  Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta. 

den  Schülern  die  'äuszerste  muttergeduld'  haben  müsse,  aber  bei 
all  unserer  Verehrung  für  diesen  meister  der  deutschen  spräche 
möchten  wir  doch,  dasz  die  knaben  auch  hierin  schon  frühzeitig  in 
feste  zucht  genommen  werden,  und  datz  sie  sich,  wenn  nötig,  immer 
rechenschaft  darüber  geben,  warum  das  vorliegende  wort  gerade 
so  und  nicht  anders  zu  schreiben  ist.  doch  wir  wollen  auf  unsere 
ursprüngliche  frage  zurückgreifen  und  uns  überlegen,  wie  die  losen 
bände  zwischen  dem  deutschen  dictat  und  dem  lateinischen  unter- 
richtsgang angeknüpft  werden  können,  da  stoszen  wir  zunächst  auf 
das  Substantiv,  dessen  declinationen  sich  die  kleinen  gerade  ein- 
prägen, und  wir  lassen  in  den  ersten  wochen  dictate  schreiben,  die 
lediglich  aus  hauptwörtern  bestehen,  doch  wozu  immer  dictieren? 
zeitweise  möge  die  schar  lebendig  werden  und  selbst  beispiele  finden, 
sich  selbst  das  dictat  dictieren!  da  gibt  es  ja  genug  einteilungs- 
arten,  z.  b.  die  ganze  Verwandtschaft,  wie  vater,  mutter  usw.,  ver- 
schiedene berufsarten,  wie  arzt,  kaufmann  usw.,  körperteile  und 
bekleidungsstücke,  wie  haupt,  rümpf,  rock,  hose  usw.;  von  den 
einfachen  kommt  man  zu  den  zusammengesetzten  Substantiven: 
1)  mit  ihren  vor-  und  nachsilben,  z.  b.  fortsetzung,  Vorhang,  rück- 
kehr,  entdeckung,  Wahrhaftigkeit,  möglichkeit  usw.,  2)  zu  solchen, 
die  aus  zwei  hauptwörtern  bestehen,  wie  hausthüre,  stadtthor,  ketten- 
hund,  kriegsruhm,  bürgerkrieg  ''^  usw.  und  wie  soll  die  besprechung 
der  dictate  vor  sich  gehen?  am  besten  merkt  sich  der  lehrer,  wie 
uns  scheint,  die  Wörter,  die  falsch  geschrieben  wurden,  führt  sie  den 
Schülern  in  der  folgenden  stunde  an  der  Wandtafel  vor  äugen  und 
mutet  alsdann  dem  jungen  gedächtnis  zu,  dasz  die  schüler  zu  hause 
nach  ihrer  erinnerung  die  arbeit  verbessern. 

Besonderen  wert  aber  legen  wir  darauf,  dasz  die  schüler  ge- 
zwungen werden,  bei  der  Orthographie  immer  über  die  Zusammen- 
setzung der  Wörter  nachzudenken,  denn  wer  einmal  verstanden 
hat,  warum  'entdeckung'  mit  td,  'rückkehr'  mit  zwei  k,  'stalllaterne' 
mit  drei  1  geschrieben  wird'"'',  von  dem  kann  man  auch,  selbst  wenn 
er  die  betreffenden  wörter  noch  nicht  gedruckt  vor  sich  gesehen  hat, 
verlangen ,  'Norddeutschland'  und  'sanddüne'  richtig  zu  schreiben, 
oder  später  bei  den  verben  'vortragen'  und  'forttragen'  oder  'er- 
raten', 'verraten'  und  'beraten' auseinanderzuhalten,  man  sieht,  wir 
sind  im  fortgang  unserer  Übungen  bereits  in  den  ersten  wochen 
des  sextanerjabres  mitten  in  die  deutsche  wortbildungslehre 
hineingeraten  und  dürfen  uns  daher  vielleicht  den  verschlag  er- 
lauben, diesen  gegenständ,  den  die  neuen  lehrpläne  der  quarta  zu- 


früh die  grewöhnung  an  die  einmal  gültige  form,  und  nur  die  allmäh- 
liche gewölinung  ist  die  macht,  die  hier  helfen  kann,  dasz  äuge  und 
ohr  sich  endlich  verständigen. 

'"7  s.  het't  9  s.  4;)3,  woraus  hervorgeht,  dasz  man  gleichzeitig  im  latei- 
nischen solche  Substantive  vorbringen  kann. 

'"8  man  vergleiche  auch  Wortbildungen  wie  'Rhein-  und  Moseldampf- 
schiffahrt' u.  ä. 


E.Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta.     503 

weisen  '°^,  in  Verbindung  mit  den  dictaten  dem  programm  der  sexta 
einzuverleiben,  denn  wenn  die  lehrpläne  schon  den  wünsch  Leh- 
manns"" erfüllen,  dasz  man  der  wortbildungslehre  behufs  syste- 
matischer behandlung  irgendwo  einen  platz  einräumen  möge,  so 
gehen  wir  einen  schritt  weiter  und  glauben,  dasz  gerade  die  sextaner 
mit  ihrem  guten  formengedächtnis  geeignet  sind,  wenigstens  vor- 
bereitungsweise diesen  wichtigen  lehrgegenstand  zu  bearbeiten. 

Über  das  weitere ,  was  der  sextaner  in  der  rechtschreibung  zu 
leisten  hat,  können  wir  uns  nach  dem  gesagten  um  so  kürzer  fassen, 
als  die  belehrung  darüber  sich  in  der  gleichen  art  vollzieht,  zum 
Substantiv  gesellt  sich  im  lateinischen  Unterricht  bald  als  attribut 
ein  adjectiv,  was  veranlassung  gibt,  in  der  nächsten  zeit  nur 
eigenschaftswörter  zu  dictieren  oder  von  den  schülern  selbst  auf- 
finden zu  lassen,  wir  wollen  hierüber  ein  paar  andeutungen  geben, 
gelegentlich  mag  es  für  die  knaben  eine  gute  Übung  sein,  einfache 
adjective  und  deren  gegenteil  niederzuschreiben,  was  bekanntlich 
auf  zweierlei  weise  geschehen  kann,  denn  entweder  tritt  ein  ganz 
neues  wort  ein,  wie  'gut  :  schlecht',  oder  die  spräche  hilft  sich  mit 
Vorsilben,  wie  'artig  :  unartig',  'vergnügt  :  mis vergnügt',  indem 
man  alsdann  zu  andern  Vorsilben,  z.  b.  uralt,  vollzählig,  und  zu 
den  nachsilben,  insbesondere  ig,  isch  und  lieh,  übergeht,  deren 
Schreibweise  den  schülern  manche  Schwierigkeiten  darbietet,  läszt 
man  sie  dann  Wortverbindungen,  wie  'der  prächtige  palast'  oder  'ein 
herliches  gebäude',  zusammensetzen,  deren  gibt  es  ja  in  hülle  und 
fülle,  und  wenn  man  auch  noch  die  declinationsübungen  mit  hinein- 
ziehen will,  mag  man  zur  einübung  der  schwierigen  buchstaben  f,  s, 
SS,  sz,  z,  tz  die  schriftliche  flexion  folgender  Wortverbindungen  voll- 
ziehen lassen :  'ein  nasser  fusz',  'ein  groszer  flusz',  'eine  schwarze 
katze',  'ein  weiszes  ki'euz'  u.  ä. 

Auch   die   Steigerung   der  adjective  und  adverbien  kommt 

'"ä  neue  lehrpläne  s.  14.  quarta:  grammatik.  der  zusammengesetzte 
Satz,  das  wichtigste  aus  der  wortbildungslehre,  an  typische  beispiele 
angeschlossen. 

*'°  Lehmann,  der  deutsche  Unterricht  s.  103:  'von  einer  systema- 
tischen und  umfassenden  behandlung  der  wortbildungslehre  kann  frei- 
lich nicht  die  rede  sein,  und  es  würde  an  und  für  sich  nichts  dagegen 
sprechen,  die  einzelnen  abkitungssilben,  die  verschiedenen  suffixe,  prä- 
fixe  usw.  ganz  gelegentlich  auf  den  verschierlenen  stufen  des  Unter- 
richts zur  spräche  zu  bringen,  allein  es  ist  eine  bekannte  erfahrung, 
dasz  aus  solchen  gelegentlichen  erörterungen  nicht  viel  zu  werden 
pflec;t,  und  dasz  alles,  was  wirksam  betrieben  und  ernsthaft  behandelt 
werden  soll,  einen  festen  platz  im  unterrichtsgang  haben  musz.'  — 
Vgl.  auch  s.  149:  'endlich  kann  es  auch  für  die  Orthographie  und  inter- 
punction  nur  von  nutzen  sein,  wenn  diese  Übungen  (Lehmann  meint 
aufsätzchen)  mit  den  dictaten  wechseln,  die  sonst  einförmig  und 
ausschlieszl  i  ch  diesen  zwecken  gewidmet  sind'  usw.  —  Zu  diesen 
ausführungen  Lehmanns  möchten  wir  bemerken,  dasz  neben  den  auf- 
sätzchen auch  durch  einfülirung  der  wortbildungslehre  in  die  dictate 
der  zweck  derselben  nicht  mehr  so  ganz  einseitig  auf  die  ortliographie 
und  interpunclion  gerichtet  wäre. 


504     E.  Cornelius:  lateiuisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta. 

dem  deutschen  dictat  zu  gute,  wenn  die  kleinen  niederschreiben: 
'bekannt,  bekannter,  am  bekanntesten',  'gewandt,  gewandter,  am 
gewandtesten',  'bedeutend,  bedeutender,  am  bedeutendsten',  und 
wenn  sie  sich  bei  'viel,  mehr,  am  meisten'  oder  'gut,  besser,  am 
besten'  daran  erinnern,  dasz  auch  die  deutsche  spräche  eine  unregel- 
mäszige  comparation  hat. 

Die  knaben  wissen  ferner,  dasz  die  Zahlwörter  uneigentliche 
adjective  sind  und  in  bestimmte  und  unbestimmte  eingeteilt  werden; 
sie  schreiben  in  ihr  deutsches  heft:  'sechzig,  achtzig,  achtzigjährig, 
einige ,  etliche ,  ein  paar  stiefel ,  ein  paar  regentropfen'  und  denken 
vielleicht  gleichzeitig  über  den  unterschied  zwischen  'jährig'  und 
'jährlich'  (vgl.  auch  Hhätigkeit'  und  'thätlichkeit')  nach. 

Zwischendurch  sind  auch  adverbiale  bestimmungen  be- 
kannt geworden,  und  der  lateinische  und  deutsche  Unterricht  haben 
gemeinsam  in  der  oben'"  angegebenen  weise  den  formellen  unter- 
schied zwischen  'dort'  und  'an  jenem  orte'  aus  den  schillern  heraus- 
gearbeitet, somit  zeigt  sich  eine  passende  gelegenheit,  adverbien 
und  präpositionelle  ausdrücke  zu  dictieren,  wie  'hüben,  drüben, 
droben,  drunten,  vorwärts,  rückwärts,  tags,  nachts,  jetzt,  bereits, 
am  morgigen  tage,  auf  dem  teppich,  auf  dem  aussichtsturm'  u.  ä. 
beiläufig  mag  man  auch  die  monatsnamen ,  Jahreszeiten  u.  ä.  vor- 
bringen. 

Später  sind  vielleicht  p  r  o  n  o  m  i  n  a  und  a  d  v  e  r  b  i  a ,  wie  'jeder- 
mann, überall,  nirgends'  am  platze,  denen  sich  interjectionen, 
wie  'weh,  ach,  juchhe,  hurra'  anschlieszen  mögen. 

Indem  wir  nun  zur  abwechslung  auch  manchmal  ähnlich  klingende 
Wörter,  z.  b.  'pflüg,  fluch,  flug'  oder  'regen,  rechen'  usw.  usw.  in 
kleinen  Übungssätzen  vorgeführt  haben  und  auch  schon  zu  leichteren 
aufsätzchen  übergegangen  sind"*,  ist  im  Winterhalbjahr  das  latei- 
nische verbum  zur  spräche  gekommen,  das  nach  unsern  aus- 
führungen"'  die  Übung  des  deutschen  Zeitworts  miteinschlieszt. 
schon  beim  dictieren  bloszer  infiniti  ve,  die  wiederum  einfach  sein 
können,  wie  'raten,  schlieszen',  oder  zusammengesetzt,  z.  b.  'be  raten, 
erraten,  beschlieszen,  ent schlieszen',  tritt  die  wortbildungslehre 
mit  ihren  vor-  und  nachsilben  in  ihre  rechte  ein,  und  man  scheue 
sich  nicht,  den  schülern  etwa  folgende  schwierige  Wortbildungen  an- 
zugeben: 'benachrichtigen,  ermöglichen,  vervielfältigen,  v er- 
leid igen,  beleidig  en,  ächzen,  krächzen,  jauchzen,  seufzen  u.a."* 
da  wir  aber  neben  den  lateinischen  auch  jedesmal  die  deutschen 
Stammformen  aufzählen  lieszen"*,  so  geben  wir  im  dictat  den 
Bchülei'n  Infinitive  an,  wie  'leuchten,  kriechen,  bekriegen,  nennen, 


"•  s.  oben  s.  493. 

"2  vgl.  den  folgenden  abschnitt  über  aufsatzbesprechung. 
1"  vgl.  heft  9  s.  436  und  438. 

*'*  man  kann  die  schüler  ja  vor  der  niederschrift  über  diese  Wörter 
nachdenken  lassen. 

H5  s.  heft  9  s.  436. 


E.  Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quiuta.     505 

kennen',  wodurch  sie  sich  unwillkürlich  den  unterschied  zwischen 
starker,  schwacher  und  gemischter  conjugation  ver- 
gegenwärtigen, bevor  sie  die  vollständigen  Stammformen  dieser  Zeit- 
wörter ihrer  niederschrift  einverleiben,  dasz  aber  auch  ein  dictat, 
das  nur  aus  deutschen  hilfszeitwörtern  besteht,  der  Ortho- 
graphie förderlich  sein  kann ,  zeigt  der  vergleich  von  formen  wie : 
mag,  möge,  mochte,  möchte,  du  muszt,  wir  müssen,  wir 
muszten  usw. 

Um  auch  noch  ein  wörtchen  von  einigen  modi  zureden,  so 
läszt  sich  der  imperativ  in  ähnlicher  weise  schriftlich  verwenden, 
wie  wir  ihn  oben'"'  zur  mündlichen  Übung  vorgeschlagen  haben,  und 
bezüglich  des  Infinitivs  waltet  ein  unterschied  in  der  Schreibweise 
und  bedeutung  von  'geben,  zu  geben,  zugeben  und  zuzugeben',  end- 
lich ist  der  sextaner  im  verlaufe  des  Schuljahres  darüber  aufgeklärt 
worden,  dasz  auch  die  part  icipien  zu  den  uneigentlichen  adjectiven 
gehören,  und  er  mag  im  Zusammenhang  mit  dieser  erkenntnis  in 
seine  rechtschreibübungen  einflechten:  'der  blühende  bäum'  oder 
'das  abgebrannte  haus'  u.  ä. 

Indem  wir  schlieszlich  noch  auf  bildungen  aufmerksam  machen, 
in  denen  die  Wortarten  unter  einander  wechseln,  z.  b.  'mögen,  mög- 
lich, möglicbkeit,  ermöglichen',  werfen  wir  nun  noch  einen  blick  auf 
die  lehraufgabe  der  quinta. 

Für  diese  classe  schreiben  die  lehrpläne  "^  als  grammatischen 
stoff  den  einfachen  und  den  erweiterten  sowie  das  notwendigste  vom 
zusammengesetzten  satze  vor,  und  als  schriftliche  aufgaben  dictate 
zur  einübung  der  rechtschreibung  und  interpunction.  schon  das 
häufige  construieren  von  deutschen  und  lateinischen  Sätzen  gab  den 
kleinsten  gymnasiasten  einen  begriff  vom  einfachen  und  vom  er- 
weiterten Satz,  und  den  nunmehr  vorgerückten  wird  es  um  so  leichter 
fallen,  in  der  deutschen  stunde  an  beispielen  aus  der  eignen  spräche 
diese  kenntnisse  zu  erweitern  und  zu  vertiefen,  die  dictate  aber,  die 
nach  unsern  obigen  angaben  in  sexta  meistens  aus  einzelnen  Wörtern 
oder  Wortverbindungen  und  nur  gelegentlich  aus  kleineren  Sätzen 
bestanden,  können  jetzt  in  anlehnung  an  die  grammatik  kleine  un^l 
allmählich  gröszere  sätze  enthalten,  denen  der  lehrer  ja  nach  be- 
lieben schwierig  zu  schreibende  Wörter  einfügen  mag.  dazu  treten 
noch  interpunctionsübungen,  und  wir  glauben,  dasz  der  lehrer  gut 
daran  thut,  solche  dictate  zeitweise  mit  mündlichen  belebrungen 
einzuleiten,  die  alsdann  in  entsprechend  geformten  Sätzen  unmittel- 
bar darauf  schriftlich  geübt  werden,  die  lehre  vom  zusammen- 
gesetzten satz  ist  aber  so  nahe  mit  der  über  das  komma  ver- 
wandt, dasz  man  einer  Verschmelzung  beider  gegenstände  wohl  kaum 
aus  dem  wege  gehen  wird. 

Wir  müssen  es  uns  versagen ,  dem  deutschen  unterrichte ,  der 
sieh  von  seinen  beziehungen  zum  latein  nun  immer  mehr  loslöst,  auf 


"6  8.  heft  9  s.  441.         "'  neue  lehipliine  s.  14. 
N.jahrb.  f.  phil.  u.  päd.  II,  abt.  1897  hft.  10  n.  11.  33 


506     E.  Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta. 

seinen  selbständigen  wegen  zu  folgen,  die  er  nun  weiterwandert, 
nur  den  zuletzt  hervorgehobenen  umstand  dürfen  wir  noch  einmal 
aufgreifen,  um  unserer  aufgäbe,  Wechselbeziehungen  zwischen  der 
alten  und  neuen  cultursprache  nachzuspüren,  völlig  gerecht  zu 
werden,  die  lehre  vom  komma,  so  weit  dieses  Satzzeichen  nicht 
als  Stellvertreter  des  wörtchens  'und'  oder  zur  abtrennung  des 
vocativs  und  ähnlichen  geschäften  gebraucht  wird,  ist  sozusagen 
mit  der  vom  zusammengesetzten  satz  identisch,  der  letztere 
bildet  bekanntlich  entweder  eine  Satzverbindung  oder  ein  Satz- 
gefüge, und  in  beiden  fällen  trennt  das  komma  die  einzelnen  sätze 
der  periode  von  einander  ab.  das  empfängliche  gedächtnis  des 
quintaners  wird  natürlich  leicht  behalten,  dasz  einerseits  vor  'denn' 
oder  'aber',  anderseits  vor  'weil'  oder  'als'  das  strichlein  stehen 
musz,  nur  fragt  es  sich,  ob  er  auch  für  seinen  geistigen  besitz  etwas 
gewonnen  hat,  wenn  er  nun  mechanisch  das  zeichen  an  die  betreffende 
stelle  einfügt,  anders  steht  die  sache,  wenn  er  sich  klargemacht 
hat,  dasz  z.  b.  in  der  Satzverbindung,  'der  herr  befiehlt,  und  der 
knecht  gehorcht""*,  der  zweite  satz  einfach  auf  den  ersten  folgt, 
während  bei:  'der  herr  befiehlt,  aber  der  knecht  gehorcht  nicht' 
ein  böser  knecht  gemeint  ist,  der  das  gegenteil  von  dem  thut,  was 
ihm  sein  herr  befohlen  hat.  er  weisz  dann,  warum  im  einen  falle 
das  bindewort  'und',  im  andern  dagegen  'aber'  angewandt  ist,  und 
merkt  sich  gleichzeitig,  dasz  die  Viertelpause  zwischen  den  zwei 
Sätzen  durch  ein  komma  angedeutet  wird,  wenn  dann  der  anfänger 
in  derselben  lehrstunde  ein  entsprechendes  dictat  niederschreibt, 
wobei  ihm  die  Satzzeichen  nicht  vorgesagt  werden ,  dann  wird  der 
vorgeschrittenere  sich  mit  leichterer  mühe  und  gröszerer  Selb- 
ständigkeit weiter  helfen  können. 

Den  Schlüssel  zum  Verständnis  des  Satzgefüges  aber  gibt 
der  lehrer  seinen  Zöglingen  dadurch  in  die  band,  dasz  er  ihnen  die 
entstehung  der  nebensätze  erklärt,  schreibt  man  den  einfach  er- 
weiterten satz  an  die  tafel:  'das  grosze  haus  steht  in  flammen', 
und  fordert  die  schüler  auf,  das  attribut  'grosz'  in  einen  ganzen 
satz  zu  verwandeln,  dann  werden  sie  sich  erinnern,  dasz  nur  dann 
ein  wirklicher  satz  entsteht,  wenn  ein  prädicat  vorhanden  ist,  sie 
werden  also ,  vielleicht  nach  einigem  nachdenken  oder  auch  ver- 
fehlten versuchen,  zuletzt  sagen:  'das  haus,  das  grosz  ist,  steht 
in  flammen',  mit  hilfe  der  Wandtafel  wird  nun  den  schülern  vor 
äugen  geführt,  dasz  eine  Verwandlung  vor  sich  gegangen  ist,  indem 
aus  einem  satz  zwei  entstanden  sind,  zugleich  merken  die  Zu- 
schauer, dasz  das,  was  in  der  ersten  fassung  nur  einen  Satzteil, 
das  attribut,  bildete,  in  der  zweiten  einen  vollständigen  satz  aus- 
macht;  nach  gründlicherem  überlegen  finden   sie  heraus,   warum 


'*-  es  sei  beiläufig  bemerkt,  dasz  die  kinder  häufig  aus  der  Volks- 
schule die  ganz  falsche  regel  mitbringen,  dasz  •'^or  «und»  niemals 
ein  komma  stehe.' 


E.  Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta.     507 

dieser  nebensatz  als  bloszer  Stellvertreter  eines  Satzteiles  einen  un- 
selbständigen Charakter  trägt,  und  werden  ihm,  zu  noch  genauerer 
forschung  angeregt,  den  namen  attributivsatz  erteilen,  die  Ursache 
aber,  weshalb  die  adjectivi.'^che  beifügung  sich  ohne  interpunctions- 
zeichen  dem  hauptworte  anfügt,  während  der  relativsatz,  eben  weil 
er  ein  satz  ist,  in  zwei  kommata  eingeschlossen  wird,  kommt  den 
knaben  nun  auch  zum  vollen  bewustsein.  auch  hier  möge  sich  un- 
mittelbar ein  passendes  dictat  anschlieszen.  auf  gleiche  weise  wer- 
den die  Schüler  temporal-,  causal-  und  sonstige  nebensätze  ent- 
wickeln. 

Natürlich  bietet  das  lateinische  Übungsbuch  den  quintanern  auf 
schritt  und  tritt  erweiterte  und  zusammengesetzte  sätze,  so  dasz  sie 
fortwährend  willkürlich  oder  unwillkürlich  gelegenheit  haben,  die 
im  deutschen  Unterricht  erworbenen  kenntnisse  zu  verwerten;  auch 
mag  der  lehrer  zuweilen  vor  dem  übertragen  in  die  andere  spräche 
feststellen  lassen,  wie  viele  und  welcherlei  sätze  die  betreffende 
periode  enthält,  insbesondere  aber  wird  es  den  so  vorgebildeten 
Schülern  der  zweituntersten  classe  leicht  werden,  in  der  oben"'  an- 
gegebenen weise  participien  aufzulösen  oder  nebensätze  in  participien 
zu  verwandeln. 

2.    Der  deutsche  grammatische  Unterricht. 

Über  den  Unterricht  in  der  deutschen  grammatik  glauben 
wir  uns  um  so  kürzer  fassen  zu  dürfen  ,  als  aus  unseren  bisherigen 
erörterungen  hervorgeht,  dasz  wir  die  eigentlich  deutschen  stunden 
nur  ergänzungsweise  benutzen,  um  die  in  Wechselwirkung  mit 
dem  latein  erworbenen  kenntnisse  zu  vertiefen  und  zu  erweitern, 
auch  reden  wir  in  diesem  abschnitte  nur  von  der  untersten  gym- 
nasialclasse,  weisen  aber  bezüglich  der  quinta  auf  die  grammatischen 
auseinandersetzungen  zurück,  die  wir  soeben ''■"  im  anschlusz  an  das 
dictat  gegeben  haben ;  denn  da  sich  im  übrigen  in  dieser  classe  die 
deutsch-grammatische  lehraufgabe  vom  latein  loslöst,  liegt  es  auszer- 
halb  unseres  zieles,  ihr  weiter  nachzuspüren. 

Gerade  das  gegenbild  der  fremden  spräche  schien  uns  geeignet 
zu  sein,  den  sextaner  einblicke  in  den  grammatischen  bau  seiner 
muttersprache  thun  zu  lassen,  den  er  zu  kennen  glaubt,  in  Wirklich- 
keit aber  doch  nicht  völlig  beherscht.  wenn  ihm  also  infolge  der 
deutsch-lateinischen  Wechselbeziehungen  mancherlei  eigentümlich- 
keiten  seiner  eignen  spräche  zum  bewustsein  gekommen  sind,  wer- 
den ihm  ähnliche  beispiele,  die  er,  fernab  vom  lateinischen,  aus 
dem  deutschen  auffindet ,  um  so  verständlicher  und  anziehender 
werden,  dies  schlieszt  natürlich  nicht  aus,  sondern  drängt,  wie  uns 
scheint,  dem  lehrer  geradezu  das  bedürfnis  auf,  den  parallelismus 
mit  der  fremdsprache  aufrecht  zu  erhalten,  zugleich  bemerken  wir, 
dasz  wir  die  grammatische  belehrung  vielfach  ans  deutsche  dictat 


oben  s.  488.         ™  s.  oben  s.  505  f. 

33^ 


508      E.  Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quiuta. 

angeknüpft  sehen  möchten,  wie  dies  ja  auch  aus  dem  vorigen  ab- 
schnitt ersichtlich  ist. 

Zerlegen  wir  unseren  stoff  in  zwei  teile,  indem  wir  mit  der 
formenlehre  beginnen  und  dann  auf  die  Wortarten  und  Satz- 
teile, die  wir  zusammenfassen,  einen  blick  werfen,  schon  früher'-^ 
lieszen  wir  die  sextaner  lateinische  und  deutsche  Substantive  neben 
einander  abwandeln  und  sie  von  vorn  herein  auf  den  unterschied 
zwischen  dem  bestimmten  und  unbestimmten  artikel  achten,  wenn 
sie  dieselbe  arbeit  nun  auch  an  spezifisch  deutschen  beispielen  vor- 
nehmen, so  wird  ihnen  ihre  muttersprache  in  einem  neuen  und  deut- 
licheren lichte  erscheinen,  ja,  sie  können  mit  dem  selbstgefundenen, 
das  sie  nicht  erst  in  die  fremdsprache  zu  übersetzen  brauchen,  jetzt 
möglichst  frei  schalten  und  walten,  haben  sie  sich  nun  eine  Zeit- 
lang im  bloszen  declinieren  geübt,  dann  wird  ihnen  mit  hilfe  des 
lebrers  klar,  dasz  der  genetiv  der  deutschen  hauptwörter  entweder 
auf  •(e)s  oder  auf  -(e)n  ausgeht,  oder  dasz  er  gar  keine  endung  hat. 
der  starke,  scharfe  consonant  's'  —  sieht  der  knabe  —  bezeichnet 
die  starke,  das  schwache  ^n'  oder  das  gänzliche  fehlen  der  endung 
die  schwache  declination.  bald  weist  aber  der  lateinische 
Unterricht  auch  die  wechselbczügliche  declination  von  Substantiven 
und  beigefügten  adjectiven  auf,  und  nachdem  die  deutsche  gram- 
matikstunde solche  Wortverbindungen  auch  ohne  rücksicht  auf  die 
fremde  spräche  geübt  bat,  braucht  der  lehrer  seine  schüler  nur  noch 
finden  zu  lassen,  dasz  adjective  mit  vorausgegangenem  bestimmten 
artikel  schwach,  wenn  aber  der  unbestimmte  artikel  davorsteht, 
stark  decliniert  werden,  es  sei  noch  erwähnt,  dasz  als  der 
deutschen  spräche  eigentümliche  redewendungen  etwa  noch  eigen- 
namen  mit  hinzugesetztem  substantivattribut,  z.  b.  'der  knabe  Karl', 
oder  aus  zwei  Substantiven  zusammengesetzte  hauptwörtei',  wie  'der 
haushund'  zur  declination  verwendbar  sind. 

Was  nun  die  conjugation  der  verba  betrifft,  so  können  wir 
uns  hier  mit  dem  hinweis  auf  frühere  auseinandersetzungen  be- 
gnügen, indem  wir  bezüglich  der  zeit  ihrer  behandlung  noch  einmal 
den  bekannten  parallelismus  betonen,  in  den  vorherigen  abschnitten 
haben  wir  aber  nicht  nur  von  den  Stammformen'",  von  der 
starken  und  schwachen  conjugation'"  und  von  den  hilfs- 
zeitwörtern'^'  geredet,  sondern  auch  den  conjuncti v'-'"  und 
imperativ'  "  behandelt. 

Endlich  bemerken  wir  noch,  dasz  auch  die  wortbildungs- 
ieh re ,  die  wir  in  dielehraufgabe  der  sexta  aufgenommen  wünschten'", 
etwa  im  anschlusz  an  die  dictate  zu  mancherlei  mündlichen  betrach- 
tungen  anlasz  geben  möge,  denn  es  ist,  wie  uns  dünkt,  lehrreich 
und  schon  für  kleine  knaben  verständlich,  wenn  sie  hören,  dasz  z.  b. 
die   vor-  und  nachsilben  der  Wörter  ihre  besondere,  zuweilen  ab- 

•21  8.  heft  9  s.  432.         *"  s.  heft  9  s.  437  und  s.  504. 
1"  s.  ebd.         '"  s.  ebd.         '«^  s.  heft  9  s.  440  f. 
'*6  8.  heft  9  s.  441  und  s.  505.         "'  s.  oben  s.  503. 


E.Coruelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta.      509 

geblaszte,  bedeutung  haben,  so  ist  'ent-'  gleichbedeutend  mit 
'fort-'  und  'weg-',  belagern  drückt  dasselbe  aus  wie  umlagern  (vgl. 
das  mhd.  umbe) ;  da  die  nachsilbe  '-haft'  von  'haften'  und  dieses 
wiederum  von  'haben'  abgeleitet  ist,  deutet  'schauderhaft'  dai-auf 
hin,  dasz  etwas  'mit  schauder  behaftet'  ist;  auch  eigennamen  haben 
bedeutungsvolle  vorsilben,  so  'Ed-'  s.  v.  a.  'edel',  vgl.  'Eduard, 
Edmund ,  Edgar'  u.  ä.  ebenso  zeigt  die  Wandlung  ganzer  Wörter 
den  kindern,  dasz  die  spräche  ein  groszes  kunstwerk  ist:  wie  ver- 
schieden sind  doch  von  einander  der  'schlieszer'  und  der  'schlosser', 
wie  merkwürdig  ist  es  doch,  dasz  ein  und  dasselbe  wort  gebi-aucht 
wird  für  das  'schlosz',  welches  thür  und  thor  entriegelt  und  das 
'schlosz',  das  auf  dem  berge  als  palast  weithin  die  gegend  überragt, 
und  dennoch  stammen  alle  diese  Wörter  von  dem  einen  zeitwort 
'bchlieszen'  ab. 

Die  Wortarten  und  Satzteile,  die  wir  hier  gemeinsam  be- 
handeln, müssen  die  knaben  immer  reinlich  auseinanderhalten,  indem 
sie  sich  stets  daran  erinnern,  dasz  man  zwischen  der  wortart  als 
solcher  und  ihrer  Verwendung  im  satz  wohl  zu  unterscheiden 
hat.  dasz  aber  das  prädikat  der  wichtigste  Satzteil  ist,  da  es  ja 
den  satz  im  kleinen  in  sich  enthält,  dies  musz  den  schülern  auch  im 
deutschen  Unterricht  vor  allem  klar  werden,  denn  hierbei  fallen, 
wie  man  nicht  früh  genug  betonen  kann,  Satzteil,  d.  h.  das 
verbum,  und  satz  als  völlig  identische  begriffe  zusammen,  und 
die  erwägung,  dasz  unter  jenem  verbum  natürlich  nur  das  so- 
genannte verbum  finitum  gemeint  ist,  bleibt  gereifteren  sextanern 
zum  überlegen  vorbehalten. 

Gleichlaufend  mit  dem  lateinischen,  aber  trotzdem  davon  un- 
abhängig, werden  sich  allmählich  die  verschiedenen  wortclassen  in 
den  deutschen  lehrstunden  entwickeln,  drei  Wortarten  hebe  man 
nach  den  verben  als  besonders  wichtig  hervor,  nämlich  die  Sub- 
stantive, die  adjective  und  dieadverbien,  und  wir  bemerken 
beiläufig,  dasz  sich  diese  einteilung  nur  dann  vorteilhaft  an  den 
lateinischen  unterrichtsgang  anschlieszen  kann,  wenn  auch  das 
lateinische  lehrbuch  die  adverbien  in  systematischer  reihenfolge 
berücksichtigt.'^* 

Die  Substantive,  die  wir  auch  im  dictat  an  die  spitze  ge- 
stellt haben  '^^,  zerfallen  wiederum  in  mehrere  Unterabteilungen, 
denn  einzelpersonen  und  einzeldinge,  wie  'mann,  rind, 
schiff',  lassen  sich  zusammenfassen  in  Sammelnamen,  wie  'beer, 
herde,  flotte',  und  bezeichnungen,  die  an  einer  einzigen  person  oder 
Sache  haften,  nennt  man  eigennamen.  zu  dem  schwer  verständ- 
lichen unterschied  zwischen  concreten  und  abstracten  Sub- 
stantiven aber  mögen  die  s  toffnamen  den  Übergang  vermitteln, 
indem  man  etwa  zeigt,  dasz  es  doch  etwas  ganz  anderes  ist,  ob  ich 
von  einem  'stück  tuch'  rede,  das  ich  in  die  band  nehme,  oder 


1"  s.  oben  s.  474  und  s.  496  ff.         1^9  g    oi^gn  g.  502. 


510     E.  Cornelius :  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta. 

behaupte,  dasz  mein  rock  'aus  tuch'  verfertigt  ist;  ganz  ähnlich 
verhält  es  sich  mit  der  tapferkeit  des  Soldaten,  die  als  solche 
nicht  sichtbar  ist,  wohl  aber  in  ihren  Wirkungen. 

Der  begrifi"  der  adjective  ist  von  früh  auf  enger  und  weiter 
zu  fassen,  denn  es  gibt  eigentliche  und  uneigentliche  eigenschafts- 
wörter;  schon  bald  lerne  der  sextaner,  dasz  Zahlwörter  und  pro- 
nomina,  in  späterer  zeit,  dasz  auch  die  participien,  und  ge- 
legentlich, dasz  auch  die  beiden  artikel,  kurzum,  dasz  alle  die 
genannten  Wortarten  im  grund  genommen  mit  dem  einzigen  aus- 
druck  adjective  bezeichnet  werden  können,  doch  ist  dies  nicht 
ganz  richtig  —  wie  der  knabe  nach  schärferem  überlegen  bemerkt 
—  denn  die  pronomina  sind  je  nach  umständen  entweder  Sub- 
stantive oder  adjective;  ihr  name,  fürwörter,  schreibt  sich 
daher,  dasz  sie  für  ein  anderes  wort  eintreten,  statt:  'der  knabe 
schreibt'  sage  ich:  *er  schreibt'  und  den  satz:  'der  schöne  vogel 
singt'  verwandele  ich  in  die  worte:  'dieser  vogel  singt.' 

Einer  genaueren  erörterung  der  adver bien  glauben  wir  an 
dieser  stelle  überhoben  zu  sein,  weil  wir  in  früheren  abschnitten 
bereits  davon  geredet  haben;  demgemäsz  wird  es  sich  auch  der 
deutsche  grammatische  Unterricht  angelegen  sein  lassen,  den  inneren 
Zusammenhang  zwischen  den  adverbien  und  präpositionen '^° 
klarzulegen  und  die  Scheidung  zwischen  adjectiven  und  ad- 
ver bien '^'  vorzunehmen. 

Nachdem  nun  noch  die  conjunctionen  und  interjec- 
tionen  in  ihrer  untergeordneten  Stellung  im  satz  besprochen  sind, 
mag  die  beantwortung  etwa  folgender  fragen,  die  um  die  mitte  des 
Schuljahrs  vor  sich  geht,  dem  sextaner  über  gros zere  oder  ge- 
ringere bedeutung  der  Wortarten  ein  licht  aufstecken: 

Was  wird  conjugiert?    die  verba. 

Was  wird  decliniert?    die  Substantive  und  adjective. 

Was  wird  decliniert  und  gesteigert?  die  adjective  und  ad- 
verbien. 

Was  wird  nur  gesteigert?    die  adverbien. 

Was  wird  gar  nicht  flectiert?  die  conjunctionen  und  inter- 
jectionen.  es  genügt  aber  nicht,  dasz  man  nur  die  wortarten  als 
solche  kennt,  sondern  man  musz  auch  wissen,  wie  sie  als  Satzteile 
zur  anwendung  kommen,  den  manigfaltigsten  gebrauch  aber  zeigt 
in  dieser  beziehung  das  Substantiv,  das  als  subject,  object,  prä- 
dicatsnomen,  genetivattribut,  Substantivattribut  und  als  bestandteil 
des  präpositionellen  ausdi-ucks  vorkommt,  das  adjectiv  wird  als 
adjectivattribut  und  prädicatsnomen,  und  das  adverbium  als  ad- 
verbiale bestimmung  verwandt,  um  das  v  erb  um  aber,  das  mit 
dem  prädioat  identisch  ist,  dreht  sich  der  ganze  satz,  und  die  aus- 
führliche fiagestellung'^^  bringt  es  dem  schüler  nochmals  zum  be- 


i-'O  s.  oben  s.  49H  f.         >3i   g    oben  s.  474  und  493. 
•32  8.  oben  s.  494  ff. 


E.  Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta.     511 

wustsein,    dasz  alle   Satzteile  entweder   direct   oder  indirect   vom 
verbal-prädicat  abhängig  sind: 

I.  Vom  prädicat  direct  abhängig: 

1)  das  subject. 

2)  die  objecte. 

3)  die  prädicatsnomina. 

4)  die  adverbialen  bestimmungen. 

11.  Indirect  mittels  eines  Substantivs  vom  prädicat  abhängig  : 

1)  die  adjectivischen  attribute. 

2)  die  substantivischen  attribute. 

3.    Die  aufsatzbesprechung. 

Nunmehr  wollen  v/ir  der  aufsatzbesprechung  noch  mit 
ein  paar  worten  gedenken,  die  neuen  lehrpläne'^^  verlangen 
zwar  für  sexta  nur  'mündliches  nacherzählen  von  vorerzähltem', 
und  erst  den  quintaner  lassen  sie  'erste  versuche  im  schriftlichen 
nacherzählen'  anstellen,  was  'im  ersten  halbjahr  in  der  classe,  im 
zweiten  auch  als  hausarbeit'  geschehen  soll,  uns  will  es  scheinen, 
als  könne  man  schon  im  zweiten  halbjahr  der  untersten  gymnasial- 
classe  mit  den  bezeichneten  aufsätzchen  beginnen,  die  alsdann  die 
dictate  ablösen  würden,  dieses  verfahren,  bei  dem  auf  das  ganze 
sextanerjahr  etwa  3  bis  4  arbeiten  fielen ,  denken  wir  uns  genau  in 
derselben  weise  auf  der  folgenden  stufe  fortgesetzt,  nur  mit  dem 
unterschied,  dasz  hier  die  zahl  auf  4  bis  6  aufsätze  vermehrt  würde; 
von  häuslichen  arbeiten  aber,  wie  sie  die  lehrpläne  auch  fordern, 
möchten  wir  in  quinta  noch  ganz  absehen. 

Aber  nicht  blosz  auf  das  genannte  zeitmasz,  sondern  auch 
darauf  dürften  diese  Übungen  beschränkt  sein,  dasz  die  schüler  auch 
in  quinta  noch  nicht  zum  sogenannten  disponieren  angeleitet  wer- 
den, sondern  frisch  drauf  los  eine  einfache  erzählung,  zb.  aus  der 
sagen-  und  märchenweit  oder  auch  in  der  art,  wie  sie  Hebels  schatz- 
kästlein  oder  die  deutschen  Volksbücher  (vgl.  die  schildbürger) 
bieten,  in  ihrer  eignen  weise  alsnacherzählung  wiederzugeben,  nach- 
dem sie  ihnen  der  lehrer  frei  vorgetragen  hat.  denn  hier,  wie 
überall,  soll  doch  wohl  das  beispiel  der  regel  vorausgehen,  und 
wenn  man  den  sextaner  und  quintaner  daran  gewöhnt,  von  der 
leber  weg  zu  reden,  dann  läszt  sich  um  so  leichter  dem  quartaner 
zeigen,  dasz  er  die  gedanken,  die  er  hat,  auch  ordnen  und  so  erst 
einen  gediegenen  aufsatz  zu  stände  bringen  kann. 

Dasz  sich  nun  die  besp rechung  dieser  aufsätzchen 
hauptsächlich  um  grammatische  und  stilistische  fehler  dreht,  weisz 
jeder,  der  mit  dem  deutschen  unterrichte  vertraut  ist.  es  liegt  frei- 
lich auszerhalb  unserer  aufgäbe,  von  sämtlichen  Unrichtigkeiten, 
die  hierbei  vorkommen,  zu  reden,  vielmehr  kommt  es  uns  darauf 
an,  die  latinismen  zur  spräche  zu  bringen,  die  infolge  der  täg- 


neue  lehrpläne  s.  14. 


512     E.  Cornelius:  latemisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta. 

liehen  lateinstunden  in  die  schüleraufsätze  einzuflieszen  pflegen,  und 
auch  da  müssen  wir  uns  mit  einer  blüteniese  von  dem  begnügen, 
uas  sich  aus  unserer  bisherigen  darstellung  unschwer  ergibt,  da 
wir  aber  gelegenheit  hatten,  auszer  den  aufsätzchen  der  unteren 
classen  auch  tertianeraufsätze  auf  diesen  punkt  hin  zu  prüfen, 
möchten  wir  unsere  leser  gerade  auf  die  fehler  hinweisen,  die  von 
Schülern  mittlerer  classen  gemacht  werden,  weil  man  daraus  am 
besten  ersehen  kann,  welchen  einflusz  die  beschäftigung  mit  dem 
lateinischen  auf  den  deutschen  stil  auszuüben  vermag,  natürlich 
werden  wir  auch  die  fehler  der  quintaner  im  folgenden  berück- 
sichtigen. 

Greifen  wir  also  zunächst  einmal  darauf  zurück ,  dasz  wir  in 
einem  früheren  abschnitt '^^  dem  lateinischen  ablativ  den 
namen  präpositionscasus  gegeben  haben,  an  der  bezeichneten 
stelle  warnten  wir  davor,  diesen  casus  immer  mit  den  wörtchen 
'von',  'mit'  und  'durch'  übersetzen  zu  lassen,  nun  ist  es  eine  auf- 
fallende thatsache,  datz  besonders  die  letztgenannte  präposition  noch 
die  tertianer  zu  undeutschen  Wendungen  verführt,  die  beispiele,  die 
wir  in  diesem  abschnitte  geben,  sind  wörtlich  den  schüleraufsätzen 
entnommen,  so  lasen  wir  unter  anderem  folgendes:  'die  sirenen 
fraszen  jeden  auf,  der  durch  ihren  gesang  bezaubert  ans  land  kam', 
oder:  'die  sänger  hüben  an  zu  singen,  und  durch  ihren  gesang 
beugten  sich  aller  herzen  vor  gott',  und  es  ist  bezeichnend ,  dasz  in 
dem  letzten  beispiel  der  betreffende  schüler  die  rot  unterstrichenen 
Worte  so  verbesserte,  dasz  sie  noch  lateinischer  anklangen :  'durch 
ihren  gesang  bewogen  usw.',  während  er  doch  einfacher  ge- 
schrieben hätte:  'infolge  ihres  gesanges  usw.'  daher  wäre  es 
wünschenswert,  dasz  schon  in  den  aufsätzen  der  kleineren  schüler 
der  verkehrte  gebrauch  der  präposition  'durch'  und  anderer 
Präpositionen  mit  nachdruck  bekämpft  würde. 

Einem  anderen  tertianer  flosz  gelegentlich  der  undeutsche  aus- 
druck  'hierdurch  gerührt'  in  die  feder,  doch  war  diese  Verwechs- 
lung der  präposition  (statt:  hierüber  gerührt)  immerhin  noch  ein 
leichterer  verstosz,  wie  wenn  ein  mitschüler  schrieb:  'auf  dem- 
selben befand  sich  der  landvogt.'  denn  jener  hatte  seine  mutter- 
sprache  doch  so  weit  in  seiner  gevvalt,  dasz  er  dem  wörtchen  'hier' 
noch  ein  suffix  anfügte,  dieser  dagegen  geriet  in  den  falschen  ge- 
brauch des  fürworts  'derselbe'. '^^  die  gut  deutschen  ausdrücke 
'hierauf,  'darauf  u.  ä.'^*  kommen  den  schülern,  wohl  infolge 
des  lateinischen  Unterrichtes,  schon  früh  auszer  Übung,  wenn  man 
nicht  beim  quintaner,  der  sich  so  ausdrückt:  'Reinecke  antwortete 
auf  dieses',  schon  entgegenarbeitet  und  ihn  dafür  sagen  läszt: 
'ßeinecke  antwortete  darauf.'  dann  wird  er  sich  vielleicht  hüten, 
als  tertianer  noch  zu  schreiben:  'sie  wüsten,  da^z  sich  Teil  in  dem- 


"4  s.  heft  9  s.  430.         ^^■>  s.  oben 
'3^  s.  oben  s.  482. 


E.  Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta.     513 

selben  befand',  was  doch  wohl  heiszen  musz:  'sie  wüsten,  dasz  sich 
Teil  darin  befand'. 

Wenn  wir  uns  aber  erinnern,  was  oben'"  von  den  lateinischen 
fürwörtern  is,  idem  und  ille  gesagt  ist,  dann  wird  nicht  nur  der 
fremdsprachliche  Unterricht  darauf  hinwirken,  dasz  die  dort  ge- 
nannten bedeutungen  dieser  pronomina  immer  richtig  ins  deutsche 
tibersetzt  werden ,  sondern  auch  die  rückgabe  der  quintaneraufsätze 
kann  hier  mitwirken ,  gegen  undeutsche  Wendungen  anzukämpfen, 
jedenfalls  ist  darüber  klarheit  zu  schaffen,  dasz  'dieser  mann'  ein 
solcher  ist,  auf  den  ich  gerade  hindeute,  dasz  ich  aber  heute  'dem- 
selben manne'  begegnet  bin,  den  ich  auch  gestern  gesehen  habe, 
ähnliche  erörterungen  sind  nötigenfalls  auch  über  den  unterschied 
zwischen  'derselbe'  und  dem  persönlichen  oder  besitz- 
anzeigenden fürwort  anzustellen,  wenn  etwa  der  quintaner 
trotz  der  belehrungen  im  lateinischen  unterrichte  schreibt:  'um 
denselben  abzuholen',  denn  selbst  der  tertianer  scheut  sich  nicht 
zu  sagen:  'als  er  in  die  nähe  derselben  gelangte.'  da  man  aber 
das  hinweisende  fürwort  ille'"®  nicht  blosz  mit  'jener',  son- 
dern auch  mit  'dieser'  oder  'er'  übersetzen  kann,  so  musz  man 
schon  bei  quintanern,  die  sich  folgendermaszen  ausdrücken :  'da  der 
fuchs  jenes  hörte',  und:  'da  erhob  sich  der  schwanritter,  um  mit 
ihm  zu  kämpfen;  er  besiegte  jenen,  und  der  Sachsenherzog  verlor 
sein  leben',  solche  fehler  mit  der  wurzel  auszurotten  suchen,  denn 
tertianer  verfahren  ganz  ähnlich,  indem  einer  z.  b.  schreibt:  'als 
Armin  nach  hause  zurückkehrte,  kam  jener  (gemeint  ist  Plavus) 
gar  nicht  zu  ihm',  und  ein  anderer:  'er  machte  seinen  vater  auf  ihn 
aufmerksam;  sie  näherten  sich  und  erkannten  in  jenem  den  Teil.' 

Wenn  wir  auch  den  conjunctionen  ein  paar  worte  widmen 
dürfen,  so  bemerken  wir,  dasz  uns  einmal  in  dem  aufsatze  eines 
tertianers  die  worte  entgegentraten:  'und  es  wäre  zum  streit  ge- 
kommen, wenn  nicht  das  volk  gerufen  hätte:  der  apfel  ist  ge- 
fallen!' in  erwägung  dessen,  was  Cauer  in  unserem  obigen  citat '^® 
ausgeführt  hat,  halten  wir  es  daher  für  doppelt  notwendig,  dasz  man 
schon  die  schüler  der  untersten  classe  veranlaszt,  die  genannten 
bindewörter  im  aufsatz  ebenso  wie  beim  übersetzen  aus  der  fremd- 
sprache  in  der  früher  angedeuteten  weise  auseinanderzulegen. 

Bezeichnend  für  den  stil  mancher  tertianer  ist  folgendes  satz- 
ungetüm:  'Phaethon  war  der  söhn  des  Helios,  des  Sonnengottes, 
und  der  Klymene,  der  gattin  des  äthiopischen  königs  Merops.' 
hierin  sind  zugleich  zwei  feinde  des  deutschen  stils  enthalten,  die 
sich  aus  der  beschäftigung  mit  dem  latein  herleiten:  die  falsch  an- 
gewandte apposition  und  die  genetivhäufung.  um  mit  der 
letztgenannten  zu  beginnen,  so  weist  uns  ein  anderer  schülerfehler: 
'unter  begleitung  der  harfe  des  greises'  auf  die  Verschmelzung  des 
einen  genetivs  mit  dem  vorhergehenden  Substantiv  zum  zusammen- 


s.  oben  s.  475.         »3«  g,  oben  s.  476  fif.         '^^  s.  oben  s.  478. 


514     E.Cornelius:  lateinisch  und  deutsch  in  der  sexta  und  quinta. 

gesetzten  hauptwort  ^barfenbegleitung'  hin  und  führt  uns  die  oben"" 
betonte  notwendigkeit  vor  äugen,  die  schüler  der  unteren  classen 
bereits  im  deutschen  und  lateinischen  auf  diese  und  ähnliche  eigen- 
tümlichkeiten  der  deutschen  spräche  hinzuweisen,  die  apposition 
aber  haben  wir  früher  '■"  in  längerer  auseinandersetzung  bekämpft, 
wenn  nun  manche  tertiauer  das  einfachste  gefühl  für  den  bau  ihrer 
muttersprache  schon  so  weit  verloren  haben,  dasz  sie  in  aufsätzen 
verstösze  begehen  wie:  'zu  Helios,  seinem  vater'  oder:  ''da  trat 
Rudenz,  ein  ritter,  hervor',  dann  mahnt  uns  dies,  mit  desto  gröszerem 
nachdrucke  schon  auf  der  Unterstufe  derartigen  anwandlungen  auch 
in  den  nacherzählungen  von  vorn  berein  einen  riegel  vorzuschieben. 

Unsere  leser  haben  schon  längst  bemerkt,  dasz  wir  im  vor- 
liegenden abschnitt  eigentlich  nichts  neues  darbieten,  sondern 
lediglich  früher  gesagtes  durch  andere  beispiele  zu  erhärten  suchen, 
darum  glauben  wir  uns  auch  über  die  zwei  satzconstructionen, 
die  wir  schlieszlich  noch  vorbringen  wollen,  um  so  kürzer  fassen  zu 
dürfen,  schon  beim  übersetzen  suchten  wir  die  quintaner  daran  zu 
gewöhnen,  in  angemessener  weise  participien  aufzulösen; 
trotzdem  geschieht  es,  dasz  sich  die  kleinen  vom  lateinischen  beein- 
flussen lassen,  denn  einer  schrieb:  *Kamillus  nämlich,  die  frevelthat 
erkennend,  usw.',  ein  anderer:  'von  der  treue  des  Oberbefehlshabers 
bewogen,  schickten  sie  gesandte.'  somit  wird  auch  die  besprechung 
dieser  aufsätzchen  dem  lehrer  gelegenheit  geben ,  zunächst  dieses 
verkehrte  in  richtiges  deutsch  verwandeln  zu  lassen ,  ferner  wieder- 
holt zu  erörtern,  dasz  das  deutsche  die  nebensätze,  das  lateinische 
die  participien  bevorzugt,  und  endlich,  dasz  man  im  deutschen  über- 
haupt participien  mit  längeren  Zusätzen  am  besten  ganz  vermeidet, 
dipse  erwägungen  scheinen  uns  nicht  überflüssig  zu  sein,  weil  auch 
tertianer  ähnliche  Verkehrtheiten  machen,  z.  b.:  'zugleich  bemerkte 
er  einen  auf  einer  stange  hängenden  hut.'  wenn  wir  aber,  um  auch 
dies  noch  zu  erwähnen,  in  einem  tertianeraufsatze  folgendes  lasen: 
'Odysseus  hätte  dem  gesange  nicht  widerstehen  können,  wenn  nicht 
durch  das  schnelle  rudern  seiner  gefährten  die  insel  glücklich 
passiert  worden  wäre',  dann  scheint  es  uns,  wie  wir  auch  früher 
schon  betont  haben '^^,  richtig  zu  sein,  bei  jedem  sich  darbietenden 
anlasse,  also  auch  bei  besprechung  der  quintaneraufsätze,  darauf 
aufmerksam  zu  machen,  dasz  das  deutsche  die  activsprache,  das 
latein  aber  die  passivsprache  ist. 

Fassen  wir  das  gesagte  zusammen,  dann  ist  der  langen  rede 
kurzer  sinn  etwa  folgender,  auszer  mancher  anderen  belehrung,  die 
der  lehrer  seinen  Schülern  bei  der  aufsatzbesprechung  bieten  kann, 
setze  er  sich  das  ziel ,  schon  bei  den  schriftlichen  nacherzählungen 
der  jüngsten  gymnasiasten  von  früh  auf  die  latinismen  zu  bekämpfen, 
denn  diese  sind  ein  feind  des  deutschen  Stiles,  der,  wenn  ihm  nicht 
mit  macht  zu  leibe  gegangen  wird,  in  dem  masze  um  sich  greift, 


'^»  s.  heft  9  s.  439.         ^"  s.  oben  s.  485  ff.         '^^  s.  oben  s.  488 


C.  Hiimbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen.  515 

wie  die  kenntnisse  der  knaben  in  der  Römersprache  sieb  vermehren, 
hält  der  lehrer  aber  bei  seinen  Zöglingen  die  muttersprache  von 
lateinischem  einflusse  rein,  was  sich,  wie  wir  überzeugt  sind,  mit 
der  reinheit  des  fremdsprachlichen  stiles  wohl  vereinigen  läszt,  dann 
werden  sich  die  schüler  nicht  nur  der  unteren,  sondern  aller  classen 
in  aufsätzen  und  im  mündlichen  gebrauch  eines  guten  deutsch  all- 
mählich immer  mehr  befleiszigen. 

Saarbrücken.  Emmerich  Cornelius. 


(18.) 

EIN  VERSUCH  DIE  LEHRE  VOM  GEBRAUCH  DER  ZEIT- 
FORMEN, BESONDERS  IM  FRANZÖSISCHEN,  ZU  VER- 
VOLLSTÄNDIGEN, ZU  BERICHTIGEN  UND  AUF  IHREN 
GRUND  ZURÜCKZUFÜHREN. 

(fortsetzung  und  schlusz.) 


E.  Vergleichung  meiner  ansieht  über  den  unter- 
schied von  imparfait  und  pass6  d6fini  mit  derjenigen 
Plattners,  über  den  unterschied  zwischen  imparfait  und  d6fini 
gibt  Plattner  nur  praktische  regeln:  'das  imparf.  ist  die  zeitform  der 
beschreibung  und  der  Schilderung,  für  die  erzählung  nur  verwend- 
bar, wenn  diese  weniger  Ihatsachen  berichtet  als  zustände  anschau- 
lich macht;  daher  ist  es  die  zeit  der  Vergangenheit  1)  für  bleibende 
zustände :  les  Pböniciens  ötaient  le  peuple  le  plus  commer^ant  de  l'anti- 
quite.  das  historische  perfect  würde  eintreten  können, 
wenn  dieser  satz  eine  historische  thatsache^*  berichten 
sollte.  2)  für  häufig  oder  regelmäszig  wiederholte  handlungen, 
welche  fast  zu  einer  bleibenden  gewohnheit  werden.  3)  für  eine 
handlung  von  unbestimmter  dauer.  diese  wird  dann  a)  entweder 
von  einer  andern  (im  p.  d6fini)  unterbrochen,  b)  oder  sie  gibt  den 
grund  der  im  defini  stehenden  handlung  an,  auch  nebenumstände, 
die  sie  begleiten.' '''"  'das  defini  hingegen  bezeichnet  eine  einmalige 
vergangene  handlung,  eine  thatsache.'^"    es  tritt  ein,   sobald  die 

'*  eine  historische  thatsache  ist  es  auch  im  imparfait. 

'^  daher  ständen  a)  die  verben  des  denkens  und  des  affects  liäufiger 
im  imparfait,  und  gar  gewöhnlich  dire,  raconter,  re'pondre,  ecrire,  stipuler, 
porter  (besagen,  des  inhalts  sein:  un  article  de  la  Grande  Charte  porlait 
que  .  .  .;  un  autre  stipulait  qua  .  .  .).  dann  erwähnt  Plattner  noch 
das  imperfectum  conatus,  das  der  nur  begonnenen  handlung,  die 
nicht  zur  Vollendung  kam,  und  zweitens  das  imparf.  von  falloir,  devoir, 
pouvoir  in  der  bedeutung  unseres  conjunctivi  plusqpf. 

^8  Plattners  Unterscheidung  von  zustand  und  historischer  thatsache 
ist,  wie  schon  bemerkt,  nicht  zulässig,  der  satz  von  den  Phöniziern 
drückt  im  imparfait  ebenso  gut  eine  historisclie  thatsache  aus  wie 
im  passe'  de'fini;  und  ebenso  gut  wie  der  von  dem  kämpfe  des  Christen- 
tums gegen  das  heidentum. 


516  C.  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen. 

eigentliche  handlung  beginnt  oder  einen  schritt  vorwärts  macht; 
stellt  eine  erst  eintretende  handlung  dar,  die  rasch  verläuft  oder 
eine  bekannte  dauer  hat :  pendant  prös  de  trois  si^cles  le  christianisme 
lutta  avec  le  paganisme  expirant.' 

Auch  nach  meiner  ansieht  ist  das  imparfait  vorzugsweise  das 
tempus  der  beschreibung  und  Schilderung  'von  zuständen'^  und  zu 
gewobnheiten  gewordenen  handlungen',  aber  nicht  weil  oder  in- 
sofern jene  an  sich  'bleibend'  sind,  d.  h.  lange  andauern'^,  und 
diese  'sich  häufig ^^  wiederholen',  sondern  weil  in  den  meisten  fällen 
jene  nicht  in  dem  augenblick  aufgefaszt  werden  sollen,  wo  sie 
an fi engen,  noch  in  ihrer  ganzen  dauer,  vom  anfangs-  bis  zum 
endpunkt,  sondern  nur  in  einem  Zeitraum  oder  -punkt  der 
mittleren  dauer,  und  diese,  die  zur  gewohnheit  gewordene  hand- 
lung, nicht  in  dem  Stadium,  wo  man  sie  zum  ersten  mal  ausführte, 
wo  die  gewohnheit  erst  anfieng,  denn  da  war  sie  eben  noch  keine 
gewohnheit,  sondern  wo  auch  sie  durch  häufige  Wiederholung 
erst  zu  einer  solchen  geworden,  als  gewohnheit  schon  und  noch 
in  ihrer  mittleren  dauer  begriffen  war,  so  dasz  man  sich  um  den 
anfangs-  und  endpunkt  nicht  kümmert/" 

Und  ebenso  jede  einzelne  handlung,  nicht  wegen  etwa  'un- 
bestimmter dauer',  nicht  weil  etwa  eine  andere  sie  unterbrach, 
steht  sie  im  imparfait,  sondern  insofern  sie  gleichfalls  nur  in  dem 
augenblick  der  mittleren  dauer  vorgeführt  werden  soll,  wo 
jene  Unterbrechung  eintrat,  nicht  in  ihrem  anfang,  noch  in  ihrer 
ganzen  dauer.  auch  nebenumstände  und  gründe  endlich  stehen 
nicht  als  solche  an  sich  im  imparfait,  sondern  nur  insofern  auch  sie 
in  der  mittleren  dauer  begriffen  waren,  als  die  haupthandlung 
und  w^irkung  anfieng  und  vollendet  ward  und  wir  sie  vom  Stand- 
punkte der  haupthandlung  betrachten,  z.  b.  der  kranke  starb,  weil 
die  heilmittel  nichts  taugten.*' 

Dasselbe  gilt  ferner  von  den  verben  des  denkens,  des  affects 
und  des  sagens.  stehen  sie  im  imparfait,  so  wird  das  sagen,  fühlen 
und    denken  als  schon  und  noch  in  seiner  mittleren  dauer  vor- 


"  man  kann  noch  'gegenständen'  hinzufügen  (zu  denen  auch  ört- 
lichkeiten gehören)  und  Zeitangaben:  an  welchem  ort,  in  welcher  zeit 
etwas  geschah. 

'*  vgl.  eile  e'tait  triste  en  disant  cela,  puis  eile  fut  (redevint) 
aussi  gaie  qu'auparavant,  wo  das  e'tait  nur  einen  augenblick  zu 
umfassen  braucht,  während  fut  nicht  blosz  die  ganze  folgezeit  umfassen 
kann,  sondern  zugleich  auf  die  vorhergehende  als  eine  zeit  des  froh- 
sinns  hinweist. 

''^  vgl.  cette  semaine  nous  allämes  six  fois  k  la  chasse. 

f"  in  dem  satze  'j'e'crivais  depuis  une  heure,  lorsqu'il  m'interrompit' 
ist  sogar  die  Zeitdauer  genau  bestimmt  und  in  'j'e'crivis  une  lettre' 
gar  nicht. 

*'  der  grund,  die  Ursache  kann  aber  auch  wie  gesagt  eine  zuerst 
angefangene  und  vollendete  handlung  sein,  so  der  versuch  zu  töten 
in  dem  satze:  on  voulut  le  tuer,  il  s'enfuit.  der  wille  fieng  an  sich 
Uuszerlieh  kund  zu  geben  und  führte  dies  aus. 


C.  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen.  517 

geführt,  nicht  sein  anfang  oder  seine  ganze  dauer.  ebenso  stellen 
das  imperfectum  conatus  und  die  imparfaits  von  falloir  usw.  die 
versuchte  thätigkeit,  das  müssen  usw.  schon  und  noch  in  ihrer 
mittleren  dauer  dar. 

Das  d6fini  hingegen  steht  wohl  vorzugsweise  von  einmaligen 
bandlungen,  von  thaten^^  aber  nicht  weil  sie  einmalig,  weil  es 
thaten  sind,  sondern  nur  insofern  besonders  ihr  anfang  oder  zu- 
gleich ihr  anfangs-  und  endijunkt,  der  im  d6fini  liegende  fort- 
schritt  vom  anfangs-  zum  endpunkt,  ausgedrückt  werden  soll; 
nicht  weil  sie  in  der  Wirklichkeit  rasch  verlief  oder  ihre  dauer  be- 
kannt war,  sondern  insofern  diese  bekannte  oder  auch  unbekannte 
dauer,  mit  an  sich  beliebig  raschem  oder  langsamem  verlauf,  vom 
anfangs-  bis  zum  endpunkt  in  einen  punkt  zusammengezogen 
wird,  so  dasz  die  dazwischen  liegende  mittlere  dauer  den  blicken 
entschwindet.®^ 

Der  beste  beweis,  dasz  überall  blosz  diese  rücksicht  entscheidet, 
ist,  dasz  auch  thaten,  einmalige,  rasch®'  verlaufende  bandlungen  von 
bestimmter,  bekannter®^  dauer,  im  imparfait  stehen,  wenn  nur  ein 
Zeitraum  oder  -punkt  aus  der  mitte  ihrer  dauer  vorgeführt 
werden  soll,  und  dasz  umgekehrt  nicht  blosz  einmalige,  sondern 
auch  zu  gewohnheiten  gewordene  bandlungen,  gründe  einer  viel- 
leicht gar  selber  im  imparfait  stehenden  handlung,  bleibende 
zustände,  verben  des  denkens,  des  affects  und  des  sagens,  solche,  die 
ein  conari  bezeichnen,  wie  essayer,  tächer  u.  a.,  und  ebenso  falloir, 


^*  dasz  der  ausdruek  ^thatsachen'  nicht  passt,  zeigte  schon 
Plattners  satz  von  den  Phöniziern,  der  auch  im  imparfait  eine  that- 
sache  ausdrückt. 

^^  dies  hat  eben  Plattner  irre  geführt,  man  denke  noch  an  die 
Sätze:  Dieu  fut,  und:  Annibal  e'tait  (zu  seinen  le  bzeiten)  un  grand 
ge'neral,  s'il  en  fut  (wenn  es  jemals  einen  gab). 

*^  man  vergleiche  nur  'je  n'e'crivais  que  depuis  deux  secondes 
lorsqu'il  m'interrompit'  mit  'j'ecrivis  cent  lettres'.  wenn  dieselbe  thätig- 
keit das  eine  mal  im  imparfait,  das  andere  mal  im  de'fini  steht,  drückt 
an  sich  offenbar  das  de'fini  die  längere  dauer  aus;  denn  es  gibt  sie 
in  ihrem  ganzen  umfang  an,  das  imparf.  aber  nur  einen  Zeitraum  oder 
-punkt  der  mittleren  dauer.  weil  jedoch  das  de'fini  letztere  den  äugen 
entzieht  und  das  ganze  zu  einem  punkte  zusammendrückt,  als  etwas, 
das  in  demselben  angenblicke  anfieng  und  vollendet  ward,  läszt  es 
selbst  die  ewigkeit  als  rasch  verlaufend  erscheinen,  während  das 
imparfait  bei  dem  einen  vorgeführten  augenblick  der  mittleren  dauer 
stehen  bleibt  und  sich  aufhält,  es  ist  dasselbe  Verhältnis  wie  zwischen 
einem  mathematischen  punkt  und  einer  mathematischen  linie.  nur  wenn 
zwei  verschiedene  verba  im  imparfait  und  passe  de'fini  zusammentreten, 
wird  in  einer  hinsieht  das  Verhältnis  ein  anderes,  in  j'e'crivais  lorsqu'il 
entra  z.  b.  wird  entra  wohl  in  seiner  ganzen  dauer  vorgeführt  und  das 
ecrire  nur  in  einem  augenblick  der  mittleren  dauer,  dieser  augenblick 
aber  erscheint  zugleich  als  ein  solcher,  dem  schon  ein  mehr  oder  weniger 
langes  schreiben  vorangegangen  ist,  und  in  diesem  sinne  freilich  kann 
von  einer  längeren  dauer  des  imparfait  die  rede  sein,  wenn  es  auch 
selbst  nur  einen  Zeitraum  oder  -punkt  aus  der  mitte  der  handlung 
darstellt. 


518  C.  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen. 

devoir,  pouvoir,  wenn  nicht  blosz  die  mittlere  dauer,  sondern  an- 
fangs- und  endpunkt  ausgedrückt  werden  sollen,  und,  ich  füge  hinzu, 
in  demselben  fall  verben  des  fühlens  und  denkens,  um  zu  zeigen, 
dasz  das  umsetzen  des  vorher  nur  gedachten  oder  gefühlten  in  that 
anfieng  und  ausgeführt  ward,  wie  in  'Charlemagne  honora  la  bravoure 
de  Vitikind ,  en  lui  donnant  le  duch6  de  Saxe  comme  fief  des  reis 
francs',  im  defini  stehen. 

Nun  noch  ein  wort  über  die  von  Plattner  angeführten  verben 
dessagens,  des  d  enkens  und  der  affecte.  sollen  sie,  zu  der 
zeit  des  eintretens  irgend  einer  Wirkung,  als  schon  vorhandene  und 
noch  in  ihrer  mittleren  dauer  begriffene  Ursachen  er- 
scheinen, so  stehen  sie  im  imparfait;  im  passö  d6fini  hingegen,  als 
selber  erst  eintretende  und  ausgeführte  Wirkung  einer  Ursache, 
aber  selbst  eine  Ursache ,  und  dies  gilt  natürlich  von  jenen  verben 
so  gut  wie  von  allen  andern,  steht  im  defini,  wenn  sie  nicht  mehr 
in  ihrer  mittleren  dauer  begriffen  war  zur  zeit  als  das  ereignis ,  mit 
dem  sie  in  Verbindung  gebracht  wird,  eintrat,  wenn  sie  in  eine 
frühere  zeit  fällt  und  man  ausdrücken  will ,  dasz  sie  damals  anfieng 
und  ausgeführt  wurde;  z.  b.  Alexandre  le  Grand  vengea  les  Grecs  des 
Orientaux  qui  vouluren  t  un  jour  d6truire  leur  civilisation,  so  dasz 
eine  jede  für  sich  augefangen  und  abgeschlossen  erscheint,  ohne  dasz 
sie  sich  zeitlich  berühren,  endlich  kann  auch  die  Ursache  von  etwas 
zeitlich  folgendem ,  zugleich  und  vorwiegend  vom  Standpunkt  eines 
vorhergehenden  ereignisses,  als  zugleich  anfangende  und  vollendete 
■Wirkung  vorgeführt  werden,  was  bei  verschiedenen  der  schon  an- 
geführten beispiele,  besonders  mit  vouloir,  der  fall  war;  und  dann 
steht  selbstverständlich  auch  diese  Ursache  im  d6fini.  und  kommt 
sonst  ein  verbum  des  Schreibens  und  sagens  im  imparfait  vor,  so  soll 
auch  da  dieses  sagen  und  schreiben  in  seinem  zeitverbältnis  zu  etwas 
anderem  als  schon  und  noch  in  der  mittleren  dauer  begriffen 
hingestellt  werden,  oder  es  war  schon  im  defini  von  einer  Unter- 
haltung, einem  briefwechsel  usw.  im  allgemeinen  die  rede;  dann 
aber  denkt  man  sich  schon  mitten  in  diese  hinein,  führt  sie  im  gegen- 
satz  zu  der  dem  d6fini  eignen  bewegung  in  behaglicher  ruhe  vor  und 
behandelt  ihre  einzelnen  teile,  wie  die  schon  besprochenen  einer  sitte 
oder  gewohnheit,  vom  Standpunkte  des  sie  umfassenden  ganzen ^^: 
Turenne  ecrivit  au  roi  pour  lui  demander  la  libertö  d'agir.  'je 
connais',  disait-il,  'la  force  des  troupes  imperiales  .  .  . ;  je  prends 
tout  sur  moi  et  je  me  charge  (übernehme  die  Verantwortung  für) 
des  ev6nements  (Duruy,  histoire  de  France), 

Auch  in  dem  von  Plattner  angeführten  satz  über  die  Magna  Charta 
steht  das  imparfait  einfach  aus  dem  gründe ,  weil  man  sich  in  die 
zeit  versetzt,  wo  sie,  also  ihr  Inhalt,  schon  da  war. 

'üne  femme  de  chambre  me  remit  une  lettre,  par  laquelle  la 
veuve  m'apprenait  que  sa  chere  Constance  ne  pouvait  se  faire  (sich 


^-  es  gesclneht  übrigens  seltener  als  Platlner  annimmt. 


C.  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen.  519 

gewöhnen)  ä  ma  tiguro'  (Cherbuliez  in  der  Revue  d.  d.  m.  15/12  92 
s.  723). 

Recevoir  und  remettre  stehen  im  defini ,  weil  wir  in  die  zeit 
versetzt  werden  sollen,  wo  das  empfangen  und  übergeben  anfieng 
und  zugleich  zu  ende  geführt  wurde;  das  aber,  was  der  brief  und  die 
nachrichten  enthielten,  im  imparfait;  denn  dieser  inhalt,  der  dem 
empfänger  freilich  jetzt  erst  bekannt  wurde,  stand  vorher  schon  in 
den  briefen,  und  der  Schreiber  machte  den  anfang  des  benach- 
richtigens  schon  in  dem  augenblick,  wo  er  zu  schreiben  anfieng. 
als  jener  las,  war  es  schon  und  noch  in  seiner  mittleren  dauer.  man 
vergleiche  folgende  sätze  aus  der  19n  lection  von  Plötz :  'am  vierten 
november  1794  bemächtigte  sich  (p.d.)  Suwarow  der  stadt  Warschau 
nach  einem  sehr  blutigen  kämpfe,  man  sagt,  dasz  er  hierauf  einen 
brief  an  die  kaiserin  Catharina  II  schrieb  (p.d.),  welcher  nur  diese 
Worte  enthielt  (imp.):  «hurrah,  Warschau!  Suwarow.»  die  kaiserin 
verstand  (p.  d.  von  savoir),  seinen  lakonischen  stil  nachzuahmen,  in- 
dem sie  ihm  schrieb:  «bravo,  feldmarschall !  Catharina»,  ein  brief, 
der  ihm  seine  ernennung  zum  feldmarschall  ankündigte  (imp.).' 
erst  fiengen  beide  das  schreiben  an  und  führten  es  aus;  dann  aber 
waren  die  briefe  als  geschrieben  anzusehen  und  hatten  schon  an- 
gefangen zu  enthalten  und  anzukündigen,  so  kommt  es  auch  da  nur 
darauf  an,  ob  man  sich  in  die  zeit  versetzt,  wo  das  sagen  usw.  erst 
anfieng  und  ausgeführt  ward,  oder  wo  es  schon  in  seiner  mittleren 
dauer  begrifi"en  war. 

Man  vergleiche  noch  folgende  beispiele:  le  mar6chal  Ney  pro- 
non^a  ä  la  chambre  des  pairs,  le  22  juin,  un  discoars  oü  il  pro- 
clamait  que  tout  etait  perdu  et  qu'il  fallait  nögocier  sans  delai  avec 
les  alli6s  (Revue  d.  d.  m.  15/3  93  s.  455).  ähnlich:  eile  rougit 
legörement;  eile  semblait  me  dire  (Cherbuliez,  Rev.  15/12  92  s.  733). 
beides  ist  gleichzeitig,  denn  der  sinn  ist:  'ihr  erröten  schien  mir  zu 
sagen.'  trotzdem  steht  semblait  im  imparfait,  weil  rougit  vorher- 
geht, in  dem  augenblick,  wo  semblait  erscheint,  ist  rougit  schon 
gesagt,  das  erröten  schon  zu  einer  angefangenen  und  zugleich 
vollendeten  thatsache  geworden;  das  scheinen  fängt  also  da  nicht 
mehr  an,  sondern  ist  schon  in  seiner  mittleren  dauer  begriffen,  und 
ebenso  ist  es  in  folgenden  sätzen:  il  re9ut  des  nouvelles  du  Var 
qui  lui  apprenaient  que  Melas  6tait  encore  ä  Nice  (Thiers,  cam- 
pagne  d'Italie). 

In  bezug  auf  die  verben  des  sagens,  Schreibens  usw.  erinnere 
ich  noch  an  die  schon  gemachte  bemerkung,  dasz  von  zwei  verben, 
die  im  gründe  etwas  gleichzeitiges  ausdrücken,  oft  das  erste  im 
döfini,  das  zweite  im  imparfait  steht,  wie  im  12ncapitel  der  histoire 
de  la  premiöre  croisade,  wo  Michaud  erst  im  pass6  defini  vom  an- 
fang der  groszen  not  spricht:  quand  ces  derniöres  ressources  com- 
mencörent  ä  manquer,  la  misöre  devint  plus  afifreuse.  dann  aber 
steht  das  imparf. ;  denn  jetzt  ist  die  gröszere  not  schon  da.  chaque 
jour,  une  foule  avide  se  pressait  ä  la  porte  de  ceux  qui  conser- 


520  C.  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen. 

vaient  quelques  vivres,  et  chaque  jour,  ceux  dont  on  avait  la  veille 
invoqu6  la  charitfe,  se  trouvaient  reduits  ä  implorer  celle  des  autres. 

3.  Plusqueparfait.  unser  plusquamperfectum,  das  fran- 
zösische plusqueparfait,  drückt  aus,  dasz  etwas  zu  einer  zeit  der  Ver- 
gangenheit schon  vollendet  vsrorden  war,  wo  etwas  anderes  schon  und 
noch  in  seiner  mittleren  dauer  begriflfen  war  oder  anfieng  und  aus- 
geführt wurde,  auch  hier  ist  bald  das  imparfait  oder  d6fini,  bald  das 
plusqueparfait  selber  der  punkt,  auf  dem  man  festen  fusz  faszt,  um 
von  dort  die  durch  die  andere  verbalform  bezeichnete  thätigkeit  zu 
betrachten :  'er  hatte  schon  die  schule  verlassen,  als  sein  vater  starb, 
sein  vater  starb,  als  er  schon  die  schule  verlassen  hatte.' 

III.  Zwei  feste  punkte,  auf  denen  man  fusz  faszt: 
eine  vom  Standpunkt  der  gegenwart  noch  zukünftige 
handlung  erscheint  zugleich,  vom  Standpunkt  einer 
andern  zukunft,  als  zukünftig  oder  auch  als  schon 
vollendet,  wobei  aber  der  Standpunkt  der  gegenwart 
wieder  keines  besondern  ausdrucks  bedarf. 

1.  Die  zwei  conditionnels.  s'il  venait,  je  le  lui  dirais. 
das  sagen  erscheint  als  zukünftig,  nicht  blosz  vom  Standpunkt  der 
gegenwart,  sondern  auch  im  Verhältnis  zu  dem  noch  zukünftigen 
kommen.'^  soll  das  conditionnel  blosz  eine  bescheidene  behauptung 
des  redenden  vom  Standpunkt  der  gegenwart  ausdrücken ,  so  fällt 
natürlich  der  andere  feste  punkt  weg :  *la  conversion  de  Clovis  porta 
d'abord  quelque  atteinte  ä  sa  popularitö,  et  il  paraitrait  que  beaucoup 
de  ses  compagnons  le  quittörent.'®^  vielleicht  ist  aber  auch  hier  eine 
in  die  zukunft  oder  in  die  Vergangenheit  zu  legende  bedingung  zu 
ergänzen  wie:  'wenn  man  den  und  den  berichten  glauben  wollte*, 
oder  'wenn  die  und  die  leute  recht  berichteten'. 

Ebenso  verhält  sichs  mit  dem  condit.  antörieur;  nur  wird  da 
die  bedingung  in  eine  frühere  Vergangenheit  gelegt:  'je  le  lui  aurais 
dit,  s'il  etait  venu.'  und  wie  etwa  im  obigen  satze  über  Chlodwig: 
'd'aprös  la  legende,  une  druidesse  aurait  predit  sa  fortune  ä  Dio- 
cl6tien'%  d.  h.  'wenn  man  der  legende  glauben  wollte,  würde  man 
annehmen  müssen,  dasz  eine  druidin'  usw.  ähnlich  noch  von  einem 
angenommenen  fall  (deutsch:  etwa):  on  fermera  tout  Etablissement 
qui  aurait  §te  ouvert  en  contravention  ä  la  loi®-  =  'von  dem  sich 
herausstellen  sollte,  dasz  .  .  .' 

2.  Futur  ante rieur.  hier  erscheint  eine  zukünftige  hand- 
lung als  schon  vollendet  vom  Standpunkt  einer  andern:  'il  aura 
cbang6  d'avis,  quand  tu  reviendras.' 

Ich   führe  noch  einen,   zu  diesem  zweck  umgewandelten  satz 


s^  hierher  gehören  auch  Wendungen  wie:  je  ne  saurais  .  .  .,  sauriez- 
vous  .  .  .?  on  dirait,  je  voudrais,  wo  überall  eine  bedingung  im  imparf. 
zu  ergänzen  ist;  z,  b.  wenn  ich  mir  auch  noch  so  viel  mühe  gäbe;  wenn 
Sie  die  gute  haben  wollten  usw. 

8^  aus  Plattner. 

^^  die  beispiele  wieder  aus  Plattner. 


C.  Ilumburt:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen,  521 

aus  Voltaires  Charles  XII  an,  in  dem  das  futur  ant6rieur  im  neben- 
satz  steht:  'le  muphti  a  conseille  la  guerre  contra  le  czar,  parce  que 
le  favori  la  veut;  et  il  la  trouvera  injuste,  dös  que  ce  jeune  homrae 
aura  chang6  d'avis.*^^  der  anfang  und  die  ausführung  beider 
thätigkeiten  liegen  noch  in  der  zukunft:  der  eine  wird  das  ungerecht- 
finden anfangen  und  sogleich  vollenden,  sobald  der  andere  das  an- 
ßicht-ändern  angefangen  und  vollendet  haben  wird,  nicht  blosz  vom 
schon  bekannten  Standpunkt  des  redenden  ist  das  ungerecht- 
finden zukünftig,  sondern  zugleich  von  dem  noch  besonders  aus- 
zudrückenden der  Zukunft,  wo  die  änderung  der  ansieht  ein- 
getreten sein  wird,  vertritt  da'*  futur  ant§rieur  die  stelle  eines 
indöfini  und  stellt  nur  vom  Standpunkt  der  gegenwart  etwas  ver- 
gangenes als  wahrscheinlich  hin,  so  ist  die  angäbe  eines  andern 
festen  punktes  überflüssig:  il  aura  chang6  d'avis  (=  er  hat  wahr- 
scheinlich .  .  . ;  ich  werde  annehmen  müssen ,  dasz  er  hat). 

IV.  Zwei  feste  punkte  in  der  Vergangenheit:  eine 
vergangene  handlung  erscheint  noch  als  zukünftig  von 
einem  Standpunkt  der  vergan genheit,  während  sie  von 
dem  andern  selber  auch  als  vergangen  erscheint,  wobei 
beide  Standpunkte  des  besondern  ausdrucks  bedürfen. 

Passe  ant6rieur.  das  pass6  ant6rieur  verhält  sich  zu  dem 
defini  wie  das  futur  anterieur  zu  dem  bloszen  futur;  es  ist  gleich- 
sam das  fut.  anterieur  der  Vergangenheit,  wie  das  original  des  von 
mir  umgewandelten  Satzes  aus  Charles  XII  zeigt:  Me  muphti  avait 
conseill6  la  guerre  contre  le  czar  quand  le  favori  la  voulait;  et  il 
la  trouva  injuste  dös  que  ce  jeune  homme  eut  chang6  d'avis.'  wir 
stehen  zuerst,  gleich  anfangs,  in  einer  zeit  zwischen  dem  imparfait 
und  plusqueparfait  einerseits  und  den  passes  defini  und  ant6rieur 
anderseits,  der  muphti  hatte  schon  zum  kriege  geraten,  und  zwar 
als  der  günstling  schon  und  noch  den  krieg  wollte,  dies  be- 
trachten wir  nur  von  dem  Standpunkt  der  zeit,  die  darauf  folgte ; 
daher  das  plusqueparf. ,  und  das  wollen  im  imparfait,  das  jedoch 
auch  im  plusqpf.  stehen  könnte,  dann  aber,  nachher  erst,  fieng 
der  günstling  an,  seine  ansieht  zu  ändern;  und  nachdem  diese 
änderung  zugleich  angefangen  und  vollendet  worden  war,  da  ward 
auch  die  änderung  in  den  ansichten  des  muphti  angefangen  und 
vollendet. 

Das  plusqueparfait  und  das  passe  anterieur  unterscheiden  sich 
nur  dadurch,  dasz  in  dem  einen  das  passe  döfini,  in  dem  andern  das 
imparfait  desselben  hilfsverbs  vor  dem  participe  steht;  darum  musz 
der  unterschied  zwischen  ihnen  sich  auf  den  zwischen  imparf.  und 
p.  d6f.  zurückführen  lassen,  so  weit  dieser  hier  noch  bestehen  kann. 

Das  imparfait  bezeichnete  nur  einen  Zeitpunkt  oder -räum 
aus  der  mittleren  dauer.  das  fiel  natürlich  beim  plusq.  weg,  da 
es  von  einer  schon  mehr  als  vergangenen  handlung  gebraucht  wird; 


^^  livre  VI.    beim  passe  aute'rieur  werde  ich  liierauf  zurückkommen. 
N.  jahib.  1".  phil.  u.  päd.  11.  abl.  1897  hft.  10  u.  11.  31 


522  C.  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  zeitformeu, 

doch  geht  es  nicht  vollständig  verloren,  in  'quand  nous  avions' 
oder  'eümes  fini  notre  thßme,  nous  sortimes'  schneidet  eümes 
schirf  hinter  fini  ab,  während  mit  avions,  v-ie  in  der  maierei  bei 
feiner  Schattierung,  ein  allmählicher  Übergang  die  gegensätze  ver- 
wischt, das  pass6  dfefini  hebt  auch  hier,  dem  anfang  des  sortimes 
gegenüber,  das  ende  des  fini  kräftiger  hervor,  und,  wie  seltsam  es 
auch  klingen  mag,  die  Fähigkeit,  zugleich  den  anfangspunkt 
hervorzuheben,  geht  in  der  Verbindung  mit  dem  partic.  pass6 
noch  weniger  verloren. 

Versetzen  wir  uns  in  die  zeit,  welche  einer  Schlacht  voran- 
gieng:  'wir  zogen  hinaus;  wir  stieszen  auf  den  feind;  es  entspann 
sich  ein  kämpf.'  nun  stehen  wir  noch  vor  der  ents-cheidung;  dann 
aber  springen  wir,  ihren  anfangs-  und  endpunkt  in  eins  zu- 
sammenfassend, in  die  zeit  hinüber,  wo  sie  schon  gefallen  war: 
deux  heu  res  aprös  nous  eümes  vaincu  l'ennemi.  wir  fiengen 
nicht  blosz  das  siegen  an  und  führten  es  aus  (d^fini),  wir  hatten 
es  zugleich  angefangen  und  vollendet;  die  zeit  aber  wann?,  der 
feste  punkt,  von  dem  das  siegen  als  schon  vergangen 
erscheint,  ist  durch  deux  heures  aprös  angegeben,  wie 
der  jenige,  wo  es  noch  in  der  zukunft  lag,  durch  die  vor- 
hergehenden Sätze,  das  erri  ngen  tritt  doppelt  scharf  hervor, 
zugleich  mit  seinem  ende  sein  anfang,  im  gegensatz  zu  dem  plusq. 
(avions),  das  den  sieg  nur  von  dem  Standpunkt  des  schon-errungen- 
seins,  der  darauf  folgenden  zeit  betrachtet,  das  pass6  ant6r.  ist 
einem  Januskopfe  vergleichbar,  dem  an  der  einen  Seite  die  handlung 
als  erst  beginnend,  an  der  andern  als  vor  einer  andern  vollendet  er- 
scheint, eine  eigentümlichkeit,  in  der  sich,  im  gegensatz  zur  behag- 
lichen ruhe  des  plusqueparfait,  mehr  als  irgendwo  sonst  die  leb- 
haftigkeit  des  französischen  geistes  offenbart,  es  ist  Schillers 
gallischer  Sprung,  dem,  der  nicht  französisch  zu  fühlen  gelernt 
hat,  ein  fast  unerklärliches  geheimnis. 

Eine  anzahl  sätze,  die  ich  mir  in  den  letzten  jähren  gemerkt 
habe ,  mögen  gerade  dies ,  wenigstens  für  den  verstand ,  klarstellen. 

In  dem  soeben  angefühlten  beispiel  ist  die  zweite  Zeitbestim- 
mung nur  ein  adverb.*"  ebenso  in  den  folgenden  :  Fernando  se  lan9a 
sur  les  traces  des  deux  femmes.  il  les  eut  bientöt  rejointes 
(Tb.  Pavie,  P6pita  eh.  III).  au  Heu  d'6pancher  maladroitement 
l'envie  dont  son  coeur  6tait  devore,  Isaure  etouffa  tout  murmure  et 
chercha  le  remöde  qu'elle  eut  bientöt  trouv6  (Charles  de  Bernard, 
les  ailes  d'Icare  V).  und  ebd.  III:  en  deux  tours  de  main  eile 
eut  appret6  le  couvert  et  servi  sur  la  table  les  provisions  dont  eile 
etait  charg6e. 

Auch  hier  stehen  wir  überall  anfangs  vor  der  thätigkeit,  die 
uns  dann  ganz  allein,    auf  einmal  als  zugleich  angefangen  und 


s"   sie    kann   natürlich  auch  noch  anders  angegeben  werden,    durch 
ein  verbum  und  eine  andere  Zeitbestimmung,     darüber  später. 


C.  Hnmbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen.  523 

vollendet  entgegentritt,  an  die  stelle  des  'deux  teures  aprös'  treten 
nur  *en  deux  tours  de  main'  und  'bientöt*. 

Von  dem  festen  punkte  der  schon  vorher  vollendeten  thätig- 
keit  kann  aber  der  blick  auch  wieder  auf  eine  andere  thätigkeit 
hingelenkt  v?erden,  die  später  erst  anfieng  und  ausgeführt  ward, 
oder  auch  später  schon  und  noch  in  der  mittleren  dauer  begriffen 
war.  dann  erhalten  wir  einen  zusammengesetzten  satz;  und  zu  dem 
pass6  antferieur  tritt  noch  ein  imparfait  oder  pass6  döfini  mit  einer 
conjunction. 

Ein  imparfait  im  hauptsatz  mit  quand  vor  dem  ant§rieur  im 
nebensatz  haben  wir  in  folgendem  beispiel:  les  archeologues  ne 
pouvaient  se  refuser  ä  admettre  l'importance  de  la  d6couverte  (de 
Schliemann),  surtout  quand  Schliemann  fut  venu  en  Europe 
montrer  aux  acad6mies  et  autres  societ6s  savantes  les  plans  et  les 
coupes  de  ces  tombes  .  .  .  quand  enfin  il  eut  publie  son  livre,  qui 
en  donnait  des  reproductions  assez  fidöles  (Revue  d.  d.  m.  1/2  93 
s.  634).  zuerst  stehen  wir  in  der  zeit  vor  Schliemanns  rückkehr 
nach  Europa,  schon  damals  war  das  'ne  pouvoir  se  refuser'  in  seiner 
mittleren  dauer  begriflen,  das  venir  aber  und  publier  muste  noch 
beginnen;  und  als  dann  dies  angefangen  und  zugleich  vollendet 
worden  war,  da  war  es  erst  recht,  noch  viel  mehr  der  fall,  das  ne 
pouvaient  se  refuser,  was  nur  von  der  zeit  vor  der  reise  nach  Europa 
ausdrücklich  gesagt  wird,  ist  mit  dem  surtout  für  die  zeit  nach  der 
reise  zu  ergänzen. 

In  folgendem  satze  tritt  zu  aussiföt  que  mit  dem  passe  ant6rieur 
ein  pass6  d6fini:  Charles  XII  avait  de  l'aversion  pour  le  latin,  mais 
aussitöt  qu'on  lui  eut  dit  que  le  roi  de Pologne  et  le  roi  de  Dane- 
mark l'entendaient,  il  l'apprit  bien  vite  (Voltaire,  Charles  XIP'). 
hier  steht  aussitöt  que  mit  dem  anterieur  im  nebensatz.  in  folgen- 
dem beispiel  steht  das  ant6rieur  mit  ne-pas  plus  tot  im  hauptsatz : 
on  grimpa  dans  la  montagne,  pour  y  chercher  quelque  beau  point 
de  vue.  on  n'eut  pas  plus  tot  fait  deux  cents  pas  .  . .  que  Filippa 
appela  maitre  Michel  (Paul  de  Musset,  le  Bisceliais  eh.  VII). 

Ein  höchst  interessantes  beispiel  findet  sich  in  F.  Mesnards 
Moliörebiographie.  wieder  einmal  das  antörieur  im  nebensatz  mit 
'au  temps  que':  Moliöre  avait  emprunt6  281  livres  ä  Jeanne 
Lev6,  lui  donnant  en  nantissement  deux  rubans  .  .  .  il  est  probable 
que  son  gage  n'6tait  pas  sans  valeur.  comme  il  dut  toutefois  en 
pr6voir  l'insuffisance  au  temps  oü  ileut  laiss6  passer  l'echeance 
de  sa  dette  sans  avoir  pu  y  faire  honneur,  il  s'obligea  par  un  acte 
du  31  mars  1645  ä  payer  la  somme  qui  mauquerait  aprös  la  vente 
des  rubans.  il  ne  lui  fut  possible  de  la  rembourser  avec  les  int6r6ts 
etc.  que  le  13  mai  1659."^ 

"'    ebenso    in    dem    schon    vorher    angeführten     des    que'    mit    dem 
p.  antdr. 

®*    notice    bioofraphiqne    sur   Molifere    von    Mesnard   in   der    groszen 
schönen  Hachettesclien  Molifere-ausgabe  s.  99. 

34* 


524  C.  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  zeitformeu. 

Die  anleihe  steht  im  plusqueparfait.  wir  sind  in  der  zeit,  wo 
sie  schon  gemacht  worden  ist.  der  zusatz  'das  dafür  gegebene 
Unterpfand  war  nicht  wertlos'  zwingt  uns  nicht,  uns  in  eine  spätere 
zu  versetzen,  dann  aber  kommen,  im  gegensatz  zu  dem  plsqpf.  und 
iraparf.,  ein  pass6  d6fini  und  p.  ant6rieur.  als  die  anleihe  schon 
gemacht  worden  und  als  das  nichtwertlossein  des  pfandes  schon  in 
seiner  mittleren  dauer  begriffen  war,  da  kam  erst  der  Zeitpunkt, 
wo  Moliöre  dessen  Unzulänglichkeit  erkennen  muste  (passe  defini), 
und  wie?  als  folge  von  einem  andern,  gleichfalls  vorher  noch  zu- 
künftigen ereignis,  vorher  war  das  bezahlen-können  noch  eine 
frage  der  Zukunft,  die  verfallzeit  muste  noch  vorübergehen,  dasz 
Moliöre  sie  vorübergehen  liesz,  wird  daher  nicht  als  blosz  vergangen 
durch  ein  plusq.,  sondern  zugleich  als  etwas  zukünftiges  hingestellt, 
erst  die  anleihe  und  die  Übergabe  des  pfandes.  diese  lagen  gleich 
anfangs  hinter  (=  imparf.  und  plusqpf.),  die  Verfallszeit  aber  noch 
vor  uns;  dann  kam  diese,  und  als  endlich  auch  sie  zugleich  ge- 
kommen und  vorübergegangen  war,  ohne  dasz  Moliöre  ge- 
zahlt hatte  (pass6  ant.),  da  trat,  als  eine  folge  davon  (pass6  d6f.), 
auch  der  Zeitpunkt  ein,  wo  er  erkennen  muste,  dasz  das  anfangs 
vielleicht  genügende  pfand,  weil  zu  der  ursprünglichen  schuld  zinsen 
und  zinseszinsen  hinzuträten,  später  nicht  mehr  genügen  würde; 
und  wieder  als  eine  folge  davon  (passe  d6f.),  übernahm  er 
eine  neue  Verpflichtung,  bis  er  endlich  1659  die  schuld  abtrug. 

Wegen  seiner  eignen  Wichtigkeit  und  der  des  gegenständes 
möge  hier  auch  noch  ein  schon  in  der  ersten  arbeit  angeführter  satz 
folgen  aus  Voltaires  Charles  XII:  les  Su6dois  .  .  .  le  poursuivirent 
par  le  bois  ...  les  Saxons  n'eurent  t)avers6  le  bois  que  cinq  heures 
avant  la  cavalerie  suedoise.  als  die  Verfolgung  anfieng,  waren  die 
Sachsen  noch  in  dem  wald;  sie  musten  ihn  noch  durchschreiten, 
und  dies  hatten  sie  erst  vollendet,  gelang  ihnen  erst  zu  vollenden 
fünf  stunden  vor  der  verfolgenden  reiterei.  setzte  man  hier  avaient, 
so  wäre  schon  zur  zeit,  wo  die  Verfolgung  anfieng,  das  durchschreiten 
eine  vollendete  thatsache  gewesen;  dann  sähe  man  gleich,  schon  von 
der  zeit  aus,  dies  blosz  als  eine  vergangene  thatsache  an.  statt 
avant  la  cav.  s.  könnte  man  auch  sagen :  avant  qu'elle  füt  travers6e 
par  la  cavalerie  su6doise. 

Besonders  lehrreich  ist  auch  folgende  stelle  mit  dem  plusque- 
parfait, in  der  das  pass§  ant6rieur  nicht  stehen  konnte;  denn  schon 
vorher  hat  das  imparfait  'dormait*  uns  in  die  zeit  versetzt,  wo  das 
durch  die  zwei  plusqpf.  ausgedrückte  schon  vollendet  worden  war. 
trotz  des  den  dritten  satz  beginnenden  'a  peine'  muste  deshalb  das 
plusqpf.  stehen.  Alex.  Dumas,  la  comtesse  de  Charny  VI:  sa  reine 
s'occupa  (Marie  Antoinette)  donc  de  chercher  un  canape  .  .  .  pour 
elle-möme,  comptant  coucher  les  deux  enfants  dans  sou  lit.  le  petit 
dauphin  dormait  d6jä:  ä  peine  le  pauvre  enfant  avait-il  apais6  sa 
faim,  que  le  sommeil  l'avait  pris  (eut-il  könnte  es  nur  heiszen, 
■wenn  man  fortführe :  le  pi'it  et  qu'il  s'endormit  [statt  dormait  d6jäj). 


C.  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen.  525 

Ein  ebenso  interessantes  beispiel  vom  gebrauch  des  plusque- 
parfait  finde  ich  in  der  Eevue  des  dcux  mondes  vom  15  april  1893 
s.  722:  la  r§volulion  du  24  f6vrier  1848  6tait  certainenient  pour  la 
France  une  Strange  aventure  . .  .  les  lögitimistes  n'avaient  süieraent 
oontribn6  en  rien  ä  la  catastropbe.  six  mois  avant,  ils  se  resignaient 
presque  ä  une  Opposition  de  d6cence  ou  d'honneur  pour  le  principe, 
dös  que  lar6volution  avait  6clate,  ils  retrouvaient  leurs  illusions. 
ils  n'afifectaient  ni  deuil  ni  regret  usw.  das  dem  dös  que  usw.  vor- 
hergehende six  mois  avant  stellt  uns  vor  den  ausbrach,  man  könnte 
daher  dös  que  mit  dem  anlörieur  erwarten,  aber  nur  bei  oberfläch- 
licher betrachtung.  der  schriftsteiler  versetzte  sich  und  uns  gleich 
von  vorn  herein  in  die  zeit,  welche  auf  die  revolution  folgte,  und 
schildert  gar  die  läge  der  verschiedenen  parteien  nach  der  revolu- 
tion zu  einer  zeit,  wo  diese  läge  schon  in  ihrer  mittleren  dauer  be- 
grifi"en  war.  daher  gleich  ötaient  und  avaient,  mit  den  besonders 
charakteristischen  certainement  und  sürement;  und  im  einklang  da- 
mit dann  auch  nachher  retrouvaient  und  affectaient.  ständen  die 
Sätze  'six  mois  avant  (la  revolution  du  24  fövrier  1848  müste  man 
dann  hinzusetzen)  les  legitimistes'  usw.  und  'dös  que  .  .  .'  allein,  so 
müste  *eut  6clat6'  gesetzt  werden  und  'ils  retrouvörent',  denn  sechs 
monate  vorher  lag  die  revolution  mit  ihren  folgen  noch  in  der  Zu- 
kunft, aber  wie  bei  der  Schilderung  einer  sitte  und  gewohnheit,  tritt 
auch  hier  die  rücksicht  auf  das  Zeitverhältnis  dieser  zwei  sätze  unter 
sich,  zu  einander,  zuiück  hinter  die  auf  den  Standpunkt,  von  wel- 
chem der  Verfasser,  gleich  anfangs  und  überall,  weiter  die  läge  des 
ganzen  landes  und  aller  parteien  darstellt,  auf  den  Standpunkt  einer 
zeit,  die  der  februarrevolution  folgt. 

Man  hat  alle  Ursache ,  den  schüIer  vor  dem  gebrauch  des  pass6 
antörieur  zu  warnen. 

Erstens  kann  man  keinen  aufsatz  damit  beginnen,  also  eine 
arbeit  über  den  zweiten  punischen  krieg  nicht:  vingt-deux  ans  se 
furent,  sondern  s'ötaient  öcoulöes  depuis  la  fin  de  la  premiöre 
guerre  punique,  quand  la  deuxiöme  commen9a,  weil  wir  hier  nicht 
erst  vor  den  22  jähren  stehen,  sondern  gleich  dahinter,  behandelt 
man  aber  beide  kriege  zusammen  und  ist  an  dem  schlusz  des  ersten 
angekommen,  so  dasz  die  22  jähre  noch  beginnen  müssen,  dann 
kann  man  fortfahren:  quand  22  ans  se  furent  öcoulees  usw.  oder 
ä  peine  22  ans  se  furent-ils  ecoulös  que  .  .  .  denn  dann  kann  man 
diese  jähre  zuerst  von  der  vorhergehenden,  und  zugleich  von 
der  darauf  folgenden  zeit  betrachten.*^ 

Zweitens  musz  das  p.  ant6rieur,  selbst  wo  es  stehen  kann, 
wenn  in  einem  hauptsatz,  mit  einem  adverbium  der  zeit  oder  einer 
sonstigen    Zeitbestimmung   verbunden   sein,   die   beim   plusquepar- 


^^  auf  die  im  folgenden  besprochenen  punkte,  wie  auf  manches 
andere  haben  mich  erst  von  meinen  schillern  gemachte  fehler  aufmerk- 
sam gemacht. 


526  C.  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen. 

fait®*  fehlen  darf:  a  cinq  heures  oder  cinq  heures  apr6s  nous  eümes 
gagn6  la  bataille. 

Beim  plusqueparfait  i  s  t  und  b  1  e  i  b  t  die  zeit,  wo  der  sieg  schon 
gewonnen  war,  der  Standpunkt,  von  dem  wir  diesen  betrachten, 
beim  ant6rieur  aber  ist  derjenige,  von  dem  wir  später  den  sieg  be- 
trachten sollen,  von  dem  zuerst  eingenommenen  verschieden;  und 
sollen  wir  nicht  auf  diesem  stehen  bleiben,  so  müssen  wir  erfahren, 
in  welche  spätere  zeit  wir  uns  versetzen  sollen,  das  wann  musz  da- 
her beim  ant6rieur  noch  besonders  ausgedrückt  werden,  hier  ist 
eben  eine  doppelte  beziehung,  die  eine,  von  vorn  herein  gegebene, 
auf  das,  was  dem  Inhalt  des  Satzes  vorhergeht,  die  also  keines 
weiteren  ausdrucks  bedarf,  die  zweite,  auf  etwas  zukünftiges  oder 
eine  zukunft ,  für  welche  das  zukünftige  anterieur  sell)st  als  ver- 
gangen erscheint,  und  diese  bedürfen  noch  des  ausdrucks  und  be- 
sonderer bezeichnung.  dieselbe  doppelte  beziehung  haben  wir, 
wie  gesagt,  auch  beim  futurum  exactum;  und  so  kann  denn  auch 
dieses  nie  ohne  Zeitbestimmung  gebraucht  werden:  'um  sechs  uhr, 
nach  sechs  stunden,  bald,  werde  ich  die  arbeit  vollendet  haben', 
oder:  'wann  ich  sie  vollendet  haben  werde,  werde  ich  ausgeben', 
während  das  einfache  futurum  einer  solchen  bezeichnung  nicht  be- 
darf, weil  auch  dieses  die  handlung  blosz  von  einem,  schon  be- 
kannten Standpunkt,  dem  der  gegen  wart,  als  zukünftig  hinstellt, 
und  ebenso  verhält  es  sich  mit  dem  einfachen  passö  döfiai,  welches 
blosz  von  dem  einen  bekannten  Standpunkt  der  Vergangenheit,  auf 
den  wii  durch  das  vorhergehende  versetzt  werden,  irgend  etwas  als 
zugleich  anfangend  und  vollendet  oder  verwirklicht  vorführt. 

Drittens:  sagt  man  uns  nicht,  in  welche  zeit  wir  uns  versetzen 
sollen,  so  musz  man  das  ant6rieur  in  einen  nebensatz  bringen:  dös 
que  nous  eümes  gagn6  la  bataille,  nous  retournämes  dans  nos  foyers. 
dann  lenkt  sich  die  aufmerksamkeit  vom  p.  antörieur  und  gagn6  ab 
auf  retournämes,  wir  versetzen  uns  in  die  zeit  der  rückkehr,  und  der 
nebensatz  mit  dem  ant6rieur  dient  selber  dazu,  die  zeit  des  haupt- 
eatzes  zu  bestimmen.^'' 

Viertens:  stehen  mehrere  deutsche  plusquamperf.  zusammen, 
deren  Inhalt  zeitlich  auf  einander  folgt,  so  dasz  der  des  zweiten  erst 
anfieng,  als  der  des  ersten  vollendet  war,  so  steht  trotzdem  auch 
das  zweite  im  plusqueparfait,  nicht  im  p.  anterieur,  wenn  der  Inhalt 
beider  nur  von  der  zeit,  die  darauf  folgt,  betrachtet  werden  soll: 
j'allai  voir  un  homme  qui  avait  acquis  une  grande  fortune  et  s'6tait 
retire  dans  une  maisun  de  campagne.  das  maszgebende  ist  hier  die 
zeit  des  redenden,  des  subjects,  des  hauptsatzes,  und  als  ich  ihn  be- 
suchte, hatte  er  sich  schon  zurückgezogen. 

In  den  meisten  fällen,  wo  das  anterieur  gesetzt  wird,  ist  bin- 


"*  nota  bene,  ausgenommen,  wo  ein  plusqueparfait  gesetzt  wird  und, 
genau  genommen,  ein  anterieur  stehen  sollte. 
'■'^  dasselbe  gilt  vom  futur  ante'rieur. 


C.  Humbeit:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen.  527 

gegen  auch  das  plusqueparfait  richtig  oder  zulässig,  meistenteils 
ist  es  eben  nicht  notwendig,  dasz  die  von  dem  gesichtspunkte  des 
einen  satzes  oder  verbums  der  Vergangenheit  schon  vergangene 
handlung  uns  zugleich  von  dem  des  andern  als  noch  zukünftig  vor- 
geführt wird,  wie  wir  ja  auch  im  deutschen,  um  unsei'e  vielen  hilfs- 
verba  zu  vermeiden,  das  perfectura  setzen  statt  des  futurum  exactum: 
*wenn  ich  gearbeitet  habe,  werde  ich  spazieren  gehen.'  es  gibt 
aber  auch  fälle,  wo  das  antörieur  stehen  musz;  wenn  nämlich,  um 
Zweideutigkeiten  zu  vermeiden,  klar  ausgesprochen  werden  musz, 
dasz  die  betreffende  handlung  nicht  blosz  als  eine  schon  vergangene 
angesehen  werden  darf;  so  in  folgenden  Sätzen,  die  mir  gerade  in 
diesem  augenblick  in  einem  schüleraufsatz  entgegentreten ,  und  wo 
der  Schüler  den  von  mir  gegebenen  rat  an  verkehrter  stelle  befolgte  : 
le  roi  avait  repris  courage,  depuis  que  la  Pucelle  lui  avait  promis 
de  le  couronner  ä  Reims,  lorsque  oela  avait  6t§  fait,  on  avait  gagne 
nn  succös  .  .  .  hier  folgen  vier  plusquep.  auf  einander,  und  da  thut 
man  wohl  daran,  der  Ordnung  zu  liebe  und  zugleich  der  abwechs- 
lung  wegen,  zu  unterscheiden,  der  erste  nebensatz  mit  depuis  que 
erscheint  nur  als  vergangen,  vom  Standpunkte  seines  hauptsatzes. 
ebenso  avait  repris  vom  Standpunkt  des  vorhergehenden  satzes,  der 
uns  schon  gesagt,  dasz  seine  sachen  jetzt  besser  standen,  anders 
aber  mit  der  einnähme  von  Rheims.  diese  war  erst  von  der  Pucelle 
versprochen  worden,  die  ausführung  lag  noch  in  der  zukunft,  und 
wird  dies  nicht  durch  das  ant6rieur  ausgedrückt,  so  müste  man  sich 
in  die  zeit  versetzt  fühlen,  wo  auch  sie  schon  eine  thatsuche  der  Ver- 
gangenheit geworden  war.  dann  aber,  und  im  gegensatz  zu  diesem 
eut  6t6  fait,  von  dem  gesichtspunkt  der  zeit,  wo  dies  geschehen 
war,  kann  man  wieder  fortfahren:  on  avait  gagn6. 

V.  Platt n er  über  das  plusqueparfait  und  das  passe 
anterieur,  sowie  das  Verhältnis  zwischen  den  verschie- 
denen conjunctionen  und  Zeitformen. 

Über  den  unterschied  zwischen  pass6  oder  parfait  anterieur 
und  das  plusqueparfait  sagt  Plattner  gar  nichts,  er  gibt  nur  eine 
praktische  regel :  jenes  stehe  hauptsächlich  nach  den  conjunctionen 
lorsque,  quand ,  dös  qne,  sitöt  que,  aussitöt  que,  aprds  que,  ä  peine 
.  .  .  que,  ne  .  .  .  pas  sitöt  .  .  .  que,  ne  .  .  .  pas  aussitöt  .  .  .  que,  ne 
.  .  .  pas  plus  tot  .  .  .  que;  jedoch  stehe  nach  den  fünf  ersten  auch 
das  plusquep.,  und  nach  ä  peine  .  .  .  que  sogar  häufig,  also  nicht 
nach  aprös  que  und  den  drei  letzten  mit  ne  pas  .  .  .  que. 

Es  liegt  auf  der  band,  dasz  der  grund,  weshalb  eine  conjunctiou 
gerade  mit  der  einen  und  nicht  mit  der  andern  zeitform  verbunden 
wird,  nur  in  der  Verwandtschaft  dieser  zeitform  mit  der  conjunction 
gesucht  werden  darf,  hat  letztere  eine  allgemeine  unbestimmte  be- 
deutung,  wie  die  copulativen,  disjunctiven,  adversativen  u.  a. ,  so 
liegt  kein  grund  vor,  weshalb  sie  nicht  die  verschiedensten  tempora 
an  einander  reihen  sollte,  es  kommt  auch  hier  tiberall  nur  auf  die 
zeit  und  den  Standpunkt  an,  von  denen  man  eine  handlung  betrachtet, 


528  C.  Humbert :  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen. 

auch  bei  den  rein  temporalen,  causalen'®,  conclusiven.  so  stehen 
pendant  que  und  tandis  que,  die  im  allgemeinen  daraufhinweisen, 
dasz  etwas  in  seiner  mittleren  dauer  begriffen  war,  meist  mit  dem 
imparfait;  hingegen  dds  .  .  .,  (aus)sitöt  .  .  .,  ä  peine  .  .  .,  ne  pas  . .  . 
(aus)sitöt  .  .  . ,  ne  plus  tot  .  .  .  (alle  mit  folgendem  que),  meist  mit 
dem  d6fini  oder  ant6rieur,  weil  bei  ihnen  der  gedanke  an  den  an- 
fangs- und  endpunkt  der  thätigkeit  schärfer  hervortritt,  natürlich 
stehen  aber  auch  nach  ihnen  imparf.  und  plusquep.,  wenn  von  einer 
gewobnbeit,  die  in  ihrer  mittleren  dauer  vorgeführt  werden  soll, 
und  von  ereignissen  oder  dingen  die  rede  ist,  die  gar  nicht  verwirk- 
licht werden,  die  sich  die  phantasie  blosz  vormalt,  überhaupt  in 
allen  den  fällen,  wo,  ihrer  bedeutung  nach,  jene  conjunctionen  stehen 
können  und  die  Zeitverhältnisse  ein  impf,  oder  plusqpf.  verlangen. 

Folgende  bemerkungen  über  si,  comment,  que  u.  a.  mögen  die 
Sache  aufklären. 

Platiner  sagt  richtig,  nach  'si,  wenn'  stände  gewöhnlich  das 
imparf.,  selten  das  dd'fini;  auszer  in  der  redensart  's'il  en  fut'.  über 
letztere  habe  ich  schon  gesprochen,  sie  fordert  das  d6fini,  weil  die 
ganze  vergangene  ewigkeit  in  eins  zusammengefaszt  wird,  und 
in  dieser  ewigkeit  das  Vorhandensein  mit  seinem  anfangs-  und 
endpunkt."  soll  überhaupt  der  Inhalt  des  satzes  mit  si  als  wirklich 
angefangen  und  vollendet  hingestellt  werden'^,  so  steht  auch  das 
tempus,  welches  anfang  und  ende  hervorkehrt,  erscheint  aber  die 
Verwirklichung  der  bedingung  als  zweifelhaft,  so  gilt  das  über 
die  blosz  gedachten,  wohl  in  der  phantasie,  aber  nur  in  ihr  an- 
gefangenen und  so  schon  und  noch  in  ihrer  mittleren  dauer  be- 
griffenen Ibätigkeiten  bemerkte. 

Si  Menzikoff  fit  cette  manoeuvre  de  lui  möme,  la  Russie  lui 
dut  son  Salut;  si  le  czar  l'ordonna,  il  6tait  un  digne  adversaire  de 
Charles  XII  (Voltaire,  Ch.  XII  livre  4).  das  manöver  ward  aus- 
geführt, der  befehl  ward  erteilt,  ebenso  wie  Ruszland  dem  Menzi- 
koff wirklich  seine  rettung  verdankte,  eine  wirkliche  folge  jenes 
manövers,  die  erst  später  eintrat,  während  die  mit  6tait  angeknüpfte 
bemerkung  eine  blosze  logische  folgerung  ist,  die  man  zu  der 
zeit,  wo  das  manöver  angefangen  und  ausgeführt  ward,  als  schon 
und  noch  vorhanden  in  ihrer  mittleren  dauer  denken  musz,  als  den 
sachlichen  grund  oder  die  Voraussetzung,  die  jenes  manöver 
erklärt,  dies  Verhältnis  von  Ursache  und  Wirkung  haben  w^ir  auch 
in  den  folgenden  Sätzen. 

Si  eile  prit  sein  d'attiser  le  feu  par  une  innocente  coquetterie. 


ä^  vgl.  das  schon  früher  hierüber  bemerkte. 

^'^  prewöhnlich  übersetzt  man  'es  gibt'  mit  il  y  a ;  d.ns  seltenere  il 
est  läszt  durch  den  gegensatz  zwischen  seiner  kürze  und  der  von  ihm 
nmfaszten  zeit  diese  noch  mehr  hervortreten. 

8*'  ganz  wie  bei  den  causalsätzeu,  in  denen  eine  angefangene  und 
vollendete  handlung  (ereignis  usw.)  als  Ursache  von  etwas  anderem 
erscheint. 


C.  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen.  529 

c'est  qu'elle  tenait  ä  s'assurer  la  conqu6te  de  son  mari  (About, 
Germaine,  Hachette  1890  s.  211  eh.  10). 

Si  son  d6part  (celui  de  la  marquise)  contraria  Raymond,  qui 
regrettait  les  divertissements  journaliors  du  chäteau,  Gustave  se 
ifejouissait  de  se  retrouver  seul.  (ich  weisz  nicht  mehr,  woher 
entnommen.) 

In  beiden  sätzen  soll  die  bodingung  als  wirklich  erfüllt  hin- 
gestellt werden,  und  als  eine  folge,  die  anfieng  und  ausgeführt  ward, 
als  ihr  grund,  das  regretter  und  tenir,  schon  und  noch  in  der 
mittleren  dauer  begriffen  war;  gleichzeitig  mit  dem  regretter  des 
einen  aber  erscheint  hier  das  se  r6jouir  des  andern. 

Etwas  anders  ist  das  Verhältnis  in  den  zwei  folgenden  sätzen. 

Si  monsieur  Taconet  eut  la  vie  sauve,  cela  prouve  qu'il  est 
solidement  bäti  et  de  forte  trempe  (Revue  d.  d.  m.  15  d6c.  79  s.  841, 
Cherbulier). 

Si  Rosina  ne  chanta  pas,  c'est  qu'elle  se  contraignit  au 
silence  pour  ne  pas  se  trahir  (Revue  d.  d.  m.  1  fövr  1880  s.  517). 

Auch  hier  haben  wir  Ursache  und  Wirkung;  nur  steht  in 
dem  ersten  satz  die  schon  vorhandene,  schon  und  noch  in  ihrer 
mittleren  dauer  begriffene  Ursache  im  pr6sent  statt  des  imp. ,  weil 
nicht  der  Schriftsteller  spricht,  sondern  eine  person ,  die  in  dem 
roman  selbst  eine  rolle  spielt  und  für  die  herr  Taconet  nicht  kräftig 
gebaut  war,  sondern  ist;  der  satz  mit  si  aber  wieder  im  p.  d6fini, 
weil  das  avoir  la  vie  sauve  wirklich  anfieng  und  ausgeführt  ward, 
in  dem  zweiten  stehen  die  Ursache  und  die  scheinbare  wirkung  im 
p.  dfefini;  sie  sind  im  gründe  gleichzeitig  (sie  sang  nicht,  sondern 
sie  schwieg)  und  bezeichnen  zwei  angefangene  und  vollendete  that- 
sachen,  deren  wirkliche  Ursache  der  infinitiv  ausdrückt;  denn  pour 
ne  pas  se  trahir  ist  gleichbedeutend  mit  parce  qu'elle  ne  voulait 
pas  se  trahir.  weil  es  nicht  heiszt:  c'est  qu'elle  se  tut,  sondern:  se 
contraignit  au  silence,  kann  man  freilich  auch  ne  chanta  pas  als 
folge  davon  ansehen,  während  contr.  selbst  eine  folge  von  dem  in- 
finitivsatze  bleibt;  das  hat  aber  für  uns  keine  weitere  bedeutung. 
die  hauptsache  ist  eben  hier  das  si  mit  dem  döfini,  und  dieses  er- 
klärt sich  daraus,  dasz  ne  chanta  pas  nicht  eine  schon  und  noch 
vorhandene  Ursache  angibt,  sondern  eine  wirkung,  deren  anfangs- 
und  endpunkt  man  in  eins  zusammenzieht,  die  anfieng  und  au.<- 
geführt  ward. 

Gleichzeitigkeit  haben  wir  ferner  in  ce  fut  a  peine  s'il  put 
bögayer  un  nom :  wenn  er  dies  konnte  (und  er  konnte  es  wirk- 
lich, es  gelang  ihm),  so  geschah  es  nur  mit  mühe. 

In  den  meisten  fällen  freilich  ist  das  Verhältnis  wie  in  dem 
schlusz  einer  erzählung  von  den  bäckern,  die  den  polizeivorsteber 
von  Lyon  um  die  erlaubnis  bitten,  den  preis  des  brotes  zu  erhöhen, 
sie  lassen  eine  börse  mit  200  louisd'or  auf  dem  tische  liegen,  um 
ihn  zu  bestechen;  er  aber  verteilt  das  geld  unter  die  armen  und:  il 
leur  fallut  faire  bonne  mine  ä  mauvais  jeu;  car  ils  craignaient 


530  C.  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen. 

que  la  justice  n'intervint  s'ils  redemandaient  leur  argent.  das 
zurückfordern  ward  thatsächlich  weder  angefangen  noch  ausgeführt, 
es  war  als  wünsch  in  ihrem  geiste  vorhanden;  gleichzeitig  aber  mit 
diesem  wünsch  und  ihm  das  gleichge wicht  haltend  ihre  furcht;  und 
eben,  weil  diese  jenen  paralysierte,  ward  der  wünsch  nicht  zur  that, 
sondern  vielmehr  das  faire  bonne  mine  ä  mauvais  jeu;  und  deshalb 
habe  ich  hier  das  deutsche  imperfectum  'musten'  mit  fallut  wieder- 
geben, während  das  nicht  verwirklichte  redemander  im  imparfait 
steht,  il  fallait  würde  noch  nicht  ausdrücken,  dasz  sie  wirklich 
gute  miene  zum  bösen  spiel  machten.  ^^  s'ils  redemandörent  hiesze: 
wenn  es  wahr  ist,  wirklich  geschah,  dasz  sie  zurückforderten,  und 
ebenso,  um  dies  gleich  hier  zu  berühren,  ist  si  'wenn'  mit  dem  con- 
ditionnel  zu  erklären,  so:  le  fils  est  encore  bien  plus  avare  que  son 
p6re;  car  si  ce  dernier  rendrait  des  points  ä  Harpagon,  l'autre  ne 
rendrait  rien  du  tout.  'wenn'  oder  'so  gut  wie  das  eine  wahr  ist, 
ist  es  auch  das  andere.'  und  in  Moliöres  avare  selber  III  7 :  si  vous 
auriez  de  la  repugnance  äme  voir  votre  belle- möre,  je  n'en  aurais 
pas  moins  Sans  doute  ä  vous  voir  mon  beau-fils'""  ==  'wenn  es  wahr 
ist,  dasz  Ihr  .  .  .,  so  ist  es  auch  wahr,  das  ich  .  .  .' 

Man  vergleiche  noch  die  i?ätze:  'je  ne  sais  (oder  savais)  comment 
il  fit  (wie  er  es  anfieng),  pourquoi  il  le  fit'  und:  'je  ne  saurais  vous 
dire  ce  qu'il  fit'  mit  je  vis  oder  voyais  bien  oder  je  ne  saurais  vous 
dire  (je  ne  sais  oder  ne  savais  pas)  ce  qu'il  faisait  und  je  savais,  vis 
oder  voyais  bien  qu'il  dorm a it.  hier  erscheinen  dormir  und  faire 
in  engster  zeitlicher  Verbindung  mit  dem  verbum  des  hauptsatzes : 
ich  sah  usw.  was  er  zu  der  zeit  that,  wo  ich  hinsah;  da  war  dieses 
thun  und  ebenso  das  dormir  schon  und  noch  in  seiner  mittleren 
dauer  begriffen;  in  dun  vorhergebenden  Verbindungen  aber  stehen 
haupt-  und  nebensatz  in  gar  keiner  zeitlichen  beziehung  zu  einander; 
der  von  der  zeit  des  hauptsatzes  unabhängige  inhalt  des  nebensatzes 
soll  hingestellt  werden  als  etwas,  das  früher  einmal,  zu  seiner  zeit, 
anfieng  und  zugleich  zu  ende  geführt  ward,  man  vergleiche  auch 
noch  die  früher  angeführten  Sätze  mit  dem  passö  anterieur  und  die 
stelle  aus  dem  einen  über  Alexander:  qui  voulurent  uu  jour  d6truire 
leur  civilisation. 

Meine  erklärung  des  Unterschiedes  zwischen  plusqpf.  und 
p,  anterieur  und  die  bemeikung,  dasz  jede  conjunction  mit  dem 
tempus  verbunden  werden  kann  und  wird,  mit  dem  sie  ihrer  be- 
deutung  nach  überhaupt  oder  in  dem  einzelnen  falle  verwandt  ist, 
stimmt  nicht  zu  Plattners  regel,  dasz  nach  aprös  que  nur  das  passö 
anterieur  steht,  auch  ist  dies  nicht  richtig,  hier  ein  beispiel  aus 
der  einleitung  zum  Misanthiope  in  der  schönen  Despois-Mesnard- 
schen  Moliöre-ausgabe  (bei  Hachette)  bd.  V  s.  401:  'comme  acteur, 


99  vergleiche  das  früher  ütjer  fallut  und  fallait  bemerkte. 
""  siehe   die   anmerkiinjr   zu  dieser  stelle  in  meiner  Avare-ausgabe 
(Seemann,  Leipzig). 


C.  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen.  531 

on  goütait  Dancourt  surtout  dans  le  haut  comique,  et  Ton  avait 
gard6,  en  1725,  annöe  de  sa  raort,  et  huit  ans  aprös  qu'il  avait 
quittö  le  th6ä,tre,  le  Souvenir  de  son  succös  dans  le  röle  d'Aleeste.' 
hier  mus/.  das  plusqpf.  stehen,  eben  weil  sein  abgang  von  der  bühne 
nur  von  der  darauffolgenden  zeit  aus  betrachtet  wird,  und  nicht  zu- 
gleich und  erst  von  der  vorhergehenden. 

Ebenso  in  der  Mesnardschen  Molidre-biographie  derselben  aus- 
gäbe s.  252:  aprös  qu'elle  (=  la  petite  Menon)  lui  avait  inspire 
(=  ä  Moliöre)  le  vif  et  tendre  interöt  que  Chapelle  connaissait,  on 
ne  s'expliquerait  pas  qu'il  füt  impossible  de  la  retrouver  (in  der 
späteren  zeit,  in  der  wir  jetzt  stehen,  als  Moliöre  sieh 
verheiratete)  piös  de  lui,  comme  si  tout  a  coup  il  l'eiit  entiörement 
perdue  de  vue.  betrachteten  wir  aber  den  inhalt  des  nebensatzes  von 
dem  Standpunkt  der  zeit,  die  ihm  vorhergieng,  so  müste  eut  stehen, 
um  den  anfang  auszudrücken. 

Auch  in  folgender  stelle  aus  den  memoires  du  chancelier 
Pasquier  über  das  Verhältnis  Napoleons  zu  Talleyrand  konnte 
ä  peine  nicht  mit  dem  p.  antörieur  stehen:  'Napoleon  avait  ä  peine 
franche  les  Pyren6es  et  fait  quelques  pas  sur  la  roaie  de  Madrid  que 
döja  l'aigreur  et  le  möcontentement  de  M.  de  Talleyrand  se  mani- 
festaient.'  der  Verfasser  hatte  nämlich  vorher  schon  sich  und  uns 
in  eine  zeit  versetzt,  wo  die  reise  nach  Madrid  schon  der  Ver- 
gangenheit angehörte,  er  redete  zuerst  vom  4  dec.  1808,  wo  'Madrid 
6tait  occup6  par  les  troupes  fran^aises,  commandees  par  l'em- 
pereur'.  dann  23  jan.  1809,  wo  'il  se  trouvait  rentr6  dans  son 
palais  des  Tuileries',  und  unter  den  gründen,  die  ihn  zu  einer  so 
plötzlichen  rückkehr  genötigt  hatten,  führt  er  auch  die  intriguen 
Talleyrands  an,  die  schon  angefangen  hatten  sich  zu  zeigen  (se  mani- 
festaient),  als  Napoleon  kaum  die  Pyi-enäen  überschritten  hatte.  "" 

Noch  ein  plusqpf.  mit  lorsque:  sa  tentation  de  1777  (de  Larive, 
de  jouer  l'Alceste  du  Misanthrope)  meriterait  peu  d'ßtre  mentionnöe, 
si,  13  ans  plus  tard,  et  lorsqu'il  6tait  devenu  une  des  grandes 
renommees  du  th6ätre,  il  ne  1' avait  renouvelöe  avec  plus  de 
bonheur  (Moliöre  von  Despois-Mesnard  V  s.  404).  hier  hätte  vom 
Standpunkte  des  jahres  1777  die  zeit,  wo  er  eine  der  groszen  be- 
rühmtheiten  war,  als  zukünftig  angesehen  und  daher  lorsqu'il  fut 
gesagt  werden  können;  der  satz  mit  lorsque  ist  aber  abhängig  ge- 
macht von  s'il  ne  l'avait  renouvel6e,  und  von  dem  Zeitpunkt  muste 
das  berühratwerden  als  schon  hinter  ihm  liegend  gedacht  werden. 

Und  wie  mit  diesem  lorsque  und  dem  vorher  besprochenen 
a  peine  und  apräs,  so  verhält  es  sich  auch  mit  ne  pas  sitöt  (aussitöt) 
que,  ne  p.  plus  tot  que.  nur  kommen  diese  seltener  mit  dem 
plusqpf.  vor  als  a  peine,  weil  sie  wohl  überhaupt  seltener  gebraucht 
werden,  sie  bedeuten  aber  im  gründe  dasselbe;  daher  auch  dieselbe 
behandluncr. 


"»•  Revue  d.  d.  m.  15/6  93  s.  764  f. 


532  C.  Humbert:  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen. 

Glücklicherweise  stosze  ich  noch  vor  thoresschlusz  auf  eine 
bestätigung  meiner  behauptung  in  der  Revue  des  deux  mondes  vom 
1  mai  1893  s.  9:  'Napol6on  III  n'avait  pas  plus  tot  fait  l'Italie, 
qu'il  la  blessait  au  coeur  en  lui  refusant  Rome.'  der  Verfasser  gibt 
daselbst  eine  Charakteristik  Napoleons  und  betrachtet  so  sein  leben 
vom  gesichtspunkt  der  nachweit:  'kaum  hatte  er  als  ideologe  Italien 
geschaffen,  da  verletzte  er  es  auch  schon  in  einem  brusque  retour 
ä  la  politique  de  tradition.  dies  erscheint  hier  als  einer  der  belege 
von  den  Widersprüchen  seines  wesens.  als  ein  teil  der  daraus  her- 
vorgehenden handlungen,  die  als  sitte,  gewohnheit,  eigenschaft  nur 
in  ihrer  mittleren  dauer  und  vom  Standpunkt  einer  späteren  zeit 
aufgefaszt  werden,  bildete  obiger  satz  hingegen  einen  teil  einer 
biographie,  die  alle  einzelnen  ereignisse  in  ihrer  reihenfolge  unter 
sich  vorführt,  wie  sie  anfiengen,  ausgeführt  wurden  und  einander 
folgten,  so  müste  es  heiszen:  il  n'eut  pas  plus  tot  fait  Tltalie 
qu'il  la  blessa  au  coeur,  wenigstens,  wenn  vorher  noch  nicht  die 
Schöpfung  Italiens  erwähnt  worden  wäre. 

Zum  schlusz  möchte  ich  noch  auf  den,  so  aus  dem  zusammen-, 
hang  gerissen,  von  mir  beanstandeten  satz  bei  Plötz  zurückkommen: 
'die  blicke  der  Römer  hatten  sich  schon  auf  den  Pompejus  gerichtet, 
als  es  sich  darum  handelte,  einen  anführer  für  den  krieg  gegen  die 
Seeräuber  zu  wählen.'  er  ist  richtig,  wenn  andere  sätze  vorher- 
gehen oder  folgen,  die  uns  in  eine  zeit  versetzen,  die  auf  jenen  krieg 
folgte,  z.  b.  'in  dem  und  dem  jähre  war  Pompejus  der  mächtigste 
und  angesehenste  in  Rom.  ja  vorher  schon  hatten  die  blicke  .  .  .' 
dann  aber  müste  'hatten  sich  gerichtet'  durch  das  plusqpf.  wieder- 
gegeben werden,  weil  es  nur  von  dem  Standpunkt  der  folgenden  und 
nicht  zugleich  der  vorhergehenden  zeit  angesehen  wird. 

Bielefeld.  C.  Hdmbert. 


30. 

Zu  SCHILLERS  WALLENSTEIN. 


1.  Buttler. 

In  seinen  dispositionen  zu  deutschen  aufsätzen  behauptet  Cho- 
levius,  dasz  Buttler  in  seinem  Charakter  auffallende  Widersprüche 
babe;  ebenfalls  behauptete  ein  dichter  wie  Otto  Ludwig,  'man  werde 
aus  Buttlers  Charakter  nicht  klug,  denn  erst  dränge  er  sich  zu  dem 
auftrage  aus  räche,  dann  sehe  er  sich  als  das  willenlose  Werkzeug 
des  Schicksals  an';  nicht  minder  endlich  fand  ein  kenner  der  Schiller- 
schen  dichtung  wie  Hoffmeister  in  den  beweggründen  von  Buttlers 
handeln  einen  Widerspruch,  diese  erklärer,  meint  Bellermann  ',  sehen 
einen  Widerspruch  in  Buttlers  äuszerungen  gegen  Octavio  (  W.  T,  II  6) 

'  Schillers  dramen  II  113. 


U.  Zernial :  zu  Schillers  Walleustein.  533 

und  seinen  werten  zu  Gordon  (W.T.  IV  6  u.  8)  nach  dem  eintreEFen 
der  botscbaft  von  dem  siegreichen  herannahen  der  Schweden;  hin- 
gegen ist  er  selber  der  ansieht,  es  sei  offenbar  alles  vollkommen 
klar  und  übereinstimmend,  'anfangs',  sagt  er,  'braust  sein  wütendes 
rachegefühl  wild  empor,  nachher  aber,  als  es  an  die  ausführung  geht, 
ist  es  gerade  ein  gaaz  vortrefflicher  zug,  dasz  man  es  selbst  diesem 
harten  und  persönlich  so  furchtbar  gereizten  manne,  den  Gordon 
einen  felsen  nennt,  aufs  deutlichste  anfühlt,  wie  ihn  das  gräszliche 
des  feldherrnmordes  packt,  er  würde  ihn  ohne  zweifei  lebend  ge- 
fangen genommen  und  dem  kaiser  überliefert  haben,  wie  ja  schon 
«alles  verabredt»  war,  wenn  dies  möglich  gewesen  wäre,  da  es  aber 
beim  nahen  der  Schweden  unmöglich  ist,  wie  selbst  der  weichmütige 
Gordon  gestehen  musz,  so  ist  ihm  eben  nur  «der  tote  gewis».  dies 
sieht  er  klar  ein  und  schwankt  keinen  augenblick  in  seinem  ent- 
schlusse.  aber  er  fühlt  das  furchtbare  der  beabsichtigten  that  so 
sehr,  dasz  er  die  unab weisliche  notwendigkeit  so  stark  als  möglich 
betont,  wo  soll  hier  ein  widersprach  stecken?'  ich  bin  ganz  ein- 
verstanden mit  dem  hier  zur  motivierung  herangezogenen  hinweise 
auf  den  respect  des  generals  vor  seinem  oberfeldherrn ,  der  sich  so- 
gar in  den  werten  eines  mit  Buttler  (W.  T.  V  2)  verhandelnden 
Deveroux  wiederspiegelt : 

doch  sieh,  wir  sind  Soldaten,  und  den  feldherrn 
ermorden,  das  ist  eine  sünd'  und  frevel, 
davon  kein  beichtmöncli   absolvieren  kann, 

kann  mich  aber  mit  diesem  beweise  noch  nicht  begnügen,  weit  ent- 
fernt davon  glauben  zu  können,  dasz  ein  so  klar  und  scharf  ge- 
staltender dramatiker  wie  Schiller  in  der  Charakteristik  seiner  her- 
vorstechendsten und  für  die  handlung  wichtigsten  persönlichkeit, 
wie  Buttler  es  ist,  sich  widersprechen  sollte,  denke  ich  vielmehr  be- 
weisen zu  können,  dasz  gerade  in  Buttlers  ehavakterzeichnung  der 
dichter  ein  meisterwerk  geschaffen  hat.  —  Wallensteins  verrat  am 
kaiser  ist  das  tragische  ziel  des  dramas,  und  das  Lager  sowohl  wie 
die  beiden  ersten  acte  der  Piccolomini  lassen  uns  gleich  erkennen, 
dasz  das  Verhältnis  zwischen  dem  kaiser  und  seinem  feldherrn  bereits 
unhaltbar  geworden  ist.  dasz  der  kaiser  versuchen  muste  vor 
diesem  verrate  sich  zu  schützen,  und  dasz  es  auch  in  Wallensteins 
eigenster  Umgebung  leute  geben  mochte,  die  ihn  zu  schützen  bereit 
waren,  versteht  sich  solch  einem  verbrechen  (W.  T.  I  4,  179)  gegen- 
über ganz  von  selbst;  war  doch  Wallensteins  beginnen 

die  macht, 
die  ruhig,  sicher  thronende  (zu)  erschüttern, 
die  in  verjährt  geheiligtem  besitz, 
in  der  gewohnheit  festgegriindet  ruht, 
die  an  der  Völker  frommem  kinderglauben 
mit  tausend  festen  wurzeln  sich  befestigt. 

so  nahm  denn  Schiller  als  gegenspieler  zunächst  den  auch  geschicht- 
lich gegen  ihn  arbeitenden  generallieutenant  grafen  Octavio  Picco- 


534  U.  Zernial:  zu  Schillers  Wallenstein. 

lomini.  'dieser  spielt',  wie  Werder^  sagt,  'sein  spiel  mit  dem  ein- 
satze  seines  lebens.  indem  er  den  gefährlichen  feind  in  nächster 
näbe  bewacht  und  gegen  ihn  operiert,  thut  er  es  mit  gefahr  seines 
kopfes,  in  jeder  minute.  der  kleinste  fehler,  das  geringste  mis- 
gescbick  —  und  Illo  und  Terzky  haben  gründlich  acht  auf  ihn  — 
würde  ihn  der  räche  des  gewaltigen  wehilos  überliefern ,  dessen 
macht  unbegrenzt  war.  aber  er  hält  aus  auf  seinem  posten,  auf  den 
er  ebenso  wohl  gestellt  ist,  als  er  sich  daraufgestellt  hat;  er  will 
es,  weil  er  es  ist,  der  diesen  dienst  leisten  soll  und  leisten  kann.' 
eine  solche  rolle  wie  die  des  Ociavio  auch  nur  auf  der  bühne  zu 
spielen  erweckt  an  und  für  sich  wenig  Sympathie,  und  der  bekannte 
kritiker  K.  A.  Böttiger  hatte  in  einer  Besprechung  der  ersten  auf- 
führung  der  Piccolomini  den  Octavio  einen  buben  genannt,  darauf 
erwiderte  Schiller  im  taschenbuche  Minerva,  Jena,  den  1  märz  1799: 
'es  lag  nicht  in  meiner  absieht,  noch  in  den  worten  meines  textes, 
dasz  sich  Octavio  Piccolomini  als  einen  gar  so  schlimmen  mann,  als 
einen  buben  darstellen  sollte,  in  meinem  stücke  ist  er  das  nie,  er 
ist  sogar  ein  ziemlich  rechtlicher  mann,  nach  dem  weltbegriffe,  und 
die  Schändlichkeit,  welche  er  begeht,  sehen  wir  auf  jedem  welttheater 
von  personen  wiederholt,  die  so  wie  er  von  recht  und  pflicht  strenge 
begriffe  haben,  er  wählt  zwar  ein  schlechtes  mittel,  aber  er  verfolgt 
einen  guten  zweck,  er  will  den  staat  retten,  er  will  seinem  kaiser 
dienen,  den  er  nächst  gott  als  den  höchsten  gegenständ  aller  pflichten 
betrachtet,  er  verrät  einen  freund,  der  ihm  vertraut,  aber  dieser 
freund  ist  ein  Verräter  seines  kaisers  und  in  seinen  äugen  zugleich 
ein  unsinniger.'  wie  Schiller  demnach  den  Octavio  aufgefaszt  wissen 
wollte,  darüber  kann  nach  den  eben  angeführten  worten  kein  zweifei 
sein,  und  Octavio  kommt  denn  auch  zu  seinem  recbte  bei  Werder\ 
Bellermann  ^  und  in  dem  trefflichen  aufsatze  von  Beckhaus '^:  Octavio, 
'der  katholik,  der  kaiserliche  offiiier,  der  österreichische  edelmann, 
kein  fremdling  und  emporkömmling  wie  Buttler,  ein  mann,  für  den 
der  kaiser  sein  geborener  oberherr  ist,  während  Wallenstein  sein 
obergeneral  erst  geworden  ist  (Picc.  I  4,  436)  —  wer  will  ihm  zu- 
muten zum  Verräter  zu  werden,  weil  sein  freund  dazu  wird?'  hin- 
gegen teilt  er  dem  kaiser  mit,  was  er  gehört  hat;  der  kaiser  ver- 
langt von  ihm,  dasz  er  bleibe;  er  schreibt  ihm  sein  benehmen  vor. 
offen  handeln  kann  der  kaiser  nicht,  weil  Wallenstein  zu  mächtig 
ist;  Octavio  kann  auch  nicht  öffentlich  als  kläger  auftreten,  wie 
hätte  er  den  beweis  liefern  können?  nicht  einmal  sein  söhn  würde 
ihm  geglaubt  haben,  so  musz  Octavio  niedrige  mittel  gebrauchen.® 
schon  auf  eine  im  sinne  des  Wallenstein  herausfordernde  au.slassung 
Terzkys,  den  berüchtigten  Pilsener  revers  zu  unterzeichnen,  soll  er 
mit  dem  rufe   'o   traditore'   geantwortet  haben,   und  doch  unter- 


*  Vorlesungen  über  Schillers  Wallenstein  s.  142  f. 

3  a.  a,  o.  s.  131  ff.         *  a.  a.  o.  s.  93  ff. 

^  zu  Schillers  Wallenstein,   Pr.-Oslrowo  1892. 

«  ebd.  s.  19. 


U.  Zernial:  zu  Schillers  Wallenstein.  535 

zeichnete  er  später:  er  wollte  'dissimulierend',  wie  er  sich  von  da 
ab  mit  verliebe  ausdrückte,  ihn  beim  fortgange  des  conflictes  mit 
dem  Kaiser  in  Sicherheit  wiegen,  einem  Wallenstein  gegenüber  seine 
per^on  unvorbereitet  blcszzustellen ,  dazu  war  der  Italiener  Octavio 
Piccolomini  doch  zu  klug.''  überraschen,  sagt  er  zu  Questenberg 
(Picc.  1  3,  340), 

kann  er  uns  nicht;  Sie  wissen,  dasz  ich  ihn 
mit  meinen  horchern  rings  umg'eben  habe; 
vom  kleinsten  sehritt  erhalt'  ich  Wissenschaft 
sogleich  —  ja,  mir  entdeckt's  sein  eigner  mund. 

und  gleich  darauf: 

denken  Sie  nicht  etwa, 
dasz  ich  durch  lügenkünste,  gleisnerische 
gefälligkeit  in  seine  gunst  mich  stahl, 
durch   heuchelworte  sein  vertrauen  nähre, 
befiehlt  mir  gleich  die  klugheit  und  die  pflicht, 
die  ich  dem  reich,  dem  kaiser  schuldig  bin, 
dasz  ich  mein  wahres  herz  vor  ihm  verberge, 
ein  falbches  hab'  ich  niemals  ihm  geheiichelt! 

Es  ist  unzweifelhaft,  dasz  wegen  dieser  eigentümlich  peinlichen 
Stellung  des  Octavio  zu  Wallenstein  der  dichter  eine  eigentliche 
Unterredung  der  beiden  männer  im  drama  vermied.  Octavio  spricht 
zu  Wallenstein  niemals,  nur  zweim.al  Wallenstein  zu  Octavio,  aber 
aus  diesen  beiden  malen  leuchtet  die  klarste  ironie  in  bezug  auf  das 
Verhältnis  der  beiden  hervor,  am  Schlüsse  des  zweiten  actes  der 
Piccolomini  empfiehlt  Wallenstein  den  kriegsrat  Questenberg  der 
fürsorge  des  Octavio  mit  den  worten: 

Octavio,  du  wirst 
für  unsers  gastes  Sicherheit  mir  haften. 

als  wenn  das  noch  nötig  wäre!  und  am  anfange  des  zweiten  actes 
von  Wallenstt'ins  Tod  spricht  Wallenstein  einundzwanzig  Zeilen, 
während  Octavio  wie  mit  einem  undurchdringlichen  schuppenpanzer 
versehen  schweigend  dasteht  und  den  fast  einem  regenstrome  gleichen- 
den redeflusz  stumm  über  sich  ergehen  läszt.  und  doch  ist  diese 
stelle  dramatisch  von  ganz  auszerordentlicher  bedeutung.  Octavio 
wartet  mit  dem  letzten  schritte,  bis  Wallenstein  eine  that  gethan 
hat,  die  unwider^prechlich  den  hochverrat  bezeugt,  und  fühlt  sich 
dann  zum  Vollstrecker  der  nemesis  und  zum  rächer  seines  kaisers 
berufen,    so  spricht  er  in  dem  Piccolomini  V  1,  2477: 

mit  leisen  schritten  schlich  er  seinen  bösen  weg; 

so  leis'  und  schlau  ist  ihm  die  räche  nachgeschlichen. 

schon  steht  sie  ungesehen,  finster  hinter  ihm, 

ein  schritt  nur  noch,   und  schaudernd  rühret  er  sie  an. 

da  nun  aber  Octavio  von  Wallenstein  selbst  in  seinen  entscblusz  und 
seine  that  eingeweiht  ist,    so  trifft  jener  sofort  die  nötigen  masz- 


">   V.  Sybel,   bist,   ztschr.   72   s.  439:    Wallensteins   katastrophe    von 
Wittich. 


536  ü.  Zernial:  zu  Schillers  Wallensteiu. 

regeln:  aus  der  art  und  weise,  wie  in  der  fünften  und  sechsten 
scene  des  zweiten  actes  von  Wallensteins  Tod  Octavio  dem  Isolani 
und  dem  Buttler  gegenüber  auftritt,  erkennen  wir,  was  während 
jener  worte  Wallensteins  in  Oetavios  köpfe  vorgieng.  indem  jener 
ihm  den  auftrag  gibt  die  gegner  Gallas  und  Altringer  festzunehmen, 
geht  Octavio  eben  damit  um,  Wallensteins  anhänger,  Isolani  und 
Buttler,  im  falle  des  Widerstandes  festzunehmen,  um  so  weniger 
aber  war  Octavio  in  dieser  läge  geneigt  den  mund  auf-(uthun:  mag 
Wallenstein  reden,  so  lange  er  lust  hat,  ihn  selbst  beschäftigt  in- 
zwischen etwas  anderes,  ich  stimme  daher  mit  Werder^  überein, 
wenn  er  diese  eigentüinlichkeit  der  dichtung  eine  geniale,  charakte- 
ristische, nur  einmal  existierende,  nur  durch  das  wesen  Wallen- 
steins mögliche  nennt.  Svann  hätte  Friedland  unsers  rats  bedurft?' 
heiszt  es  von  Wallenstein  in  den  Piccolomini  V  1,  2384,  und  oft- 
mals hören  wir,  wie  er  die  Schwätzer  Terzky  und  Illo  verhöhnt  und 
zurechtweist,  er,  der  überlegene,  der  unfehlbare,  aber  Oetavios 
Stellung  und  handeln  in  diesem  wichtigen  augenblicke  kommt  auch 
mit  in  betracht,  und  meiner  ansieht  nach  sogar  noch  ein  drittes, 
scheidend  thut  Octavio  den  mund  auf,  aber  nur  gegen  seinen  söhn: 
'wir  sprechen  uns  noch'  —  und  mir  ist's,  als  wenn  Schiller  nicht 
blosz  für  hörer  und  leser  hätte  daraufhindeuten,  sondern  auch  sein 
eignes  empfinden  hätte  oflFenbaren  wollen,  dasz  Max  hier  ganz  be- 
sonders zu  beachten  ist.  seit  dem  Schlüsse  der  Piccolomini  ist 
Octavio  mit  seines  sohnes  denken  und  sinnen  vertraut,  und  wenn 
auch  der  söhn  nicht  bei  Wallenstein  verbleibt,  der  ihm  bisher  'wie 
der  feste  stern  des  pols,  ihm  als  die  lebensregel  vorgcschienen',  so 
hören  wir  doch  aus  seinem  eignen  munde  (W.  T.  III  18,  2130), 
dasz  er  den  vater  nicht  verteidigen  kann,  die  existenz  des  Max 
forderte  demnach  in  der  Ökonomie  des  Stückes,  dasz  Octavio,  dessen 
wahres  gesicht  nach  seineu  eignen  Unterredungen  wie  denen  des 
Wallenstein  mit  Max  nur  zu  leicht  geotfenbart  werden  konnte, 
Pilsen  möglichst  bald  verliesz,  und  darum  hüllt  er  sich  in  ein  wohl- 
bedachtes schweigen.  —  So  gieng  er  denn,  von  dem  eben  gewonnenen 
Isolani  noch  besonders  zur  eile  gemahnt  (W.  T.  II  6,  1185  flf.),  nach 
Linz  —  geschichtlich  hat  er  den  Wallenstein,  den  verblendeten,  um 
die  erlaubnis  gebeten,  den  grafen  Gallas  von  Frauenberg  zurück- 
zuholen, wozu  ihm  des  herzogs  eigner  wagen  zur  Verfügung  gestellt 
wurde,  und  sein  versprechen  zurückzukehren  erfüllte  er  an  der  spitze 
seiner  armee,  um  den  herzog  in  Pilsen  zu  überfallen:  er  hat  ihn  also 
überlistet.  —  Wenn  nun  aber,  wie  oben  bereits  bemerkt,  der  kaiscr 
vorher  von  ihm  verlangt  hatte  zu  bleiben,  durfte  er  denn  jetzt  von 
ihm  gehen?  ja.  erstens  war  es  für  den  kaiser  von  ganz  besonderer 
Wichtigkeit,  j<i  näher  die  entdeckung  des  Verrates  und  die  Vernich- 
tung Wallensteins  rückte,  in  gröszerer  nähe  von  ihm  selber  und 
von  Wallenstein   entfernt  einen  so  zuverlässigen  vermittler  für 


a.  a.  o.  s.  161. 


U.  Zernial:  zu  Schillers  Wallenstein.  537 

seine  sache  in  Octavio  tu  besitzen,  sodann  aber  muste  Oetavio  fest 
davon  überzeugt  sein,  dasz  der  mann,  den  er  als  seinen  ersatzmann 
in  der  nähe  des  geächteten  zurückliesz,  seine  rolle  ebenso  gut  spielen 
werde  wie  er  selber:  es  ist  kein  anderer  als  Buttler. 

*In  Buttler',  meint  Fielitz^,  'gewinnt  er  eine  rächende  band, 
die  über  Wallensteins  haupt  schweben  soll,  während  Octavio  selbst 
fern  von  seinem  opfer  des  kaisers  geschäfte  treiben  will,  wieder 
ein  feiner  kunstgriff  des  dichters.  Octavios  gestalt  muste  frei 
bleiben  von  dem  odium  der  ermordung,  und  dafür  eine  andere 
härtere,  derbere,  mehr  eine  Hagennatur  herangezogen  werden.' 
Fielitz  wird  das  'rausto'  so  verstehen ,  dasz  Octavio  gewissermaszen 
des  kaisers  band  selber  war,  dasz  Octavio  äuszerlich  Wallensteins 
freund  war,  dasz  Octavios  söhn  ebenfalls  Wallensteins  freund  war, 
und  ich  bin  auch  damit  einverstanden,  dasz  er  Buttler  eine  Hagen- 
natur nennt,  bin  aber  der  ansieht,  dasz  bisher  auch  nicht  von  einem 
einzigen  erklärer,  auch  nicht  von  Werder'",  so  vorzüglich  auch  sonst 
seine  auffassung  von  Buttlers  Charakter  ist,  die  charakterentwicklung 
des  mannes  mit  all  ihren  'kleinen  zügen'  von  der  ersten  ^cene  der 
Piccolomini  bis  zur  vorletzten,  der  elften  in  Wallensteins  Tod  in  so 
genügender  weise  behandelt  ist,  dasz  man  Buttler  als  den  eigentlichen 
gegenspieler  erkennt,  und  Schillers  gerade  hierin  überaus  hervor- 
ragendes muster  meisterhafter  Charakteristik  seine  volle  anerkennung 
findet. 

'Die  grundlage  in  ihm',  sagt  Werder,  'ist  die  plebejische 
natur,  und  diese  seine  :?pecies  ist  an  ihm  vom  dichter  durch  eine 
fülle  charakteristischer  züge  aufs  feinste  und  consequenteste  aus- 
geprägt, aus  jedem  worte,  das  er  spricht,  hören  wir  die  art  seiner 
carriere.'  ich  höre  noch  mehr  —  aus  all  den  worten,  die  ihm 
Schiller  in  den  mund  legt ,  erkennen  wir  nicht  blosz  den  plebejer, 
sondern  auch  den  nach  altgermanischer  bezeichnung  ungetreusten 
mann;  während  Hagen  doch  nur  ungetreu  ist  gegen  jeden,  der  die 
ehre  und  die  macht  des  königshauses  gefährden  möchte ,  dem  er  als 
verwandter  und  dien&tmann  verbunden  ist,  entladet  Buttler  die 
ganze  finstere,  feindselige,  heimtückische  gesinnung  und  gewalt 
seines  wesens,  all  seinen  höhn  und  seine  härte  gegen  Wallenstein 
nur  aus  reiner  Selbstsucht,  nur  aus  gekränkter  eitelkeit  und  infolge 
persönlicher  Verletzung  seines  ichs. 

Das  Lager  erwähnt  den  Buttler  im  7n  auftritte;  'jetzt  nennt 
man',  heiszt  es  da,  'ihn  generalmajor.' 

flas  macht,  er  thät  .sich  basz  hervor, 

thät  die  weit  mit  seinem  kiiegsruhm  füllen. 

In  den  Piccolomini  I  1  erklingt  nach  seinen  ersten  gleich- 
gültigen Worten:  'es  ist  schon  lebhaft  hier,  ich  sah's'  —  gleich  der 
erste  miston  für  das  ganze  drama,  wenn  er  sagt:  'auf  Gallas  wartet 


^  Studien  zu  Schillers  diamen,  Leipzig  1876,   s.  39. 
'0  a.  a.  o.  s.  162—173. 
N  jahrb.  f.  phil.  u.  päd.  11.  abt.  1897  hfl.  10  u.  11.  35 


538  U.  Zeruial:  zu  Schillers  Wallensteio. 

nicht.'  Illo  stutzt,  fragt:  'wie  so?  wiszt  Ihr'  —  und  wird  zunächst 
von  Isolani  durch  ein  gespräch  über  Max  Piccolomini  unterbrochen, 
kehrt  aber  zu  dem  gegenstände  des  gesprächs  zurück,  nachdem  er 
'Buttler  ein  wenig  auf  die  seite  geführt  hat',  indem  er  fragt:  'wie 
v»isztlhr,  dasz  graf  Gallas  auszen  bleibt?'  Buttler  antwortet 'mit 
bedeutung' :  'weil  er  auch  mich  gesucht  zurückzuhalten.'  als  dann 
aber  Illo,  ihm  warm  die  hand  drückend,  spricht:  'und  Ihr  seid  fest 
geblieben?  wackrer  Buttler',  hat  er  keine  andere  antwort  als: 

nach  der  Verbindlichkeit,  die  mir  der  fürst 
noch  kürzlich  aufgelegt  — . 

ich  zweifle  nicht  daran,  dasz  Schiller  durch  die  auf  Gallas  bezüg- 
lichen Worte  auch  darauf  hat  hinweisen  wollen,  dasz  Buttler  dem 
Gallas  als  ein  solcher  mann  erschienen  ist,  und  dieser  ihn  für  einen 
solchen  Charakter  gehalten  hat,  bei  dem  ein  versuch  ihn  von  Pilsen 
fernzuhalten  von  erfolg  begleitet  sein  konnte,  was  bedeutet  nun  aber 
gar  die  letzte  aposiopese?  er  will  eigentlich  sagen:  'wegen  meiner 
beförderung  zum  generalmajor  konnte  ich  nicht  anders,  sonst  wäre 
ich  wie  Gallas  nicht  gekommen',  aber  genau  genommen  sagt  er  so 
schon  zu  viel;  trotzdem  nämlich  lauter  mutmaszliche  freunde  des 
fürsten  um  ihn  herum  sind,  ist  Buttler  doch  von  dem  interesse  für 
seine  person  so  erfüllt,  dasz  er,  die  vorsieht  vergessend,  schroff  und 
kalt  sein  innerstes,  die  kalte  rücksichtslosigkeit  und  den  kühlen 
egoismus  in  wenn  auch  nicht  geradezu  klar  ausgesprochenen  werten, 
so  doch  in  wohl  verständlicher  weise  offenbart,  und  wenn  nachher 
von  kaiserlichen  forderungen  die  rede  ist,  so  hofft  er,  'der  herzog 
werd'  in  keinem  stücke  weichen'  —  um  seines  Vorteils  willen;  ja 
als  Illo  darauf  sagt  'wenn  nur  nicht  —  vom  platze!'  —  spricht  er 
'betroffen' :  'wiszt  Ihr  etwas?  Ihr  erschreckt  mich'  und  gleich  darauf 
'den  köpf  bedenklich  schüttelnd':  'ich  fürchte,  wir  gehn  nicht  von 
hier,  wie  wir  kamen.'  er  erschrickt,  und  zwar  nur  um  seines  Vor- 
teils willen;  bisher  hat  er  bei  Wallenstein  gute  earriere  gemacht, 
und  zum  grafentitel  will  ihm,  wie  er  meint.  Wallenstein  auch  ver- 
helfen, dieses  letzte  wort  hat  aber  noch  einen  besondern  klang  für 
den,  der  daran  denkt,  dasz  W.  T.  III  23  Wallenstein  zu  Buttler  sagt: 

der  commandant  zu  Eger 
ist  Euer  freund  und  landämnun.     schreibt  ihm  gleich 
durch  einen  eilenden,  er  soll  bereit  sein, 
uns  morgen  in  die  festung  einzunehmen  — 
Ihr  folgt  uns  selbst  mit  Kurem  regiment. 

hier  ist  es  also  Buttler  selber,  der  seine  eigne  frühere  Vermutung 
von  einer  besondern  art  des  fortganges  von  Pilsen  zur  Wahrheit 
machen  und  selber  dafür  helfend  eintreten  musz,  dasz  Wallenstein 
von  dort  nach  Eger  zieht:  'er  that's',  so  sagt  er,  'ihn  desto  sichrer 
zu  verderben'  (W.  T.  V  2).  so  zeigt  jene  ganze  erste  scene  der 
Piccolomini  den  Buttler  als  einen  grassen  egoisten,  der  ganz  und 
gar  so  vom  nutzen  regiert  wird ,  dasz  er  nur  aus  rücksicht  auf  den 
eignen  nutzen  etwaige  andere  ansichten,  maszregeln  und  plane  so- 


U.  Zernial:  zu  Schillers  Wallenstein.  539 

fort  ändern  kann,  in  dieser  ersten  scene  ist  demnach  vom  dichter 
der  haken  schon  ausgeworfen,  an  dem  die  handlung  des  dramas 
hängen  bleibt,  um  tragisch  zu  enden,  so  klärt  schon  die  erste  scene 
der  Piccolomini  tiber  die  tiefsten  gedanken  des  dichters  wie  über 
die  feinsten  fäden  der  gewaltigen  dichtung  auf,  und  so  wenig  wie 
der  dichter  gegen  Lessings  gebot  in  dem  27n  stücke  der  Hamburgi- 
schen dramaturgie  verstöszt,  dasz  'man  dem  zuhörer  wohl  das  ziel 
zeigen  dürfe,  wohin  man  ihn  führen  will,  dasz  aber  die  verschiedenen 
wege,  auf  welchen  er  dahin  gelangen  soll,  ihm  gänzlich  verborgen 
bleiben  müssen',  so  sehr  finden  wir  auch  das  von  ihm  beachtet  und 
beherzigt,  was  später  G.  Freytag  in  seiner  technik  des  dramas"  als 
eine  wichtige  technische  Vorschrift  hervorhebt:  'jeder  chavakter  des 
dramas  soll  die  grundzüge  seines  wesens  so  schnell  als  möglich  deut- 
lich und  anziehend  zeigen  ;  auch  wo  eine  kunstwirkiing  in  verdecktem 
spiele  einzelner  rollen  liegt,  musz  der  zuschauer  bis  zu  einem  ge- 
wissen grade  vertrauter  des  dichters  werden.' 

Aber  auch  durch  die  ganze  lange  dramatische  dichtung  unter- 
läszt  es  Schiller  bei  keiner  gelegenheit,  weder  bei  bedeutenden  oder 
weniger  bedeutenden  äuszerungen  Buttlers  selber,  noch  bei  manchen 
urteilen  über  ihn,  weder  in  Worten  des  dramas  selber  noch  in  man- 
chen scenischen,  nicht  nebensächlichen  bemerkungen,  die  dem  Schau- 
spieler die  richtige  auffassung  angeben  sollen ,  in  consequentester, 
des  scharf  zeichnenden  dichters  würdiger  weise  auf  Buttler  als  den 
eigentlichen  leiler  des  gegenspieles  hinzuweisen,  der  nur  von  selbst- 
süchtigen gedanken  getrieben  wird  bei  allem,  was  er  thut:  'nur  vom 
nutzen  wird  die  weit  regiert',  dies  wort  gilt  auch  von  ihm,  und 
nur  kalter  eigennutz  ist's,  der  sein  denken  und  sinnen  bestimmt, 
mag  auch  zu  gründe  gehen,  was  ihm  widerstrebt  und  ihm  sich 
nicht  beugt. 

In  der  zweiten  scene  des  ersten  actes  kommt  Octavio  mit  dem 
kriegsrate  und  kammerherrn  Questenberg.  lUo  wird  nicht  vor- 
gestellt, aber  das  tapfere  paar  graf  Isolani  und  oberst  Buttler,  'nun 
da  haben  wir  vor  äugen  gleich  das  ganze  kriegshandwerk.  es  ist  die 
stärke  und  Schnelligkeit',  und  wenn  nun  Questenberg,  zu  Octavio 
gewendet,  hinzusetzt:  'und  zwischen  beiden  der  erfahrene  rat*,  so 
haben  wir  das  kleeblatt,  das  später  die  drei  ersten  verratet  darstellt, 
als  nun  Octavio  den  Questenberg  vorstellt,  'diesen  würdigen  gast, 
in  dem  sie  den  Überbringer  kaiserlicher  befehle,  der  soldaten  groszen 
gönner  und  patron  verehren',  entsteht  erst  ein  allgemeines  still- 
schweigen, als  dann  aber  Illo  und  Isolani  in  ironischen  bemerkungen 
gegen  den  kriegsrat  sich  ergehen,  beteiligt  sich  endlich  auch  Buttler 
an  dieser  Unterhaltung,  nur  dasz  er,  nachdem  er  sich  erst  mit  dem 
ebenfalls  schweigenden  Piccolomini  seitwärts  gehalten  und  nun  mit 
sichtbarem  anteile  an  dem  gespräche  näher  getreten  ist,  von  der 
Ironie  —  es  seien  auch  blutegel  da,  die  an  dem  marke  des  landes 

"  3.  270'\ 

35* 


540  U.  Zernial:  zu  Schillers  Wallenstein. 

saugten;  auch  landschmarotzer,  die  dem  Soldaten,  der  vorm  feinde 
liegt,  das  brot  vorschneiden  und  die  rechnung  streichen  wroUen  — 
in  eine  lange,  ernste  rede  übergebt,  die  mit  den  werten  'herr  Prä- 
sident' beginnt,  auf  deren  ersten  teil  Questenberg  die  frage  stellt: 
'was  ist  der  langen  rede  kurzer  sinn?',  in  deren  zweitem  aber 
Buttler  den  'kurzen  sinn'  in  klaren,  scharfen  werten  dahin  ent- 
wickelt: 

von  dem  kaiser  nicht 

erhielten  wir  den  Wallenstein  zum  feldlierrn. 

so  ist  es  nicht,  so  nicht!     vom  Wallenstein 

erhielten  wir  den  kaiser  erst  zum  herrn, 

er  knüpft  uns,   er  allein,  an  diese  tahnen. 

SO  spricht  vor  und  zu  dem  kaiserlichen  kriegsrate  der  generalmajor 
und  chef  eines  kaiserlichen  dragonerregiments!  was  soll's  ihm 
schaden?  durch  Friedland  hat  er  seine  lauf  bahn  so  glänzend  ge- 
führt, dasz  er  jetzt  zum  commandanten  desselben  regiments  vor- 
geschlagen ist,  in  welchem  er  vom  reiter  heraufgedient  hat,  und, 
eagt  der  Wachtmeister  im  Lager  (sc.  7): 

wer  weisz,  was  er  noch  erreicht  und  ermiszt, 
(pfiffig)  denn  noch  nicht  aller  tage  abend  ist. 

SO  ist  auch  Friedland  der  gewaltige,  durch  den  er  seine  laufbahn 
glänzend  beschlieszen  kann;  nur  dieser  kann  ihm,  glaubt  er,  nützen, 
nicht  der  kaiser,  warum  soll  er  dies  nicht  offen  aussprechen?  be- 
zeichnend ist  aber,  wie  ruhig  Octavio  Piccolomini  dies  anhört,  da- 
zwischentretend entschuldigt  er  dem  Questenberg  gegenüber,  dasz 
die  kühnheit  und  die  freiheit  den  Soldaten  macht,  und  dasz  er  keck 
reden  dürfe,  weil  er  auch  keck  zu  handeln  vermöge,  dann  aber 
spricht  er  auf  Buttler  zeigend  : 

die  kühnheit  dieses  würd'gen  offiziers, 
die  jetzt  in  ihrem  ziel  sich  nur  vergriflF, 
erhielt,  wo  nichts  als  kühnheit  retten  konnte, 
bei  einem  furchtbaren  aufstand  der  besatzuug 
dem  kaiser  seine  hauptstadt  Prag  — 

und  Buttler  schweigt,  als  aber  in  der  nächsten  scene  Questenberg 
und  Octavio  allein  sind,  und  ersterer  erklärt: 
auch  dieser  Buttler 
kann  seine  böse  meiuung  nicht  verbergen, 

erwidert  Octavio  in  aller  ruhe: 

empfindlichkeit  —  gereizter  stolz  —  nichts  weiter!  — 
diesen  Buttler  geh'  ich  noch  nicht  auf;  ich  weisz  , 
wie  dieser  böse  geist  zu  bannen  ist. 

Octavio  kennt  seine  leute;  er  weisz,  welche  beweggründe  die  'ehr- 
geizigen' (W.  T.  II  6,  1108)  treiben. 

Buttler  bekommt  nachher  durch  Octavio  die  aufgäbe  Wallen- 
stein zu  töten ,  oder  er  nimmt  sie  sich  vielmehr  selbst,  so  hat  er 
mit  dem  drama  der  Piccolomini  nichts  zu  thun:  auszer  in  den  beiden 
ersten  scenen  kommt  er  im  ersten  acte  nicht  vor,  auch  nicht  im 
dritten  und  fünften  acte,  sondern  nur  noch  in  den  scenen  dieses 


U.  Zernlal:  zu  Schillers  Wallenstein.  541 

Stückes,  welche  sich  auf  die  handlang  dos  zweiten  draraas  Wallen- 
steins  Tod  beziehen,  in  der  audieuzscene  iin  zweiten  und  in  der 
bankettscene  im  vierten  acte,    folgen  wir  Schiller  dahin. 

In  der  siebenten  scene  des  zweiten  actes,  in  welcher  Wallen- 
stein mitsamt  seinem  generalstabe  dem  Questenberg,  'dem  Über- 
bringer kaiserlicher  befehle',  audienz  erteilt,  gibt  der  dichter  Buttler 
viermal  das  wort.  Vie  lang',  fragt  Wallenstein,  'ist  der  sold  den 
truppen  ausgeblieben?'  und  Buttler  antwortet:  'ein  jähr  schon  fehlt 
die  löbnung!'  auf  Questenbergs  äuszerung,  dasz  die  armee  ohne 
aufschub  Böhmen  räumen  solle,  entgegnet  Buttler  mitlUo:  'es  kann 
nicht  geschehen.'  auf  die  frage  Wallensteins ,  was  der  offizier  ver- 
dient, der  eidvergessen  seine  ordre  bricht?  erwidert  Buttler  mit  Illo 
und  Max  Piccolomini  'den  tod  nach  kriegsrecht',  und  als  die  scene 
endet,  ist  es  Buttler,  dem  Schiller  die  rolle  gibt,  den  Questenberg 
zu  warnen: 

wenn  guter  rat  gehör  bei  Ihnen  findet, 
vermeiden  Sie's,  in  diesen  ersten  stunden 
sich   öfi'entlich  zu  zeigen,  schwerlich  möchte  Sie 
der  goldne  Schlüssel  vor  mishandlung  schützen. 

Buttler  ist  eben  davon  überzeugt,  dasz  hier  im  lager  kein  mensch 
respect  hat  vor  einem  kaiserlichen  beamten,  dasz  die  Soldaten 
namentlich  erbittert  sein  werden,  wenn  sie  von  Questenbergs  auf- 
tragen künde  erhalten,  und  in  dieser  festen  Überzeugung  glaubt  er 
dem  kriegsrate  eine  wohlgemeinte,  aber  doch  ihm  wie  den  soldaten 
begreiflich  und  berechtigt  erscheinende  warnung  zu  erteilen.  — 
Im  vierten  acte  findet  das  von  Terzky  gegebene  bankett  statt,  die 
eidesformel  wird  gebracht  mit  und  ohne  clausel;  die  erste  schrift  soll 
ins  feuer  wandern,  da  sieht  Ter/ky  Buttler  herankommen  von  der 
zweiten  tafel  her  (sc.  4),  an  der  er  mit  andern  Offizieren  gesessen, 
geheimnisvoll  spricht  er  zu  Illo: 

glück  zum  geschäfte  —  und  was  mich  betrifft, 

so  könnt  Ihr  auf  mich  rechnen. 

mit  oder  ohne  clausel!  gilt  mir  gleich. 

versteht  Ihr  mich!     der  fürst  kann  meine  treu' 

auf  jede  probe  setzen,  sagt  ihm  das. 

ich  bin  des  kaisers  offizier,  so  lang  ihm 

beliebt  des  kaisers  general  zu  bleiben, 

und  bin  des  Friedlands  kiiecht,  sobald  es  ihm 

gefallen  wird  sein  eigner  herr  zu  sein. 

ZU  diesen  grassen,  an  deutlichkeit  nichts  übrig  lassenden  worten, 
die  noch  dazu  von  Wallensteins  vertrauten  diesem  mitgeteilt  werden 
könnten  und  möchten,  erzählt  nun  Buttler  in  ernstem  tone,  dasz 
er  sich  mitsamt  seinem  regiment  dem  herzog  bringe,  und  nicht  ohne 
folgen  solle  das  beispiel  bleiben,  das  ergebe;  dasz  er  noch  vor  einem 
halben  jähre  nicht  zu  bewegen  gewesen  wäre  zu  thun,  wozu  er  sich 
jetzt  erbiete;  dasz  er  jetzt  deutlich  wisse,  wovon  er  scheide;  40  jähre 
habe  er  die  treue  gegen  den  kaiser  bewahrt,  jetzt  im  sechzigsten 
wolle  er  noch  räche  üben;  er  sei  ein  freund,  der  mit  wort  und  that 


542  ü.  Zernial:  zu  Schillers  Wallenstein. 

und  geld  dem  Wallenstein  angehöre;  auch  Wallenstein  sei  der  For- 
tuna kind,  er  liebe  einen  weg,  der  dem  seinen  gleiche;  und  von  allen 
tapfern  und  groszen,  die  jetzt  etwas  erreichen  wollten,  reiche  keiner 
an  den  Friedland,  nichts  sei  so  hoch,  wonach  der  starke  nicht  be- 
fugnis  habe  die  leiter  anzusetzen,  da  ruft  Terzky :  'das  ist  gesprochen 
wie  ein  mann!'  —  natürlich,  Terzky  und  Illo  können  günstigeres 
für  ihre  und  Wallensteins  plane  nicht  hören,  aber  auch  nur  sie  sollen 
es  hören,  was  Buttler  gesagt  —  es  kann  ihm  sehr  nützlich  sein, 
namentlich  wenn  sie  es  dem  herzog  hinterbringen,  nach  dieser  rede 
aber  kehrt  Buttler  voll  eifers  mit  den  worten:  'kommt  zur  gesell- 
t-chaft!  kommt!'  an  seine  tafel  zurück.  —  In  der  sechsten  scene  be- 
wegen sich  die  Offiziere  alle  auf  der  bühne,  und  da  nähert  sich 
Octavio  Piccolomini  dem  Buttler.  er  meint,  dasz  'der  herr  oberste 
lieber,  wie  er  wohl  bemerkt,  im  toben  einer  schlacht  sich  gefallen 
würde  als  eines  schmauses',  was  Buttlcr  bejaht;  'ich  freue  mich, 
sehr  würdiger  oberst  Buttler,  dasz  wir  in  der  denkart  uns 
so  begegnen:  ein  halbes  dutzend  guter  freunde  höchstens  um  einen 
kleinen,  runden  tisch,  ein  gläschen  Tokayerwein,  ein  offenes  herz 
dabei  und  ein  vernünftiges  gespräch'.  'ja,  wenn  man's  haben  kann', 
erwidert  Buttler  kurz,  'ich  halt'  es  mit',  weiter  aber  machen  die 
freundlichen  worte  Octavios  trotz  der  schmeichelhaften,  feierlichen  an- 
reden auf  ihn  gar  keinen  eindruck,  und  in  diesem  augenblicke  kommt 
die  eidesformel  an  Buttler:  er  unterschreibt  wie  vorher  Octavio,  und 
als  Terzky  ruft:  'hat  alles  unterschrieben',  Octavio:  'es  haben's  alle', 
fordert  Buttler  den  Terzky  auf:  'zählt  nach!  just  dreiszig  namen 
müssen's  sein.'  als  nun  aber  sich  herausstellt,  dasz  Max  Piccolomini 
nicht  unterzeichnet  hat,  und  die  Offiziere  den  grund  dafür  in  der 
weggelassenen  clausel  zu  finden  glauben,  da  läszt  Schiller  —  in  der 
siebenten  scene  —  Buttler  zu  einem  der  commandeurs  die  warnenden 
worte  aussprechen: 

schämt  Euch,  Ihr  herrii!     bedenkt,   worauf  es  ankomuit! 

die  fra<j'  ist  jetzt,  ob   wir  den  general 

bebalten  sollen  oder  ziehen  lassen? 

man  kann's  so  scharf  nicht  nehmen  und  genau  — 

damit  alle  weit  weisz,  wie  hoch  Buttler  den  Wallenstein  schätzt! 
wie  sehr  Buttlers  und  Wallensteins  Interessen  verbunden  sind  für 
ewige  Zeiten!  wie  selbstlos  Buttler  handelt,  weil  —  er  nur  nutzen 
und  vorteil  sich  verspricht  von  dem  'Friedländer,  dem  hauptmann 
und  hochgebietenden  herrn  ,  der  jetzt  alles  vei'mag  und  kann'!  — 
Nachdem  Octavio  in  W.  T.  II  5  den  ränkesüchtigen  Isolani  für 
seine  sache  gewonnen ,  erscheint  in  der  6n  scene  auf  'seine  ordre' 
auch  Buttler  bei  ihm.  Octavio  erinnert  daran,  wie  er  ihm  tags  zu- 
vor bei  dem  bankett  entgegengekommen,  ohne  dasz  Buttler  die 
neigung  erwidert,  und  wie  er  wohl  gar  als  leere  forme!  sie  empfunden ; 
er  fragt,  ob  graf  Gallas,  sein  freund,  ihm  nichts  anvertraut  habe;  er 
teilt  ihm  mit,  dasz  der  herzog  auf  verrat  sinne,  ja,  ihn  schon  voll- 
führt habe.    Buttler  erklärt,  dasz  Gallas  verlorene  worte  nur  ge- 


ü.  Zeruial :  zu  Schillers  Wallenstein.  543 

sprocben,  Wallensteins  handeln  und  gescbiek  auch  seines,  und  dies 
fcein  letzter  entschlusz  sei ,  denn  auf  'dank  vom  hause  Ostreich' 
rechne  er  nicht,  aber  als  er  gehen  will,  begleitet  ihn  Octavio  bis  zur 
thür  und  ruft:  *wie  war  es  mit  dem  grafen?'  Buttler,  heftig  auf- 
fahrend, erzählt,  er  besitze  ehrgeiz,  habe  sich  um  den  titel  beworben, 
aber  habe  es  nicht  verdient  mit  schwerem  höhne  zermalmend  nieder- 
geschlagen zu  werden;  es  sei  ein  niederträcht'ger  bube,  ein  höfling 
müsse  es  sein,  der  junker  irgend  eines  alten  hauses,  ein  neid'scher 
schurke,  den  seine  selbstverdiente  würde  kränke,  denn  der  herzog 
habe  sich  selbst  für  ihn  verwendet,  mit  edler  freundeswärrae.  aus 
einem  briefe,  den  Octavio  ihm  reicht,  ersieht  er  nun  seinen  Irrtum: 
Wallenstein  spi'icht  nur  mit  Verachtung  von  ihm  und  rät  dem 
minister  den  dunkel  zu  züchtigen;  der  kaiser  aber  bestätige  die 
Schenkung  des  regiments,  die  der  herzog  zu  bösem  zwecke  gemacht 
habe,  nun  kommt  sowohl  die  plebejische  wie  auch  die  selbstsüchtige 
natur  Buttlers  vollständig  zum  Vorschein :  auszer  jener  fülle  von  Schelt- 
wörtern, mit  denen  er  vorher  den  vermeintlichen  gegner  bedachte, 
zeigt  sich  jetzt,  wie  empfindlich  die  eitelkeit  und  der  ehrgeiz  getroffen 
ist,  und  von  all  den  empfindungen  und  gesinnungen,  mit  denen  er 
bisher  für  Wallenstein  und  seine  plane  eingetreten  ist,  sehen  und 
hören  wir  nun  gerade  das  gegenteil:  das  eigne  ich  ist  verletzt,  weil 
er  den  nutzen,  den  er  gehofft  und  erwartet,  nicht  erhalten  soll,  und 
nun  vollzieht  sich  in  seinem  denken  und  sinnen,  in  seinem  thun  und 
handeln  ein  Umschlag,  wie  man  ihn  eben  nur  von  einem  so  gewöhn- 
lichen Charakter  wie  Buttler  erwarten  kann,  seine  kniee  zittern,  er 
greift  nach  einem  stuhle;  seine  stimme  bebt,  sein  gemüt  arbeitet 
heftig;  er  versucht  zu  reden  und  vermag  es  nicht;  er  nimmt  seinen 
degen  vom  gehänge  und  reicht  ihn  dem  Piccolomini  —  alles  begreif- 
lich, denn  ein  lieblingsplan  ist  vereitelt,  und  dasz  er  für  Wallen- 
stein noch  ein  übriges  thun  soll,  kann  kein  mensch  verlangen,  aber 
dieser  kalte,  selbstsüchtige,  eigennützige  Charakter  will  sich  sofort 
rächen  und  in  der  räche  sich  nicht  blosz  von  Wallenstein  trennen  — 
'o,  er  soll  nicht  leben!'  er  will  nicht  dem  Octavio  nach  Frauenberg 
folgen,  sondern  in  Pilsen  bleiben  bei  seinem  regimente.  'so  laszt 
mich  hier  —  auf  ehren  wort!  —  Ihr  überlasset  ihn  seinem  guten 
engel  nicht!  —  lebt  wohl!' 

Octavio  weisz  nun,  was  er  von  Buttler  zu  halten  hat.  Buttler 
bleibt  bei  den  andern,  den  freunden  Wallensteins;  nun  hat  er  vor 
diesen  den  falschen  zu  spielen,  um  sich  nicht  als  den  Verräter  er- 
kennen zu  lassen,  und  Schiller  weisz  es  wunderschön  zu  zeigen,  wie 
die  anhänger  Wallensteins  anfangs  keinen  zweifei  an  Buttlers  ge- 
sinnung  hegen,  wie  aber  Wallenstein  selber,  feinfühlig  wie  er  ist, 
ihm  nicht  trauen  mag,  weil  er  ihn  nicht  für  zuverlässig  hält  —  viel- 
leicht weil  er  selber  nicht  ehrlich  gegen  ihn  ist.  obgleich  Buttler 
am  bankettabend  die  eidesformel  unterzeichnet  hat,  fragt  dennoch 
Wallenstein  (W.  T.  III  4,  1441):  'der  Buttler,  sagst  du,  hat  sich 
nun  erklärt',  und  als  Illo  antwortet:  'aus  freiem  trieb,  unaufgefordert 


544  U.  Zernial:  zu  Schillers  Wallensteiu. 

kam  er,  sich  selbst,  sein  regiment  Dir  anzubieten',  spricht  Wallen- 
stein folgende  bedeutungsvollen  worte  aus : 

nicht  jeder  stimme,  find'  ich,  ist  zu  glauben, 

die  warnend  sich  im  heizen  läszt  vernehmen. 

uns  zu  berücken,  borgt  der  lügengeist 

nachahmend  oft  die  stimme  von  der  Wahrheit 

und  streut  betriigliclie  orakel  aus.'* 

so  hab'  ich  diesem  würdig  braven  mann, 

dem  Buttler,  stilles  unrecht  abzubitten; 

denn  ein  gefühl,  desz  ich  nicht  meister  bin, 

furcht  möcht'  ich's  nicht  gern  nennen,  überschleicht 

in  seiner  nähe  schaudernd  mir  die  sinne, 

und  hemmt  der  liebe  freudige  bewegnng. 

und  dieser  redliche,   vor  dem  der  geist 

mich  warnt,  reicht  mir  das  erste  pfand  des  glucks. 

es  scheint,  dasz  Buttler  auch  dann  nicht  den  eindruck  erweckt,  als 
handle  er  gern  und  freudig,  wenn  er  selbst  den  vorteil  und  den 
nutzen  für  sich  deutlich  vor  sich  sieht;  er  scheint  immer  nicht  recht 
zu  trauen;  es  scheint  auch,  dasz  Wallensteins  gefühl  durch  hinder- 
nisse  gesteigert  ist,  die  er  dem  Butller  in  den  weg  gelegt  hat;  es 
klopft  ihm  das  gewissen,  und  doch  kann  er  nicht  denken,  dasz 
Buttler  von  solchen  hemmnissen  weisz.  um  so  gröszer  ist  aber  die 
Spannung,  welche  die  worte  auf  den  Zuschauer  hervorrufen,  nament- 
lich da  auch  in  der  sechsten  scene  der  in  dieser  beziehung  innerlich 
unruhige  Wallenstein  ohne  irgend  welche  äuszere  veranlassung  noch 
einmal  fragt:  'höre!  hast  Du  von  Buttlern  kundschaft?'  lilo,  der 
seit  vorher  nur  anderthalb  scenen  lang  von  der  btihne  fort  gewesen 
ist,  hat  Buttler  in  dieser  kurzen  zeit  getroffen,  darum  kann  er  sagen: 
'gleich  ist  er  selber  hier,  der  hält  dir  fest.'  und  Buttler  kommt 
eigentlich,  um  zu  melden,  dasz  Prag  verloren  ist,  da  aber  Wallen- 
stein in  diesem  augenblicke  gerade  erfahren,  dasz  Octavio  ein  Ver- 
räter ist,  so  schweigt  Butller  und  läszt  es  geschehen,  dasz  er  von 
Wallenstein,  der  ja  eben  erst  zweimal  von  lUo  erfahren,  dasz  er  fest 
hält,  mit  herzlichkeit  umfaszt  wird:  'komm  an  mein  herz,  Du  alter 
kriegsgefährte,  so  wohl  that  nicht  der  sonne  blick  im  lenz  als 
freundes  angesicht  in  solcher  stunde';  dasz  Wallenstein,  nachdem 
er  den  treubruch  des  dreiszigjährigen  kriegskameraden  mit  tiefem 
absehen  geschildert  hat,  das  gesiebt  an  Buttlers  brüst  verbirgt,  in 
diesem  augenblicke,  so  müssen  wir  annehmen,  bittet  er  dem  Buttler 
stilles  unrecht  ab  —  er  nennt  ihn  gleich  darauf  ein  'treues  herz'; 
Buttler  aber,  der  gekränkte,  für  seine  person  unversöhnlich  be- 
leidigte, spricht  zwar:  'vergeszt  den  fal-chen!  sagt,  was  wollt  Ihr 
thunV  doch  nach  langem  hin-  und  herfrugen,  bei  dem  er  scheinbar 
sich  zu  sagen  scheut,  was  er  weisz,  fügt  es  der  dichter  doch  so,  dasz 
er  'das  schlimmste  den  Wallenstein  hören'  läszt: 

"  vgl.  Macbeth  I  3.     Banquo: 

doch,  's  ist  seltsam, 
oft  sagen  Wahrheit  uns  der  hölle  schergen, 
uns  zu  verlocken  so  zum  eignen  leid. 


U.  Zernial :  zu  Schillers  Wallensteiu.  545 

Prag  ist  verloren,     alle  regimenter 

zu  Budweis,  Tahor,  Brannau,  Königgrätz, 

zu  Brunn  und  Znaym  haben  Euch  verlassen, 

dem  kaiser  neu  gehuldiget,  Ihr  selbst 

mit  Kinsky,  Terzky,  lUo  seid  geächtet, 
diese  worte,  so  gewichtig  sie  sind  und  so  gehässig  sie  klingen,  wie 
Buttler  sie  aussprechen  mag,  sind  doch  nur  der  Inhalt  des  biiefes, 
der  ins  lager  mit  dem  boten  gekommen  und  von  der  wache  auf- 
gefangen war,  und  Buttler  bat  ihn  nur  erzählt,  sein  persönlicher  an- 
teil  steigert  sich  aber  an  dem,  was  über  Wallenstein  in  der  folge 
heraufzieht,  während  zunächst  der  herzog  mit  den  Pappenheimschen 
kürassieren  verhandelt,  um  dieses  regiment  für  sich  zu  gewinnen, 
und  die  Verhandlung  beinahe  zum  guten  ausgange  geführt  ist,  stürzt 
Buttler  herein  (t^c.  16)  und  ruft  in  eifer:  '^graf  Terzkys  regimenter 
reiszen  den  kaiserlichen  adler  von  den  fahnen  und  pflanzen  Deine 
zeichen  auf.'  sofort  commandiert  der  gefreite  'rechts  um !'  Wallen- 
btein  aber  spricht  ahnungsvoll  die  worte :  'das  stürzt  uns  ins  ver- 
derben —  Buttler!  Buttler!  Ihr  seid  mein  böser  dämon,  warum 
mustet  Ihr's  in  ihrem  beisein  melden!  —  o  grausam  spielt  das  glück 
mit  mir!  der  freunde  eifer  ist's,  der  mich  zu  gründe  richtet,  nicht 
der  hasz  der  feinde.'  und  Wallenstein  hat  recht:  die  scheinbar 
eifrigen  freunde  sind  gehässige  feinde,  die  aus  Schadenfreude  durch 
ihre  reden  alles  zum  bösen  kehren,  so  spielt  die  tragische  ironiü 
ihre  bedeutsame  rolle,  einmal  und  gleich  darauf  noch  zweimal,  eben 
diesen  Buttler,  der,  wie  Wallenstein  meint,  aus  freundeseifer  handelt, 
fordert  er  auf '^  dem  commandanten  von  Eger  zu  schreiben,  dasz  er 
bereit  sein  solle  ihn  und  seine  truppen  in  die  festung  aufzunehmen, 
und  selber  mit  seinem  regimente  zu  folgen,  als  aber  gleich 
darauf  Max  Piccolomini  abschied  nimmt,  richtet  dieser  an  Buttler 
die  worte: 

Ihr  auch  hier,   oberst  Buttler  —  Und  Ihr  wollt  mir 

nicht  folgen?  —  Wohl!     Bleibt  Eurem  neuen  herru 

getreuer  als  dem  alten,     kommt!     versprecht  mir, 

die  band  gebt  mir  darauf,  dasz  Ihr  sein  leben 

beschützen,  unverletzlich  wollt  bewahren! 

da  aber  'verweigert  Buttler  seine  band'  —  und  gleich  darauf  geht 
Max  fort,  'zweideutige  blicke  auf  111  o  und  Buttler  richtend*.  — 
Dasz  die  zuschauer  auch  lUo ,  den  vertrauten,  für  einen  Verräter  an 
Wallenstein  halten  sollen,  will  Schiller  nicht;  Max  ist  nur  ein- 
genommen gegen  Illo ,  den  stürmischen  und  leidenschaftlichen,  wie 
er  im  4n  acte  der  Piccolomini  sich  zeigte,  und  so  wird  er  im  zorn 
und  eifer  mitgenannt,  aber  Buttler?  bat  etwa  Max  dieselbe  empfin- 
dung  des  mistrauens  gegen  ihn  wie  Wallenstein?  und  eben  hat  er 
ihm  seine  band  verweigert:  er  will  sein  leben  nicht  unverletzlich 
bewahren  —  das  will  Buttler  allerdings  auch  nicht,  hätte  er  aber 
dem  Max  die  band  gereicht,  so  würden  Illo  und  andere  darin  eine 
Übereinstimmung  mit  Maxens  gesinnung  und  bandeln  sehen,  der  jetzt 

'3  s.  oben  s.  538. 


546  ü.  Zernial:  zu  Schillers  Wallenstein. 

von  seinem  freunde  für  immer  scheidet,  so  läszt  Buttler,  der  Ver- 
räter, den  verdacht  ruhig  über  sich  ergehen,  ob  er  es  mit  Wallen- 
stein so  meint  oder  so. 

Das  Lager  und  die  Piccolomini  fallen  auf  den  22  februar  1634, 
der  erste  und  zweite  act  von  Wallensteins  Tod  auf  den  23n,  der 
dritte  auf  den  24n,  und  der  vierte  und  fünfte  auf  den  späten  nach- 
mittag des  25n  bis  in  die  nacht  des  26n  hinein.  —  'Bis  hieher, 
Priedland,  und  nicht  weiter!  sagt  die  schicksalsgöttin.  aus  der 
böhmischen  erde  erhub  sich  Dein  bewundert  meteor,  weit  durch 
den  himmel  einen  glanzweg  ziehend,  und  hier  an  Böhmens  grenze 
musz  er  sinken!  —  nimm  Dich  in  acht  —  Dich  treibt  der  böse  geist 
der  räche  —  dasz  Dich  räche  nicht  verderbe!'  —  Das  ist  die  devise, 
von  Buttler  gesprochen,  unter  der  wir  in  Eger  eingezogen  sind 
(IV  1).  er  hat  Wallensteins  auftrage  gemäsz  an  seinen  landsmann 
Gordon  geschrieben,  und  diesen,  dem  auch  seinerseits  ein  kaiser- 
licher brief  befiehlt  nach  Buttlers  ordre  blindlings  sich  zu  fügen, 
der  also  zur  Verschwiegenheit  verpflichtet  ist,  weiht  er  nun  in  alles 
ein,  zunächst  dasz  der  herzog  ein  Verräter  an  dem  kaiser  ist  (IV  2), 
dann  aber  auch  nicht  freien  fuszes  mehr  aus  diesem  platze  darf,  so 
deutet  Buttler  auf  Wallensteins  gefangennehmung  hin ,  als  aber  in 
den  nächsten  scenen  die  nachricht  kommt,  dasz  in  einer  Schlacht  bei 
Neustadt  die  Schweden  sieger  geblieben  sind,  da  stöszt  Buttler  die 
verhängnisvollen  worte  aus;  'er  darf  nicht  leben."*  Gordon  er- 
schrickt ob  dieses  furchtbaren  wortes,  und  Buttler  so  zu  sagen  auch ; 
er  gerät  fast  in  Verlegenheit;  denn  es  ist,  als  wenn  er  sich  nicht 
gern  eingestehen  möchte,  dasz  gerade  die  kränkung  seiner  person, 
sein  ehrgeiz  an  seinem  ganzen  denken  und  handeln  schuld  sei.  so 
nennt  er  als  grund  dafür,  das  Wallenstein  sterben  musz,  bald  das 
Verhängnis  oder  das  böse  Schicksal,  bald  die  feindliche  Zusammen- 
kunft der  dinge;  gern  überliesze  er  ihn  des  kaisers  gnade,  und  sein 
blut  wolle  er  nicht,  doch  seines  wortes  ehre  müsse  er  lösen,  schliesz- 
lich  aber,  als  Gordon  geäuszert  hat,  das  herz  und  nicht  die  meinung 
ehre  den  mann,  langt  Buttler  bei  dem  vergleiche  zwischen  Wallen- 
stein und  sich  selbst  an  und  entgegnet  'kalt  und  stolz': 
ein  jeder  g;iht  den  wert  sich  selbst,  wie  hoch  ich 
mich  selbst  anschlagen  will,  das  steht  bei  mir. 
so  hoch  gestellt  ist  keiner  auf  der  erde, 
dasz  ich  mich  selber  neben  ihm  verachte, 
den  menschen  macht  sein  wille  grosz  und  klein, 
und  weil  ich  meinem  treu  bin,  musz  er  sterben. 

Es  gibt  menschen,  die  reden  können,  wovon  bie  wollen,  und 
endlich,  auf  einmal,  es  mag  kommen  wie  es  will,  bei  sich  selber,  dem 
lieben  ich  angelangt  sind,  so  ist  es  auch  bei  Buttler:  der  ehrgeiz, 
die  ehrsucht,  die  Selbstsucht,  der  eigennutz,  sie  haben  sein  ganzes 
sinnen  und  thun  so  erfüllt,  dasz  er  nur  an  sich  selbst  noch  denken 
und  nur  von  sich  selbst  noch  reden  kann,    um  seinetwillen,  das 


''  s.  oben  s.  543. 


U.  Zernial:  zu  Schillere  Wallenstein.  547 

ist  so  klar  wie  etwas,  musz  Wallenstein  sterben;  andere,  wichtige, 
gar  bedeutsame  politische  gründe  sind  vor  ihm  zusammengeschmolzen, 
es  gibt  deren  für  Buttler  nicht. 

Im  5n  acte  ist  Buttler  mit  der  auswahl  der  mörder  beschäftigt  : 
in  scene  1  der  major  Gerald  in  für  lUo  und  Terzky,  in  scene  2  zwei 
'resolute  hauptleute'  für  Wallenstein:  sie  sind,  wie  Schiller  am 
7  märz  1799  an  Goethe  schreibt,  'handelnd  und  redend  eingeflochten; 
dadurch  kommt  auch  Buttler  höher  zu  stehen,  und  die  präparatorien 
zu  der  mordscene  werden  furchtbarer',  als  nun  aber  die  verhängnis- 
volle, gi-ausige  that,  die  ermordung  Wallensteins ,  ausgeführt  ist, 
trifft  Buttler  in  der  lln  scene  mit  dem  in  Eger  eingetroffenen 
Octavio  Piccolomini  zusammen,  der  den  herzog  gefangen  nehmen 
wollte.  Octavio  ist  entsetzt  über  das  geschehene  und  macht  dem 
Buttler  vorwürfe; 

war  dns  die  meiiiung,  als  wir  schieden? 'N 

gott  der  gerechtigkeit!     ich  hebe  meine  hand  auf!' 

ich  bin  an  dieser  ungeheuren  that 

nicht  schuldig. 
'Eure  hand  ist  rein.   Ihr  habt  die  meinige  dazu  gebraucht' :  so  er- 
widert Buttler  und  fügt  'gelassen'  hinzu:  'ich  hab'  des  kaisers  urteil 
nur  vollstreckt',  fas/t  dann  aber  sein  handeln  in  die  worte  zusammen  : 

was  scheltet  Ihr  mich?     was  ist  mein  verbrechen? 

ich  habe  eine  gute  thvt  gethan, 

ich  hab'  das  reicli  von  einem  furchtbaren  feinde 

befreit  und  maclie  anspruch  auf  belohnung. 

—  stehenden  fuszes  reis'  ich  ab  nach  Wien 

mein  blutend  schwert  vor  meines  kaisers  thron 

zu  legen  und  den  beifall  mir  zu  holen, 

den  der  geschwinde,  pünktliche  gehorsam 

von  dem  gerechten  richter  fordern  darf. 

in  diesen  worten  erhebt  sich  Buttler  zu  einer  höhe  des  denkens,  auf 
welcher  wir  ihn  sonst  nicht  finden:  er  behauptet,  eine  gute,  politisch 
segensreiche,  für  das  reich  heilsame  that  ausgeführt  zu  haben,  um 
derentwillen  er  belohnung  und  beifall  zu  ernten  hofft,  wie  anders, 
wenn  ihm  der  grafentitel  durch  Wallenstein  verschafft  wäre!  dann 
war  der  eitelkeit  geschmeichelt,  der  ehrgeiz  befriedigt,  der  sehn- 
lichst erhoffte  gewinn  eingebracht,  und  nie  würde  sich  die  hand  des 
glücklichen  gegen  den  wohlthäter  erhoben  haben  —  wenigstens 
nicht  aus  diesem  gründe,  aber  das  ist  die  ge fahr  bei  einem  solchen 
Charakter  wie  Buttler,  den  Schiller  sich  eben  hier  zum  gegenspieler 
gegen  den  haupthelden  erkoren  hat:  unbedingt  und  rein  treu  und 
zuverlässig  nie,  aber  lauernd  und  lauschend  auf  den  eignen  nutzen 
und  vorteil  von  der  ersten  scene  des  dramas  bis  zur  letzten. 


«6  W.  T.  II  6  s.  oben  s.  543. 

(schlusz  folgt.) 
Berlin.  U.  Zernial. 


548  F.  Cunze :  pädagogische  kleinigkeiten. 

31. 

PÄDAGOGISCHE  KLEINIGKEITEN. 


I.    Die  namen  der  Wochentage  im  Unterricht. 

E.  Hildebrand  hat  mit  recht  immer  daraufgedrungen,  dasz  den 
Schülern  das  abgegriffene  gepräge  der  Wörter  im  ursprünglichen 
glänze  gezeigt  und  damit  ein  blasses,  abgezogenes  wortwissen  in  ein 
auf  anschauung  beruhendes  Sachwissen  umgeiitaltet  würde,  knüpft 
nun  eine  solche  betrachtung  die  manigfaltigsten  verbindungsfäden 
zwischen  dem  wissen  der  scbüler,  gestaltet  sie  sich  also  zu  einer 
wirklichen  'associierenden  repetition',  so  ist  natürlich  ihr  pädagogi- 
scher wert  um  so  gröszer.  in  seltenem  masze  eignen  sich  dazu  die 
namen  unserer  wocheniage,  denn  sie  bringen  neben  sprachlicher  er- 
kenntnis  mythologisches  und  culturhistorisches  wissen  in  engen 
Zusammenhang  und  erläutern  auch  die  eine  und  die  andere  stelle 
unserer  classiker. 

Aus  der  reihe  der  wochentagsnaraen  treten  als  eigentümlich 
gebildet  heraus  mittwoch  und  sonnabend.  die  mittwoch ,  wie  z.  b. 
K.  Hase  noch  schreibt  —  das  masculinum  ist  erst  durch  die  analogie 
eingebürgert  —  erklärt  sich  von  selbst,  der  sonnabend  aber  er- 
scheint zunächst  rätselhaft,  erst  die  erinnerung  an  den  Vorabend 
groszer  ereignisse  und  an  den  heiligen  abend  sowie  die  iingabe 
mittelalterlicher  daten,  wie  *in  sunte  Mattbies  avende,  des  hilgen 
Apostels,  an  unser  leven  Fruwen  avende  lechtmyssen'  =  am  tage 
vor  Maria  lichtmesse,  lehren,  dasz  abend  gleich  dem  kirchenlateini- 
schen vigilia'  auch  den  tag  vor  einem  feste  bedeutete,  so  ist  denn 
sonnabend  ,  verkürzt  aus  sonntags  abend  ,  der  tag  vor  sonntag.  die 
Süddeutschen  haben  statt  dieser  bezeichnung  aus  dem  jüdischen 
sabbat  ihr  samstag  gebildet. 

Bei  den  übrigen  fünf  wochentagsnamen,  die  alle  mit  tag  zu- 
sammengesetzt sind ,  erkennt  man  unschwer  als  ersten  bestandteil 
die  sonne,  den  mond  ,  wobei  herangezogen  werden  die  mhd.  formen 
man,  mön  ohne  auslautende  dentale,  und  den  donner;  aber  weder 
was  sie  hier  besagen  noch  was  in  dienstag,  besser  dinstag,  und  in 
freitag  steckt,  läszt  sich  ohne  weiteres  erraten,  sobald  wir  aber  die 
englischen  formen  tuesday,  wednesday,  thursday,  friday  vergleichen, 
erscheinen  darin  die  vier  grösten  Germanengötter,  denn  dasz  in 
tuesday  der  einstige  hinimelsgott  Tiu ,  ahd.  Ziu  enthalten  ist,  er- 
kennt man  nun  leicht,  zumal  wenn  man  das  schwäbische  Zistag  ver- 
gleicht,   unser  dinstag  dagegen ,  niederdeutsch  dingsdag^   bewahrt 


*  vigilia  dicitur  dies  profestus  sc.  dies  primvis  ante  festum ,  quia 
hunc  in  sero  vigiliae  vacamns  (loan.  de  lanna). 

2  wie  neben  der  vollen  form  früh  die  um  das  g  verkürzte  hochkam, 
zeigen  zwei  Urkunden  des  klosters  Ilsenburg,  beide  vom  27  jan.  1495, 
die  eine  hat  'des  Dyngsedaghes',  die  andere  'des  Dinsdagbes'. 


F.  Cunze :  pädagogische  kleinigkeiten,  549 

einen  beinamen  des  Tiu.  wie  nämlich  Zeus  als  dtopaioc,  so  war  der 
deutsche  himmelsgott  als  thingsasz  der  schirmer  der  Volksversamm- 
lungen, der  dinge,  und  in  dieser  eigenschaft  hat  er  das  raittelalter 
hindurch  wenigstens  bei  den  Norddeutschen  als  Roland  vermummt 
fortgelebt,  vgl.  die  schönen  abhandlungen  von  H.  L.  Ahrens:  Tigis- 
lege,  Hannover  1871,  und  über  namen  und  zeit  des  Campus  Martins 
der  alten  Franken,  1872.  aber  sonst  war  Tiu  früh  aus  seiner  er- 
habenen Stellung  verdrängt  und  zum  kriegsgottei'niedrigt,  dem  Ares, 
Mars  identificiert.  das  bezeugen  auch  der  bairische  Ertag,  der  sich 
zur  altsäcbsischeu  Ei'esburg,  dem  heutigen  Marsberg  a.  d.  Diemel 
stellt,  sowie  jene  lateinische  Inschrift,  der  wir  den  beinamen  Thingsus 
verdanken:  Deo  Marti  Thingso  et  duabus  Alaesiagis  Bede  etFimmi- 
lene  et  numini  Augusti  Gerraani  cives  Tuihanti,  cunei  Frisiorum, 
votum  solverunt. 

Wodan  ist  natürlich  das  bestimmungswort  in  wednesdaj,  hol- 
ländisch woensdag,  münsterisch  Gudensdag.  da  dieser  gott  am  aller- 
längsten  nach  der  Christianisierung  im  volke  fortlebte,  so  brauchen 
wir  nicht  zu  zweifeln,  dasz  die  kirche  sich  bemühte,  seinen  namen 
aus  den  Wochentagen  auszumerzen  und  durch  den  gleichgültigen 
mittwoch  zu  ersetzen,  meidet  doch  die  lateinische  kirchensprache 
durchaus  alle  jene  heidnischen  wochentagsnamen  und  sagt  dafür 
einfach  feria  prima,  secunda  usw.,  und  der  Isländer  bischof  Jon 
Ögmundarson  hat  in  seiner  heimat  die  neuen  namen  drottins  (=  tag 
des  herrn)  annar,  J)ridji  usw.  mit  erfolg  eingeführt,  vgl.  auch  das 
neugriechische. 

Nun  ergeben  sich  die  gottheiten  Donar  und  Fria  als  die  ersten 
bestandteile  in  donnerstag  und  freitag. 

Was  bedeutet  aber  diese  wunderliche  gesellschaft  von  göttern 
und  sonne  und  mond?  wir  wenden  uns  um  auskunft  an  die  latei- 
nischen wochentagsnamen.  diese  kommen  freilich  in  den  schul-. 
Schriftstellern  nicht  vor,  erst  die  spätere  römische  kaiserzeit  bietet 
sie.  dem  Solis,  Lunae  usw.  dies  stellen  wir  der  Sprachvergleichung 
•wegen  die  davon  abgeleiteten  französischen  Wörter  zur  seite ,  wobei 
dimanche  aus  dominica  an  das  isländische  drottins  erinnert,  ebenso 
wie  samedi  an  samstag.  nur  die  Westgermanen  (Engländer  und 
Niederländer)  haben  in  ihrem  saturday,  saturdag,  saterdag  einen 
ihnen  völlig  unbekannten  gott  wie  eine  gangbare  fremde  münze 
übernommen. 

Vergleichen  wir  nun  die  lateinischen  mit  unsern  wochentags- 
namen ,  so  fällt  uns  auf,  wie  äuszerlich  und  unpassend  geradezu  die 
Römergötter  durch  germanische  übersetzt  sind,  aber  aus  Caesar  und 
Tacitus  haben  die  schüler  meist  schon  gelernt,  wie  wenig  die  alten 
im  stände  gewesen  sind,  die  religion  eines  fremden  volkes  zu  ver- 
stehen, und  wie  sie  deshalb  oft  auf  einen  nebensächlichen  zug  hin 
die  fremden  götter  den  ihrigen  gleichstellten,  so  trat  denn,  wie 
schon  bemerkt,  Tiu  Thingsasz  für  Mars,  Wodan  für  Mercur,  Donar 
für  Jupiter,  Fria  für  Venus  ein;  für  Saturn  aber  fand  sich  durchaus 


550  F.  Cunze :  pädagogische  kleinigkeiten. 

nichts  ähnliches  in  der  germanischen  Walhalla,  er  ward  deshalb 
entweder  ungeändert  beibehalten  oder  durch  sabbat  oder  Sonnabend 
ersetzt. 

Bei  der  betrachtung  dieser  römischen  namenreihe  verfällt  nun 
wohl  ein  gescheiter  schüler  darauf,  in  ihr  die  sonne,  den  mond  und 
die  fünf  dem  unbewaffneten  äuge  sichtbaren  planeten  zu  erkennen, 
die  erde  wird  nicht  dazu  gerechnet,  es  ist  ja  die  Ptolemäische,  geo- 
centrische  Weltauffassung,  in  die  wir  hier  geraten,  danach  galten 
auch  sonne  und  mond  als  planeten,  es  ist  also  eine  einheitliche 
gruppe,  und  diese  sieben  himmelskörper  waren  den  alten  die 
stellae  potentissimae,  quae  ad  arbitrium  suum  vagantur  et  motu 
suo  hominum  fata  moderantur,  wie  Ampelius  3,  3  schreibt,  jedem 
planeten  ist  ein  Wochentag  geweiht,  an  ihm  beherscht  er  die  weit 
und  so  auch  das  menschenleben.  das  setzt  Ausonius  hübsch  aus- 
einander (7,  9): 

nomina,  quae  Septem  verteutibus  apta  diebus 

annus  habet,  totidem  errantes  fecere  planetae  .  .  . 

primum  supremumque  diem  radiatus  habet  Sol. 

proxima  fraternae  succedit  Luna  coronae. 

tertius  assequitur  Titania  lumina  Mavors. 

Mercurius  quarti  sibi  vindicat  attra  diei. 

illustrant  quintam  lovis  aurea  sidera  zonam, 

sexta  salutigerum  sequitur  Venus  alma  parentem. 

cuncta  supergrediens  Saturni  septima  lux  est. 
Woher  stammt  aber  dieser  planetencult,  dieser  sabäismus?  die 
Hellenen  und  die  Römer  hatten  ihn  in  ihrer  classischen  zeit  ebenso 
wenig  wie  die  Germanen,  zwar  wird  von  Homer  an  durch  die  gauze 
antike  litteratur  immer  wieder  der  bekannten  fixsterne  und  Stern- 
bilder gedacht,  sie  wurden  fleiszig  beobachtet  aus  ästhetischen  wie 
aus  praktischen  gründen ;  man  denke  an  den  bauernkalender  Hesiods; 
und  Sokrates  ist  der  typus  eines  Durchschnittsgriecben,  wenn  er 
Mem.  4,  7,  5  die  kenntnis  der  wichtigsten  oestirne  nach  ihrem  früh- 
aufgange  usw.  fürs  leben  fordert,  TÖ  be  M^'XPi  TOUTOu  dcTpovo)aiav 
HavGdveiv ,  M^XPi  toO  Kai  xd  fix]  ev  irj  aOxr]  irepicpopa  övia  Kai 
Touc  nXavriTac  le  Kai  dcxaejuriTOuc  dcrepac  YvOuvai  .  .  .  icxupwc 
dTTetpeTTev.  die  planeten  kümmerten  die  classischen  Völker  nicht, 
daher  geben  sie  ihnen  erst  recht  spät  bestimmte  einzelnamen.  erst 
in  der  pseudo- Aristotelischen  schritt  Tiepi  köc|liou  (2,  2)  weiden  sie 
genannt,  aber  merkwürdiger  weise  treten  da  neben  die  götternamen 
noch  andere,  adjectivische,  die  ihren  glänz  bezeichnen:  Kpövoc 
=  <t>aivuuv,  Zeuc  =  <t)ae9wv,  "Apric  =  TTupöeic,  'Epjufic  =  CxiX- 
ßuüV,  ('Acppobiiri  =  Ouucqpöpoc).  auch  herscht  hier  noch  ein 
schwanken  in  den  götternamen  (z.  b.  CiiXßuJV,  öv  lepöv  '€p|ioO 
KaXoOciv  evioi,  Tivec  b"AiTÖXXujvoc),  das  sich  bis  auf  Plinius  zeiten 
verfolgen  läszt  (n.  h.  2,  8).  alles  das  beweist,  wie  spät  den  Hellenen 
die  planeten  bekannt  oder  wenigstens  beobachtenswert  geworden 
sind,    ihrem  klaren,  heitern  sinne  lag  es  fern,  jenen  sternen  einen 


F.  Cunze:  pädagogische  kleinigkeiten.  551 

besondern  einflusz  auf  das  menschenleben  zuzuschreiben,  daraus  folgt 
übrigens  auch  die  späte  abfassung  des  Homerischen  h^mnus  an  Ares; 
denn  wenn  es  da  (8,  6  flf.)  beiszt:  TTupauYea  kukXov  eXiccuJV  aiGepoc 
iTTTttTTÖpoic  evi  leipeciv  (=  7  planeten),  evGa  ce  ttujXoi  ZiaqpXeYeec 
TpiTttiric  UTTcp  avTUYOC  aiev  e'xouci,  so  verrät  diese  auffassung  des 
Ares  als  eines  planetengottes  den  hellenit'tischen  dichter,  unsere 
vorfahren  aber  hatten  vollends  kein  arg  aus  diesen  Sternen,  sie  haben 
deshalb  sich  überhaupt  keine  bezeichnungen  für  sie  geschaffen,  die 
wi.-senschaft  behielt  die  lateinischen  namen  bei,  indes  die  wochen- 
tagsnamen  früh  übersetzt  wurden.'^ 

Die  planetenverehrung  (astrolatrie)  ist  also  kein  europäisches 
gewächs,  sondern  verhältnismäszig  spät  ebenso  wie  die  auf  ihr  be- 
ruhende siebentägige  woche  aus  dem  morgenlande  eingeführt,  nun 
sagt  freilich  Cassius  Dio  in  der  berühmten  stelle  über  die  woche 
(37,  18)  TÖ  ec  ToOc  dciepac  touc  eTTid  TiXavriTac  d)vo|uacnevouc 
idc  fiiuepac  dvaKeicöai  KaiecTri  ^kv  vn  Aiyutttiujv,  TidpecTi  be  kqi 
enl  TTdvTac  dvGpuuirouc  oü  iraXai  Trote,  wc  Xöyuj  eirreTv,  dpEdnevov. 
aber  A.  v.  Humboldt  hat  mit  recht  im  kosmos  3,  471  bemerkt,  dasz 
es  damals  sitte  war,  alles  alt  scheinende  ägyptisch  zu  nennen,  und 
dasz  die  Semiten  zuerst  eine  siebentägige  woche  gehabt  haben,  in- 
zwischen ist  durch  die  entzifferung  der  keilinschriften  festgestellt, 
dasz  die  Chaldäer  neben  andern  elementen  unserer  cultur  (masze, 
gewichte,  die  grundlagen  der  astronomie  mit  dem  24 stundentage, 
den  60  minuten  und  360  graden  des  kreises)  auch  die  woche  uns 
geschenkt  haben,  die  wieder  aus  der  weit  zu  schaffen  selbst  der 
groszen  französischen  revolution  nicht  gelungen  ist.  wir  kennen 
heute  auch  die  babylonischen  planetengötter,  die  regenten  der  ein- 
zelnen Wochentage : 

Samas,        aramäisch  Schemesch  =  Sol 
Sin ,  ,,  Sin  =  Luna 

Nergal,  „  Nerig  =  Mars 

Nebo,  ,,  Nebu  =  Mercurius 

Merodach ,  ,,         Bil  ==  Jupiter 

Istar,  „  Astro  =  Venus 

Adar,  ,,         Kaivan        =  Saturnus. 

Die  Juden  entlehnten  wohl  von  ihren  östlichen  nachbarn  die 
woche  —  das  erste  capitel  der  Genesis  hat  sie  ja  als  chronologische 
grundlage  — ,  aber  sie  verwarfen  natürlich  als  anhänger  des  mono- 
theismus  mit  dem  planetenculte  auch  die  benennung  der  tage  nach 
göttern,  sie  zählten  einfach,  doch  die  Chaldäer  verehrten  nicht  nur 
jene  planetengötter,  sondern  glaubten  auch  durch  sorgfältige  be- 
obachtung  ihren  willen  zu  erkennen:  sie  trieben  astrologie  und  sie 


'  die  Übersetzungen  Konrads  v.  Meg^enberg  waren  doch  nur  die  ver- 
einzelte grille  eines  mittelalterlichen  gelehrten,  die  nicht  ins  volk  drang; 
er  gibt  Saturn  durch  gutjahr,  Jupiter  —  helfvater,  Mars  —  streitgott, 
Venus  —  tierstern,  Mercur  —  kaufherr  —  wenig  glücklich. 


552  F,  Cunze:  pädagogische  kleinigkeiten. 

wurden  darin  die  lehrer  des  abendlandes.  mit  dem  beginn  des  römi- 
schen kaisertumes*  erscheinen  die  Sterndeuter,  zwar  meist  befehdet 
und  verspottet,  in  der  litteratur,  noch  mehr  im  leben,  und  nachdem 
sie  das  mittelalter  überlebt  hatten,  kamen  sie  in  der  renaissance  zu 
höchsten  ehren,  wir  können  und  wollen  nun  in  unsern  schulen  diese 
afterwissenschaft  nicht  lehren,  aber  bei  ihrer  geschichtlichen  bedeu- 
tung  dürfen  wir  sie  nicht  vornehm  übergehen,  sondern  haben  wenig- 
stens die  grundlagen  aufzudecken,  auf  denen  sie  errichtet  ist;  und 
da  genügt  es  zu  bemerken ,  dasz  es  bei  der  horoskopie  ankomme 
auf  den  stand  der  sieben  wochenplaneten  zu  einander  und  im  tier- 
kreise.^  damit  ist  das  Verständnis  für  Fischarts  ausgelassene  grosz- 
mutter  aller  praktik,  für  das  horoskop,  das  Goethe  im  anfang 
von  Wahrheit  und  dichtung  über  seine  geburtsstunde  angibt,  und 
namentlich  für  die  astrologischen  stellen  in  Schillers  Wallenstein 
gegeben,  jetzt  erst  wird  z.  b.  der  planetenturm  (Picc.  3,  4)  den 
Schülern  interessant. 

So  lassen  sich  bei  einer  besprechung  der  wochentagsnamen 
die  manigfaltigsten  Wissensgebiete  in  einen  Innern  Zusammenhang 
bringen,  und  zwar  unter  regster  beteiligung  der  schüler,  wie  ich  er- 
probt habe,  ich  habe  den  stoff  hier  nicht  pädagogisch  zugeschnitten, 
wie  es  jetzt  üblich  ist,  sondern  ihn  gleichsam  roh,  noch  mit  den  be- 
weissteilen und  in  gröszerer  fülle  gegeben,  als  es  für  den  Unterricht 
statthaft  ist.  man  kann  übrigens  zu  dieser  lohnenden  abscbweifung 
von  einer  Wallensteinstelle  ebenso  gut  ausgehen  wie  bei  der  ge- 
schichte  des  Orients;  ich  habe  dazu  gern  eine  hora  subseciva,  eine 
Vertretungsstunde  in  einer  fremden  classe  benutzt,  und  ich  hatte 
dann  wohl  das  frohe  bewustsein;  die  stunde  war  gelungen. 

*  Horaz  c.   1,  11 

tu  ne  quaesieris,  sine  nefas,  quem  mihi  quem  tibi 
finem  di  dederint,  Leuconoe,  nee  babylonios 
tentaris  numeros. 

^  scheine  (aspecte)  und  häuser. 

Braunschweig.  Friedrich  Cünze. 


ZWEITE  ABTEILUNG 

FUß  GYMNASIALPÄDAGOGIK  UND  DIE  ÜBßiaEN 

LEHEFÄCHEß 

MIT    ÄÜSSCHLÜSZ    DER    CLASSISCHEN    PHILOLOGIE 

HERAUSGEGEBEN  VON  PROF.  DR.  RiCHARD  RiCHTER. 


(30.) 

ZU  SCHILLERS  WALLENSTEIN. 
(schlusz.) 


2.    Schillers  Wallenstein  und  Shakespeare. 

In  dem  brief Wechsel  mit  Goethe  sagt  Schiller  (7  april  1797), 
Shakespeare  habe  in  seinem  Julius  Caesar  das  gemeine  volk  mit 
einer  ungemeinen  groszheit  behandelt;  der  stoff  habe  ihn  bei  der 
darstellung  des  volkscharakters  gezwungen,  mehr  ein  poetiscbes 
abstract  n  vor  äugen  zu  haben;  mit  einem  kühnen  griffe  nehme 
Shakespeare  aus  der  bedeutungsvollen  menge  und  masse  ein  paar 
figuren  oder  vielmehr  ein  paar  stimmen  heraus  und  lasse  sie  für  das 
ganze  volk  gelten,  und  das  gälten  sie  wirklich,  so  glücklich  habe  er 
sie  gewählt,  man  kann  mit  vollem  rechte  dasselbe  von  den  figuren 
in  Wallensteins  Lager  behaupten,  ja  der  dichter  ist  offenbar  in  der 
-wähl  und  Zeichnung  seiner  personen,  bewust  oder  unbe wüst,  von 
dieser  bemerkung  über  den  englischen  dramatiker  ausgegangen. 

Weitere  ähnlichkeiten  des  Caesar  und  anderer  Shakespearescher 
dramen  mit  dem  Wallenstein  betreffen  zunächst  die  form  des  aus- 
drucks.  wie  Cassius  dem  Brutus  mut  zuspricht  mit  den  worten 
(J.  C.  I  2):  'nicht  durch  die  schuld  der  sterne,  durch  eigne  schuld 
nur  sind  wir  Schwächlinge',  so  warnt  lUo  den  Wallenstein  auf  die 
Sternenstunde  zu  warten,  bis  die  irdische  entflieht;  glaub  mir,  'in 
deiner  brüst  sind  deines  Schicksals  sterne'.  —  Als  Antonius  nach 
seiner  rede  an  das  römische  volk  inne  wird,  dasz  es  ihm  geglückt 
ist,  die  bürger  in  die  gröste  erregung  zu  versetzen,  ruft  er  aus  (J.  C. 
III  2):  'nun  wirk' es  fort,  unheil,  du  bist  im  zuge:  nimm,  welchen 
lauf  du  willst';  als  Wallenstein  (W,  T.  V  5)  den  Gordon  ob  seiner 
kühnen  rede  mit  befremdung  und  erstaunen  betrachtet  und  eine 
zeit  lang  geschwiegen  hat,  indem  er  eine  starke  innere  bewegung 

N.  Jahrb.  f.  phil.  u.  päd.  11.  abt.  1S97  hlt.  12.  36 


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zeigt,  faszt  er  alles,  was  geschehen  ist  und  nun  weiter  noch  geschehen 
soll,  in  die  worte  zusammen:  'zu  ernsthaft  hat's  angefangen ,  um 
in  nichts  zu  enden,  hab'  es  denn  seinen  lauf.'  —  Als  Caesar 
(11  2)  mit  seiner  gattin  Calpurnia  überlegt,  ob  er  auf  das  Capitol 
solle  oder  nicht,  und  sie  auf  die  jüngsten  wunderzeichen  hinweist: 
'o  Caesar,  unerhört  sind  diese  dinge:  ich  fürchte  sie',  da  ent- 
gegnet er  kühn  und  grosz:  'von  allen  wundern,  die  ich  je  gehört, 
scheint  mir  das  gröste,  dasz  sich  menschen  fürchten,  da  sie  doch 
sehn,  der  tod,  das  Schicksal  aller,  kommt,  wann  er  kommen  soll.' 
als  Wallenstein  (W.  T.  V  5,  3464)  die  letzte  Unterredung  mit  der 
gräfin  Terzky  hat,  spricht  sie  ihre  grosze  besorgnis  aus  in  den 
Worten:  'o,  mir  wird  heut  so  schwer  von  dir  zu  gehn,  und  bange 
furcht  bewegt  mich',  er  aber  antwortet  kurz  und  mutig:  'furcht? 
wovor?  —  einbildungen!"  —  Als  der  streit  zwischen  Brutus  und 
Cassius  (J.  C.  IV  3)  entbrennt,  weil  ersterer  sagt:  'laszt  mich  euch 
sagen,  Cassius,  dasz  ihr  selbst  verschrie'n  seid,  weil  ihr  hohle  bände 
macht,  weil  ihr  an  unverdiente  eure  ämter  verkauft  und  feilschet', 
da  entgegnet  Cassius:  'mach'  ich  hohle  bände?  ihr  wiszt  wohl,  ihr 
seid  Brutus,  der  dieses  sagt,  sonst,  bei  den  göttern!  war'  dies  wort 
eu'r  letztes.'  dies  moment  benutzt  Schiller  zweimal:  Isolani  ant- 
wortet dem  Octavio  (W.  T.  II  5,  1000),  als  dieser  fragt,  ob  er  ein 
freund  wolle  heiszen  oder  feind  des  kaisers  (trotzig) :  'darüber  werd' 
ich  dem  erklärung  geben,  dem's  zukommt,  diese  frag'  an  mich  zu 
thun',  und  Buttler  antwortet  eben  dem  Octavio  (W.  T.  II  6,  1103), 
als  dieser  ihn  fragt:  'wie  war  es  mit  dem  grafen?  ihr  suchtet  darum 
nach,  man  wies  euch  ab',  (heftig  auffahrend):  'tod  und  teufel! 
nicht  ungestraft  sollt  ihr  mich  höhnen,    zieht!' 

Coriolan  erfährt  durch  die  tribunen,  dasz  er  als  consul  be- 
stätigt ist.  der  höhepunkt  des  dramas  ist  hiermit  erreicht,  aber  die 
tribunen,  ärgerlich  über  Coriolans  stolze  und  höhnische  bewerbung, 
suchen  das  volk  aufzureizen  und  die  übereilte  wähl  zu  widerrufen, 
die  fallende  handlung  besteht  in  dem  streite  der  tribunen  mit  dem 
Coriolan:  einen  Verräter  nennen  sie  ihn,  als  Verräter  soll  er 
rede  stehen;  ein  ädil  soll  ihn  festnehmen,  als  hochverräter. 
darauf  wiederholt  Coriolan  fragend  das  vvort  'v erräter?  wie? 
Verräter  ich?'  und  ohne  auf  die  freunde  zu  hören,  häuft  er  die 
ärgsten  beleidigungen  auf  volk  und  tribunen,  und  während  ihm 
die  tribunen  zurufen:  'er  ist  verbannt',  antwortet  er  mit  dem 
kecken  worte:  'gemeines  hundepack,  das  mir  die  luft  verdirbt:  ich 
kenne  euch!'  —  aber  das  wort  'verräter'  kehrt  noch  wieder  —  mit 
recht,  denn  als  Coriolan  im  5n  act  (sc.  6)  als  sieger  heimkehrt  nach 
Antium  mit  dem  worte :  'heil  euch !  als  e  u  e  r  krieger  kehr'  ich 
wieder,  so  frei  von  liebe  für  mein  Vaterland,  wie  da  ich  auszog, 
stets  gewärtig  eures  erhabenen  befehls',  braust  der  eifersüchtige 
Aufidius,  der  unwillig  ist  über  Coriolans  friedensschlusz  mit  Eom, 


vgl,  W.  T.  IV  9,  2989  "'wer  spricht  von  unglück?' 


U.  Zernial :  zu  Schillers  Wallensteiu.  555 

auf  und  nennt  ihn  dreimal  Verräter',  so  dasz  er  wieder  empört 
fragt:  'wie  nun?  Verräter?'  dieses  wort  aber  führt,  wie  es  vorher 
zu  anfang  der  fallenden  handlung  stand,  hier  die  katastrophe  herbei, 
denn  die  verschworenen  von  der  partei  des  Aufidius  stürzen  sich  auf 
den  'Verräter',  der  in  Wirklichkeit  als  hoch  Verräter  gegen  sein 
Vaterland  gekämpft  und  aus  liebe  gegen  mutter  und  Vaterland  nach 
der  ansieht  der  Antiaten  Rom  allzu  sehr  geschont  hat,  um  ihn  des 
Verrates  zu  zeihen  und  ihn  zu  ermorden. 

In  Schillers  Wallenstein  ist  es  das  tragische  ziel  zu  zeigen, 
wie  der  held,  um  seine  Unabhängigkeit  zu  erreichen,  zum  Ver- 
räter wird,  dasz  also  von  verrat  auch  hier  öfter  die  rede  ist, 
versteht  sich  von  selbst,  aber  es  will  doch  scheinen,  als  habe 
Schiller  an  einigen  stellen  gerade  des  an  und  für  sich  so  häsz- 
lich  klingenden  wertes  sich  mit  absieht  gern  wiederholt  bedient, 
um  auch  ähnliche  gegensätze  dadurch  hervorzurufen  wie  Shake- 
speare an  den  oben  genannten  stellen  des  Coriolan.  als  in  'Wallen- 
steins  Tod'  —  nur  in  diesem  stücke  hat  das  wort  eine  so  wichtige 
bedeutung  —  in  der  5n  scene  des  2n  actes  Octavio  mit  dem 
Isolani  verhandelt,  um  ihn  von  dem  herzöge  abwendig  zu  machen, 
fragt  er  ihn,  ob  er  seinen  herrn,  den  kaiser,  verraten  wolle, 
und  Isolani  antwortet:  'verrat  —  mein  gott  —  wer  spricht 
denn  von  verrat?'  und  als  dann  Octavio  erklärt,  der  fürst  sei  ein 
Verräter,  entgegnet  Isolani  wieder:  'spinnt  er  verrat  —  ver- 
rat trennt  alle  bände.'  —  So  knattert  hier  gewissermaszen  das  un- 
heimliche wort  hin  und  her,  und  ähnlich  ist  es  an  andern  stellen, 
die  2e  scene  im  3n  acte  beginnt  Illo  mit  den  worten  verrat 
und  meuterei  und  in  der  9n  spricht  er  die  worte  aus :  'graf  Picco- 
lomini  ist  ein  Verräter.'  als  aber  in  der  lOn  scene  noch  Buttler 
erscheint  —  Buttler,  der  längst  dem  Octavio  versprochen  den 
Wallenstein  zu  töten  — ,  da  wendet  sich  dieser  selbst  an  Buttler, 
sich  auf  dessen  schultern  lehnend,  und  spricht  zu  diesem,  man 
möchte  sagen,  erzverräter:  'weiszt  du's  schon?  der  alte  hat  dem 
kaiser  mich  verraten.'  was  aber  hier  Wallenstein  und  die  seinen 
dem  Octavio  Piccolomini  schuld  geben,  wiederholt  im  4n  acte  Gordon 
zweimal  über  ihn  selber:  'der  herzog  ein  Verräter!'  'ein  Ver- 
räter an  dem  kaiser  —  solch  ein  herr!'  und  so  kehrt  hier  das  wort 
wieder,  auf  ihn  selbst  bezogen,  sowie  es  einst  Max  Piccolomini 
warnend  gegen  ihn  aussprach  (W.  T.  II  2,  773):  nur  — -  zum  Ver- 
räter werde  nicht!  das  wort  ist  ausgesprochen,  zum  Verräter 
nicht!  —  Aber  wo  Illo  und  genossen  ihr  wesen  treiben,  wo  der  fluch- 
würdige argwöhn,  der  unglückselige  zweifei  herschen,  wo  alles 
wanket,  weil  der  glaube  fehlt,  wo  alles  schwarz  ist,  schwarz  wie  die 
hölle,  da  musz  der  edle  Max  es  erleben,  dasz  auch  er  als  Verräter 
angesehen  wird;  als  er  (W.  T.  III  23,  2409)  abschied  nimmt  und, 
zweideutige  blicke  auf  Illo  und  Buttler  richtend ,  besorgt  die  äusze- 
rung  thut:  'und  die  ich  scheidend  um  ihn  seh'  — *,  da  entgegnet 
Illo  mit  gröster  schärfe:   'sucht  die  Verräterin  eures  vaters ,  in 


556  U.  Zernial:  zu  Schülers  Wallenstein. 

des  Gallas  lager.  hier  ist  nur  einer  noch'  —  ein  vvort,  das  der  Zu- 
schauer allerdings  nur  auf  Buttler  bezieht,  das  also  nur  eine  um  so 
gröszere  tragische  ironie  enthält,  ^ 

Als  (W.  T.  II  6, 1169)  Octavio  dem  Buttler  rät  es  wieder  gut  zu 
machen,  dasz  er  die  treue  solchem  gnädigen  kaiser  gebrochen  habe, 
und  daher  sich  von  dem  herzöge  zu  trennen,  ruft  Buttler  furchtbar 
ausbrechend:  'nur  von  ihm  trennen?  o  er  soll  nicht  leben!' 
dieser  gewaltige,  jähe  ausruf  findet  sich  auch  in  Shakespeares  König 
Johann  (III  3).  der  könig  ist  mit  seinem  kämmerer  Hubert  zusammen 
und  wagt  nicht  recht  zu  sagen,  was  er  will  und  möchte:  'mein  guter 
Hubert,  Hubert!  wirf  den  blick  auf  jenen  jungen  knaben  —  Arthur, 
söhn  von  Johanns  älterem  bruder  — ;  hör,  mein  freund,  er  ist  'ne 
rechte  schlang'  in  meinem  weg,  und  wo  mein  fusz  nur  irgend  nieder- 
tritt, da  liegt  er  vor  mir:  du  verstehst  mich  doch?  du  bist  sein 
hüter.'  und  als  nun  der  könig  beruhigt  noch  die  kurzen  worte  ge- 
wissermaszen  vor  sich  hinspricht:  'tod  —  ein  grab'  —  da  ent- 
fahren dem  Hubert  die  furchtbaren  worte ,  in  denen  der  höhepunkt 
des  ganzen  dramas  liegt:  'er  soll  nicht  leben.'  —  Als  im  4n  acte 
(sc.  2)  dem  könige  von  allen  Seiten  erzählt  wird,  prinz  Arthur  sei 
von  ihm  getötet,  erscheint  auch  Hubert  wieder  und  meldet:  'mein 
fürst,  es  heiszt,  man  sah  die  nacht  fünfmonde,  vier  stehend,  und 
der  fünfte  kreiste  um  jene  vier  in  wunderbarer  Schwingung.*  der 
könig  fragt  noch  einmal:  'fünfmonde?'  und  Hubert,  ihm  furcht 
einzujagen,  deutet  diese  erscheinung,  von  der  alte  frauen  und  männer 
in  den  straszen  bedenklich  prophezeien ,  auf  Arthurs  tod.  Wallen- 
stein aber  ist  es  selber,  der  den  ihn  begleitenden  bürgermeister  von 
Eger  fragt  (W.  T.  IV  3,  2611):  'ihr  saht  doch  jüngst  am  himmel 
die  drei  monde?'  und  als  dieser  erwidert:  'mit  entsetzen',  ent- 
gegnet er:  'davon  sich  zwei  in  blut'ge  dolchggstalt  verzogen  und 
verwandelten;  unreiner,  der  mittlere,  blieb  stehen  in  seiner  klar- 
heit.  zwei  reiche  werden  untergehen,  im  osten  und  im  westen, 
sag'  ich  euch,  und  nur  der  Lutherische  glaub'  wird  bleiben.' 

Neben  diese  vergleiche  stellen  sich  solche,  in  denen  die  ähn- 
lichkeit  des  inhalts  bei  beiden  dichtem  in  betracht  kommt,  das 
schwanken  Wallensteins  vor  der  entscheidenden  that  ist  eine  be- 
sondere eigentümlichkeit  des  beiden,  eigentlich  handelt  er  ein- 
mal: die  verhängnisvolle  that  Wallensteins  ist  die  Unterredung  mit 
dem  schwedischen  obersten  Wrangel  über  ein  bündnis  (W.  T. 
I  5),  und  zwar  ist  diese  handluug  die  einzige  innerhalb  von 
zehn  acten;  im  sechsten  acte  steht  sie.  ähnlich  ist  es  in  Shake- 
speares Julius  Caesar,  der  held  stirbt  im  anfange  des  3n  actes;  es 
folgen  die  reden  des  Brutus  und  des  Antonius,  die  letztere  als  die 
gewaltige  peripetie,  und  im  4n  und  5n  acte  zeigt  es  sich,  dasz  wie 
der  tod  Caesars  aus  dem  bürgerkriege,  so  auch  der  bürgerkrieg  der 
verschworenen  aus  seinem  tode  sich  entwickelt;  dasz  die  Ate  die 


2  vgl.  W.  T.  V  9,  3762,     gräfiu:  ^verräterei!  verräterei!' 


U.  Zernial:  zu  Schillers  Wallenstein.  557 

freundschaft  von  männern  wie  Gassius  und  Brutus  zerreiszt;  dasz 
endlich  des  groszen  Caesars  geist  umgeht,  und  dasz  er  es  ist,  der  die 
Schwerter  der  verschworenen  in  ihr  eignes  eingeweide  kehrt,  in 
den  drei  ersten  acten  erscheint  Caesar  dreimal,  und  wenn  man  es 
genau  nimmt,  so  handelt  er  eigentlich  auch  nur  einmal,  indem  er 
aufs  Capitol  geht.  Shakespeare  schildert  aber  die  wichtigsten  eigen- 
schaften  Caesars:  seine  neiguug  schmeichelworte  und  freundliche 
redensarten  zu  hören,  seinen  Scharfblick  und  seine  menschenkenntnis, 
seine  wirkliche  grösze  und  erhabenheit,  vor  allem  aber  seinen  stolz, 
sein  selbstbewustsein  und  seine  Unfehlbarkeit,  und  in  gleicher  weise 
verfährt  Schiller:  Wallensteins  hauptzüge  sind  eben  schwanken  und 
unschlüssigkeit  zum  handeln,  seine  allen  andern  menschen  überlegene 
Unfehlbarkeit  und  ebenfalls  sein  unerschütterliches  selbstbewustsein. 
beide  dichter  haben  demnach  beide  beiden  mehr  menschlich  als 
staatsmännisch  handelnd  dargestellt. 

Noch  eine  ganz  besondere  ähnlichkeit  haben  bekanntlich  die 
beiden  dramen  Shakespeares  Caesar  und  Macbeth  mit  Schillers 
Wallenstein,  die  römische  weit,  aus  der  Shakespeare  seinen  Caesar 
entlehnt  hat,  liesz  ihn  auguren  und  alle  priester  finden,  welche  in  dem 
opfertiere  die  eingeweide  prüften  und  daraus  die  Wahrheit  zu  ver- 
künden glaubten.  Macbeth  lebte  in  einer  zeit,  wo  der  hexenglaube 
besonders  lebendig  war,  und  namentlich  in  der  dunkeln  schottischen 
nebelwelt  zeigten  sich  das  hexenwesen  und  die  höllischen  Zauber- 
künste in  vollster  blute,  nicht  blosz  bei  dem  niederen  volke,  son- 
dern auch  bei  den  groszen  und  besonders  bei  dem  i-egierenden  könige 
Jacob  I  war  der  glaube  an  diese  dämonische  weit  weit  verbreitet. 
in  der  zeit  des  di-eiszigjährigen  krieges  endlich  blühte  aberglaube 
aller  art,  und  namentlich  der  sternenglaube  zog  die  aufmerksamkeit 
vieler  bedeutender  männer  auf  sich ;  auch  Wallenstein  gestattete  der 
sternenkunst  viel  einflusz  auf  sich,  und  im  prologe  sagt  Schiller  aus- 
drücklich ,  dasz  die  kunst  'die  gröszre  hälfte  seiner  schuld  den  un- 
glückseligen gestirnen  zuwälzt',  jeder  der  drei  dramatischen  beiden 
schreibt  nun  dem  äuszeren  motive  viel  einflusz  zu,  ist  in  gewisser 
weise  von  diesem  äuszeren  momente  abhängig  und  läszt  sich  in 
seinem  handeln  von  ihm  bestimmen.  Calpurnia  hat  im  schlafe  drei- 
mal gerufen:  'o  helft!  sie  morden  Caesar',  und  sofort  befiehlt  Caesar 
einem  diener:  'geh,  heisz  die  priester  gleich  zum  opfer  schreiten  und 
bring  mir  ihre  meinung  vom  erfolg.'  dem  Macbeth  rufen  die  hexen 
zu:  'heil  dir!  heil  dem  Than  von  Glamis,  von  Cawdor,  dem  einst'gen 
könig!',  und  getrieben  von  den  lockungen  der  hexen  bahnt  er  durch 
den  mord  des  königs  Duncan  sich  den  weg  zum  königsthrone.  Wallen- 
stein hat  den  astrologischen  türm  zur  Verfügung  und  benutzt  ihn, 
wenn  er  es  für  angemessen  hält;  als  Illo  (Picc.  II  6,  1929  ff.)  ihm 
zuredet  zu  handeln,  denn  'so  selten  kommt  der  augenblick  im  leben, 
der  wahrhaft  wichtig  ist  und  grosz',  entgegnet  er:  'die  zeit  ist  noch 
nicht  da',  aber  als  er  mit  dem  astrologen  Seni  (W.  T.  1,  9  ff.)  in 
der  frühe  des  morgens  den  Sternenhimmel  eifrig  studiert,  ruft  er 


558  U.  Zernial:  zu  Schillers  Wallenstein, 

plötzlich:  'glückseliger  aspect!  jetzt  musz  gehandelt  werden,  eh' 
die  glücksgestalt  mir  wieder  wegfliegt  überm  haupt,  denn  stets  in 
Wandlung  ist  der  himmelsbogen.' 

Aber  —  und  hier  ist  die  wichtigste  ähnlichkeit  unter  den  drei 
stücken  —  für  alle  drei  beiden  kommt  der  augenblick,  in  dem  jeder 
die  lang  gehegte  und  gepflegte  abhängigkeit  von  der  äuszeren  ein- 
wirkung  abstreifen  und  so  die  Selbstbestimmung  des  Charakters  und 
die  freiheit  des  handelns  sich  erkämpfen  möchte,  der  diener  kommt 
zu  Caesar  zurück :  'die  auguren  raten  euch  für  heut  nicht  auszugehn; 
da  sie  dem  opfertiere  das  eingeweide  ausnahmen,  fanden  sie  kein 
herz  darin.'  der  stolze  Caesar  entgegnet,  er  werde  doch  ausgehen, 
aber  Calpurnia  weisz  ihn  umzustimmen,  ihretwegen,  sein  grund,  so 
erklärt  er  dem  inzwischen  erschienenen  Decius,  sei  nur  sein  wille; 
er  wolle  nicht  kommen ;  als  aber  dieser  äuszert,  er  fürchte  verlacht 
zu  werden,  wenn  er  sage,  Caesar  wolle  nicht,  und  nun  den  wirk- 
lichen grund,  Calpurnias  träum,  erfährt,  da  teilt  er  mit,  dasz  der 
Senat  heute  dem  groszen  Caesar  eine  kröne  geben  wolle,  und  sofort 
ruft  Caesar,  der  unfehlbare:  'ich  schäme  mich,  dasz  ich  ihr  nach- 
gegeben, reicht  mein  gewand  mir  her,  denn  ich  will  gehn'  —  in 
den  tod;  die  frommen  auguren  hatten  dem  gläubigen  Römer  einen 
richtigen  rat  gegeben ,  der  ehrgeizige  hört  sie  nicht.  —  Macbeth  ist 
könig.  Banquo  ist  getötet,  aber  die  erscheinung  seines  geistes  beim 
bankett  hat  Macbeth  bis  ins  mark  erschüttert;  Fleance  ist  geflohen, 
und  Macduff  hat  sich  geweigert  zum  feste  zu  erscheinen,  schon  ist 
er  seiner  ansieht  nach  im  blute  so  weit  gewatet  (III  4),  dasz  um 
seines  wohles  willen  alles  andere  nachstehen  musz,  und  dasz  'es  auf 
dem  schlimmsten  wege  das  schlimmste  ihn  zu  hören  drängt':  er  will 
noch  einmal  die  zauberschwestern  besuchen  —  er  sieht  acht  könige 
erscheinen  und  hinter  einander  vorüber  ziehen,  den  letzten  mit  einem 
Spiegel  in  der  band;  Banquos  geist  folgt  und  lächelt  blutbefleckt 
dem  Macbeth  zu,  auf  die  könige  als  seine  nachkommen  deutend. 
Macbeth  ruft  aus:  'dasz  diese  unheilstunde  für  ewig  steh  verflucht 
im  buch  der  zeit!'  da  beschlieszt  er  Macduffs  familie  zu  vernichten, 
geht  also  seinen  eignen  weg,  und  setzt,  den  aberglauben  von  sich 
werfend,  die  worte  hinzu  (IV  2):  'doch  nichts  von  geistern  mehr!* 
als  aber  später  (V  8)  Macduflf  ihm  erklärt,  er  sei  aus  dem  mutter- 
schosze  geschnitten  vor  der  zeit,  da  verstärkt  er  jene  worte  noch, 
indem  er  sagt:  'kein  glauben  mehr  den  hinterlistigen  teufein,  die 
uns  mit  doppelzüng'gem  sinn  belügen,  die  unserm  obre  ihr  ver- 
sprechen halten,  doch  unserm  hoffen  nicht!'  —  Noch  eben  (W.  T. 
V  4,  3550)  hat  Wallenstein  dem  Gordon  entgegnet: 
ei,  deine  Weisheit  hat  sich  schlecht  bewährt, 
sie  hat  dich  früh  zum  abgelebten  manne 
gemacht  und  würde  dich,  wenn  ich  mit  meinen 
groszmUt'g  ern  Sternen  nicht  dazwischen  träte, 
im  schlechten  winkel  still  verlöschen  lassen  — 
da  kommt  schon  in  der  nächsten  scene  (W.  T.  V  5,  3600  fi".)  der 
astrolog  Seni  in  groszer  erregung  und  spricht  die  warnenden  worte: 


U.  Zernial :  zu  Schillers  Wallenstein.  559 

flieh,  hoheit,  eh'  der  tag  anbricht! 
komm,  lies  es  selbst  iu  dem  planetenstand, 
dasz  Unglück  Dir  von  falschen  freunden  droht. 
Wallenstein  aber  erwidert: 

von  falschen  freunden  stammt  mein  gfanzes  Unglück; 
die  Weisung  hätte  früher  kommen  sollen, 
jetzt  brauch'  ich  keine  sterne  mehr  dazu  — 

er  brauchte  sie  wohl,  diesmal,  um  dem  tode  zu  entgehen,  aber  der 
unfehlbare,  selbstbewuste  mann  glaubt  diesmal  klüger  als  die 
sterne  zu  sein,  wenn  aber  Caesar,  Macbeth  und  Wallenstein  im 
allerwichtigsten  augenblicke  von  der  äuszeren  gewalt  der  seher  oder 
der  hexen  oder  der  sterne  sich  losmachen  oder  sie  insgesamt  in  die 
ecke  werfen,  alle  drei  um  selbständiger  und  freier  zu  handeln,  so 
ist  Wallenstein  ebenso  wenig  wie  die  beiden  andern  dramen  eine 
schicksalstragödie  in  modernem  sinne,  die  dichtung  ist  nach 
der  einen  Seite  eine  antikisierende  schicksalstragödie:  darum  spricht 
der  prolog  von  der  gröszeren  hälfte  der  schuld,  die  den  unglück- 
seligen gestirnen  zuzuwälzen  sei;  darum  kehrt  unter  den  personen 
des  Stückes  mehrmals  die  Unterhaltung  über  wert  und  unwert  des 
schicksalsglaubens  wieder;  darum  holt  sich  Wallenstein  'aus  dem 
buche  der  sterne^  bald  bange  ahnung  und  zögerndes  schwanken 
(s.  0.  s.  556),  bald  mut  und  feste  entschlossenheit,  und  aus  dem 
buche  der  sterne  holt  er  sich  auch  sein  unseliges  vertrauen  zu 
Octavio,  der  sein  verderben  wird',  neben  diesem  schicksalsmotive 
steht  anderseits  zugleich  die  kunstvollste  Verkettung  der  äuszeren 
umstände  und  ereignisse.  'die  macht  der  thatsachen  umstellt  den 
beiden  mit  einer  ähnlichen  unentrinnbarkeit  wie  den  beiden  der 
alten  tragödie  das  Schicksal'*  —  aber  im  letzten,  bedeutsamsten 
augenblicke  wirft  er  die  fesseln  des  Schicksals  von  sich  und  erliegt 
der  gewalt  der  thatsachen,  der  Verknüpfung  der  begebenheiten : 
Schiller  sagte  selbst,  es  werde  den  tragischen  eindruck  sehr  erhöhen, 
dasz  lediglich  die  umstände  alles  zur  krisis  thäten, 

3.    Der  bau  des  Wallenstein. 

Am  12  october  1798  wurde  die  Weimarer  bühne  von  neuem 
eröffnet:  der  herliehe  'prolog'  wurde  gesprochen,  und  durch  ihn  die 
Wallensteinschen  stücke,  insbesondere  das  Lager  eingeführt,  die 
neue  eigentümliche  dichtung  und  der  neue  schöne  'heitere  tempel* 
vereinigten  sich,  um  die  einbildungskraft  der  zuhörer  in  eine  höhere 
Stimmung  zu  versetzen;  sie  sahen  und  fühlten  sich  an  der  schwelle 
einer  neuen  ära  der  kunst  Thalias  und  der  dramatischen  dichtung. 

Das  Lager  ist  ein  verspiel  unter  den  drei  stücken,  welche 
Schiller  mit  dem  gesamttitel  'Wallenstein,  ein  dramatisches  gedieht' 
bezeichnet,  und  musz  durchaus  als  ein  selbständiges  scenisches  bild 

3  Hettner,   geschichte    der  deutschen  litteratur  im  18n  Jahrhundert 
III  3,  2e  abt.  248.  250. 
*  ebenda. 


560  U.  Zernial:  zu  Schillers  Wallenstein. 

angesehen  werden,  es  ist  von  den  beiden  stücken  der  tragischen 
handlung  in  spräche  und  versmasz  gänzlich  verschieden,  erfreut  sich 
eines  eigentümlichen  inneren  lebens  und  bedarf  der  folgenden  stücke 
nicht,  um  vollständig  zu  genügen,  es  hat  nur  einen  act;  die  per- 
sonen  der  haupthandlung  treten  gar  nicht  auf,  und  doch  soll  es  uns 
einen  klaren  eindruck  von  den  zuständen  im  Wallensteinschen  beere 
geben  und  gibt  ihn  auch  in  vortrefflicher  weise,  man  darf  nicht  von 
einer  trilogie^  Wallenstein  reden,  sondern  eben  nur  von  einem  vor- 
spiele als  einem  abgeschlossenen  bilde  und  einer  selbständigen  dich- 
tung,  von  einem  lust-  und  lärmspiele,  wie  Goethe  sagt®,  in  dem  wir 
in  niedriger  gesellschaft  uns  bewegen  und  festgehalten  werden,  aber 
in  dem  bunten  treiben  des  lagerlebens  ist  man  auch  nicht  müszig; 
man  handelt,  man  beschlieszt  eine  bittschrift  zur  Unterzeichnung  in 
Umlauf  zu  setzen,  des  inhalts,  dasz  die  regimenter,  wie  sie  jetzt  um 
den  groszen  heerführer  vereinigt  sind,  nicht  getrennt  werden,  so  ist 
eine  handlung,  eine  that  da,  welche  nicht  für  sich  selber  allein  be- 
deutung  hat,  sondern  welche  als  ein  stück  der  exposition  dient  und 
zwar  als  exposition  der  handlung  der  Wallensteinschen  Soldaten. 

Im  gegensatze  zum  Lager  stehen  die  Piccolomini  und 
Wallensteins  Tod,  erstens  zwei  stücke  in  iamben  geschrieben, 
deren  Wirkung,  wie  Goethe  sich  ausdrückt,  durch  das  ungebildetere 
silbenmasz  des  Vorspiels  vorbereitet  und  erhöht  wird ;  sodann  hält 
Franz  ^  die  Piccolomini  für  eine  exposition  der  handlung  der  führer 
im  gegensatze  zu  jener  der  truppen,  und  Hettner®  sieht  'in  denselben 
eine  über  alle  gewohnten  und  zulässigen  tragödiengrenzen  hinaus- 
quellende breite  der  exposition,  die  eine  Ungeheuerlichkeit  der  ärg- 
sten art  ist.  der  aufbau  der  handlung  leidet  an  den  ärgsten  unwahr- 
scheinlichkeiten  und  gewaltsamkeiten;  die  composition  ist  nicht 
blosz  weitschichtig,  es  mangelt  ihr  auch  die  zwingende  folgerichtig- 
keit  und  klarheit'.  selbst  Goethe,  der  an  der  Schöpfung  des  Wallen- 
stein so  warmen  anteil  nahm  und  immer  ihr  begeisterter  lobredner 
geblieben  ist,  kann  sich  nicht  enthalten  in  einem  briefe  vom  9  märz 
1799  gegen  Schiller  selbst  anzudeuten,  dasz  'das  gewebe  der  Picco- 
lomini verwirrend  künstlich  und  willkürlich  sei',  aber  dennoch, 
trotz  all  dieser  ausstellungen  —  wir  wissen,  dasz  Schiller  die  ein- 
teilung  in  zwei  dramen  eigentlich  nicht  beabsichtigt  hat  und  nur 
durch  äuszere  gründe,  die  aufführbarkeit  an  einem  abende,  zu  der- 
selben bestimmt  worden  ist;  wir  wissen,  dasz  die  zwei  ersten  acte  von 
Wallensteins  Tod,  die  ursprünglich  zu  den  Piccolomini  gehört  haben, 
später  von  diesen  abgetrennt  sind ;  wir  wissen ,  dasz  die  ursprüng- 
liche anläge  der  Piccolomini  mit  dem  abfalle  Isolanis  und  Buttlers 
schlosz ;  trotz  alle  dem ,  sage  ich ,  musz  man  bei  einem  manne  wie 


'"  Goelhe  hat  in  einem  g'espräche  mit  Schlegel  des  pathetischen 
nachdrucks  wegen  von  der  'groszen  Wallensteinischen  trilogie'  ge- 
sprochen,    s.  Werder  a.  a.  o.  s.  1. 

*  Goethe,  Schriften  und  aufsätze  zur  kunst.     Hempel  28,  627. 

'  Goethe  a.  a.  o.  s.  629.         »  a.  a.  o.  s.  394.         "  a.  a.  o.  s.  252. 


ü.  Zeruial:  zu  Schillers  Wallenstein.  561 

Schiller,  der  schon  von  den  Räubern  an  eine  so  geniale  meisterschaft 
im  dramatischen  organisieren  zeigte,  vollständig  überzeugt  sein, 
dasz,  wenn  er  zwei  stücke  schuf,  welche  zwei  abende  ausfüllten,  er 
jedes  derselben  möglichst  auch  so  ausstattete,  dasz  es  den  an- 
sprüchen  und  anforderungen  der  kritik  genügte,  und  die  dramati- 
schen regeln  darin  nach  möglichkeit  erfüllt  wurden,  so  ist  es  von 
interesse  zu  sehen,  dasz  innerhalb  der  beiden  fünfactigen  stücke  die 
handlung  bis  zu  einem  höhepunkte  sich  bewegt,  der  in  den  Picco- 
lomini  in  der  liebesscene  zwischen  Max  und  Thekla  (III  5),  in 
Wallensteins  Tod  in  der  kürassierscene  (III  15)  liegt;  sodann  dasz 
die  Piccolomini  in  der  lösung  des  Max  von  seinem  vater  einen 
wirkungsvollen  abschlusz  finden,  es  steht  ferner  fest ,  dasz  der  an- 
fang  des  zweiten  Stückes  mit  dem  Schlüsse  des  ersten  zeitlich  und 
inhaltlich  ganz  eng  zusammenfällt:  als  vater  und  söhn  sich  trennen, 
ist  es  morgen  (vgl.  V  1,  3  'gleich  ist's  morgen'  und  V  2,  2  'so  früh 
am  tag!'),  und  als  Wallenstein  und  Seni  'nicht  mehr  gut  operieren' 
können,  heiszt  es:  'der  tag  bricht  an,  und  Mars  regiert  die  stunde' 
(W.  T.  I  1,  2  ;  am  23  februar  etwa  um  6V2— 7  uhr).  da  die  rückkehr 
vom  bankett  und  die  besprechung  zwischen  vater  und  söhn,  ebenso 
wie  die  beendigung  der  astrologischen  Studien  am  frühen  morgen 
stattfinden,  die  ersteren  beiden  aber  von  Schiller  an  das  ende  eines 
actes  gestellt  sind,  so  ist  es  einerseits  wohl  nicht  gewöhnlich,  aber 
doch  auch  nicht  unmöglich  und  undenkbar,  dasz  dieser  act  nun  auch 
der  letzte  einer  tragödie  ist,  um  so  mehr  wenn  man  sich  denkt,  dasz 
diese  düstere  trennung  des  sohnes  vom  vater  ein  werk  der  düstern 
nacht  ist;  und  anderseits  ist  es  auch  nicht  widersinnig,  dasz  wie  sonst 
der  folgende  act  derselben  tragödie,  so  auch  hier  der  folgende  act 
einer  andern,  aber  doch  dem  Inhalte  nach  ähnlichen  tragödie  genau 
an  die  zeit  des  vorhergehenden  dramas  anschlieszt.  es  soll  auch  zu- 
gegeben werden,  dasz  erstens  einiges  von  dem  inhalte  von  Wallen- 
steins Tod  wenig  verständlich  bleibt  ohne  die  in  den  voraufgehen- 
den fünf  acten  der  Piccolomini  gegebenen  Voraussetzungen:  ich 
denke  mir,  dasz  Schiller  das  auf  die  zweite  tragödie  bezügliche  in 
den  Piccolomini  mehr  in  den  hintergrund  treten  lassen  wollte  gegen- 
über dem,  was  sich  zunächst  nur  auf  die  Piccolomini,  vater  und  söhn 
allein,  bezog;  zweitens  dasz  auch  das  wesentliche  in  dem  geschicke 
der  beiden  Piccolomini,  ihr  Verhältnis  zu  Wallenstein  und  den  seinen, 
in  dem  ersten  drama  so  weit  erledigt  wird,  wie  es  unumgänglich 
nötig  erscheint,  namentlich  in  bezug  auf  das  Verhältnis  von  vater 
zu  söhn  und  umgekehrt  und  beider  zu  Wallenstein;  dasz  Schiller 
also  gewissermaszen  teilt,  indem  er  erst  und  vorwiegend  die  beiden 
Piccolomini  allein  behandelt  neben  einander  und  neben  Wallen- 
stein, nachher  sie  beide  mit  Wallenstein.  Goethe  sagt '":  'das  stück 
unter  dem  titel  Piccolomini  enthält  vorzüglich  die  Wirkungen  der 
Piccolomini,  vater  und  söhn,  für  und  gegen  Wallenstein,  indessen 

10  a.  a.  0.  s.  628  u. 


562  U.  Zernial:  zu  Schillers  Wallenstein. 

dieser  noch  ungewis  ist,  was  er  thun  könne  und  solle.'  wie  der 
vater  sich  zu  Wallenstein  stellt,  wie  er,  scheinbar  ein  freund,  sein 
Verräter  wird,  das  ist  oben"  berührt  worden,  neben  diesem  zwei- 
deutigen Charakter  steht  die  reine,  edle  natur  seines  sohnes '^  Max, 
der  aber  nie  gelebt  hat.  ihn  schuf  das  bedürfnis  einer  hellen  gestalt 
in  den  düsteren  gruppen  jener  tage  sowie  der  wünsch,  den  söhn  als 
jugendlichen  freund  Wallensteins  darzustellen  und  dadurch  das  s'er- 
hältnis  zwischen  diesem  und  dem  vater  bedeutsamer  zu  machen. 
Max  liebt  die  einzige  tochter  Wallensteins,  Thekla,  und  von  G.  Frey- 
tag, Hettner,  Hoffmeister  wird  für  die  scenen,  welche  Max  und 
Thekla  betreffen,  der  ausdruck  episode  gebraucht,  der  ebenso  un- 
genau und  deshalb  ebenso  falsch  ist  wie  vorher  trilogie.  Max,  zwi- 
schen Wallenstein  und  Octavio  gestellt,  trat  als  zweiter  erster  held 
in  das  drama  ein,  und  die  liebesscenen  wie  der  kämpf  zwischen  vater 
und  söhn,  zwischen  dem  jungen  beiden  und  Wallenstein  erweiterten 
sich  zu  einer  besondern  handlung.  die  dramatische  einheit'^  bleibt 
ungestört,  aber  sie  schlieszt  manigfaltigkeit'*  nicht  aus;  im  gegen- 
teil,  wo  sich  die  manigfaltigkeit  zur  einheit  zusammenschlieszt,  tritt 
diese  nur  um  so  schöner  hervor,  das  thun  und  leiden  des  Max 
Piccolomini  ist  wohl  an  sich  eine  ergreifende  dramatische  hand- 
lung, aber  sie  ist  durch  und  durch  eine  Wirkung  von  Wallensteins 
entschlüssen ,  eine  Wirkung,  welche  für  diesen  wieder  Ursache  tiefer 
Seelenerregungen  wird,  so  sehen  wir  denn  in  den  Piccolomini  den 
vater  zwiefach  handeln,  sowohl  mit  dem  söhne  wie  mit  Wallenstein, 
der  söhn  aber  steht  im  Vordergründe ,  und  dreifach  ist  das  wirken 
seines  handelns  mit  Thekla,  dem  vater  und  dem  Wallenstein, 
die  liebe  aber  zu  Friedlands  tochter  bildet  den  höhepunkt  —  und 
da  hat  man  von  'episode  der  liebenden'  gesprochen!  —  und  die 
lösung  des  sohnes  vom  vater  bildet  die  katastrophe,  beides  so  be- 
deutsame, wichtige  punkte  in  dem  ersten  drama  von  'Wallenstein, 
ein  dramatisches  gedieht',  kein  zweifei,  dasz  die  Piccolomini  so 
auch  als  ein  abgerundetes  ganzes  vor  uns  stehen ,  aber  in  bezug  auf 
Wallensteins  Tod  hat  man  die  empfindung,  als  steige  der  junge 
Piccolomini  allmählich  auf  zu  dem  höchsten,  was  es  für  ihn  gibt, 
zu  einem  beiden,  der  nach  dem  wirklichen  abschiede  von  seinem  vater 
(W.  T.  II  71)  nun  auch  den  ewigen  abschied  nehmen  kann  von 
seinem  'ewig  teuren  und  verehrten'  freunde  und  von  dessen  innig 
geliebten  tochter.  treffend  und  schön  bemerkt  in  dieser  beziehung 
Goethe  in  seinem  briefe  vom  18  märz  1799:  'das  letzte  stück  hat 
den  groszen  vorzug,  dasz  alles  aufhört  politisch  zu  sein  und  blosz 
menschlich  wird;  ja  das  historische  ist  nur  ein  leichter  schleier,  wo- 
durch das  rein  menschliche  durchblickt,  die  Wirkung  aufs  gemüt 
wird  nicht  gehindert  noch  gestört.'  Schiller  aber  schreibt  an  Goethe 
am  17  märz  1799:  'wenn  Sie  davon  urteilen,  dasz  es  nun  wirklich 


"  s.  abhaudlung  1   s.  534  fif.         '«  Goethe  a.  a.  o.  s.  653. 
"  s.  oben  s.  560  f.         '^  Kern  a.  a.  o.  s.  165. 


Ü.  Zernial:  zu  Schillers  Wallenstein.  563 

eine  tragödie  ist,  dasz  die  hauptforderungen  der  empfindung  erfüllt, 
die  hauptfragen  des  Verstandes  und  der  neugierde  befriedigt,  die 
Schicksale  aufgelöst  und  die  einheit  der  hauptempfindung  erhalten 
sei,  so  will  ich  höchlich  zufrieden  sein,  für  den  theatralisch-tragi- 
schen zweck  scheint  mir  das  werk  ausgeführt  genug.' 

So  übersandte  der  dichter  dem  freunde  das  gesamte  werk,  den 
gesamten  Wallenstein,  immerhin  müssen  wir  aber  davon  überzeugt 
sein,  dasz  der  dichter,  nachdem  er  sich  entschlossen  hatte,  den  stoff 
des  gedichtes  zu  teilen,  mit  raschem,  aber  sicherem  blicke  auch  für 
das  erste  drama,  die  Piccolomini,  das  alles  an  die  richtige  stelle  ge- 
bracht hat,  was  er  brauchte,  um  die  gesetze  des  dramatischen  baues 
zu  erfüllen  und  die  Wirkungen  desselben  seine  zuschauer  genieszen 
zu  lassen,  wir  besitzen  in  Schillers  *  Wallenstein,  ein  dramatisches 
gedieht'  ein  doppeldrama,  bestehend  aus  zehn  acten  und  einem  vor- 
sijiele,  aber  auch  zwei  dramen,  die  Piccolomini  und  Wallensteins 
Tod,  in  denen  zwei  handlangen  mit  je  fünf  acten  sich  abspielen, 
gleichwie  nun  niemand  mehr  daran  zweifelt,  dasz  nicht  nur  Goethes 
Tasso  nach  unserem  sprachgebrauche  eine  tragödie  zu  nennen  ist, 
sondern  auch  seine  Iphigenie  und  Schillers  Teil,  so  musz  man  auch 
die  Piccolomini  als  eine  tragödie  bezeichnen.  Goethe  sagt  in  'kunst 
und  altertum' :  'das  grundmotiv  aller  tragischen  Situationen  ist  das 
abscheiden,  und  da  braucht's  weder  gift  noch  dolch,  weder  spiesz 
noch  Schwert;  das  scheiden  aus  einem  gewohnten,  geliebten,  recht- 
lichen zustande,  veranlaszt  durch  mehr  oder  minderen  notzwang, 
durch  mehr  oder  minder  verhaszte  gewalt,  ist  auch  eine  Variation 
desselben  themas.'  zu  solchem  abscheiden,  zu  solcher  trennung  führt 
die  handlung  in  Schillers  Piccolomini:  Max  Piccolomini  trennt  sich 
von  seinem  vater  dem  Wallenstein  zu  liebe  und  scheidet  aus  dem 
gewohnten,  geliebten  verkehre  mit  ihm  ab. 

So  ist  es  mir  nicht  anders  möglich,  als  an  G.  Freytags '^  auf- 
stellung  des  baues  für  den  Wallenstein  im  allgemeinen  festzuhalten : 
'in  der  seele  des  dichters  formte  sich  die  grosze  handlung  nicht 
ebenso  ,  wie  wir  uns  dieselbe  ihm  nachsinnend  aus  dem  fertigen 
stücke  bilden,  er  empfand  mit  überlegener  Sicherheit  den  verlauf 
und  die  poetische  Wirkung  des  ganzen,  die  einzelnen  teile  des  kunst- 
vollen baues  ordneten  sich  ihm  in  der  hauptsache  mit  einer  gewissen 
naturuotwendigkeit ;  das  gesetzmäszige  der  gliederung  machte  er 
sich  keineswegs  überall  durch  verständige  Überlegung  so  deutlich, 
wie  wir  vor  dem  fertigen  kunstwerke  nachschaflfend  zu  thun  genötigt 
sind,  demungeachtet  haben  wir  ein  gutes  recht ,  dies  gesetzmäszige 
nachzuweisen,  auch  da,  wo  er  es  nicht  nachdenkend  wie  wir  in  einer 
formel  erfaszt  hat.  denn  das  gesamte  drama  Wallenstein  ist  in 
der  einteilung,  welche  der  dichter  zum  teil  als  selbstverständlich  bei 
dem  ersten  entwürfe  und  wieder  für  einzelne  stücke  erst  spät,  viel- 


*^  technik  des  dramas  s.  180*. 


564  U.  Zernial:  zu  Schillers  WallensteiD. 

und  regelinäsziges  kunstwerk.'  mir  scheint  sich  diese  geschlossen- 
heit  und  regelmäszigkeit  für  den  bau  der  dramen  am  einfachsten 
und  ungezwungensten  in  folgender  gestalt  zu  ergeben : 

Wallenstein,    ein  dramatisches  gedieht. 

(erster  teil.)  '* 

"Wallensteins  lager. 

prolog.    lager. 

1.   Die  einzelnen  dramen. 

a)  Die  Piccolomini,  eine  tragödie  in  fünf  aufzügen. 

I  2  erregendes  moment:  so  ist  doch  auch  mein  söhn  Max  zurück. 

I  5  erste  stufe  der  Steigerung;  zu  ihr. 

II  6  zweite  stufe  der  Steigerung:  wenn  du  der  Piccolomini  gewis 

bist.    —  wie  meiner  selbst,    die  lassen  nie  von  mir. 

III  2  dritte  stufe  der  Steigerung:  sorg  nur,  dasz  er  sich  nicht  lange 
bedenke  bei  der  unterschritt. 

III  5  höhepunkt:  trau  ihnen  nicht! 

III  7  Peripetie:  du  heilige,  rufe  dein  kind  zurück!    vgl.  III  9. 

III  8  erste  stufe  der  fallenden  handlung:  was  niemand  wagt,  kann 
seine  tochter  wagen. 

IV  7  zweite  stufe  der  fallenden  handlung:  laszt's  ruhn  bis  morgen! 

V  2  dritte  stufe  der  fallenden  handlung:  wir  haben  ihn  (den  Sesin, 

den  Unterhändler) ! 

V  3  katastrophe:  und  eh  der  tag  sich  neigt,  musz  sich's  erklären, 

ob  ich  den  freund ,  ob  ich  den  vater  soll  entbehren. 

(zweiter  teil.)'® 
b)  Wallensteins  Tod,  eine  tragödie  in  fünf  aufzügen. 
I  2  erregendes  moment:  er  (Sesin)  ist  gefangen! 

I  7  erste  stufe  der  steigenden  handlung:  ruft  mir  den  Wrangel! 

II  6  zweite  stufe  der  steigenden  handlung:  o,  er  soll  nicht  leben! 

III  9  dritte  stufe  der  steigenden  handlung:  graf  Piccolomini  ist 
ein  Verräter. 

III  15  höhepunkt:  du  willst  den  kaiser  nicht  verraten? 

III  16  Peripetie:  rechts  um! 

IV  6  erste  stufe  der  fallenden  handlung:  er  darf  nicht  leben! 

V  2  z  weite  stufe  der  fallenden  handlung:  er  soll  als  feldberr  enden. 

V  10  katastrophe:  drin  liegt  der  fürst  ermordet. 

2,  Das  doppeldrama  Wallenstein,    eine  tragödie  in  zehn 
aufzügen. 
Picc.  12  erregendes  moment:   heute  soll   ich  Böhmen  befreien 
von  seinen  freunden  und  beschützern. 


'ß  nach  der  ai;sgabe  von  1800.     Tübingen,  Cotta. 


U.  Zernial:  zu  Schillers  Wallenstein.  565 

Picc.  II  2  erste  stufe  der  steigenden  handlung:  man  spricht  von 

einer  zweiten  —  schimpflichem  absetzung. 
Picc.  II  6  zweite  stufe  der  steigenden  handlung:   gibt  uns  nicht 

graf  Terzky  ein  bankett  heut'  abend? 
Picc.  II  7  dritte  stufe  der  steigenden  handlung:  ich  soll  ihm  den 

gefallen  thun  (zu  gehen). 
Picc.  III  9   vierte   stufe   der   steigenden   handlung:    es  geht   ein 

finsterer  geist  durch  unser  haus. 
Picc.  IV  7  fünfte  stufe  der  steigenden  handlung:    vor  tisch  war 

ein  gewisser  vorbehält  und  eine  clausel  drin  von  kaisers  dienst. 
Picc.  V  2  höhepunkt  1:    wir  haben  ihn  (den  Unterhändler,  den 

Sesin) ! 
W.  T.  I  7  höhepunkt  2:  ruft  mir  den  Wrangel! 
W.  T.  I  7  Peripetie:  schickt  nach  dem  Octavio! 
W.  T.  II  2  erste  stufe  der  fallenden  handlung:  wir  werden  mit  den 

Schweden  uns  verbinden. 
W.  T.  II  6  zweite  stufe  der  fallenden  handlung:  o,  er  soll  nicht 

leben! 
W.  T.  IV  23  dritte  stufe  der  fallenden  handlung:   (Buttler  ver- 
weigert seine  band). 
W.  T.  IV  4  und  5  vierte  stufe  der  fallenden  handlung:  die  Schweden 

blieben  sieger  —  auch  der  Max,  der  sie  geführt,  ist  auf  dem 

platz  geblieben. 
W.  T.  IV  6  fünfte  stufe  der  fallenden  handlung:  war'  die  armee 

des  kaisers  nicht  geschlagen,  möcht'  ich  lebendig  ihn  erhalten 

haben. 
W.  T.  IV  14  katastrophe  1 :  gut'  nacht,  geliebte  mutter! 
W.  T.  V12  katastrophe  2:  dies  haus  des  glanzes  und  der  her- 

lichkeit  steht  nun  verödet. 

4.    Schillers  Wallenstein  musz  in  der  prima  gelesen  werden. 

Die  besprechung  des  Wallenstein  schlieszt  Hettner  in  seiner 
litteraturgeschichte  '^  mit  den  worten :  'Schillers  Wallenstein  ist  trotz 
der  erwähnten  mängel  die  gröste  deutsche  tragödie.'  sagen  wir 
mit  Werder'^:  der  Deutschen,  denn  Wallenstein  'ist  kein  held  des 
vaterländischen  geistes,  und  aus  der  ganzen  politischen  action 
ist  nichts  nationalerhebendes  zu  machen:  national,  deutsch,  vater- 
ländisch ist  der  stoff  des  dramas  nicht',  aber  die  hinreiszende  ge- 
walt  dieser  grösten  tragödie  liegt  einmal  in  der  macht  des  gegen- 
ständes, der  prolog,  der  beste  commentar  der  dichtung,  spricht 
es  aus: 

und  jetzt  an  des  Jahrhunderts  ernstem  ende, 
wo  selbst  die  Wirklichkeit  zur  diclitung  wird, 
wo  wir  den  kämpf  gewaltiger  naturen 
um  ein  bedeutend  ziel  vor  äugen  sehn, 
und  um  der  menschheit  grosze  gegenstände, 

"  a.  a.  0.  s.  261.         i«  a.  a.  o.  s.  211. 


566  U.  Zernial:  zu  Schillers  Wallenstein. 

um  herschaft  und  um  freiheit  wird  gerungen, 
jetzt  darf  die  kunst  auf  ihrer  Schattenbühne 
auch  höhern  flug  versuchen;  ja  sie  musz, 
soll  nicht  des  lebens  bühne  sie  beschämen. 

SO  ist  es  naive  poesie  der  geschichte,  was  den  mächtigen  gegenständ 
der  dichtung  ausmacht,  von  gleicher  grösze  und  Schönheit  ist  aber 
die  kunst  der  ausführung.  sie  liegt  darin,  sagt  Hettner  mit  ganz 
bestimmtem  hinblick  auf  das  vorbild  Sophokleischer  tragik,  dasz  die- 
selben mittel,  welche  der  held  zu  seiner  erhöhung  verwertet,  sich  immer 
vernichtend  gegen  ihn  selbst  wenden :  schlieszlich  fällt  er,  der  Verräter, 
durch  verrat."  Schiller  beachtete  ferner,  dasz  Shakespeare*"  auch 
seinerseits  die  einzelnen  volksfiguren,  z.  b.  in  den  volksscenen  des 
Julius  Caesar  ganz  im  sinne  der  griechischen  typik  behandelte,  indem 
er  die  Charaktere  als  feste  und  in  sich  notwendige  typen  bestimmter 
stände  und  Verhältnisse  wie  die  griechischen  tragiker  ansah,  so 
arbeitete  sich  Schiller  an  Sophokles  und  Shakespeare  empor,  und  er 
betrachtete  es  als  die  erfreulichste  erweiterung  seiner  natur,  dasz  die 
zunehmenden  jähre  und  der  anhaltende  Umgang  mit  Goethe  neben 
eben  jenem  Studium  der  alten  und  Shakespeares  allmählich  einen 
realistischen  sinn  in  ihm  erzeugten ,  der  ihm  früher  ganz  fern  lag. 
daneben  aber  blieb  ihm  die  forderung  zwingender  naturwahrheit  und 
lebensfrische  nach  wie  vor  unverrückbares  ziel ,  und  dieses  ziel  war 
das  erste  ideal,  das  dem  dichter  beim  Wallenstein  und  fortan  bei 
allen  seinen  dramen  anspornend  vor  äugen  stand. 

Als  Schiller  den  Wallenstein  beendigt  hatte,  'hatte  er  die 
technische  meisterschaft  erreicht  und  trat  in  die  periode  erleichterter 
und  beschleunigter  production  ein',  er  stellte  dabei  die  grösten  an- 
forderungen  an  sich  und  seine  dichtungen  und  bemühte  sich  seinen 
dramen  ein  besonderes  ideales  dement  zuzuführen  und  sie  so  in  ihrer 
gesamten  kunstform  zu  veredeln,  immer  tragen  daher  seine  nächsten 
dramatischen  Schöpfungen  eine  künstlerische  besonderheit  an  sich. 
Maria  Stuart  ist  weniger  ein  historisches  drama  als  der  Wallen- 
stein, denn  die  tragische  fabel  ist  frei  gebildet,  wie  sie  hätte  sein 
können  (Arist.  poet.  c.  9),  das  mittel  aber  die  tragödie  zu  ideali- 
sieren ist  die  begeisterte  erhebung  der  katholischen  kirche  in  den 
scenen  zwischen  Maria  und  Mortimer  sowie  zwischen  Maria  und 
Melvil.  die  Jungfrau  von  Orleans  ist  eine  'romantische'  tra- 
gödie, nicht  blosz  weil  Schiller  uns  auf  den  boden  der  Romanen  und 
in  die  geschichtliche  weit  des  mittelalters  versetzt,  sondern  weil  er 
die  tragödie  dadurch  idealisiert,  dasz  er  die  erscheinung  der  Jungfrau 
als  eine  wunderbare  handlung  auffaszt,  auf  dieser  weit  der  wunder 
auch  die  ganze  dramatische  handlung  aufbaut  und  aus  ihr  auch  den 
ganzen  tragischen  conflict,  die  verabsäumung  der  von  der  Jung- 
frau Maria  streng  geforderten  pflicht  der  entsagung  auf  irdische 
liebe,  entstehen  läszt.  die  Braut  von  Messina  endlich  sollte  die 
vollendetste,    idealste    kunstform    erhalten.     Schiller    wollte    das 


19  s.  oben  s.  555.        20  g,  oben  s.  553. 


U.  Zernial:  zu  Schillers  Wallenstein.  567 

Schicksal  verwerten  in  antiker  weise,  aber  in  Wirklichkeit  hat  die 
Braut  von  Messina  nur  äuszerliche  ähnlichkeit  mit  dem  König 
Ödipus:  die  that  Don  Cesai's  scheint  von  dem  alten  orakel  abzu- 
hängen, hängt  aber  genau  genommen  von  dem  Charakter  des  beiden 
ab,  sie  ist  seine  schuld,  immerhin  aber  sind  es  die  chorlieder, 
welche  dem  drama  einen  idealen  Charakter  verleihen,  und  von  denen 
es  in  Berlin  am  14  und  16  juni  1803  hiesz:  'sie  senkten  sich  wie 
ein  wetter  über  das  land.' 

So  wollte  Schiller  die  denkbar  edelsten  fruchte  ernten,  die  sich 
auf  den  gefilden  der  edelsten  kunst  pflücken  lieszen ,  und  doch ,  so 
vortrefflich  die  tragödien  alle  drei  für  alle  zeiten  gelten  werden, 
Schiller  selbst  war  doch  nicht  völlig  zufrieden  mit  dem,  was  er  vom 
künstlerischen  Standpunkte  aus  erreicht  hatte,  und  es  behagten  ihm 
die  bahnen,  die  er  eingeschlagen,  nicht  ganz,  er  bearbeitete  nun  die 
Teilsage,  und  die  Vollendung  des  Demetrius  hinderte  der  tod,  beiden 
Stoffen  aber  fügte  er  keine  besonderheiten  irgend  welcher  art  zu,  um 
so  eine  besondere  idealisierung  zu  erzielen,  sondern  er  hatte  die 
Überzeugung  gewonnen,  dasz  der  stoff  für  den  dramatiker  der  beste 
und  der  geeignetste  ist,  der  in  ruhiger  entwicklung  allgemeine  und 
rein  menschliche  Verhältnisse  vorführt,  aus  denen  in  klar  verständ- 
licher weise  der  weilenschlag  der  dramatischen  Verwicklung  sich 
kräuselt  und  der  tragische  conflict  entsteht. 

So  urteilte  rückwärts  schauend  Schiller  selber,  gewis  schätzte 
er  seine  werke  hoch,  wie  er  sie  arbeitend  hoch  emporgehoben,  aber 
doch  erschien  ihm  der  Wallenstein  künstlerisch  erhabener  gefaszt 
als  die  folgenden  dichtungen  alle,  und  den  höchsten  und  idealsten 
stil  des  dramas  fand  er  in  ihm.  und  mehr  noch  als  er  selber  neigen 
dieser  ansieht  zu  die  freunde  des  dichters ,  nicht  am  wenigsten  die- 
jenigen, welche  durch  lesen  seiner  dichtungen  ihm  freunde  und  Ver- 
ehrer gewinnen  wollen,  diejenigen,  welche  der  ansieht  sind,  dasz  das 
beste  gerade  gut  genug  ist  für  die  lernende  Jugend,  für  die  schule. 
man  vergegenwärtigt  sich  gern ,  wie  sehr  die  Sophokleische  tragik 
Schiller  bei  seiner  arbeit  beeinfluszt  hat,  dasz  also  der  moderne 
dichter  seine  arbeit  vollendet  hat,  nicht  ohne  die  fertige,  voll- 
kommene dichtung  des  antiken  zu  berücksichtigen,  man  stellt  sich 
ebenso  gern  vor  äugen,  wie  der  moderne  dichter  von  der  antike 
weiter  gewandert  ist  zu  dem  grösten  dramatiker  aller  christlichen 
Zeiten,  zu  Shakespeare,  um  die  von  ihm  in  dessen  eignem  innern  ge- 
fundenen und  erschaffenen  unvergänglichen  gesetze  und  bedingungen 
des  dramas  an  seinen  werken  zu  erlernen,  namentlich  widmete  er 
sich  zu  der  Vorarbeit  für  den  Wallenstein  den  beiden  Römerstücken 
Julius  Caesar  und  Coriolan,  aber  den  bedeutendsten  einflusz  von 
allen  übte  die  tragödie  Macbeth^'  aus.  Schiller  schrieb  an  Goethe 
(28  nov.  1796):  'das  eigentliche  Schicksal  thut  noch  zu  wenig,  und 
der  eigne  fehler  des  beiden  (Wallenstein)  noch  zu  viel  zu  seinem 


**  Beckhaus,  progr.  von  Ostrowo  1889  und  1892  (a,  e  ). 


568  U.  Zernial:  zu  Schillers  "Wallenstein. 

Unglück,  mich  tröstet  aber  einigermaszen  das  beispiel  des  Macbeth, 
wo  das  Schicksal  ebenfalls  weit  weniger  schuld  hat  als  der  mensch, 
dasz  er  zu  gründe  geht',  und  es  ist  bekannt,  dasz  er  bald  nach  be- 
endigung  des  Wallenstein  an  die  bearbeitung  des  Macbeth  sich  be- 
gab, auszer  Caesar  und  Cox'iolan  eignet  sich  nun  aber  kein  stück 
Shakespeares  so  für  die  lectüre  der  oberen  classen  der  gymnasien 
wie  das  drama  Macbeth ,  das  doch  mit  recht  allgemein  für  eine  der 
gewaltigsten,  wenn  nicht  für  die  gewaltigste  tragödie  von  allen  an- 
gesehen wird ,  und  das  auch  darum  der  schule  näher  liegt ,  weil  es 
so  vielfach  gerade  mit  Schillers  Wallenstein  sich  berührt,  und  weil 
Schiller  eben  eine  bearbeitung  davon  verfaszt  hat. 

Der  Wallenstein  war  eine  neue  epocbe  Schillers ,  und  er  war 
auch  eine  neue  epocbe  des  deutschen  dramas.  erst  Schillers  Wallen- 
stein hat  Goethes  Iphigenie  und  Tasso  den  weg  auf  die  bühne  ge- 
bahnt, und  wie  die  lectüre  dieser  beiden  dichtungen  nur  für  die 
oberste  classe  geeignet  ist,  so  ist  auch  Schillers  Wallenstein  nur  in 
der  prima  zu  lesen,  auf  die  beziehungen  des  Stückes  zum  classischen 
altertume  sowie  zu  hervorragenden  dramen  Shakespeares  ist  hin- 
gewiesen worden;  gerade  zum  Wallenstein  ist  die  Vorarbeit  aus 
beiden  gebieten  sehr  sorgfältig  und  gründlich  gewesen,  und  nun 
kommt  noch  ein  anderer  punkt  bei  diesem  drama  mehr  als  bei 
allen  dramen  Schillers  in  betracht,  welcher  die  dichtung  gerade  für 
die  prima  bestimmt.  Wallenstein  ist,  sagt  Hettner,  die  gröste 
deutsche  tragödie.  sie  ist  es  wegen  ihres  besonders  deutschen  ge- 
mütvollen Charakters:  das  nationale  liegt  nicht  im  stoffe,  sondern 
im  ton  der  Charaktere,  in  den  empfindungen,  gesinnungen,  ge- 
danken  der  personen,  und  weil  diese  alle  grunddeutsch  sind,  darum 
musz  diese  auch  in  dieser  beziehung  durchaus  reifste  deutsche  tra- 
gödie Schillers  nur  den  reifsten  unserer  schüler  geboten  werden, 
durch  die  sorgfältige  besprechung  dieser  dichtung  wird  sie  den  pri- 
manern  bald  sehr  nahe  treten,  sie  werden  sich  schnell  und  gern  in 
ihr  zu  hause  fühlen,  und  sowohl  der  Inhalt  im  ganzen  wie  die  ge- 
danken  in  einzelnen  worten  und  Sprüchen  werden  ihnen  leicht  in 
fleisch  und  blut  übergehen,  um  so  mehr  als  sie  alle  erklingen  in  der 
vornehmsten ,  herlichsten  deutschen  spräche.  Schillers  Wallenstein 
ist  die  deutsche  tragödie,  welche  unsern  ersten  und  reifsten  schülern 
als  ihr  ureigentum  gehört,  indem  sie  in  ihr  bekannt  und  bewandert 
sein  müssen  von  scene  zu  scene,  von  act  zu  act  wie  in  keinem  andern 
werke  unserer  poetischen  litteratur.  man  denke  auch  an  unsere  pri- 
maner,  wenn  man  Tiecks  worte  in  den  dramaturgischen  blättern 
liest:  'als  ein  denkmal  ist  dieses  tiefsinnige,  reiche  werk  für  alle 
Zeiten  hingestellt,  auf  welches  Deutschland  stolz  sein  darf,  und 
nationalgefühl,  einheimische  gesinnung  und  groszer  sinn  strahlt  uns 
aus  diesem  reinen  Spiegel  entgegen.* 

Berlin.  U.  Zebnial. 


E.  Schwabe :  zur  gescliichte  der  deutseben  Horazübersetzungen.    569 

(25.) 

ZUR  GESCHICHTE  DER  DEUTSCHEN  HORAZ- 
ÜBERSETZUNGEN. ' 

4,    Die  Moralia  Horatiana  des  Philipp  von  Zesen. 

Eine  ganz  eigenartige  erscheinung  auf  dem  gebiete  der  älteren 
Horazlitteratur  ist  das  schon  in  diesen  jahrb.  (jahrg.  1896  s.  318) 
erwähnte  werk  des  vielgeschäftigen  Philipp  von  Zesen:  'Moralia 
Horatiana,  das  ist  die  Horatzische  Sittenlehre.  Amstelodami,  apud 
Cornelium  Danckerts  1656.  aus  der  Ernst -sittigen  Geselschaft 
der  alten  Weise -meister  gezogen  und  in  113  (vielmehr  103)  in 
Kupfer  gestochenen  Sinnbildern  und  ebenso  viel  erklärungen  und 
andern  anmSrkungen  vorgestellet:  izund  aber  mit  neuen  reim- 
bändern  gezieret  und  in  reiner  hochdeutschen  Sprache  zu  lichte  ge- 
bracht durch  Filip  von  Zesen.'  das  eigentümliche  buch  verdanken 
wir  dem  bekannten  unstäten  wandei-er,  der  auf  einer  seiner  zahl- 
reichen holländischen  reisen^  auch  auf  den  gedanken  verfiel,  sich 
einmal  an  Horaz  zu  versuchen  und  seine  classische  bildung  in  einem 
buchhändlerunternehmen  sich  nutzbar  zu  machen. 

Auf  den  gedanken  zu  dem  genannten  buche  scheint  Philipp 
V.  Zesen,  der  überhaupt  eine  feine  Witterung  für  die  bedürfnisse 
seiner  zeit  besasz,  durch  die  beobachtung  gekommen  zu  sein,  dasz 
damals  das  Interesse  an  Horaz  in  den  Niederlanden,  gepflegt  von 
der  blühenden  holländischen  philologie,  sich  in  die  weiteren  kreise 
des  Volkes  auszubreiten  begann,  denn  kein  geringerer,  als  der  ge- 
feierte meister  niederländischer  dichtkunst  Joost  van  Vondel  (1587 
— 1679)  hatte  kurz  vorher,  1654,  seine  prosaübersetzung  von 
Horazens  öden  und  dichtkunst  herausgegeben  und  der  Amsterdamer 
kunstgenossenschaft  der  St.  Lukasbrüder  (vgl.  Wurzbach,  geschichte 
der  niederl.  maierei.  Leipzig  1885,  s.  15)  gewidmet,  dasz  dieses 
buch  so  grosze  Verbreitung  fand^  geschah  nicht  blosz  um  des  be- 
rühmten Verfassers  willen,  sondern  darum,  weil  solche  prosaüber- 
setzungen  dem  geschmack  und  dem  bedürfnis  ihrer  zeit  (vgl.  auch 
abschnitt  5)  am  meisten  entsprechen  mochten,  einen  zweiten  an- 
stosz  erhielt  Philipp  v.  Zesen  durch  ein  anderes  werk,  die  Emblemata 
Horatiana  des  Otto  Vaenius  (Otto  van  Veen^  1585 — 1634),  dessen 
erstes  erscheinen  noch  nicht  zeitlich  genau  nachgewiesen  werden 
kann,  aber  sicher  nach  dem  jähre  1607  fällt,  da  das  von  dem 
Antwerpener  licentiaten  Laurentius  Beyerlingk  erteilte  Imprimatur 

»  vgl.  n.  jahrb.  154,  s.  305  fif.  544  ff.  156  s.  377  ff. 

*  Goedeke,  grundr.  III  s.  196. 

^  bekannt  sind  die  drucke  von  1654,  1703,  1735,  alle  zu  Amsterdam 
erschienen. 

•*  lehrer  von  Rubens,  vgl.  Reber,  gesch.  der  maierei  vom  14n — 18n 
Jahrhundert.    1894.    s.  218. 

N.  jahrb.  f.  phil.  u.  päd.  II.  abt.  1897  h(t.  12.  37 


570    E.  Schwabe:  zur  geschichte  der  deutschen  Horazübersetzungen. 

der  censur  für  die  spanischen  Niederlande  vom  14  februar  1607 
datiert  ist.  diese  Emblemata  oder  'Zinnebeeiden',  wie  sie  in  den 
niederländischen  ausgaben  heiszen,  sind  in  ihrem  gesamtplan  so 
gefaszt,  dasz  aus  den  werken  des  Horaz  eine  reihe  von  kräftigen 
Sinnsprüchen^  ausgewählt  wurde,  um  gewissermaszen  als  Unter- 
schriften für  eine  Sammlung  allegorisierender  Zeichnungen  des  Veen 
zu  dienen,  die  uns  den  lohn  der  tugend  und  die  strafe  der  sünde  ad 
oculos  demonstrieren  sollen  und  in  ihrer  uns  vorliegenden  repro- 
duction  durchaus  auf  der  höhe  der  damaligen  entwicklung  des 
kupferstichs  stehen,  dabei  gieng  man  merkwürdigerweise  von  der 
ansieht  aus,  dasz  Horaz  ganz  und  gar  auf  stoischem  boden  stehe 
und  man  seine  weltweisheit  so  zu  verstehen  habe,  als  wenn  er  ein 
überzeugter  anhänger  Zenos  gewesen  sei.  diesen  Zeichnungen  gab 
nun  Otto  (alias  Octavio)  Vaenius  selber  eine  reihe  poetischer  er- 
klärungen  in  seiner  muttersprache  bei  und  sprach  sich  in  diesen 
'Bygedichten'  über  den  sinn  der  oftmals  nicht  leichtverständlichen 
Stiche  aus. 

Diese  arbeit  nahm  nun  Philipp  von  Zesen  vor.  er  nützte  das 
alte  Vorrecht  der  Holländer,  alles  nachzudrucken,  was  ihnen  dessen 
wert  erschien,  nahm  von  den  hübschen,  zum  teil  sogar  sehr  schönen 
Stichen  des  Vaenius  die  meisten  ohne  weiteres  in  besitz,  liesz  sie 
von  seinem  Verleger  Kornelis  Dankerts  in  Amsterdam  einfach  nach- 
stechen und  ersetzte  des  Vaenius  bygedichte  durch  sein  eigenes 
fabrikat,  das  er  am  Schlüsse  des  buches  unter  seinem  namen  der 
'färtige'  aus  dem  Hamburger  rosenorden  dem  'kunst-  und  gunst- 
geneugten  Leser'  gewaltig  anpreist,  beigegeben  ist  zu  den  poetischen 
hochdeutschen  Unterschriften  noch  eine  oft  schwülstige  prosaerklä- 
rung,  ebenfalls  in  deutscher  spräche,  die  alle  die  bekannten  eigen- 
tümlichkeiten  des  Zesenschen  stiles  aufweist.  Zesen  erklärt  selbst, 
dasz  er  sie  einer  sonst  unbekannten  erklärung  verdankt,  die  'der 
herr  von  Gombreville,  Talassius  Basilides®,  in  seiner  muttersprache 
darzu  gemachet'  und  die  er  'in  unser  hochdeutsch  (wiewol  an  vielen 
Örtern  nach  meinem  eigenen  guhtbefinden  und  nach  erheischung 
der  Bildertafeln  selbst  in  etwas  verändert  und  vermehret)  über- 
getragen' habe.  —  Da  von  einer  eigentlichen  Übersetzung  nicht  die 
rede  ist,  sondern  nur  von  nachdichtungen ,  die  etwa  den  sinn  der 
Horazischen  Weltanschauung  treffen  sollten,   so  kann  im  rahmen 


^  z.  b.  heiszt  es  in  teil  II,  ni*.  21  viitus  invidiae  scopus,  wozu 
od.  III  24  quatenus,  heu  nefas!  virtutem  incolumem  odimus:  sublatam 
ex  oculis  quaeriraus  invidi,  ferner  od.  III  5  und  ep.  I  1  o  cives,  cives 
quaerenda  pecunia  primum  est,  virtus  post  nummos,  mit  den  Zesenschen 
Versen:  wenn  tugend  voll  im  blühen  steht,  dann  wird  sie  höhnisch  aus- 
gelachet  |  sobald  sie  aber  uns  entgeht,  dan  wird  viel  werks  von  ihr 
gemachet. 

^  vielleicht  identisch  mit  dem  bei  Larousse  s.  v.  citierten  buche 
eines  herrn  von  Gomberville  (sie),  la  doctrine  des  moeurs  tire'e  de  la 
Philosophie  des  stoiques.  Paris  1646  fol.  1648  in  duodez.  beide  aus- 
gaben waren  mir  unerreichbar. 


E.  Schwabe:  zur  geschichte  der  deutschen  Horazübersetzungen.    571 

dieser  darstellung  von  diesem  produkte  des  federfertigen  mannes 
nicht  weiter  die  rede  sein. 

Der  kuriosität  halber,  und  um  die  schlimmen  Schwindel- 
geschäfte des  damaligen  vogelfreien  verlagsbuchhandels  zu  kenn- 
zeichnen, sei  nur  erwähnt,  dasz  dieser  Zesensche  nachdruck,  zu- 
nächst so  weit  er  die  bilder  angeht,  seinerseits  ebenfalls  ausgebeutet 
ward,  denn  im  j,  1682  liesz  der  buchhändler  Franciscus  Foppens 
zu  Brüssel  dasselbe  buch  noch  einmal  in  einer  schön  ausgestatteten 
quartausgabe^  erscheinen,  in  der  die  ursprünglich  auf  Horaz  be- 
schränkte Sammlung  der  Sinnsprüche  aus  allerhand  alten  autoren 
vermehrt  ward  (vor  allem  aus  den  S.  S.  Patres,  woran  man  die 
katholisierende  tendenz  der  neuausgabe  erkennt),  der  ungenannte 
herausgeber  fügte  dem  texte  noch  erläuterungen  in  italienischen 
und  französischen  versen  bei.  über  diese  publication  entbrannte 
nun  die  Amsterdamer  konstgenootschap  'Nil  volentibus  arduum'  in 
hellem  zorn.  denn  sie  hatte  (vielleicht  von  den  Lukasbrüdern)  das 
Privilegium  auf  die  bygedichte  des  Vaenius  seit  dem  jähre  1677 
besessen  und  an  den  Amsterdamer  buchhändler  Albert  Magnus 
übergeben,  sie  wandte  sich,  da  sie  den  verkauf  der  Brüsseler  aus- 
gäbe im  auslande  natürlich  nicht  hindern  konnte,  an  den  rat  der 
Stadt  Amsterdam,  um  wenigstens  in  den  generalstaaten  ihr  recht  zu 
sichern,  erlangte  auch  das  druckprivilegium  auf  15  jähre  und  liesz 
in  einem  kleinen  bücheichen ^  von  noch  nicht  achtzig  selten  die 
Sammlung  der  lateinischen  Sinnsprüche  mit  gegenüberstehender 
niederländischer  parodie  abdrucken ,  offenbar  zu  dem  zweck ,  dem 
kostbar  ausgestatteten  Brüsseler  werke  den  boden  abzugraben,  wie 
auch  in  der  vorrede  mit  scharfen  ausfällen  gegen  den  buchdrucker 
Foppens  ganz  offen  eingestanden  wird. 

In  den  genannten  büchern  nun  erscheint  blosz  des  Otto  Vaenius 
bildersammlung  und  die  bygedichte  ausgebeutet,  aber  auch  Philipp 
von  Zesen  sollte  seinen  lohn  erhalten,  denn  es  erschien  im  j.  1755 
noch  ein  nachdruck :  Le  spectacle  de  la  vie  humaine  ou  Le9ons  de 
Sagesse,  exprim6es  avec  art  en  103  tableaux  en  taille  douce  dont 
les  sujets  sont  tir6s  d'Horace  par  Tingfenieux  Othon  Vaenius,  accom- 
pagn6s  non-seulement  des  principales  maximes  de  la  m orale  en  vers 
Fran9ois,  Hollandois,  Latins  et  Allemands,  mais  encore  par  des  ex- 
plications  trös  helles  sur  chaque  tableau ,  par  feu  le  savant  et  trös 
c§16bre  Jean  le  Clerc,  A  la  Haye,  chez  Jean  van  Düren,  dieses  buch, 
das  sich  auch  'Schouwtoneel  des  menschelyken  Levens'  nennt  und 
sich  wegen  seines  moralischen  Inhalts  heuchlerisch  als  besonders 
geeignet  anpreist,  braven  schülern  als  prämie  verabfolgt  zu  werden, 
ist  eine  compilation  der  schlimmsten  sorte.  denn  es  enthält  zu- 
nächst die  'zinnebilder'  des  Vaenius,  freilich  bedeutend  verkleinert 

^  Quinti   Horatii  Flacci  Emblemata   studio  Ottonis  Vaenii  Batavo- 
Lugudunensis  editio  nova  correctior.     Bruxellae  1682. 

*  bygedichten    op    Otto    Vaenius    Zinnebeeiden    uit    Horatius.     ze 
Amsterdam  by  Albert  Magnus  1682.    met  privilegie.     16''. 

37* 


572    E.  Schwabe:  zur  geschichte  der  deutseben  Horazübersetzungen. 

und  verwischt,  dazu  entnimmt  Jean  le  Clerc  aus  der  Brüsseler  aus- 
gäbe die  sämtlichen  neuen  belegstellen,  die  der  ursprünglichen  Samm- 
lung der  loci  Horatiani  beigefügt  waren,  und  die  französischen  verse, 
natürlich  ohne  quellenangabe.  die  deutschen  verse  aber  sind  die 
Zesenschen  in  einer  stark  nach  einer  gewissen  batavinitas  des  aus- 
drucks  schmeckenden  Umarbeitung,  und  auch  die  erklärung  der 
'zinnebeeiden'  in  französischer  und  holländischer  spräche  sind  eben- 
falls nur  leise  überarbeitete  und  zurechtgestutzte  Übersetzungen  aus 
desselben  autors  schon  1656  beigegebenen  prosaischen  erläuterungen 
zu  den  Sinnsprüchen,  genannt  wird  Philipp  von  Zesen  nirgends,  so 
bleibt  denn  schlieszlich  als  arbeit  des  autors  nur  die  mechanische 
Zusammenstellung  des  ganzen  übrig. 

Der  ganze  verlauf  bietet  uns  das  getreue,  aber  unerquickliche 
bild  des  damaligen  nachdruckerunfugs,  der  das  gute  nahm,  wo  er  es 
fand,  die  prächtig  ausgestatteten  bücher  sind  bohle  nüsse  und 
wirken  um  so  widerwärtiger,  als  sie  salbungsvoll  auf  jeder  seite 
eine  tugend  predigen ,  der  sie  selbst  durch  ihre  existenz  ins  gesiebt 
schlagen. 

5.   Die  pädagogischen  Übertragungen  in  prosa. 

Gegen  das  ende  des  siebzehnten  Jahrhunderts  hin  erfolgte  das 
abebben  der  ersten  oder  althumanistischen  bewegung.  der  feuer- 
eifer,  mit  dem  man  sich  während  der  renaissance  auf  die  classischen 
Schriftsteller  geworfen  und  ihre  gedankenweit  sich  zu  eigen  gemacht 
hatte,  hatte  bedenklich  nachgelassen,  immer  beweglicher  und  lauter 
ertönten  die  klagen  über  die  geringen  leistungen  der  schüler  und 
schulen®,  und  überall  suchte  man  die  gründe  dafür,  freilich  scheute 
man  sich  die  stelle  wirklich  zu  bezeichnen,  wo  sie  in  Wahrheit 
lagen,  nämlich  den  starren  confessionalismus '"  der  protestantischen 
kirche,  der  angst  und  furcht  um  sich  verbreitete,  das  eigentlich 
humanistische  leben,  das  ohne  einen  bestimmten  grad  von  gewissens- 
freiheit  nicht  bestehen  kann,  erstickte  und  vor  allem  schule  und 
schüler  von  einer  edeln  freiheit  des  stils  und  ausdrucks  zu  einem 
schlechten  scbolastikerlatein  zurückführte,  die  leistungen  der  schüler 
waren ,  besonders  seit  dem  ende  des  dreiszigjährigen  krieges,  so  zu- 
rückgegangen, dasz  man  allenthalben  darauf  aufmerksam  wurde  und 
sich  über  die  gründe  dieses  offenkundigen  Verfalls  klar  zu  werden 
versuchte,  zum  teil  erblickte  man  sie  in  der  veralteten  oder  schlechten 
methode,  und  so  ist  es  denn  kein  wunder,  dasz  sich  auch  sofort  die 
entsprechenden  besserungsvorschläge  einstellten,  damals  traten  die 
groszen  methodiker  Ratke  und  Comenius  auf  und  verlangten  in  den 
fundamentalsätzen  ihrer  methodik,  dasz  die  alten  sprachen  auf  wesent- 
lich einfachere  und  bequemere  weise  gelernt  werden  möchten,  als  es 
bisher  geschah. 


»  Ziegler,  gesch.  der  pädagogik  s.  142, 
10  ebd.  s.  132  ff. 


E.  Schwabe:  zur  geschichte  der  deutschen  Horazübersetzungen.    573 

Für  die  lectüre  galten  nun  bei  Ratke  die  beiden  sätze:  'nihil 
extra  propositum  auctorem!'  und  'omnia  ad  praeceptorem!'  die  im 
eifer  der  grösten  concentration  auf  den  bestimmten  schriftsteiler 
und  die  bestimmte  lehrstunde  durchgeführt  wurden,  sollte  nun  der 
knabe  zu  einem  Verständnis  auch  der  schwierigeren  autoren  gelangen, 
so  muste  ihm  dazu  eine  hilfe  werden,  die,  je  ausgibiger  sie  ausfiel, 
den  damaligen  methodikern  und  damit  wohl  auch  der  bequemlich- 
keit  der  schüler  um  so  erwünschter  erscheinen  muste.  es  ist  ganz 
gewis  kein  bloszer  zufall,  wenn  gerade  um  die  wende  des  17n  und 
18n  Jahrhunderts  überall  eine  ganze  menge  wortgetreuer  prosa- 
übersetzungen  lateinischer  dichter  entstanden,  von  denen  sich  aus 
Degen  eine  stattliche  anzahl  zusammenstellen  läszt.  *'  besonders 
muste  dies  bedürfnis  bei  einem  so  schwierigen  autor  wie  Horaz 
empfunden  werden.  Bohemus  hatte  ,  wie  oben  (s.  380)  ausgeführt 
wurde,  seine  schüler  angeleitet,  die  öden  poetisch  zu  übertragen, 
um  so  das  Verständnis  derselben  zu  vertiefen  und  die  lust  am  ge- 
lesenen zu  steigern,  wenn  er  aber  wirklich,  wie  er  angibt,  ein 
ganzes  odenbuch  in  vier  wochen  erledigen  konnte,  so  muste  er 
sich  in  seiner  erklärungsweise  an  die  art  von  Ratke  und  Comenius 
anlehnen  und  seine  pädagogischen  mittel  der  ianua  linguarum 
reserata  und  andern  neuen  evangelien  entlehnen,  d.  h.  der  eignen 
kraft  der  schüler  so  gut  wie  nichts  mehr  überlassen. 

Was  wunder,  wenn  nun  auch  der  weitere  schritt  noch  gethan 
wurde  und  eine  anzahl  von  büchern  das  licht  erblickte,  in  denen  die 
genannte  methode  ihre  schriftliche  fixierung  fand?  entweder  ist  der 
lateinische  text  gleich  in  der  übersichtlichsten  construction  vor- 
gedruckt oder  er  folgt  der  Übersetzung  unter  dem  dehnbaren  be- 
griff phrases  et  loci  communes.  es  kann  nur  fraglich  sein,  ob  diese 
bücher  zum  gebrauch  der  lebrer  dienen  sollten ,  oder  ob  sie  den 
Schülern  (wie  wir  sagen  würden,  als  eselsbrücke)  in  die  band  ge- 
geben zu  werden  bestimmt  waren. 

Dabei  waren  sich  die  Verfasser  solcher  bücher  durchaus  keiner 
schlimmen  absiebten  bewust,  sondern  handelten  im  besten  glauben, 
wie  hätte  es  sonst  geschehen  können,  dasz  das  älteste  uns  bekannte 
buch  dieser  art  vom  rate  der  stadt  Basel  ausdrücklich  gewünscht 


*i  ich  füge  noch  einige  litteraturangaben  hinzu,  die  sich  bei  Degen 
nicht  finden,  der  sich  auf  Deutschland  beschränkt,  so  die  obengenannte 
Übersetzung  von  J.  v.  Vandel,  ferner  Ileckelgedichten  en  Brieven  van 
Q.  H.  Flaccus  uit  Latynsch  Dicht  in  Nederduitsch  Ondicbt  overgebracht 
door  B.  Huydekoper,  Amsterd.  1726  (in  der  vorrede  ausdrücklich  als 
ergänzung  zu  v.  Vondel  bezeichnet).  —  französisch:  Horaz  von  Algay 
de  Martignac,  2  bde.,  Paris  1678.  ebenso  von  P.  Tarteron,  Amsterd. 
1710,  wovon  sogar  vier  auflagen  erschienen.  —  englisch:  von  Joseph 
Davidson.  2  bde.,  London  1746.  von  David  Watson  (herausgegeben  von 
S.  Patrick),  London  1750.  —  blosz  Satiren  und  episteln  von  S.  Dunster, 
London  1719.  die  öden,  Satiren  und  episteln  von  Creech,  die  sechsmal 
aufgelegt  wurden  (5e  aufl.  London  1730,  6e  aufl.  1737).  exemplare  in 
der  Neuhaussischen  Sammlung,  vgl.  jahrb.  1896  s.  544  n.  2. 


574    E.  Schwabe:  zur  geschicLte  der  deutschen  Borazübersetzungen. 

und  demselben  auch  gewidmet  war?  es  ist  dies:  Quintus  Horatius 
Flaccus  Latino-Germanicus  in  commodiorem  Studiosorum  usum  nunc 
primum  editus  a  lacobo  Roth,  Med.  Doctore,  Basileae,  Impensis 
Henrico-Petrinorum  Typis  lacobi  Bertschii,  Anno  1670.  dieses 
seltene'^  buch  zerfällt  in  zwei  teile  von  329  und  407  octavseiten. 
der  zweite  teil,  der  die  epoden,  das  carmen  saeculare,  die  satiren  und 
Sermonen  enthält,  hat  kein  besonderes  titelblatt.  gewidmet  ist  das 
ganze  buch  'denen  hochgeachten  —  Häupteren  dieser  Stadt  (Basel) 
—  Meynen  Gnädigen,  Gebietenden,  Hochehrenden  Herrn',  aus  der 
vorrede  geht  hervor,  dasz  der  Stadtrat  von  Basel  selbst  eine  solche 
arbeit  für  notwendig  angesehen  und  die  schulverwaltung  angewiesen 
hatte ,  eine  solche  Übersetzung  mit  eingefügten  erklärungen  heraus- 
geben und  in  den  schulen  einfühi-en  zu  lassen,  da  hat  sich  denn 
dieser  mediciner,  bierin  ein  Vorgänger  des  weit  berühmt  gewordenen 
herzoglich  sächsisch-weiszenfelsischen  leibmedicus  David  Triller,  an 
diese  aufgäbe  einer  prosaischen  Horazübersetzung  gemacht  und  diese 
auch  so  ziemlich  gelöst,  über  den  eigentlichen  zweck  seiner  arbeit 
freilich  sagt  er  uns  nichts,  obwohl  dieser  ziemlich  deutlich  zu  tage 
liegt,  sondern  er  erklärt  nur,  dasz  er  sie  als  ein  zeichen  seiner  er- 
kenntlichkeit  habe  veröffentlichen  wollen,  'weil  ich  für  die  Ehre,  die 
ich  hie  bevor  gehabt,  dasz  sie  im  Namen  meiner  gnädigen  Herrn 
vnd  Obern ,  eines  gantzen  Ehi'samen  und  hochweisen  Rahts  alhier 
mich  zu  einem  Pestartzet  berufen  vnd  gebraucht  haben,  vnd  für  die 
Gnad  vnd  Gunst  vnd  Hilffe,  so  ich  vnd  die  Meinigen  noch  täglich 
geniessen ,  ein  zeichen  meiner  Dankbarkeit  hab  zeigen  sollen ,  vnd 
dasz  sie  zumahlen  auch  ein  öffentliches  Vnterpfand  vnd  Versicherung 
hetten  meiner  obwohlen  geringen  Dienste  in  allen  vorfallenden  Ge- 
legenheiten, dazu  sie  mich  weiter  würden  gutachten'. 

Der  Verfasser  dieses  buches,  Jacob  Roth  '*,  wurde  am  3  September 
1637  als  abkömmling  einer  altbasier  familie  geboren,  bezog  als 
sechzehnjähriger  die  Universität  seiner  Vaterstadt  und  erwarb  sich 
schon  1653  das  baccalaureat,  1656  die  doctorwürde  der  philosophi- 
schen facultät.  hierauf  sprang  er  aber  von  den  artes  liberales  ab, 
widmete  sich  ganz  der  medicin,  erweiterte  seine  kenntnisse  durch 
eine  reise  nach  Paris,  kehrte  1665  wieder  nach  Basel  heim  und  pro- 
movierte zunächst  als  dr.  med.  hier  kam  er  gerade  zurecht,  um 
seinen  bedrängten  mitbürgern  zu  helfen,  da  1667/68  zu  Basel  eine 
schlimme' pest  herschte.  er  übernahm  das  pesthospital  allein,  da  die 
andern  ärzte  schnell  wegstarben,    und  scheint  nach  erlöschen  der 

'2  zunächst  nur  auf  der  Straszburger  und  der  Basler  Universitäts- 
bibliothek nachzuweisen,  das  Straszburger  exemplar  trägt  auf  dem 
Vorsetzeblatt  die  inschrift  ^E  libris  Nicolai  Gürtleri  1672'  und  ist  1697 
in  den  besitz  des  Studenten  Johannes  Matthias  Stock  übergegangen, 
dem  es  der  professor  der  philosophie  Gramer  geschenkt  hatte. 

*3  die  angaben  sind,  da  Roth  unsern  landläufigen  hilfsbüchern  fremd 
ist,  entnommen  aus  Athenae  Rauricae,  sive  Catalogus  Professorum 
academiae  Basiliensis.  Basileae  [Sumptibus  Gar.  Aug.  Serini.  1778. 
teil  I.     s.  193  f.  221.  237. 


E.  Schwabe:  zur  geschicJite  der  deutsclien  Horazübersetzungen.    575 

krankheit  wieder  entlassen  worden  zu  sein,  so  dasz  er  zur  ab  Fassung 
des  oben  genannten  buches  die  nötige  zeit  fand,  als  1674/75  Basel 
wiederum  von  einer  solchen  krankheit  befallen  ward,  wurde  er  vor- 
stand des  kranken-  und  armenhauses,  und  diesmal  liesz  man  ihn 
nicht  wieder  abziehen,  sondern  versprach  ihm  die  erste  vaeant  wer- 
dende Professur,  schon  im  gleichen  jähre  erhielt  er  auch  die  der 
anatomie  und  botanik,  1685  die  professio  theoretica  der  medicin, 
1687  die  der  praktischen  medicin.  er  starb  am  23  mai  1703.  worauf 
die  nachricht  bei  Degen  I  s.  159  sich  gründet,  dasz  Roth  später 
lehrer  der  dichtkunst  gewesen  sei ,  ist  mir  unbekannt. 

Von  seiner  eignen  kraft  denkt  Roth  gering,  er  wendet  sich  an 
den  lectorem  benevolum  mit  folgenden  worten:  'Dasz  ich,  ein 
geringer  Medicus,  Q.  Horatium  Flaccum,  den  Poeten,  vnterstanden, 
in  vnser  Teutsch  zu  bringen,  ist  nit,  dasz  ich  begehre,  damit  zu 
prangen,  oder  was  sonderlichs  dabey  zu  suchen,  oder  sonst  nichts 
zu  schaffen  gehabt:  Sondern  allein  lieben  Freunde  und  Verwandten 
diesen  Dienst  vnd  Gefallen  aufi"  jhr  Begehren  zu  erweisen,  dasz  sie 
in  der  mänge  jhrer  Geschäfte  vmb  so  viel  erleichtert  wurden.  Wenn 
ich  aber  etwann  geirret,  bitte  ich,  die  Vrsach  der  schwirigkeit  desz 
Authoris  vnd  der  vnterschiedlichkeit  der  meinungen  der  Auszleger 
beyzumessen  vnd  die  Fehler  freundlich  zu  corrigieren.  Wo  der 
Trucker  möchte  gefählet  haben,  hofft  er  gleichfalls  allen  guten 
Willen.  Sonsten  gebrauche  dich  desz  Horatii,  dazu  dir  diese  meine 
Arbeit  wohl  zu  statten  kombt,  wird  dich  nimmermehr  gerewen.' 

Dasz  der  Verfasser  über  eine  den  gewöhnlichen  Medicus  weit 
überragende  philologische  bildung  gebot,  geht  aus  dem  ganzen 
buche  hervor,  auch  i«t  die  Übersetzung  gar  nicht  übel  und  fand 
auch  in  einem  beigedruckten  gedieht  von  J.  J.  Hoffmann  ihren  lob- 
redner, der  sie  in  einer  alcäischen  ode,  die  den  gedankengang  von 
Maecenas,  atavis  variiert,  anpreist  und  Roth  in  den  damals  üblichen 
Übertreibungen  von  sich  sagen  läszt : 

me  versa  Flacci  carmina  subvehunt 
miscentque  Divis  usw. 
das  buch  ist  nicht  nur  vom  pädagogischen  Standpunkt  aus  inter- 
essant, sondern  würde  auch  dem  sammler  schweizer  idiotismen,  die 
sich  zahlreich  vorfinden,  eine  reiche  ausbeute  gewähren,   zur  veran- 
schaulichung der  methode  geben  wir  anhangsweise  das  gedieht  I  38. 

Ein  zweites  derartiges  werk  ist  in  Niederdeutschland  und  zwar 
ganz  und  gar  auf  dem  boden  der  schule  entstanden,  und  seine 
mehrfach  wiederholten  auflagen  weisen  darauf  hin,  dasz  dieses  buch 
einem  wirklichen  bedürfnis  entgegenkam,  es  ist  dies  der  H  o  r  a  t  i  u  s 
enucleatus,  d.  i.Q.Horatius  Flaccus  verdeutscht  etc.,  mit  phraseo- 
logie  und  locis  communibus  von  J.  R.  (Joachim  Rulffen),  Leipzig 
1698,  hpgt.  8.  in  der  zweiten  aufläge  von  1707  (911  seilen,  bei  Joh. 
Christoph  König,  buchhändler  in  Goszlar,  aber  ebenfalls  in  Leipzig 
erschienen)  sind  die  1698  noch  weggelassenen  satiren  beigefügt, 
auszerdem  wird  noch  eine  dritte  aufläge  von  1751  erwähnt,  vgl. 


576    E.Schwabe:  zur  geschichte  der  deutschen  Horazübersetzungeu. 

Degen  I  s.  159 — 162.  auf  dem  titel  der  zweiten  aufläge  wird  aus- 
drücklich erwähnt,  dasz  'auch  dieser  zweyten  Edition  die  Ver- 
deutschete  Satyren  angehenget  seyn,  dergestalt,  dasz  die  Schul- 
jugend diesen  nützlichen  Authorem  für  sich  selbst  lesen  und  guter 
maszen  auch  verstehen  kan'. 

Als  autor  dieser  Übersetzung  nennt  sich  nur  in  der  ersten  auf- 
läge Joachim  Rulff  oder  Rulffen.  in  der  zweiten  aufläge  ist  die 
namensnennung  vermieden,  woraus  bei  den  späteren  mancherlei  irr- 
tümer  entstanden  sind.'^  der  autor  war  ursprünglich  conrector  an 
der  schule  zu  St.  Martini  in  Halberstadt,  schon  1698  aber  pastor 
der  christlichen  gemeinde  zu  Anderbeck,  etwas  näheres  über  ihn 
ist  nicht  bekannt  geworden ,  wenigstens  scheint  sein  wirken  nicht 
über  einen  sehr  eng  begrenzten  kreis  hinausgegangen  zu  sein. 

Charakteristisch  ist  es,  dasz  sich  der  autor  dieser  prosaüber- 
setzung,  die  schon  Degen  a.  a.  o.  als  nur  in  weniger  bänden  befind- 
lich'* bezeichnet,  von  der  zweiten  aufläge  an  nicht  mehr  nennt, 
vielleicht  genierte  er  sich,  sich  als  den  Verfasser  eines  buches  zu  be- 
kennen, das  sich  ganz  wörtlich  an  den  text  anscblieszt,  nur  in 
seltenen  fällen  eine  erläuterung  oder  constructionshilfe  beifügt  und 
in  den  phrases  für  die  schüler  eine  präparation  in  bester  form  bei- 
fügt, damit  ihnen  nur  ja  alle  eigne  arbeit  erspart  bleibt,  auch  die 
loci  communes  sollten  offenbar  dazu  dienen,  bequemes  material  und 
leicht  erreichbare  anhaltspunkte  für  allerhand  lateinische  commen- 
tationes  zu  liefern ,  die  sich  über  gewisse  allgemeine  gedanken  aus- 
sprechen sollten. 

An  seiner  stelle  läszt  Rulfi"  den  Verleger  reden,  der  sich  an  den 
'günstigen'  leser  mit  der  Versicherung  wendet,  'wie  hochnöthig  der 
studierenden  Jugend  die  Translationes  derer  Scriptorum  Classicorum, 
insonderheit  derer  Poetarum  Romanorum'  sind,  als  grund  hierfür 
gibt  er  naiv  an  1)  dasz  solche  Übersetzungen  'gelehrter  Scribenten 
bei  allen  Völckern  gemeyn  sein*,  ferner  2)  'was  für  eine  verdriesz- 
liche  Mühe  und  lange  Zeit  darauf  zu  wenden,  wenn  die  Jugend  alles 
durch  die  unaufhörliche  Arbeit  ihrer  Herren  Präceptorum,  oder  au  ch 
durch  ihr  selbsteigenes  unabläsziges  Nachsinnen  aus  sothaner  ge- 
lehrter Autorum  Schrifften  herhohlen  solte'.  schlieszlich  3)  weil 
viele  nicht  lange  genug  auf  der  schule  bleiben,  um  genügenden 
grund  in  den  studia  humanitatis  zu  legen.  'Dasz  diese  nun  desto 
eher  und  glücklicher  zu  ihrem  Scopo  und  Endzweck  mögen  be- 
fordert werden,  so  sind  sehr  diensahm  dazu  die  aus  der  Römischen 
in  die  Teutsche  Sprache  jetzt  gerühmte  Übersetzungen.'  also  auch 
hier  wird  es  als  ganz  gewöhnlicher  gebrauch  angesehen  und  es  offen 
ausgesprochen,  ohne  die  leiseste  empßndung,  etwas  schlimmes  zu 
thun,  dasz  die  jugend  ohne  solche  Übersetzungen  nicht  auskommen 
kann,  und  dasz  man  ihr  solche  in  die  bände  geben  musz. 


**  vgl.  Obbarius  a.  a.  o.  s.  IX  note  7. 

•=  aus  leicht  begreiflichen  gründen,   vgl.  Dietsch  in  Schmids  ency- 
clopädie  VII  s.  471. 


£.  Schwabe:  zur  gescbichte  der  deutschen  Horazübersetzungen.    577 

Degen  a.  a.  o.,  der  auch  ode  IV  9  abdruckt,  beurteilt  die 
Rulffensche  arbeit  sehr  günstig,  sein  urteil ,  was  die  'Liebligkeit 
der  Sprache'  angeht,  kann  ich  mir  nicht  aneignen,  als  probe  des 
eingeschlagenen  Verfahrens  nehme  ich  wiederum ,  der  kürze  wegen, 
die  ode  I  38,  die  trotz  der  wenigen  zeilen  ein  anschauliches  bild  von 
der  methode  gibt. 

Beilage. 

1)  Aus  Jacob  Roth,  HoratiusLatino-Germanicus  Is.  109. 

Periocha 
Die  Summe  oder  Innhalt. 

Vult  famulum  suum  adhibere.  Der  Pofjt  will  sein  Jung  solle 
gebrauchen  ad  apparatum  externum  convivii  zu  der  eusserlichen  Zu- 
rüstung  oder  Zubereytung  seiner  Mahlzeit  nihil  aliud  nichts  andres, 
quam  myrtum  als  Myrten. 

Ode  XXXVIII:  Dieolos  tetrastrophos  ut:  lam  satis  terris  nivis 
atque  dirae. 

Puer  Jung  oder  Diener  odi  apparatus  Persicos  ich  hasse  die 
Persischen,  das  ist,  die  köstlichen,  prächtigen  vnd  herrlichen  Zu- 
rüstungen :  coronae  die  Kräntz  nexae  Phylira  (sie)  so  ausz  Linden- 
bast oder  ausz  zarten  Lindenen  Rinden  gemacht  displicent  seil,  mihi 
miszfallen  mir:  mitte  sectari  vnderlasse  oder  höre  auff  zu  forschen 
oder  auszuspüren,  quo  locorum  an  welchem  Ort,  rosa  sera  moretur 
die  spaten  Rosen  seyen  oder  wachsen.  Sedulus  curo  Ich  sorge 
embsig  vnd  fleissig  nihil  adlabores  dasz  Du  vmb  nichts  dich  hefftigg 
bearbeitest  myrto  simplici  als  vmb  schlechte  vnd  einfache  Myrten: 
Myrtus  die  Myrten  neque  dedecet  te  stehen  übel  an  weder  dir 
ministrum  als  dem  Diener  neque  me  noch  mir  bibentem  sub  vite 
arcta  wenn  ich  unter  einem  dicken  vnd  schattechtigem  Rebstock 
sitze  vnd  trincke. 

2)  Dasselbe  gedieht  aus  J.  Rulffen,  Horatius  enucleatus 

s.  147. 

An  seinen  Diener. 
Inhalt. 

Er  vermahnet  seinen  Auffwärter,  dasz  er  bey  instehende 
Gasterey  alles  Pralen  vnd  Prangen  vnterlasse,  und  nur  Mürthen 
dabey  gebrauche. 

0  Du  mein  Auffwarter,  ich  habe  keine  Lust  an  grossen  Ge- 
pränge, wie  die  Persier  haben  pflegen  zu  gebrauchen.  Es  belieben 
mir  auch  nicht  schöne  Kräntze,  deren  Blumen  auf  zarte  Linden 
Rinden  sind  gebunden:  Ja  bemühe  Dich  nicht  zu  suchen,  an  wel- 
chen Oertern  du  noch  möchtest  Rosen  finden,  die  späte  geblühet 
haben.  Disz  eintzige  verlange  ich  nur  und  bin  darum  besorgt,  dasz 
du  zu  Auszzierung  der  Gastereyen  mehr  nichts  als  Myrrthen  mögest 
gebrauchen.    Denn  der  Myrthen-Strauch  will  beydes  dir  als  meinen 


578  F.  Cunze:  pädagogische  kleinigkeiten. 

Auff Wärter  und  auch  mir  nicht  übel  anstehen,  wenn  ich  unter  einer 
Wain-Laube  sitze  und  trincke. 

Loci  communes. 
Persicus  apparatus  ,  grosser  Pracht.    It.  hei-rlich  Essen. 
Nectere  coronam  einen  Krantz  winden 
Rosa  sera,  Rosen,  die  späthe  blühen 
Areta  vitis,  eine  dichte  Weinlaube 
Sub  arcta  vite  bibere,  unter  der  Weinlaube  sitzen  vnd  zechen. 

Loci  communes: 
Persicos  Apparatus 
consultum  est  bis  temporibus  odisse,    Str.  1. 

Bibere 
sub  arcta  vite  jucundum.    Str.  ult. 

Meiszen.  '  Ernst  Schwabe. 


(31.) 

PÄDAGOGISCHE  KLEINIGKEITEN. 
(8.  oben  s.  548—552.) 

II.    Die  reihenfolge  der  lateinischen  declinationen.* 

Hornemanns  treffliche  anregungen,  eine  parallelgrammatik  zu 
schaffen,  haben  noch  längst  nicht  so  gewirkt,  wie  zu  hoffen  gewesen 
wäre,  am  meisten  ist  noch  in  der  Satzlehre  gethan,  woran  er  ja 
auch  zunächst  gedacht  hat.  doch  auch  in  der  formenlehre  wäre  es 
gut,  die  Scheuklappen,  die  uns  künstlich  am  vergleich  der  sprachen 
hindern,  abzustreifen,  denn  jedes  wissenschaftliche  vergleichen  er- 
höht das  Interesse,  vereinfacht  und  verringert  den  gedächtnisstoff 
und  setzt  verständige  aneignung  an  stelle  des  mechanischen  aus- 
wendiglernens :  kurz,  man  musz  auf  jede  weise  danach  suchen,  statt 
es  zu  meiden,  die  sogenannten  fünf  lateinischen  declinationen  haben 
sich  vom  altertum  bis  auf  unsere  tage  in  ihrer  überlieferten  reihen- 
folge erhalten;  es  blieb  sogar,  auch  nachdem  namentlich  durch 
G.  Curtius  in  die  griechische  grammatik  eine  das  wesen  bezeichnende 
terminologie  eingedrungen  war,  hier  beim  zählen  der  declinationen 
(1 — 5).  und  doch  sollten  wir  alle  mit  J.  Grimm  danach  trachten, 
*der  art  der  bezeichnungen,  die  blosz  zählen  will  statt  zu  benennen, 
auszuweichen'  (einleitung  zur  deutsehen  grammatik).  also  hinaus 
mit  der  ersten,  zweiten  declination  usw.  und  dafür  die  bezeichnung 
nach  dem  stammauslaute  (a,  o,  e  und  consonantische) ,  höchstens 
dasz  vorläufig  die  alte  Zählung  daneben  in  klammern  noch  bestehe! 

*  vgl.  Jahrbücher  1896  s.  247. 


rosa 

res 

rosam 

rem 

rosae 

rei 

rosa 

re 

F.  Cunze:  pädagogische  kleinigkeiten.  579 

dann  aber  —  und  das  ist  die  hauptsache  —  einteilung  der  decli- 
nation  in  die  vocalische  und  die  consonantische  nach  dem  vorbilde 
der  griechischen  und  deutschen  grammatik  (==  stark  und  schwach), 
so  dasz  an  die  a-stämme  sogleich  wie  im  griechischen  die  e-stämme 
sich  anschlieszen,  denn  res  :  rosa  =  Tijari  oder  TroXiirjC  :  X'J^Pö«  ^^^ 
fordert  die  Wissenschaft;  ja  schon  dem  schüler  drängt  sich  die  Zu- 
sammengehörigkeit der  e-  und  a-stämme  auf  bei  den  vielen  Wörtern, 
die  auf  a  und  zugleich  auf  es  im  nom.  ausgehen,  z.  b.  barbaries, 
durities,  luxuries  usw.  neben  barbaria,  duritia,  luxuria,  und  die 
declination  stimmt  doch  bei  beiden  stammauslauten,  den  nom.  und 
den  dat.  abl.  pl.  ausgenommen ,  vollständig  überein : 

rosae  re  s 

rosas  res 

rosarum  rerum 

rosis  rebus. 

die  Überlieferung  läszt  sich  nur  damit  verteidigen,  dasz  man  die 
seltenen  e-stämme  als  unwesentlich  bis  zuletzt  verspart;  doch  durch 
einen  solchen  gesichtspunkt  der  zweckmäszigkeit  darf  man  den 
■wissenschaftlichen  aufbau,  der  ein  muster  logischer  anordnung  sein 
musz,  nicht  zerstören:  die  e-stämme  gehören  neben  die  a-stämme; 
freilich  kann  man,  wenn  das  gefällt,  sie  zunächst  überschlagen,  viel- 
leicht auch  sie  klein  drucken,  um  sie  als  minder  bedeutsam  kennt- 
lich zu  machen,  aber  im  lehrbuche  darf  die  e-declination  ebenso 
wenig  von  der  a-declination  getrennt  werden,  wie  z.  b.  posse  von 
esse,  wie  iubeo  debeo  praebeo  von  habeo. 

An  die  a-  und  die  e-stämme  schlieszen  sich  nun  wie  im  grie- 
chischen die  o-stämme,  darauf  folgen  die  consonantischen  stamme, 
denen  sich  die  i-  und  u-stämme  (weichvocaliscb)  hüben  wie  drüben 
anbequemt  haben,  mit  dem  unterschiede,  dasz  im  lat.,  grus  und  sus 
ausgenommen,  die. u-stämme  viel  besonderes  haben  und  deshalb  eine 
besondere  declination  bilden ,  natürlich  mit  enger  anlehnung  an  die 
consonantische. 

Das  Schema  wäre  dann  also,  dem  griechischen  entsprechend: 

A.  B. 

vocalstämme.  consonantstämme  (a  parte  potiore). 

1)  a-|  4)  consonantische  declination  (mit 

2)  e-  >declination.  grus  und  sus). 

^)°-J  ^)  ^-{declination. 

Bern,  bei  den  conjugationen  stellt  man  jetzt  mit  recht  viel- 
fach die  i-stärame  vor  die  consonantischen;  um  so  mehr  musz  man 
aber  das  zählen  in  der  bezeichnung  fallen  lassen,  sonst  schwindet 
die  Verständigung,  wie  z.  b.  C.  Wagener  die  i-conjugation  irre- 
führend III  nennt,  merkwürdig  ist  übrigens  bei  der  darstellung 
des  verbs,    dasz  trotz  Perthes  noch  immer  die  lehrbücher,   selbst 


580  F.  Cunze :  pädagogische  kleinigkeiten. 

Wageners,  alle  4  oder  5  paradigmen  selbst  im  perfect-  und  supin- 
stamm  vollständig  aufführen,  damit  also  absichtlich  den  schillern 
die  erkenntnis  rauben,  dasz  die  conjugationen  sich  nur  im  präsens- 
stamm unterscheiden,  und  so  stumpfsinniges  auswendiglernen  statt 
geistigen  erfassens  und  freien  beherschens  schaffen. 


III.    Hie  Xenophon  —  hie  Marcus. 

Chr.  Härder  hat  in  der  zeitschr.  f.  gymn.-wesen  1896  s.  673  ff. 
Torgeschlagen,  Xenophons  denkwürdigkeiten ,  die  nach  den  preuszi- 
schen  lehrplänen  in  II*  mit  nachdruck  gelesen  werden,  wenigstens 
zum  teil  zu  ersetzen  durch  M.  Aureis  Selbstbetrachtungen  und 
Plutarchs  biographien.  er  meint,  die  ethik ,  die  der  Xenophontische 
Sokrates  lehre,  stünde  nicht  auf  der  höbe;  ja  er  scheint  das  gespräch 
mit  Euthydem  (IV  2)  geradezu  für  gefährlich,  für  irreführend  zu 
halten,  während  die  erhabene  weltauffassung  des  philosophischen 
kaisers  und  die  Plutarchischen  heldenbeschreibungen  eine  in  jeder 
beziehung  gesunde  lectüre  seien. 

Richtig  ist,  dasz  bei  Xenophon  von  der  idee  des  guten,  schönen, 
wahren  noch  keine  rede  ist,  dasz  diese  begriffe  vielfach  dem  nutzen 
identificiert  werden;  aber  dasz  die  platonische  und  die  stoische  höhe 
der  abstraction  hier  noch  fehlt,  dasz  die  moral  noch,  ich  möchte 
sagen,  platt  erscheint,  das  macht,  dünkt  mich,  die  schritt  besonders 
geeignet,  in  philosophische  begriflPe  einzuführen,  'das  beste  ist  für 
die  Jugend  eben  gut  genug'  in  ehren,  aber  cum  grano  salis!  der 
fassungskraft  der  schüler  angemessen  musz  sein,  was  wir  ihnen  vor- 
legen, und  das  sind  die  denkwürdigkeiten  Xenophons  in  hohem 
masze,  sie  sind  in  dieser  hinsieht  ein  unübertreffliches  Schulbuch,  und 
es  schadet  seiner  brauchbarkeit  gar  nichts,  wenn  wir  die  beschränkt- 
heit  des  Xenophontischen  Standpunktes  beim  unterrichte  aufdecken. 
Lessings  Laokoon  wird,  hoffe  ich,  trotz  Lange  in  unsern  primen 
weiter  gelesen  werden,  mag  auch  die  archäologie  und  die  ästhetik 
dem  groszen  denker  immer  mehr  Irrtümer  nachweisen,  er  soll  so 
wenig  wie  die  memorabilien  uns  ein  evangelium  sein,  aber  eine 
TraXaicrpa,  die  jugendlichen  geister  zu  üben,  sind  beide  Schriften, 
zunächst  müssen  wir  allerdings  den  absiebten  der  schriftsteiler  ge- 
recht werden,  und  daran  scheint  es  Härder  in  der  deutung  des  ge- 
sprächs  mit  Euthydem  fehlen  zu  lassen.  Sokrates  will  ja  darin 
durchaus  nicht  den  eingebildeten  Jüngling  belehren,  sondern  zu- 
nächst nur  zur  erkenntnis  seiner  dummheit  kommen  lassen,  deshalb 
springt  er  von  einem  begriffe  zum  andern  über,  ohne  einen  wirklich 
erörtert  zu  haben,  er  versetzt  den  zuhörer  in  eine  fülle  von  ctTTopiai 
und  scheut  sich  nicht,  um  sein  ziel  zu  erreichen,  mit  sophistischen 
trugschlüssen  zu  arbeiten,  dies  ist  eine  echte  Sokratische  ironie 
und  sie  hatte  erfolg:  der  gedemütigte  Euthydem  kam  wieder,  um 
jetzt  wirklich  zu  lernen,  und  Sokrates  UJC  e'YVUu  auTOV  OÜTCUC 
e'xovia,  fiKicTtt  /aev  bieidpaTTev,  dirXoucTaTa  he  Kai  caqpecTaia 


F.  Cunze:  pädagogische  kleinigkeiten.  581 

eHriteiTO  ä  te  evöjuiZiev  eibe'vai  beiv  Kai  eTTiiribeueiv  Kpcmcxa  eivai 
(V  2,  40). 

Deutlicher  kann  es  doch  nicht  gesagt  werden,  dasz  Sokrates 
bisher  den  Jüngling  zum  besten  gehabt  und  TiaiZiiJUV,  nicht  CTTOubdCuJV 
jene  verrückten  sätze  hat  folgern  lassen,  ich  habe  eben  dies  stück 
in  meiner  classe  gelesen,  die  jungen  freuten  sich  gewaltig,  gleich- 
sam im  bunde  mit  Sokrates  den  Euthydem  aufs  glatteis  zu  locken, 
und  eine  stilarbeit  darüber  bewies,  dasz  den  meisten  der  sinn  des 
gesprächs  vollkommen  aufgegangen  war. 

Ebenso  gut  aber  Xenophons  denkwürdigkeiten  für  die  schule 
sind,  ebenso  schlecht  würden  Marcus'  xd  KttB'  auTÖv  sein,  dasz  das 
werk  sittlich  unendlich  über  jenem  steht,  ist  nicht  zweifelhaft,  es 
ist  eben  für  einen  secundaner  zu  hoch,  zu  abstract,  zu  sehr  in  der 
philosophischen  schulsprache  abgefaszt.  auszerdem  sind  aber  diese 
lose  aneinandergereihten  sätze  die  denkbar  ungünstigste  form  für 
ein  lesebuch  in  der  schule,  sie  sind  für  gereifte  männer ,  die  durch 
die  knappe,  oft  rätselhafte  fassung  der  sprüche  angeregt  werden, 
sie  durchzudenken  (vgl.  Feuchterslebens  diätetik  der  seele). 

Wenn  wir  den  lesestoff  unsertwegen  tmd  nicht  der  schüler 
wegen  auszuwählen  hätten,  so  würde  ich  gern  dem  vorschlage, 
Plutarch  wieder  zu  lesen,  zustimmen,  und  der  stoflP,  der  Rousseau 
und  Schiller  begeistert  hat,  würde  auch  auf  unsere  schüler  wirken, 
aber  die  form  ist  nicht  einfach,  nicht  classisch,  sie  ist,  ich  möchte 
sagen,  romantisch,  sentimental  und  die  spräche  ist  zudem  schwer, 
endlich  könnte  es  nur  ein  'kostehäppchen'  sein,  und  dann  doch  lieber 
gar  nichts  davon !  bleiben  wir  also  bei  den  groszen  des  fünften  und 
vierten  Jahrhunderts! 

Braunschwkig.        . Friedrich  Cunze. 


32. 

ZUR  BETONUNG  ZUSAMMENGESETZTER  WÖRTER 
IM  DEUTSCHEN. 


Die  deutsche  Verslehre  liegt  im  argen,  sagte  mir  einst  prof.  Rud. 
Hildebrand  und  klagt  Minor  auf  den  ersten  selten  seiner  neuhoch- 
deutschen metrik  (Straszburg  1893,  s.  1  ff.),  unsere  versbetonung 
ist  Wortbetonung,  aber  diese  in  Zusammensetzungen  nicht  sicher, 
und  wenn  sie  es  ist ,  so  nicht  die  erkenntnis  ihrer  Ursache,  wir  be- 
tonen ünterthan  nach  Minor  (a.  a.  o.  s.  74)  aus  rhythmischen 
gründen,  da  der  anapäst  der  deutschen  spräche  nicht  anstehe,  rich- 
tiger bedeutet  ünterthan  wohl  alte  nominalbeton ung,  die  in 
Zusammensetzungen  das  erste  glied  hervorhob,  ebenso  steht  es  mit 
Unterricht  im  gegensatz  zu  unterrichten,  wo  also  keine  einzel- 
ausnahme  vorliegt,  wie  Minor  annimmt  (a.  a.  o.  s.  74).  vergleiche 
widersprachen  :  Widerspruch,  unterhalten  :  unterhalt,  überschlagen  : 


582   H.  Schuller:  zur  betonung  zusammengesetzter  Wörter  im  deutschen. 

Überschlag  (s.  W.  Wilmanns ,  deutsche  grammatik ,  erste  abteilung : 
lautlehre,  zweite  aufläge  [Straszburg  1897,  Trübner]  s.  408). 

In  abscheulich,  vorzüglich  sieht  der  eine  emphatische,  der  andere 
rhythmische  Verschiebung,  in  jahrz6hnt,  Jahrhundert  ein  dritter 
logische.  6rzbischof ,  Erzherzog  sind  nach  Minor  (s.  70)  ausnahmen, 
da  das  steigernde  erz-  gewöhnlich  unbetont  sei ;  hier  ist  es  aber  nicht 
verstärkend,  weshalb  spricht  man  offenbar?  vielleicht  nach  un- 
mittelbar und  dieses  nach  r6ichsunmittelbär,  wo  -bar  wegen  der  ent- 
fernung  vom  hauptton  ein  starker  nebenton  zukam,  der  sich  ob 
seines  gewichtes  leicht  zum  hauptton  aufschwang,  wir  betonen 
blutjung  =  sehr  jung  nach  Wilmanns  (s.  411  f.),  wenn  es  als  bei- 
fOgung  steht,  aber  blutjung  am  satzende,  weshalb?  vermutlich, 
weil  wir  hier  die  stimme  sinken  lassen,  was  oft  wie  hauptton  klingt, 
die  entsprechende  tonstärke  gesellte  sich  dann  leicht  hinzu,  aller- 
dings heiszt  es  kirchturm  auch  am  satzschlusz;  aber  dieser  vergleich 
stört  unsere  erklärung  nicht,  da  kirch-  doch  eben  nicht  blosz  ver- 
stärkt wie  blut-.  auffallend  ist  die  betonung  der  Ortsnamen  auf 
-leben,  da  sie  nicht  das  zweite  glied  der  Zusammensetzung  hervor- 
heben, wie  es  Ortsnamen  zu  thun  pflegen,  deren  zweitem  stamme 
eine  unbetonte  silbe  folgt,  vielleicht  wirkte  neben  der  Ursache,  die 
Wilmanns  angibt  (a,  o.  o.  s.  415),  die  absieht,  die  zahlreichen  Orts- 
namen auf  -leben  von  einander  zu  unterscheiden. 

Nicht  nur  über  dem  woher?  der  betonung  zusammengesetzter 
Wörter  liegt  oft  dunkel,  auch  über  dem  wie?  fallthür  hat  nach 
Wilmanns  (a.  a.  o.  s.  403)  einen  untergeordneten  hauptton  auf  der 
zweiten  silbe,  nach  Minor  (a.  a.  o.  s.  79)  nicht  einmal  einen  neben- 
ton, in  blutarm  =  sehr  arm  hört  Behaghel  (Pauls  grundrisz  [1891] 
1  s.  554)  auch  gleiche  tonstärke  der  beiden  glieder,  Minor  nur 
blutarm  (s.  70) ,  Wilmanns  blutarm  bei  attributiver  Stellung ,  blut- 
arm am  satzende  (s.  412). 

So  haben  wir  schon  die  fälle  gestreift,  wo  nicht  einmal  fest- 
steht, ob  überhaupt  eine  silbe  einer  Zusammensetzung  der  hauptton 
trifft  oder  nicht. 

Als  beispiele  zusammengesetzter  hauptwörter,  deren  erster 
bestandteil  den  zweiten  nur  verstärkt  und  die  darum  den  haupt- 
ton auf  diesen  rücken,  führt  Wilmanns  an  (s.  412):  unmässe,  un- 
mfenge,  unzahl,  erzzanker,  erzdümmkopf,  höllenlarm,  heideng61d, 
mordspectäkel,  riesenfleisz,  hauptsörge,  hauptkörl.  in  allen  diesen 
fällen  liegt  mir  die  betonung  des  ersten  gliedes  auf  der  zunge,  und 
auch  Wilmanns  setzt  seine  beispiele  nur  mit  vorbehält  an,  wenig- 
stens die  mit  steigerndem  hauptwort. 

In  Oberbaiern,  hanswürst  hat  Wilmanns  satz-,  in  Weihnachten 
wortbetonung  (s.  413),  eben  diese  Minor  in  Niederbaiern,  Südfrank- 
reich  (nhd.  metr.  s.  72).  ich  höre  und  hörte  Weihnächten,  'Ober- 
baiern und  Oberbaiern,  Südfränkreich,  hänswurst  und,  hanswürst. 

Rhythmische  rücksiebten  walten  nach  Wilmanns  (s.  413  f.) 
in  berghaüptmann,  feldzeügmeister,  vicef61dwebel,  hofmvindschenk, 


H.  Schuller:  zur  betonung  zusammengesetzter  Wörter  im  deutschen.   583 

pfingstsönntag,  landgerichtsrat,  feldmarschall,  bürgermeister,  kriegs- 
schaiiplatz.  auch  hier  vernehme  ich  nur  regelrechte  wortbetonung 
auf  der  ersten  silbe.  eben  diese  beobachtet  Wilmanns  in  Stralsund 
(s.  414),  Minor  in  Wiesbaden  (s.  72).  ich  habe  immer  Stralsund, 
Wiesbaden  gehört. 

Häufigeren  Schwankungen  als  die  hauptwörter  unterliegen  die 
eigenschaftswörter.  ursprünglichen  nachdrucks  halber  be- 
tont Minor  abgefeimt,  ausgesprochen,  endlös,  wunderlich,  preis- 
würdig (s.  64),  Wilmanns  leibeigen  (s.  419),  alltäglich,  ursprünglich 
(s.  417)  aus  rhythmischen  rücksichten,  weil  der  zweiten  Stammsilbe 
eine  unbetonte  folgt. 

Minor  sagt  leibeigen,  alltäglich  (s.  70),  Wilmanns  urkundlich 
(s.  417),  Minor  urkundlich  (s.  71). 

Barmh6rzig,  teilhaftig,  offenbar,  unmittelbar  (W.  s.  419)  höre 
ich  auch  mit  dem  hauptton  auf  der  ersten  silbe,  ebenso  die  mittel- 
wörter  der  Vergangenheit  mit  der  vorsilbe  un-  in  passiver  bedeu- 
tung,  wo  Wilmanns  wechselnde  betonung  annimmt:  unbekleidet, 
unbeschäftigt,  ungesäuert,  ungelogen,  unverdient,  unvergölten,  un- 
zerl6gt,  unentw6gt  (deutsche  grammatik  a.  a.  o.  s.  416).  Wilmanns 
ist  nur  unerfindlich,  ünlesbar,  unmöglich  geläufig  (s.  417),  mir  un- 
erfindlich, unmöglich  und  unmöglich. 

'Das  steigernde  erz-  ordnet  sich  in  adjectiven  immer  unter: 
erzfaul,  -dumm'  (Wilmanns  a.  a.  o.  s.  417).  der  gebildete  Vogt- 
länder wie  der  ungebildete  ordnet  es  über,  verstärkende  Substantive 
sind  in  adjectiven  schwach  betont  am  satzende  (W.  s.  418).  also 
baumstark,  himmelhoch,  weltbekannt,  steinalt,  feuerrot,  grasgriin, 
kohlschwärz,  schneew6isz.  die  ersten  vier  beispiele  betonte  ich  bis 
jetzt  fast  immer  auf  der  ersten ,  die  letzten  vier  fast  immer  auf  der 
zweiten  silbe,  immer  auf  dieser  aber  herzinnig,  also  ohne  wechselnde 
betonung,  die  nach  Wilmanns  allen  adjectiven  zukommt,  die  mit 
einem  steigernden  hauptwort  zusammengefügt  sind  (s.  418). 

Von  fürwörtern  betont  Minor  derjenige  (s.  71),  von  ad- 
verbien  allerdings  und  allerdings  (s.  71),  auch  also  (s.  74),  deshalb, 
abhanden  (s.  71). 

Verhältniswörter  bleiben  dem  abhängigen  fürwort  untergeordnet 
(W,  s.  421):  auszerd6m,  ehed6m,  trotzd6m,  vordem,  hier  ordnete 
ich  bis  jetzt  das  fürwort  unter,  'dagegen  als  zweite  compositions- 
glieder  pflegen  sowohl  die  präpositionen  als  andere  partikeln  und 
adverbien  den  hauptton  zu  haben'  (W.  a.  a.  o.  s.  421):  demnach, 
demnächst,  demgemäsz,  deshalb,  deswegen,  hierauf,  nunmehr,  nach- 
gerade, auch  diese  regel  stimmt  nicht  zu  meiner  bisherigen  ausspräche, 
mit  recht  setzte  darum  Wilmanns  in  seine  fassung:  pflegen  zu 
haben,  welche  vorsieht  er  auch  sonst  anwendet. 

Die  geringsten  Schwankungen  zeigt  der  hauptton  zusammen- 
gesetzter Zeitwörter,  seiner  neigung  getreu,  tonverschiebungen, 
wo  es  angeht ,  zu  meiden  und  am  liebsten  die  erste  Stammsilbe 
in   Zusammensetzungen  hervorzuheben,   betont  der  Plauener  alle 


584  W.  Poetzsch :  anz.  v.  Kautzmann,  Pfaff  u.  Schmidt  lat.  übungsbüclier, 

mit  mis-  zusammengefügten  Zeitwörter  auf  der  ei'sten  silbe:  mis- 
bandeln,  vgl.  willfahren,  das  anerkannt  willfähren  zu  lauten  hat 
wie  mishändeln. 

Das  alles  bestätigt,  dasz  es  eine  einheitliche  deutsche  aus- 
spräche —  auch  von  der  mundart  abgesehen  —  noch  nicht  gibt, 
mit  freuden  ist  es  darum  zu  begrüszen,  dasz  der  allgemeine  deutsche 
Sprachverein  auf  seiner  letzten  hauptversammlung  am  7  und  8  juni 
1897  auf  antrag  des  prof.  Erbe  in  Stuttgart  beschlossen  hat,  die 
pflege  der  ausspräche  des  deutschen  in  die  band  zu  nehmen. 

Plauen  im  Vogtlande.  H.  Schullee. 


33. 

lateinische  lese-  und  übungsbücher  für  sexta  bis  tertia.  von 
Ph.  Kautzmann,  K.  Ppafp  und  T.  Schmidt,  vierter 
teil:  für  TERTIA.    Leipzig,  B.  G.  Teubner.    1897.    214  s. 

Der  vierte,  für  die  beiden  tertien  bestimmte  teil  der  lat.  Übungs- 
bücher von  Kautzmann,  Pfaflfund  Schmidt  (vgl.  n.  jahrb.  1892  hft.  3 
und  12,  1894  hft.  6)  enthält  auf  159  Seiten  204  Übungsstücke,  von 
denen  92  auf  untertertia  (s.  1—69)  und  112  auf  obertertia(s.  73—159) 
entfallen,  den  schlusz  des  buches  bilden  das  vocabularium  mit  etwa 
4000  Wörtern  und  redensarten  (s.  160  —  209)  und  ein  Verzeichnis 
von  264  eigennamen  (s.  210 — 214).  der  untertertiateil  behandelt 
in  sechs  abschnitten  folgendes  grammatische  pensum:  §  1  die  nomi- 
nalen verbalformen  (inf. ,  acc.  c.  inf. ,  nom.  c.  inf. ,  partic. ,  gerund., 
gerundiv.,  sup,).  §  2  final-  und  consecutivsätze  nebst  der  hauptregel 
über  die  consecutio  temporum.  §  3  temporalsätze  und  insbesondere 
Sätze  mit  cum.  §  4  raodi  in  hauptsätzen.  §  5  u.  6  Wiederholung  der 
casuslehre,  der  räum-  und  Zeitbestimmungen,  vorstehendes  gramma- 
tische pensum  wird  zunächst  an  einzelsätzen  eingeübt,  welchen  dann 
zusammenhängende  stücke  folgen,  deren  stoff  zum  grösten  teile 
Caesars  bell.  G.  (lib.  I — IV)  entnommen  ist.  eingeschlossen  in  diese 
Caesarscripta  sind  besonders  abschnitte  über  römisches  kriegswesen 
(das  Verpflegungswesen  im  römischen  beere  nr.  37 — 38,  der  festungs- 
krieg  der  Römer  nr.  39  —  42 ,  die  märsche  des  römischen  heeres 
nr.  53 — 55);  dazu  kommt  die  geschichte  Massilias  (nr.  6 — 10),  des 
groszen  und  kleinen  St.  Bernhard  (nr.  59  —  66)  und  Britanniens 
unter  den  römischen  kaisern  (nr.  88 — 92). 

In  dem  teile  für  obertertia  v^rerden  nachstehende  grammatische 
regeln  eingeübt:  §  7  die  tempora  des  indicativs  in  nebensätzen. 
§  8  die  tempora  des  conjunctivs  in  nebensätzen.  §  9  die  frage- 
sätze.  §  10  die  causalsätze  (final-  und  consecutivsätze).  §  11  die 
condicionalsätze.  §  12  bedingte  Wunschsätze,  comparativ-  und  con- 
cessivsätze.  §  13  die  relativsätze.  §  14  oratio  obliqua.  dazu:  §  15 
zur  Wiederholung  der  gesamtsyntax. 


W.  Poetzsch:  anz.  v.  Kautzmann,  Pfaflf  u.  Schmidt  lat.  Übungsbücher.  585 

Alle  diese  regeln  werden  in  gleicher  weise  wie  in  Untertertia 
zunächst  durch  einzelsätze,  sodann  durch  zusammenhängende  stücke 
mit  anlehnung  an  Caesars  bell.  G.  eingeübt  (bes.  üb.  I.  IV.  VI — VII). 
als  dankenswerte  zugaben  sind  zu  begrüszen  die  ergänzung  von 
Caesars  bericht  über  die  culturzustände  bei  Kelten  und  Germanen 
auf  grund  anderer  quellen  (nr.  137  — 156)  sowie  die  dem  ganzen 
beigefügte  Charakteristik  Caesars  als  feldherrn  und  Staatsmannes  auf 
grundlage  der  commentarien  (nr.  197  —  204). 

Hiernach  bieten  die  herren  Verfasser  in  dem  vierten  teile  ihrer 
Übungsbücher  einen  reichen  grammatischen  und  Übersetzungsstoff, 
doch  glaubt  referent,  dasz  dieser  innerhalb  zweier  jähre  ohne  grosze 
Schwierigkeiten  und  Überanstrengung  der  schüler  wird  bewältigt 
werden  können :  freilich  wird  auch  hier  erst  die  erfahrung  das  aus- 
schlaggebende urteil  bieten,  die  unter-  und  Obertertianer  haben  nach 
Stegmanns  lat.  schulgr. ,  wenn  diese  an  erster  stelle  wegen  ihrer 
weiten  Verbreitung  genannt  werden  darf,  je  ungefähr  30  Seiten  neues 
zu  dem  früheren  zu  lernen,  wozu  dann  noch  für  untertertia  Wieder- 
holung der  casuslehre  und  für  obertertia  gesamtwiederholung  der 
Syntax  zu  rechnen  sind. 

Besser  wäre  es  freilich  nach  des  referenten  unmaszgeblicher 
ansieht,  wenn  die  systematische  behandlung  der  casuslehre  wegen 
ihrer  Schwierigkeiten  erst  in  untertertia  vorgenommen  würde,  so 
dasz  dadurch  allerdings  einige  für  die  tertien  bis  jetzt  bestimmte 
grammatische  regeln  für  untersecunda  aufgespart  werden  müsten 
(oratio  obliqua),  was  aber  sicher  nichts  schaden  würde,  so  verfährt 
man  auch  bei  uns  in  Sachsen  nach  der  lehr-  und  Prüfungsordnung 
für  gymnasien  vom  28  Januar  1893,  anders  in  Preuszen ,  vgl.  lehr- 
pläne  u.  lehraufgaben  f.  d.  h.  schulen,  W.  Hertz,  Berlin  1893, 
s.  24 — 27,  wonach  sich  die  herren  Badener  insbesondere  gerichtet 
zu  haben  scheinen,  wenn  nun  nach  erledigung  des  einen  oder  andern 
abschnittes  des  grammatischen  pensums  eine  pause  eintritt  und  in- 
zwischen früher  durchgearbeitetes  wiederholt  wird,  in  der  weise, 
dasz  auch  hierin  eine  planmäszige  Verteilung  vorgenommen  und  diese 
streng  durchgeführt  wird,  so  läszt  sich  wohl  der  von  den  badischen 
herren  verarbeitete  grammatische  stoff  bequem  bewältigen,  das- 
selbe gilt  auch  von  den  92  Übungsstücken  für  untertertia  und  den 
112  abschnitten  für  obertertia,  wonach  auf  beide  classen  etwa  je 
drei  Übungsstücke  wöchentlich  entfallen,  welche  der  lehrer  überdies 
in  manigfacher  weise  zur  erreichung  der  nötigen  grammatischen 
Sicherheit  ausbeuten  kann,  namentlich  was  die  'zumeist  geschicht- 
lichen quellen  entnommenen'  einzelsätze  in  nr.  1  —  5.  24.  34.  55. 
93.  100.  107.  112.  121.  130.  134  betrifft,  mit  recht  haben  die 
herren  amtsgenossen  dieses  hilfsmittel  nicht  verschmäht  wie  im 
dritten  teile  ihrer  Übungsbücher,  ein  mangel,  auf  den  wir  in  den 
n.  Jahrb.  1894  6s  heft  s.  286  hingewiesen  haben,  ja,  man  könnte  ein 
mehr  solcher  einzelsätze  wünschen ,  so  vor  allem  in  den  ersten  ab- 
schnitten, welche  sich  mit  der  einübung  der  nominalen  verbalformen 

N  .Jahrb.  f.  phil  u.  päd.  II.  abt.  1897  hft.  12.  38 


586  W.  Poetzsch:  anz.  v.  Kautzmaan,  Pfaff  u.  Schmidt  lat.  Übungsbücher. 

beschäftigen,  ob  überhaupt  gerade  dieses  doch  nicht  leichte  capitel 
als  anfangspensum  einer  untertertia  wird  vollständig  erledigt  wer- 
den können,  erscheint  wohl  mindestens  zweifelhaft,  ja  bedenklich 
angesichts  der  manigfachen  hier  sich  bietenden  Schwierigkeiten, 
unter  allen  umständen  musz  demnach  gerade  dieser  abschnitt  der 
Syntax  am  ende  des  obertertianerpensums  nochmals  gründlich  wieder- 
holt und  ergänzt  werden,  so  kann  vor  allem  bei  behandlung  des 
participiums  die  wiedergäbe  der  sätze  mit  'ohne  dasz,  ohne  zu,  da- 
durch dasz'  (die  beiden  letzten  Wendungen  nur  einmal  in  nr.  4, 
Ir  und  lOr  satz)  u.  a.  m.  eingehend  erörtert  und  fleiszig  geübt  wer- 
den (s.  Stegmann,  schulgr.  §  193c — e).  hierbei  mag  auch  hin- 
gewiesen werden  auf  die  zahlreichen  in  die  Übungsstücke  auf- 
genommenen verbalsubstantiva  auf  ung,  die  namentlich  oft  zu 
Überschriften  verwendet  worden  sind,  ob  diese  die  schüler  ohne 
weiteres  und  ohne  anleitung  immer  richtig  übersetzen  werden ,  ist 
doch  mindestens  zweifelhaft,  als  beispiele  hierfür  mögen  dienen: 
handelsbeziehung  (nr.  6),  forschungsreise  (nr.  7),  gründung  (nr.  8), 
erschlieszung  (nr.  59),  anschauung  (nr.  74),  landungsversuch  (nr.  80), 
Vereitelung  (nr.  171),  ausbreitung  (nr.  186)  usw.  man  wird  daher 
die  schüler  im  voraus  darauf  aufmerksam  machen  müssen,  dasz  der- 
artige hauptwörter  sowie  noch  manche  andere  zu  titeln  der  ein- 
zelnen abschnitte  benutzten  ausdrücke  meist  durch  verbale  Wen- 
dungen wiederzugeben  sind,  man  kann  vielleicht  hierbei  ausgehen 
von  dem  Substantiv  'Vorbereitung'  und  verweist  dabei  auf  das  voca- 
bularium  s.  204,  wo  zu  lesen  ist:  die  zum  auszug  nötigen  Vorberei- 
tungen treffen  quae  ad  proficiscendum  pertinent,  comparare;  sich 
mit  den  Vorbereitungen  aufhalten  in  rebus  administrandis  morari. 
hierzu  läszt  man  nun  noch  ähnliche  beispiele  bilden  und  leitet  auf 
diese  weise  die  zöglinge  zur  Übersetzung  scheinbar  schwerer  aus- 
drücke an,  wie  solche  in  den  Übungsstücken  und  den  dazu  ge- 
hörigen aufschriften  vorkommen  (vgl.  auch  Stegmann,  schulgr. 
§  195—197). 

Die  Übungsaufgaben  selbst  sind  trotz  unmittelbaren  anschlusses 
an  Caesars  b.  G.  nicht  so  bequem  vorbereitet  und  bieten  kein 
lateinisch-deutsch,  das  der  schüler  mühelos  in  die  fremde 
Sprache  übertragen  kann;  vielmehr  müssen  manche  Schwierigkeiten 
überwunden  werden ,  was  den  schülern  nach  längerem  gebrauche 
des  buches  und  unter  geschickter  leitung  des  lehrers  sicherlich  ge- 
lingen wird,  lectüre  und  grammatik  sind  somit  vorteilhaft  ver- 
bunden und  ergänzen  einander,  wir  haben  es  also  mit  keiner  den 
Zögling  ermüdenden  paraphrase  des  Schriftstellers  (keiner  paraphra- 
sierenden  wiederkäuung,  wie  Dettweiler  sich  ausdrückt  in  seinem 
buche  'didaktik  und  methodik  des  lateinischen  Unterrichts'  s.  181, 
Sonderabdruck  aus  A.  Baumeisters  'handbuch  der  erziehungs- 
und  Unterrichtslehre  für  höhere  schulen',  München  1895)  zu  thun, 
um  so  weniger,  da  die  Verfasser  auch  andere  litterarische  und 
monumentale  quellen  zur  ergänzung  von  Caesars  darstellung  heran- 


W.  Poetzsch:  anz.  v.  Kautzmanu,  Pfaff  u.  Schmidt  lat.  Übungsbücher.  587 

gezogen  und  einige  mittelbar  mit  dem  inhalte  der  denk  Würdigkeiten 
über  den  gallischen  krieg  im  Zusammenhang  stehende  geschichtliche 
Stoffe  eingefügt  haben,  es  sei  in  dieser  beziehung  nur  hingewiesen 
auf  die  geschichte  Massilias  (nr.  6 — 10),  des  groszen  und  kleinen 
St.  Bernhard  (nr.  59  —  66)  und  Britanniens  unter  den  römischen 
kaisern  (nr.  88 — 92).  die  arbeiten  sind  sonach  inhaltlich  eine  Zu- 
sammenfassung und  ergänzung  des  gelesenen,  doch  möchte  viel- 
leicht dem  einen  oder  andern  fachgenossen  die  ausschlieszliche 
beschäftigung  mit  dem  gegenstände  'Caesars  gallischer  krieg 
und  verwandtes'  während  mehrerer  jähre  weniger  sympathisch  sein, 
da  diese  dem  eifer  des  schülers  eintrag  thun  könnte,  dies  zugegeben, 
dürfte  es  auch  nicht  schwer  sein,  hier  abhilfe  zu  schaffen,  wenn  am 
ende  der  beiden  tertiaabschnitte  sich  Übungsstücke  anschlössen, 
welche  allgemeine  erörterungen  der  politischen  läge,  betrachtungen 
über  die  Verhältnisse  in  Rom  u.  a.  m.  in  form  von  briefen,  reden 
usw.  enthielten,  der  an  letzter  stelle  unseres  buches  gebotene  ab- 
schnitt (Charakteristik  Caesars  nr.  192 — 204)  ist  ja  von  solch  all- 
gemeiner art,  darum  mit  freuden  zu  begrüszen,  aber  nicht  aus- 
reichend, vielleicht  entschlieszen  sich  die  herren  Verfasser,  bei 
bearbeitung  einer  neuen  aufläge  ihres  buches  diesem  ausgesprochenen 
wünsche  rechnung  zu  tragen,  im  übrigen  aber  erfüllen  die  204 
Übungsstücke  die  unumstöszliche  forderung,  dasz  sie  sich  im  Sprach- 
schatz an  den  lateinischen  lehrstoff  in  rechter  weise  anschlieszen, 
den  die  schüler  zugleich  mit  der  befestigung  der  syntaktischen  regeln 
gleichzeitig  wiederholen  und  so  sich  fester  aneignen. 

Im  nachstehenden  mögen  einige  wünsche  bezüglich  mehrerer 
textesänderungen  geäuszert  werden,  welche  in  einer  später  sich 
nötig  machenden  neuauflage  unseres  buches  berücksichtigt  werden 
könnten. 

In  nr.  1  satz  13  wirkt  störend  das  doppelte  'wider  —  wieder', 
dafür  kann  es  heiszen:  nach  dem  abzuge  der  P.  begann  man  gegen 
den  willen  der  Sp.  die  stadtmauer  wieder  aufzubauen,  ebenso 
kann  der  gleichklang  vermieden  werden  in  dem  satze:  er  befaszte 
sich  mit  der  abfassung  von  büchern  (nr.  199),  wenn  man  sagt: 
'er  beschäftigte  sich  . .  ,'  unter  berücksichtigung  der  in  das  Wörter- 
buch aufgenommenen  Wendungen  studere  (operam  nävare)  alicui 
rei  s.  167.  in  nr.  2  s.  2  heiszt  es  besser:  'bekanntlich  (vgl.  Steg- 
mann, schulgr.  §  189,  3:  der  Inhalt  dieses  paragr.  musz  doch  den 
Schülern  bereits  bekannt  sein)  sandte  Marcellus  nach  der  erobe- 
rung  vonSyrakus  die  kunstschätze  dieser  stadt  nach  Rom'  an- 
statt: es  ist  bekannt,  dasz  M.,  nachdem  er  S.  e.  h.,  d.  k.  .  .  , 
sandte,  um  im  3n  satze  derselben  nr.  die  Wiederholung  der  form 
'seien'  unmittelbar  hinter  'seien'  zu  vermeiden,  setzen  wir  lieber 
einmal  'wären'  und  bilden  den  satz  so :  Perikles  erklärte,  diejenigen, 
welche  für  das  Vaterland  gefallen  wären,  seien  unsterblich  wie  die 
götter.  mehr  anklang  fände  vielleicht  folgende  fassung  des  satzes: 
P.  e.,  dasz  die  für  d.  v.  gefallenen  unsterblich  wären  wie  die  götter, 

38* 


588  W.  Poetzsch :  auz.  v.  Kaatzmann,  Pfaff  u.  Schmidt  lat.  Übungsbücher. 

so  dasz  dieser  satz  in  nr.  4  eingefügt  und  so  in  Übereinstimmung 
mit  Stegmann,  scbulgr.  §  193  anm.  Ic  gebracht  werden  könnte, 
übrigens  wenden  die  herren  Verfasser  oft  den  conj.  präs.  an,  wo 
doch  der  conj.  impf,  vorzuziehen  ist.  man  vergleiche  hiernach  in 
demselben  abschnitte  die  Sätze  5.  7.  9.  11  und  auch  andere  Übungs- 
stücke, in  nr.  2  satz  11  musz  es  heiszen:  er  griff  die  Punier 
an  —  anstatt  *er  machte  einen  angriff  auf  d.  P,',  und  dem  ent- 
sprechend ist  zu  ändern  in  den  nrn.  111  und  164  unseres  buches. 
im  7n  satze  der  3n  nr.  lesen  wir:  .  .  .  den  Athenern  wurde  befohlen, 
räche  an  ihnen  zu  nehmen,  referent  ist  bezüglich  der  letzten 
ausdrucksweise  der  ansieht,  dasz  die  lateinische  wendung  hier- 
für dem  tertianer  aus  der  casuslehre  bekannt  sein  musz,  sie  also 
in  das  vocabularium  aufzunehmen  nicht  nötig  war  (s.  s.  191).  so 
ist  beispielsweise  auch  'übertreffen'  nicht  in  das  Wörterbuch  auf- 
genommen, sicherlich  mit  beziehung  auf  Stegmanns  schulgr.  §  122 
anm.,  die  ja  die  badischen  herren  an  erster  stelle  im  äuge  haben  (vgl. 
daselbst  §  119). 

In  den  sätzen  'Alcibiades  weigerte  sich  nicht,  das  beer  zu  ver- 
lassen, aber  anstatt  nach  Athen  zurückzukehren,  begab  er 
sich  .  .  .  (nr.  24,  16)  —  weit  entfernt,  .  .  .  sich  einzulassen, 
flohen  ihre  häuptlinge  (nr.  36)  —  anstatt  zu  gestehen,  was 
die  Ursache  ihrer  furcht  sei  (besser:  anstatt  die  Ursache  ihrer 
f.  ZU  g.),  erklärten  sie  vielmehr  (nr.  103)  —  die  adeligen, 
weit  entfernt,  s.  plan  zu  billigen,  vertrieben  ihn  .  .  . 
(nr.  160)  —  aber  weit  entfernt,  sich  über  ihr  los  zu  beklagen, 
"baten  die  Soldaten  Caesar  vielmehr  (nr.  166)'  u.  ä.  haben  die 
Verfasser  doch  zweifelsohne  die  wendung  tantum  abest  ut  —  ut  im 
sinne,  die  aber  Stegmann  mit  recht  gar  nicht  in  seine  grammatik 
aufgenommen  hat  (vgl.  §  232  u.  233),  ebenso  wenig  H.  J.  Müller, 
wenn  man  dessen  praktische  grammatik  zu  Ostermanns  Übungs- 
büchern, Leipzig  1896,  B.  G.  Teubner,  vergleichsweise  heranziehen 
darf  (s.  §  211  —  218).  da  diese  wendung  weder  bei  Caesar  noch 
bei  Sallust  noch  bei  Nepos ,  bei  Cicero  zwar  öfter,  bei  Livius  un- 
gefähr siebenmal  sich  findet,  so  liegt  auch  kein  grund  vor,  sie  ferner- 
hin noch  in  die  schulgrammatiken  (doch  vgl.  E.-S.  §  236  anm.  1) 
aufzunehmen  und  mit  der  einübung  derselben  die  schüler  zu  quälen 
und  damit  kostbare  zeit  zu  opfern,  wegen  mangelnder  stütze  im 
lehrstoffe  der  mittleren  classen  werden  die  eben  besprochene  wie 
noch  so  manche  andern  Wendungen  nicht  behandelt  oder  doch  nicht 
zum  hinübersetzen  eingeübt,  sondern  meist  nur  gelegentlicher,  'be- 
obachtender' oder  späterer  behandlung  bei  der  lectüre  überlassen. 
es  mag  hierbei  auszer  anderem  erinnert  sein  an  besonderheiten  wie: 
in  eo  est,  ut;  sequitur,  proximum  est,  restat  ut;  adeo  non,  ita  non, 
ut  (so  wenig,  dasz),  nisi  quod,  nisi  vero  und  nisi  forte,  sin  aliter,  si 
minus  u.  a.  m.  ne  quid  nimis!  gerade  für  unsere  zeit  ist  eine  be- 
schränkung  in  grammaticis  von  vorteil  und  eine  Vertiefung  der 
schi-iftstellerlectüre    durchaus  notwendig  (vgl.  Dettweilers  did. 


W.  Poetzsch:  anz.  v.  Kautzmann,Pfaff  u.  Schmidt  lat.  Übungsbücher.  589 

s.  149).  darum  können  alle  die  sätze  unseres  Übungsbuches,  welche 
auf  anwendung  von  tantum  abest  ut  —  ut  zugeschnitten  sind,  auf 
der  tertianerstufe  ruhig  wegbleiben ,  oder  sie  müssen  umgeändert 
werden. 

Der  anfang  des  17n  satzes  in  nr.  24  lautet:  obgleich  Alcibiades 
durch  seine  ratschlage  den  Spartanern  von  groszem  nutzen 
war;  dafür  'nicht  geringen  nutzen  bereitete'  oder  'sehr  nützte'  oder 
'zu  groszem  nutzen  diente*,  wonach  auch  im  vocabularium  s.  189 
die  beigefügte  Übersetzung  von  magno  usui  esse  zu  ändern  ist. 
ebenso  wenig  darf  es  im  ISn  satie  derselben  nummer  heiszen : 
Cimon  war  von  so  groszer  freigebisrkeit,  sondern:  C.  be- 
sasz  s.  gr.  fr,  ebenda  nicht  'um  die  fruchte  zu  bewachen'  sondern 
'um  das  obst  zu  hüten',  ist  nicht  kürzer  zu  sagen :  aufgegebenes 
zeichen  bemühten  sich  die  Soldaten  den  graben  auszufüllen,  an-* 
statt:  sobald  das  zeichen  gegeben  worden  war  (nr.  39)? 
danach  ist  wohl  auch  zu  ändern:  wenn  das  erste  signal  .  .  .  gegeben 
worden  war  (nr.  54)  und:  als  Eom  v.  d.  G.  verbrannt  worden 
war  .  .  .  (nr.  55,  12).  nicht  besonders  gefallen  dürfte  der  I5e  satz 
in  nr.  43:  Hannibal  kehrte  36  jähre,  nachdem  er  seine  heimat  ver- 
lassen hatte,  dahin  zurück,  in  nr.  47  möchte  referent  lieber  lesen: 
dichte  hecken  versjDerrten  den  freien  überblick,  anstatt:  d.  h.  be- 
nahmen die  aussieht,  mit  berücksichtigung  der  feststehenden  Wen- 
dung prospectum  impedire,  die  übrigens  auf  s.  203  des  vocabula- 
riums  bei  'versperren'  nachzutragen  sein  wird,  in  nr.  57  musz  es 
einfach  heiszen:  gewaltthaten  von  euren  nachbarn  fürchtet  nicht 
für:  g.  von  selten  eurer  n.  f.  n. ;  denn  dieses  wort  musz  man  als 
eine  geschmacklose  neuerung  betrachten,  die  nicht  nachahmenswert 
ist  (vgl.  hierüber  Th.  Matthias,  sprachleben  und  Sprachschäden, 
2e  aufl.,  Leipzig  1897,  Fr.  Brandstetter  s.  156,  sowie  dessen  kleinen 
Wegweiser  durch  die  Schwankungen  und  Schwierigkeiten  des  deut- 
schen Sprachgebrauchs,  Leipzig  L.  Richter  1896,  §  33,  13).  am 
ende  des  99n  Übungsstückes  würde  referent  geschrieben  haben:  er 
wird  erfahren,  was  unbesiegte  Germanen  zu  leisten  im  stände 
(fähig)  sind,  anstatt:  was  sie  vermögen,  die  zweimal  un- 
mittelbar hintereinander  folgende  conjunction  'als'  im  9n  satze  des 
107n  abschnittes  wirkt  störend,  ebendaselbst  möchte  folgender 
satz  geändert  werden:  als  die  freunde  fragten,  was  die  Ursache 
hiervon  sei,  antwortete  er  .  .  ;  dafür:  als  d,  fr.  nach  der  Ur- 
sache hiervon  fragten,  in  nr.  120  —  schluszsatz  —  ist  zu 
streichen  'unsterblichem',  wofür  auch  'groszem'  genügt,  im  122a 
abschnitte  unseres  übung.sbuches  findet  sich  der  satz:  so  wurden 
z.  b.  die  üsipeter  und  Tenkterer  von  den  Sueben,  nachdem  sie 
lange  deren  ansturm  widerstanden  hatten,  .  .  .  vertrieben,  statt 
dieser  fassung  wird  vorgeschlagen:  so  wurden  .  .  .  Sueben,  deren 
ansturm  sie  1.  w.  h.,  v.  —  Das  dem  deutschen  sympathischere 
activum  an  stelle  des  passivums  ist  z.  b.  im  folgenden  satze  vor- 
zuziehen: als  er  daher  hörte,  dasz  von  den  Sueben,  die  .  .  .,  den 


590  W.  Poetzsch :  anz.  v.  Eautzmann,  Pfaff  u.  Schmidt  lat.  Übungsbücher, 

Treverern  hilfstruppen  geschickt  worden  seien,  beschlosz 
er,  ...  wir  sagen  in  diesem  falle:  als  er  daher  hörte,  dasz  die 
Sueben  .  .  .  den  Treverern  h.  geschickt  hätten,  .  .  ;  der  passi- 
visch gegebene  satz  (nr.  133)  läszt  zu  sehr  das  lateinische  erraten: 
ab  Suebis  auxilia  missa  esse  nach  b.  G.  VI  e.  9. 

Nicht  selten  wenden  die  badischen  amtsgenossen  in  ihrem 
Übungsbuche  den  artikel  vor  eigennamen  im  gen.,  dat.  und  accus. 
an ,  wo  er  nicht  nötig  ist.  es  mag  hier  zur  erhärtung  des  gesagten 
nur  hingewiesen  werden  auf  folgende  beispiele:  dem  Orgetorix 
(nr.  12),  dem  Cassivellaunus  (nr.  86),  dem  Labienus  e.  legion 
geben,  den  Acco  hinrichten  (nr.  158),  dem  Convictolitavis  (nr.  173), 
d  en  Vercingetorix  zu  täuschen  (nr.  174),  d  em  Vercingetorix  (nr.l77), 
unter  führung  des  Ariovist  (nr.  25)  für  'unter  Ariovists  führung' 
in  Übereinstimmung  mit  'Ariovists  antwort'  (nr.  99),  'die  forderung 
Ariovists'  (nr.  108),  'Ariovists'  reiter  (nr.  111)  usw.  hiernach 
könnte  man  auch  in  einklang  bringen  'unter  Tib.  Claudius'  regie- 
rung'  für  'unter  d.  r,  des  T.  Cl.'  (nr.  88)  mit  'Crassus'  feldzug' 
nach  Aquitanien  (s.  52),  wo  der  apostroph  zur  bezeichnung  des  gen. 
mit  recht  angewendet  ist. 

Endlich  erlaubt  sich  referent  auf  den  3n  satz  der  199n  Übung 
hinzuweisen,  in  welchem  doch  zu  viel  behauptet  sein  dürfte,  wenn 
es  dort  heiszt:  von  demselben  (Caesar)  wissen  wir,  dasz  er,  wäh- 
rend er  die  schwersten  kriege  führte,  mit  dem  grösten  eifer 
erforschte,  welche  einrichtungen  und  sitten  die  einzelnen  stamme 
Galliens,  Britanniens  und  Germaniens  hätten,  bei  weitem  dank- 
barer würden  wir  sicherlich  dem  lömischen  feldherrn  sein,  wenn  er 
in  seine  comraentare  ausführlichere  und  zuverlässigere  berichte  über 
Staatseinrichtungen,  sitten,  gebrauche  usw.  der  von  ihm  betretenen 
länder,  so  vor  allem  Deutschlands,  eingeflochten  hätte. 

Was  die  einrichtung  des  Wörterbuches  betrifft,  so  sind  den  Sub- 
stantiven der  genetiv,  den  verben  die  Stammformen  hinzugefügt, 
wo  die  Schüler  irgendwie  im  zweifei  sein  können;  z.  b.  holus,  eris, 
n.  d.  gemüse  (s.  178),  supellex,  ectilis  hausgerät  (s.  180),  petäsus,  i 
hut  (s.  182)  rotula,  ae  rolle  (s.  192),  culctta,  ae  matratze  (s.  186), 
übrigens  Wörter,  die  in  Caesars  Schriften  nicht  vorkommen,  ferner: 
attexere  anwehen  (attexui,  attextum  s.  262),  subluere  bespülen 
(subluo,  sublui  s.  167),  ex^erere  entblöszen  (-serui,  sertum  s.  172)- 
u.  a.  m.  vermiszt  hat  unterzeichneter  die  Stammformen  bei  detegere 
und  pandere  (s.  163),  conserere  (s.  167  u.  171).  die  dem  bell.  Afr. 
c.  89  entlehnte  redensart  obvium  fieri  (s.  165)  kann  neben  occurrere 
wegbleiben,  'lebewohl  sagen  jmdm.'  ultimum  persalQtare  aliquem  ist 
wohl  besser  wiederzugeben  mit  'salutem  dicere  alicui  oder  valere 
aliquem  iubere'.  der  technische  ausdruck  'den  Überzug  entfernen* 
heiszt  nach  bell.  G.  II  21  tegimentum  detrüdere  (-si,  sum)  anstatt 
t.  deträhere  (s.  199),  indem  jenes  zur  veranschaulichung  der  eile  an 
der  angeführten  stelle  besonders  geeignet  erscheint,  bei  aufführung 
der  einzelnen  redewendungen  sind  die  herren  Verfasser  nicht  immer 


W.  Poetzsch:  anz.  v.  Kautzmann,  PfafF  u.  Schmidt  lat.  Übungsbücher.  591 

gleichmäszig  verfahren ;  denn  bald  findet  man  den  zur  Übersetzung 
nötigen  ausdruck  beim  verbum,  bald,  besser  meist  beim  sub- 
stantivum.  zum  beweise  des  gesagten  mag  angeführt  werden: 
'd.  glieder  öffnen,  e.  graben  ziehen'  liest  man  richtig  bei  den  be- 
treffenden Zeitwörtern,  aber  wie  oft  musz  der  schüler  zweimal 
nach  dem  gerade  notwendigen  ausdrucke  suchen!  fragt  er  sein 
Wörterbuch  doch  dort  um  rat,  wo  er  das  ihm  unbekannte  wort  zu 
finden  hofft,  so  liest  er  in  seinen  Übungsstücken:  d.  hasz  schüren, 
Sorgfalt  zuwenden,  einer  gefahr  aussetzen,  frevel  verüben,  d.  marsch 
zurücklegen,  d.  kriegszucht  lockern,  e.  gesetz  einbringen,  Streitig- 
keiten schlichten,  Untersuchung  anstellen,  felder  bestellen  u.  a.  m. 
in  allen  den  erwähnten  fällen  wird  der  schüler  sicher  die  Zeitwörter 
aufsuchen,  nicht  die  hauptwöi'ter,  deren  lateinische  bedeutung  er 
als  tertianer  kennt,  aber  hier  läszt  ihn  das  Wörterbuch  im  stiebe: 
er  musz  das  betreffende  substantivum  nachsehen,  bei  dem  er  aller- 
dings die  gewünschte  auskunft  findet,  sonach  legen  die  badischen 
amtsgenossen  in  ihrem  Vokabular  das  hauptgewicht  auf  die  substan- 
tiva,  worauf  der  lehrer  vor  dem  gebrauche  desselben  seine  zöglinge 
aufmerksam  machen  musz ,  damit  ihnen  das  aufsuchen  der  un- 
bekannten redensarten  nicht  zu  viel  zeit  kostet,  sind  hierbei  die 
herren  Verfasser'  wohl  praktisch  verfahren?  vermiszt  hat  bericht- 
erstatter  die  Wörter  'aufbauen,  ablehnen  (e.  entscheidungsschlacht 
nr.  116),  abwehr,  cultstätte,  gegenmaszregel,  festnähme,  gewerbe, 
sippe,  kunstfertigkeit,  Staatsmann,  ausführlich'  (beschreiben  nr.  189). 

In  dem  Verzeichnisse  der  eigennamen  ist  s.  211  zu  schreiben: 
Elaver,  eris ,  n.,  nicht  m.  man  vergleiche  hierzu  folgende  stellen 
aus  Caesars  b.  G.  und  zwar  1.  VII  34:  secundum  flumen  Elaver; 
ibid.  c.  53:  ad  flumen  Elaver.  zu  Trinobantes  (s.  213)  musz  die 
genetivendung  -um  beigefügt  werden,  wie  man  auf  derselben  seite 
richtig  findet  Sontiates,  -um  oder  auch  sonst  bei  weniger  bekannten 
eigennamen. 

Druck  und  ausstattung  unseres  Übungsbuches  sind  wie  die  in 
2r  aufläge  erschienenen  sexta-  und  quintateile  (vgl.  hierüber 
C.  Reth  wisch,  jahresb.  ü,  d.  b.  Schulwesen,  XI.  Jahrgang,  Berlin 
1897,  Gaertners  verlag  s.  63)  sauber  und  gefällig,  wenn  sich  die 
herren  Verfasser  eutschlieszen  können ,  in  einer  zweiten  aufläge  die 
vom  referenten  geäuszerten  wünsche  zu  berücksichtigen,  so  wird  auch 
der  letzte  teil  ihrer  Übungsbücher  ein  recht  brauchbares  Unterrichts- 
mittel zur  befestigung  des  lexikalischen  und  grammatischen  sprach- 
stoffes  in  den  mittelclassen  unserer  gymnasialanstalten  werden. 

So  wünschen  wir  zum  Schlüsse  unserer  besprechung,  dasz  sich 
auch  der  vierte  teil  der  Kautzmann-Pfaff-  und  Schmidtschen  Übungs- 
bücher, wie  seine  Vorgänger,  viele  freunde  unter  lehrern  und  schülern 
erwerben  möge. 

Döbeln.  Wilhelm  Poetzsch. 


592    Fauth:  anz.  v.  W.  Hahn  gesch.  der  poet.  litteratur  der  Deutschen, 

34. 

Werner  Hahn,  Geschichte  der  poetischen  litteratur  der 
deutschen.  dreizehnte  auflage,  herausgegeben  von  go  tt - 
HOLD  Kreyenberg.  Berlin,  verlag  von  Wilhelm  Gertz.  1897. 
358  s.   gr.  8. 

Das  bekannte  buch  von  Werner  Hahn  bedarf  eigentlich  der  an- 
zeige nicht  mehr,  aber  es  läszt  sich  heute  bei  der  I3n  aufläge  des 
weit  verbreiteten  buches  um  so  sicherer  feststellen,  dasz  sich  anläge 
und  methode  des  buches  bewährt  haben.  Hahn  hatte  als  doppelte 
aufgäbe  des  buches  hingestellt:  klarheit  in  der  anordnung  des  wich- 
tigsten und  wärme  der  darstellung.  und  das  sind  in  der  that  die  her- 
vorragendsten eigenschaften  des  buches,  die  es  besonders  dem  Schul- 
mann wertvoll  machen,  die  glückliche  band  zeigt  sich  vor  allem  darin, 
dasz  Hahn  und  der  neue  herausgeber,  der  als  bewährter  schulmann 
weithin  bekannte  Gotthold  Kreyenberg,  die  beiden  aufgaben,  knappe 
klarheit  und  warme  anschauliche  darstellung,  fein  gegen  einander 
abgewogen  und  zu  einem  harmonischen  ganzen  vereinigt  haben,  und 
gerade  diese  Vereinigung  ist  für  ein  Schulbuch  besonders  nötig  und 
doch  nicht  leicht  ausführbar,  eine  knappe  darstellung  allein  würde 
dem  Schüler  wohl  Übersichtlichkeit,  aber  kein  ausreichendes  material 
zur  Wiederholung  und  zu  dem  durch  die  lehrpläne  geforderten  zu- 
sammenhängenden vortragen  geben;  dem  schüler  es  zu  überlassen, 
sich  dieses  material  zu  suchen,  hat  mancherlei  bedenken,  auf  der 
andern  seite  ist  es  nicht  möglich,  dem  schüler  im  buche  all  den  stoff, 
den  das  buch  charakterisiert,  originaliter  in  die  band  zu  geben,  dem 
lehrer  musz  ja  dieser  stofiF  zugänglich  sein,  er  musz  ihn  aus  eigner 
anschauung  kennen  und  ihn  unter  umständen  auch  vorführen,  so 
bleibt  also  für  ein  gutes  Schulbuch  der  deutschen  litteratur  die  auf- 
gäbe, zwischen  den  beiden  genannten  aufgaben  die  richtige  mitte 
zu  halten,  das  ist  in  diesem  buche  meiner  meinung  nach  geschehen. 
und  Kreyenberg  hat  die  lösung  der  aufgäbe  noch  in  glücklicher 
weise  gefördert,  indem  er  der  überbichtlichkeit  und  des  straffen  ge- 
dankenganges  halber  manche  kürzungen  vorgenommen  und  so  das 
buch  auch  neuern  pädagogischen  forderungen  noch  genähert  bat, 
indem  er  anderseits  wertvolle,  die  anschaulichkeit  fördernde  er- 
gänzungen,  die  im  text  die  Übersichtlichkeit  gestört  hätten,  in  an- 
merkungen  hinter  dem  text  darbietet,  dadurch  ist  das  buch  in  er- 
höhtem masze  auch  zu  einem  haus-  und  nachschlagebuch  geworden, 
dasz  es  sich  frei  von  den  noch  ungeklärten  tagesströmungen  hält, 
ist  ein  weiterer  vorzug,  während  es  dadurch,  dasz  es  in  der  neuen 
aufläge  auch  neuere  anerkannte  dichter  berücksichtigt,  nicht  nur 
dem  bedürfnisse  des  hauses,  sondern  auch  den  forderungen  der  schule 
entgegen  kommt. 

Höxter.  Fauth. 


P.  Vogel:  anz.  v.  P.  Merkes  vom  gebrauch  des  infinitivus  im  nhd.    593 

35. 

P.  Merkes,  beitrage  zur  lehre  vom  gebrauch  des  infinitivus 

IM  NEUHOCHDEUTSCHEN  AUF  HISTORISCHER  GRUNDLAGE.     ERSTER 

TEIL.    Leipzig,  J.  H.  Robolsky.    1896. 

Der  verf.  bezeichnet  sein  buch  als  eine  erste  Vorarbeit  für  eine 
'ausführlichere  grammatik  der  deutschen  spräche  auf  historischer 
grundlage'.  er  behandelt  eingehend  (168  s.)  den  infinitiv  als  teil 
einer  umschriebenen  zeitform:  ein  in  aussieht  gestellter 
zweiter  teil  würde  dann  dem  infinitiv  als  selbständigem  satzteil 
gewidmet  sein. 

Nachdem  verf.  die  einrechnung  des  infinitivs  unter  die  modi 
(s.  6 — 9)  und  seine  bezeichnung  ak  supinura  (s.  12 — 13)  (Becker, 
Kehrein,  Wetzel  u.  a.)  als  unrichtig  zurückgewiesen,  ferner  die  so- 
genannten infinitivi  futuri  (lesen  werden,  werden  gelesen  werden, 
werden  gelesen  haben,  werden  gelesen  worden  sein)  (s.  9  — 11)  als 
undeutsche  formen  hingestellt  hat,  die  nur  als  äquivalente  der  classi- 
schen  infinitivi  futuri  gebildet,  demnach  aus  den  deutschen  gramma- 
tiken  endgültig  zu  streichen  seien,  —  spricht  er  A.  (s.  14  —  30)  von 
der  Verwendung  des  infinitivs  zur  Umschreibung  der  dem  Germani- 
schen von  jeher  fehlenden  form  des  einfachen  futurums:  ich 
werde  schreiben  (geschrieben  haben),  verf.  wendet  sich  hier  be- 
sonders gegen  die  verbreitete  ansieht,  dasz  diese  merkwürdige  Zu- 
sammenstellung aus:  ich  werde  schreibend  hervorgegangen  sei, 
und  betrachtet  seinerseits  'schreiben'  als  ursprünglichen  infinitiv 
(s.  15 — 20).  indem  verf.  ferner  bedauert,  dasz  ein  imperfectum 
futuri  (ich  ward  schreiben),  zu  welchem  ansätze  (s.  22)  wirklich 
vorhanden  sind  oder  gewesen  sind,  nicht  gebildet  worden  ist,  ver- 
tritt er  für  gewisse  fälle  (bes.  im  gegensatz  zu  Wustmann)  die  be- 
rechtigung  der  Umschreibung  des  conjunctivs  durch  würde  (s.  23 
—  29),  die  durchaus  nicht  so  jungen  datums  sei,  wie  angenommen 
zu  werden  pflege,  sondern  aus  dem  16n  Jahrhundert  stamme.  —  In 
B  (s.  30 — 168)  wird  der  infinitiv  behandelt  als  Stellvertreter 
des  sonst  üblichen  participii  perfecti  zur  bildung  der  um- 
schriebenen perfectformen ,  wenn  bei  diesen  noch  irgend  ein  reiner 
infinitiv  steht  als  eine  art  abhängigen  objectes  (ich  habe  schreiben 
können),  zunächst  wird  m.  e.  mit  erfolg  polemisiert  gegen  die 
annähme  Grimms,  Lachmanns  u.  a.,  dasz  diese  scheinbaren  infinitive 
wirkliche  alte  participia  seien  (s.  31  —  41):  verf.  ist  der  ansieht, 
dasz  erst  im  14n  und  15n  Jahrhundert  sich  zunächst  die  schwachen 
participia  perfecti  zu  den  modalen  hilfszeitwörtern  gebildet  hätten; 
dann  sei  die  neigung  entstanden,  durch  syntaktische  aus- 
gleichung  dem  abhängigen  objectsinfinitiv  entsprechend  die  par- 
ticipia in  infinitive  zu  verwandeln;  allmählich  sei  die  ursprüng- 
lich fehlerhafte  form  immer  beliebter,  im  17n  Jahrhundert  und  von 
da  an  bis  heute  das  allein  gewöhnliche  und  damit  das  allein  richtige 
geworden,    es   werden  hierauf  eingehend  die  näheren   bestim- 


594   P.  Vogel:  anz.  v.  P.  Merkes  vom  gebrauch  des  infinitivus  im  nlid. 

mungen  über  diese  sprachform,  für  die  vei'f.  den  namen  parti- 
cipersatz  einführt,  erörtert  und  zwar  durchaus  auf  historischer 
grundlage;  so  wird  besonders  gesprochen  von  der  Wortstellung 
(s.  53 — 72)  desgleichen  von  fällen,  wo  der  participersatz  nicht  ein- 
tritt (z.  b.  s.  55 — 56);  weiter  wird  ausführlich  behandelt  die  aus- 
lassung  der  hilfsverba  haben  und  sein  in  nebensätzen 
(s.  72  ff.)»  die  jetzt  bei  participersatz  unmöglich  ist,  während 
feie  vom  16.  Jahrhundert  an  und  besonders  im  18n  auch  in  diesem 
falle  völlig  gäng  und  gäbe  war  (der  sogenannte  'Lessingsatz':  wenn 
er  diesen  brief  selbst  schreiben  können,  will  ich  ihn  anstellen):  im 
anschlusz  hieran  weist  Verf.  (s,  73)  Wustmanns  behauptung  zurück, 
diese  weglassung  sei  ziemlich  jungen  Ursprungs  und  werde  häufiger, 
von  s.  79 — 89  wird  angesichts  etwaiger  Schwierigkeiten  und  zur 
Vermeidung  allerdings  ziemlich  eingebürgerter  fehlformen  (wie:  er 
braucht  es  nicht  haben  thun  zu  [!]  wollen)  der  grundsatz  gewonnen, 
dasz  in  solchen  fällen  der  participersatz  oder  der  fehler  zu  umgehen 
ist  durch  anwendung  eines  casussatzes  oder  durch  einsetzung  einer 
gleichbedeutenden  redensart  für  das  modale  hilfsverbum.  —  Aus- 
führlich wird  nun  untersucht  (s.  90—145)  welche  verba  den 
participersatz  zulassen:  als  historische  quellen  hierzu  sind 
116  deutsche  Schriften  von  den  verschiedensten  Verfassern  von  1519 
— 1894  herangezogen  worden  (sie  werden  aufgezählt  s.  93  — 105). 
es  ist  unmöglich,  an  dieser  stelle  dem  verf.  in  die  einzelheiten  seiner 
eingehenden  prüfung  zu  folgen;  sein  resultat  für  die  schul- 
grammatik  ist:  den  participersatz  haben  1)  die  modalen  hilfszeit- 
wörter,  2)  sehen,  hören,  helfen,  heiszen,  brauchen;  bei  allen  andern 
ist  der  ausschlieszliche  gebrauch  des  particips  zu  empfehlen.  — 
Zum  schlusz  (s.  145  —  168  nebst  Übersichtstafel)  stellt  verf.  zu- 
sammen, was  die  grammatik  seither  über  den  participersatz 
gelehrt  hat,  und  nennt  da  ca.  25  gelehrte  von  Adelung  bis  Wilmanns 
und  Wustmann:  bei  aller  anerkennung  von  Merkes'  leistungen  will 
es  ref.  bedünken ,  als  verfiele  er  hierbei  öfters  in  einen  gar  zu  weg- 
werfenden ton. 

Es  ist  unausbleiblich,  dasz  der  verf.  in  manchen  einzelergeb- 
nissen  bei  dem  einen  fachgenossen  liier,  bei  dem  andern  da  auf 
Widerspruch  stoszen  wird :  niemand  aber  wird  den  hohen  wert  des 
fleiszigen  und  gediegenen  buches  in  zweifei  ziehen;  nicht  nur  dasz 
zahlreiche  fragen  zur  sicheren  lösung  gebracht  werden,  auch  wo 
man  Merkes  nicht  durchaus  folgen  kann,  hat  er  durch  seine  von 
den  schriftstellerischen  thatsachen  ausgehende  arbeit  zur  klärung 
wesentlich  beigetragen,  und  auch  ihm  entgegenstehende  grammatiker 
dürften  sich  durch  des  verf.  Untersuchungen  wenigstens  zu  man- 
cherlei modificationen  ihrer  bisherigen  ansichten  veranlaszt 
fühlen. 

Was  den  unterzeichneten  betrifft,  so  kann  er  sich  mit  der  wich- 
tigsten behauptung  des  teiles  A,  dasz  nämlich  'ich  werde  schreiben' 
nicht  entstanden  sei  aus  'ich  werde  schreibend'  nicht  einverstanden 


G,  Diestel :  anz.v.W.  Scheffler  wähl-  u.  waffensprüche  dtscb.  studenten.  595 

erklären,  wenn  nämlich  zunächst  verf.  den  Schwund  des  auslauten- 
den d  für  unwahrscheinlich  hält,  so  führt  er  doch  selbst  einen  beleg 
hierfür  an:  zahn  aus  zant,  nur  dasz  hier  das  t  vielleicht  schon  früher 
verloren  gegangen  ist;  auch  die  abwerfung  des  t  in  der  dritten 
person  plur.  ind.  praes.  läszt  sich  heranziehen:  denn  auch  bei  dena 
fraglichen  participium  kann  die  beseitigung  des  d  ausgleichs- 
weise (in  anlehnung  an  den  infinitiv)  erfolgt  sein,  und  wie  soll 
man  sich  nun  nach  Merkes  die  bildung  entstanden  denken  ?  zur 
Umschreibung  des  fehlenden  futurums  habe  man  vier  ausdrucks- 
weisen gehabt:  er  soll  glänzen,  er  musz  glänzen,  er  will  glänzen, 
er  wird  glänzend;  aber  bei  allen  habe  man  zu  deutlich  den  unter- 
schied zwischen  dem  zu  bezeichnenden  und  dem  bezeichneten  begriff 
empfunden,  'man  suchte  also  nach  einem  andern  deutlicheren  (?) 
hilfsmittel  zur  bezeichnung  der  zukunft  und  fand  es  in  der  Zu- 
sammenstellung von  werden  mit  dem  infinitiv  usw.'  ist  wirklich 
anzunehmen,  dasz  sprachliche  erscheinungen  so  gewissermaszen 
zielbewust  und  geflissentlich  zu  tage  gefördert  worden  sind? 
und  wenn,  sollte  man  dann  eine  thatsächlich  unrichtige,  ja  un- 
sinnige Verbindung  wie  werden  -f-  infinitiv  gewählt  haben?  —  Da- 
gegen kann  sich  ref.  durch  die  auseinandersetzungen  des  verf.  in 
teil  B ,  wenigstens  in  allen  hauptpunkten ,  für  überzeugt  erklären. 
Schneeberg  in  Sachsen.  Paul  Vogel. 


36. 

Wilhelm  Scheffler,  dr.  phil.  und  a.  o.  prop.  an  der  poly- 
technischen HOCHSCHULE  ZU  DRESDEN.  WAHL-  UND  WAFFEN- 
SPRÜCHE DEUTSCHER  STUDENTEN.  EIN  BEITRAG  ZUR  GEISTIGEN 
EIGENART     DEUTSCHEN     STUDENTENTUMES.      Leipzig,    B.   Elischer 

nachf.    1896. 

Man  mag  über  den  wert  der  akademischen  genossenschaften 
für  das  eigentliche  Studium  der  Wissenschaften  denken  wie  man  will; 
man  mag  lächeln  über  den  eifer,  mit  welchem  unsere  söhne,  obwohl 
glückselig,  den  fesseln  der  schule  entronnen  zu  sein,  sich  freiwillig 
in  die  viel  engeren  der  kameradschaft  schlagen  lassen;  man  mag 
verstimmt  sein  über  den  zopfigen,  phrasenhaften,  steifleinenen  stil, 
dessen  sich  die  akademischen  bürger  eines  so  freien  und  aufgeklärten 
Jahrhunderts  in  ihren  Zeitungsanzeigen  bedienen;  man  mag  zürnen, 
dasz  die  narben  im  antlitz  nicht  mehr  zeugnis  ablegen  von  einem 
das  leben  bedrohenden  kämpfe  für  das  vaterland,  sondern  allein  von 
der  vermeintlichen  Verteidigung  einer  in  der  hauptsache  doch  erst 
später  zu  erwerbenden  ehre;  man  mag  aufrichtig  bezweifeln,  ob 
wirklich  die  mehrzahl  von  unseren  corpsbrüdern  die  oft  gerühmte 
reife  des  Charakters  mit  in  das  leben  nehme ;   man  mag  ernstlich 


596  G.  Diestel:  anz.v.W.Scheffler  wähl- u.  Waffensprüche  dtsch.  Studenten. 

besorgt  sein ,  dasz  der  heute  übliche  trinkzwang  in  den  meisten 
Studentenverbindungen  nicht  nur  die  körperlichen  sondern  auch  die 
seelischen  kräfte  des  gesündesten  Jünglings  untergraben  müsse; 
man  darf  endlich  gar  mit  tiefstem  herzenskummer  die  bemerkung 
gemacht  haben,  dasz  aus  manchem  schönen  hoffnungsreichen  jüng- 
lingsantlitz  die  zartesten  linien,  die  von  edelstem  geist  und  Charakter 
zeugten,  nach  wenigen  Semestern  der  sogenannten  Studienzeit  ver- 
schwinden und  aufgedunsenen,  öden,  steppenhaften  flächen  platz 
machen  —  eines  aber  wird  niemand  leugnen:  dasz  die  wähl-  und 
Waffensprüche  unserer  deutschen  Studentenverbindungen  die  ganze 
tonleiter  aller  edelsten  und  würdigsten  empfindungen  und  ge- 
sinnungen  uns  zu  gehör  bringen. 

Auf  grundlage  der  fleiszigsten  und  ausgiebigsten  litteratur- 
benutzung,  der  vielseitigsten  erkundigungen  durch  vvort  und  schrift 
componiert  Seh.  in  dem  zierlichen  büchlein,  das  er  seinen  söhnen 
und  ihren  commilitonen  gewidmet  hat,  mit  allen  wünschenswerten 
geschichtlichen  und  sprachlichen  erklärungen  versehen,  eine  ganze 
Symphonie  von  deutschen  und  lateinischen  (auch  einigen  anders- 
sprachlichen) kennworten,  aus  denen  uns  der  menschheit  ganze 
würde  entgegentönt:  freiheitssinn  und  frömmigkeit,  ehrgefühl  und 
freundestreue,  kampfesmut  und  Vaterlandsliebe,  überraschend  aber 
dürfte  dem  nachdenkenden  leser  allein  erscheinen,  dasz  dem  höchsten 
ziele  alles  wissenschaftlichen  strebens,  dem  unsere  hochschulen  doch 
einmal  gewidmet  sind,  dem  unentwegten  streben  nach  erforschung 
der  Wahrheit,  mag  sie  alt  oder  neu,  erfreulich  oder  unerfreulich 
sein,  unter  den  nahezu  zweihundert  nur  ein  einziger  Wahlspruch 
ausdruck  gibt,  nur  die  katholische  Bavaria  in  Bonn  hat  das  edle 
losungswort  ' Wahrheit  im  erkennen  und  leben'  bewahrt,  das  sich 
einst  die  jetzt  aufgelöste  union  aller  katholischen  Verbindungen  ge- 
wählt hatte,  um  so  lebhafter  möchte  man  einstimmen  in  das  her- 
liche mahnvvort  des  unlängst  verstorbenen  freiherrn  von  0er,  der 
den  Studenten  der  polytechnischen  hochschule  in  Dresden ,  die  ihn 
beim  glänze  der  fackeln  als  rector  begrüszten ,  dringend  empfahl : 
pflege  des  geistes,  der  form  und  des  herzens. 

Das  anmutige  büchlein  verdient  weiteste  Verbreitung  nicht  nur 
im  kreise  der  Studenten,  sondern  aller  studierten. 

Dresden.  G.  Diestel. 


J.  Draheim :  Goethii  Arminius  et  Dorothea  Graece.  597 

37. 

GOETHII  ARMINIUS  ET  DOROTHEA  GRAECE.* 

ceutesimo  aono  transtulit 
lo.  Draheim. 


Oöttot'  ÖTTuuira  Kevriv  outuuc  dToprjV  Kai  dYUidc 

f\  TTÖXic  eKKEKopriTai  epri|ur|  •  oü  TreviriKOvia 

TrdvTUJV  eYKöTaiueTvai  6io|uai,  occoi  eveiciv. 

ujc  TToXuTrpaYlnoveoucr  xpex^i  <^£  ö^^i  te  eKacioc 

T(Lv  beiXOuv  qpuTdbuuv  cxöXov  oipöiaevoi  uapiovia. 

fi  b'  6böc,  fjv  KttTiac',  direx^i  ujpav  y€  (jaXicra* 

elra  Ge'ouci  |uecr||ußpivfiv  köviv  ouk  dX^TOvrec. 

^f]  Ydp  e'YULiYe  Kivüj|aai,  öttuuc  Karibaiiui  TTOvouvtac 

ecBXouc  cpeuYOVtac,  toi  hx]  id  KTrunar'  e'xovTec 

ouTi  KaXuuc  'Privou  xd  Tiepaia  XmövTec  euppou  10 

fiiueiepriv  dqpkovTo,  KOjuiZiovTai  be  yö^^voO 

YOUvoO  ToObe  vdirric  le  kot'  üykcu  TTOuXußoteipric. 

€0  Ye,  fvvax,  Tioiricac,  öti  rrpöcppacc'  dTTeTT6|uvj;ac 

TTttib'  öGövriv  (popeovTtt  ttotöv  citöv  t€  Tievrici 

boCivar  Ktti  Ydp  eoiKev  ötlu  ke  Geöc  iröpri  öXßov. 

u)C  YÖvoc  d)uöc  eXd,  iLc  bdjuvnc'  dpcevac  mnouc. 

KttXXicTri  veÖ7Tr|KToc  a.7iY]vr\  •  Texiapac  evbov 

eu  X^JuP^i;  ireiLiTTTOC  be  Kai  fivioxoc  k'  eTTißaiTi. 

vOv  laev  inoOvoc  eXauvev  dKpov  Tiepi  pi|ucpa  ipoxdZiiJUV. 

u)c  irpoceem'  dY0pfi9i  KoGriiuevoc  ev  irpoGiipoici  20 

XpucoXeovTOKdTTtiXoc  eucppoveujv  öapa  fiv. 

TÖv  be  Yuvf)  becTToiva  TTeTTVu)uevri  dvxiov  riuba" 

uj  irdtep,  ou  ti  eKoOca  bibuujLi'  öGövriv  irepiTpmTov 

ecTi  Ydp  euxpncTOC  ttoXXujv  t'  dvidEioc  dXXujv 

f|v  XpeiY]  )uoi  er),   fibicia  b'  d)nei|uova  iroXXd 

criiLiepov  eEarreTreiavpa  TanriTOJV  r\be  xituuvuuv  ' 

YU|uvr|Tac  Ydp  dKOuca  veouc  ijuev  iibe  Yepovrac. 

dXX'  fi  Ydp  cvj  fe  |uoi  cuYYVuuceai;    eKKeKevuuxai 

9ujpia|uöc"  cr|v  t'  diairexövriv  Triv  dvGejuöeccav 

ßOccou  XeTTTOTdtric  epetu  uTtevepGe  paqpeTcav  30 

büJK',  dXX'  ecTi  tepeiva,  Tpißuuviov  dpxaiov  ujc. 

Tfjv  b'  emiaeibricac  -rrpocecpri  ttöcic  ecGXöc  euc  re* 

Kai  TToGeuu  fe  xpißuuv'  e|uöv  'IvbiKÖv,  ou  KißbqXov, 

ßuccivov,  oÜK  dv  Toiov  e'G'  üciepov  auQic  e'xoijui. 

dXX'  Oll  Ydp  qpöpeov  •  ßouXovrai  vuv  ye  töv  dvbpa 

aiei  x^aTvav  e'xovra  xixüuvd  le  XajuTrpd  ßabiZleiv 

evbpo^iciv  •  juiipri  cpuYabeueTai  iibe  irebiXa, 


*  wir  müssen  uns  wegen  mangelnden  raumes  damit  begnügen ,  nur 
vorstehende  probe  aus  der  uns  zur  Verfügung  stehenden  Übersetzung 
mehrerer  gesänge  zu  bieten.  die  red. 


598  J.  Draheim:  Goetliii  Arminius  et  Dorothea  Graece. 

TÖv  b'  njueißei'  eireiTa  Yuvr|-  'IboO,  oi  be  veovrai 

vöv  örincdjuevoi,  ctöXoc  oixriBfivai  eoiKCV. 

TrdvTuuv  bf]  KeKÖvic0'  UTTobrnaaia,  Gepjud  npöcuuTTa,  40 

KavpibpiLii'  6|uopTVU)Lievoi  vuu)aujci  CKacTOc. 

ouK  dv  e'TujYe  6eXoi)Lii  BedjuaTOc  eiveKa  xoObe 

iieXiLjj  Teipecöar  dXic  fe  |uoi  ecriv  dKoOcai. 

rfiv  be  TTttirip  dYoBöc  tiukvöv  ettoc  eiia  rrpocTiuba' 

ouK  euri|nepir|C  Oaind  Toir|c  tutxov'  d|uriTOC 

Ktti  KapTTouc  KO)LiioujueO',  ÖTTuuc  xöptov  KOlUlCaVTO  , 

icx'^oüc-  aiörip  ydp  ctiXßei  vecpeXai  t'  direaciv, 

iluJGev  b'  dveiaoc  Ttveiei  vjjüxuuv  epateivöc. 

ujpri  f\be  ße'ßaioc  unepTreTTOvec  t'  ev  d^poici 

KttpTTOi"  d|ir|TOu  b'  ecTtti  dcpeibeoc  aupiov  dpxr|.  50 

iLc  qpdto,  TuJv  b'  dTopf]  tiXiit'  dvbpüuv  r\bk  YuvaiKuuv, 

o'i  bx]  cTTepxü)aevoi  eßav  övbe  bö)aovbe  eKacioc. 

Ktti  CUV  GuYaiepecciv  eaic  raxeujc  eqpopeiio 

dvTiKpuc  dYopfic  YeiTUJV  dcpveiöc  dveXBüuv 

Kaivuuöev  irpöc  baijua  TTÖXeuuc  TTpuuTe'iuTTopoc  auiöc 

ireTTTaiLie'voiciv  öxecciv,  d  Aavbauoi  Kdjaov  dvbpec. 

TtXfieov  hx]  Xaupar  ttöXic  eu  TreTTÖXicto  exoG^ci 

TToXXobandc  xexvac  r\b'  epYaciripia  iroXXd. 

U)C  dpa  eiaxo  tuuy'  öapiCovx'  ev  TTpoGOpoici 

xepnoiaevuu  xe  Xöyoic  nepi  XaoO  epxojuevoio,  60 

|uiu9ujv  b'  ripHax'  eneixa  Yuvf)  beciroiva  Km  rjuba" 

ev0',  ibe ,  ipoXÖYOC  cxeixei  Kai  qpap)aaKOTTuuXr|c 

YeiTuuv  xüj  y'  ölpa  TrdvG'  fiiaiv  Kaxa)au6ricdc9ujv, 

öcc'  e'KxocBe  i'bov  Kai  öcc'  ou  xeprrvd  ibövxi. 

OaibpiJü  xÜLi  y'  eXöövx'  r\c'nal4.cQr\v  xe  yöMH^ouc 

Gpdvouc  x'  ec  EuXivouc  e^e'cGiiv  ev  TTpoGupoici 

CK  xe  TTobujv  ceiovxo  köviv  ijjOxöv  xe  TTpöcuuTTa. 

xüuv  b'  eTTajueiipajuevuuv  dcTTac)LioOc  cpapiuaKoniuXTic 

miGcuv  dpEdiaevoc  jliövov  ou  bucdpecxoc  eeme ' 

fj  larjv  xoioi  eac'  dvGpuuTTOi  irdvxec  6|uoioi,  70 

CKeqjd|uevoi  0'  fjbovxai,  öx'  dXXouc  TTfJina  Kix»;ici. 

Gel  Ydp  eKacxoc  ibeiv  qpXoYÖc  ouXo)Lievr|C  Guov  irup 

beiXaiöv  xe  kokoupyov,  öxav  Gavaxövb'  andYnTai. 

Gei  be  eKacxoc  ibeiv  (peuYÖvxouv  dGXiöxrixa, 

oube  xic  evvoeei,  öxi  ttöxiliov  öjaoTov  ex'  auxöc 

f|  evxaOGa  buvaix'  dv  eTTiCTreiv  f|  Kai  eireixa. 

ou  cuYYVuuxöv  KOuqpovoeTv,  dvGpuuTreiov  be. 

xöv  be  )aex'  iiubncev  Troi)nriv  neTTVUjuevoc  ecGXöc, 

öc  TTÖXeoic  KÖciuoc  TTperrev  dvepöxnxi  Kai  fißr). 

6c  p'  e'Yvuj  ßiov  r\b'  dKpoa2o|uevujv  ttöGov  e'YVUi  80 

Kai  lueYttXoqppoveuuv  dYiujv  ßißXiuuv  cttoc  iibei 

qpaivövxuuv  fi)uTv  dvbpuJv  luöpov  ribe  vörnLia* 

oüxuj  bx]  »Jbei  Kai  Ypd|U|uax'  dpicxa  ßeßrjXuuv. 

oiixi  (piXOu  lae'^qpecGai,  6911,  qpucic  öcca  bebuuKev 


E.  Oehley:  34e  Versammlung  des  Vereins  rheinischer  schulmänner.    599 

)nri  ßXaßep'  dvGpuurroic  )arlTl^p  opiarnuata  9u)ao0  • 

öcc'  dv  }XY\Te  vöoc  ^i'-iie  (ppevec  icxuuiciv, 

7TÖXX'  öpjufi  dÜKaipüc  djuiixavoc  i^vuce  6u|ao0. 

ei  ydp  )ar)  TToXuTrpaYUOcuvri  beXea^'  dvGpuuTTOuc, 

Yvuicdv  Kcv,  (pdre  )aoi,  ibc  ev  cq)ici  Tiavt'  eÜKOC)Lia 

ev  KÖciuuj;  npujTov  2r|To0civ  d  Kaivd  boKrj  cqpiv,  90 

eixa  Ttt  XuciieXfi  CTtoubrj  Zürirouci  TTOvouviec* 

Km  xeXoc  ecGXd  biuuKei  dvrip  Kai  YiTvexai  ecGXöc. 

KOuqpovoeTv  fißüuvTi  eucppocuvr)  dKoXouBei 

Kivbuvouc  KpuTTTOv,  cujTnpiov,  dX-feoc  i'xvri 

aÜTiK'  drrocßevvuciv,  eirnv  ye  Tdxicxa  TrapeXGr). 

Kai  xoi  erraivou  dvrip  ecx'  dEioc,  iL  Ttpoiövxi 

eK  xfjc  eüqppocuviic  ciroubaToc  vouc  dvaßXdcxr], 

ujcxe  bi'  eüxuxiac  CTioubdZieiv  bucxuxiac  xe 

ecGX'  epTaZ;o|u£VUJ  Kai  dKeiojuevuj  xd  X^PH«- 

aii|;a  xapaxxojuevri  becTioiva  /aexeirre  Trpocrivnc.  lOO 

vOv  9dG'  öc'  dbeT\  i-^ih  ydp  eeXbofiai  f\hr]  dKoOcai. 


38. 
BERICHT    ÜBER    DIE    VIERUNDDREISZIGSTE    VERSAMM- 
LUNG DES  VEREINS  RHEINISCHER  SCHULMÄNNER  (1897). 


Die  34e  Versammlung  rheinischer  schulmänner  fand  zu  Köln  am 
dienstag  dem  20  april  1897  im  Isabellensaale  des  Gürzenich  statt; 
110  teilnehmer  zeichneten  sich  in  die  liste  ein.  die  tagesordnung  wies 
folgende  punkte  auf: 

1)  nachruf   auf  geheimrat   Johannes    Stauder   (director  Matthias- 
Düsseldorf), 

2)  das  Problem  des  tragischen  und  seine  behandlung  in  der  schule 
(professor  Alfred  Biese-Koblenz). 

3)  aus    dem    gebiete  jenseits    der   Unterrichtsmethodik    (professor 
P.  Meyer-M.  Gladbach). 

4)  thesen  über  den  Unterricht  in  deutscher  grammatik  (oberlehrer 
dr.  Cramer-Düsseldorf). 

Der  Vorsitzende,  director  dr.  Matthias-Düsseldorf  widmete  zu- 
nächst dem  wirkl.  geh.  oberregierungsrat  dr.  Stauder  einen  nachruf. 
mit  diesem  nachruf  erfüllten  wir  nicht  nur  eine  pflicht  conventioneller 
pietät,  sondern  folgten  einem  herzensbedürfnis.  die  letzten  21  jähre 
habe  St.  zwar  in  Berlin  gelebt,  46  jähre  aber  seines  lebens  gehörten 
dem  Rheinlande  an;  geboren  in  Rheinhessen,  sei  er  1857  nach  Bonn, 
1859  an  das  Marzellengymnasium  in  Köln  gekommen,  1864  director  iu 
Emmerich,  1871  in  Aachen  am  Kaiser-Karls-Gymnasium,  1874  provinzial- 
schulrat  in  Koblenz  geworden,  dazwischen  mitglied  des  abgeordneten- 
hauses  für  einen  rheinischen  Wahlkreis  gewesen,  nur  ein  jähr  sei  er 
in  Koblenz  gewesen;  zunächst  als  hilfsarbeiter  in  das  Unterrichts- 
ministerium berufen,  sei  er  1875  zum  geheimen-  und  vortragenden  rat 
ernannt  worden  und  habe  seit  1888  besonders  die  allgemeinen  angelegen- 
heiten  nach  dem  abgang  von  Bonitz  unter  sich  gehabt,  seine  kräfte  habe 
er  der  herstellung  der  neuen  lehrpläne  und  Prüfungsordnung  gewidmet; 


600  E.  Oehley:  bericht  über  die  34e  Versammlung 

das  alles  sei  genugsam  bekannt,  als  lohn  sei  ihm  die  würde  eines 
wirklichen  geheimen  oberregierungsrates  mit  dem  ränge  eines  rates 
Ir  classe  zu  teil  geworden,  am  1  januar  d.j.  sei  ihm  die  directorstelle 
in  diesem  ministerium  übertragen  worden,  schon  am  19n  aber  hätte 
ihn  der  tod  ereilt,  eine  gedächtnisrede  im  panegyrischen  stil  würde 
unserer  Versammlung  und  ihm,  dem  redner,  schleclit  anstehen,  was 
Stauder  geschaffen  in  nie  versagender,  frischer,  durchgreifender  Willens- 
kraft und  glücklichem  Organisationstalent,  das  wüsten  wir  alle,  aber 
eins  habe  man  doch  nicht  immer  genug  anerkannt,  dasz  Stauder  in 
einer  zeit  gewirkt  habe,  in  der  jedes  schaffen  eher  auf  tadeln  und 
nörgeln  als  auf  anerkennen  habe  rechnen  müssen,  habe  er  doch  gerade 
in  einer  zeit  an  einer  stelle  gestanden,  wo  von  vielen  seilen  viele 
wünsche  in  bezug  auf  die  lehrpläne  geäuszert  worden  seien,  und  er  sei 
in  erster  linie  berufen  gewesen,  diese  wünsche  zusammenzufassen,  wie  er 
das  in  der  decemberconferenz  1890  gethan  habe,  und  wiederum  sei  er 
es  gewesen,  der  die  vielfachen  wünsche  in  eine  bestimmte  form  ein- 
zukleiden hatte,  mit  einer  Schnelligkeit,  die  geradezu  unter  hochdruck 
gestanden  habe.  dasz  nichtberufene  männer  nicht  zu  viel  liinein- 
gerufen  hätten  in  die  arbeit  berufener  männer,  dasz  das  auch  ein  ver- 
dienst von  Stauder  sei,  das  habe  jede)'  erfahren.  —  Und  was  nun  die 
Stellung  zu  seinen  berufsgenossen  beträfe,  wem  habe  er  es  recht  ge- 
macht? anerkennung  aus  diesen  kreisen  sei  ihm  nicht  viel  zu  teil 
geworden,  weder  von  humanistischer  noch  von  realistischer  seite;  dasz 
er  das  von  luimanisten,  zu  denen  er  doch  in  erster  linie  gehörte,  er- 
fahren habe,  sei  ihm  schwer  gewesen;  er  habe  diesem  schmerze  noch 
in  einem  briefe  aus  Sasznitz  ausdruck  gegeben,  er  glaube  Standers 
verdienst  am  besten  so  einzuschätzen:  verloren  habe  die  alte  schule 
manches,  gewonnen  habe  die  neue  schule  vieles;  dasz  sie  aber  nicht 
zu  viel  gewonnen,  jene  nicht  zu  viel  verloren  habe,  sei  Stauder  zu 
danken.  und  dann  noch  eins:  Stauder  habe  sich  allezeit  unter  uns 
im  Rheinland  ganz  besonders  heimisch  gefühlt,  nicht  nur  weil  hier 
seine  persönlichen  beziehungen  zahlieicher  gewesen  seien  als  anderswo, 
sondern  weil  sein  ganzes  wesen  den  Rheinlanden  gehörte,  weil  er  west- 
liche Ungezwungenheit  liebte;  ein  offenes  und  ungezwungenes  wort  sei 
ihm  stets  wert  gewesen;  nicht  zu  reglementieren,  anzuordnen,  sondern 
zu  überzeugen  habe  er  sich  bestrebt,  besonders  deshalb,  weil  er  offenes 
wesen  anerkannte  und  schätzte,  gerade  bei  uns  habe  er  freudig  und 
frisch  in  die  Verhandlungen  eingegriffen,  wenn  er  der  Berliner  Luft 
einmal  entronnen  sei.  treue  um  treue,  liebe  um  liebe!  —  zu  ehren  des 
verstorbenen   erhebt  sich  die  Versammlung  von  ihren  sitzen. 

Professor  A.  Biese- Koblenz:  'das  problem  des  tragischen  und 
seine  behandlung  in  der  schule':  die  behaglichste  aller  Weltanschauungen 
sei  der  humor.  wir  ständen  heutigen  tnges,  wenn  überhaupt  unter 
dem  zeichen  des  humors,  mehr  unter  dem  zeichen  des  tiagischen,  als 
des  naiven  humors,  von  unruhe  und  hast  getriei)en.  und  doch  sei  der 
Schulmeister  verloren,  dem  nicht  humor  beigegeben  sei;  die  freudigkeit 
eei  die  mutter  aller  pädagogischen  fügend,  wir  sollten  weltfreudigkeit 
unter  die  Jugend  säen,  wir  sollten  das  gefühl  wecken  und  pflegen,  die 
hauptquellader  der  phantasie,  den  sinn  für  Schönheit  in  der  gottesnatur 
in  das  herz  des  schülers  senken,  wenn  er  für  Goethesche  Mailieder, 
für  Sophokleische  tragödien  Verständnis  gewinnen  solle,  er  frage  nun: 
was  sei  schön?'  was  erhaben?  was  tragisch?  dieser  begriff  liesze 
sich  in  Wahrheit  schwer  auf  eine  allgemein  gültige  formel  bringen;  es 
sei  ein  mischbegriff;  auch  der  grundsatz  ex  contrario  sei  hier  an- 
zuwenden, um  den  begriff  zu  erkennen,  im  tragischen  begegneten  wir 
dem  contrast  zwischen  der  grösze  des  menschen  und  seinem  geschick; 
uns  packe  ein  grauen  inmitten  des  erhabenen  Widerstreits  des  lebens 
und  der  hoffnung;  so  grosz  und  doch  so  klein  gegenüber  den  walten- 
den  mächten;    das    erhabenste    menschliche    wollen   scheitere    an   dem 


des  Vereins  rheinischer  schulmänner.  601 

unerforschlichen  walten  einer  höheren  macht,  das  sei  das  tragische 
im  menschlichen  leben,  dabei  lasse  es  die  frage  nach  dem  warum? 
sehr  oft  offen,  warum  stets  das  unendliche  sieger  sei?  warum  unter- 
gang  das  Schicksal  auf  erden?  am  nächsten  sei  das  tragische  mit 
dem  erhabenen  verwandt,  aus  niederdrückendem  und  erhebendem  be- 
stehend, die  lust  am  erhabenen  liege  darin,  dasz  wir  aufgiengen  in 
kraft-  und  machtgefühlen.  alles  tragische  sei  erhaben  und  das  er- 
habene werde  tragisch  durch  den  kämpf  zwischen  menschengrösze  und 
menschenohnraacht.  noch  näher  als  dem  erhabenen  scheine  das  tragische 
dem  rührenden  verwandt,  es  sei  ungemein  traurig,  wenn  der  söhn, 
der  ernührer,  dahingerafft  werde,  wie  könne  nun  aber  das  traurige 
und  schreckliche  zum  tragischen  erhoben  werden?  —  Durch  den  selbst- 
thätigen  kämpf.  der  kämpf  sei  das  zweite  wichtige  moment  im 
tragischen,  es  sei  tragisch,  wenn  der  mensch  am  ende  des  kampfes, 
auf  dem  punkte  stehend  die  palme  zu  erhalten,  erliege,  wir  könnten 
uns  nicht  verhehlen,  dasz  das  tragische  auf  dem  gefühle  des  unmesz- 
baren,  des  incommensurablen  beruhe,  man  habe  sich  das  Verständnis 
der  tragödie  dadurch  verschlossen,  dasz  man  immer  nach  schuld  suche ; 
das  sei  kriminalpolizeilich,  aber  nicht  ästhetisch,  gewis  empfänden 
wir  es  als  eine  naturgemäsze  Verkettung  der  dinge,  wenn  die  schuld 
gesühnt  werde;  aber  der  held  in  der  tragödie  büsze  weit  mehr  die 
schuld  des  allgemeinen,  der  menschheit  als  die  schuld  seines  eignen 
freventlichen  wollens.  wie  komme  es  nun  aber,  dasz  das  tragische, 
obwohl  es  irns  niederschmettere,  obwohl  es  uns  klar  Untergang  und 
tod  vor  äugen  führe,  doch  noch  genusz  gewähre?  das  liege  nicht  nur 
darin,  dasz  wir  die  grösze,  den  wagemut,  die  Charakterstärke  des 
beiden  bewundern,  auch  nicht  blosz  in  dem  mitleid,  sondern  in  etwas, 
was  die  ästhetiker  nicht  genug  würdigten:  es  sei  die  einfüguug,  die 
neigung,  unser  wesen  zum  masze  der  dinge  zu  machen,  uns  mit 
ihm  zu  vertauschen,  wir  sprächen  vom  fusz  des  berges,  vom  rasenden 
toben  des  feuers;  ja  der  fühlende  mensch  vermöge  das  schauen  vom 
denken  nicht  zu  unterscheiden,  um  wie  viel  mehr  sollten  wir  uns 
nicht  bei  menschen  mit  dem  menschen  verschmelzen!  sei  es  nicht  ein 
gennsz  zu  spüren,  wie  das  beste,  was  in  uns  schlummere,  mit  dem 
beiden  in  uns  erwache?  aber  wir  litten  auch  mit  ihm.  wie  könne  das 
aber  ein  genusz  sein?  es  sei  uns,  wenn  der  held  ende,  als  sei  uns 
selbst  der  dolch  ins  herz  gestoszen.  gewis  auch  das  sei  ein  genusz, 
der  ^X€OC  des  Aristoteles,  aber  auszer  ^\eoc  und  qpößoc  wirke  die 
tragödie  noch  etwas  anderes:  die  KdBapclc.  indem  wir  mit  dem  beiden 
litten,  passten  wir  uns  mit  unserem  innern  ihm  an;  was  wir  erlitten 
und  in  unserem  innern  aufgehäuft  hätten,  das  bräche  in  uns  hervor 
und  errege  unser  mitleid.  so  werde  beim  tragischen  unser  leiden  frei 
und  ströme  heraus  und  selbst  die,  die  selbst  viel  erlitten  hätten, 
fühlten  sich  erleichtert,  so  sei  KCtGapcic  die  lösung  von  affektspan- 
nungen,  die  sich  in  der  seele  angesammelt  hätten,  bekanntlich  erziehe 
und  stähle  das  leiden,  und  wir  würden  emporgehoben,  so  sehr  wir 
selbst  gelitten  hätten,  erhaben  wirke  die  reinigende  kraft  des  todes, 
insofern  sie  dem  beiden  erlösung  bringe,  seine  grösze  weise  aufwärts, 
es  erhebe  sich  nun  die  frage,  wie  wir  die  Jugend  zur  empfänglichkeit 
erziehen,  das  problem  allmählich  vorbereiten  könnten,  wir  sollten 
heranbilden  zur  demut,  aber  auch  zur  empfänglichkeit  des  schönen, 
die  auch  wiederum  zur  andacht  auffordere;  pädagogisch  sei  das  von 
tiefgehender  bedeutung.  Herbart  sage:  nachfühlen  müsse  die  kleine 
sextanerseele,  warm  und  herzlich  nachempfinden,  was  sage,  märchen, 
geschichte  darböten,  die  sonne  der  menschenleben  müsse  diese  durch- 
wärmen, auf  dasz  das  menschliche  in  seinen  edlen  erscheinungen  der 
seele  nicht  fremd  bleibe,  tiefe  trauer  bilde  nun  einmal  im  leben  den 
Untergrund,  und  das  sei  nicht  das  letzte,  was  das  tragische  uns  lehre, 
wer  in  VI  und  V  das  deutsche  (geschichte)  unterrichte,  der  sehe,  wie 
N.  jahi  b.  f.  phil.  u.  päd.  II.  abt.  1897  hft.  12.  39 


602  E.  Oehley :  bericht  über  die  34e  Versammlung 

das  knabenherz  mit  erregt  werde,  aufatme  tisw.  bei  den  erzählungen 
von  Herkules,  Jason,  Hektor  und  Patroklos,  Krösus,  Polykrates.  diese 
zeigten  bald  die  sühne  der  ü'ßpic,  bald  sei  es  eine  Schicksals-,  bald 
eine  Charaktertragödie,  von  alle  dem  werde  auch  in  der  geschichts- 
stnnde  der  schüler  durchschauert  werden  z.  b.  bei  Columbus,  Friedrich  III 
usw.  die  groszen  gescliichtschreiber  zeigten  uns  einzelne  Schicksale 
oder  ganze  epochen  unter  dem  bilde  der  tragödie:  so  Caesars  Ver- 
nichtungskrieg gegen  die  Gallier,  der  peloponnesische  krieg,  der  unter- 
gang  der  athenischen  flotte  in  Sicilien.  in  der  dichtung  vermöchten 
epos  und  lyrik  dieses  gefiihl  zu  wecken:  lib.  IV  der  Äneis,  das  Nibe- 
lungenlied, bei  Rüdiger  trete  das  tragische  in  der  form  des  sitt- 
lichsten conflicts  am  deutlichsten  hervor:  er  müsse  fallen;  Kriemhilde 
falle  durch  ihre  liebe,  auch  die  lyrik  biete  wichtige  momente ,  so  für 
den  sextaner  'blauveilchen'  v.  Forster,  für  den  quartauer  'das  glöck- 
lein  des  glucks',  'das  glück  von  Edenhall',  'Belsazar',  'der  taucher' 
zeigten ,  wie  zu  hohes  streben  den  Untergang  herbeiführe,  durch  die 
besprechung  dieser  und  ähnlicher  gedichte  werde  die  behandlung  der 
dramen  in  II  und  I  vorbereitet,  z.  b.  die  der  'Jungfrau  von  Orleans', 
des  'Götz  von  Berlichingen',  des  Max  Piccolomini,  der  Iphigenie.  wer 
den  Kreon  der  Antigone  als  gleichberechtigt  gegenüberstelle,  der  ver- 
kenne die  ganze  tragödie;  und  hätten  wir  den  Ödipus  unbewust  freveln, 
unbewust  leiden  gesehen,  so  erführe  man  das,  was  der  chor  am  ende 
sage.  Ödipus  Rex  sei  die  tragische  ironie,  Ödipus  auf  Kolonos  die  er- 
lösung.  im  Ajas  beruhe  das  tragische  auf  dem  contrast  zwischen 
menschengrösze  und  menschenohnmaclit.  dasz  es  aber  auch  tragödien 
ohne  tod,  dasz  es  tragische  genies  gebe,  trete  in  Tasso  entgegen.  Tasso 
leide,  weil  er  ein  zu  reiches  und  zu  weiches  herz  habe,  und  wer  ein 
herz  habe,  der  leide  mit  ihm;  am  ende  des  Tasso  glaubten  wir  an  eine 
errettung,  auch  in  den  echten  tragödien,  die  mit  dem  tode  schlössen, 
richte  uns  der  gedanke  auf,  dasz  das  echte,  was  in  dem  beiden  sei, 
nicht  untergehe;  es  sei  andacht  vor  dem  ewigen,  unerforschlichen;  sie 
lasse  von  dunklem  gründe  desto  lichtvoller  sich  abheben  die  liebe;  sie 
führe  zur  Versöhnung  der  gegensätze,  wie  der  Sonnenschein  aus  dunklen 
wölken  hervorbreche. 

Director  J  äger-Köln:  unsere  discussion  werde  sich  auf  den  zweiten 
teil,  die  behandlung  des  problems  in  der  schule,  beschränken  müssen, 
denn  auf  den  ersten  teil  einzugehen,  werde  wohl  nur  denen  möglich 
sein,  die  den  gegenständ  schon  irgendwie  selbst  bearbeitet  hätten, 
wenn  das  thema  laute:  das  problem  des  tragischen  und  seine  behand- 
lung in  der  schule,  so  hätte  ihn  das  etwas  betroffen  gemacht,  solle 
das  heiszen:  will  man  allmählich  oder  soll  man  allmählich  den  begriff 
des  tragischen,  über  den  die  gelehrten  noch  nicht  völlig  einig  seien, 
herausarbeiten  bei  den  schülern?  das  könne  die  aufgäbe  nicht  sein; 
und  der  vortragende  habe  sehr  schön  ausgeführt,  wie  schon  die  er- 
zählungen  in  VI  und  V  auf  die  schüler  unmittelbar  tragisch  wirken 
könnten,  er  seinerseits  habe,  wie  er  zum  ersten  male  in  III  sup.  ver- 
tretungsweise deutsch  zu  geben  und  'herzog  Ernst  von  Schwaben'  zu 
behandeln  gehabt  hätte,  nachdem  das  stück  gelesen  worden,  den 
Schülern  gesagt:  hier  tritt  euch  zum  ersten  mal  ein  wort  entgegen, 
wovon  ihr  später  noch  mehr  hören  werdet,  das  wort  ^tragödie'  'tragisch', 
dann  habe  er  nach  einfacher  erklärung  gesucht:  tragisch  sei,  was  zu- 
gleich traurig  und  erhebend  sei.  weiter  habe  er  die  frage  vorgelegt: 
was  ist  in  dem  Schicksal  des  Ernst,  des  Werner,  der  kaiserin  Gisela 
usw.  traurig,  was  erhebend?  weiterhin  habe  er  nur  ganz  gelegentlich 
noch  deutsch  in  den  oberen  classen  unterrichtet  und  in  seinen  späteren 
Jahren  nie  das  vergnügen  gehabt,  mit  den  schülern  z.  b.  Wallenstein 
oder  die  fragmente  des  Demetrius  lesen  zu  können,  eins  habe  der 
vortragende  erwähnt,  worauf  wir  die  aufmerksamkeit  richten  müsten, 
nämlich,  dasz  das  problem  des  tragischen  ganz  besonders  im  geschieht- 


des  Vereins  rheinischer  schulmänner.  603 

liehen  Unterricht  behandelt  werden  könne  und  hier  besonders  fruchtbar 
sei.  die  beispiele  seien  nicht  schwer  zu  greifen;  er  möchte  nur  darauf 
hinweisen,  wie  beim  erlöschen  der  freiheit  der  griechisclien  Städte  die 
gestalt  des  Demosthenes  auf  der  einen  und  die  des  Alexander  auf  der 
andern  seite  tracjisch  sind  in  verschiedener  weise:  wie  Demosthenes 
seine  ganze  kraft  einsetzt  für  eine  verlorene  sache,  wie  auf  der  andern 
Seite  Alexander  der  lebensfaden  abgeschnitten  wird  in  dem  augenblick, 
wo  er  in  voller  entfaltung  der  ideen  einer  neuen  zeit  begrififen  sei.  der 
zusammenstosz  des  Huss  mit  dem  reform- conzil  wirke  dadurch  so 
ergreifend,  dasz  dabei  zwei  potenzen  gegen  einander  ständen,  die  beide 
dasselbe  wollten,  eine  reform  der  kirclie;  auf  der  einen  seite  der  mann, 
der  nicht  einmal  wisse,  dasz  er  über  das,  was  von  der  kirche  als  not- 
wendige Ordnung  festgesetzt  sei,  hinausgehe,  auf  der  andern  die  macht 
der  kirche  im  moment  ihrer  imposantesten  entfaltung. 

Professor  Biese:  er  hätte  darlegen  wollen,  wie  die  verschiedenen 
gefühle  der  lust  und  der  Unlust  sieh  allmählich  vorbereiteten  in  der 
brüst  des  schülers.  selbstverständlich  erfolge  eine  eingehende  behand- 
lung  erst  in  I. 

Director  Golds  eh  eider-Mülheim  a.  Rh.:  er  habe  in  dem  ersten 
teile  etwas  vermiszt;  die  gröste  Schwierigkeit  in  dem  problem  scheine 
ihm  noch  immer  nacli  der  seite  des  erhebenden  zu  liegen,  das  sei  in 
die  begründung  hineinzubringen,  was  wir  nur  immer  beim  tragischen 
empfunden  hätten  und  empfänden,  darüber  sei  klarheit,  nicht  aber  sei 
Übereinstimmung  da,  wo  wir  es  definieren  sollten,  noch  immer  scheine 
ihm  die  erklärung  von  Schiller  die  beste  zu  sein:  'das  Schicksal,  welches 
den  menschen  erhebt,  wenn  es  den  menschen  zermalmt.'  der  vor- 
tragende lehne  ausdrücklich  ab,  dasz  das  tragische  immer  die  harmonie 
hervorheben  wolle,  dasz  das  harmonische  zum  ausdruck  komme,  er 
möchte  so  sagen:  für  uns  in  der  erziehung  solle  immer  das  tragische 
hervorgehoben  werden,  das  zugleich  erhebend  wirke,  das  weltganze 
zeige  uns  dagegen  nur  etwas,  was  niederschmetternd  wirke,  in  den 
'gespenstern'  von  Ibsen  werde  wie  fast  überhaupt  in  den  neueren 
tragödien  nur  das  zermalmende  hervorgehoben,  in  der  griechischen 
litteratur  sei  in  könig  Ödipus  für  uns  nur  das  zermalmende  vorhanden, 
auch  bei  der  braut  von  Messina  sei  das  im  gründe  der  fall,  bei  dem 
ersteren  liege  die  sache  anders  für  den  Griechen  als  für  uns;  für 
beide  wohl  erhebend,  aber  für  uns  nur,  wenn  wir  uns  in  griechische 
ansehauungen  hineinversetzten,  'in  ehren  bleiben  die  orakel';  das  sei 
das,  was  bestehen  bleibe:  deshalb  hätte  Schiller  unrecht  gehabt,  wenn 
er   in    der   braut  von  Messina  griechisches  empfinden  von  uns  verlange. 

Director  E  vers-Barmen :  es  sei  1)  ein  theoretischer,  2)  ein  prak- 
tischer teil  aufgestellt  worden;  er  glaube,  man  könne  den  zweiten  teil 
nicht  besprechen,  wenn  man  den  ersten  nicht  berühre,  nach  seiner  an- 
sieht habe  director  Goldscheider  einen  factor  in  der  mensehengrösze 
hervorheben  wollen,  gerade  Schiller  habe  in  seiner  abhandlung  über 
das  vergnügen  an  tragischen  gegenständen  das  hervorgehoben,  dasz  wir, 
wenn  wir  auch  zermalmt  würden,  doch  ein  gefühl  der  freude  empfänden, 
und  zwar  über  des  menschen,  des  geistes  tapfere  gegenwelir.  es  gebe 
eine  grosze  richtung,  die  das  tragische  nur  in  der  zerraalmung  finde, 
die  nur  traurig,  trübe  wirke;  dieser  anschauung  zu  folgen  sei  unpäda- 
gogisch ;  er  glaube  wie  der  vortragende,  dasz  die  drei  punkte,  contrast, 
kämpf  und  ein  gewisses  sichbeugen  unter  das  Schicksal  in  der  that  das 
tragische  gefühl  hervorrufe,  nun  komme  er  auf  einen  punkt,  in  dem 
er  etwas  abweiche,  mit  recht  sei  von  dem  vortragenden  und  director 
Goldscheider  gesagt  worden,  dasz  wir  uns  auf  die  blosze  Schablone  von 
schuld  und  sühne  nicht  einlassen  könnten,  wir  hätten  aber  viele,  die 
die  schuld  überhaupt  aus  dem  tragischen  entfernen  wollten;  eine  kleine 
andeutung  davon  glaube  er  auch  in  dem  vortrage  bemerkt  zu  haben, 
wir  männer  könnten  uns  völlig  damit  einverstanden  erklären,   aber  ob 

39* 


604  E.  Oehley:  bericht  über  die  34e  Versammlung 

wir  bei  Schülern,  junglingen,  die  so  gern  jede  schuld  von  sich  abwälzten 
und  sich  gern  in  eine  gewisse  schultragik  hineindächten  und  sich  als 
die  unschuldigen  fühlten,  den  punkt  der  individuellen  schuld  in  ethi- 
schem sinne  bei  seite  lassen  dürften,  das  frage  sich  doch  sehr,  er  meine 
gerade,  das  gehöre  zum  gefühl  der  harmonie.  es  müsse  zum  Pessimis- 
mus führen,  dasz  ein  menschenschicksal  zertrümmert  werde,  ohne  dasz 
der  mensch  irgend  welche  schuld  auf  sich  geladen  habe,  es  bleibe 
zwar  immer  noch  der  factor  der  menschengrösze,  aber  wo  bleibe  in 
diesem  falle  der  factor  der  sittlichen  weltordnung?  von  einer  bloszen 
allgemeinen  gattungsschuld  im  sinne  Schopenhauers  zu  sprechen,  halte 
er  für  unpädagogisch. 

Hierauf  erwidert  prof.  Biese:  der  gang  seines  Vortrags  sei  folgen- 
der gewesen:  er  habe  1)  vom  contrast  zwischen  menschengrösze  und 
menschenohnmacht  gesprochen;  2)  vom  kämpf  des  menschen  gegen 
gewalt  im  leben,  gegen  das  Schicksal;  3)  von  schuld  und  sühne,  die 
schuld  sei  durchaus  nicht  zu  verneinen;  es  würden  vielmehr  überall 
schlacken  gefunden,  die  den  menschen  immer  wieder  hinabzögen  und 
in  schuld  verstrickten,  nur  dagegen  habe  er  sich  gewandt,  dasz  die 
schuld  so  sehr  hervorgehoben  werde,  was  das  von  director  Gold- 
scheider  gesagte  betrefife ,  so  habe  er  an  verschiedenen  stellen  das  er- 
hebende nach  seiner  ansieht  genug  hervorgehoben. 

Prof.  Feller-Duisburg:  er  habe  sich  sehr  gefreut,  dasz  Biese  die 
Aristotelischen  principien  so  hervorgehoben  habe;  er  habe  sich  jedoch 
in  den  letzten  jähren  mit  Shakespeare  beschäftigt  und  da  seien  ihm 
manche  zweifei  gekommen  z.  b.  bei  der  frage,  wie  sich  Hamlet  zu  den 
von  Biese  aufgestellten  principien  verhalte;  anders  sei  es  schon  bei 
König  Lear.  Tenbrinks  hübsches  büchlein  und  Kuno  Fischers  aus- 
führungen  könnten  ihn  auch  nicht  ganz  befriedigen,  der  erste  sage, 
wenn  der  mensch  am  ende  sei,  dann  stiegen  die  himmlischen  sterne  auf, 
der  zweite,  Hamlet  sei  eine  hervorragende  natur  in  der  tragödie. 

Provincialschulrat  dr.  Buschmann:  wir  seien  nun  doch  wieder 
auf  den  ersten  teil  der  frage  und  zum  teil  auf  weitere  probleme  ge- 
kommen, er  glaube,  dasz  wir  doch  nicht  genauer  darauf  eingehen 
könnten,  wir  dürften  Biese  dankbar  sein,  dasz  er  auf  das  Verhält- 
nis von  schuld  und  sühne  eingegangen  sei.  bei  Schülern  träfen  wir 
oft  darauf,  dasz  sie  genau  nach  dem  Verhältnis  von  schuld  und  sühne 
suchten  und  meinten,  diese  müsten  durchaus  in  einem  gleichmäszigen 
Verhältnis  stehen,  das  sei  verkehrt;  beide  brauchten  sieh  gar  nicht  so 
genau  zu  entsprechen,  jedenfalls  werde  da  das  gefühl  des  tragischen 
immer  fremd  bleiben,  wo  wir  uns  sagten,  der  held  habe  sein  Schicksal 
verdient,  er  sei  gar  nicht  der  ansieht,  dasz  der  schüler  das  gegenteil 
suchen  solle;  es  sei  ihm  sehr  angenehm  gewesen  zu  hören,  dasz  Biese, 
um  dem  suchen  der  schüler  nach  einem  gleichmäszigen  Verhältnis  von 
schuld  und  sühne  entgegenzutreten,  schon  von  früh  an  den  begriflf  des 
tragischen  kennen  lernen  lasse. 

Prof.  Wehrmann-Kreuznach:  gerade  diesem  einen  gedanken,  dasz 
wir  in  unserm  Unterricht,  indem  wir  auf  das  tragische  eingehen,  die 
schüler  zur  andacht,  zum  schönen  anregen,  stimme  er  sehr  bei.  auf 
zwei  punkte  möchte  er  noch  hinweisen,  die,  wie  er  glaube,  einen  Wider- 
spruch enthielten,  zuerst  habe  der  vortragende  gesagt,  dasz  die  schuld 
in  dem  drama  nicht  so  angefaszt  werden  dürfe,  dasz  man  criminal- 
polizeilich  nach  ihr  suche ,  nachher  habe  derselbe  bei  einer  reihe  von 
tragödien  die  schuld  hingestellt  als  das,  was  den  beiden  zum  beiden 
mache,  das  tragische  finde  sich  bei  dem  ringen  eines  ganzen  volkes: 
1806 — 1813,  bei  dem  ringen  des  griechischen  volkes;  in  der  französi- 
schen revolution;  aucli  in  der  neusprachlichen  litteratur  gebe  es  eine 
menge  von  tragischen  problemen,  bei  Voltaire,  im  Cid,  bei  Shakespeare 
usw.,  die  ja  zum  teil  berührt  wären. 


des  Vereins  rheinisclier  schulmänner.  605 

Prof.  Biese:  im  ersten  teil  habe  er  sich  allgemeiner  ausgesprochen 
und  manches  in  dem  zweiten  speciellen  teil  vorgebracht,  er  habe  ein- 
geteilt in  1)  tragödien  mit  schuld,  2)  conflictstragödien  (entweder  — 
oder) ,  3)  charaktertragödien. 

Director  Matthias:  ihm  -wäre  es  lieb  gewesen,  wenn  Biese  noch 
einen  kräftigen  vorstosz  gegen  die  schuld  gemacht  hätte;  das  würde 
jetzt  zu  weit  führen,  wenn  der  satz  'das  gute  wird  belohnt,  das  böse 
wird  bestraft'   richtig  wäre,  dann  gäbe  es  ja  keine  poesie  mehr  im  leben. 

Director  Evers  verteidigt  mit  einigen  worten  den  satz  'der  übel 
gröstes  ist  die  schuld';  durch  keine  einzige  tragödie  könne  bewiesen 
werden,  dasz  das  böse  belohnt  und  das  gute  bestraft  werde. 

An  stelle  der  ausscheidenden  mitglieder  des  ausschusses:  director 
Matthias,  director  Petry,  pro  f.  P.  Meyer  werden  gewählt:  director 
Kiesel,  director  Scheibe,  prof.  Prenzel. 

Nach  einer  halbstündigen  pause  ergreift  das  wort  prof.  P.  Meyer- 
M. -Gladbach  zu  einem  vortrage  'aus  dem  gebiete  jenseits  der  unter- 
richtsmethodik'. 

Wohin  wir  immer  bei  unserer  unterrichtlichen  thätigkeit  den  schritt 
lenkten,  sei  es  bei  der  arbeit  für  den  sextaner,  sei  es  für  den  primaner, 
immer  dränge  sich  uns  eine  dame  auf,  methode  genannt,  welche  die 
ganze  weit  unter  ihr  unbequemes  joch  gebeugt  habe,  sie  sei  so  rollen- 
süchtig, dasz  sie  schlechterdings  alles  selber  spielen  wolle,  berauscht 
von  diesem  beifall,  wage  sich  die  künstlerin  an  alle  Sachen,  alles  zu 
ihren  anhängern  oder  doch  tributpflichtig  machend,  aber  unbegrenzt 
grosz  sei  das  gebiet  doch  nicht,  möge  man  sich  dasselbe  mehr  äuszer- 
lich  oder  mehr  innerlich  liegend  denken. 

Es  gebe  in  der  that  gebiete  jenseits  der  von  der  methode  eroberten 
grenzen,  gebiete,  zu  denen  sie  überhaupt  noch  nicht  vorgedrungen  sei, 
und  gebiete,  in  welche  sie  nur  schlecht  oder  überhaupt  nicht  vordringen 
könne,  davon  möchte  er  einen  punkt  betrachten,  wo  wir  einträten  in 
gewisse  formalstufen. 

Was  die  erste  formalstufe  betreffe,  so  habe  auf  ihr  der  alte  Sokrates 
genau  gehandelt  wie  Herbart;  es  bleibe  ein  verdienst  der  Herbartianer, 
eine  genaue  folgerung  gefordert  zu  haben,  es  erhebe  sich  aber  eine 
frage:  was  wollen  wir  vorbereiten?  etwas  neues?  etwa  alles  neue? 
doch  nein;  z.  b.  bei  eques  nicht  ritter.  also  würden  wir  sagen:  vor- 
bereitet wird  alles  neue,  insofern  es  für  erreichung  des  notwendigen 
Zweckes  nötig  ist.  allein  auch  gegen  die  so  eingeschränkte  forderung 
erhöben  sich  bedenken,  ihm  sei  es  einmal  vorgekommen,  auf  dem  lande, 
dasz  die  quinta  kein  schiff  noch  kahn  gesehen  habe;  es  komme  vor, 
dasz  im  flachlaMde  viele  Schüler  keinen  berg  gesehen  hätten,  wie  solle 
man  da  die  Alpen  durchnehmen?  oder  in  der  naturgeschichte  den  ele- 
phanten?  wie  wolle  man  im  geschichtsunterricht  den  begriff  öcxpaKiCfiöc 
vorbereiten?  in  vielen  fällen  sei  eine  Vorbereitung  unmöglich:  dann 
müsse  einfach  mit  dem  Stoff  angefangen  werden,  nähmen  wir  deutsche 
lesestücke,  er  schlage  ein  weitverbreitetes  lesebuch  auf,  darin  die 
'Wichtelmännchen';  'so  giengs  immer  fort;  was  er  abends  zuschnitt 
usw.,  also  dasz  er  bald  ein  ehrliches  auskommen  hatte.'  was  fange 
man  mit  dem  ehrlich  an?  den  begriff  kennten  die  schüler  aus  dem 
religionsunterricht.  aber  damit  könne  man  nichts  anfangen,  solle  man 
den  handwerker  schildern  als  einen,  der  weiter  komme,  und  den  nenne 
man  ehrlich;  davon  verständen  die  schüler  nichts,  also  habe  er  es 
nur  für  sich  erklärt;  deshalb  solle  man  den  begriff  streichen?  aber 
1)  könnte  man  sich  dann  am  streichen  halten  und  2)  wann  solle  man 
mit  dem  erklären  beginnen?  daraus  folge,  dasz  die  ganzen  lehrbücher 
umgeändert  würden,  und  zwar  in  solche,  die  neue  apperceptionsstützen 
für  jeden  schüler  schüfen,  bei  den  Unterrichtsmitteln,  die  wir  hätten, 
müsten  wir  uns  mit  der  thatsache  befreunden,  dasz  wir  manche  dinge 
unvorbereitet  darböten  und  manches  ohne  Zusammenhang  lieszen.    Ziller 


606  E.  Oehley:  bericM  über  die  34e  Versammlung 

habe  ein  märchen  'die  Stern  thaler'  an  die  spitze  gestellt,  wo  der  satz 
vorkäme  'und  weil  es  so  von  aller  weit  verlassen  war,  gieng  es  auf 
das  feld'.  in  dem  märchen  vom  Similiberg  heisze  es  'nun  brauchte  er 
nicht  mehr  zu  sorgen,  lebte  redlich  und  that  jedem  gutes',  dieses 
redlich  müsse  erklärt  werden,  wenn  der  Verfasser  sich  etwas  dabei 
gedacht  habe,  was  hülfe  aber  solche  Weisheit?  also  lasse  man  es  ganz 
bei  seite;  aber  es  stehe   immer  noch  da. 

Es  ergebe  sich  die  notwendigkeit,  dasz  wir  manchmal  die  apper- 
ceptionsstützen  auszer  acht  lassen.  Stückwerk  bleibe  auch  des  lehrers 
kunst  überall,  nun  halte  er  diese  thatsache  für  gar  kein  Unglück,  son- 
dern für  ein  glück;  er  würde  jedes  lesebuch,  wo  alles  von  krücke  zu 
krücke  geführt  werde,  sofort  bei  seite  legen  1)  weil  es  naturwidrig  sei, 
2)  weil  es  schlecht  mache,  was  die  natur  von  selbst  gut  gemacht,  3)  weil 
der  arbeitszwec'k  damit  nicht  erreicht  werde.  1)  naturwidrig,  weil  die 
natur  abwechselung  verlange;  dieselbe  speise  stets  genossen  würde  den 
magen  verstimmen,  2)  schlecht  mache  es,  was  die  natur  gut  mache,  weil 
man  in  den  naturprocess  eingriffe;  man  hemme  den  natürlichen  process 
auf  der  einen  seite,  um  ihn  auf  der  andern  seite  zu  beschleunigen;  er- 
reiche man  mit  dem  eingreifen  etwas,  dann  gut;  in  vielen  fällen  aber 
könne  man  das  gar  nicht  wissen.  3)  werde  der  arbeitszweck  damit 
nicht  erreicht,  denn  alle  Verknüpfungen  könne  man  gar  nicht  regeln, 
dazu  müste  man  mit  dem  Schüler  in  eins  verschmelzen;  nun  habe  man 
aber  20 — 60  schüler,  ferner  höchstens  28  stunden  die  woche,  während 
man  die  ganze  übrige  zeit  nicht  mit  dem  schüler  zusammen  sei;  also 
könne  von  einer  Verschmelzung  nicht  die  rede  sein. 

Mit  dem,  was  H.  J.  Müller  in  dem  letzten  heft  für  gymnasial- 
wesen  sage,  könne  er  sich  nicht  einverstanden  erklären,  einen  kleinen 
teil  der  Vorstellungen  zu  betrachten  hätten  die  psychophysiker  ver- 
sucht, aber  so  thöricht  sei  keiner  gewesen,  Vorstellungen  nach  den 
gesetzen  der  mechanik  hervorrufen  und  leiten  zu  wollen;  von  einer 
leitung  könne  ^ar  nicht  die  rede  sein,  das  ganze  getriebe  lenken  zu 
wollen,  würden  wir  uns  nicht  vermessen;  wir  würden  nur  da  eintreten, 
wo  unsere  thätigkeit  wesentlich  gehemmt  werde,  wir  könnten  die 
Physiologie  der  naturerzeugnisse  noch  so  genau  kennen  gelernt  haben, 
würden  wir  wohl  unser  mittagessen  danach  einrichten?  so  würden  wir 
uns  wohl  hüten,  alles  und  jedes  nach  der  Zauberformel  der  Herbartianer 
zu  richten,  so  knüpfe  sich  in  den  obengenannten  Sternthalern  das 
'verlassen  von  aller  weit'  sehr  oft  von  selbst  an;  aus  seiner  kindheit 
erinnere  er,  redner,  sich  einer  menge  von  ausdrücken,  die  hätten  ge- 
stützt werden  müssen,  die  aber  niemand  stützte,  er  sei  danach  der 
ansieht,  dasz  wir  uns  um  ^  f,  der  Vorstellungen  weiter  keine  sorgen 
machten  und  diese  ohne  weiteres  der  natur  überlieszen.  der  vorteil 
könnte  gering  erscheinen,  aber  das  sei  nicht  wahr,  wenn  dem  so  sei, 
dasz  der  junge  köpf  eine  regel  mehr  oder  weniger  unverständlicher 
Worte  aufnehmen  müsse,  wenn  durch  das  einfache  zuführen  von  Vor- 
stellungen sich  ein  reiches  wissen  entwickele,  dann  müsten  wir  geradezu 
wünschen,  dasz  dem  knaben  auch  auszerhalb  unserer  kreise  Vorstellungen 
zugeführt  würden,  von  denen  wir  nichts  wüsten,  wenn  wir  das  be- 
dächten, dann  würden  wir  viel  zufriedener  mit  unsern  lehrbüchern  sein. 

Bei  beginn  seiner  lehrthätigkeit  wäre  er  mit  allen  lehrbüchern  unzu- 
frieden gewesen;  er  hätte  demgemäsz  im  coUegium  herumschwadroniert, 
und  es  wäre  zu  bedauern  gewesen,  dasz  ihm  keiner  auf  seinen  grünen 
oder  gelben  Schnabel  geklopft  hätte,  nun  werde  aber  sehr  oft  der  fall 
eintreten,  dasz  das  lelirbuch  klüger  sei  als  wir  selbst;  deshalb  möchte 
er  den  jüngeren  collegen  ein  wort  Jägers  variierend  empfehlen:  schimpfe 
über  dein  lehrbuch,  so  viel  als  zur  erhaltung  deiner  gesundheit  nötig 
ist,  aber  gebrauche  es  gewissenhaft. 

Damit  seien  wir  auf  die  zweite  praktisch  verwertbare  seite  ge- 
kommen:   der   natürlichen   apperception  müsse  mehr  Spielraum  gewährt 


des  Vereins  rheinischer  schulmäuner.  607 

werden,  die  skelettgrammatik,  möge  sie  noch  so  gut  gemacht  sein, 
tauge  nichts,  er  wisse,  der  lehrer  solle  das  fleisch  dazu  liefern;  aber 
wir  hätten  nicht  die  zeit,  alles  das  zu  geben,  was  zur  selbständigen 
bildung  der  Vorstellungen  nötig  sei.  der  schüler  müsse  ein  buch  hahen, 
mit  welchem  er  sich  zu  hause  selbständig  die  arbeit  leisten  könne, 
wenn  einzelne  Vorstellungen  und  vorstellungsreihen  den  Schülern  ge- 
bracht werden  müsten,  ohne  dasz  wir  sie  alle  stützten,  wenn  man  über- 
gehe zu  begriffen,  die  unter  einander  verbunden  seien,  so  führe  ihn  das 
zu  einem  dritten  punkt:  zu  den  philosophischen  oder  allgemeinen  auf- 
gaben auf  den  oberclassen.  wenn  begriffe  wie  ehre,  rühm,  pflicht,  glück 
in  gröszerem  oder  geringerem  umfange  vorher  anticipiert  seien,  weshalb 
solle  man  da  nicht  eine  definition  hineinwerfen  und  einmal  eine  ent- 
sprechende aufgäbe  ohne  Vorbereitung  stellen,  eine  solche  arbeit  koste 
allerdings  das  vierfache  von  sonstigen  arbeiten  auszer  der  arbeit  in  der 
schule,     aber  er  halte  eine  solche  arbeit   für  unbedingt  nötig. 

Der  Vorsitzende  spricht  dem  vortragenden  seinen  dank  aus  be- 
sonders deshalb,  weil  er  als  schönste  apperceptionsstütze  den  humor  ge- 
geben hätte. 

Director  Jäger:  blosz  deswegen,  weil  niemand  sonst  anfassen 
wolle,  füge  er  sich  in  eine  rolle,  die  er  oft  habe  übernehmen  müssen, 
zunächst  überhaupt  etwas  zu  sagen,  andere  möchten  dann  gescheidteres 
sagen,  er  freue  sich  ungemein,  dasz  endlich  jemand  sich  gefunden 
habe,  der  dem  überkünstlichen  wesen  frisch  und  fröhlich  in  den  hart 
greife,  die  gedanken,  die  prof.  Meyer  vorgetragen  habe,  hätten  wohl 
manche  von  uns  auch  gehabt;  man  habe  nur  nicht  den  mut  gefunden, 
sich  das  selbst  oder  andern  zu  gestehen,  und  deswegen  sei  es  sehr  er- 
freulich, dasz  das  einmal  ausgesprochen  sei:  nämlich  der  hauptgedanke, 
dasz  sehr  vieles  in  den  köpfen  unserer  schüler  sich  von  selber  zu 
machen  erlaube,  pädagogisch  und  didaktisch  sei  das  sehr  fruchtbar; 
man  müsse  nicht  alles  machen  wollen  auf  der  weit,  sondern  zusehen, 
wie  viel  sich  von  selber  mache,  und  dem  verständig  nachgehen. 

Director  Matthias:  er  möchte  an  die  worte  anknüpfen  und  sie 
auf  ein  anderes  gebiet  übertragen,  wii-,  die  wir  so  glücklich  oder  unglück- 
lich seien,  ein  seminar  zu  besitzen,  sollten  nicht  zu  viel  eignes  material 
hineintragen  in  köpfe,  die  doch  schon  zum  teil  für  sich  gebaut  haben, 
wir  dürften  nicht  zu  viel  gleich  im  anfang  verlangen,  vor  allen  dingen 
sei  zu  sehen  auf  den  guten  willen  und  die  liebe  zur  sache.  auch 
glaube  er,  man  könne  mit  einem  gut  eingerichteten  probejahr  gerade 
so  weit  kommen  wie  bisher  mit  zwei  jähren. 

Der  letzte  punkt  der  tagesordnung  ist,  weil  die  zeit  erschöpft  war, 
nicht  mehr  zur  Verhandlung  gekommen. 

Ein  gemeinsames  mahl  und  am  abend  noch  eine  Vereinigung  im 
Reichshof  ergänzte  die  anregende  Versammlung. 

Köln.  E-  Oehley. 


INHALTSVERZEICHNIS. 


Admet    und    Alkestis    und    der    arme     Heinrich.      {Plaumann.)      s.  205. 

293.  337. 
Arithmetik  und  algebra,  einrichtuug  eines  hilfsbuches  für  sechsclassige 

höhere  lehranstalten.     {Sievers.)     s.  443. 

Bielschowsky  s.  Schiller  und   Falentifi. 
Bohemus  s.  Horazübersetzungen. 
Brettschneider  s.  gesehichte. 
Buschmann  8.  deutscher  Unterricht  von  Biese. 

Degenhardt,   Georg,   praktische   geometrie    auf  dem  gymnasium.     {Otto 

Richter.)     s.  158. 
Deutscher    Unterricht.      J.  Buschmann,    Leasings     Hamb.    dramaturgie. 

A.  Bielschowsky,  Goethe.    M.  Meyer,  Goethe.    {Alfried  Biese.)    s.  245. 
Deutscher  Unterricht,   hilfsbücher.     1.  O.   Weise,  unsere  muttersprache. 

2.  F.  Kaufmami,   kurzgefaszte   laut-  und  Formenlehre.     3.  H.  Paul, 

deutsches  Wörterbuch.     {Paul  Vogel.)     s.  143. 
Deutscher     Unterricht    im    realgymnasium ,     entwurf    eines    lehrplans. 

{Le  Mang.)     s.  44. 
Deutsche  zusammengesetzte  Wörter,   ihre  betonung.     {Schuller.)     s.  581. 

Endemann  s.  gesehichte. 

Erdenberger,    das  avancement  der  akademisch  gebildeten  Justizbeamten 

und     lehrer    im    sächsischen    Staatsdienste    1886  — 1896.      {Richard 

Richter.)     s.  254. 

Französisch,  zur  weiterführung  des  französischen  in  den  mittelclassen 
des  gymnasiums  mit  Frankfurter  lehrplan.     {Julius  Ziehen.)     s.  100. 

Französisch,  die  lehre  vom  gebrauch  der  Zeitformen,  besonders  im 
französischen.     {Humbert.)     s.  222.  351.  516. 

Geschichte,  zum  unterrichte  in  der  neueren  und  neuesten  gesehichte. 
1.  Brettschneider,  zum  unterrichte  in  der  gesehichte,  vorzugsweise 
in  den  oberen  classen  höherer  lehranstalten.  —  2.  Martens,  lehr- 
buch  der  gesehichte.  III.  teil.  —  3.  Moldenhauer,  hilfsbuch  für  den 
geschichtsunterricht  in  der  untersecunda.  —  4.  Endemann,  Staats- 
lehre und  Volkswirtschaft  auf  höheren  schulen.  —  5.  Stutzer,  die 
soziale    frage   der  neuesten  zeit  in  oberprima.     {Sorgenfrey.)     s.  49. 

Goethii  Arminius  et  Dorothea  graece.     {Draheim.)     s.  597. 

Griechisches  neues  testament,  die  benutzung  im  unterrichte.  {Theodor 
Vogel.)     s,  313. 


luhaltsverzeichnis.  609 

Hahn,  AVerner,  geschichte  der  poetischen  litteratur  der  Deutschen. 
13e  aufläge,  herausgegeben  von  Gotthold  Kreyenherg.  {Fauth.)  s.  592. 

Heinichen  s.    Wagener. 

Hermann,  Gottfried,  ein  gutachten  Gottfried  Hermanns.  {Fiebiger.)  s.  257. 

Heitner,  Alfred,  Spamers  groszer  handatlas.     (Diesiel.)     s.  159. 

Homerische  kleinigkeiten  aus  der  Schulpraxis.     {Rosenberg.)     s.  138. 

Horazübersetzungen,  zur  geschichte  der  deutschen  Horazübersetzungen 
(vgl.  Jahrg.  1896).  IH.  die  Dresdener  Übersetzung  der  vier  oden- 
bücher  von  Bohemus.  IV.  die  moralia  Horatiana  des  Philipp 
V.  Zesen.  V.  die  pädagogischen  Übertragungen  in  prosa.  {Schwabe.) 
s.  387.  569. 

Kaufmann  s.  deutscher  Unterricht,  hilfsbücher. 

Kautztnann,   Pfaff  und   Schrnidt,   lateinisches   lese-   und   Übungsbuch    für 

sexta.     {Becher.)     s.  104. 
Kautzmann,    Pfaff  und   Schmidt,   lateinisches   lese-   und   Übungsbuch    für 

tertia.     (Pötzuch.)     s.  584. 
Kohl,  O.,  griechischer  Unterricht.     {Richard  Richter.)     s.  408.  * 

Kreyenherg  s.  Hahn. 

Lateinisch,  zur  lateinischen  formenlehre.     {Fasterding.)     s.  37. 
Lateinisch,    über    einige    punkte    der    lateinischen    grammatik.      {Otto 

Schulze.)     s.  87. 
Lateinisch,    über    Wechselbeziehungen    zwischen  dem   lateinischen  und 

dem  deutschen  in  der  sexta  und  quinta  des  gymnasiums.   (Cornelius.) 

s.  423.  474. 

JMLartens  s.  geschichte. 

Merkes,   P.,   beitrage   zur  lehre  vom   gebrauch   des   infinitivus  im  neu- 
hochdeutschen.    {Paul  Vogel.)     s.  593. 
Meyer  s.  deutscher  Unterricht. 
Moldenhauer  s.  geschichte. 

Pädagogische    kleinigkeiten.      1.   die    namen    der    Wochentage.      2.  die 

reihenfolge  der  declinationen.     {Cunze.)     s.  548.  578. 
Paul  s.  deutscher  Unterricht,  hilfsbücher. 
Pfaff  s.  Kautzmann. 

(Juintilian  als  didaktiker  und  sein  einflusz  auf  die  didaktisch- päda- 
gogische theorie  des  humanismus.  {Messer.)  s.  161.  273.  321.  364. 
409.  457. 

Scheffler,  Wilhelm,  wähl-  und  waffensprüche  deutscher  Studenten. 
{Diestel.)     s.  595. 

Schiller  und  Valentin,  deutsche  Schulausgaben:  1.  Ziehen,  die  dichtung 
der  befreiungskriege.  —  2.  Valentin,  die  braut  von  Messina.  — 
3.  Ziehen,  Homers  Odyssee  von  Voss.  —  4.  Valentin,  Hermann  und 
Dorothea.  —  5.  Schlee,  Luthers  deutsche  Schriften.  {Landmanri.) 
s.  150. 


6i0  Inhaltsverzeichnis. 

Schillers  Wallenstein.  1.  Buttler.  2.  Schillers  Wallenstein  und  Shake- 
speare.    3.  der  bau  des  Wallenstein.     (Zernial)     s.  532.  553. 

Schlee  s.  Schiller  und  Valentin. 

Schmidt  s.  Kautzmann, 

Schnell,  G.,  die  volkstümlichen  Übungen  des  deutschen  turnens.  {Vollert.) 
s.  311. 

Schülke ,  A. ,  vierstellige  logarithmentafeln.     {Otto  Richter.)     s.  160. 

Spamer  s.  Hettner. 

Stutzer  s.  geschichte. 

Tropsch,  Stephan,  Flemings  Verhältnis  zur  römischen  dichtnng.  {Paul 
Vogel.)     s.  454. 

V(tlentin  s.  Schiller  und   Valentin. 

Versammlung,  bericht  über  die  34e  Versammlung  des  Vereins  rheinischer 

Schulmänner.     {Oehley.)     s.  599. 
Vives  in  seiner  pädagogik.     {Kuypers.)     s.   1.  65.  113,  1 

Wagener,  lateinisch-deutsches  Schulwörterbuch  von  Heinichen.   6e  aufläge. 

{Fügner.)     s.  358. 
Waldeck ,  Aug.,  lateinische  schulgrammatik.     {Primer.)     s.  62. 
Weise  s.  deutscher  Unterricht,  hilfsbücher. 
Witte,    E.,    das    ideal   des   bewegungsspiels   und    seine   Verwirklichung. 

{Dunker.)     s.  110. 

Ziehen  s.  Schiller  und   Valentin. 


VERZEICHNIS 

DER  AN  DIESEM  BANDE  BETEILIGTEN  MITARBEITER. 


Becher,  dr. ,  in  Leipzig,     s.   104. 

Biese,  dr. ,  professor  am  gymnasium  in  Coblenz.     s.  245. 

Cornelius,  dr.,  Oberlehrer  am  gymnasium  in  Saarbrücken,    s.  423.  474. 
CuNZE  ,  Oberlehrer  am  neuen  gymnasium  in  Braunschweig,    s.  548.  578. 

Draheim,  dr. ,  professor  in  Friedenau.     s.  587. 

DiESTEL,  dr.,  professor  in  Dresden,     s.  159.  595. 

Dunker,  Oberlehrer  am  gymnasium  in  Hadersleben,     s.  110. 

Fasterding,  reallehrer  in  VVesterburg  i.  Westerwald.     s.  37. 
Fäuth,  dr.,  professor  am  gymnasium  in  Höxter  W.     s.  592. 
Fiebiger,  dr.,  bibliothekar  in  Dresden,     s.  257. 

FüGNER,   dr. ,    Oberlehrer    am   Kaiser -Wilhelmsgymnasium   in   Hannover. 
s.  358. 

Humbert,   dr.,   professor  am  gymnasium  in  Bielefeld,     s.  222.  851.  515. 

KuYFERs,  dr.,  in  Kiel.     s.  1.  65.  113, 

Landmann,  dr,,  professor  in  Darmstadt,     s,  150. 

Le  Mang,    dr. ,   Oberlehrer  an  der  Annenschule  (realgymn.)  in  Dresden. 

s.  44, 
Messer,    dr. ,   lehrer   am   gymnasium  in  Gieszen.     s.   161.  273.  321.  364. 

409.  457. 

Oehley,  dr. ,  in  Cöln  a.  Rh.     s.  599. 

Plaumann,    professor    am    königlichen    gymnasium   in   Danzig.      s.  205. 

293.  337. 
PöTzscH,  dr. ,  professor  am  realgymnasium  in  Döbeln.,     s.  584, 
Primeu,  dr.,  professor  am  Kaiser- Friedrichsgymnasium  in  Frankfurt  a.  M. 

s.  62. 


(312  Verzeichnis  der  mitarbeiter. 

Richter,    Otto,   dr.,  Oberlehrer  am  königlichen  gymnasium  in  Leipzig. 

s.  158.  160. 
Richter,  Richard,   dr.,  rector  des  königlichen  gymnasiums  in  Leipzig. 

s.  254.  408. 
Rosenberg,  dr.,  prorector  am  gymnasium  in  Hirschberg  i.  Schi,     s,  138. 

ScHüLLER,  dr.,  Oberlehrer  am  lehrerseminar  in  Plauen  i.  V.     s.  581. 
Schulze,  Otto,  dr. ,  Oberlehrer  am  realgymnasium  in  Gera.     s.  87. 
Schwabe,    dr. ,•    Oberlehrer   an   der  fürstenschule   St.   Afra  in   Meiszen. 

s.  387.  569. 
Sievers,  Oberlehrer  an  der  realschule  in  Frankenberg  i.  S.     s.  443. 
Sorgenfret,   dr. ,  professor  am  gymnasium  in  Neuhaldensleben.     s.  49. 

Vogel,  Paul,  dr.,  professor  am  gymnasium  in  Schneeberg  i.  S.     s.  143. 

454.  593. 
Vogel,  Theodor,  dr.,  geheimer  schulrat  in  Dresden,     s.  313. 
VoLLERT,  Oberlehrer  am  gymnasium  in  Schleiz.     s.  311. 

Zernial,  dr.,  professor  am  Humboldtsgymnasium  in  Berlin,     s.  532.  553. 
ZiRHEN,  dr,,  Oberlehrer  am  Goethegymnasium  in  Frankfurt  a.  M.    s.  100. 


3432    4 


BINDING  SECT.  AUG  6    197T 


PA  Neue  Jahrbücher  für  Philologie 

3  und  Paedagogik 

N65 
Bd. 156 


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